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Ehresmann bescheinigte den Bri- ten dabei eine „immense logisti- sche Leistung“. Die Zustände, die die Truppen bei der Einnahme des Lagers am 29. April 1945 vor- gefunden hätten, seien kaum zu schildern gewesen. Unter dem Eindruck des Gesehenen habe ein Offizier seiner Ehefrau ge- schrieben, dass es besser sei, Tau- sende Unschul- dige zu töten, als einen Mann laufen zu las- sen, der dafür verantwortlich sei. Obwohl die bri- tische Armee vorbereitet ge- wesen sei, nicht zuletzt nach der Befreiung des Konzentrations- lagers Bergen- Belsen, sei das Entsetzen groß ge- wesen. Sandbostel war das einzi- ge Kriegsgefangenenlager, das in den letzten Kriegstagen KZ-Häft- linge unterzubringen hatte. Be- reits den Marsch von Neuengam- me hätten viele der geschwächten Menschen nicht überlebt. Wie viele, ist nicht bekannt. Sandbos- tel wurde, so Ehresmann, am En- de von etwa 9 500 Häftlingen er- reicht. Die Leitung des Kriegsgefange- nenlagers, bestehend aus Wehr- machtssoldaten, sei auf diese Masse von Menschen nicht vor- bereitet gewesen, habe auch jede Verantwortung abgelehnt. Die Verhältnisse im Lager seien zu- nehmend eskaliert. Für den Ge- denkstättenleiter war die so ge- nannte Hungerrevolte der KZ- Häftlinge am 19. April rückbli- ckend der Beginn der Befreiungs- aktion. Die SS-Bewacher hätten „meh- rere hundert Männer“ (Ehres- mann) erschossen, andere seien aufgrund der ausbrechenden Pa- nik ums Leben gekommen. Nach- dem sich immer mehr SS-Ange- hörige abgesetzt hätten, sei es quasi zu einer Übernahme des Lagers durch die Kriegsgefange- nen gekommen. Ehresmann schilderte anhand von Dokumen- ten, wie Komitees sich bemüht hätten, die Situation der KZ- Häftlinge zu verbessern. Eine kaum zu schaffende Aufgabe: Ne- ben den etwa 13 000 Kriegsgefan- genen hätten auch Tausende von KZ-Häftlingen verpflegt werden müssen. Die „beeindruckende Hilfeleistung“ (Ehresmann) habe nicht verhindern können, dass in der Woche vor der Befreiung knapp 2 000 von ihnen gestorben seien. Zu dieser Zeit kämpften sich die britischen Einheiten gegen den heftigen Widerstand deut- scher Truppen über die Oste bei Sandbostel bis zum nahe gelege- nen Lager vor. Am 29. April um 16 Uhr habe der erste britische Soldat das Lager betreten. Was er und seine Kame- raden sahen, ha- be Captain Ro- bert Barer in dem Satz zu- sammenge- fasst: „A BEL- SON in minia- ture“. Das KZ- Auffanglager in Sandbostel habe sich nur in der Größe vom Kon- zentrati- onslager Bergen- Belsen un- terschieden, nicht jedoch in seinem Zu- stand. Obwohl so- fort eine immense Hilfsaktion eingeleitet worden sei, habe nicht verhindert werden können, dass die Sterberate der KZ-Häftlinge in den kommenden Tagen hoch geblieben sei. Ursachen seien ne- ben der „emotionalen Anspan- nung“ (Ehresmann) nach der Be- freiung unkontrollierte Nahrungs- aufnahme und Ansteckungen ge- wesen. Auch die Briten hätten entschei- dende Fehler ge- macht, konsta- tierte Ehres- mann. Im Ge- gensatz zu den Gefangenen- komitees hät- ten sie die Häft- linge neu nach Nationen zusam- mengestellt und dadurch eine Ausbreitung von