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Susanne Pietsch Begleiten und begleitet werden Praxisnahe Fallarbeit – ein Beitrag zur Professionalisierung in der universitären Lehrerbildung kassel university press

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Susanne Pietsch

Begleiten und begleitet werden Praxisnahe Fallarbeit –

ein Beitrag zur Professionalisierung in der universitären Lehrerbildung

kassel

universitypress

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Die vorliegende Arbeit wurde vom Fachbereich Erziehungswissenschaft/Humanwissenschaften der Universität Kassel als Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades einer Doktorin der Philosophie (Dr.phil.) angenommen. Erster Gutachter: Prof. Dr. Friederike Heinzel Zweiter Gutachter: Prof. Dr. Heinrich Dauber Tag der mündlichen Prüfung 24. August 2009 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar Zugl.: Kassel, Univ., Diss. 2009 ISBN print: 978-3-89958-822-4 ISBN online: 978-3-89958-823-1 URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0002-8239 © 2010, kassel university press GmbH, Kassel www.upress.uni-kassel.de Printed in Germany

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Danksagung

Professionelles Lehrerhandeln erfordert neben einer grundlegenden und soliden uni-versitären Ausbildung das persönliche Engagement und die Überzeugung, etwas zu be-wirken. Kennzeichnend ist die ständige Suche nach weiterer Professionalisierung und damit verbunden die Neugier und die Bereitschaft, sich auf Neues einzulassen und bis-herige Routinen aufzugeben, um etwas anders und besser zu machen, vorhandenes anders zu sehen und neu zu verstehen. Als Förderschullehrerin konnte ich für meine pädagogische und persönliche Weiterentwicklung vielfältige Angebote der Fort- und Weiterbildung nutzen. Nach 10jähriger Praxiserfahrung hatte ich durch die wissen-schaftliche Mitarbeit bei Prof. Dr. Friederike Heinzel an der Universität in Kassel die Chance der erneuten theoretischen Fundierung und der wissenschaftlichen Qualifikation – ein wesentlicher Meilenstein auf meinem Weg der Professionalisierung.

Diesen Weg und meine Entwicklung haben in den vergangenen sieben Jahren einige Menschen maßgeblich unterstützt und gefördert. Ihre Begleitung gab mir Stärke, Trost und Anregung. Ihnen möchte ich an dieser Stelle danken:

Auf der beruflichen Ebene danke ich insbesondere Prof. Dr. Friederike Heinzel. Sie bot mir die Möglichkeit der wissenschaftlichen Mitarbeit an der Universität Kassel, ließ mir den Freiraum für die Entwicklung eigener Forschungsschwerpunkte und betreute meine Arbeit zusammen mit Herrn Prof. Dr. Heinrich Dauber. Ihm danke ich für seine Erinnerung, in den Momenten besonderer Anspannung darauf zu achten, das Ausatmen nicht zu vergessen.

Des Weiteren danke ich Prof. i.R. Dr. Ariane Garlichs, die mir 2001 die Leitung des „Projekt K“ in seiner kooperativen Anlage anbot und mir in dessen Ausgestaltung immer mit Interesse und Zuspruch unterstützend begegnete. Auch den Studierenden, die engagiert in diesem Projekt mitgewirkt haben, danke ich. Sie haben mich an ihren Professionali-sierungsprozessen Teil haben lassen und stellten sich für die zeitaufwendigen Interviews zur Verfügung. Indem sie mir offen von ihren Projekterfahrungen erzählten, ermöglichten sie die Rekonstruktion von Bildungsgeschichten und Professionalisierungsprozessen ange-hender Grundschullehrerinnen auf der Basis praxisnaher Fallarbeit. Im Kontext der Projektarbeit danke ich auch Charlette Dauber für ihre Zusammenarbeit in Form der kooperativen und kollegialen Begleitung der Projektarbeit als Supervisorin. Mein Dank gilt auch Dr. Herbert Hagstedt. Er war es, der mich zunächst für die pädagogische Mitarbeit an der Universität ansprach, damit mein Interesse an der universitären Lehrer(aus)bildung weckte und mir auch während meiner darauf folgenden wissenschaftlichen Mitarbeit immer wieder wichtige Impulse für die Weiterarbeit gab. Schließlich danke ich Prof. Dr. Jutta Wiesemann für ihre stetige Aufmunterung, „am Ball zu bleiben“.

Von besonderer Bedeutung waren für mich die Treffen des Promotionskollegs der IAG unter der Leitung von Friederike Heinzel und die intensiven Auseinandersetzungen über mein qualitatives Datenmaterial im Kreis der wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Sie ermöglichten immer wieder die Distanzierung zum Feld. Insbesondere Melanie Fabel-Lamla danke ich für ihre intensive, geduldige und stets kritisch-konstruktive Betrachtung des Materials und bereits bestehender Deutungen. In ihr fand ich eine Kollegin, die über ihr wissenschaftliches Interesse hinaus immer auch die persönliche Ebene ansprach und mir auf der Suche nach weiteren Wegen zuhörte und „mitging“.

Die Methodenworkshops, die ich in Magdeburg, Berlin und Dubrovnik besuchen konnte, führten insbesondere unter der Leitung von Prof. Dr. Fritz Schütze, Prof. Dr. Rudolf Schmitt und Prof. Dr. Gerhard Riemann motivierend und herausfordernd in das methodische Vorgehen ein. Ihre angeleiteten Interpretationen meines Datenmaterials trugen zu

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wichtigen Erkenntnissen bei und gaben mir wesentliche Impulse für weitere Deutungen und für ein vertiefendes Verstehen.

Ute Ochtendung danke ich für die professionelle, zuverlässige und einfühlsame Unter-stützung bei der formatierenden Fertigstellung der Arbeit. Schließlich möchte ich mich auf der privaten Ebene bei meinen Eltern und im Besonderen bei meinem Mann für seine zuversichtliche und stetige Präsenz, sein Interesse an meiner Arbeit, am Vorankommen und an den neuesten Ergebnissen bedanken. Seine emotionale, reflexive und wissenschaftliche Unterstützung trug wesentlich zum Gelingen dieser Arbeit bei. Kassel, im Dezember 2009 Verzeichnis der verwendeten Abkürzungen

PF Portfolio N Nachfrageteil des Interviews S x/y verweist auf die narrationsstrukturelle Inhaltsangabe:

Das Graphem /S/ mit der anschließenden Ziffer gibt das entsprechende Segment der Narration an, die folgende Ziffer nach dem Schrägstrich verweist auf das jewei- lige Subsegment.

A I Anhang, Teil I A II Anhang, Teil II

In den Fällen, in denen die schriftliche Regelung der deutschen Rechtschreibung mehrere Schreibweisen zulässt, orientiert sich diese Arbeit an den aktuellen Dudenempfehlungen.

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung ..........................................................................................................................1

Kapitel I Lehrerprofessionalität und Professionalisierung für den Lehrerberuf ......... 4

1 Lehrerprofessionalität .....................................................................................................4

1.1 Professionstheoretischer Hintergrund ...................................................................4 1.1.1 Profession – Professionalität – Professionalisierung...................................4 1.1.2 Lehrerprofessionalität aus unterschiedlicher professionstheoretischer

Perspektive...................................................................................................6 1.1.2.1 Der strukturtheoretische Ansatz................................................ 6 1.1.2.2 Der systemtheoretische Ansatz .....................................................8 1.1.2.3 Der interaktionistische Ansatz .......................................................9 1.1.2.4 Der kombinierte, konstruktivistisch ausgerichtete Ansatz..............9

1.2 Professionelles Lehrerhandeln..............................................................................12 1.2.1 Konzeptualisierung professionellen Lehrerhandelns ...................................12

1.2.1.1 Pädagogische Praxis als Beziehungspraxis ..................................13 1.2.1.2 Individuelle Lern- und Lebensbegleitung als Ko-Konstruktion .......15 1.2.1.3 Vermittlung in pädagogischen Anerkennungsbeziehungen ...........17

1.2.2 Herausforderungen und Anforderungsstrukturen professionellen Handelns.....................................................................................................19 1.2.2.1 Rollenvielfalt ..................................................................................19 1.2.2.2 Fremde und Fremdheit ..................................................................22 1.2.2.3 Antinomien und Paradoxien ..........................................................26 1.2.2.4 Ungewissheit .................................................................................29

1.2.3 Professionelles Handeln und Reflexivität ....................................................30 1.2.3.1 Reflexion – Reflexivität ..................................................................31 1.2.3.2 Inhalte und Perspektiven reflexiver Betrachtung ...........................32 1.2.3.3 Selbstreflexivität und Biografizität ..................................................32 1.2.3.4 Voraussetzungen für Reflexivität....................................................35

2 Professionalisierung für den Lehrerberuf .......................................................................36

2.1 Der Bezug zur Praxis .............................................................................................. 38 2.1.1 Erfahrungslernen und Persönlichkeitsbildung.............................................. 39 2.1.2 Erfahrung durch informelles Lernen ............................................................41

2.3 Professionalisierung durch Fallarbeit...................................................................... 42 2.3.1 Fall – Fallarbeit............................................................................................44 2.3.2 Fallarbeit als didaktisches Ausbildungsinstrument....................................... 46 2.3.3 Praxisnahe Fallarbeit ....................................................................................46 2.3.4 Modelle universitärer Fallarbeit ...................................................................48

2.4 Praxisnahe Fallarbeit am Beispiel der universitären Praxisinitiative Projekt K – Kinder begleiten und verstehen lernen ...............................................49 2.4.1 Entstehungsgeschichte und Konzept ..........................................................50 2.4.2 Kooperationspartner .....................................................................................51 2.4.3 Ziele des Projekts........................................................................................52 2.4.4 Praxisbezüge ................................................................................................53 2.4.5 Pädagogische und supervisorische Begleitung ...........................................55 2.4.6 Dokumentation und Reflexion in Portfolios ..................................................56 2.4.7 Forschungsfeld und weiterführende Forschungsprojekte............................58

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Inhaltsverzeichnis

 

II

Kapitel II Forschungsverständnis und methodischer Zugang ...........................................59

1 Fallrekonstruktive Sozialforschung...............................................................................59

2 Erhebungsinstrumente und Datenbasis ........................................................................61

2.1 Das narrative Interview .........................................................................................61 2.1.1 Erzähltheoretische Grundlagen des narrativen Interviews..........................62

2.1.1.1 Zur Relevanz der Stegreiferzählung...............................................63 2.1.1.2 Zugzwänge im Aufbau der Haupterzählung ............................... 63 2.1.1.3 Erzählen – Beschreiben – Argumentieren .....................................64

2.2 Das narrative Interview – Methode, Beziehungs- und Lernraum zugleich ............66

3 Methodisches Vorgehen in der Datenerhebung.............................................................67

3.1 Vorbereitung der Datenerhebung: Auswahl der Interviewpartner .......................... 67 3.2 Durchführung des narrativen Interviews................................................................67 3.3 Berücksichtigung forschungsspezifischer struktureller und konzeptioneller

Begrenzungen in der Datenerhebung ....................................................................68 3.4 Der leitfadengestützte Nachfrageteil.......................................................................69 3.5 Ergänzende Dokumentensichtung..........................................................................70

4 Methodisches Vorgehen in der Datenauswertung ........................................................70

4.1 Aufbereitung des Datenmaterials und Datendarbietung ........................................ 70 4.2 Auswertung der Narrativen Interviews....................................................................71

4.2.1 Formale Textanalyse ....................................................................................71 4.2.2 Strukturell-inhaltliche Beschreibung............................................................72 4.2.3 Analytische Abstraktion...............................................................................72 4.2.4 Wissensanalyse............................................................................................72 4.2.5 Fallkontrastierung und theoretische Modellbildung .....................................73 4.2.6 Betrachtung reflexiver Erfahrungsbearbeitung.............................................73

4.3 Auswahl der Interviews für den Fallvergleich ........................................................75 4.4 Interpretative Forschungswerkstätten.....................................................................76

5 Ergebnispräsentation der Fallrekonstruktionen..............................................................77

Kapitel III Bianca, Wera und Jana...................................................................................... 79

1 Bianca: „Dieses Stück weit (…) in die Welt hineinzugehen

– die Angst zu verlieren“ ................................................................................................ 79

1.1 Patenschaftsportrait ................................................................................................79 1.2 Biancas Geschichte ................................................................................................80 1.3 Erwartungen und Orientierungsmuster für die Projektmitarbeit ............................. 81 1.4 Projekterfahrungen ...............................................................................................84

1.4.1 Beziehungserfahrungen und Interaktionsdynamik ......................................84 1.4.2 Biancas Rollenerfahrungen.........................................................................92 1.4.3 Fremdheits- und Differenzerfahrungen ........................................................96

1.4.3.1 Alltägliche Fremdheit in Situationen des Neubeginns ................. 96 1.4.3.2 Kulturelle Fremdheit .......................................................................97 1.4.3.4 Intergenerationelle Differenzen ......................................................100

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Inhaltsverzeichnis

 

III

1.4.4 Vermittlungsleistungen .................................................................................103 1.4.4.1 Unterstützende Vermittler...............................................................103 1.4.4.2 Intergenerative und interkulturelle Vermittlung

als Geben und Nehmen ................................................................104 1.4.4.3 Feste als Vermittlungsräume.........................................................105

1.4.5 Antinomie-Erfahrungen.................................................................................106 1.5 Lernerfahrungen....................................................................................................108 1.6 Zusammenfassung und Fazit ................................................................................113

2 Wera: „Und das fand ich dann eben sehr schade“ (112). Behindert sein – behindert werden: eine ernüchternde Realitätserfahrung .................. 115

2.1 Patenschaftsportrait ................................................................................................115 2.2 Weras Geschichte .................................................................................................117 2.3 Erwartungen und Orientierungsmuster für die Projektarbeit .................................. 118 2.4 Projekterfahrungen................................................................................................120

2.4.1 Beziehungserfahrungen und Interaktionsdynamik ......................................120 2.4.2 Rollenerfahrungen ........................................................................................127 2.4.3 Differenzerfahrungen und Fremdheitserleben..............................................131

2.4.3.1 Alltägliche Fremdheit .....................................................................131 2.4.3.2 Kulturelle Fremdheit und sprachliche Barrieren............................. 133 2.4.3.4 Behinderung als Differenz ......................................................... 134

2.4.4 Vermittlungsleistungen .................................................................................140 2.4.4.2 Die Kunst zu fragen als Element der Vermittlung ..........................140 2.4.4.3 Verkürztes Vermittlungshandeln.....................................................144

2.4.5 Antinomie-Erfahrungen.................................................................................145 2.5 Lernerfahrungen....................................................................................................147 2.6 Zusammenfassung und Fazit ................................................................................151

3 Jana: „(…) so ein anderes Bild von Familie“ (N 432) – vom Umgang mit Belastungen............................................................................................................152

3.1 Patenschaftsportrait ................................................................................................152 3.2 Janas Geschichte..................................................................................................153 3.3 Erwartungen und Orientierungsmuster für die Projektarbeit .................................. 155

3.3.1 Persönliche Voraussetzungen und Grundeinstellung zur Projektmitarbeit.......................................................................................155

3.3.2 Gründe für die Entscheidung zur Projektmitarbeit ....................................... 156 3.4 Projekterfahrungen................................................................................................157

3.4.1 Beziehungserfahrungen und Interaktionsdynamik ......................................157 3.4.2 Rollenerfahrungen ........................................................................................160 3.4.3 Fremdheits- und Differenzerfahrungen ........................................................163

3.4.3.1 Fremde Werte, Normen und Geschmackspräferenzen ................. 164 3.4.3.2 Kumulierende Belastungsfaktoren .................................................165 3.4.3.3 Kindheit im Vergleich......................................................................168

3.4.4 Vermittlungsleistungen .................................................................................171 3.4.4.1 Inter- und intrageneratives Vermittlungshandeln im Spiel .............172 3.4.4.2 Vermitteln zwischen den Generationen..........................................174 3.4.4.3 Nicht gelingendes Vermitteln von eigenen Ansichten....................176 3.4.4.4 Professionell unterstützte Vermittlung von außen .........................176

3.4.5 Antinomie-Erfahrungen................................................................................178 3.5 Lernerfahrungen....................................................................................................182 3.6 Zusammenfassung und Fazit ................................................................................186

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IV Kapitel IV Fallvergleichende Analyse ................................................................................ 188

1 Gemeinsam geteilte Herausforderungen......................................................................188

2 Differenzen in der Bewältigung der Anforderungen ......................................................190

2.1 Gründe und Motivationen zur Projektmitarbeit ......................................................190 2.2 Differenzen im Umgang mit Anforderungen ..........................................................191

2.2.1 Beziehungspraxis und Interaktionsdynamik................................................191 2.2.2 In Rollen handeln – Rollen aushandeln.......................................................193 2.2.3 Differenzerleben und Umgang mit Fremdheit ..............................................195 2.2.4 Vermittlungsleistungen .................................................................................197 2.2.5 Antinomie-Erfahrungen.................................................................................199

2.3 Reflexive Erfahrungsbearbeitung im Fallvergleich ................................................200 2.4 Lernerfahrungen und Erkenntnisse im Fallvergleich ......................................205

3 Differente Konzepte pädagogischer Begleitung.............................................................206

3.1 Erfahrungsorientiertes Konzept im Spannungsfeld zwischen fürsorgender Beratung und selbstvergewissernder Bestätigung.........................................208

3.2 Ergebnisorientiertes Konzept im Spannungsfeld zwischen intervenierender Förderung und profilierender Qualifizierung..........................................................211

3.3 Erlebnisorientiertes Konzept im Spannungsfeld des Erzieherischen zwischen beteiligender Unterstützung und selbstständiger Entfaltung .................. 214

Kapitel V Lernerfahrungen und Erfolgsfelder praxisnaher Fallarbeit im Projekt K...... 216

Kapitel VI Konsequenzen für die universitäre Lehrerbildung ......................................... 225

Kapitel VII Schluss und Ausblick........................................................................................ 229

Literaturverzeichnis........................................................................................................230

Anhang I ......................................................................................................245

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Einleitung

Gegenstand der vorliegenden Arbeit sind individuelle Lerngeschichten von drei Studentin- nen. Gefragt wird nach individuellen Lernwegen und danach, wie praxisnahe Fallarbeit in- dividuelle Professionalisierungsprozesse angehender Grundschullehrer und -lehrerinnen1

unterstützen kann. Vor dem Hintergrund eines in den vergangenen Jahrzehnten veränderten Anforde-

rungsprofils des Lehrerberufes (vgl. Gudjons 2002, 7)2 und den sich daraus ergebenden Wandlungen der Lehrerrolle von der Wissensvermittlung und Instruktion zur Lernberatung und Lern- und Lebensbegleitung, beschäftigt sich diese Arbeit mit der Frage, wie ange- hende Lehrer bereits in der ersten Phase ihrer Ausbildung auf die veränderten Heraus- forderungen der Grundschule, die vielschichtigen und komplexen beruflichen Aufgaben und auf die spezifischen Anforderungsstrukturen pädagogisch professionellen Handelns vorbereitet werden können.

Über das Wie der Professionalisierung werden derzeit unterschiedliche Ansätze kon- trovers diskutiert. Der aufgabenbezogenen Ansatz strebt bezogen auf die vielfältigen Auf- gaben im pädagogischen Alltag einen gezielten Aufbau professioneller Handlungskompe- tenzen durch „eine dichte Folge von Übung und Anwendung“ (Bauer/Kopka/Brindt 1996, 235) an. Der strukturtheoretische Ansatz dagegen fordert die strukturverstehende Habi- tusformation statt Wissenserwerb und fordert situationsunabhängige Kenntnis von wissen- schaftlichen Theorien und deren situationsangemessene, fallspezifische Anwendung (vgl. Heil/Faust 2000, 22). Entsprechend wird eine „doppelte Professionalisierung“ als notwen- dig erachtet (vgl. Oevermann 1996)3 . Diese beiden Positionen verdeutlichen die kontro- verse Diskussion der Lehrerbildung, die nach Neuweg „fast ausschließlich als Frage da- nach verhandelt (…) [wird], wie viel ‚Theorie‘ und wie viel, Praxis‘ angehende Lehrer brauchen. Dass man Lehrer, machen‘ kann, scheint außer Frage zu stehen, nur das Wie ist strittig“ (Neuweg 2004, 11).

In der vorliegenden Arbeit wird im Hinblick auf einen angestrebten verstärkten Berufs- feldbezug und dessen Vernetzung mit Theorie und den lernenden Subjekten ein lehrer- bildungsdidaktisches Konzept der Parallelisierung favorisiert, in dem die Relevanz des Er- fahrungsaspekts betont, die Förderung impliziten Lernens angestrebt und die Intensivie- rung reflexiver Lernanteile als notwendig erachtet wird. Hierfür sind vielfältige konkrete Praxisbezüge notwendig, die in der Lehrerbildung nicht nur von Anfang an integriert, son- dern Ausgangspunkt für theoretisches Lernen sein sollten (vgl. Oser 1997). Benötigt wird daher eine Ausbildung mit entsprechenden „Szenarien“ (Messner 2001), in der Theorie und Praxis integriert werden und Erfahrungen in interdisziplinären Zusammenhängen

1 Aus Gründen der Lesbarkeit wird im Weiteren auf die Differenzierung zwischen männlicher und

weiblicher Form verzichtet. Wenn nicht anders gekennzeichnet, sind immer beide Geschlechter gemeint, wenn von Lehrern, Schülern, Studenten oder Interviewten die Rede ist.

2 Dieses begründet sich u.a. in den Aspekten „veränderte Kindheit“ (Fölling-Albers 1996), der da- mit verbundenen ansteigenden Heterogenität, die im pädagogischen Handeln zu berücksichti- gende Individualisierung der Lebenswelten, zunehmende Generationendifferenz und in den immer mehr in den Vordergrund rückenden sozialpädagogischen Aufgaben der Grundschule (vgl. Faust-Siehl u.a. 1996; Jaumann-Graumann 2000 u.a.).

3 Eine doppelte Professionalisierung wird einerseits durch die Praxis und andererseits durch die Einsozialisierung in den wissenschaftlichen Diskurs angestrebt.

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möglich sind. Als Beispiel eines solchen „Szenarios“ bieten sich Projekte an, in denen theoretisches Wissen und pädagogisches Handeln praxisnah und aufeinander bezogen an Fällen gelernt werden können.

Um im Rahmen universitärer Lehrerbildung dazu einen Beitrag zu leisten, wurde gegen Ende des Jahres 2000 in Kassel das Projekt K – Kinder begleiten und verstehen lernen4

als Lehr-Lern-Projekt im Fachbereich Erziehungswissenschaften/Humanwissenschaften eingerichtet. In der Tradition des von Prof. Dr. Ariane Garlichs gegründeten Kasseler Schülerhilfeprojekts5 stehend, liegt es seit 2003 in der Verantwortung von Prof. Dr. Frie- derike Heinzel, die dem Lernen an Fällen einen besonderen Stellenwert zuspricht.

In Anerkennung seiner Zielsetzung wurde das Projekt 2007 im Rahmen eines Wett- bewerbs hessischer Hochschulen um „Exzellenz in der Lehre“ vom Hessischen Minister für Wissenschaft und Kunst mit dem zweiten Preis ausgelobt.

Das Projekt ist darauf ausgerichtet, professionelles Lehrerhandeln bereits im Studium durch praxisnahe Fallarbeit und entdeckendes und situiertes Lernen im realen Hand-lungsfeld vorzubereiten und einzuüben. Lehramts- und Magisterstudierende übernehmen dabei für ein Jahr eine Patenschaft für ein zuwendungsbedürftiges Kind im Grundschul-alter. Als praxisnahe Fallarbeit konzipiert, soll die Mitarbeit im Projekt dazu beitragen, dass die Studierenden heutige Kindheiten miterleben und unterschiedliche Aufwachsens-bedingungen kennenlernen, die sich von ihren eigenen Erfahrungen z.T. wesentlich unter- scheiden und ihnen weitgehend fremd sind. Durch die einjährige patenschaftliche Arbeit mit einzelnen Kindern wird nicht nur kontinuierliche Beziehungsarbeit, sondern auch eine intensive und pädagogisch und supervisorisch begleitete Auseinandersetzung mit der Wahrnehmung von Fremd und Selbst ermöglicht. So können sich Studierende in erfah- rungsorientierten und situierten Lernkontexten auf die „Spur“ des Anderen (Holzbrecher 1999) begeben und an Fällen lernen. Es ist der Versuch, Geschichten zu erleben und aus diesen zu lernen mit dem Ziel, pädagogisches Verstehen einzuüben (vgl. Baacke/Schulze 1993; Geertz 1987).

Von besonderem Interesse sind in dieser Arbeit die subjektiven Erfahrungen der Stu- dierenden und deren Bewertung. Auf der Grundlage erhobener Narrationen werden deren individuelle Lernerfahrungen und -prozesse im Hinblick auf das Begleitenlernen und die Anbahnung professionellen Handelns rekonstruiert. Dabei wird folgenden Fragen nach- gegangen:

• Welche Erfahrungen sind im Hinblick auf die spezifische Anforderungsstrukturen und Herausforderungen professionell pädagogischen Handelns subjektiv bedeutsam?

• Wie entwickeln sich Beziehungen zwischen Paten und den Kindern, und wie werden Arbeitsbündnisse gebildet und gestaltet?

• Wie wird das Begleiten individuell konzeptualisiert? • Welchen Beitrag kann praxisnahe Fallarbeit im Rahmen universitärer Lehrerbildung

leisten?

4 Näheres zum Projekt, s. Kap. 2.4. 5 Mit dieser Praxisinitiative engagierte sich Garlichs seit den frühen 1990er-Jahren für eine re-

formorientierte Lehrerbildung. Das Schülerhilfeprojekt übernahm eine Vorreiterrolle für viele weitere, deutschlandweit entstehende ähnliche Projekte (vgl. Heinzel/Garlichs/Pietsch 2007).

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Während sich Studierende in der Begleitung einzelner Kinder mit konkreten Fällen aus- einandersetzen und sich in das pädagogische Begleiten einüben, ist es das Anliegen die- ser Arbeit, das pädagogische Handeln der Studierenden im Kontext patenschaftlicher Be- gleitung nachzuvollziehen und auf der Grundlage rekonstruierter Einzelfälle praxisnahe Fallarbeit im Hinblick auf Chancen und Begrenzungen für universitäre Professionalisie- rungsbestrebungen zu befragen.

Dafür baut sich die Arbeit wie folgt auf: Nach der Vorstellung des theoretischen Be- zugsrahmens und des Lehr-Lern-Projekts Projekt K (Kapitel I) wird im zweiten Kapitel das Forschungsverständnis und der methodische Zugang entfaltet. Es schließt sich die exem- plarische Vorstellung der drei Fälle an (Kapitel III), welche die unterschiedlichen Paten- schaftsverläufe und Lerngeschichten nachzeichnet. Auf der Grundlage des folgenden Fallvergleichs (Kapitel IV) werden Lernerfahrungen und Erfolgsfelder praxisnaher Fallar- beit im Projekt K dargestellt (Kapitel V) und daraus die Konsequenzen für die universitäre Lehrerbildung abgeleitet (Kapitel VI). Das siebte Kapitel schließt die Arbeit mit einem Ausblick ab.

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Kapitel I

Lehrerprofessionalität und Professionalisierung für den Lehrerberuf

1 Lehrerprofessionalität

1.1 Professionstheoretischer Hintergrund

Geht es um pädagogische Professionalität und die Frage nach möglichen Beiträgen zur Professionalisierung angehender Lehrer, ist zunächst eine begriffliche Klärung erforder- lich.

Die Differenzierung der Begriffe „Profession“, „Professionalität“ und „Professionalisie- rung“ zeigt die unterschiedlichen Ebenen der Professionsdiskussion auf. Während „Pro- fession“ ein statischer Strukturbegriff ist, der auf der gesellschaftlichen Makroebene anzu- siedeln ist, verweist „Professionalität“ handlungstheoretisch definiert auf die Mikroebene. Die Kategorie „Professionalisierung“ wiederum spricht dynamische, kollektive und indivi- duelle Prozesse der „Verberuflichung“ (Nittel 2004, 347) auf der Mesoebene an.

Nachdem die Begriffe definiert sind, wird das in dieser Arbeit vertretene Professions- verständnis vorgestellt (1.1.2). Daran anschließend wird die zentrale Bedeutung von Re- flexivität für die Lehrer-Professionalität aufgezeigt (1.1.3).

1.1.1 Profession – Professionalität – Professionalisierung

In Deutschland wurde mit „Profession“ – abgeleitet vom lateinischen Begriff „professio“ für Bekenntnis, Gewerbe – zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine erlernte berufliche Tätigkeit bezeichnet, durch die jemand seinen Lebensunterhalt verdiente und sich damit von un- gelernten Personen, sogenannten „Dilettanten“, abgrenzte. Der aus dem englischen Sprachbereich stammende Begriff „professions“, der später unübersetzt in die deutsche Soziologie übernommen wurde, unterscheidet gehobene Berufe mit einer akademischen Ausbildung und einem hohen Sozialprestige von sogenannten „occupations“ oder „jobs“, die als weniger anspruchsvoll gelten (vgl. Schreckenberg 1984, 52).

Auf der Grundlage des merkmalsorientierten Ansatzes werden den klassischen Pro- fessionen bestimmte Kennzeichen zugeschrieben.6 Zu den Professionen gehörten zu- nächst nur wenige Berufe wie Arzt, Jurist, Geistlicher. Andere Berufe, insbesondere im pädagogischen und sozialen Bereich, befinden sich danach erst auf dem Weg zur Profes-

6 Zu den Professionsmerkmalen zählen u.a. hohe Qualifikationsanforderungen, die in theoretisch fundierten Spezialausbildungen erworben und mit einer Zulassungsprüfung bescheinigt werden, eine „weitgehend monopolisierte Berufsaufgabe, die der Förderung zentraler gesellschaftlicher und kultureller Werte dient“ (Schreckenberg 1984, 52), verfügbares Expertenwissen, hohe Ver- antwortung durch einen weiten Spielraum in der eigenen Handlungsfreiheit, die Organisation in Berufsverbänden mit Selbstverwaltung sowie ein hoher sozialer Status und ein verhältnismäßig hohes Einkommen (vgl. ebd.).

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Kapitel I: Lehrerprofessionalität und Professionalisierung für den Lehrerberuf 

 

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sion. Auch der Lehrerberuf wurde und wird z.T. noch immer lediglich als „Semi-Profession“ anerkannt. Dies wird u.a. mit dem Fehlen einer verbindlichen Berufsethik, der stark einge- schränkten beruflichen Autonomie und dem mangelnden Einfluss der Berufsverbände be- gründet (vgl. Fabel-Lamla 2004, 83). Bauer geht sogar soweit, den Beruf des Pädagogen gar nicht als Profession zu bezeichnen, sondern als einen „professionalisierte[n] Dienst- leistungsberuf“ (Bauer 2005, 81). Nicht zuletzt sind es diese unterschiedlich zugeschrie- benen Merkmale, aber auch die heterogenen Arbeits- und Handlungsfelder sowie die un- terschiedlichen Adressatenkreise, die es nach Combe/Helsper (1997) bislang verhindert haben, dass das Professionsverständnis des Pädagogen einheitlich verwendet und die Frage nach Professionalität und Professionalisierung in der Pädagogik und Erziehungs- wissenschaft immer wieder neu gestellt und von unterschiedlichen professionstheoreti- schen Ansätzen beleuchtet und empirisch fundiert wird.7

Während der Terminus „Profession“ auf der gesellschaftlichen Makroebene angesie- delt wird, also eine gesellschaftliche Strukturkategorie darstellt, ist für den Begriff „Profes- sionalität“ eine handlungstheoretische Betrachtungsweise notwendig. Professionalität kennzeichnet zum einen die Art und Qualität der Ausübung einer personenbezogenen Tä- tigkeit, zum anderen steht sie als Merkmal für die Eignung zur Berufsausübung. Profes- sionalität markiert nach Nittel „eine situativ und interaktiv herzustellende soziale Realität, also einen höchst flüchtigen Zustand von Beruflichkeit, der sich weitgehend einer Über- führung in Routinen oder organisationales Handeln entzieht, da er durch Intuition, persön- lichen Stil und individuelles Ermessen bestimmt wird“ (Nittel 2004, 350f.).