Krankheiten wie Typhus ermöglicht. Insgesamt sei- en 800 Helfer an der Versorgung der Häftlinge beteiligt gewesen. Möglichst schnell seien zu- nächst die Kriegsgefangenen eva- kuiert und in ihre Heimatländer zurückgeführt worden. Für die sowjetischen Gefangenen war die Rückkehr nicht immer mit Frei- heit gleichzusetzen. In ihrem Hei- matland seien sie verhört und teilweise erneut in Lagern gefan- gen gehalten worden. Auch 2 000 KZ-Häftlinge hät- ten Sandbostel verlassen können, während über 4 000 in Kranken- häuser nach Rotenburg, Bassum, Seedorf und Bremen gebracht wurden. Allein in Rotenburg-Un- terstedt seien 376 Männer an den Folgen der Inhaftierung gestor- ben. Ehresmanns Fazit: Hunderte starben nach der Befreiung des Lagers, aber Tausende von Men- schen hätten gerettet werden können. Aus Großbritannien, wusste er zu berichten, erreichten die Gedenkstätte immer mehr Anfragen von Nachkommen. Vie- le britische Soldaten hätten über die Erlebnisse in Sandbostel ge- schwiegen. Die Eindrücke jedoch dürften sie ein Leben lang nicht vergessen haben. Befreiung 1945: „BELSON in miniature“ Vortrag von Gedenkstättenleiter Andreas Ehresmann über das Sandbosteler Lager in der Zeit vor und nach der Befreiung VON RAINER KLÖFKORN SANDBOSTEL. Die Geschichte des Stalag X B in Sandbostel bietet auch 70 Jahre nach der Befreiung durch britische Truppen immer noch neue Aspekte – und Überraschungen. Über den aktuellen Stand der wissen- schaftlichen Forschung über die letz- ten Kriegstage berichtete am Diens- tag in der Gedenkstätte deren Leiter Andreas Ehresmann (Foto). Im Mittel- punkt seines Vortrages standen die umfangreichen Bemühungen der Bri- ten, die befreiten KZ-Häftlinge vor dem Tod zu bewahren. » Die briti- schen Soldaten wussten genau, was sie in Sandbostel er- warten würde. Dennoch hatte das Gesehene auf sie eine schockierende Wirkung. « ANDREAS EHRESMANN The Lord Neville Wigram Die Forschung über die Geschichte des Stalag XB hält immer noch Überraschungen bereit. So hat sich erst jetzt herausgestellt, dass der Kommandeur der britischen Einhei- ten, die das Lager am 29. April 1945 befreiten, noch lebt: Lieutenant Co- lonel The Lord Neville Wigram MC. Wigram, der am 2. August seinen 100. Geburtstag feiern kann, hat als 30-jähriger Lieutenant Colonel das No 2 Squadron, 2nd Armoured Bat- talion Grenadier Guards komman- diert. Die Einheit befreite gemein- sam mit dem 1st Motor Battalion der King’s Company Grenadier Gu- ards das Sandbosteler Lager. Gedenkstättenleiter Andreas Ehres- mann steht in E-Mail-Kontakt zu Wi- gram. Eine Einladung zur Ge- denkfeier am 29. April konnte der ehemalige Offizier gesund- heitsbedingt allerdings nicht an- nehmen. Eine Biografie Wigrams findet sich im Internet unter http://en.wikipedia.org/wiki/ Neville_Wigram,_2nd_Ba- ron_Wigram. Ehemalige KZ-Häftlinge im Behelfslazarett der No. 10 (Br.) Casualty Clearing Station im ehemaligen Wachmannschaftenlager – heute Heinrichsdorf. Das Foto stammt von Major Stanley Aylett vom Royal Army Medical Corps (RAMC) von der 14th Field Service Unit RAMC, der gemeinsam mit der 10 CCS in Sandbostel ab dem 6. Mai 1945 eingesetzt war.