Diese Akzentuierung durch Persönlichkeitsmerkmale betont auch Sabine Reh, die Pro- fessionalität als ein Zusammenwirken von einem „identifizierbaren Persönlichkeitskern des Professionellen“ (Reh 2004, 359), biografischer Reflexivität und Authentizität kenn- zeichnet.

In der aktuellen bildungspolitischen Diskussion um eine Reform von Schule und Leh- rerbildung wird der vielfältig verwendete Begriff der Professionalität damit auf Unter- schiedliches bezogen: auf den organisatorischen Rahmen von Lehrerarbeit, auf die zu steigernde Kompetenz der Lehrer und auf individuelle Bildungs- oder Lernprozesse.

Im Rahmen dieser Arbeit bezieht sich Professionalität auf das pädagogische Handeln in einem nur schwer aufzulösenden Spannungsverhältnis, das aus der Differenz zwischen dem Entstehungsort von Fach- und Expertenwissen und dem Verwendungskontext resul- tiert. „Als Synonym für ‚gekonnte Beruflichkeit‘ stellt Professionalität die nur schwer be- stimmbare Schnittmenge (…) aus Wissen und Können dar; sie markiert die widersprüch- liche Einheit jener Kompetenzen und Wissensformen, die den Umgang mit beruflichen Widersprüchen, Paradoxien und Dilemmata erlauben“ (Nittel 2004, 351).

Unter „Professionalisierung“ ist der Entwicklungsprozess einer ausgeübten Tätigkeit zu einem Beruf zu verstehen. Professionalisierungsprozesse gehen oft mit einer Steigerung der Effizienz einher. Durch sie werden häufig Qualitätsverbesserungen und Standardisie- rungen erreicht.

Individuelle Professionalisierungsprozesse erfordern personengebundene Vorgänge der berufsbiografischen Rollenfindung und schließen „einen persönlichen Veränderungs-

7 Einen Überblick geben dazu u.a. Combe/Helsper (2002) und Bauer (2000a).

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und Reifeprozess ebenso ein, wie einen wissenschaftlichen Kompetenzzuwachs, welcher in der Formierung einer auf dem Prinzip der Fachlichkeit beruhenden beruflichen Identität und der Aufschichtung von diesbezüglichem Professionswissen seinen Kristallisations- punkt findet“ (ebd., 348).

Was Professionalisierung des Lehrerberufs heißen und wie sie dementsprechend durchgeführt werden könnte, wird im Kapitel 2 entfaltet.

1.1.2 Lehrerprofessionalität aus unterschiedlicher professionstheoretischer

Perspektive

In der Professionalisierungsdiskussion lassen sich die strukturtheoretische Position (Oever- mann 1996, 2002), der systemtheoretische (Stichweh 1997; Kade 1997) und der interakti- onistische Ansatz (Schütze 1992) unterscheiden. Ergänzend zu diesen Ansätzen entstan- den in den 1990er-Jahren zum einen der berufsbiografische Ansatz (Terhart 1992, 2000b), der Professionalität auf der individuellen Ebene als (berufs-)biografisches Prob- lem auffasst und zum anderen der kombinierte Ansatz als „Theorie des professionellen Selbst“ (Bauer 2000, 2005).8

Um die Leitfragen dieser Arbeit (s. Einleitung) möglichst differenziert beantworten zu können, wird ein Professionsverständnis zugrunde gelegt, das sich im Wesentlichen auf den interaktionistischen Ansatz von Schütze bezieht, Aspekte aus dem strukturtheoreti- schen Ansatz Oevermanns und dem systemtheoretischen Ansatz von Stichweh aufnimmt und im Sinne Reichs (2005) konstruktivistisch ausgerichtet wird.

Dass die Zusammenführung verschiedener Ansätze, die im Folgenden ausgeführt werden, gerade für die pädagogische Professionsforschung und Fragen pädagogischer Professionalität äußerst fruchtbar ist, haben in den letzten Jahren verschiedene qualitative bzw. biografische Studien zum Lehrerhandeln aufgezeigt (vgl. Terhart 1994; Helsper u.a. 2000; Tiefel 2004; Fabel-Lamla 2004; Reh/Schelle 2006 u.a.).

1.1.2.1 Der strukturtheoretische Ansatz

Oevermann beschreibt in seinem strukturtheoretischen Ansatz – angelehnt an das Modell (psychoanalytischer) therapeutischer Praxis – das Verhältnis zwischen Professionellen und Klienten als ein „Arbeitsbündnis“ (Oevermann 1996, 148), das auf der Basis wechsel- seitigen Vertrauens mit klaren Regeln für die Beziehung strukturgebend und durch das dis- krepante Verhältnis zwischen dem „diffusen“ Aspekt des Vertrauensverhältnisses und dem „spezifischen“ Aspekt der Rollenbeziehung gekennzeichnet ist.

Zentrale Funktion des Professionellen innerhalb dieses Arbeitsbündnisses besteht in dem Akt der „stellvertretenden Deutung“. Diese erfolgt, indem der Professionelle die Sinn- struktur der konkreten Interaktion entziffert, und zwar über die Bedeutung des Berichteten

8 Dieses professionelle Selbst entsteht durch den inneren Prozess, „zwischen pädagogischen Werten und Zielen, subjektiven Motiven und persönlichen Kompetenzen einerseits [und] den Erwartungen eines vorgestellten kritischen Beobachters andererseits eine Balance zu finden. Es greift dabei auf eine besondere Berufssprache zurück, sucht oder erfährt soziale Unterstüt- zung in der Kooperation mit Kollegen und orientiert sich an pädagogischen Werten. Das päda- gogische Selbst entsteht (…) bereits während der Erstausbildung, also während des Studiums“ (Bauer 2005, 82).

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hinaus, also „jenseits des subjektiv Gemeinten und Intendierten und des Mitgeteilten“ (ebd., 156). Die zugrunde liegenden Probleme werden dabei durch den Professionellen nicht gelöst, sondern es werden auf der Basis fallbezogener Rekonstruktionen und Inter- pretationen Deutungs- und Lösungsangebote für die Lebenspraxis des Klienten erarbeitet und diese innerhalb des Arbeitsbündnisses umgesetzt.

Auf die konkrete schulpädagogische Praxis lässt sich dieser Ansatz nicht uneinge- schränkt übernehmen, da er das Unterrichtsgeschehen nicht in seiner ganzen Komplexität erfasst.

Zwar betrachtet das strukturtheoretische Professionsverständnis professionell pädago- gisches Handeln aus der Binnensicht, indem es sowohl dessen Beschaffenheit wie auch dessen Rahmenbedingungen in den Deutungsprozess einbezieht, doch gerät dieser An- satz mit dem Begriff der „stellvertretenden Deutung“ in die Gefahr, die gesellschaftliche Vielfalt auf eine duale Beziehungskonstellation zu verkürzen.

Ver- und Aushandlungen aber, die einer solchen „stellvertretenden Deutung“ zugrunde liegen, haben auch immer noch eine zu berücksichtigende dritte Dimension: sie betreffen nicht nur den professionell Handelnden und den Klienten, sondern auch den spezifischen Kontext oder die jeweilige Thematik. Der im Verlauf der Arbeit noch auszudifferenzierende Begriff der „Vermittlung“ (Stichweh 1996) könnte diese Einschränkung überwinden.

Auch wegen des einseitigen Therapie-Fokus ist der Ansatz Oevermanns für diese Ar- beit zu erweitern. Pädagogisch professionelles Handeln kann nicht ausschließlich dem Therapiebereich zugeordnet werden, auch wenn therapeutische Ansätze und Handlungs- weisen durchaus in pädagogisches Handeln einfließen. Entscheidend ist aber, dass thera- peutisches Handeln retrospektiv auf die Wiederherstellung von Integrität abzielt, pädago- gisches Handeln dagegen prospektiv auf Lernen im Sinne neuer Erfahrungen und Erzeu- gung neuer Orientierungen angelegt ist (vgl. Dewe/Ferchhoff/Radtke 1992a, 15). Darüber hinaus bleibt bei Oevermann zu wenig berücksichtigt, dass Lehrer Schülergruppen zu un- terrichten haben. Sie müssen sich gleichzeitig mit den unterschiedlichen individuellen Lernprozessen einzelner Schüler beschäftigen und insgesamt „eine kohärente Strukturie- rung von kollektiven Unterrichtsaktivitäten entstehen (…) lassen“ (Kolbe 2004, 222). Dafür ist es notwendig, alle Anteile des komplexen Interaktionsprozesses in einen sinnvollen Bedeutungszusammenhang zu bringen und jede Unterrichtsinteraktion aufgrund des spe- zifischen Interaktionszusammenhanges fallspezifisch neu zu gestalten. Berücksichtigt werden muss zudem, dass die Schüler mit ihrem jeweiligen Wissen und Können maßgeb- lich an der Gestaltung dieser Arbeitsbündnisse beteiligt sind. Ihre Impulse müssen aufge- nommen werden, erst dann kann es in der „Face-to-face-Interaktion“ (Goffman 1996) zu einem beiderseitigen und einander beteiligenden Lernen kommen.

Dennoch gibt Oevermann wichtige Hinweise für die Gestaltung von Zweierbeziehungen, die Lehrer im pädagogischen Alltag auf der Handlungsebene, der Wissensebene und auf der Beziehungsebene als Arbeitsbündnisse mit ihrer jeweils spezifischen „widersprüch- liche[n] Einheit von Rollenhandeln und Handeln als ganzer Person“ (Oevermann 1996, 109)9 einzeln aushandeln müssen. Auf der Handlungsebene zeigt sich der Widerspruch

9 In der sozialisatorischen Sicht Oevermanns handelt es sich um ein Spannungsverhältnis auf der Ebene der Sozialbeziehung, die einerseits „diffus“ auf die Ganzheit der Person und andererseits funktional, „spezifisch“ und rollenförmig ausgerichtet ist.

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im Entscheidungszwang einerseits und der Begründungsverpflichtung andererseits, auf der Wissensebene im Wissen und dessen Umsetzung einerseits und dem Fallverstehen andererseits. Auf der Beziehungsebene schließlich wird die widersprüchliche Einheit in der Autonomie des Schülers einerseits und seiner Abhängigkeit anderseits deutlich. Dabei müssen die Lehrer in einen andauernden Dialog mit ihren Schülern in unterschiedlichen situativen Bezügen zu- und miteinander treten.

1.1.2.2 Der systemtheoretische Ansatz

Zentrale Kategorie des systemtheoretischen Ansatzes von Stichweh ist die der Ver- mittlung.10 Aus seiner Sicht basieren „professionelle Funktionssysteme“ (Stichweh 1994, 368) auf speziellem Wissen, das sich auf existenzielle Problemlagen von Personen be- zieht und für die Bearbeitung von Problemen, die Strukturänderung, den Strukturaufbau und die Identitätserhaltung von Personen erforderlich ist (ebd., 373). Wie in dem struktur- theoretischen Ansatz ist das Verhältnis zwischen Professionellem und Klienten in diesem Ansatz durch Asymmetrie und eine „gewisse interaktive Dichte des Kontakts“ (Combe/ Helsper 2002, 31) gekennzeichnet. Professionelle übernehmen vor allem Vermittlungs- leistungen, die in einem Beziehungsverhältnis stattfinden, das unter Berücksichtigung der Kontextualisierung und der jeweiligen Sachthematik eine „dreistellige“ Konstellation dar- stellt. In dieser üben Professionelle eine intermediale Vermittlungsfunktion zwischen Klienten und kultureller Sachthematik mit „Distanzüberbrückung im Verhältnis zur jeweili- gen Sachthematik“ (Stichweh 1994, 272) aus.

Auch dieser Ansatz ist kritisch zu betrachten. Berücksichtigt werden muss die Vielfalt möglicher Handlungs- und Anwendungsprobleme, die in den unterschiedlichen Funkti- onssystemen thematisiert werden können und von den Professionellen umfassendes, funktionsspezifisches Wissen erfordern. Die Distanz zwischen Lehrpersonal und Sach- kontexten kann sich als problematisch erweisen und das Spannungsverhältnis zwischen beruflichem Selbstverständnis und Erziehungsabsichten von Lehrern verstärken. Schließ- lich muss bedacht werden, dass die auf Wissensvermittlung und Problemlösung ausge- richtete Beziehung hierarchisch gestaltet ist.

Für die Bearbeitung der Klientenproblematiken ist zudem nicht nur professionelles, a- kademisches Wissen notwendig, sondern auch der professionelle „Umgang mit Unge- wissheit“ (ebd., 296). Dieser begründet sich u.a. in den nur schwer formalisierbaren und kaum steuerbaren Face-to-face-Interaktionen und stellt ein Spezifikum pädagogischer Praxis dar. Die Problematik der Interaktionsdynamik erfordert eine Erweiterung des Pro- fessionsverständnisses um den im Folgenden ausgeführten interaktionistischen Ansatz.

10 Aufgrund der Vielzahl von Funktionssystemen und der Fülle neuer wissenschaftlicher Berufe, die im Zusammenhang mit der Berufsidee der europäischen frühen Neuzeit entstehen, wird für die professionssoziologische Analyse von Stichweh eine Veränderung des Vergleichshorizontes vorgeschlagen. Statt des Vergleichs von Berufen werden Funktionssysteme verglichen mit dem Ziel, „deutlicher herauszuarbeiten, daß Professionalisierung nur ein bestimmtes Lösungsmuster für spezifische Probleme in einigen Funktionssystemen ist“ (Stichweh 1996, 57f.).

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1.1.2.3 Der interaktionistische Ansatz

Der interaktionistisch geprägte Zugang zur professionstheoretischen Diskussion, der auf die Forschungstradition der Chicago School zurückgeht und in Deutschland vor allem durch die Arbeiten von Fritz Schütze (1992, 2000; Schütze u.a. 1996) repräsentiert wird, zielt auf eine empirische Erschließung mikrosoziologischer Fragestellungen. Damit wer- den Aspekte in den Blick genommen, die aus struktur- und systemtheoretischer Perspek- tive weitgehend unberücksichtigt bleiben. Professionen werden in diesem Ansatz bestimmt als „berufsrollenförmige Bearbeitung lebenspraktischer Konfliktsituationen von Klienten [deren] (…) biographische Lebensplanung und Lebensführung außer Kontrolle geraten ist“ (Combe/Helsper 2002, 32). Dieser Prozess, der sich in typischen „Verlaufskurven“ bis zur Chronifizierung zuspitzen kann, stellt besondere Anforderungen an Professionelle. Sie müssen an zentralen Schnittstellen gesellschaftlicher Konstitutionsprozesse grundlegende Unvereinbarkeiten sozialer Prozesse miteinander vermitteln (vgl. Schütze u.a. 1996, 334). Im Unterschied zu dem Ansatz von Oevermann, betrachtet die interaktionistisch geprägte Forschung vor allem die Anfälligkeit des professionellen Handelns sowie die Handlungssi- tuationen, die durch Spannungen und z.T. diskrepante Anforderungen und durch unauf- hebbare Paradoxien gekennzeichnet sind.11

1.1.2.4 Der kombinierte, konstruktivistisch ausgerichtete Ansatz

Alle drei dargestellten Ansätze verstehen Professionen als „Strukturerfordernis in Moder- nisierungsprozessen“ (Kraul u.a. 2002a, 8) und verweisen auf Ungewissheiten und Feh- leranfälligkeit als „Strukturkern“ (ebd.) professionellen Handelns. Dieses ist in kulturelle, gesellschaftliche und organisationsbedingte Zusammenhänge eingebettet und durch wider- sprüchliche Vermittlungsleistungen, Antinomien und paradoxe Spannungen bzw. Struktu- ren (vgl. Schütze u.a. 1996, 2000) gekennzeichnet. In allen drei Ansätzen erfordert die Bearbeitung der Probleme, die auf „Strukturänderung, Strukturaufbau und der Identitäts- erhaltung von Personen“ (Stichweh 1994, 373) zielt, die Mitwirkung der Klienten und da- mit eine reziproke Kooperation von Professionellem und Klienten in Form eines Arbeits- kontraktes (Schütze u.a. 1996) bzw. eines Arbeitsbündnisses (vgl. Oevermann 1996). In diesem manifestiert sich die professionelle Leistungserbringung immer im Rahmen einer Beziehungs- und Handlungspraxis und beruht darauf, dass Professionelle als primär Handelnde verstanden werden, die ihre Kompetenzen realisieren und dadurch das Ge- schehen in der „Professionellen-Klienten-Dyade“ (Stichweh 1994, 302) strukturieren. Zu berücksichtigen ist dabei, dass die Interventionen der Professionellen grundsätzlich mit Eingriffen in die Integrität und Autonomie des Klienten verbunden sind. Bezogen auf die schulische Situation bedeutet dies, dass Lehrende die Wissensbestände ihrer Schüler immer wieder irritieren müssen und damit als „Krisenauslöser“ (Helsper 2001, 48) wirken,

11 Die mikrosoziologischen Untersuchungen von Schütze, die in der Sozialarbeit ihren Ursprung haben, thematisieren insbesondere Problemstellungen professionellen Handelns wie z.B. die individuellen Sinnwelten, die für das berufliche Handeln orientierungsrelevant sind und das für die Professionsentwicklung notwendige „Bewusstsein über Fehlerpotentiale professionellen Handelns, Verfahren der Reflexion und Selbstvergewisserungsinstitutionen wie Supervision und Selbsterfahrung“ (Fabel-Lamla 2004, 76).

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ohne jedoch sicher sein zu können, dass die von ihnen ausgelöste Unsicherheit zu pro- duktiven Lernprozessen und nicht zu destabilisierenden Verunsicherungen führt.

Davon ausgehend, dass sich Wissen nicht linear vom Professionellen zum Klienten transportieren lässt und jeder der an Interaktionen beteiligten Akteure zunächst einmal seine eigene Bedeutungswelt aufbaut, wird das bisher entwickelte und aus verschiedenen Ansätzen kombinierte Professionsverständnis nochmals erweitert und konstruktivistisch ausgerichtet. In seinem Buch „Der Konstruktivismus als pädagogische Weltanschauung“ verdeutlicht Horst Siebert (2002), dass uns Wirklichkeit – wie sie wirklich ist – aus der Sicht des Konstruktivismus12 verschlossen bleibt. Sie werde jeweils individuell unter- schiedlich konstruiert und aus Selbst-, Fremd- und Weltbildern gestaltet. Dem konstrukti- vistischen Grundverständnis folgend, wird Lebenswelt somit zu einem Konstrukt. Nicht die äußere Realität bewirkt demnach Wirklichkeit, sondern die Wirklichkeit bewirkt etwas in uns. Wir entdecken nicht eine vorhandene, sondern wir erfinden eine für uns bedeutsame Welt. Wenn die Entwicklung des Lebens nicht primär als Anpassung an die Umweltbedin- gungen gesehen, sondern als ein relativ eigenständiger, operational geschlossener und selbstreferentieller, autopoietischer13 Prozess verstanden wird, kann Erkenntnis demnach nicht objektiv, sondern immer nur subjektiv und intersubjektiv, d.h. in der Verständigung mit anderen, möglich sein.

Auf der Grundlage des von Kersten Reich begründeten Ansatzes des interaktionisti- schen Konstruktivismus finden Interaktionen nicht nur auf der Grundlage symbolischer Vermittlung statt, sondern gestalten sich als „Spiegelung[en]“ (Reich 1998b, 40). Dieser Ansatz argumentiert sozial-konstruktivistisch und betont bei der Konstruktion von Wirk- lichkeit die Bedeutung der kulturellen und lebensweltlichen Bezüge. In Interaktionen wer- den demnach nicht nur Situationen und Beziehungen definiert, d.h. Haltungen, Meinungen und Einstellungen kommuniziert und Grenzen, Positionen und Regeln festgelegt, sondern in ihnen wird Wirklichkeit re-, de- und neu konstruiert. Dies erfolgt im Dialog und vor dem Hintergrund der jeweiligen individuellen kulturellen und lebensweltlichen Bezüge. Damit gewinnt die Unterscheidung von Inhalten und Beziehungen an Bedeutung.

Für die Anforderungen an Professionelle, insbesondere an Lehrer, bedeutet diese kon- struktivistische Orientierung einerseits, dass ihr Wissen keine Wahrheit, sondern ebenfalls (nur) eine Konstruktion von Wirklichkeit ist und andererseits, dass durch die Betonung von Individualität, Eigensinnigkeit und Eigenwilligkeit der Lerner den Aspekten Selbstorganisa- tion, Sprache, Toleranz und Verantwortung eine besondere Bedeutung zukommt (vgl. Siebert 2002). Dabei ist das Prinzip der Viabilität grundlegend. Dieses bezieht sich auf die Passfähigkeit der inneren Realität zu den äußeren Begebenheiten. Um handlungsfähig zu

12 Als Konstruktivismus wird ein erkenntniskritischer Theoriezusammenhang verstanden, der in pädagogischen Zusammenhängen seit den 1980er-Jahren diskutiert wird (vgl. Glasersfeld 1987; Maturana/Varela 1987; Watzlawick 1990; Luhmann 1990 u.a.). Bezogen auf die Lernthe- orie bedeutet ein konstruktivistisches Lernverständnis, dass Lernende in ihren Lernprozessen individuelle Repräsentationen von Welt schaffen, abhängig von dem Lerner selbst und seinen Erfahrungen.

13 Der Begriff Autopoiese kommt aus dem Griechischen (auto = selbst und poienin = machen) und bedeutet Selbstherstellung bzw. Selbsterzeugung. Die Theorie der Autopoiese wurde zuerst von den Biologen Maturana und Varela entwickelt und später von Luhmann auf soziale Prozesse übertragen (vgl. Luhmann 1987).

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sein, wird die innere Struktur an die Umwelt angepasst, sodass sie als Grundlage für wei- tere Handlungen nutzbar ist.14

In der Konsequenz bedeutet das, dass sich die grundlegenden Erkenntnisprozesse im individuellen Lernen, das als eine Konstruktion von Meta-, Fakten- und Handlungswissen gefasst wird, nicht direkt vermitteln lassen. Einsichten und Erkenntnisse sind grundsätz- lich subjektiv konstruierte Lernergebnisse. Wissen wird selbst erzeugt, eingebunden in soziale und kulturelle Bedingungskontexte der Interaktion. Hierfür sehen sich die Lehrer sowohl mit veränderten Anforderungen als auch mit einem erweiterten Rollenverständnis konfrontiert (vgl. Dauber 2005). Sie agieren als Coach, Begleiter und Berater. Horst Sie- bert verwendet für die Rolle der Lehrer passend die Metapher des Reisebegleiters (Rolf/ Siebert 2006, 31). Als solche begleiten sie ihre Klientel auf der Reise der Entdeckungen und in Prozessen der Re-, De- und Neukonstruktion von individuell bedeutsamen Wirk- lichkeiten. Die konkrete soziale Interaktion ist erforderlich, um das selbst konstruierte Wis- sen mit anderen zu teilen und um sich mit anderen darüber zu verständigen. Diese Mo- mente der gemeinsamen Verständigung werden hinsichtlich der Bedeutung einzelner As- pekte von Welt Ko-Konstruktionen genannt. In diesen Prozessen müssen die „emotionale Seite des Subjekts, die von vornherein und unabdingbar in den Prozess der Kommunika- tion selbst eingebunden ist“ (Reich 1998b, 135), ebenso wie interaktive imaginäre Pro- zesse und die Beziehungsseite als Bedingung für mögliche inhaltliche Realisationen be- achtet werden. In diesem Zusammenhang betont auch Reich die Notwendigkeit der Aner- kennung des Unbewussten, denn „es ist nicht alles erklärbar, was bedeutet, daß wir das Unbewußte anerkennen oder zumindest als Grenzbedingung unserer begrenzten Be- wusstheit akzeptieren lernen“ (ebd., 40) müssen.

Für die vorliegende Arbeit, in der das besondere Augenmerk auf den Binnenstrukturen und Mikroprozessen professionellen Handelns von angehenden Lehrern liegt, wird, wie aufgezeigt wurde, ein integrierter und konstruktivistisch ausgerichteter Professionsansatz zugrunde gelegt. In diesem erhält Reflexivität einen hohen Stellenwert. Bevor dieser As- pekt jedoch detailliert ausgeführt wird (vgl. Kapitel 1.2.3), soll im Folgenden das professi- onelle Lehrerhandeln näher betrachtet werden. Dieses wird zunächst für die pädagogi- sche Beziehungspraxis als Lern- und Lebensbegleitung konzeptualisiert, die für ihre Ver- mittlungsprozesse auf pädagogische Anerkennungsbeziehungen angewiesen (1.2.1) und durch spezifische Herausforderungen und Anforderungsstrukturen gekennzeichnet ist (1.2.2). Die Bewältigung der Herausforderungen gelingt in der Alltagspraxis nicht zwangs- läufig. Auftretende Erschwernisse und Handlungsprobleme erfordern situations- und fall- spezifische reflexive Betrachtungen. Der besondere Stellenwert von Reflexivität für pro- fessionelles Handeln wird in einem sich anschließenden dritten Schritt mit dem Fokus auf Selbstreflexivität im Sinne biografischer Selbstvergewisserung ausgeführt (1.2.3).

14 Das Prinzip der Viabilität besagt zudem, dass auch die Lernumgebungen zu den Strukturen des Lernenden passfähig sein müssen. Das bedeutet eine weitgehende Abkehr von Lehrformen, die einer Gruppe ein und dieselbe Sachstruktur vorgeben. Wird Lernen individualisiert, müssen Lernumgebungen dieser Individualisierung gerecht werden. Dafür müssen für Angebote unter- schiedliche Gestaltungsebenen berücksichtigt und möglichst verschiedene, miteinander ver- netzte Handlungsfelder eröffnet werden (vgl. Carle 2000; Lindemann 2006).

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12 1.2 Professionelles Lehrerhandeln

Der Lehrerberuf zeichnet sich entsprechend seiner unterschiedlichen Funktionen durch vielfältige Aufgaben aus: Zuständig für die Enkulturation und Bildung der heranwachsen- den Generation ist er ein Kulturberuf, aufgrund politischer, ökonomischer und sozialer Implikationen und auf der Grundlage der Interessenwirkung verschiedener gesellschaft- licher Gruppen ist er aber auch ein Gesellschaftsberuf. Da Lehrer wesentlichen Einfluss auf die Schüler nehmen, ist er ebenso ein ethisch ausgerichteter Sozialberuf mit pädago- gischen und psychologischen Implikationen. Im Hinblick auf die erforderliche Organisation und Durchführung von Unterricht mit dem Zweck des Lernens gilt er darüber hinaus als ein didaktischer Beruf. Und da er neben seiner Erziehungsaufgabe auch bürokratische, kustodial-verwaltende Aufgaben des Vermehrens, Bewahrens und Erschließens enthält, ist er schließlich auch ein bürokratischer Beruf (vgl. Ulich 1996a).

1.2.1 Konzeptualisierung professionellen Lehrerhandelns

Vor dem Hintergrund dieser unterschiedlichen Facetten ist die Vielfältigkeit der beruflichen Anforderungen zu verstehen, die an Lehrer in den Handlungsfeldern Unterricht, Erziehung und Beratung, Evaluation, Entwicklung und Verwaltung gestellt werden. Von ihnen wird ein professionelles pädagogisches Handeln gefordert, das als eine Form des sozialen Handelns15 auf Veränderung der Menschen bzw. der menschlichen Verhältnisse und Be- dingungen ausgerichtet ist und das Ziel verfolgt, Lernen bewusst und im argumentativen Austausch zu ermöglichen (vgl. Giesecke 2000, 21). Professionelles pädagogisches Han- deln stellt in diesem Verständnis eine Dienstleistung dar, die die individuelle Weiterent- wicklung durch innervierendes, intervenierendes und begleitendes Lernen anstrebt und sich in erster Linie auf die Schüler und Schülerinnen, des Weiteren aber auch auf die El- tern und Kollegen bezieht.

In seiner Struktur besteht pädagogisches Lehrerhandeln aus einer zugrunde liegenden Konzeptualisierung (Planung), einer Realisierung (Vollzug) und einer abschließenden Kontrolle oder Evaluation (Überprüfung). Seine Komplexität wird durch die Normen und Axiome, die in das Handeln einfließen und dieses bestimmen, sowie durch emotionale Grundlagen, Motivationen und Intentionen verstärkt. Die konkrete Durchführung mit Hand- lungsmethoden, Strategien oder Taktiken wird von unterschiedlichen Zwängen und Not- wendigkeiten beeinflusst und mitbestimmt. Erschwert wird das Handeln im pädagogischen Alltag zudem durch zufällige und ungeplante Ereignisse und Zwischenfälle, die Routinen aufheben und spontane Entscheidungen erfordern und zu Konflikten und Krisen führen oder besondere Herausforderungen darstellen können.

Ein bewusster und gekonnter Umgang mit dieser Komplexität und den speziellen Prob- lemen wird als professionelles Lehrerhandeln in den folgenden Ausführungen im Hand-

15 Soziales Handeln beschreibt Aktionen, ein Tun, Dulden oder Unterlassen, das für den Akteur als Handelnden subjektiv sinnhaft und insofern sozial ist, als es sich auf das Verhalten anderer bezieht und sich in seinem Ablauf daran orientiert. Soziales Verhalten begrenzt sich nicht auf ein helfendes oder solidarisches Verhalten, sondern meint die „Tatsache, dass ein Individuum sein Verhalten in Abhängigkeit von den Erwartungen und Reaktionen anderer reguliert.“ (Schaub/Zenke 2002, 518).

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lungsfeld „Beziehungspraxis“ als „Lern- und Lebensbegleitung“ und „Vermittlungsarbeit“ konkretisiert.

1.2.1.1 Pädagogische Praxis als Beziehungspraxis

Das Besondere des pädagogischen Berufs ist einerseits seine spezifische Art und Weise des menschlichen Umgangs mit unterschiedlichen Partnern und andererseits die Einbet- tung der Lehr- und Lernprozesse in zwischenmenschliche Beziehungsabläufe. Der für diese Beziehungspraxis verwendete Beziehungsbegriff fasst den interaktionellen und kommunikativen Charakter einer Begegnung und „bezeichnet ganz allgemein die Verbun- denheit oder Distanz von Individuen, die in einem bestimmten sozialen Prozeß, dem Er- ziehungsgeschehen, vereint sind“ (Dörr 1996, 87).

In kaum einem anderen Beruf spielt das komplexe Beziehungsgeschehen mit seinen zwischenmenschlichen und sozial emotionalen Prozessen eine so zentrale Rolle, wie in dem der Lehrer (vgl. Spanhel/Hüber 1995; Rosenberger 2005 u.a.). Ihre Einflussnahme beschränkt sich, wie Terhart (2000b) betont, nicht nur auf den Unterricht, sondern er- streckt sich auf das gesamte Schulumfeld. Eingebunden in vielfältige Systembeziehungen unterschiedlicher Qualitäten, müssen Lehrer in wiederum unterschiedlichen Handlungs- bezügen und Tätigkeitsfeldern Beziehungen im Sinne von „Verbindungen“ eingehen und „innere Zusammenhänge“ herstellen sowie „wechselseitige Verhältnisse“ gestalten (vgl. Brozio 1995, 74): mit den einzelnen Schülern in der Klasse, mit dem Kollegium der Schule, mit den Eltern, mit außerschulischen Unterstützungssystemen und Kooperationspartnern.

Diese Beziehungen können, je nach Beziehungsform und -inhalt, Beziehungsart und -ebene, auf Gleichheit oder Ungleichheit beruhen, auf Symmetrie oder Komplementarität ausgerichtet sein (vgl. Watzlawick u.a. 1980) und nach den Kategorien Abstand (nah und fern) und Qualität (positiv oder negativ) unterschieden werden.

Dieses, den pädagogischen Alltag prägende zwischenmenschliche Beziehungsge- schehen, ist auch für das erfolgreiche Lernen und für gelingendes pädagogisches Ver- mittlungshandeln grundlegend. Denn Bildung, Lernen und Persönlichkeitsentwicklung sind auf positive Beziehungen angewiesen, wie es u.a. in dem Abschlussbericht der Kommis- sion Lehrerbildung der Kultusministerkonferenz von 2000 betont wird (Terhart 2000, 50). Demnach gehört die „absichtsvolle erzieherische Einflussnahme zur Unterstützung der Persönlichkeitsentwicklung zum Aufgabenspektrum von Lehrkräften“ (ebd.).

Aus konstruktivistischer Sicht sind pädagogische Beziehungen keine dyadischen Kon- struktionen, in denen die Beteiligten ausschließlich aufeinander bezogen handeln. Lehrer und Schüler werden vielmehr in ihrem Verhältnis zueinander als selbsterzeugende, auto- poietische Systeme verstanden, die jeweils in eigene soziale Kontexte und größere Um- weltzusammenhänge eingebettet sind. Das Gelingen von Lernprozessen ist somit nicht nur von den Intentionen des Lehrers, sondern entscheidend von denen der Schüler ab- hängig. Ihre Lernmotivation wiederum wird maßgeblich durch eine von positiven Gefühlen gekennzeichnete Beziehung zu ihren Lehrern beeinflusst, sind es doch die Emotionen, „die in jedem Augenblick unser Tun bestimmen, nicht unsere Ratio“ (Maturana/Verden- Zöller 1993, 21). Professionell handelnde Lehrer ermöglichen daher „eine Atmosphäre, in der sich alle am Schulleben Beteiligten wohl fühlen und gern miteinander arbeiten und lernen. Dabei werden jungen Menschen nicht nur Bildungsinhalte beigebracht, sondern

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auch Orientierungen im Hinblick auf Verhaltensdispositionen gegeben" (Feiks/Krauß 2001, 76).

Schüler werden, so verstanden, im schulischen Vermittlungsprozess nicht auf einem von Lehrern vorbestimmten Pfad zum Ziel geführt, sondern auf ihrem je individuellen Weg begleitet und beraten. Hierfür sind Beziehungen zwischen Lehrern und Schülern förder- lich, die sich durch eine dialogische Haltung auszeichnen, in denen gemeinsam Lösungen gesucht werden (vgl. Foerster 2002) und in denen Lernen als Ko-Konstruktion stattfindet (vgl. 1.1.2.4). Wird Lernen vor diesem Hintergrund als ein in kommunikative Rahmen ein- gebettetes Sammeln und Verarbeiten von Erfahrungen verstanden, muss das Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern durch kommunikative Akte auf der Basis eines wechsel- seitigen Austauschs von Erfahrungen konstituiert werden. Giesecke beschreibt aus die- sem Grund die Lehrer-Schüler-Beziehung als pädagogische Beziehung wie folgt im Bild des Erfahrungsaustauschs:

In einer pädagogischen Beziehung treffen Kinder oder Jugendliche und Pädagogen auf- einander, die immer schon über Erfahrungen verfügen, die sie mit sich, mit anderen, mit der Schule oder überhaupt mit der Welt gemacht haben. Diese Erfahrungen lassen sich sprach- lich artikulieren, und sie werden mobilisiert, wenn der Pädagoge – z.B. ein Lehrer – sie mit neuen Erfahrungen – z.B. einem Unterrichtsstoff – konfrontiert. Der alte Erfahrungszusam- menhang reicht aber immer über die besondere Absicht des Unterrichts hinaus, ist ,ganz- heitlich‘ im Vergleich zur Begrenztheit etwa des jeweiligen Unterrichtsstoffes; deshalb kann neues Wissen in den bisherigen Erfahrungszusammenhang sinnvoll integriert werden. Die Auseinandersetzung mit neuen Erfahrungen kann der Pädagoge teilweise erzwingen – wie in der Schule – oder auch nur anbieten – wie in der Freizeitpädagogik –, aber immer handelt es sich dabei um einen wechselseitigen Austausch; denn auch der Lehrer lernt von den Er- fahrungen seiner Schüler, zumindest im Hinblick auf die Vermittlungsmöglichkeiten seiner ,Sache‘, die er im Blick hat (Giesecke 1997, 263f.).

Bildet die pädagogische Beziehung den Rahmen für organisierte ko-konstruierende Lern- prozesse und Wissenserwerb, sind dabei um Symmetrie bemühte und nicht auf Hierar- chie bestehende Kommunikationsstrukturen zwischen Lehrenden und Lernenden förder- lich.

Wie verschiedene Studien zum Burn-out von Lehrern zeigen, wird diese Beziehungs- praxis jedoch von Lehrern als besonders belastend und sogar als Stressfaktor empfun- den, der sich zusammen mit anderen Faktoren negativ auf die Lehrergesundheit auswir- ken kann (vgl. Schaarschmidt u.a. 2000; Bauer 2005; Combe/Buchen 1996; Dauber/Voll- städt 2003 u.a.). Dies ist unterschiedlich und multifaktoriell zu begründen. Es könnte dar- auf verweisen, dass Lehrer mit der Beziehungsvielfalt, die im Zusammenhang mit der He- terogenität der Lerngruppen steht, überfordert sind und „der Umgang mit einer sozial he- terogenen Schülerschaft (…) erst gelernt werden [muss]“ (Combe/Buchen 1996, 67). Möglich ist aber auch, dass die Organisation der Beziehungspraxis aufgrund der komple- xen Beziehungsstrukturen in den großen Lerngruppen und unter den beengten räumli- chen und zeitlichen Rahmenbedingungen des pädagogischen Alltags nicht oder nur äu- ßerst erschwert gelingt. Im „Dickicht der Beziehungen" (Wellner 1993, 41) werden Lehrer mit unterschiedlichen Wahrnehmungen und Vorerfahrungen und oft auch mit unbewuss- ten Erwartungen konfrontiert und müssen die vielfältigen Beziehungen mit unterschiedli- chen Beziehungs-, Handlungs- und Kommunikationsstrukturen und -mustern realisieren.

Die Gestaltung von Beziehungen auf den unterschiedlichen Ebenen erfordert sowohl eine hohe Sensibilität als auch eine hohe Flexibilität, denn sie muss immer wieder neu de-

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finiert, situativ ausgehandelt und am Ende eines jeden Schultages vorübergehend immer wieder auch aufgelöst werden.

Diese für die Beziehungsorganisation erforderlichen Vermittlungs- und Aushandlungs- prozesse verlaufen daher nicht immer konfliktfrei. Häufig sehen sich Lehrer dabei mit un- gebremstem und direktem Verhalten ihrer Schüler und oft mit unmittelbar ausgelebten Gefühlen und Impulsen konfrontiert. Dieses Verhalten als Form der Bewältigung kindlicher Probleme zu erkennen, zu verstehen und zu ertragen, ohne die Impulse auf die eigene Person zu beziehen, stellt eine hohe Anforderung an Lehrer dar und kann emotional be- sonders belasten.

1.2.1.2 Individuelle Lern- und Lebensbegleitung als Ko-Konstruktion

Um Schüler in ihren individuellen Lernprozessen zu fördern und zu unterstützen und ein aktives Lernen zu ermöglichen, ist es wichtig, Inhalte auf die individuellen Bedürfnisse hin auszurichten und vorzustrukturieren. Dies bedeutet vor dem Hintergrund eines konstrukti- vistischen Lernverständnisses, dass Lehrer in der Rolle des Lernbegleiters den Lernen- den selbstgesteuertes Handeln ermöglichen, sie auf der Grundlage gezielter Lernstands- diagnosen zu eigenständigen, experimentellen und sich selbst erprobenden Lernwegen ermutigen und sie anerkennend begleiten müssen, statt ein Lernen im Gleichschritt zu fordern bzw. zu erwarten. Dabei sind Rückmeldungen über Lernprozesse, -schwierigkei- ten und -fortschritte notwendig, die in Gesprächen über Entwicklungen und Veränderun- gen in individuellen Lernprozessen formuliert werden (vgl. Gudjons u.a. 1999, Gasser 1999).

Als Lernbegleiter und -berater müssen Lehrer vielfältige Lernwege und Lösungsmög- lichkeiten nicht nur ermöglichen, sondern auch zulassen. Das wiederum bedeutet, sich auf lebendige Lernsituationen einzulassen, sich Ungewissheiten zu stellen und Unplan- barkeiten auszuhalten. Vor diesem Hintergrund müssen sich Lehrende in den Konstrukti- onsprozessen ihrer Schüler selbst auch als Lernende verstehen. Der Reziprozität als Aus- tauschbarkeit von Rollen kommt hierbei besondere Bedeutung zu.

Begleitung bedeutet damit im übertragenen Sinn, zusammen zu lernen, sich über die individuellen Bedeutungen auszutauschen und Lernen als gemeinsame Konstruktion, als Ko-Konstruktion zu verstehen, denn

Lehren ist nicht die Vermittlung und Lernen ist nicht die Aneignung eines extern vorgegebe- nen ,objektiven‘ Zielzustandes, sondern Lehren ist die Anregung des Subjekts, seine Kon- struktionen von Wirklichkeit zu hinterfragen, zu überprüfen, weiterzuentwickeln, zu verwer- fen, zu bestätigen etc. (Werning 1998, 40).

Hierfür müssen Lehrer ein komplexes Bündel differenzierter Fähigkeiten in vielfältigen, in- dividuell unterschiedlichen Lern- und Konstruktionsprozessen anwenden und umsetzen: sie haben anzuleiten, zu unterstützen, zu stärken, sie müssen vermitteln, Wege weisen und führen, aber sie müssen sich auch auf Rollenwechsel einlassen und sich führen las- sen können. Dabei agieren sie nicht nur in einer Doppel-, sondern in einer Dreifachrolle: sie sind wissende Experten, handeln als lernerorientierte Moderatoren und haben zugleich die Rolle eines Lernenden inne.

Vor dem Hintergrund der heterogenen Zusammensetzung vieler Lerngruppen in Grundschulen, insbesondere im Hinblick auf soziokulturelle Hintergründe, Lernvorerfah- rungen und -ausgangslagen der Schüler, erweist sich individuelle Lern- und Lebensbe-

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gleitung als umfassende und äußerst komplexe Aufgabe. Lernumgebungen, Lernerfah- rungen und Lebensbedingungen der Schüler, wie auch deren individuell mögliche und si- tuativ bedingte Konstruktionsprozesse, müssen differenziert erfasst werden, damit die be- reits bestehende Differenz zwischen leistungsstarken und leistungsschwachen Schülern nicht verstärkt wird und soziale Benachteiligung durch Schule besser kompensiert werden kann.16

Lernen – verstanden als individuell bedeutsamen Konstruktions- und Kommunikations- prozess – ist immer in Lebenssituationen eingebunden. Da diese Lebenssituationen nicht selten durch belastende Lernerfahrungen geprägt sind – Trennungssituationen, frühe Ver- lusterfahrungen, wenig kontinuierliche Verlässlichkeit oder familiäre Konflikte, frühzeitige Alltagsverantwortung in anregungs- und unterstützungsarmer Umgebung oder inkon- sistente Erziehung u.ä. können das Lernen massiv erschweren – muss die Förderung von Lernen und Entwicklung immer im Zusammenhang mit den jeweiligen Lebensbedingun- gen der Kinder gesehen werden. Auf diesem Hintergrund wird mit Bezug auf Begemann (1997) der Begriff der Lernbegleitung durch das in der Sonder- und Heilpädagogik veran- kerte Verständnis einer Lebensbegleitung erweitert17 und schließt eine sozio-ökosystemi- sche Sichtweise (vgl. Bronfenbrenner 1981) und eine grundlegende Kind-Umfeld-Ana- lyse18 (Carle 2003, 711) mit ein.

Insbesondere für Kinder, die unter solchen erschwerten Bedingungen aufwachsen und mit einer Häufung von Risikofaktoren auf der sozialen und psychologischen Ebene kon- frontiert sind, kann Schule nicht nur kompensatorisch, sondern vor allem auch protektiv wirksam werden. Das noch junge Forschungsgebiet der Resilienzforschung belegt, dass Schulen dann als protektiv und erziehungskompetent gelten, wenn sie im Spannungsfeld zwischen Bildung und Leben langfristige Entwicklungsprozesse und selbstständiges Ler- nen mit dem Ziel gelingender Lebensgestaltung (vgl. Göppel 1999, 177) verbinden.

Dementsprechend ist pädagogische Lern- und Lebensbegleitung als mitwirkende Un- terstützung und strukturgebendes Hilfsangebot zu verstehen. Sie hilft, Situationen und Umgebungen zu strukturieren, setzt Grenzen und trägt dazu bei, Begrenzungen zu über- winden und – wie es in einem der drei Fälle ausgedrückt wird – „Türen zu öffnen“, um neue Wege und alternative Möglichkeiten zur Entwicklungsfortschreibung aufzuzeigen, anzubahnen oder einzuleiten und zu begleiten.

Diese Zielsetzung hat Auswirkungen auf die Beziehungspraxis professionell handeln- der Lehrer. Vor dem Hintergrund, dass „persönlich bedeutsames Lernen, Bildung, Re- spekt, Verständnis und Liebe (…) weder pädagogisch noch didaktisch, weder methodisch noch therapeutisch herstellbar oder verfügbar [sind]“ (Dauber 2005, 24), müssen sich pro-

16 Internationale Schulleistungsuntersuchungen wie PISA und IGLU verdeutlichten u.a. die große Differenz zwischen leistungsstarken und schwachen Schülern in deutschen Schulen und die nicht hinreichende Kompensation sozialer Benachteiligungen durch die Schule.

17 Begemann verwendet den Begriff im Kontext der Förderdiagnostik. 18 Die Kind-Umfeld-Analyse ist ein Verfahren zur Erhebung der lebensumweltlichen Bedingungen

kindlicher Entwicklungsmöglichkeiten. Hierfür wird kindliche Umwelt auf Begrenzungen und Ressourcen hin betrachtet, denn sie ist „zugleich Bedingung der kindlichen Entwicklung, Aneig-nungsziel und als Quelle der tätigen Auseinandersetzung Entwicklungsmotor (Carle 2003, 714). Die theoretische Basis des Verfahrens der Kind-Umfeld-Analyse geht auf Bronfenbrenner (1981) zurück. Neuere systemtheoretische Erkenntnisse erweitern es – das Kind und sein Um- feld werden als autopoietische Systeme begriffen.

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fessionell handelnde Lern- und Entwicklungsbegleiter innerlich achtsam darauf einstellen, um dann, wenn sich individuell bedeutsames Lernen ereignet, zu versuchen, „diesen Pro- zess empathisch (= einfühlsam) zu begleiten und zu fördern“ (ebd.). Um allen Kindern in ihren unterschiedlichen Lern- und Entwicklungsbedürfnissen gerecht werden zu können, müssen Lehrer vielfältige und möglichst erlebnis- und erfahrungsorientierte Angebote für je unterschiedliche Lernwege ermöglichen und bereitstellen. Entscheidend ist, dass nicht nur vielfältige Angebote vorstrukturierend arrangiert werden, sondern dass Unterschied- lichkeit grundsätzlich zugelassen und positiv gewertet wird.

Lehrer als Lern- und Lebensbegleiter agieren dabei nicht nur in der Rolle des wissen- den und vorgebenden Experten, sondern auch in der des Weggefährten und Begleiters, der sich fragend, vorschlagend und anbietend verhält und immer wieder den Dialog mit den Schülern sucht. Nach Carlsburg/Heitger (2005) wünschen sich Schüler ihre Lehrer auch als Gesprächspartner, die sie auch mit privaten Problemen ansprechen können. Ihr Wunsch nach unmittelbaren Kontakten von Person zu Person, auch auf der Ebene des außerschulischen Lebens, verweist, so die Autoren, auf das Bedürfnis nach einer partner- schaftlichen Schüler-Lehrer-Beziehung. Gehen Lehrer auf diesen Wunsch ein, so können sie auf der Basis solch guter Bindungen (vgl. Garlichs 2001) als zuverlässige und konti- nuierliche Bezugsperson, Vorbild, Freund und Modell für Akzeptanz, Verstehen und sozi- ale Unterstützung protektive Funktion übernehmen und damit das Zusammenspiel von gehäuft auftretenden Risikofaktoren im Leben einzelner Kinder abmildern und ihre Wider- standskraft fördern (vgl. Wustmann 2005; Opp u.a. 1999; Geiling 2000 u.a.).

Unterstützend wirkt die Förderung der Erziehungs- und Interaktionsqualität zwischen den Erziehungspersonen und dem Kind. Professionelle Lehrer beschränken sich nicht auf ihre Aufgabe als Lern- und Lebensbegleiter für Kinder, sondern sie verstehen sich ebenso als Berater für Eltern mit dem Ziel, Partizipation und Kooperation zu verstärken und damit die sozialen Ressourcen in der Betreuungsumwelt der Kinder auszubauen.

Pädagogisches Handeln als Lern- und Lebensbegleitung erfordert unter dem Aspekt der Ko-Konstruktion den professionellen Umgang mit vielfältigen Differenzen und ist auf Vermittlungsleistungen angewiesen. Für pädagogische Interaktionen, die sich immer „an der Schnittstelle von psychischen, interaktionellen und kulturellen Bedingungen“ (Com- be/Helsper 2002, 39) bewegen und in intergenerationelle Beziehungen eingebettet sind, bilden diese Vermittlungen die Basis für pädagogisch professionelles Handeln und damit die Kernstruktur pädagogischer Professionalität (vgl. ebd., 40).

1.2.1.3 Vermittlung in pädagogischen Anerkennungsbeziehungen

In pädagogischen Situationen geht es immer wieder darum, in unterschiedlichen Syste- men Phänomene von möglichst allen Seiten zu betrachten, Positionen zu beziehen und unterschiedliche Standpunkte ins Verhältnis zu bringen. Lehrer müssen sich dabei zwi- schen den Polen Kinder und Erwachsene, Familie und Gesellschaft, Vergangenheit und Zukunft sowie zwischen Fremdheit und Vertrautheit bewegen und zu unterschiedlichen Zeiten an verschiedenen Orten mannigfache Inhalte vermitteln.

Der Begriff „Vermittlung“ ist vieldeutig: ausgehend vom lateinischen „mediatio“ bedeu- tet er zunächst ganz allgemein die „Angabe eines Mittleren zum Zwecke der Verbindung von einander ausschließenden Wahrnehmungen oder widersprüchlichen Begriffen“ (Mit- telstraß 2004, 517). Dieses „Mittlere“ kann sowohl auf Klärung und Verständigung ausge-

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richtet sein als auch auf Ausgleich oder Beruhigung, wenn es darum geht, zwischen Men- schen zu vermitteln. Neben diesen beziehungsstiftenden, stabilisierenden Leistungen können aber ebenso Inhalte, Können, Wissen, Sichtweisen oder Standpunkte vermittelt werden. Beide Aspekte sind für das Lehren und Lernen in der Schule von zentraler Be- deutung. Beide verlangen vom professionellen Lehrerhandeln auf verschiedenen Ebenen unterschiedliche Handlungsmuster: es geht um personale, mediale, monologische und di- alogische Vermittlung und, je nach Zielsetzung, um transferierende oder beziehungs- konstituierende Vermittlungsprozesse. Vor diesem Hintergrund kann für das pädagogi- sche Handeln das „Vermitteln zwischen“ und das „Vermitteln von“ unterschieden werden (vgl. Combe/Helsper 2002).

Als Vermittler müssen Lehrer situationale Bedingungen, individuelle Motive oder Ziel- setzungen ebenso berücksichtigen wie bisherige Erfahrungen oder etwa kulturelle Hinter- gründe. Unterschiedliche Lebensbereiche, getrennte Milieus und Ethnien sind auf profes- sionelle Transferleistungen angewiesen, die, dialogisch ausgerichtet, orientierende Zu- sammenhänge zwischen individuellen Interessen und Bedürfnissen und der Objektwelt vermittelnd herstellen. In ihrer intermediären Stellung zwischen Kollektiv- und Individual- interessen übernehmen Pädagogen dabei die Rolle der Moderatoren mit dem Ziel, „Brü- cken des Verstehens“ (Combe/Helsper 2002, 40) herzustellen.

Bei der unterrichtlichen Vermittlung von Wissen müssen Lehrer davon ausgehen, dass sie es bei ihren Schülern nicht mit „naiven“ Klienten zu tun haben, und zwar nicht nur, weil diese zunehmend mehr Möglichkeiten des autonomen Zugangs zu Informationen haben und allein dadurch das traditionelle Vermittlungsverständnis im Sinne linearer, instruktiver Darbietung und fragend entwickelnder Generierung von Wissen tendenziell infrage stellen (vgl. Ophardt 2006). „Naiv“ sind Schüler insbesondere deswegen nicht, da sie nach kon- struktivistischem Verständnis ihr Wissen, ihre Wirklichkeit und damit ihr Lernen ja selbst konstruieren (vgl. 1.1.2.4). Aus diesem Grund sehen sich Lehrer vor die Aufgabe gestellt, im Unterricht situative und dynamische Ko-Konstruktionsprozesse zu ermöglichen. Dabei müssen sie die Rahmungen und Bedingungen, in die die Vermittlungen eingebettet sind, sowie die situationsspezifischen und fallspezifischen Interaktionen und die individuellen Perspektiven der Beteiligten beachten, damit die Schüler als Interaktionspartner Anerken- nung erfahren.

Anerkennung als förderliche „professionelle Figur“ (Hafeneger u.a. 2002, 53) ist in die- sem Fall mehr als wertschätzende Empathie. Sie ist eine wichtige Voraussetzung, damit Schüler eine positive Selbstbeziehung ausbilden können, und zeigt sich in vielerlei Form. Sie kann emotionale Achtung (Liebe), rechtliche Anerkennung (Rechte) und wechselsei- tige Anerkennung zwischen Personen mit soziokulturell unterschiedlichen Hintergründen (Solidarität und Wertschätzung) bedeuten (vgl. Honneth 1992).

Auf der Basis eines anerkennungstheoretischen Verständnisses, das die aktiven und selbstständigen Anteile aller Beteiligten betont und professionelle pädagogische Interak- tion auf Autonomieförderung ausrichtet, muss professionelles Lehrerhandeln allerdings die entsprechenden sozialen Kontexte (er)kennen. Daraus ergibt sich als zentrale päda- gogische Aufgabe ein genaues und „fallspezifisches“ Hinsehen, um Zugehörigkeitsräume und individuelle Zugehörigkeitsverständnisse zu identifizieren, bevor sie anerkannt wer- den können (vgl. Mecheril 2006).

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Wer vermittelt, braucht Zeit und Räume, um Übergänge zu gestalten, Differenzen zu verstehen und Grenzen zu überschreiten. Der Raum zwischen den Welten ist als Zwi- schenraum oft ein ungemütlicher Ort, an dem Lehrer mit vielfachen Anforderungen und Herausforderungen konfrontiert werden. Diese werden im Folgenden ausgearbeitet.

1.2.2 Herausforderungen und Anforderungsstrukturen professionellen Handelns

Im pädagogischen Alltag, der aufgrund seiner vielfältigen geistigen, instrumentellen, kommunikativen und reflexiven Handlungen und Aufgaben in sozialen und organisationa- len Kontexten als prinzipielle Mehrfachtätigkeit19 beschrieben werden kann, sehen sich Lehrer vor vielfältige Herausforderungen gestellt und mit spezifischen Anforderungsstruk- turen konfrontiert.

Sie agieren in unterschiedlichen Rollen als Berater, Wissensvermittler und Beurteiler, gelten als Vorbild und handeln als Organisator, Helfer und Freund. Dabei stehen sie im Mittelpunkt vielfältiger, z.T. widersprüchlicher Erwartungen, die von Seiten der Schüler, Eltern, Kollegen und der Gesellschaft an sie herangetragen werden (1.2.2.1).

Eingebettet in institutionelle Organisationsstrukturen und eingebunden in unterschiedli- che Systeme und Bezüge werden Lehrer zudem im Umgang mit den Interaktionspartnern mit vielfältigen Fremdheiten konfrontiert. Die konkrete Begegnung und Auseinanderset- zung mit anderen, fremden Menschen und Situationen lassen Grenzen erfahren und ver- langen einen handelnden und gestaltenden Umgang mit Zwischenräumen (1.2.2.2).

Für die Betrachtung dieser strukturellen Anforderungen wird das Antinomie-Konzept von Helsper (2004b) herangezogen. Darauf aufbauend werden die unterschiedlichen Spannungsverhältnisse und widersprüchlichen Anforderungen weiter ausdifferenziert (1.2.2.3).

Die sich daraus ergebende Notwendigkeit des Umgangs mit Ungewissheit und Unsi- cherheiten, Zwiespältigkeiten und Ambivalenzen stellt eine wesentliche Anforderung im professionellen Lehrerhandeln dar und wird abschließend entfaltet (1.2.2.4).

Da die vorliegende Arbeit die Professionalisierung in der universitären Lehrerbildung fokussiert, werden die unterschiedlichen Anforderungen und Herausforderungen auch mit Blick auf die Konsequenzen für die Professionalisierungsbestrebungen betrachtet.

1.2.2.1 Rollenvielfalt

Wie jedes Mitglied der Gesellschaft ist auch der Lehrer in seiner Person und Funktion an Rollen gebunden.

Nach Ralf Dahrendorf, der in den 50er-Jahren mit seinem „Homo Sociologicus“ die an- gelsächsische Debatte um das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft in die deut- sche soziologische Diskussion einbrachte, versteht man unter einer Rolle „Ansprüche der Gesellschaft an die Träger von Positionen, die von zweierlei Art sein können: einmal An- sprüche an das Verhalten der Träger von Positionen (Rollenverhalten), zum anderen An-

19 Merkmal der Mehrfachtätigkeit ist u.a. deren „multiple antriebsregulatorische Ausrichtung“ (Ru- dow 1994, 24): Lehrerhandeln wird u.a. mitbestimmt durch unterschiedliche Motive, multiple Ziele, Aufgabenvielfalt und Aufgabenkomplexität, vielfältige und variable Bedingungen, Abhän- gigkeit von systematischen und episodischen Ausführungsbedingungen, Beeinflussung durch Rückmeldung.

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sprüche an sein Aussehen und seinen »Charakter« (Rollenattribute)“ (Dahrendorf 2006, 37).

Diese Ansprüche sind normative Erwartungen, die sich nach dem Grad der Sanktionen unterscheiden lassen, mit denen eine Gesellschaft auf Verstöße des Rollenträgers gegen diese Ansprüche reagiert. Dahrendorf unterscheidet in Analogie zu Gesetz, Sitte und Ge- wohnheit in Muss-, Soll- und Kann-Erwartungen (ebd., 44f.).

Im Alltag ist das soziale Handeln des Menschen jedoch nicht nur durch eine einzige Rolle definiert, sondern man hat gleichzeitig verschiedene Rollen inne und muss demge- mäß den unterschiedlichsten Erwartungen genügen. Je nach Status, der dem Menschen nach Geburt oder Herkunft durch die Gesellschaft zugeordnet wird, aber auch durch eige- ne Verdienste erworben werden kann, und nach der Position, die er innerhalb einer Sozi- alstruktur einnimmt, sind die vielfältigen und oft widersprüchlichen Erwartungen mehr oder weniger verbindlich.

Damit eine Gesellschaft reibungslos funktioniert, sollte nach der Vorstellung des Struk- turfunktionalismus „das verzahnte Rollensystem von Rechten und Pflichten, von Motiven und Verhaltenserwartungen (…) lückenlos sein, damit es wie automatisch läuft und nicht darauf angewiesen ist, daß durch Ich-Leistungen Unstimmigkeiten und Widersprüche ü- berbrückt werden“ (Krappmann 2007, 1315). Mit diesem Verständnis wird also vorrangig die Integrationsleistung der sozialen Rolle für die Kontinuität einer Gesellschaft betont.

„Ich-Leistungen“ aber gehören zur sozialen Wirklichkeit, denn es ist nicht nur die Posi- tion oder die zugewiesene bzw. die erworbene Rolle, die das Handeln des Menschen in der Gesellschaft definiert, also das auf Mead zurückgehende „role-taking“, sondern es ist die Ausprägung der Rollen und Positionen, das sog. „role-making“ (ders. 1968). Dieses „role-making“, das in ständig neuen Aushandlungen mit sich selbst und den anderen statt- findet, eröffnet Spielräume und macht Individualität erkennbar. Auf diesen Aspekt der In- terpretierbarkeit von Rollen und Positionen hat der Symbolische Interaktionismus hin- gewiesen und den vorhandenen Kategorien „Rolle“ und „Position“ den Begriff der „Situa- tion“ hinzugefügt. Danach geht es „um die Weisen der Inszenierung des Verhaltens in wechselnden Umweltkonstellationen. Das zentrale Thema ist die Aktualisierung von Rol- len – im Spiel, in Vordergrunds- und Hintergrundsregion, in Reaktion auf sprachliche Ka- tegorisierungen, als Produkt subjektiver Definition der Situation, in Abhängigkeit von den Komponenten der sozialen und personalen Identität“ (Gerhardt 1971, 289f.). Der interakti- onistische Ansatz erweitert damit die strukturfunktionale Analyse der Gesellschaft um den dynamischen Aspekt der interaktiven Aushandlung im sozialen Handlungsvollzug und rückt so die individuelle Verantwortung auch für gesamtgesellschaftliche Verände- rungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten in den Vordergrund.

Sind bereits durch die Vielfalt der gleichzeitig auszufüllenden Rollen und Positionen hohe Erwartungen an den Rollenträger gebunden, so wird das Problem der Erfüllbarkeit dieser Erwartungen durch den Anspruch auf interaktive Aushandlungsprozesse nicht ge- ringer. Da niemand allen Rollen gerecht werden und niemand sämtliche Erwartungen er- füllen kann, kommt der Rollenträger in den Konflikt, entscheiden zu müssen, welchen Er- wartungen er entsprechen muss oder will. Uta Gerhardt weist darauf hin, dass dieser Kon- flikt nicht etwa Ausnahme, sondern Regel ist und bezeichnet daher die auswegslose Ent- scheidungssituation als „Inkonsistenzdilemma“ (Gerhardt 1971, 296f.):

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Inkonsistenzen zwischen den diversen, ein Verhalten in einem Handlungszusammenhang prägenden Rollen kommen schon deshalb vor, weil der einzelne Verhaltensakt – rollenana- lytisch betrachtet – überdeterminiert ist. Die Regeln des Rollenbezuges in einem gegebenen Handlungszusammenhang sind widersprüchlich. Das Individuum trifft Entscheidungen, an welche der verfügbaren Regeln es sich tatsächlich hält. Das Verhalten resultiert aus solchen Entscheidungen, die momentan das Inkonsistenzdilemma für den Handelnden beseitigen. (…) Vom Individuum aus betrachtet, besteht mithin kein Konflikt. Die Person befindet sich in einem Dilemma. Dieses Inkonsistenzdilemma wird gelöst durch differentielle Konformität ge- genüber den verschiedenen Rollen (ebd.).