Befreiung1945:„BELSON in miniature“...2015/04/09  · machtssoldaten, sei auf diese Masse von Menschen nicht vor-bereitet gewesen, habe auch jede Verantwortung abgelehnt. Die Verhältnisse

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Page 1: Befreiung1945:„BELSON in miniature“...2015/04/09  · machtssoldaten, sei auf diese Masse von Menschen nicht vor-bereitet gewesen, habe auch jede Verantwortung abgelehnt. Die Verhältnisse

Ehresmann bescheinigte den Bri-ten dabei eine „immense logisti-sche Leistung“. Die Zustände, diedie Truppen bei der Einnahmedes Lagers am 29. April 1945 vor-gefunden hätten, seien kaum zuschildern gewesen. Unter demEindruck des Gesehenen habeein Offizier seiner Ehefrau ge-schrieben, dass es besser sei, Tau-

sende Unschul-dige zu töten,als einen Mannlaufen zu las-sen, der dafürverantwortlichsei.Obwohl die bri-tische Armeevorbereitet ge-wesen sei, nichtzuletzt nach derBefreiung desKonzentrations-lagers Bergen-

Belsen, sei das Entsetzen groß ge-wesen. Sandbostel war das einzi-ge Kriegsgefangenenlager, das inden letzten Kriegstagen KZ-Häft-linge unterzubringen hatte. Be-reits den Marsch von Neuengam-me hätten viele der geschwächtenMenschen nicht überlebt. Wieviele, ist nicht bekannt. Sandbos-tel wurde, so Ehresmann, am En-de von etwa 9500 Häftlingen er-reicht.

Die Leitung des Kriegsgefange-nenlagers, bestehend aus Wehr-machtssoldaten, sei auf dieseMasse von Menschen nicht vor-bereitet gewesen, habe auch jedeVerantwortung abgelehnt. DieVerhältnisse im Lager seien zu-nehmend eskaliert. Für den Ge-denkstättenleiter war die so ge-nannte Hungerrevolte der KZ-Häftlinge am 19. April rückbli-ckend der Beginn der Befreiungs-aktion.

Die SS-Bewacher hätten „meh-rere hundert Männer“ (Ehres-mann) erschossen, andere seienaufgrund der ausbrechenden Pa-nik ums Leben gekommen. Nach-dem sich immer mehr SS-Ange-hörige abgesetzt hätten, sei esquasi zu einer Übernahme desLagers durch die Kriegsgefange-nen gekommen. Ehresmann

schilderte anhand von Dokumen-ten, wie Komitees sich bemühthätten, die Situation der KZ-Häftlinge zu verbessern. Einekaum zu schaffende Aufgabe: Ne-ben den etwa 13000 Kriegsgefan-genen hätten auch Tausende vonKZ-Häftlingen verpflegt werdenmüssen. Die „beeindruckendeHilfeleistung“ (Ehresmann) habenicht verhindern können, dass inder Woche vor der Befreiungknapp 2000 von ihnen gestorbenseien.

Zu dieser Zeit kämpften sichdie britischen Einheiten gegenden heftigen Widerstand deut-scher Truppen über die Oste beiSandbostel bis zum nahe gelege-nen Lager vor. Am 29. April um16 Uhr habe der erste britischeSoldat das Lager betreten. Waser und seine Kame-raden sahen, ha-be Captain Ro-bert Barer indem Satz zu-sammenge-fasst: „A BEL-SON in minia-ture“. Das KZ-Auffanglagerin Sandbostelhabe sich nurin der Größevom Kon-zentrati-onslagerBergen-Belsen un-terschieden,nicht jedoch inseinem Zu-stand.

Obwohl so-

fort eine immense Hilfsaktioneingeleitet worden sei, habe nichtverhindert werden können, dassdie Sterberate der KZ-Häftlingein den kommenden Tagen hochgeblieben sei. Ursachen seien ne-ben der „emotionalen Anspan-nung“ (Ehresmann) nach der Be-freiung unkontrollierte Nahrungs-aufnahme und Ansteckungen ge-wesen.