Es ist wohl kein Zufall, dass in der Diskussion um die soziale Rolle häufig der Lehrer als Verdeutlichung des Rollenkonflikts herangezogen wird, steht er doch als Agent der Ge- sellschaft wie auch als Anwalt seiner Klientel in einem doppelten Verantwortungsverhält- nis und seine dilemmatische Situation ist unmittelbar einleuchtend, denn

von den Lehrern in unserer Gesellschaft [wird] die Übernahme zumindest von drei Funktio- nen erwartet und gefordert: 1. die Sozialisations- und Vermittlungsfunktion von Kenntnissen, Fähig- und Fertigkeiten, 2. die Begutachter- und Selektionsfunktion und 3. die kompensatorisch-edukative Funktion (Nave-Herz 1977, 42).

Diesen Antagonismus der Erwartungen belegt Lothar Böhnisch unter Hinweis auf den so- zialen Druck, dem Lehrer ausgesetzt sind:

Sind die Funktionen schon nicht in sich konsistent, so macht ihre gegenseitige Widersprüch- lichkeit den Lehrern wohl ebenso bzw. noch mehr zu schaffen. Lehrer sollen Selektionsfunk- tionen im Kontext hoheitlicher und fachlicher Amtlichkeit ,ohne Ansehen der Person‘ wahr- nehmen und gleichzeitig auch Anwalt des Kindes sein; sie sollen zum Lernen motivieren – setzen aber dennoch immer wieder in ihrer Begutachterfunktion Schüler unter Druck. Lehrer wollen ihre Lehrerrolle demokratisch ausfüllen und spüren oft schnell, dass die damit folge- richtig verbundene Bereitschaft zum Sich-Einlassen auf soziale Konflikte (…) von der Orga- nisations- und Rollendefinition der Schule blockiert werden kann (Böhnisch 2003, 86).

Es wird deutlich, dass es dem Lehrer unmöglich ist, alle an ihn gestellten Erwartungen zu erfüllen.

Das Wissen um das „Inkonsistenzdilemma“ bzw. um den „Rollenkonflikt“ schützt den Lehrer jedoch nicht vor der Notwendigkeit, tagtäglich pädagogisch handeln zu müssen. Nur, indem er sich von seiner Rolle distanziert, sich selbst also mit Abstand in seiner Ver- strickung reflektierend betrachtet, wird er die Ambivalenz der Rollen erkennen, die antago- nistischen Erwartungen prüfen und den Grad der Sanktionen abwägen, um die Entschei- dung zu treffen, bestimmte Erwartungen zu erfüllen oder eben ihre Erfüllung zu verweigern.

Die Konsequenz dieser Entscheidung gilt es dann in dem Wissen zu tolerieren, dass die Vieldeutigkeit und Unbestimmtheit, also die Ambiguität der Rollen und der mit ihnen verbundenen Erwartungen, nicht aufgelöst ist.

Diese unabänderlichen Entscheidungen in einem komplexen Feld sozialer Strukturen und Beziehungen verantwortlich treffen zu können, muss gelernt werden, nichts anderes besagt der Begriff der Sozialisation, denn

(…) eine Trennung von »Mensch« (oder »Selbst«) und »Rolle« ist in der Realität insofern unsinnig, als der Sozialisationsprozeß nichts anderes für den einzelnen darstellt als das Er- lernen von Rollen. Das bedeutet, daß wir auf die Übernahme von sozialen Rollen vorbereitet werden und das wiederum besagt, daß wir bereits viele der geforderten Rollenerwartungen internalisiert haben, als eigene Verhaltensmaxime bewerten, ehe wir die entsprechende Rol- le übernehmen. (…) Soziologisch formuliert bedeutet die Lehrerausbildung wiederum nichts anderes, als daß [der Lehrer] im Laufe der Zeit rollenspezifische Fähigkeiten, Kenntnisse, Einstellungen kennenlernt, so daß er, wenn er als ausgebildeter Lehrer in die Schulpraxis eintritt, zum Rollenhandeln bereits fähig ist (Nave-Herz 1977, 26).

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22 1.2.2.2 Fremde und Fremdheit

Die heterogenen Lebenswelten, Subkulturen und Sinnsysteme, die sich im Rahmen glo- balpolitischer Entwicklungen und gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse herausbil- den, verstärken das Erleben von Fremdheit und Differenzen. Der Umgang mit ihnen stellt im pädagogischen Alltag immer wieder neue Herausforderungen an die Lehrer. Im Unter- richt werden sie in vieler Hinsicht mit Fremdheit und grundlegenden Differenzen konfron- tiert: mit den unterschiedlichen kulturellen Hintergründen, den Erstsprachen, religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen, Familienstrukturen, kulturell geprägten Leistungs- verständnissen oder den generationellen Unterschieden. Die entstehenden Subkulturen lassen sich nicht mehr problemlos durch einen einfachen verstehenden Zugang er- schließen. In den pädagogischen Beziehungen, die Lehrer eingehen und gestalten müs- sen, ist der Umgang mit Fremdheit zunehmend erschwert, weil Gemeinsamkeiten einer Sozialisationsgeschichte, eines Milieus oder einer „sozialen Lagerung“ (Bohnsack/Nohl 2001, 16) meist nicht geteilt werden können, was wiederum das individuelle Fremdheitser- leben sowohl auf der Schüler- als auch auf der Lehrerseite verstärken kann.

Gelingende Vermittlungs- und Deutungsprozesse erfordern daher für die pädagogische Bearbeitung des Fremden Methoden des Fremdverstehens und damit einen konstruktiven Umgang mit Fremdheit.

Begriffsklärung

Fremd ist zunächst, was anders ist und unbekannt. Fremdheit zeichnet sich durch Diffe- renz(en) und damit durch Ungleichheit aus. Typischerweise wird Fremdheit an Ethnien, kultureller Zugehörigkeit oder auch am Geschlecht festgemacht – Kategorien, die, wie die Ergebnisse der PISA-Studie verdeutlichen, zugleich Grundlage sozialer Ungleichheit sind.

Fremdheit ist jedoch mehr. In der gesellschaftswissenschaftlichen Diskussion wird sie in der Spanne zwischen dem völlig Unbekannten und dem lediglich Ungewohnten be- schrieben. Die zahlreichen, umgangssprachlich verwendeten Synonyme veranschauli- chen deren Vielgestalt und Bedeutungen: Fremdes ist befremdlich, fremdartig, unbekannt, exotisch, unbekannt, nicht einheimisch. Das Fremde kann als abweichend fremde Über- zeugung innerhalb der eigenen Weltanschauung auftreten oder als fremde Einstellung, als psychisches Muster, eine fremde Handlung oder fremde Gewohnheit (vgl. Koch 2003, 13; Sundermeier 1996; Schäffter 1991 u.a.).

Fremd ist zwar das, was anders ist, aber das „Andere“ ist nicht unbedingt von vornher- ein fremd. Fremdheit ist also von bloßer Andersheit abzugrenzen. Weil es nach Boesch (1998) unvertraut ist, kann es ebenso Faszination, Verwunderung und Staunen, aber auch Angst auslösen, denn es erscheint häufig als chaotisierende Kraft, als etwas, das ein bisher vertrautes Weltbild infrage stellt (vgl. Holzbrecher 1999). Dadurch wirkt es oft verunsichernd, ja sogar bedrohlich, kann aber auch als Chance wahrgenommen werden. Das Fremde ist daher eine „relationale Größe“ (Christ 1994, 31). Es stellt eine kommuni- kativ erzeugte (Zu-)Ordnung dar, die in Relation zu einer sozialen Ordnung besteht, sich immer erst im Bezug zum Eigenen erschließen lässt und nicht mit objektiven Kriterien be- schreibbar ist (vgl. Stichweh 1997; Gieß-Stüber 2003).

Davon ausgehend, dass wir die Realität nicht „an sich“ erkennen können, sondern uns die Welt in der Form erscheint, wie unser sprachlich vermitteltes Weltbild es zulässt, kön- nen Fremde nur in dem Bild des Anderen erkannt werden, das uns die europäische (Herr-

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schafts-)Geschichte vermittelt – mit allen damit verbundenen Gefühlsqualitäten. Das be- deutet, dass das eigene Bild vom Anderen von gesellschaftlich vermittelten und individuell biographisch entwickelten Wahrnehmungsmustern geprägt ist.

Fremdheit in Relation zum Eigenen

In der Begegnung mit Fremdheit geschieht eine Abgrenzung des Fremden zum Eigenen und des Eigenen zum Fremden. Dabei ist uns das Eigene, wie Kristeva (1990, 11) zeigt, zu einem Teil selbst fremd, weil es als Unbewusstes vor uns verborgen bleibt. Die Be- schäftigung mit dem Anderen verlangt also immer auch eine Auseinandersetzung mit dem Eigenen.

Wenn sich das Fremde als ein „Beziehungsmodus“ zur eigenen Identität etabliert, ist jeder Fremde für sich ein „Eigener“ und jeder, der sich als „Eigener“ sieht, ist auch ein Anderer. Für die Bestimmung des Eigenen wird damit die Folie des Fremden benötigt und umgekehrt, was aus gestaltpsychologischer Sicht als „Figur-Grund-Wahrnehmung“ (vgl. Polster/Polster 1983) beschrieben wird. So gesehen sind Fremde der Normalfall der An- deren.

Vor diesem Hintergrund kann Fremdheit in eine äußere und eine innere Fremdheit dif- ferenziert werden. Während sich die äußere Fremdheit auf andere Personen bezieht, z.B. auf deren Herkunft, Religion, Denkhaltungen und Empfindungen, und damit das außen begründete Fremde beschreibt, bezieht sich die innere Fremdheit auf die eigene Person, die in Anteilen fremd erlebt wird, z.B. in Situationen neuer, grenzüberschreitender Her- ausforderungen und Selbsterfahrung. Diese innen begründete Fremdheit beschreibt im Gegensatz zu dem „Fremden um uns“ das „Fremde in uns“.

Fremdwahrnehmung und Modi des Fremderlebens

Unter der Voraussetzung, dass grundsätzlich alle menschlichen Ausdrucksformen ver- standen werden können, kommen in der Auseinandersetzung mit Fremdheit unterschied- liche Modi zum Tragen. Je nachdem, in welchem Erfahrungshorizont Fremdes erscheint, kann Fremdheit als „Resonanzboden des Eigenen“, als „Gegenbild“, als „Ergänzung“ und als „Komplementarität“ (vgl. Schäffter 1991, 18; Holzbrecher 1997b, 170) wahrgenommen werden und als Grundlage für das weitere Interaktionsgeschehen dienen.

Wenn Fremdheit als „Resonanzboden des Eigenen“ erfahren wird, geht es nach Schäffter (1991), um das Auswärtige und die „(Wieder)Entdeckung universeller oder exis- tentieller Voraussetzungen und Ursprünglichkeit des Eigenen im Fremden“ (ebd., 18). Wird Fremdheit als „Gegenbild“ wahrgenommen, erscheint sie als das Fremdartige und „Nicht-Eigene“. Als mögliche Bedrohung des vertrauten Bereichs wird das Andere als (negatives oder positives) Gegenbild fixiert und eine Grenzlinie zwischen dem Fremden und dem Eigenen aufgebaut, sodass die Beziehung zwischen beiden eher statisch bleibt. Zu der wohl häufigsten Form dieser Wahrnehmung des Fremden gehört die Ver-Teufe- lung und die Ver-Engelung bzw. Exotisierung. Die Wahrnehmung von „Fremdheit als Er- gänzung“ stellt dagegen ein „Zusammenspiel von Aneignung von Fremdem mit struktu- reller Selbsterfahrung“ (ebd., 22) dar. Fremdes wird dabei als Unbekanntes zum Medium der Erweiterung und als „Wiedergewinnung abgespaltener Erfahrungsmöglichkeiten und als Entfaltung latenter Potenzen von Eigenheit“ (ebd., 24) angenommen. „Fremdheit als

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Komplementarität“ beschreibt einen Wahrnehmungsmodus, der Fremdes als Unerkenn- bares versteht, wodurch verhindert wird, dass das Andere letztlich doch als ein Eigenes vereinnahmt wird. Wird die Welt nicht mehr eindeutig wahrgenommen, entsteht ein „Oszil- lieren“ zwischen der Positionen der Eigenheit und der der Fremdheit, welche „sich im wechselseitigen Kontakt gegenseitig hervorrufen“ (ebd., 25). Dabei wird die Grenzlinie zu dem Anderen prinzipiell anerkannt. Das Fremde erscheint unter Umständen als nicht an- eignungsfähig, dennoch wirkt es „als Ferment einer (inter-)kulturellen und innerpsychi- schen Dynamik“ (ebd., 27f.) und relativiert bestehende Denkstrukturen. „Gegenseitige Fremdheit als Komplementarität bezieht sich daher auf das Verhältnis zwischen einander auf fremdartige Weise fremden Positionen. (…) Der eigenen Perspektivität bewußt, kön- nen wir das Fremde als Fremdes belassen“ (ebd.).

Fremdheiten und Fremdverstehen – Ziel professionellen pädagogischen Handelns

Im pädagogischen Handlungsfeld hängt das Gelingen oder Misslingen menschlicher Inter- aktions- und Reifungsprozesse entscheidend von der erfolgreichen Ablösung vom Ver- trauten und der Hinwendung zum Fremden ab. Professionelles pädagogisches Handeln erfordert hierfür nicht nur Neugier, zugewandtes Interesse und grundlegende Anerken- nung, sondern auch die bewusste Fremdwahrnehmung, die nach Holzbrecher (1997a) auf unterschiedlichen Ebenen stattfindet. In den pädagogischen Arbeitsbündnissen ist die so- genannte axiologische Ebene, die nach Bewertungen und Werturteilen fragt und in der Begegnung den Anderen, Fremden zunächst nach gut oder böse, ebenbürtig oder unter- geordnet einteilt, gerade für die Anfangssituationen der neu zu gestaltenden Beziehungen wichtig. Denn in den Erstbegegnungen können Lehrer und Schüler noch nicht auf ge- meinsame Erfahrungen zurückgreifen, sondern müssen für das eigene Verhalten ihre zu- rückliegenden Erfahrungen und daraus gewonnenen Ein- und Zuversichten heranziehen. Grundlegende Einstellungen und Zugewandtheiten können erst im konkreten, praktischen Handeln miteinander erprobt und aushandelt und Formen der Identifizierung und Distan- zierung entwickelt werden. Erst danach können differenzierte Grade des (Er-)Kennens des jeweils Anderen ausgebaut und als Basis für zunehmend vertraute Interaktionen ge- nutzt werden.

Wenn die Bedeutung von Fremdheit sich nur dann voll erschließt, wenn die eigenen Anteile in diesem Beziehungsverhältnis mit berücksichtigt werden können, verlangt pro- fessionelles Handeln im pädagogischen Alltag die Betrachtung der eigenen lebensge- schichtlichen Entwicklungen und Erfahrungen, denn „wie und was als das Andere und Fremde wahrgenommen wird, ist Teil des lebensgeschichtlich codierten Fühl-, Denk- und Handlungsmusters“ (Holzbrecher 1997b, 92). Mit Fremdheit umzugehen erfordert damit die Fähigkeit, die „eigene Position und Sichtweise als eine Möglichkeit u.a. zu erkennen und dabei zu sehen, daß das, was ich und wie ich es als fremd erlebe, sehr wesentlich von meiner eigenen Geschichte abhängt“ (Schäffter 1991, 12).

Eingebunden in interkulturelle Begegnungen müssen Lehrer anerkennen, dass jede Kultur in den Augen einer anderen Kultur fremdartig ist und dass diese Fremdheiten nicht in Gänze aufgehoben werden können. Dies ist zugleich ein wesentlicher Vermittlungsin- halt. „Lernen im Sinne einer Veränderung und Erweiterung des Selbst- und Weltbildes braucht die existentielle Begegnung mit Fremdheit und Fremden, die für den Einzelnen nicht folgenlos bleibt“ (vgl. Gieß-Stüber 2003, 5). Dabei müssen die eigenen Vorurteile

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bewusst werden, damit es im Verstehensakt zu einer „Verschmelzung unterschiedlicher Verstehenshorizonte“ (Eberwein 1987, 13) kommen kann. Dies ist zugleich ein Prozess des Konstruierens und Dekonstruierens von Bildern. Einerseits müssen die vielschichti- gen Stereotype und deren Ursachen bewusst und die eigenen Bilder in Form von Vorur- teilen aufgeweicht und dekonstruiert werden, andererseits müssen neue Bilder entstehen, in denen wir selbst als Betrachter vorkommen.

Verstehensprozesse basieren nicht zwangsläufig auf biografisch Vertrautem, wenn- gleich dies das Verstehen erleichtern kann. Da Wertesysteme, Normen und lebensge- schichtliche Erfahrungen von Mitgliedern aus Subkulturen generell anders und häufig fremd sind, ist es erforderlich, die Eigenheiten der Fremdheit und die Widersprüche der eigenen Erfahrungen sowie die Gemeinsamkeiten unterschiedlicher Lebenswelten zu be- schreiben. Dabei können wir dem Anderen immer nur „auf der Spur“ sein (vgl. Waldenfels 1991, 53) und uns selbst dabei nur auf die Spur kommen. Diese Spuren werden jedoch nicht einfach „gefunden“, sondern im Prozess der erkundenden Annäherung konstruie- rend „gelegt“. Um Fremde in ihren Denk- und Handlungsweisen und in ihrem Eigen-Sinn begreifen zu können, kommt es auf die „Einstellung“ im doppelten Sinne an: Einstellung im Sinne der Optik und Fototechnik bezieht sich auf die Blickrichtung, den Fokus und die Brennweite, mit der das Wahrnehmungssystem auf das zu betrachtende Objekt einge- stellt wird. Zugleich ist aber auch eine offene Einstellung im Sinne der eigenen, auf Aner- kennung ausgerichteten Haltung sich selbst und dem Fremden gegenüber notwendig, denn der Kontakt mit anderen Menschen setzt in Bewegung und verlangt den handelnden und reflexiven Umgang mit veränderten, fremden und fremd gewordenen Realitäten.

Professionelles Lehrerhandeln zeichnet sich im Umgang mit Fremdheit wesentlich durch Toleranz aus. Diese müssen Lehrer in ihrem pädagogischen Handeln demonstrie- rend vorleben und zugleich als Fähigkeit und Haltung ihren Schülern vermitteln und mit ihnen einüben.

Mit Fremdheiten umzugehen bedeutet nicht, Grenzen aufzuheben, um einander anzu- gleichen. Grenzen und Abgrenzungen müssen zwar erkannt und benannt werden, um sie überbrücken und als potenzielle Räume der Begegnung und Annäherung nutzen zu kön- nen, sie müssen jedoch ko-konstruktiv gestaltet und zu Zwischen-Räumen entwickelt werden. In diesen Prozessen und Räumen können sich die Beteiligten einander verste- hend annähern und sich selbst dabei mit fremden Augen sehen lernen.

Ziel pädagogischen Handelns ist in der Begegnung und Auseinandersetzung mit viel- fältigen Fremdheiten, diese auf der Grundlage von Neugier, Zuwendung und Anerken- nung zu integrieren, statt sie auszusondern und abzugrenzen. Ausgehend von Lerngrup- pen, die unter vielen Dimensionen heterogen sind, müssen Fremdheiten zum Ausgangs- punkt des Lernens über Unterschiede gemacht werden. Dies erfordert eine inklusiv statt integrativ ausgerichtete Grundhaltung,20 die Fremdheiten als Vielheiten versteht und Hete-

20 Der aus dem Lateinischen kommende Begriff Integration bedeutet übersetzt die Wiederherstel- lung bzw. die Vervollständigung des Ganzen, einer Einheit. Er beschreibt einen dynamischen, andauernden und differenzierten Prozess des Zusammenfügens und Zusammenwachsens von Gegensätzen bzw. Unterschiedlichkeiten. Im Hinblick auf schulische Bildung ist die Integrations- pädagogik seit den 1970er-Jahren durch die Empfehlung des Deutschen Bildungsrates zur pä- dagogischen Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder und Jugendlichen um ein gemeinsames Lernen von Schülern mit und ohne Behinderungen bestrebt und versucht,

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rogenität zu Normalität werden lässt. Hierfür stehen professionell handelnde Lehrer vor der Anforderung, kulturelle Vielzahl als Bereicherung und wünschenswerte Herausfor- derung zu verstehen. Sie müssen sich sowohl selbst der Fremdbegegnung stellen und Prozesse der Annäherung als Herausforderung annehmen als auch diese bei ihren Schü- lern anregen und fördern, indem sie diese darin stärken, Fremdem mit weniger Verun- sicherung, aber mit mehr Nachdenklichkeit gegenüber zu treten.

1.2.2.3 Antinomien und Paradoxien

Professionelles pädagogisches Lehrerhandeln ist – wie vielfältige Studien der pädagogi- schen, insbesondere der interaktionistischen und strukturtheoretisch-rekonstruktiven Pro- fessionsforschung verdeutlichen (vgl. Koring 1989; Helsper 2001, 2004b) – durch wider- sprüchliche, zwiespältige Anforderungen gekennzeichnet. Während Oevermann (1996), wie bereits aufgezeigt, die Anforderungen aus strukturtheoretischer Position auf der Grundlage „widersprüchlicher Einheiten“ bzw. der Widerspruchsverhältnisse in den Ar- beitsbündnissen erklärt, werden im symbolisch-interaktionistischen Ansatz Widersprüch- lichkeiten als Kernprobleme pädagogischen Handelns gefasst. Diese werden sowohl auf der Handlungsebene in der konkreten Interaktion als auch auf der Organisationsebene im sozialen Handlungsrahmen verortet und begrifflich unterschiedlich definiert: Schratz spricht von Grundwidersprüchen, die im System Schule vorzufinden sind (Schratz u.a. 1998),21 Schütze nennt sie Paradoxien (Schütze 1992, 1996, 2000) und Helsper spricht von Antinomien (Helsper 2001, 2004b). Sie alle sehen die Widersprüchlichkeit als ein strukturelles Merkmal der pädagogischen Praxis und den erforderlichen Umgang mit ihr als spezifische An- und Herausforderung für professionelles Handeln.

Die vorliegende Arbeit versteht diese unterschiedlichen Spannungsverhältnisse und widersprüchlichen Anforderungen auf der Grundlage des von Helsper entwickelten Anti- nomie-Konzepts, das im Folgenden dargestellt wird.

Exklusion und Separation zu minimieren. Anfang der 1980er-Jahre erfolgen in vielen Bundes- ländern vielfältige Schulversuche zur integrativen Beschulung mit individuumzentrierten Ansät- zen, unterstützt durch finanzielle und personelle Ressourcen und Ausweitung der Sonderschule in die Regelschulen. Seit Ende der 1990er-Jahre finden eine Perspektiven- und eine Bewusst- seinsveränderung statt, und der Begriff der Inklusion wird eingeführt. Wie in der Integrationspä- dagogik wird die gemeinsame Beschulung aller Kinder angestrebt. Inklusion fokussiert jedoch Institutionen, „in denen Menschen mit Behinderungen nicht in ein bestehendes System einge- passt werden, sondern bestehende Systeme so ausgerichtet sind, dass alle Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit gefördert werden [können]. In inklusiven Einrichtungen tritt der systemische Ansatz an die Stelle individuumszentrierter Modelle (…) [und] die Ressourcen [gehen] ohne Eti- kettierung ‘behinderter’ Kinder direkt in die betreffenden Systeme“ (Eberwein/Mand 2008, 11). Eine inklusive Pädagogik zeichnet sich durch eine gelingende Synthese von gewandelter Son- derpädagogik und Schulpädagogik aus (vgl. Hinz 2004).

21 Als Grundwidersprüche im System Schule nennen Schratz u.a. (1998) folgende sieben Span- nungsfelder: 1) Bewahren und Verändern, 2) richtig und falsch als Leitdifferenz, 3) der Blick aufs Ganze und der auf das Detail, 4) die Sehnsucht nach dem Ziel und das Bemühen, den Weg als Ziel zu betrachten, 5) die pädagogische Beziehung, 6) ineffektive formale Strukturen und wirkmächtige informelle Strukturen, 7) generative Macht der Sprache und die normative Macht des Faktischen.

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Das Antinomie-Konzept nach Helsper

Helsper versteht den Begriff der „Antinomie“ als „Kontradiktion eines Satzes in sich oder zweier Sätze zueinander. (…) Pädagogisches Handeln wird in diesem Sinne im Span- nungsfeld widersprüchlicher Anforderungen hervorgebracht (…) die gleichermaßen rele- vant sind und Anspruch auf Gültigkeit erheben können“ (Helsper 2004b, 61).

Da Antinomien nicht zu umgehen, sondern fester Bestandteil der Praxis sind, sind sie konstitutiv, d.h. nicht aufzulösen und können deswegen lediglich mehr oder weniger an- gemessen gehandhabt werden. Diese konstitutiven Antinomien sind zum einen in der au- tonomen Lebenspraxis angelegt, zum anderen resultieren sie aus der Beziehungsstruktur des für das pädagogisch-professionelle Handeln relevanten Arbeitsbündnisses.22

In der pädagogischen Praxis kristallisieren sich in der direkten Interaktion jedoch auch häufig fallspezifische Widersprüche heraus, deren Bearbeitung zu drastischen und dra- matischen Verwicklungen und Verstrickungen mit den konstitutiven Antinomien führen können (ebd., 68). Diese Handlungsdilemmata und -ambivalenzen nennt Helsper pragma- tische Paradoxien. Ihr Zustandekommen begründet er in der gesellschaftlichen Organisa- tion des Bildungswesens.23 Im Gegensatz zu den Antinomien sind pragmatische Parado- xien transformier- und aufhebbar und „auf der Handlungs- und Interaktionsebene als kon- krete Ausformungen antinomischer Spannungen zu rekonstruieren“ (Helsper u.a. 2001, 62).

Eingebettet bzw. gerahmt sind diese gesamten Spannungsverhältnisse auf der Makro- Ebene in gesellschaftlich fundierte Modernisierungsantinomien, die sich u.a. in den fort- schreitenden gesellschaftlichen Pluralisierungen begründen und die Durchsetzung und Ausdifferenzierung professioneller Praxis erforderlich machen (vgl. Helsper 2004b).24

Da im empirischen Teil dieser Arbeit die Verläufe der Verwirrungen und Verstrickungen und die individuellen Lösungswege der Studierenden zur Sprache kommen, wird in die- sem hier zugrunde gelegten Konzept der von Schütze eingeführte Begriff der Verlaufs- kurve eingefügt und kurz skizziert.

Individuelle Verstrickungen im Verlauf – Verlaufskurven

Die Verlaufskurve stellt nach Schütze eine Kategorie des theoretischen biographieanaly- tischen Modells dar. Sie ist eine konditionelle Verkettung von Ereignissen, die den Pro- zessverlauf strukturieren und bestimmen. Positive oder negative Ereignisverkettungen begründen das individuelle Getriebenwerden durch sozialstrukturelle und äußerliche, schicksalhafte Bedingungen, die der in ihr verwickelten und verstrickten Person im aktu- ellen Erleben und Handeln jedoch nicht bewusst sind. Schütze unterscheidet bei diesen Ereignisverkettungen nach negativen und positiven Verlaufskurven (ders. 2006, 215).

22 Helsper beschreibt elf konstitutive, nicht aufhebbare professionelle Antinomien des Lehrerhan- delns: die Begründungsantinomie, Praxisantinomie, Subsumtionsantinomie, Ungewissheitsanti- nomie, Vertrauensantinomie und Autonomieantinomie sind in der autonomen Lebenspraxis an- gelegt, die Organisationsantinomie, Differenzierungsantinomie, Sachantinomie, und Näheanti- nomie, Autonomieantinomie resultieren aus der Beziehungsstruktur.

23 Hier nennt Helsper u.a. den Schulzwang, die Schuldisziplinierung, die universalistische und spezifische Distanz der Lehrerrolle, das Selektionswesen, wie auch die Organisationsroutinen.

24 Diese Modernisierungsantinomien zeigen sich in Form von Zivilisations-, Individualisierungs-, Rationalisierungs- und Differenzierungs- bzw. Pluralisierungsantinomien.

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Positive Verlaufskurven, auch Steigkurven genannt, bieten den Betroffenen zuneh-

mend neue Möglichkeitsspielräume. Sie eröffnen neue Handlungsalternativen, die sich motivationsfördernd auswirken und als Chance der weiteren Veränderung genutzt wer- den. In negativen Verlaufskurven dagegen, sogenannten Fallkurven, erfahren sich die Be- troffenen in den Möglichkeitsspielräumen und damit in der weiteren Entwicklung einge- schränkt. Sie entwickeln das Gefühl, den äußeren Einflüssen ausgeliefert zu sein und empfinden sich nicht in der Lage, die Situation und den Prozess produktiv mitgestalten zu können. Dies wirkt sich demotivierend aus und führt in der Folge oft zu Resignation und passiven Reaktionen. Es kann zu einer „Entstabilisierung“ (ebd.) kommen, in der der Pro- zess oder das ganze Leben aus einem „labilen Gleichgewicht“ ins „Trudeln“ gerät (ebd.).

Das Wissen um Verlaufskurven und Verlaufskurvenpotenziale ist für professionelles Lehrerhandeln sowohl im Hinblick auf die eigene Person des Lehrers als auch im Hinblick auf die Klientel hilfreich. Professionelles Lehrerhandeln zeichnet sich ja u.a. dadurch aus, dass es Lehrern gelingt, Potenziale der Schüler zu erkennen und zu fördern und dabei negative „Verlaufskurven“ möglichst zu verhindern oder zu mildern, damit sie sich für die Schüler nicht als nicht mehr steuerbar erweisen und sich nicht in permanenten Schul- schwierigkeiten verfestigen. Wird das Verlaufskurvenpotenzial in seiner Dynamik von Leh- rern nicht erkannt und verstanden, können sie nicht angemessen pädagogisch tätig wer- den und wirksam Einfluss nehmen. In der Konsequenz bleiben ihnen in der Zuspitzung negativer Verlaufskurven u.U. nur Disziplinierung und Ausgrenzung als einzige Lösungs- möglichkeit.

Im Folgenden werden die zuvor angesprochenen Antinomien kurz skizziert, auf die im empirischen Teil dieser Arbeit Bezug genommen wird.

Die Näheantinomie beschreibt die Spannung zwischen Nähe und Distanz. Aufgrund der widersprüchlichen Struktur des Arbeitsbündnisses müssen, wie in den Ausführungen zur pädagogischen Beziehung aufgezeigt, spezifisch-rollenförmige und diffus-affektive Komponenten miteinander vereinbart werden. Neben den distanzierten, spezifischen und universalistischen Haltungen gegenüber ihren Schülern sind im Arbeitsbündnis also auch emotional diffuse und partikulare Haltungen und Orientierungen notwendig, insbesondere, wenn es bei der Unterstützung von Bildungsprozessen um die Rekonstruktion von Lern- und Bildungskrisen geht.

In der Herstellung von interaktiver Gegenseitigkeit und „tragfähiger Handlungsverket- tungen“ (Helsper 2004b, 75) zwischen Lehrern und Schülern werden Lehrer mit der Vertrauensantinomie konfrontiert. Sie entsteht, weil für die interaktiven Auseinanderset- zungen in der unterrichtlichen und beratenden Arbeit mit Schülern und Eltern zwar eine grundlegende Vertrauensbasis erforderlich ist, diese jedoch nicht von Anfang an als ge- geben unterstellt werden kann, sondern erst im Verlauf der Zeit aufgebaut und entwickelt werden muss.

Die Symmetrieantinomie kennzeichnet die konstitutive Spannung zwischen asymmet- risch angelegten Lehrer-Schüler-Beziehungen einerseits und dem Bemühen um symmet- rische Verhältnisse andererseits. Die Interaktionsbeziehungen zwischen Lehrern und Schülern sind vor dem Hintergrund der Differenzen an Kompetenz, Wissen und Status immer asymmetrisch ausgerichtet. In diesen asymmetrischen Verhältnissen muss aber berücksichtigt werden, dass „jeder Versuch, über Macht Problemlösungsmöglichkeiten aufzuzwingen, zum Scheitern [führt]: Trotz der Abhängigkeit des Schülers vom Lehrer be-

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darf es immer wieder symmetrischer Verhältnisse, um Problemlösungen für Verstehen und Handeln zu entwickeln“ (ebd., 75).

Die Ungewissheitsantinomie verweist auf das Spannungsverhältnis zwischen Vermitt- lungsversprechen einerseits und struktureller Ungewissheit und Riskanz professioneller Intervention andererseits (ebd., 73). Mit ihren Deutungs- und Erklärungsmustern lösen Lehrer in den Arbeitsbündnissen bei den Schülern Irritationen aus, ohne sich der antizi- pierten Ergebnisse gewiss sein und mögliche Folgen ihrer Destabilisierungen sicher vor- hersagen und einschätzen zu können, weshalb das pädagogische Handeln immer auch ein Wagnis darstellt. Auf den Aspekt der Ungewissheit wird im Weiteren noch detaillierend eingegangen (vgl. 1.2.2.4).

Auf die Spannung von Autonomie und Heteronomie verweist die sogenannte Autono- mieantinomie. Diese zeigt sich u.a. in dem Widerspruch, die Schüler einerseits zu Autono- mie, Selbstbestimmung und Eigenverantwortlichkeit zu führen, von ihnen aber zugleich in erzieherischen, sozialen und organisatorischen Zwängen Unterwerfung zu fordern. Wird diese Antinomie einseitig gelöst, kann dies zu „pädagogische[r] Enteignung bereits vor- handener Autonomie durch den Pädagogen“ (Fabel-Lamla 2004, 98) führen oder „krisen- auslösende Überforderung bei unterstellter Autonomie“ (ebd.) bei den Schülern bewirken.

Umgang mit Antinomien und Paradoxien

Die Ausbalancierung antinomischer Spannungen und die Bearbeitung der sich ent- wickelnden pragmatischen Paradoxien erfordern eine fallspezifische, kommunikativ refle- xive, rekonstruktiv ausgerichtete Erschließung. Nicht aufhebbare Widerspruchsverhält- nisse und individuelle Handlungsdilemmata und -ambivalenzen müssen differenziert ana- lysiert werden. Wichtig ist, die Unsicherheiten im Umgang mit Antinomien und Paradoxien einzugestehen und mögliches Fehlverhalten, wie zum Beispiel die Tendenz zur Vereinfa- chung, zur Mystifizierung oder zum Vergessen sowie Situationen des Scheiterns als un- umgänglich zu akzeptieren. Aus interaktionistischem und professionstheoretischem Ver- ständnis sind die vielfältigen virulenten Fehler- und Problemkonstellationen ein fester Be- standteil pädagogisch professionellen Handelns. Sie nicht als persönliches Versagen, sondern als Normalfall professioneller Handlungspraxis zu verstehen, ist Ziel der reflexi- ven Bearbeitung (vgl. Schütze 1996) und dient als Ausgangspunkt für weitere Schritte der Rekonstruktion und Bearbeitung.

1.2.2.4 Ungewissheit

Die Erfahrung von Ungewissheit in Erziehung und Bildung wird verstärkt seit den späten 1980er-Jahren im erziehungswissenschaftlichen und professionstheoretischen Diskurs thematisiert (vgl. Dewe 1999; Helsper 2005 u.a.).

„Vor dem Hintergrund von Komplexität, Dissens und offener Zukunft“ (Gensicke 2006, 57) ist pädagogisches Handeln stets ein riskantes Handeln, denn es ist sowohl im Hinblick auf die Dynamik der Situation als auch im Hinblick auf die angemessen zu wählenden Handlungsstrategien und auf den mutmaßlichen Ausgang mit verunsichernder Ungewiss- heit verbunden (vgl. Stichweh 1994, 296). Die Ungewissheit ist u.a. in der komplexen in- teraktiven Dynamik der Beziehung zwischen Professionellen und ihrer Klientel zu be- gründen, aber auch in der Widersprüchlichkeit der eingegangenen Sozialbeziehungen mit

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partikularen und universalistischen Orientierungen sowie in dem Erfordernis, dyadische und gruppendynamische Interaktionen immer wieder neu aushandeln zu müssen und sie nicht statisch auf einmalig verabredete und sichernde Reglements festlegen zu können.

Für professionelles Handeln ist Ungewissheit somit unumgänglich. Sie kann unter- schiedliche Ebenen betreffen: die individuelle Wahrnehmungs- und Erlebensebene der Lehrperson bzw. der Schüler ebenso wie die interaktionelle Handlungsebene in der Be- gegnung und Auseinandersetzung mit Differenzen und Fremdheit. Auch auf der Sach- ebene ist mit Ungewissheit zu rechnen, denn es ist nie definitiv vorhersagbar, ob die pä- dagogisch formulierten Vermittlungsziele erreicht und wie die individuellen Beteiligungen der Interaktionspartner ausfallen werden. Immer bleibt offen, welche individuelle Be- deutsamkeit und „Betroffenheit“ ausgelöst werden und wie vor diesem Hintergrund agiert und reagiert wird. Weder der Erfolg pädagogischer Interventionen, noch das Erreichen ih- rer Zielsetzungen sind ebenso wie die sich daraus entwickelnden Folgen gesichert bzw. nicht mit Sicherheit vorhersagbar. Helsper spricht in diesem Zusammenhang von der „Riskanz der professionellen Interventionen“ (Helsper 2004b, 73).

Lehrer müssen sich dieser Ungewissheit, mit der sie ständig konfrontiert werden, ge- wiss sein. Pörksen (2001) nennt es die „Gewissheit der Ungewissheit“. Der bewältigende Umgang erfordert eine bewusste Öffnung gegenüber dem Ungewissen. Zudem muss eine grundlegende Haltung der Anerkennung und Aufwertung gegenüber Ungewissheit und Unbestimmtheit entwickelt werden, denn Ungewissheit ist nicht als Bedrohung oder Defizit zu verstehen (vgl. Helsper 2005; Meyer 2005; Liesner/Wimmer 2005). Trotz der strukturell bedingten Ungewissheit und Riskanz der Praxis müssen professionell Handelnde auch im Fall von Unsicherheiten die eigene Zuständigkeit wahrnehmen und kompetent handeln – sie müssen „immer irgend etwas tun“ (Oevermann 1996, 128). Das erfordert von Lehrern eine Verantwortungs- und Zuständigkeitsverpflichtung und vor allem „Intuition, Urteils- fähigkeit, Risikofreudigkeit und Verantwortungsübernahme“ (Stichweh 1994, 296). Vor al- lem aber erfordert es Vertrauen in die Fähigkeiten der eigenen Person, mit Überraschen- dem und Unvorhersehbarem umzugehen. Lehrer müssen Vertrauen in die Schüler und in die Beziehung zu ihnen entwickeln, aber auch in die Zeit, die Entwicklungen und Verände- rungen benötigen.

Unter dieser Voraussetzung ist Ungewissheit auch eine Chance und ein Anknüpfungs- punkt für gemeinsames, einander zugewandtes und aufeinander bezogenes Handeln in geöffneten Unterrichts- und Handlungssituationen (vgl. Mühlhausen 1994).

1.2.3 Professionelles Handeln und Reflexivität

Wie bisher aufgezeigt wurde, müssen Lehrer als Lern- und Lebensbegleiter in ihrem pro- fessionellen Handeln in vielfältigen Rollen vermittelnd agieren und sich dabei immer wie- der mit Differenzen und Fremdheiten auseinandersetzen. Die spezifischen Antinomien und Paradoxien und der erforderliche Umgang mit Ungewissheit fordern sie vielfach her- aus. Permanent müssen sie Situationen analysieren, Probleme erkennen, adäquate Lö- sungsansätze suchen und vielfältige Entscheidungen treffen. Dabei ist es wichtig, die Auswirkungen des eigenen Handelns immer wieder zu überdenken. Das Interaktionsge- schehen muss auf den unterschiedlichen Ebenen hinsichtlich erreichter Ergebnisse, Ver- läufe und Veränderungen, aber auch im Hinblick auf Missverständnisse und Enttäuschun- gen rekonstruiert und evaluiert werden. Dabei ist es auch wichtig, die vorhandenen Routi-

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nen, die häufig in ihren Strukturen verdichtet und verhärtet sind, aufzubrechen. Dies ist unmittelbar an Reflexionsvermögen und Reflexivität gebunden. Sabine Reh spricht in die- sem Zusammenhang von der „Steigerungsformel ‚Professionalität durch Reflexivität‘“ (Reh 2004, 359).

Im weiteren Verlauf werden zunächst die Begriffe Reflexion und Reflexivität behandelt (1.2.3.1), Inhalte und Perspektiven reflexiver Bearbeitung aufgezeigt (1.2.3.2) und darauf folgend die Aspekte Selbstreflexion und Biografizität herausgearbeitet (1.2.3.3). Auf dieser Grundlage werden schließlich Voraussetzungen für reflexives Handeln abgeleitet (1.2.3.4).

1.2.3.1 Reflexion – Reflexivität

Der Begriff „Reflexion“ geht im pädagogischen Zusammenhang im Wesentlichen auf De- wey zurück und kann als ein Prozess des beharrlichen und zugleich vorsichtigen Nach- denkens verstanden werden. Dieses Nachdenken entsteht meist aus dem Zustand des Zögerns oder Zweifelns und bezieht sich auf etwas, das angenommen bzw. für wahr ge- halten wird. Dabei werden auch die Gründe und Annahmen, auf die sich die Ansicht stützt, und die sich daraus entwickelnden Schlüsse überdacht und überprüft. Reflexion ist auf das Ziel ausgerichtet, durch bewusstes Erforschen und Suchen „Kenntnisse zu erwer- ben oder etwas als wahr zu erkennen“ (Dewey 2002, 9). Indem Probleme überdacht, mögliche Gründe erfragt und Folgen abgeleitet werden, wird es möglich, mit Widersprü- chen, Ungewissheit und Diffusität umzugehen. Letztlich werden damit auch Grundlagen für zu treffende Entscheidungen gebildet, unter Berücksichtigung verschiedener Perspek- tiven neue Erkenntnisse gewonnen und Verstehen erweitert. Gelungene professionelle Reflexion trägt zudem zur Stabilisierung, Entwicklungsförderung, Balance und Metarefle- xion bei. Diese von Sandra Tiefel (2004) für den beraterischen Arbeitszusammenhang aufgezeigten Funktionen professioneller Reflexion haben auch für die unterschiedlichen Anforderungen in den verschiedenen Handlungsfeldern des schulpädagogischen Alltags ihre Gültigkeit.

Im Gegensatz zur Reflexion beschreibt „Reflexivität“ im Kontext professionellen Leh- rerhandelns eine Fähigkeit (Dick 1999; Tiefel 2004), eine Eigenschaft und eine infrage- stellende Haltung, zugleich aber auch ein übergeordnetes Strukturmoment und eine Form des Wissens (Radtke 1999).

Als Strukturmoment professionellen Lehrerhandelns bezieht sich Reflexivität auf fach- wissenschaftliches und fachdidaktisches Wissen sowie auf erziehungswissenschaftliche, psychologische und bildungssoziologische Grundlagen. Da professionelles Handeln im- mer auch eine situations- und fallspezifische Betrachtung erfordert, ist der reflexive Wis- senschaftsbezug durch ein reflektiertes Verstehen des Konkreten zu erweitern, um auf der Grundlage der Rekonstruktion fallspezifischen Sinns fallspezifisches Wissen bilden zu können.25

Die vorliegende Arbeit versteht Reflexivität auf diesem Hintergrund als die individuelle und interaktive Fähigkeit, sich reflexiv zu verhalten, d.h. Wissen anzuwenden, Prozesse

25 Radtke beschreibt Reflexivität als eine Wissensform, die in Form von Reflexionswissen als nachträglich verwendetes theoretisches Wissen neben dem handlungspraktisch anwendbaren Entscheidungswissen für die Begründung von Handlungen und somit für die Sinnstiftung not- wendig ist (vgl. Radtke/Webers 1998, 205).

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überdenken und Erfahrungen und Annahmen infrage stellen zu können. Dies ist für pro- fessionelles Lehrerhandeln von zentraler Bedeutung, denn erst auf der Grundlage von Reflexivität kann Gelerntes und Erfahrenes retrospektiv und assoziativ durchdrungen, in Bezug mit Erfahrung und Wissen gestellt und können entsprechende Änderungen oder Anpassungen vorgenommen und in die Praxis umgesetzt werden.

1.2.3.2 Inhalte und Perspektiven reflexiver Betrachtung

Im Umgang mit den spezifischen Anforderungen und Herausforderungen werden Lehrer, wie aufgezeigt, im pädagogischen Alltag mit Situationen, Handlungen, Prozessen, Ent- wicklungen und mit rahmenden Bedingungen konfrontiert, die sie als Irritation, Verunsi- cherung, Ärgernis oder als Scheitern beobachten oder direkt erfahren. Sie zu beurteilen ist durch ihre eigene Beteiligung am Geschehen häufig erschwert. Dementsprechend müssen für die reflexive Bearbeitung je nach verfolgter Zielsetzung unterschiedliche In- halte in den Blick genommen werden: die eigene Person mit den unbewusst übertragenen Beziehungsmustern im Spiegel gegenwärtiger Erfahrungen (Ich-Perspektive), die objekti- ven, gesellschaftlichen und schulischen Rahmenbedingungen (Es-Perspektive) und die intersubjektiven Wahrheiten, d.h. die kollektiven Erfahrungen.

Tiefel unterscheidet in diesem Zusammenhang die Wahrnehmungsperspektiven „Selbst“, „Institution“, „Nahbereich“ und „Gesellschaft“, die sich in ihrer spezifischen Kom- bination durch sogenannte Reflexionsfoki ausprägen (vgl. Tiefel 2004, 251). Die Wahr- nehmungsperspektive „Selbst“ fokussiert „Möglichkeiten und Barrieren individueller Ent- wicklung und persönlicher Verortung in der Welt“ (ebd.). Im „Nahbereich“ werden „soziale Einbindung, Kommunikation und Interaktion [als] zentrale Bereiche der persönlichen und beruflichen Verortung“ (ebd.) in den Blick genommen. In der Wahrnehmungsperspektive „Institution“ sind „institutionelle Vorgaben, Maßstäbe, oder ‚Normen‘ (…) leitende Prinzi- pien eigener Beurteilungen und Entscheidungen“ (ebd.). Und in der Wahrnehmungsper- spektive „Gesellschaft“ sind „politisch/philosophische Fragestellungen und Systembedin- gungen (…) für die eigene Person“ (ebd.) wichtig.

Da sich Lehrer auch mit den zu vermittelnden Inhalten und den hierfür erforderlichen Methoden kritisch reflexiv auseinandersetzen müssen, wird die „Sache/Inhalt“ als fünfte Wahrnehmungsperspektive diesem Modell hinzugefügt.

Da Reflexion immer biografisch induziert ist (vgl. ebd., 237), steht Reflexivität im engen Zusammenhang mit Selbstreflexivität. Für diese sind wiederum, wie noch aufgezeigt wird, biografische Selbstvergewisserung und Biografizität von besonderer Bedeutung – beide Aspekte werden im Weiteren näher betrachtet.

1.2.3.3 Selbstreflexivität und Biografizität

Der Begriff der „Selbstreflexion“ wird im Kontext dieser Arbeit im Sinne von Selbstwahr- nehmung und Selbstvergewisserung unter besonderer Berücksichtigung der eigenen Bio- grafie verstanden. Prozesse der Selbstreflexion sind immer dann notwendig, wenn „der selbstverständliche, unproblematische Kontakt zwischen unserem Organismus (im wei- testen Sinne) und unserer Umwelt gestört ist, wenn wir (…) die Erfahrung von Gespalten- heit, von Entfremdung und Isoliertheit machen“ (Dauber 2006, 17). Solche Störungen tre- ten im pädagogischen Alltag gehäuft auf und sind – bedingt durch die antinomischen

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Strukturen und spezifischen Anforderungen – zu einem großen Teil unvermeidlich. Ziel selbstreflexiver Prozesse ist, die eigene Person im situativen Bezug und mögliche Prob- leme der eigenen Tätigkeit zu erklären und besser zu verstehen, um auf dieser Grundlage neu und gezielter handeln zu können.

Für das Erreichen dieser Zielsetzung werden in der reflexiven Betrachtung mögliche Momente der Verdrängung, infantile Motivationen, Übertragungen oder Widerstände, die aus psychoanalytischer Sicht maßgeblich die Wahrnehmung und den Umgang mit Wirk- lichkeit beeinflussen (vgl. Zwiebel 2006; Leuzinger-Bohleber 2004), bewusst gemacht und hinterfragt. Damit ein Ausgleich zwischen eigenen Wünschen, Zielen und Ansprüchen und den verinnerlichten Erwartungen stattfinden kann, ist es von besonderer Bedeutung, mög- liche Selbsttäuschungen, illusionäre Selbstwahrnehmung und Selbsteinschätzung wahr- zunehmen. Dieses rationale Vorgehen stellt ein ergänzendes Pendant zu der intuitiven Gestaltung emotionaler Beziehungen dar und kann dazu beitragen, verfestigte Denk-, Ge- fühls- und Verhaltensmuster zu lösen und zu flexibilisieren.

Aufgrund der biografischen Induziertheit erfordern Prozesse der Selbstreflexion auch die Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie. In der biografischen, selbstvergewis- sernden Reflexion rücken die eigene Person mit den individuellen (schulischen) Erfahrun- gen und (berufsbezogenen) Motivationen ins Zentrum der Betrachtung.

Die Notwendigkeit der Selbstreflexion und der Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie wird in der Diskussion um pädagogische Professionalität als eine wichtige Res- source betont, die für den späteren Beruf zu entwickeln und auszubauen ist (vgl. Bastian/ Helsper 2000; Kraul/Marotzki/Schweppe 2002b; Reh/Schelle 2000; Reh 2004). Denn nur, wenn die aktuellen Erfahrungen und Erlebnisse im pädagogischen Handeln in biografi- schen Bezügen gesehen werden, können die eigenen pädagogischen Geprägtheiten er- kannt und relativiert werden. Werden die eigenen Verstrickungen in strukturell bedingten Antinomien des professionellen Handelns hinsichtlich der eigenen Biographie reflektiert, können kontinuierliche, immer wieder aktualisierbare Fehlerpotenziale, wie z.B. Vereinfa- chungs- oder Mystifizierungstendenzen oder die Tendenz zur Ausblendung, für den Um- gang mit Antinomien minimiert werden (vgl. 1.2.2.3).

Dabei müssen die jeweiligen kulturellen und lebensgeschichtlichen Kontexte berück- sichtigt werden. So angelegt ist eine biografisch ausgerichtete Selbstreflexion als „(Wie- der) Aneignung von Aspekten der eigenen Biographie“ (Rogal 1999, 19) zu verstehen. Es ist ein Versuch, die individuellen, biografisch bedeutsamen und prägenden Erfahrungen, die in das heutige Handeln eingehen, transparent zu machen. Biografie in diesem Ver- ständnis meint damit nicht nur eine nachträgliche Beschreibung des eigenen oder frem- den Lebens. Im aktuellen erziehungswissenschaftlichen Diskurs26 beschreibt Biografie vielmehr eine aktive, dynamische Konstruktion von Lebenserinnerungen, die sich als Le- bensentwurf realisiert.27 In diesem sind auf- und umgeschichtete biografische Erfahrungen

26 Der Biografiebegriff wird grundlegend u.a. bei Fuchs-Heinritz 2000, Ecarius 1998, Schütze 1996, Alheit 1995 und 2002, Marotzki 1999 u.a. beschrieben und erörtert.

27 Biografie als das, was aus dem eigenen Leben gemacht wird, was im Leben begriffen und was über das Leben reflektiert wird, wird somit zur Alltagshandlung, in der Erlebtes ständig erinnert und be- und gedeutet wird. Damit ist Biografie mehr als rekonstruierte Dokumentation von Le- bensverläufen. Sie wird zu einer „das Leben im Leben beschreibende[n] gegenwärtige[n] Tätig- keit des biografischen Subjektes im Alltag, als soziale Handlung, als ästhetischer (…) [und] le-

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enthalten, „die bewusst oder unbewusst geronnen in unser Handeln eingehen“ (Gudjons u.a. 1999, 16) und sich flexibel und damit veränderbar in Lebensgeschichten widerspie- geln.28 Sie können in autobiografischer Selbstreflexion aufscheinen und bewusst werden (vgl. Gudjons u.a. 1999; Ecarius 1998, 2006 u.a.).

Biografische Selbstreflexion zielt also darauf ab, sich selbst als durch die eigene Le- bensgeschichte in besonderer Art und Weise geworden zu erfahren und darüber hinaus zu verstehen, wie sich die Einflüsse zu dieser spezifischen Biografie und Identität unter den jeweils prägenden gesellschaftlichen, geschichtlichen und kulturellen Bedingungen aufgeschichtet haben (vgl. Gudjons u.a. 1999).29

Diese biografischen Rückerinnerungen an die eigene Kindheit, das Aufwachsen und die Erinnerungen an das damalige Lernen spielen, insbesondere im Hinblick auf die im pädagogischen Alltag vorhandene Generationendifferenz, eine entscheidende Rolle, denn sie „beeinflussen, wie Lebenswelt und Erfahrungen heutiger Kinder wahrgenommen wer- den“ (Heinzel/Alexi 2006, 191). Die reflexive Auseinandersetzung mit den eigenen Kind- heitserinnerungen, Wünschen und Vorstellungen ist nach Heinzel/Alexi von wesentlicher Bedeutung für das pädagogische Handeln, da Pädagogen immer vor zwei Kindern ste- hen: vor dem konkret gegenüberstehenden und zu unterrichtenden Kind auf der einen und dem eigenen, erinnerten, in sich selbst oft verdrängten Kind auf der anderen Seite. Das, was Lehrer selbst als Kind erlebt haben, bildet aus psychoanalytischer Sicht die Grundlage für ihr Verhalten, das sie ihren Schülern entgegenbringen. Sie können zu- nächst gar nicht anders, als jene so zu behandeln, wie sie es selbst erlebt haben. Aus diesem Grund ist in besonderem Maße eine reflexive Distanz erforderlich, um „im gegen- wärtigen Augenblick des eigenen Empfindens und Fühlens das eigene, verletzte und un- terdrückte Kind zu spüren und liebevoll anzunehmen, um nicht die Kämpfe der eigenen Vergangenheit aus der umgekehrten Position zu wiederholen“ (Dauber 2006, 28). Durch diesen distanzierten, reflexiven Blick auf die eigene und die heutige Kindheit werden dann Abgrenzungs- und gegenseitige Anerkennungsprozesse der verschiedenen Generationen bewusst, und es entstehen neue, für die Generationenvermittlung förderliche Betrach- tungsweisen und ein Blick, der sich für das Fremde öffnet (vgl. Heinzel/Alexi 2006).

Im Hinblick auf professionelles Lehrerhandeln unterstützt biografische Selbstvergewis- serung die reflexive Auseinandersetzung mit der eigenen Lehrerpersönlichkeit, der Leh- rerrolle, den erarbeiteten Mustern, der Lehrersozialisation und dem eigenen Lehrerbild. Durch sie wird biografisches Material in Form einer Landkarte entwickelt, das für das wei- tere pädagogische Handeln leitend sein kann (Seydel 2005). Die dabei eingenommene

bensnotwendiger sozialer Verständigungs- und Selbstverständigungsprozess“ (Seydel 2005, 77). Ecarius stellt Biografie in ihrer Gesamtheit aus unterschiedlichen Blickwinkeln als einen Lernprozess dar: „Lernen als biografische Erzählung lenkt den Blick auf das Lernen als innere Erfahrung“ (Ecarius 1998, 134). Entsprechend sind Lebensgeschichten in einen identitätskonsti- tuierenden Zusammenhang eingebettete Lerngeschichten. Konkrete Lebensereignisse mit nachhaltigem Erfahrungsinhalt lassen Erfahrungs- und folglich biografische Lernprozesse ent- stehen, durch die sich die Sicht auf Welt und das Selbstkonzept herausbilden. Zugleich ist Ler- nen selbst immer auch ein biografischer Prozess.

28 Nach Seydel und Fuchs-Heinritz realisiert sich Biografie in der Erzählung als biografische Kom- munikation (vgl. Seydel 2005; Fuchs-Heinritz 2000) und verändert sich im jeweiligen Erzählzu- sammenhang.

29 Der Begriff der Aufschichtung verweist auf den hohen Stellenwert der Kindheitsmuster als ba- sale biografische Orientierung (vgl. Gudjons u.a. 1999, 27).

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biografische Perspektive kann Lehrer unterstützen, die eigenen, persönlichen und berufli- chen Positionen neu zu hinterfragen, biografische Ressourcen zu vergegenwärtigen und biografische Dispositionen und mögliche „blinde Flecken“ aufzudecken und zu bearbeiten. Dieser Prozess ständiger biografischer Vergewisserung auf unterschiedlichen Ebenen bil- det eine Orientierung für den individuellen Lebensplan und wird als „Biografizität“ be- zeichnet (vgl. Alheit/Dausien 2006). Sie ist die Fähigkeit, auf der Basis bewusst geworde- ner, verinnerlichter Denk- und Lernstrukturen neue und zunächst oftmals irritierende Er- fahrungen sowie neues Wissen an biografische Sinnressourcen anzuschließen und in die biografische Selbstkonstruktion zu integrieren, um das eigene Leben und die individuellen Erfahrungen und Erlebnisse in den unterschiedlichen Kontexten als immer wieder neu in- terpretierbar und gestaltbar zu wissen (vgl. Hoerning u.a. 1991).

1.2.3.4 Voraussetzungen für Reflexivität

Um mehrdeutige und komplexe Situationen analysieren, lösen und folglich reflektiert han- deln zu können, benötigen Lehrer als „reflektierte Praktiker“ (Schön 1983, zit. n. Dick 1996, 96) sowohl umfassendes Wissen und kognitive Denkfähigkeiten als auch bestimmte Ein- stellungen, wie z.B. Unvoreingenommenheit und Offenheit (vgl. Dick 1996; Altrichter 1998). Grundlegend ist die Bereitschaft, kritische Rückmeldungen als Informationsbasis für eige- ne Verhaltensmodifikationen auszuwerten und die eigene Infragestellung als einen Be- standteil des „Alltagsgeschäfts“ anzunehmen. Wichtig ist es, sich flexibel und undogma- tisch auf neue Ideen und Erklärungsangebote einzulassen und sie kritisch zu prüfen, aber auch bereit zu sein, persönliche Sympathien/Antipathien hinter Sach- und Kooperations- notwendigkeiten zurückstellen zu können.

Selbstreflexivität bedeutet, in Distanz zu sich selbst zu treten und sich selbst kritisch in den Blick zu nehmen. Es bedeutet auch, sich durch Mehrperspektivität der eigenen Urteile bewusst zu werden und diese zu hinterfragen.

Doch allein durch die Reflexion des Selbst ist professionelles Handeln im pädagogi- schen Feld nicht gewährleistet. Da Interaktionen an Deutungen gebunden sind und es dadurch zu Missverständnissen oder Störungen kommen kann, müssen auch die je unter- schiedlichen Sichtweisen reflektierend kommuniziert und aufeinander abgestimmt werden.

Auf der Grundlage dieser reflexiven Rekonstruktionen, sogenannter „Re-Situierungen“ (Dick 1996, 107), können unter Annahme vorhandenen Wissens weitere, neue Erkennt- nisse gewonnen, potenzielle Reflexions- und Handlungsmöglichkeiten gebildet und durch kontrastierende Vergleiche Bewertungen, Planungsentscheidungen oder auch Schluss- folgerungen formuliert werden (vgl. Kroath 2004, 184). Mit der Erweiterung der eigenen Perspektive um gegensätzliche Sichtweisen wird eine „bipolare Aufmerksamkeit“ (Zwiebel 2006, 47) erreicht, in der neben der Situation des Schülers auch die Situation des Lehrers mit den jeweiligen sozialen und institutionellen Kontexten in den Blick genommen wird.

Diese bipolare Aufmerksamkeit ist dann als bifokal zu bezeichnen, wenn ein Oszillieren zwischen den unterschiedlichen Perspektiven30 und Dimensionen gelingt, wenn also die unterschiedlichen Foki aufeinander bezogen werden. Je nachdem, wie die unterschiedli-

30 Neben der Subjekt-Objekt-Perspektive sind weitere Perspektiven zu beachten: die der Gegen- wart/Vergangenheit, des Innen/Außen, der Wahrnehmung/Präsenz und der Erinnerung.

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chen Wahrnehmungsperspektiven miteinander integriert werden, können sich dabei un- terschiedliche Reflexionsfoki entfalten. Bleiben bei der Reflexion eine Wahrnehmungsper- spektive zentral und andere dagegen unberücksichtigt, liegt nach Tiefel ein „dominanter Reflexionsfokus“ (Tiefel 2004, 253) vor. Werden aber andere Wahrnehmungsperspektiven mit betrachtet, eine wird diesen gegenüber jedoch vorgezogen, gestaltet sich der Fokus hierarchisch. Wichtig ist für professionelles Handeln, sich der Verbindung unterschiedli- cher Perspektiven bewusst zu sein und diese miteinander zu kombinieren. Werden meh- rere Wahrnehmungsperspektiven situativ abwechselnd in die Reflexion einbezogen, zeigt dies nach Tiefel einen relationalen Reflexionsfokus an. Professionelle Reflexion greift nach Tiefel „auf den flexibel-komplexen Reflexionsfokus“ (ebd., 255) zurück, um komplexe Zusammenhänge analysieren zu können, die die Situationen und Handlungsweisen in dif- ferenzierender Form beeinflussen. Dieser flexibel-komplexe Reflexionsfokus entspricht der „multiplen Bifokalität“ (Zwiebel 2006, 47), die einen wesentlichen Aspekt professio- neller Reflexivität darstellt und erforderlich ist, um Handlungsräume für alle Beteiligten zu eröffnen und um dauerhaft dysfunktionale Beziehungsentwicklungen vermeiden zu kön- nen (vgl. Dauber 2006, 8).

Hierfür ist eine Haltung notwendig, die Zwiebel mit der eines „inneren Analytikers“ (Zwiebel 2006, 45) beschreibt. Um die vielfältigen Bipolaritäten, wie z.B. Erleben und Den- ken, Asymmetrie und Gegenseitigkeit, Übertragung und Gegenübertragung, Ritual und Spontanität, Überzeugung und Ungewissheit u.a., zulassen zu können, bedarf es daher der Toleranz für Widersprüche und Gegensätze. Zugleich müssen Professionelle der Ver- suchung widerstehen, diese Bipolarität durch Polarisierung oder Abspaltung aufzulösen (vgl. ebd.).

Im Weiteren stellt sich die Frage, welche Konsequenzen aus den bisher dargestellten Ausführungen für die Professionalisierung angehender Lehrer abgeleitet werden können und wie universitäre Lehrerbildung gestaltet werden könnte, um sie bereits in der univer- sitären Ausbildung auf die dargestellten Anforderungen und Herausforderungen vorzube- reiten und ihnen eine professionelle reflexive Haltung für die spätere Ausübung des Be- rufs zu vermitteln.