Auch die Britenhätten entschei-dende Fehler ge-macht, konsta-tierte Ehres-mann. Im Ge-gensatz zu denGefangenen-komitees hät-

ten sie die Häft-

linge neu nach Nationen zusam-mengestellt und dadurch eineAusbreitung von Krankheiten wieTyphus ermöglicht. Insgesamt sei-en 800 Helfer an der Versorgungder Häftlinge beteiligt gewesen.

Möglichst schnell seien zu-nächst die Kriegsgefangenen eva-kuiert und in ihre Heimatländerzurückgeführt worden. Für diesowjetischen Gefangenen war dieRückkehr nicht immer mit Frei-heit gleichzusetzen. In ihrem Hei-matland seien sie verhört undteilweise erneut in Lagern gefan-gen gehalten worden.

Auch 2000 KZ-Häftlinge hät-ten Sandbostel verlassen können,während über 4000 in Kranken-häuser nach Rotenburg, Bassum,Seedorf und Bremen gebrachtwurden. Allein in Rotenburg-Un-terstedt seien 376 Männer an denFolgen der Inhaftierung gestor-ben.

Ehresmanns Fazit: Hundertestarben nach der Befreiung desLagers, aber Tausende von Men-schen hätten gerettet werdenkönnen. Aus Großbritannien,wusste er zu berichten, erreichtendie Gedenkstätte immer mehrAnfragen von Nachkommen. Vie-le britische Soldaten hätten überdie Erlebnisse in Sandbostel ge-schwiegen. Die Eindrücke jedochdürften sie ein Leben lang nichtvergessen haben.

Befreiung1945: „BELSON in miniature“Vortrag von Gedenkstättenleiter Andreas Ehresmann über das Sandbosteler Lager in der Zeit vor und nach der Befreiung

VON RAINER KLÖFKORN

SANDBOSTEL. Die Geschichte desStalag XB in Sandbostel bietet auch70 Jahre nach der Befreiung durchbritische Truppen immer noch neueAspekte – und Überraschungen. Überden aktuellen Stand der wissen-schaftlichen Forschung über die letz-ten Kriegstage berichtete am Diens-tag in der Gedenkstätte deren LeiterAndreas Ehresmann (Foto). Im Mittel-punkt seines Vortrages standen dieumfangreichen Bemühungen der Bri-ten, die befreiten KZ-Häftlinge vordem Tod zu bewahren.

» Die briti-schen Soldatenwussten genau,was sie inSandbostel er-warten würde.Dennoch hattedas Geseheneauf sie eineschockierendeWirkung. «ANDREASEHRESMANN

The Lord Neville WigramDie Forschung über die Geschichtedes Stalag XB hält immer nochÜberraschungen bereit. So hat sicherst jetzt herausgestellt, dass derKommandeur der britischen Einhei-ten, die das Lager am 29. April 1945befreiten, noch lebt: Lieutenant Co-lonel The Lord Neville Wigram MC.Wigram, der am 2. August seinen100. Geburtstag feiern kann, hat als30-jähriger Lieutenant Colonel dasNo 2 Squadron, 2nd Armoured Bat-talion Grenadier Guards komman-diert. Die Einheit befreite gemein-sam mit dem 1st Motor Battalionder King’s Company Grenadier Gu-ards das Sandbosteler Lager.Gedenkstättenleiter Andreas Ehres-mann steht in E-Mail-Kontakt zu Wi-gram. Eine Einladung zur Ge-denkfeier am 29. April konnteder ehemalige Offizier gesund-heitsbedingt allerdings nicht an-

nehmen.Eine Biografie Wigrams findetsich im Internet unterhttp://en.wikipedia.org/wiki/Neville_Wigram,_2nd_Ba-ron_Wigram.

Ehemalige KZ-Häftlinge im Behelfslazarett der No. 10 (Br.) Casualty Clearing Station im ehemaligen Wachmannschaftenlager – heute Heinrichsdorf.Das Foto stammt von Major Stanley Aylett vom Royal Army Medical Corps (RAMC) von der 14th Field Service Unit RAMC, der gemeinsam mit der 10CCS in Sandbostel ab dem 6. Mai 1945 eingesetzt war.