2 Professionalisierung für den Lehrerberuf

Ein historischer Rückblick zeigt, dass die Professionalisierung der Lehrkräfte bis in die 1970er-Jahre durch eine stärkere wissenschaftliche Ausrichtung der Lehrerbildung ange- strebt wurde und mit einer Anhebung des Ausbildungs-, Prestige- und Gehaltsniveaus einherging. In der Qualifikation zum Lehrerberuf wurde auf erlernbare professionelle Fä- higkeiten und Kompetenzen gesetzt. Angestrebt wurde ein Lehrer als „Voll-Profi“ (Schre- ckenberg 1984, 53) mit Expertenfunktion. Dabei schien die Verwissenschaftlichung „aus- reichend Garantie dafür zu sein, daß Lehrer z.B. mit ausreichenden professionellen Kom- petenzen ausge,rüstet‘ würden“ (Winkler 1996, 4). Als sogenannte „gute“ Lehrer galten – polemisch formuliert – lernpsychologisch versierte Instruktionsexperten und gruppen- dynamisch kundige Sozialingenieure mit kritisch konstruktiven gesellschaftspolitischen Ambitionen. Ab Mitte der 1970er-Jahre wandelte sich das Lehrerleitbild mit zunehmender Gewichtung der Lehrerpersönlichkeit und verstärkter Lebensweltbezüge. Es wurde eine

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Diskussion der „De-Professionalisierung“ geführt, die die zwischenmenschliche Seite, die Erkenntnisse der Gestaltlehre und der humanistischen Psychologie betonte (vgl. Dewe/ Ferchhoff/Scherr/Stüwe 1995, 10). Gefordert wurde eine Lehrerbildung als Prozess ganz- heitlicher Erfahrungsbildung.

In der sozialwissenschaftlichen Diskussion der 1990er-Jahre wird Professionalisierung als ein längerfristiger, lebenslanger Prozess beschrieben, in dem Handlungsstrukturen entwickelt werden, um Praxisprobleme reflexiv zu bearbeiten. (vgl. Alisch u.a. 1990; Dewe/ Ferchhoff/Radtke 1990). Professionalisierung als Entwicklung von Professionalität stellt demnach einen individuellen Entwicklungs- und Lernprozess dar, in dem professionelles Wissen weiter entfaltet, systematisiert und die Berufsausbildung institutionalisiert wird.

Im Kontext der Professionsforschung rückt die aktuelle Professionalisierungsdebatte der sozialen und pädagogischen Berufe „vom klassischen Professionsbegriff als normati- ver Zielmarke und von einer Orientierung an rein äußerlichen Professionsmerkmalen“ (Fa- bel-Lamla 2004, 87) ab. In den Blick genommen werden nun weniger die Professionsent- wicklung als vielmehr die Analyse der Strukturlogik und die Binnenstrukturen professionel- len pädagogischen Handelns sowie die verschiedenen Facetten von Professionalität. Viel- fach gestützt auf (zumeist qualitative) empirische Forschungen werden dabei nicht nur die gesellschaftlichen und institutionellen Professionsstrukturen fokussiert, sondern auch die Beziehung und Interaktion zwischen Professionellen und Adressaten, die Professionellen selbst mit ihren professionsbiografischen Erfahrungen und Kompetenzen im Verhältnis von Biografie und professionellem Habitus (Heinzel 1996; Fabel-Lamla 2004), das Ver- hältnis von Wissen und Können (Radtke 1996; Fried 2002) sowie die Ambivalenzen und Schwierigkeiten aufgrund antinomischer Strukturen und Paradoxien im pädagogisch pro- fessionellen Handeln (Helsper u.a. 2000; Schütze 2002).

Professionalisierung als Prozess, in dem Professionalität angebahnt wird, beschreibt im Hinblick auf die zu professionalisierende Lehrertätigkeit den „ individuelle[n], prinzipiell unabgeschlossene[n] Lern-, Bildungs- und Entwicklungsprozess eines Professionsange- hörigen, der sich auf biographische Dispositionen aus der Primärsozialisation, auf das Studium, die Ausbildung, die Praxis, Einsozialisation in die Profession und den Erwerb spezifischer Handlungskompetenzen erstreckt“ (Fabel-Lamla 2004, 80).

Die unterschiedlichen Ansätze einer Professionalisierung für den Lehrerberuf gehen übereinstimmend davon aus, dass dieser Prozess mit der ersten Phase in der universitä- ren Ausbildung beginnt. Entsprechend der unterschiedlichen handlungslogischen Be- stimmungen pädagogischer Professionalität zeigen sich die inhaltlichen und strukturellen Konsequenzen für die universitäre Lehrerbildung allerdings verschieden. So fordert bei- spielsweise der aufgabenbezogene Theorieansatz einen gezielten Aufbau professioneller Handlungskompetenzen, die durch „eine dichte Folge von Übung und Anwendung“ (Bau- er/Kopka/Brindt 1996, 235) vermittelt werden sollen. Ziel ist, mit Abschluss des Studiums „Lehr-Lern-Situationen kompetent (…) gestalten“ (ebd., 236) zu können und ein professi- onelles Selbst entwickelt zu haben (vgl. Kap 1.1.2). Dagegen steht die Forderung nach strukturverstehender Habitusformation mit dem Ziel der „situationsunabhängigen Kenntnis von wissenschaftlichen Theorien sowie ihre situationsangemessene fallspezifische An- wendung“ (Heil/Faust 2000, 22), wie sie für eine erforderliche „doppelte Professio- nalisierung“ (Oevermann 1996, 124) im strukturtheoretischen Ansatz formuliert wird. Er- folgen soll dies in zwei Professionalisierungsphasen: in einer ersten, theoretischen Phase

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soll die Basis für das Begründungswissen gelegt und in den wissenschaftlichen Diskurs eingeführt werden, in der zweiten soll dann durch praktische Anwendung in Form fallbe- zogener Rekonstruktion und theoretischer Subsumtion in die Praxis eingeübt werden, „die für die Durchführung des Arbeitsbündnisses erforderlich ist“ (ebd., 125).

Diese beiden Positionen verdeutlichen die kontroverse Diskussion der Lehrerbildung, in der nach Neuweg vorwiegend die Frage nach dem Maß und nach der Gewichtung von Theorie und Praxis gestellt wird.

2.1 Der Bezug zur Praxis

Um angehende Lehrer auf die in den vorherigen Kapiteln herausgearbeiteten spezifischen An- und Herausforderungen professionellen Handelns vorzubereiten, müssen die ent- sprechenden Themenfelder „Umgang mit Rollenvielfalt und -ambiguität“, „Umgang mit Fremdheiten, Antinomien und Paradoxien“ sowie mit „Ungewissheit“ bereits in der ersten Phase der Lehrerbildung bearbeitet werden. Dass hierfür der Bezug zur Praxis für die Ausbildung angehender Lehrer und Lehrerinnen wichtig ist, wird einheitlich als notwendig anerkannt. Der Begriff des „Berufsfeldbezug[s]“ (vgl. Heil/Faust 2000, 31) zeigt das weite Verständnis des Lehrerberufs, der sich nicht nur auf die Unterrichtsebene beschränkt. Für die Lehrerbildung ist neben dem Bezug zum Praxisfeld die gegenseitige Abhängigkeit der Bezugssysteme Wissenschaft, Praxis und lernende Person entscheidend (vgl. dies., 30). Je nach Verhältnisbestimmung zwischen den Bezugsgrößen, werden in unterschiedlichen Modellen verschiedene lehrerbildungsdidaktische Implikationen formuliert und diese kon- trovers diskutiert (vgl. Neuweg 2004). Mit Neuweg sind sogenannte Differenzkonzepte von den Integrationskonzepten zu unterscheiden.

In den Differenzkonzepten stehen die „Welten des Wissens und Denkens einerseits, des praktischen Könnens andererseits nicht in einem Subordinationsverhältnis zueinan- der, sondern bilden zwei nebeneinander existierende Praxen mit je eigener Dignität und mehrfach gebrochenen, höchst unklaren Austauschbeziehungen“ (ebd., 10).

Integrationskonzepte stellen dagegen einen relativ engen Zusammenhang zwischen Ausbildungswissen und berufspraktischem Können her. Verbunden mit und eingebunden in konkrete Praxis- und Erprobungsräume zielen sie darauf ab, Theorie und Praxis, Wis- sen und Können zu integrieren (vgl. ebd., 1), entweder nach dem Konzept der Fundierung (erst Praxis, dann Theorie), nach dem der Induktion (erst Theorie, dann Praxis) oder nach dem der Parallelisierung. Das in der vorliegenden Arbeit favorisierte Parallelisierungskon- zept strebt ein „zeitliches Neben- und didaktisches Ineinander von Wissen und Können“ (ebd., 2), von theoretischer Beschulung und praktischer Erfahrung an. Wissenschaft und Berufsfeld können dabei unterschiedlich miteinander verbunden werden: entweder geht die Wissenschaft in die Praxis und wird dort von Praktikern angewendet oder Aspekte des Berufsfelds werden zum Gegenstand wissenschaftlicher Theoriebildung. Theorie und Praxis werden dabei in beiden Fällen als je autonome und eigengesetzliche Bereiche ver- standen:

Praxis wird zum Gegenstand und zum Korrektiv der Theorie, Theorie zur möglichen Hilfe der Bewältigung von Praxis. (…) Theorie und Praxis beziehen sich unterschiedlich auf eine Wirk- lichkeit. Theorie, etymologisch schauen, ist danach die Bereitstellung von Kategorien zur Beschreibung der Wirklichkeit; Praxis, etymologisch handeln, die Bewältigung von Wirk- lichkeit in einer konkreten Situation (Heil/Faust 2000, 34).

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Davon ausgehend, dass professionelles Lehrerhandeln, wie aufgezeigt, darin besteht, sich immer wieder auf Ungewissheit, Unsicherheit und auf Unerwartetes einzulassen, ist es wichtig, Berufsanfänger bereits in ihrer Ausbildung auf das routinierte Erleben von Neuem vorzubereiten, zugleich aber muss ihnen die entsprechende Neugier vermittelt werden, die sie anregt, ihre bisherigen Routinen zu durchbrechen (vgl. Koch-Priewe 2002).

Wie aber können angehende Lehrer auf das Erleben von Neuem vorbereitet und in Of- fenheit und Ungewissheit eingeführt werden? Wie kann ein bewusstes und angstfreies Handeln mit herausfordernden Widersprüchen, Grenzen und Situationen des möglichen Scheiterns eingeübt werden, damit Lehrer zukünftig ihren pädagogischen Alltag aus sei- nen Routinen lösen können und Ungewissheit als alltägliche Herausforderung verstehen (vgl. Helsper 2005)? Allein der pädagogische und analysierende Blick auf publizierte Fall- beispiele reicht hierfür nach Datler ebenso wenig aus, wie bei erfahrenen Pädagogen „in die Lehre“ zu gehen. Zur Anbahnung pädagogischer Professionalität kommt dem Erleben in konkreten Handlungen und damit der Erfahrung ein hohes Maß an Bedeutung zu (vgl. Datler 2004).

2.1.1 Erfahrungslernen und Persönlichkeitsbildung

Dem Aspekt der Erfahrung wird in der vorliegenden Arbeit ein besonderer Stellenwert zu- gesprochen, denn Lehrer sind in den vielfältigen dichten Situationen des pädagogischen Alltags und im Umgang mit Antinomien und Ungewissheit auf intuitives und improvisieren- des Handeln angewiesen. Nicht immer können sie dafür erst explizite Wissensbestände reflexiv abrufen und an ihnen das Handeln ausrichten. Diese Situationen erfordern ein dy- namisches und praktisches Wissen, das sogenannte Erfahrungswissen.31 Dieses ist ein vorbewusstes Wissen, das durch konkrete Erfahrungen erworben wird. Als Handlungs- wissen ist es von analytischen Wissensformen zu unterscheiden, da es als sog. implizites Wissen unreflektiert und damit unflexibel ist. Das implizite Wissen ist aus der Sicht des strukturtheoretischen Ansatzes eine nicht zu ersetzende Voraussetzung für erfolgreiches, gelingendes pädagogisches Handeln, denn es übernimmt für das erforderliche intuitive Lehrerhandeln eine wesentliche Orientierungsfunktion (vgl. Koring 1989; Oevermann 1996; Helsper 1996). Auf seiner Grundlage werden neue, aktuelle Erfahrungen mit bishe- rigen, bereits gespeicherten, abgeglichen und dabei auf Ähnlichkeiten überprüft. Der Rückgriff auf bereits Erlebtes und Erfahrenes gibt Sicherheit, lässt schneller reagieren und unterstützt den Aufbau von Routinen.

Implizites Wissen hat damit eine praxisleitende Bedeutung, denn „mit der sinnlichen Wahrnehmung einer bestimmten Situation [werden] ohne bewusste Reflexion und Steue- rung spezifische erfahrungsgestützte Einschätzungen und Handlungsabsichten ausgebil- det (…), die bereits auf die gegebene Situation bezogen und mit Vorstellungen darüber verbunden sind, wie diese Handlungsabsichten im Hier und Jetzt konkret realisiert werden

31 Mit dem Erfahrungswissen setzen sich u.a. die Lernforschung, die Expertiseforschung im Be- reich der Kognitionsforschung (z.B. Reinmann/Mandl 2004), das Wissensmanagement sowie die Arbeitssoziologie auseinander. Von besonderem Interesse sind die Fragen, wie Erfahrungs- wissen in der Person repräsentiert wird, wie es entsteht, welche situativen und personalen Vor- aussetzungen hierfür gegeben sein müssen und wie es zur Bewältigung von Problemen genutzt werden kann (vgl. Reinmann 2005).

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sollen“ (Datler 2004, 121). Erfahrungswissen prägt also zusammen mit den berufsbiogra- fischen Vorstellungen das pädagogische Handeln und ist nach Polanyi (1985) die Basis für die Anwendung expliziten Wissens.

Wenn das Erfahrungswissen für professionelles Lehrerhandeln als Handlungsbasis von Lehrern so bedeutsam ist, bedeutet das in der Konsequenz für den Professionalisie- rungsprozess der ersten Phase der Lehrerbildung, dass nicht nur explizites, theoretisches Wissenschaftswissen und „spezifische Sets von Unterrichtsfertigkeiten und -kompeten- zen“ (Dick 1996, 136) vermittelt werden müssen, sondern dass auch der Erwerb von Er- fahrungswissen als Basis für deren Anwendung ermöglicht werden muss. Ein nachhalti- ges Begreifen lernrelevanter Sachverhalte und Verfahren erfordert also neben direkter In- struktion, vorstrukturierter Lernangebote und stark gelenkter Wissensorientierung auch ein handlungs- und erfahrungsorientiertes Lernen (Dybowski 1999). Dafür sind neue er- fahrungsorientierte Lehr-, Lern-, Interaktions- und Beratungsverfahren nötig, in denen Studierende selbst praktische Erfahrungen sammeln, eigenständig Vermittlungshandeln erproben und kooperative Lernformen anwenden können. Angehende Lehrer müssen von Lernprozessen nicht nur hören, sie müssen ganzheitliches und mehrsinniges Lernen auch selbst erleben und praktizieren, damit es ihnen vertraut wird und sie davon auch über- zeugt sind. Bohnsack (2000) verweist darauf, dass insbesondere konkrete und überzeu- gende „Alternativ-Erfahrungen“ notwendig sind, die das eigene „Zurücktreten zugunsten von Schüleraktivität“ positiv erleben und bisherige Gewohnheiten und Traditionen über- winden lassen.

Eine so konzipierte universitäre Ausbildung ermöglicht es den Studierenden auch, Er- fahrungen mit sich selbst zu machen. Damit bietet das Studium als „psychosoziales Mo- ratorium“ (Leuzinger-Bohleber 2000, 159) angehenden Lehrern die Chance, in der Le- bensphase der spätadoleszenten Identitätsbildung ein tragendes Identitäts- und Selbst- wertgefühl aufzubauen zu können, das auf die Anforderungen des pädagogischen Alltags vorbereitet. Um Vielfalt, Fremdheit, Antinomien und Ungewissheit als Herausforderung und als Bereicherung und nicht als chronische Überforderung erleben zu können, muss eine Professionalisierung erfolgen, die die Entwicklung der Lehrerpersönlichkeit ein- schließt und dafür zahlreiche „,genügend gute‘ Objektbeziehungserfahrungen“ (ebd., 164) ermöglicht, sodass sich ein „,genügend gutes‘ Selbst und ein ,genügend gutes‘ Kerniden- titätsgefühl“ (ebd.) bilden kann. Gut funktionierende Coping- und Abwehrstrategien32 hel- fen aus psychoanalytischer Sicht, Komplexität zu reduzieren und äußere Reize der inne- ren Reizverarbeitungskapazität anzupassen. So lässt sich die „Fähigkeit zur reifen Ambi- valenz“ (ebd., 169) entwickeln, die das Vermögen meint, die eigene Überforderung, Ohn- macht und die eigenen Grenzen ertragen zu können, die eigenen Ressourcen realistisch einzuschätzen und sich für das Machbare zu engagieren. Aus psychoanalytischer Sicht müssen hierfür innerseelische Ressourcen gefestigt werden, u.a. durch „stabile Selbst- und Identitätsentwicklungen, Entwicklung kreativer Problemlösungsstrategien, Dialoge mit guten inneren Objekten, Milderung von Überich- und Ichidealstrukturen etc.“ (ebd., 170).

32 Erfolgreiches Coping mit Realitäten bedeutet, eine adäquate Auswahl aus entsprechenden In- formationen zu treffen, die aktuell wichtig und wünschenswert sind, andere dagegen zu ver- nachlässigen.

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Diese Lern- und Selbsterfahrungen können allerdings nur in realen Interaktionen ge- wonnen werden. Durch exemplarische Erfahrungen mit Schülern, ihren Eltern und dem gesamten Lernumfeld können sich angehende Lehrer jedoch bereits in der universitären Ausbildung in Identifikationsprozessen erproben, wenn – wie vom Parallelisierungskon- zept gefordert – Wissenschaft und Praxis in Lernsituationen eng miteinander verbunden sind, die ein erfahrungsoffenes und erfahrungsgeleitetes Lernen ermöglichen. Dazu ge- hört, dass Erfahrungs- und Erlebensräume bereitgestellt werden und ganzheitliches und insbesondere auch informelles Lernen gefördert und begleitet wird.

2.1.2 Erfahrung durch informelles Lernen

Dieses informelle Lernen geschieht beiläufig, „en passant“, selbstständig, individuell oder kollektiv. Ziele, Inhalt, Mittel und Prozesse des Wissenserwerbs, Dauer, Ergebnisbewer- tung sowie Anwendungsmöglichkeiten werden von den Lernenden im Erfahrungsprozess jeweils einzeln festgelegt, ohne dass Kriterien vorgegeben werden und ohne dass Lehr- kräfte dabei vorgebend mitwirken.

Wenn man davon ausgeht, dass Lernen ein lebenslanger Prozess ist, dann gilt auch für das Lernen Erwachsener, dass neben dem institutionell geprägten und planmäßig strukturierten, formalen und auf Zertifizierung ausgerichteten Lernen dem informellen Ler- nen eine wesentlich höhere Bedeutung zugesprochen werden sollte (vgl. Overwien 2001, 363). Für dessen Verstärkung müssen im Rahmen der Ausbildung angehender Lehrer außeruniversitäre Lernorte als Erfahrungs- und „externe Lernräume“ (Horstkemper/Beck 2005, 4) bereitgestellt und zugängig gemacht werden, in denen Lernende ihr Wissen, ein- gebettet in authentischen Lernkontexten mit Problemsituationen aus ihrer Umwelt bzw. Arbeitswelt, erwerben können. Dabei erleben sie, dass sie diese Situationen verändern, die Auswirkungen des eigenen Handelns beobachten und Folgerungen für späteres Han- deln ableiten können.

Informell erworbenes Wissen muss jedoch zum Ausgangspunkt weiterer Verstehens- prozesse produktiv gewendet werden (Weinert 1999; Oser u.a. 1999), indem das Erlebte methodisch kompetent analysiert und reflektiert wird.

Für die universitäre Ausbildung bedeutet dies, die Erfahrungen von (angehenden) Pä- dagoginnen und Pädagogen zu erkunden, zu thematisieren und zu bearbeiten (vgl. Datler 2004), denn „als professionell gilt ein Lehrer (…) weder aufgrund seines Wissens noch aufgrund des schlichten Ausmaßes seiner Erfahrung, sondern dann, wenn er einen ana- lytischen Habitus ausgeprägt hat, also bereit ist, seine Handlungspraxis regelmäßig zu analysieren, zu evaluieren und gegebenenfalls zu verändern, wenn er Verantwortung für das eigene Wachstum übernimmt und wenn die Bereitschaft zur ständigen und nie zum Abschluss zu bringenden Weiterentwicklung einen zentralen Bestandteil seines professi- onellen Selbstverständnisses bildet“ (Neuweg 2004, 17).

Auf der Grundlage eines konstruktivistisch orientierten Lernverständnisses und des in dieser Arbeit favorisierten Parallelisierungskonzepts muss den Lernern daher der Weg zum Wissen und Können freigestellt bzw. es müssen unterschiedliche Wege angeboten und diese auch begleitet werden, denn „Lehrerbildung hat (…) immer an praktischen Vor- erfahrungen der Lerner mit Schule, Lehren und Lernen sowie an den daraus resultieren- den subjektiven Theorien und Fragehaltungen anzusetzen, einerseits, weil diese die Moti- vationsgrundlage für den Prozess der Vermittlung objektiver Theorien bilden, anderer-

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seits, um zu verhindern, dass subjektives Wissen durch als bloßes Prüfungswissen auf- gefasste Theorie unirritiert und als womöglich falsches oder unzulängliches Wissen wei- terhin zentral handlungsleitend bleibt“ (ebd., 7f.).33

Wird Lernen als eine „organisierte, auf ein bestimmtes Ziel hin ausgerichtete Erfah- rungsverarbeitung“ (Dybowski 1999, 15) verstanden, so muss sich Universität als Ort der Ausbildung nicht nur als Erfahrungsraum, sondern auch als Ort der Erfahrungsbe- und -verarbeitung verstehen und muss entsprechend konzipierte Veranstaltungen anbieten, in welchen sich Studierende an den eigenen Kompetenzen anknüpfend selbst erfahren und erproben können.

Hierfür bietet sich ein am Fall ausgerichtetes und in soziale Kontexte verortetes Lern- konzept an, das im folgenden Kapitel vorgestellt wird.

2.3 Professionalisierung durch Fallarbeit

Als spezifische Lernformen zum Erwerb bzw. zur Weiterentwicklung professioneller Hal- tungen und Qualifikationen werden im Kontext der Lehrerbildung Fallarbeit und fallorien- tiertes Lernen diskutiert (vgl. Ohlhaver/Wernet 1999; Beck u.a. 2000; Combe/Kolbe 2004 u.a.). Beide dienen als „professionsorientierte Berufsvorbereitung“ (Heinzel 2006, 36) und intensivieren den Theorie-Praxis-Dialog (Garlichs 2000). Die Arbeit mit und an Fällen gibt Einblicke in die pädagogische Praxis, indem sie diese spiegelt, sie beispielhaft in Lehr- Lern-Situationen veranschaulicht, sie mit- und nacherleben lässt, und trägt so durch ein problemzentriertes Vorgehen zur Anbahnung professionellen Lehrerhandelns bei. Ziel der Fallarbeit ist es, das Differenzverhältnis zwischen theoretischen und praxisbezogenen Wissensständen zu überbrücken (Dirks 1999). Praktische Erfahrungen können dabei als Anlass und Grundlage für pädagogische Theorie genutzt und Theorie durch sie konkreti- siert werden. So plädiert Poschardt (1997) für den Einsatz von Fallstudien, um in der Ver- bindung von Theorie und Praxis fallorientiertes Lösungswissen und „richtige“ Handlungs- strategien anzubahnen, Heinzel dagegen betont, dass „durch die Arbeit an Fällen [als] (…) Besprechung und Reflexion von Erfahrungen“ (Heinzel 2007, 147) die Möglichkeit gegeben ist, „pädagogisches Handeln kommunizierbar zu machen“ (ebd.). Durch Fallar- beit soll das Verstehen geschult und der Aufbau einer reflexiven Haltung gefördert werden (vgl. Heinzel 2003, 2007). Darüber hinaus sollen angehende Lehrer die Komplexität pä- dagogischer Interaktionsprozesse erfahren und sich in Perspektivenübernahme und Per- spektivenwechsel einüben (vgl. Graumann 2002; Pietsch 2005). Schließlich soll die Arbeit mit und an Fällen dazu beitragen, Fallwissen aufzubauen (vgl. Shulman 1991).34 Fall- bezogenes Wissen unterstützt mit propositionalem Wissen die Entwicklung von prakti-

33 Dabei kann der Weg sowohl fundierend von der Praxis hin zu Theorie als auch induzierend von der Theorie auf die Praxis zu gegangen werden, auch ein Hin- und Herpendeln zwischen den Strategien ist möglich.

34 Dieses fallbezogene, partikuläre Wissen (case knowledge) kann je nach Fall-Typ unterschied- liche Funktionen übernehmen: Prototypen dienen der Verdeutlichung und der Illustration theo- retischer Propositionen, Präzedenzfälle dagegen bilden sich aus positiv oder auch negativ erin- nerten Beobachtungen und Erlebnissen und kommen praxisorientiert zum Einsatz. Sie haben Vorbildfunktion und dienen entscheidend als Orientierungsmuster. Parabeln oder Gleichnisse weisen als dritter Typ des Fallwissens einen hohen moralischen oder normativen Wert auf.

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schem Wissen, das jedoch analytische Prozesse des Vergleichens und Kontrastierens von Prinzipien und Fällen voraussetzt.

Nach Hastenteufel soll durch eine problemzentrierte, rekonstruierend reflexive Bear- beitung von Fällen ein „mentales Training“ (Hastenteufel 1980, 7) und eine deutende An- eignung symbolisch vermittelter Wirklichkeit ermöglicht werden, mit dem Ziel der „Wissens- vermehrung für die Bewältigung vergleichbarer Situationen“ (ebd.).

In der erziehungswissenschaftlichen Literatur werden Fälle in verschiedenen Verwen- dungszusammenhängen mit unterschiedlich erklärten Absichten genutzt und erforscht. Im Bereich der interpretativen Unterrichtsforschung werden Interaktionsprozesse des Ler- nens aus der Sicht verschiedener Fachdidaktiken in den Blick genommen (vgl. Krumm- heuer/Naujok 1999 u.a.) und im Kontext der Biografieforschung sind Lehrer- und Schüler- biografien Gegenstand einer rekonstruktiv-fallorientierte Lehrerbildung (vgl. Helsper/Bert- ram 2006; Stelmaszyk 1999; Flaake 1989). Die Professionsforschung dagegen fragt da- nach, ob und inwiefern fallorientiertes Arbeiten in seiner konkreten methodisch-didakti- schen Umsetzung einen möglichen Beitrag zur Verbesserung der Ausbildung angehender Lehrer leisten kann. Empirische Belege dazu finden sich in den Studien von Ohlhaver/ Wernet, die beispielsweise „Ansätze zur systematischen Begründung eines interpretativ- fallanalytischen Vorgehens in der Lehrerbildung“ (dies. 1999, 11) formulieren oder auch in den Arbeiten von Beck u.a. (2000). Sie evaluieren die Konzeption fallrekonstruktiver Se- minarveranstaltungen am Beispiel des Mainzer Modells.35

Insgesamt ist die Frage, ob Fallarbeit die universitäre Lehrerbildung optimieren kann, allerdings noch nicht befriedigend zu beantworten (vgl. Reh/Rabenstein 2005, 48), denn die meisten Forschungsarbeiten beschäftigen sich hauptsächlich mit rekonstruktiv-fallori- entierter Lehrerbildung. Praxisnahe Fallarbeit, d.h. eine vor Ort durchgeführte Arbeit mit und an realen Fällen und deren Überprüfung auf Chancen und Grenzen für die Lehrerbil- dung, insbesondere für die Vorbereitung auf die pädagogische Beziehungspraxis, sind bislang noch selten Gegenstand empirischer Forschung.

Die vorliegende Arbeit setzt an dieser Stelle an. Sie macht Fallarbeit auf unterschiedli- chen Ebenen zum Fall: einerseits erproben sich Studierende in der Praxis der konkreten Fallarbeit vor Ort, andererseits ist die Forschungsarbeit selbst als Fallstudie angelegt mit dem Ziel, Aussagen zu den in praxisnaher Fallarbeit gesammelten bedeutsamen Erfah- rungen machen zu können und diese im Hinblick auf die Vorbereitung professionellen Handelns zu betrachten.

Im Folgenden wird zunächst grundlegend auf den Fallbegriff eingegangen und Fallar- beit in der universitären Lehrerbildung als didaktisches Ausbildungsinstrument entfaltet. Auf der Grundlage des bereits vorgestellten Integrationskonzepts und dem Parallelisie- rungsansatz (vgl. Kap 2.1) wird für die Verknüpfung von Theorie und Praxis ein Erfah- rungslernen an realen Fällen plädiert und der praxisnahen Einzelfallarbeit ein zentraler Stellenwert zugeschrieben.

35 Das Mainzer Modell konzipierte fallorientierte pädagogische Einführungsseminare für Lehramts-

studierende u.a. mit der Zielsetzung, den Studierenden „das schulpädagogische Arbeitsfeld ins- besondere durch die Arbeit an Fällen praxisnah kategorial zu erschließen und einschlägige In- terpretationskompetenzen anzuregen“ (Beck u.a. 2000, 26). Anhand von fallrekonstruktiven Verfahren soll ein „vom Handlungsdruck entlastetes, theoretisches Sichabarbeiten an der Pra- xis im Hinblick auf eine angemessene Praxis“ (ebd., 27) ermöglicht werden.

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44 2.3.1 Fall – Fallarbeit

Jedes fallorientierte Vorgehen geht von einem bestimmten Fallverständnis aus, das meist erst aus dem jeweiligen Verwendungszweck ersichtlich wird.

Die Vielfalt der Untersuchungsinteressen hat in der erziehungswissenschaftlichen Lite- ratur zu einer geringen Trennschärfe des Fallbegriffs geführt und bislang eine einheitliche Terminologie verhindert (vgl. Well 1999, 35; Fatke 1997, 58; Binneberg 1997).36 Gemein- samer Bestandteil aller Fallbegriffe aber ist der Blick auf das Typische in Bezug auf eine Fragestellung oder eine Norm sowie auf „das Wechselspiel zwischen dem Spezifischen des konkreten Einzelfalls und einem Allgemeinen“ (Heinzel 2007, 150).

Darüber hinaus sind Fälle aber immer auch „das Produkt einer methodischen Heran- gehensweise“ (ebd., 150, mit Verweis auf Beck/Scholz 1997; Beck u.a. 2000; Heinzel 2003). Ein Fall entsteht „durch Beziehungen, denen ein Problem zugeschrieben wird, durch ein spezifisches biografisches Gewordensein Einzelner oder durch kollektive Erfah- rungen, die sich von denen anderer Menschen unterscheiden, er kann entstehen durch Interaktionsstörungen oder durch unterschiedliche Bedeutungszuschreibungen“ (Giebeler 2007, 11). Insofern sind Fälle nicht nur Ergebnisse und Produkte, die aus Prozessen ent- standen sind, sondern sie sind immer auch selbst als Prozess zu verstehen.

Vor diesem Hintergrund wird der Fall in der vorliegenden Arbeit sowohl als ein interes- sengeleiteter Prozess als auch als ein konstruiertes Produkt verstanden und im Anschluss an Steiner allgemein definiert als

(…) ein Ereignis mit interagierenden Personen in einem imaginierten oder realen Raum- Zeitgefüge, wobei aber diese Begebenheit aus einem Ereignisstrom nur dann zum ‚ Fall‘ wird, wenn sie für mindestens ein erkennendes Subjekt ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit rückt (ders. 2004, 20).

Wie bereits der „Fall“, so wird in der erziehungswissenschaftlichen Literatur auch der Be- griff „Fallarbeit“ in spezifischen Arbeitszusammenhängen unterschiedlich, z.B. als kollegi- ale, als biografische oder systemische Fallarbeit, verstanden und keineswegs einheitlich genutzt. Die beiden Pole der Diskussion finden sich in folgenden Definitionen: so versteht z.B. Stein Fallarbeit als „eine Methode der Praxisforschung, insofern das berufliche Han- deln durch Kopplung von Reflexion und Aktion verbessert werden soll“ (Stein 2005, 44), Steiner dagegen bezeichnet Fallarbeit als eine Fallbearbeitungsmethode mit dem Ziel der „retrospektive[n] Reflexion über eine selbsterlebte Praxissituation“ (Steiner 2004, 173).

In diesem Spannungsfeld lassen sich die vielfältigen Ansätze zur Fallarbeit in der Leh- rerbildung mit Blömeke nach der Art der Fälle und ihres Bezugs, nach Art der angestreb- ten Lösung, nach dem Analyse- und Auswertungsvorgehen und nach dem Zweck des Einsatzes unterscheiden (Blömeke 2002, 69). Des Weiteren unterscheidet sich Fallarbeit mit Altrichter (2003, 56) nach der ihr zugrunde liegenden Relationierung von Theorie und Praxis, nach der Vorgehensweise bei der Auseinandersetzung mit den Fällen und im Hin- blick darauf, ob die den Fall bearbeitenden Personen in einen Kreislauf von Aktion und Reflexion eingebunden sind oder nicht.

Eine Systematik der Fallarbeit, die zu Ausbildungs- und Forschungszwecken genutzt wird, entwickelt Steiner. Fallarbeit kann sich dabei auf „Realfälle“ (Steiner 2004, 173) be-

36 So findet man z.B. die Begriffe Fallstudie, Fallgeschichten, Fallbeschreibung, Einzelfall, Fallbe- richt, Falldarstellung oder Fallmethode.

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ziehen oder dokumentierte Fälle bearbeiten, Steiner bezeichnet sie als Papier- oder Text- fälle, wobei sie jedoch auch medial dokumentiert vorliegen können. Fälle können einen realen Bezug aufweisen oder als konstruiertes, fiktives Material herangezogen werden. Die Auseinandersetzung mit den Fällen kann textbasiert vermittelt oder konkret und un- vermittelt erlebend stattfinden. Der wesentliche Unterschied zwischen Realfällen und Pa- pierfällen liegt aus seiner Sicht in der Teilhabe. In der Bearbeitung von „Realfällen“ sind die den Fall bearbeitenden Personen am Fallgeschehen beteiligt, bei der Bearbeitung von Papierfällen dagegen werden sie „analysierende Dritte“ (ebd.). Es kann sich um eine kon- struktive Bearbeitung offener Situationen oder um eine rekonstruktive Bearbeitung abge- schlossener Aktionen handeln. Die Bearbeitung offener Situationen im Feld als Arbeit mit und an Realfällen erfolgt unmittelbar im konstruktiven Handeln und zielt durch ein „fallein- greifendes Lösen einer Problemsituation“ (ebd.) auf der realen, simulierten oder lediglich vorgestellten Ebene auf Weiterführung und Veränderung der Ausgangsituation. Hierfür nimmt die den Fall bearbeitende Person interaktiv Einfluss auf das Handlungsgeschehen und führt es weiter. Das Ergebnis der Fallbearbeitung ist eine gegenüber dem Beginn veränderte Situation und damit ein transformierter Fall.

(Erzählte) Geschichten als abgeschlossene Einheiten zu bearbeiten, geschieht dage- gen immer rekonstruierend und vermittelnd. Ziel dieser Form der Fallbearbeitung ist ein „hermeneutisch orientiertes Verstehen einer Geschichte“ (ebd.) auf der Grundlage von Deutungs-, Interpretations- und Analyseprozessen. Diese verändern nicht den Fall, son- dern nehmen verändernden Einfluss auf die Sichtweise der den Fall bearbeitenden Per- sonen. Das Ziel der Fallarbeit kann nach diesem Verständnis entweder das Aufzeigen vielfältiger, unterschiedlicher Lösungen sein, oder es soll eine einzige aufgezeigt oder ent- wickelt werden. Hierfür kann summarisch-interpretativ oder sequenziell-rekonstruktiv vor- gegangen werden. Diese vielfältigen Aspekte werden für einen verbesserten Überblick in Anlehnung an Steiner (2004, 173) in tabellarischer Ansicht festgehalten:

FALLARBEIT

Unterscheidungskriterien Ausprägungen Art der Fälle real dokumentiert (Papier/Text/Medien)Bezug real konstruiert, fiktiv Beteiligung und Rolle der Bearbeitenden

am Fall beteiligt, konkret und un- vermittelt miterlebend; interakti- ver Einfluss auf das Handlungs- geschehen und Weiterführung

keine Beteiligung am Fallgesche- hen, „analysierende Dritte“; text- basiert vermittelt

Fallbearbeitung konstruktive Bearbeitung offener Situationen

rekonstruktive Bearbeitung abge- schlossener Aktionen

Ziel der Fallarbeit zielt auf der realen, simulierten oder vorgestellten Ebene auf Weiterführung und Veränderung der Ausgangssituation. Ergebnis der Fallbearbeitung ist eine veränderte Situation und damit ein transformierter Fall.

Verstehen auf der Grundlage von Deutungs-, Interpretations- und A- nalyseprozessen. Diese verändern nicht den Fall, sondern nehmen ver-ändernden Einfluss auf die Sicht- weise der den Fall bearbeitenden Personen.

Lösung vielfältige, unterschiedliche Lösungen oder eine Lösung Auswertung summarisch-interpretativ oder sequenziell-rekonstruktiv Zweck Einzelfallbegleitung, Ausbildungsinstrument, Forschungsarbeit Relationierung von Theorie und Praxis

Integrations- oder Differenzmodelle (Neuweg 2004)

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Die vorliegende Arbeit versteht Fallarbeit ganz allgemein als Arbeit mit und an Fällen.

Sie ist auf zwei Ebenen verortet: einerseits wird sie als didaktisches Ausbildungsinstru- ment genutzt, das den Schwerpunkt auf Fallarbeit im realen Handlungsfeld als Einzelfall- begleitung legt, sie kommt andererseits aber auch als Verfahren und Forschungsmethode wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung zum Einsatz, wie dies in der Darstellung des Forschungsverständnisses und des methodischen Zugangs für die empirische Arbeit in Kapitel II ausgeführt wird.

2.3.2 Fallarbeit als didaktisches Ausbildungsinstrument

Im Rahmen universitärer Lehrerbildung kann Fallarbeit eine Doppelfunktion übernehmen: sie unterstützt zum einen durch "Fallrekonstruktion schulischer Szenen und Texte als nicht entdifferenzierende Vermittlung des Praktischen im Primat des Theoretischen" (Beck u.a. 2000, 44) den Aufbau einer professionell reflexiven Haltung und ermöglicht zum an- deren über Teilhabe und Beteiligung in der Praxis einen „neuen Zugang zum Denken und Handeln von Kindern“ (Heinzel 2007, 146). Entsprechend dieser Doppelfunktion kann Fallarbeit im Kontext von Lehrerbildung als didaktisches Ausbildungsinstrument unter- schiedlich konzeptioniert werden: sie kann in die Praxis eingebettet sein und damit sowohl unmittelbar im direkten Kontakt zu Kindern und Jugendlichen auf der konkret handelnden Ebene stattfinden, an unterschiedlichen Orten, in unterschiedlichen Praxisfeldern, sie kann aber auch räumlich und zeitlich distanziert und vermittelt auf der rekonstruktiv refle- xiven Ebene erfolgen. Vor diesem Hintergrund wird im Weiteren in textbasierte, rekon- struktive und in erlebnis- und praxisnahe Fallarbeit differenziert. Diese beiden Konzepte unterscheiden sich im Hinblick auf die Nähe zum Handlungsfeld, im Bezug des Falles, in der Form der Aktivität, der bearbeitenden Person und im Hinblick auf das methodische Vorgehen der Bearbeitung. Das folgende Schaubild verdeutlicht die für diese Arbeit vor- genommene Unterscheidung von Konzepten:

FALLARBEIT Unterscheidungskriterien Konzeptionierung Bezug zum Handlungsfeld erlebnis- und praxisnah textbasiert, rekonstruktiv Bezug des Falles real real oder fiktiv Nähe zum Feld praxisnah, eingebettet in Praxis distanziert Aktivität der Person, die den Fall bearbeitet

konstruierend, teilnehmend rekonstruierend, analysierend

Umsetzungsformen Einzelfallbegleitung Fallgeschichten Fallstudien

Im Folgenden wird die praxisnahe Fallarbeit näher ausgeführt und der rekonstruktiven Vorgehensweise gegenübergestellt. Die unterschiedlichen Formen der konkreten, konzep- tionsdifferenten Umsetzungen (Einzelfallbegleitung, Fallgeschichte und Fallstudie) sind wesentliche Bestandteile des Modells praxisnaher Fallarbeit und werden in dem sich an- schließenden Kapitel ausführlich vorgestellt.

2.3.3 Praxisnahe Fallarbeit

Die beiden unterschiedlichen Stränge kasuistischer Vorgehensweisen und Argumentatio- nen unterscheiden sich im Wesentlichen in der ihnen jeweils zugrunde liegenden Relatio-

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nierung von Theorie und Praxis, zu deren Verknüpfung unterschiedliche lehrerbildungsdi- daktische Konzepte diskutiert wurden (vgl. Kap. 2.1).

Auf der Grundlage eines integrativen didaktischen Konzepts der Lehrerbildung mit pa- ralleler Verknüpfung von Theorie und Praxis fokussiert praxisnahe Fallarbeit als didakti- sches Ausbildungsinstrument die Bearbeitung von Realfällen und grenzt sich eindeutig gegenüber methodischen Ansätzen ab, die Fallarbeit als Veranschaulichung „typischer“ Verhaltensmuster oder „richtiger“ Problemlösungen verwenden (so z.B. bei Well 1999).

Entscheidend bei der praxisnahen Fallarbeit ist, dass die Auseinandersetzung nicht mit Interaktionsprotokollen oder Beobachtungsszenen aus Schule und Unterricht (vgl. Beck u.a. 2000) stattfindet, sondern in der Realität. Es werden damit Realfälle herangezogen. Fallarbeit findet dabei in offenen, d.h. nicht abgeschlossenen und noch zu gestaltenden Situationen mit Teilhabe statt. Für die Professionalisierung angehender Lehrer wird die konkrete Begegnung als besonders bedeutsam erklärt, weil hierüber auch berufsbezo- gene Selbst- und Identitätsprozesse der Lehramtsstudierenden gefördert werden können (vgl. Leuzinger-Bohleber 2000). Phänomene, die für den pädagogischen Alltag und für professionelles Handeln, und solche, die in der Lebenswelt der Klienten relevant sind, werden unmittelbar und im konkreten Alltagsbezug wahrgenommen und veranlassen zum unmittelbaren Agieren und Reagieren, zu einem Handeln auf Probe.

Während rekonstruktive Fallarbeit die Praxis an abbildenden Fallbeispielen in die Aus- bildung holt, lässt praxisnahe Fallarbeit ein konstruierendes Handeln in der Praxis zu bzw. erfordert es geradezu. In der Arbeit mit und an Realfällen werden eigene, unvermittelte Erfahrungen und ein Erfahrungslernen erster Ordnung ermöglicht, indem die eigene Er- fahrung in der Praxis und deren Veränderung zum Fall werden können. Dabei wird für die Auseinandersetzung mit Praxis weder Rezeptwissen vorgegeben, noch wird Praxis plan- voll mit einem gezielten Training erprobt bzw. in diese einsozialisiert. Studierende sollen sich vielmehr im handelnden Umgang mit realen Problemen erproben und ihre Lösungs- möglichkeiten erst im Nachhinein reflektieren und erörtern. Somit werden Fälle nicht „ein- gespielt“ (Heinzel 2006, 36), sondern erlebt und durchlebt.

Entsprechend der von Fatke beschriebenen Fallarbeit werden dabei „alle erreichbaren Informationen zusammengetragen und durch eigene Beobachtungen, Befragungen oder sonstige Erhebungen ergänzt (…), damit auf dieser Grundlage eine (Erziehungs-) Maß- nahme oder eine (sozialarbeiterische) Intervention geplant und ausgeführt werden kann“ (Fatke 2003, 59).

Praxisnahe Fallarbeit als didaktisches Ausbildungsinstrument ist institutionell verankert und zielt bipolar, das heißt in Richtung des Klienten und in Richtung der den Fall bear- beitenden Person, auf Begleitung und Unterstützung. Damit positioniert sie sich im Drei- eck Institution – Adressat und angehende Professionelle. Für die praktische Umsetzung bedeutet dies, dass praxisnahe Fallarbeit durch einen ständigen Aushandlungsprozess gekennzeichnet ist, in dem Erfahrungsstrukturen selbst thematisiert und eigenständig um- strukturiert werden können. Dafür ist sie auf Unterstützung und reflexive Begleitung an- gewiesen, die es ermöglichen, neu gewonnene Sichtweisen im Handeln direkt umzuset- zen und das eigene Können dahingehend zu erproben, Ungewissheiten zu ertragen, Anti- nomien auszubalancieren, ständig neu zu reflektieren und trotz Unsicherheit Verantwor- tung zu übernehmen (vgl. Combe/Helsper 1997).

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Praxisnahe Fallarbeit kann in eine Fallstudie37 einmünden, indem fallbezogene Erfah- rungen in Ausschnitten oder unter bestimmten Fragestellungen reflexiv bearbeitet und theoretisch fundiert werden. Dies kann parallel während der praktischen Fallarbeit erfol- gen und in ein forschendes Lernen eingehen oder zeitlich distanziert rekonstruktiv erfolgen.

Fallreflexion – ein konstitutives Moment in praxisnaher Fallarbeit

Wichtig für praxisnahe Fallarbeit ist ein Wechselspiel zwischen Aktion und Reflexion und die kontinuierliche Evaluation der Wirkungen. Ausgangspunkt der Fallreflexion sind selbst erlebte Praxissituationen, die retrospektiv reflektiert werden, sei es allein, z.B. schriftlich in Form eines pädagogischen Tagebuchs, oder in einer Gruppe, selbst gesteuert oder pro- fessionell angeleitet. Angestrebt werden Deutungsansätze der erlebten Situation, aber auch Handlungsansätze für die künftige professionelle Tätigkeit. Der dabei notwendige Perspektivenwechsel kann durch unterschiedliche fallrekonstruktive Verfahren im profes- sionellen Alltag unterstützt werden, wie z.B. durch die kollegiale Fallberatung oder die Su- pervision. „In einem Prozess, bei dem das Handeln in der Situation und das Reflektieren über die Situation wechselseitig aufeinander folgen, wird die anfänglich unbestimmte und problemhaltige Situation weiterentwickelt. Das Ergebnis eines solchen Einzelfallprojektes ist eine gegenüber dem Ausgangspunkt veränderte Situation“ (Steiner 2004, 176).

2.3.4 Modelle universitärer Fallarbeit

In den letzten Jahren wurden in der Praxis universitärer Lehrerbildung unterschiedliche Modelle und Forschungsprojekte entwickelt und erprobt, die sich auf der Grundlage von Fällen mit pädagogischer Praxis auseinandersetzen.

Rekonstruktiv orientiert ist die Fallarbeit beispielsweise in dem Hamburger Lehr-For- schungsprojekt, das unter dem Titel „Schulentwicklung und Wandel der pädagogischen Arbeit. Arbeitssituation, Belastung und Professionalisierung von Lehrerinnen und Lehrern in Schulentwicklungsprozessen“ (vgl. Arnold u.a. 2000) auf die evaluative Begleitung ein-

37 Bei der Fallstudie handelt es sich um „die Untersuchung einer Fragestellung mithilfe von Daten, die erst aus dem aktuellen Anlaß erhoben werden“ (Schratz/Thonhauser 1996, 8). Diese Infor- mationen über eine bestimmte Person, ein Geschehen oder Kontextbedingungen werden wis- senschaftlich, d.h. methodisch kontrolliert analysiert. Dabei wird der „Einzelfall mit vorhandenen allgemeinen Wissensbeständen in Beziehung [ge]setzt, um zu prüfen, was am Fall aus diesen Wissensbeständen heraus erklärbar ist und was an den Wissensbeständen aus diesem Fall heraus zu differenzieren und gegebenenfalls zu korrigieren ist“ (Fatke 2003, 59). Fallstudien zielen also auf die Prüfung oder Erweiterung bestehender oder auf die Gewinnung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse. Dafür werden Falldaten erhoben, in Fallberichten oder Fallbeschreibungen aufgearbeitet und analytisch-interpretativ erschlossen (vgl. Stenhouse 1982). Dementsprechend besteht eine Fallstudie aus den Größen der Fallbeobachtung, der Falldar- stellung und der Fallanalyse, die schließlich in Form einer Erzählung oder einer „dichten Be- schreibung“ (Geerts 1987) dargestellt wird. In der Schul- und Unterrichtsforschung werden zu- meist pädagogische Alltagsereignisse oder persönliche Eindrücke und Erfahrungen, Lernbio- grafien oder Entwicklungsprozesse, Lernsituationen, Unterrichtssequenzen oder Schulprogram- me anhand von Fallstudien analysiert (vgl. Heinzel 2003). Hierfür wird versucht, im konkreten situativen Bezug bedeutsame Kennzeichen als Einheit aufzunehmen und zusammenzuhalten. So können Fallstudien als Produkte „einer gedanklichen Ordnung von Wirklichkeit und ihre Ein- heit [als] ein – unter bestimmten Fragestellungen erarbeitetes – theoretisches Konstrukt“ (ebd., 20) verstanden werden. Nach Beck/Scholz (1997) sind sie besonders geeignet, um zwischen Theorie und Praxis zu vermitteln.

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zelner Schulen ausgerichtet ist. Fallarbeit kommt dabei als Forschungsmethode im Bereich der Schulforschung zum Einsatz.

Fallarbeit wird aber auch als Arbeitsmittel und als Arbeitsgrundlage in fallbasierten Lehrveranstaltungen genutzt, wie z.B. in dem bereits angeführten Mainzer Modell von Beck u.a. (2000).

Eine besondere Form der universitären Fallarbeit ist das von Heinzel eingerichtete on- line-fallarchiv Schulpädagogik.38 Die dort gesammelten und thematisch auf das Hand- lungsfeld Schule bezogenen Fallstudien bilden das Arbeitsfeld für eine qualitative For- schungsmethodik mit der Zielsetzung, aus der Untersuchung der Einzelfälle zu theoreti- schen Einsichten und Erkenntnissen zu gelangen. Heinzel dazu:

Die Fälle aus Unterricht und Schule liegen im Archiv als medial präsentierte Problemsituati- onen vor. Sie weisen einen hohen Grad an Komplexität und Authentizität auf. Sie sollen ,An- ker‘ setzen, Interesse wecken und die Aufmerksamkeit auf das Wahrnehmen und Verstehen von Problemen lenken. Schulische Praxis kann so in den universitären Lehramtsstu- diengang, das Studienseminar oder die Fortbildung ,eingespielt‘, rekonstruiert und reflektiert werden (dies. 2006, 36).

In diesen textbasierten Fallarbeitsmodellen wird Fallarbeit für räumlich und zeitlich distan- zierte Rekonstruktionsprozesse favorisiert. Für die Ausbildungssituation wird als vorteil- haft erachtet, dass Handlungsdruck und mögliche Handlungskrisen vermieden und refle- xive Mechanismen durch Irritationen und „Dekonstruktion internalisierter, alltäglicher, lieb gewonnener Deutungsmuster oder subjektiver Theorien“ (Reh/Rabenstein 2005, 48) auf- gebaut werden können.

In die Praxis eingebettete und interdisziplinär konzeptionierte Projekte, die Fallarbeit praxisnah und unmittelbar in der konkreten Begegnung anstreben, bilden schließlich im Rahmen der Lehrerbildung eine dritte weitere Möglichkeit für fallorientiertes Lernen (vgl. Heinzel/Garlichs/Pietsch 2007). Hier kann beispielsweise die Praxisinitiative des ehemali- gen Schülerhilfeprojekts angeführt werden, aus dem heraus auch das Projekt K – Kinder begleiten und verstehen lernen entstand, das im Rahmen dieser Arbeit das Forschungs- feld bildet und im Folgenden ausführlich vorgestellt wird.

2.4 Praxisnahe Fallarbeit am Beispiel der universitären Praxisinitiative Projekt K – Kinder begleiten und verstehen lernen

Das Projekt K – Kinder begleiten und verstehen lernen39 wurde 2001 an der Universität Kassel als Kooperationsprojekt initiiert und ist als berufsorientiertes Lehr-Lern-Angebot in der universitären Ausbildung angehender Lehrer am Fachbereich 01 – Erziehungswissen- schaft/Humanwissenschaften im Fachgebiet Grundschulpädagogik verortet.40

Der Untertitel des Ausschreibungstextes „Eine universitäre Praxisinitiative für Lehramt- studierende (Grundschule) und Magister-Studierende“ verweist auf die Art der Veranstal- tung und die Adressaten. Der Begriff Praxisinitiative betont zum einen die verstärkte Praxis-

38 Die Internetpräsentation findet sich unter http://www.uni-kassel.de/hrz/db4/extern/dbofa. 39 Im Weiteren wird der Name in seiner Kurzform Projekt K verwendet. 40 Die Internetpräsentation findet sich unter http://www.uni-kassel.de/fb1/Projekt-K/homepage/

projekt_k/beschreibung.html. Weitere Informationen über das Konzept und seine Konzeption werden in einer Informationsbroschüre in Form eines Flyers gegeben (s. A I: A 01).

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orientierung in dem vielfältigen Angebot an universitären Lehrveranstaltungen, zum ande- ren ist er aber auch kennzeichnend für den „Charakter einer mehr oder minder stabilen Organisationsform“ (Ehlert/Welbers 1999, 9) und für „die Motivation der Beteiligten bzw. Organisatoren“ (ebd.). Eine Initiative zeichnet sich in der Regel dadurch aus, dass sie „or- ganisatorisch oder/und qualitativ über das normale Arbeitsprogramm der Universität hin- ausgreift und den Studierenden Möglichkeiten eröffnet, die sie normalerweise an der Uni- versität aus den unterschiedlichsten Gründen [so] nicht geboten bekommen“ (ebd.). Außer- dem ist sie durch außergewöhnliches Engagement der Studierenden und eine vergleichs- weise optimale Ressourcennutzung gekennzeichnet. Das Angebot richtet sich vor allem an Studierende des Grundschullehramts und des Magisterstudiums Erziehungswissen- schaft.41

Durch die Mitarbeit im Projekt K wird den Studierenden für die Dauer eines Jahres ein konstanter und eigenverantwortlicher Praxisbezug ermöglicht und gleichzeitig die Erfah- rung einer individuellen Begleitung ihres eigenen Lernweges vermittelt.

Das zentrale Anliegen des Projektes besteht darin, die Theorie-Praxis-Vernetzung in der universitären Lehrerbildung zu verstärken und den Bezug für den späteren pädagogi- schen Alltag zu konkretisieren und zu intensivieren.

2.4.1 Entstehungsgeschichte und Konzept

Die Idee der projektorientierten und praxisbezogenen Lehrerbildung, in der angehende Lehrer als Lern- und Lebensbegleiter für einzelne Kindern im Grundschulalter tätig sind und dabei das Lernen als eine Einheit von Theorie und Praxis erleben können, kann an der Universität Kassel eine über 10-jährige Geschichte aufweisen. Von überregionaler Bedeutung war das Schülerhilfeprojekt, das von 1993 – 2000 von Prof. Dr. Ariane Garlichs initiiert und geleitet wurde. Als dessen Fortführung wurde im Oktober 2000 das Projekt K gegründet und mit veränderter Schwerpunktsetzung auf- und ausgebaut. Nach ihrer Beru- fung wurde die Fortsetzung des Projekts durch Prof. Dr. Friederike Heinzel gewährleistet. Sie übernahm 2003 die Projektverantwortung und ordnete die Leitung und Koordination ihrer wissenschaftlichen Mitarbeiterstelle zu. Zum Wintersemester 2007 wurde das Pro- jekt K in die Modularisierung der Lehramtsstudiengänge eingebunden.

Das Graphem /K/ im Projektnamen steht für die Adressaten, für den Ort der Durchfüh- rung des Projekts, dessen strukturelle Anlage und seine Zielsetzung:

K wie Kinder aus Kassel, denn es geht um Kinder, die „zuwendungsbedürftig“ sind oder die sich in einer für sie schwierigen Lebensphase befinden. Studierende überneh- men für ein Kind mit „besonderer Geschichte“ (vgl. Speck-Hamdan 2003) eine ein- jährige Patenschaft und begleiten, unterstützen und fördern es.

K wie Kontinuität, eines der wichtigsten Merkmale und zugleich wesentlicher Inhalt und Strukturelement des Projektes. Kontinuität ist sowohl für die Patenkinder als auch für die Studierenden selbst von besonderer Bedeutung. Über einen festen Zeitraum sichern die Studierenden ihren Patenkindern zu, sich regelmäßig einmal wöchent-

41 Bis Juli 2007 konnten auch Studierende aus anderen Lehramtsstudiengängen sowie aus dem Studiengang Sozialwesen daran teilnehmen. Durch die Einbindung in die Modularisierung er- gaben sich ab dem Wintersemester 2007 organisatorische und inhaltliche Änderungen, die für diese Arbeit jedoch ohne Bedeutung sind.

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lich mit ihnen zu treffen und Zeit mit ihnen zu verbringen. Kontinuität ist aber auch für die Studierenden im Rahmen ihres Studiums wichtig, denn durch die Projekt- mitarbeit ist ihnen ein längerfristiger Praxisbezug mit hoher Eigenverantwortlichkeit sicher, der zudem durch die Projektgruppe als ein stabiler Bezugsrahmen und durch verbindliche Teilnahme an zugehörigen Veranstaltungen begleitet wird.

K wie Kooperation und Kompetenz, wesentliche Aspekte professionellen Handelns im pädagogischen Alltag (vgl. Pietsch 2007). Zugleich ist Kooperation ein grundlegen- des Merkmal der Anlage des Projekts, das als Kooperationsprojekt konzipiert ist. Kooperationspartner ist der Verein „Familienberatungszentrum für Kinder, Jugend- liche und Familien“ in Kassel (kafa – Kasseler Familienberatungszentrum). 42

Das Konzept des Projektes sieht vor, dass die universitäre Ausbildung angehender Lehrer durch konkrete Begegnungen mit Kindern bereichert wird, und Studierende unterschiedli- che soziokulturelle und -ökonomische Hintergründe und Aufwachsensbedingungen ken- nenlernen. Von diesem Ansatz sollen neben den Studenten auch die Kinder und deren El- tern profitieren. Die Kinder haben die Chance, eine zuverlässige Bezugsperson kennen zu lernen, die mit ihnen regelmäßig Zeit verbringt. Die Eltern profitieren, weil sie einmal wö- chentlich entlastet werden, Zeit für sich gewinnen und ihr Kind für eine gewisse Zeit „ab- geben“ können in der Gewissheit, dass dies verantwortlich und zuverlässig versorgt und gefördert wird.

2.4.2 Kooperationspartner

Kinder, Jugendliche, Eltern und andere Erziehungsberechtigte können sich bei Erzie- hungsfragen und bei persönlichen oder familienbezogenen Problemen an Erziehungs- und Familienberatungsstellen wenden.

Das Kasseler Familienberatungszentrum ist Träger der Erziehungsberatungsstelle (im Folgenden „EB“ genannt) und der Pädagogischen Frühförderung der Stadt Kassel (im Folgenden „PFF“ genannt).

Erziehungsberatungsstellen sind eine Art spezieller Fachdienst der Jugendhilfe, des- sen Ziel es ist, allen Familienmitgliedern in ihrer Suche nach Lösungen eine Hilfestellung zu geben. Je nach Alter des Kindes oder der Jugendlichen können es unterschiedliche Gründe für Eltern sein, sich an eine Erziehungs- und Familienberatungsstelle zu wenden. Im Schulalter stehen oft Leistungs- und Verhaltensprobleme im Vordergrund der Sorge von Eltern und Lehrern. Je nach Beratungsanlässen und Entstehungsbedingungen der Probleme wird gemeinsam mit den Betroffenen ein Weg zur Lösung der Fragen und zur

42 Das kafa, das von Frau Dipl.-Psych. Betty Hatton-Krummheuer geleitet wird, präsentiert sich im Internet ausführlich unter http://www.familienberatungszentrum.de. Es ist die vermittelnde Stelle, d.h. von dort werden Kinder nach beendeter Beratung bzw. Förderung für eine weiterführende Begleitung in Form einer Patenschaft im Projekt K vorgeschlagen. Die Kooperation gewähr- leistet zudem eine umfassende anamnestische Vorklärung. Entscheidend ist auch, dass die im Familienberatungszentrum tätigen Therapeutinnen und Therapeuten, die die Kinder zuvor be- gleitet haben, den Studierenden bei der Übernahme der Patenschaft beratend zur Seite stehen. Nach Abschluss des empirischen Teils der vorliegenden Arbeit konnte 2005 das Beratungs- und Förderzentrum der Stadt Kassel „Astrid-Lindgren-Schule“ als weiterer Kooperationspartner gewonnen werden. Durch die beiden unterschiedlichen Kooperationspartner wurde es in dem Projekt möglich, sowohl die Nähe zur schulpädagogischen Arbeit als auch zur außerschuli- schen Förderung und Unterstützung zu gewährleisten (vgl. Pietsch 2007).

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Bewältigung der Probleme gesucht. Die häufigste Form der Hilfe findet in der Einzelbera- tung der Eltern, im Einzelgespräch bzw. im Spiel mit dem Kind oder Jugendlichen oder in Gesprächen mit der Gesamtfamilie statt. Des Weiteren wird ein vielfältiges Gruppenange- bot für Kinder und Jugendliche aller Alterstufen angeboten. Der Ansatz in der Gruppenar- beit reicht von eher sozialpädagogischen bis hin zu verhaltenstherapeutischen, analyti- schen und personenzentrierten psychotherapeutischen Interventionsformen.

Die Pädagogische Frühförderung wendet sich an Eltern, deren Kinder während der ersten Lebensjahre Unterstützung durch frühe Hilfen brauchen, insbesondere bei ihrer kör- perlichen, kognitiven, sprachlichen, emotionalen und sozialen Entwicklung. Im juristischen Kontext werden diese Kinder als „behindert“ und „von Behinderung bedroht“ bezeichnet, in der pädagogischen Fachliteratur werden sie „entwicklungsgefährdet“, „entwicklungsauf- fällig“, „entwicklungsverzögert“ oder auch „Risiko-Kinder“ genannt. Im Mittelpunkt der Arbeit in der Pädagogischen Frühförderung steht das in seiner Entwicklung gefährdete Kind mit seinen Bezugspersonen im Kontext seines Lebensumfeldes. Frühförderung hat immer zum Ziel, im Zusammenwirken von Eltern und Fachkräften die Entwicklung des „behinderten“ und „entwicklungsverzögerten“ Kindes sowie die Entfaltung seiner Persönlichkeit anzure- gen, zu unterstützen, seine Erziehung zu fördern und zu helfen, sie sicher zu stellen. So wird sowohl Sozialisationsdefiziten, Entwicklungsgefährdungen und Entwicklungsverzöge- rungen entgegengewirkt als auch der Einsatz von therapeutischen Hilfen unterstützt und er- gänzt sowie die Eingliederung des Kindes in das soziale Umfeld und in die Gemeinschaft erleichtert. Diese Unterstützung kann bis zum Schuleintritt des Kindes gewährt werden.

2.4.3 Ziele des Projekts

Das Projekt hat folgende Ziele:

• Die Studierenden sollen als angehende Lehrer bereits während ihrer universitären Ausbildung die Komplexität und die z.T. antinomischen Anforderungsstrukturen pro- fessionellen Handelns kennenlernen und Ungewissheit, Riskanz und Mehrdeutigkeit als Aspekte erfahren, die das pädagogische Handeln kennzeichnen.

• Die Projektmitarbeit bietet den Studierenden die Möglichkeit, sich in Situationen pro- fessioneller Praxis handelnd zu erproben und sich dabei selbst besser kennenzuler- nen.

• Sie sollen lernen, eigene Handlungen und Erfahrungen zu kommunizieren und kri- tisch zu reflektieren – Aspekte, die professionelles Lehrerhandeln auszeichnen.

• Studierende setzen sich zu Kindern ins Verhältnis und erfahren sich für die Gestal- tung und Aushandlung von gemeinsamen Situationen verantwortlich.

• Sie sollen sich mit Differenz und Fremdheit auseinandersetzen. • Sie können Erfahrungen in der Beziehungspraxis sammeln und Beziehungsgestal-

tungsprozesse für den Aufbau und das Aushandeln von Arbeitsbündnissen erleben. • Sie sollen sich in der Begegnung und Auseinandersetzung mit Eltern erfahren und

erproben. • Studierende können Eindrücke und Informationen über Kind-Umfeld-Beziehungen

sammeln und unterschiedliche Aufwachsensbedingungen mit fördernden, aber auch belastenden Komponenten kennenlernen.

• In der Auseinandersetzung mit dem Kind soll der pädagogische Blick erweitert und eine multiperspektivische Sichtweise für einen förderdiagnostischen Fokus ange- bahnt und pädagogisches Verstehen geschult werden.

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• Die Studierenden können pädagogische Einrichtungen und unterschiedliche, die spätere schulische Praxis unterstützende Kooperationspartner kennenlernen.

• Als angehende Lehrer können die Studierenden durch die Mitarbeit im Projekt K ganz konkret einem zuwendungsbedürftigen Kind helfen, indem sie ihm die Chance einer begleitenden Unterstützung und der individuellen Förderung geben und sich dabei in die pädagogische Begleitung einüben.

• Sie sollen zudem ihre Erfahrungen dokumentieren und kommunizieren lernen und theoretische Zusammenhänge erarbeiten.

2.4.4 Praxisbezüge

Die Mitarbeit im Projekt K bietet interessierten Studierenden ab dem dritten Semester zwei Möglichkeiten: sie können entweder in einer sozialpädagogischen Spielgruppe in der Erziehungsberatung mitarbeiten oder eine Patenschaft für ein einzelnes Kind überneh- men. In jedem Fall verpflichten sie sich für die Dauer eines Jahres. Voraussetzung ist, dass sie entweder bereits das verbindliche Blockpraktikum absolviert haben oder über umfangreiche Praxiserfahrungen im Umgang mit Kindern im Grundschulalter verfügen.

Im Folgenden werden die beiden Praxisbezüge vorgestellt. Da die vorliegende Arbeit praxisnahe Fallarbeit in Patenschaften fokussiert, wird die Patenschaft als Praxisbezug im Projekt K ausführlicher dargestellt.

Bei der Mitarbeit in einer sozialpädagogischen Spielgruppe begleiten die Studierenden gemeinsam mit einer Therapeutin des Familienberatungszentrums einmal wöchentlich für zwei Stunden eine Gruppe von bis zu sechs Kindern, die besondere Unterstützung und Förderung im kommunikativen, interaktiven und sozial-emotionalen Bereich benötigen. Das Konzept der Spielgruppe geht auf Schmidtchen (1991) zurück.43 „Die begleitenden Grup- penaktivitäten zielen darauf ab, dass Kinder (…) zwischen lösbaren und unlösbaren Prob- lemen unterscheiden lernen. Spiegelungen durch Therapeuten und der Gruppe sind ihnen hilfreich, um neue Konfliktlösungsstrategien zu entwickeln und den Umgang mit Gefühlen zu erproben“ (Pietsch 2007, 109). Förderlich für die Arbeit in Gruppen ist eine Leitung und Begleitung im Team. Durch diese und die regelmäßig im Anschluss an die Gruppenarbeit stattfindenden Teamreflexionen sollen die Studierenden lernen, professionelles Erfah- rungswissen zu erwerben, die vielfältigen Interaktionen und Vorgänge des Gruppengesche- hens in der Bearbeitung der Prozesse wahrzunehmen und im Blick zu behalten.

Entscheiden sich die Studierenden für eine Patenschaft, übernehmen sie die Aufgabe einer zeitlich befristeten „Lebens- und Lernbegleitung“ (Begemann 1997) für ein einzelnes Kind. Für die Dauer eines Jahres gehen die Studierenden die Verpflichtung ein, sich re- gelmäßig und unentgeltlich einmal wöchentlich mit dem Kind zu treffen und mit ihm ge- meinsam für mindestens drei Stunden den Nachmittag zu verbringen, zu spielen, zu bas- teln oder etwas zu unternehmen. Hauptanliegen ist dabei die individuelle Begleitung des Kindes, das unter erschwerten Bedingungen aufwächst. Kontinuität und Verlässlichkeit sind in der Patenschaft zentrale Dimensionen, um Vertrauen aufzubauen, um sich gegen-

43 Das Spiel wird dabei als ein wichtiges Medium zur Kommunikation betrachtet. Die Teilnahme daran erfolgt freiwillig. Was, wie lange und mit wem gespielt wird, liegt in der Entscheidung des Kindes. Anregungen oder Unterstützungen werden nur bei Bedarf gegeben (vgl. Schmidtchen 1991).

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seitig anzunähern und die gemeinsame Beziehung zu gestalten. Durch die gemeinsam verbrachte Zeit erhalten die Studierenden Einblicke in die Schul- und Lebenssituation des Kindes und lernen es auf der Basis biografischer, familiärer, sozialer und kultureller Hin- tergründe in seinen Stärken, Vorlieben, aber auch in seinen Schwächen kennen und ver- stehen. „Verstehen lernen“ bedeutet in diesem Zusammenhang ein Prozess, in welchem es wichtig ist, „sich zu beteiligen, sich auf Fremdes einzulassen und eigene kulturelle und soziale Normen, die bisher für selbstverständlich gehalten wurden, zu reflektieren und zu relativieren“ (Pietsch 2007, 108).

Jede Patenschaft wird unter Berücksichtigung der individuellen Bedürfnisse und Res- sourcen sowohl im Hinblick auf das Kind und seine Familie als auch im Hinblick auf die ein- zelnen Studierenden spezifisch geplant und koordiniert. Grundlage für die Patenschafts- übernahme ist das schriftliche Einverständnis der Studierenden. Mit diesem erklären sie sich über Inhalte und verbindliche und offene Anteile der Projektmitarbeit ausführlich in- formiert und sagen eine zuverlässige Mitarbeit für die Dauer eines Jahres zu (s. A I: A 02).

In einem anschließenden Gesprächskreis werden die Wünsche, Erwartungen und Be- fürchtungen aller Studierenden besprochen. So unterschiedlich wie die Motivationen sind auch deren Bedenken, die vor der endgültigen Entscheidung zur Mitarbeit durchdacht und besprochen werden müssen. Nicht jeder wünscht sich oder traut sich zu, als Patin oder Pate ein Kind mit einem möglicherweise ganz anderen, fremden kulturellen Hintergrund zu begleiten und sich mit fremden Sitten und Gewohnheiten der Familie zu konfrontieren. Nicht jeder, der im Projekt mitarbeiten möchte, traut sich die Begegnung und die Arbeit mit einem Kind zu, das behindert oder von Behinderung bedroht ist. Ziel der Erstgesprä- che ist eine bewusste, eigene Entscheidung, die jede Patin und jeder Pate trifft, denn sie muss über den Zeitraum eines ganzen Jahres und auch in schwierigen Situationen tragen.

Nach dieser selbstreflexiven Anfangsphase werden den Studierenden von der Pro- jektleiterin die Kinder mit ihren Eckdaten und den derzeitigen Lebenssituationen und den Gründen, warum sie für eine Begleitung vorgeschlagen wurden, vorgestellt. Die Studie- renden überlegen, über welches Kind sie genauere Hintergründe wissen wollen und neh- men dann Kontakt zu der Erziehungsberatung oder der Pädagogischen Frühförderung auf.

In einem sich anschließenden vertiefenden Gespräch zwischen Pate und Therapeut des kafa erhalten die Studierenden weitere Informationen. Für beide Seiten – für die Stu- dierenden und für die Therapeuten – besteht die Möglichkeit, auftretende Zweifel offen zu formulieren: Therapeuten können Bedenken artikulieren, wenn sie meinen, das vorge- schlagene Kind oder die Familienverhältnisse könnten den Studenten überfordern, ebenso kann der zukünftige Pate seine Bedenken oder Ängste der Überforderung formulieren und möglicherweise eine Patenschaft für ein anderes Kind in Betracht ziehen. Dieses Gespräch ist eine zeitintensive Chance des Überdenkens, aber ein wichtiger Schritt für die endgültige Entscheidung der Studenten, eine Patenschaft für ein unbekanntes Kind zu übernehmen.

Die Patenschaft beginnt offiziell mit einem sogenannten „Runden Tisch“, der von der Erziehungsberatung oder der Pädagogischen Frühförderung initiiert und durchgeführt wird. Hier wird zwischen den Eltern des Kindes, den bisherigen Therapeuten und den zu- künftigen Paten ein gemeinsamer Vertrag aufgesetzt (s. A I: A 03), den alle unterschrei- ben und damit ihr Interesse an der Zusammenarbeit zur Begleitung und Förderung des Kindes schriftlich festhalten. Mit der Unterschrift soll weitestgehende Verbindlichkeit, Zu- verlässigkeit und Kontinuität von allen gewährleistet werden: Die Eltern versichern, dass

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sie die Patenschaft wünschen und diese bestmöglich unterstützen werden. Die bisherigen Therapeuten erklären ihre Bereitschaft für beratende und unterstützende Hilfestellung der Patinnen und Paten, falls dies notwendig sein sollte. Die Paten versichern regelmäßige und zuverlässige wöchentliche Treffen mit dem Kind. Die Beteiligung der Kinder ist durch vorbereitende Gespräche über die Möglichkeit einer Patenschaft gewährleistet. Zum Schluss dieser Erstbegegnung wird gemeinsam ein Termin für das erste Treffen verein- bart, das zumeist bei den Kindern zu Hause stattfindet.

2.4.5 Pädagogische und supervisorische Begleitung

Alle im Projekt beteiligten Studierenden verpflichten sich, verbindlich an ergänzenden Be- gleitveranstaltungen teilzunehmen. Diese sind pädagogisch beratend im Rahmen der Pro- jektgruppe und reflexiv im Kontext der Supervision ausgerichtet.

Die pädagogische Begleitung der Projektgruppe liegt bei der Projektleiterin. In der Pro- jektgruppe wird intensiv und in unterschiedlicher Weise an den konkreten Fällen gear- beitet. Zum einen werden die für die praktische Arbeit relevanten Themen eruiert und the- oretisch fundiert, zum anderen wird an und mit persönlichen Texten gearbeitet, die zur verbindlichen Dokumentation der Patenschaftsarbeit angefertigt und in einem Portfolio gesammelt werden: Tagebuchauszüge, schriftliche Reflexionen, Protokollauszüge oder Halbjahresberichte werden präsentiert und abgeschlossene Patenschaften als Fallvor- stellung mündlich vorgestellt. Diese Daten bilden die Grundlage für gemeinsame Diskus- sionen und Interpretationen zur Verstehensschulung. Die individuellen Erfahrungen, auf- geworfene Fragen oder Erkenntnisse bieten sich als Grundlage für weitere, forschend ori- entierte Lernschritte an.

Semesterbegleitend finden drei bis viermal pro Jahr sogenannte Quartalstreffen als Angebot statt, das sich an alle im Projekt Mitwirkenden und deren Patenkinder richtet. Es wird in der Projektgruppe thematisch und projektorientiert ausgerichtet, inhaltlich und or- ganisatorisch geplant und anschließend ausgewertet und reflektiert. Ein weiteres Angebot sind Kleingruppenausflüge, die von den Studierenden in Teamarbeit geplant und durch- geführt werden. Diese lokalen und regionalen Erkundungs- und Begegnungstouren die- nen dazu, erlebnisnahe und außerschulische Erfahrungsorte kennenzulernen, die den Kindern eine verstärkte Identifizierung mit ihrem Wohn- und Lebensort ermöglichen.

Jeweils zum Ende des Semesters finden Forumsveranstaltungen statt. Sie werden u.a. für die theoretische Fundierung genutzt, aber auch, um externe Experten zu bestimmten Themen einzuladen, die Portfolioarbeit voranzutreiben, in Interpretationsrunden Daten aus unterschiedlichen Perspektiven zu bearbeiten oder um die individuelle Projektmitar- beit zu reflektieren.

14-tägig und im Wechsel zu der Projektgruppe nehmen die Studierenden verbindlich an der supervisorischen Begleitung teil, die von einer externen Supervisorin geleitet wird. Diese Form der Beratung bietet den Studierenden Gelegenheit, angeleitet die pädagogi- sche Tätigkeit, Konflikte und Probleme im Kontext der Patenschaft unter Einbeziehung persönlicher Anteile reflexiv rekonstruktiv zu betrachten und zu strukturieren.44 Die Rolle

44 Im Supervisionsverständnis, das sich in Deutschland seit den 1950er Jahren entwickelte und

von einem Beratungsverständnis Gleichgestellter ausgeht, lässt sich das aus dem Lateinischen kommende Wort „supervidere“ übersetzen mit „von oben überblicken“ bzw. „aus der Distanz

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der supervisierenden Leitung besteht darin, der Gruppe exemplarische und stellvertre- tende Lernprozesse zu ermöglichen bzw. diese zu moderieren. Die Paten sollen so Gele- genheit erhalten, sich über ihre Erfahrungen auszutauschen, sich selbstreflexiv zu be- trachten, Perspektivenwechsel und -vielfalt zu erfahren und verstehen zu üben. Unter- schiedliche Erkenntnisperspektiven und mehrperspektivisches Erwägen (vgl. Prengel 1999, 41) sollen die Analyse von pädagogischen Situationen und Verstehensprozessen und damit das Verstehen unterstützen. Der Erkenntnisprozess der Supervision folgt dem Schema Erkennen – Reflexion – Verstehen. Erst das Verstehen macht eine Veränderung auf der Handlungsebene möglich. Dabei geht es insbesondere um die Beziehungs- und Kommunikationsebenen. Wesentlich ist u.a. die Bearbeitung der Frage, wie die Art der Kommunikation zur Entstehung und Verfestigung vorhandener Probleme beiträgt. Die in der Gruppe durchgeführte Supervision ermöglicht auch die Erfahrung von Solidarität und kollektivem Miterleben. Individuelle Erfahrungen können als kollektive Themen erkannt und Informationen oder nützliche Ratschläge untereinander weitergegeben werden. Durch die Kontinuität der Supervisionstreffen kann ein geschützter Rahmen entstehen, in wel- chem das intime und vertrauensvolle Miteinander der Gruppe idealerweise konstruktives Kommunikationsverhalten und nuancenreiche Feedbacks ermöglicht.

Ziel der Supervision ist es, sich der eigenen Persönlichkeitsstruktur bewusst zu wer- den, zu einer klareren Selbsteinschätzung zu kommen und die persönlichen psychischen Dispositionen kennenzulernen. Wissenserweiterung und Selbsterfahrung sollen u.a. dazu beitragen, die berufliche Praxis konstruktiv zu gestalten, mit den alltäglichen Belastungen angemessen umzugehen und die hierfür notwendige (Selbst-) Reflexionskompetenzen zu erweitern (vgl. Hagemann/Rottmann 2000). Damit dient Supervision auch der Qualitätssi- cherung der eigenen Arbeit.

2.4.6 Dokumentation und Reflexion in Portfolios

Die im Projekt K mitwirkenden Studierenden legen über ihre Erfahrungen Portfolios an.45

Für sie ist die Portfolioarbeit aus zwei Gründen eine verbindliche Auflage: Sie wenden beim Sammeln, Auswählen, Bewerten und Dokumentieren unterschiedliche Tätigkeiten an, die für das spätere berufliche Alltagshandeln von Grundschullehrern sowohl methodi- sche als auch didaktische Relevanz besitzen (vgl. Hecker 2002). Darüber hinaus wenden sie eine Arbeitsmethode an, die auch im Grundschulalltag zunehmend an Bedeutung ge- winnt und als Lehr- und Lerninstrument eingesetzt wird, um zu einer verbesserten Steue- rung individualisierter und differenzierter Lernprozesse beizutragen. Zudem lernen sie,

heraus betrachten“. Die Deutsche Gesellschaft für Supervision definiert Supervision als „ein Be- ratungskonzept, das zur Sicherung und Verbesserung der Qualität beruflicher Arbeit eingesetzt wird. Sie bezieht sich dabei auf personale, interaktive und organisationale Faktoren. Supervi- sion basiert auf Kenntnissen und Theorien aus Soziologie, Sozialer Arbeit, Erziehungswissen- schaft, Psychologie, sowie aus Management- und Institutionstheorien und Kommunikationswis- senschaften. In der Supervision werden Fragen, Problemfelder, Konflikte und Fallbeispiele aus dem beruflichen Alltag thematisiert. Supervision fördert in gemeinsamer Suchbewegung die be- rufliche Entwicklung und das Lernen von Berufspersonen, Gruppen, Teams, Projekten und Or- ganisationen“ (DGSv 2008,4).

45 Der Begriff „Portfolio“ bezieht sich nach Hascher/Schratz allgemein auf die strukturierte Darstel- lung von (beruflichen) Leistungen und Erfolgen und bedeutet ursprünglich eine (Akten-) Mappe, in der wichtige Dokumente gesammelt werden (vgl. dies. 2001, Pietsch 2005).

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das Portfolio als Arbeits- und Vorzeigeportfolio zu nutzen (vgl. Behrens 2001), in welchem sie im Verlauf des Jahres die eigene Arbeit mit individuellen Lernergebnissen dokumentie- ren. Während ihrer Projektmitarbeit erheben die Paten vielfältige Informationen und „Da- ten“ über ihr Patenkind und sammeln in der Auseinandersetzung mit sich selbst und dem Anderen umfassende Eindrücke und Erfahrungen. Mit Hilfe des Portfolios können sie Ent- wicklungen, Wachstum und Veränderungen dokumentieren und reflektieren, und zwar sowohl im Hinblick auf die Entwicklung des Kindes als auch auf die eigene Entwicklung sowie auf die Gestaltung der gemeinsamen Patenschaftsbeziehung. Das Portfolio wird damit als ein Entwicklungs- oder Prozessportfolio genutzt, das als entwicklungsorientier- tes Instrument die Selbst- und Fremdeinschätzung unterstützen soll (vgl. Schratz/Tschegg 2001). Es dokumentiert die Sammlung von „Erfahrungsstücken" (Niggli 2001, 28) und wird zu einer „Reportage über die Geschichte des Lernens“ (ebd.). Dabei soll das Portfolio als Medium der Selbstreflexion Auskunft über die Lernentwicklung und -fortschritte geben und eine veröffentlichte Form der Selbsteinschätzung darstellen (vgl. Wintersteiner 2002). In diesem Zusammenhang stellt das Portfolio eine Methode der Beurteilung dar. Die Studie- renden lernen also sowohl ein pädagogisch diagnostisches Medium kennen (vgl. Lissmann 2001) als auch ein alternatives Beurteilungsinstrument, mit dem Lernprodukte und -prozesse begleitet, abgebildet und bewertet werden können. Es dient den Patinnen und Paten als Sammelmappe und bildet zugleich eine Grundlage für weitere Gespräche über den Lern- und Arbeitsprozess. Am Ende ihrer Projektmitarbeit wird es für die abschließende Fallvor- stellung und Präsentation in der Projektgruppe genutzt.

Verbindliche Anteile Offene Anteile Verschriftlichung der Motivation für die Projekt- mitarbeit

Förderleporello Liste gemeinsam besichtigter Orte Auszüge aus dem pädagogischen Tagebuch mit begründeter Auswahl

Vollständiges Tagebuch

Beschreibung des sozialen Umfelds des Kindes und dessen familiäre Bezüge

Wissenschaftliche, theoretische Ausführungen zu ausgewählten zur Patenschaft passenden Themen

Beschreibung des Kindes aus der Sicht der Paten

Beschreibung des Kindes aus mehrperspek- tivischer Sicht

Ausgewählte Arbeitsergebnisse und Produkte aus der Hand des Kindes

Fotos

Leseaufgabe und fallspezifische Reflexion zu der Literatur „Das Thema des Kindes erkennen“ von H. J. Kautter (1998)

Ausführliche Beschreibung eines Treffens mit dem Kind

Dokumente/Materialien von den Semester- abschlusstreffen

Beschreibung einer besonders schwierigen Situation

Halbjahresbericht (verbindlich seit 2003) Beschreibung und Reflexion eines Quartals- treffens

Ein ausgesuchtes Protokoll von einer gezielten, strukturierten, teilnehmenden Beobachtungen einer Situation

Protokolle, Notizen, Mitschriften von Gesprä- chen

Reflexion des Jahres Kreative Darstellung des Jahres

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Kapitel I: Lehrerprofessionalität und Professionalisierung für den Lehrerberuf 

 

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In einem Leitfaden (s. A I: A 04) werden die projektspezifische Definition und Funktion

des Portfolios aufgezeigt und die Anforderungen im Hinblick auf die formale und inhaltliche Gestaltung angegeben. Während der Projektmitarbeit wird die Arbeit am Portfolio individuell begleitet.

Das Material wird aufgrund gemeinsamer Vereinbarungen gesammelt. Durch diese Vorgaben und Vereinbarungen über die Inhalte gewinnt das Portfolio eine steuernde Funktion für die Aktivitäten und Arbeiten der Paten. Einige Dokumente sind für das Portfo- lio verpflichtend, andere können die Studierenden selbstbestimmt einbringen. Diese ver- bindlichen und offenen Anteile sind in einem Leitfaden aufgeführt und entsprechend ge- kennzeichnet.

Zum Abschluss der Patenschaft werden die unterschiedlichen Dokumente mit einem Kommentar zu einer Einheit zusammengeführt. Das Portfolio wird damit zu einer individu- ell veröffentlichten Selbsteinschätzung. Veröffentlicht wird dabei immer nur das, was die Paten veröffentlichen wollen, jedoch in einer strukturierten und kommentierten Weise, so- dass es für andere nachvollziehbar ist.

2.4.7 Forschungsfeld und weiterführende Forschungsprojekte

Da die Studierenden in die praxisnahe Fallarbeit involviert werden und durch ihre Beteili- gung einen ganz individuellen Bezug entwickeln, muss „sowohl der fremde Fall als auch der eigene Fall zum Thema gemacht werden“ (Heinzel 2007, 152). Dies ist nicht nur eine Chance, „einen Zugang zum Denken und Handeln der Kinder zu finden“ (ebd.), sondern auch eine Chance, das Projekt als Forschungsprojekt zu nutzen, um einen Zugang zu in- dividuellen Lernwegen und -konstruktionen in der Beziehungspraxis zu erhalten und pra- xisnahe Fallarbeit im Hinblick auf Chancen und Grenzen für die Professionalisierung an- gehender Lehrer befragen zu können.

Für die Studierenden besteht die Möglichkeit, auf der Grundlage ihrer Projekterfahrun- gen eigene Forschungsprojekte zu entwickeln und diese in Form von Fallstudien als Ex- amens- bzw. Magister-Abschlussarbeiten einzureichen. Die Projektleitung übernimmt da- bei die Begleitung und Betreuung der Forschungsprozesse und begutachtet und bewertet die Arbeiten abschließend. Diese Forschungsprojekte können nach beendeter Projektmit- arbeit zur aufarbeitenden Reflexion und Rekonstruktion angelegt werden, oder sie entste- hen in der aktuellen Projektarbeit zumeist in der zweiten Hälfte der Patenschaft zur Bear- beitung darin aufgeworfener Fragen mit Blick auf das zu vertiefende aktuelle Thema des Kindes (vgl. Kap. 2.5.3). Die praxisnahe Arbeit am und mit dem Realfall kann so in eine meist zeitlich distanzierte rekonstruierende und reflektierende Bearbeitung des Falls mün- den und der Realfall kann zu einem Papierfall umgestaltet werden.

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Kapitel II

Forschungsverständnis und methodischer Zugang

In diesem Kapitel wird in zwei Schritten das methodische Vorgehen für den qualitativ aus- gerichteten Forschungsprozess dargestellt. Zunächst wird für das zugrunde liegende For- schungsverständnis die fallrekonstruktive Sozialforschung als theoretischer Bezugsrah- men dieser Studie ausgeführt. Mit der Frage nach den individuellen Lernerfahrungen an- gehender Grundschullehrer nutzt die kasuistische Studie das qualitative, narrative Inter- view als Erhebungsinstrument, das darauf folgend mit seinem erzähltheoretischen Hinter- grund dargestellt wird. Auf das methodische Vorgehen für die Erhebung und Auswertung der Daten wird im zweiten Teil dieses Kapitels eingegangen, bevor abschließend der Dar- stellungsmodus für die Ergebnispräsentation der Fallrekonstruktionen aufgezeigt wird.

1 Fallrekonstruktive Sozialforschung

Die vorliegende Arbeit fragt danach, wie bereits die universitäre Lehrerbildung auf die vielschichtigen und komplexen beruflichen Aufgaben der Grundschule vorbereiten kann und wie Professionalisierungsprozesse angehender Lehrer durch konkrete Fallarbeit un- terstützt werden können. Ihr Ziel ist die Rekonstruktion subjektiver Bedeutungsstrukturen und individueller Lern- und Konstruktionsprozesse im Hinblick auf die zurückliegenden Er- fahrungen während der Mitarbeit im Projekt K. Für diese rekonstruktive Ermittlung der un- terschiedlich sinnhaft strukturierten Erfahrensbestände und der individuellen Konstruktio- nen sozialer Wirklichkeiten wird ein fallrekonstruktiver Ansatz gewählt. Er ist der qualitati- ven Sozialforschung zuzuordnen und bildet den theoretischen Bezugsrahmen des metho- dischen Zugangs dieser Studie.

Ausgangspunkt der Überlegungen zur Forschungsmethode ist die Annahme, dass Be- dingungen und Strukturen sozialer Wirklichkeiten nicht zwangsläufig gegeben sind, son- dern immer wieder in den täglichen Handlungsvollzügen von den Aktanten mitgeschaffen werden. Grundlegend ist damit das interpretative Paradigma.46 Insbesondere mit Bezug auf den Symbolischen Interaktionismus47 wird davon ausgegangen, dass jegliche Interak-

46 Das interpretative Paradigma bezeichnet eine grundlagentheoretische Position, die theoretische

Ansätze der phänomenologischen Soziologie, der Ethnomethodologie und des Symbolischen Interaktionismus in der Tradition von George Herbert Mead zusammenfasst und soziale Wirk- lichkeit als Realität begreift, die durch Interpretationshandlungen konstituiert wird (vgl. Lamnek 2005, 34).

47 Die Theorie des symbolischen Interaktionismus wurde in den 1930er-Jahren von George Her- bert Mead (1968) entwickelt. Er beschäftigt sich hauptsächlich mit Prozessen der Interaktion im Sinne unmittelbar wechselseitigen Handelns und mit dem symbolvermittelten Charakter sozia- len Handelns. Verhaltenswirksame Bedeutungen, so die Grundannahme, „entstehen in sozialen Interaktionen und werden in einem interpretativen Prozeß verhaltenswirksam gehandhabt und abgeändert, d.h. die soziale Welt wird durch bedeutungsvolle Interaktionen zwischen den Men- schen konstruiert“ (Bortz-Döhring 2005, 304). Damit haben sie eine kulturelle Verbindlichkeit und müssen von den beteiligten Interaktionspartnern verstanden und beachtet werden. Kon-

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tion „ein interpretativer Prozess ist, in dem die Handelnden sich aufeinander beziehen durch sinngebende Deutungen dessen, was der andere tut oder tun könnte“ (Matthes 1976, 201, zit. n. Lamnek 2005, 34).

Auf dem Hintergrund einer theorieerzeugenden Forschungslogik sind zur Beforschung dieser Prozesse induktive Forschungsverfahren förderlich, die das Prinzip der Offenheit ver- folgen. Die theoretische Strukturierung des Forschungsgegenstandes wird dabei zurückge- stellt, bis sie durch die Forschungssubjekte selbst entworfen werden kann (vgl. Hoffmann- Riem 1980, 343). In der Konsequenz bedeutet dies den Verzicht auf eine zu überprüfende Hypothesenbildung sowie den Ausschluss eines subsumtionslogischen Vorgehens, bei dem die einzelnen Fälle vorab gebildeten Typiken und Hypothesen zugeordnet werden. Denn das zentrale Ziel einer qualitativen Untersuchung besteht ja in der Regel nicht darin,

Hypothesen zu falsifizieren, sondern darin, zuerst einmal die Relevanzsetzungen, Weltdeu- tungen und Sichtweisen der Akteure im untersuchten Feld in Erfahrung zu bringen, um auf dieser Basis theoretische Aussagen über den untersuchten Gegenstandsbereich zu entwi- ckeln. In vielen Fällen ist deshalb die Verwendung empirisch gehaltvoller theoretischer Kate- gorien als Heuristik für die Datenauswertung wenig sinnvoll, oft sogar kontraproduktiv. Ko- dierkategorien, die zur Systematisierung des Datenmaterials verwendet werden, sollten vielmehr zu Beginn möglichst ,offen‘ sein, so daß mit ihrer Hilfe möglichst das gesamte Spektrum der relevanten Handlungsorientierungen und Deutungsmuster (…) auf der Grund- lage der Daten ermittelt werden kann (Kelle/Kluge 1999, 66).

Daher nimmt die Einzelfallanalyse im Rahmen qualitativer Sozialforschung einen zentra- len Stellenwert ein. Sie betont die Zusammenhänge der Funktions- und Lebensbereiche in der Ganzheit der Person und berücksichtigt aktuell rahmende Bedingungen sowie his- torische und lebensgeschichtliche Hintergründe (vgl. Mayring 2002, 42). Für das Anliegen dieser Arbeit, Lebens- bzw. Lernwelten aus der Sicht der handelnden Menschen zu be- schreiben (vgl. Flick u.a. 2008), um zu einem besseren Verständnis über soziale Wirklich- keit in ihren Abläufen zu gelangen und individuelle Deutungsmuster und Lernkonstruktio- nen im Hinblick auf angehende Professionalität zu erhellen, ist also ein ideografischer, d.h. auf einzelne Fälle bezogener Ansatz sinnvoll (vgl. Hubig 1987). Denn die besondere Bedeutung von Fallstudien liegt nach Heinzel „vor allem in der Schulung des Verstehens, in der Vorbereitung einer reflexiven Haltung zum Unterricht und in der Begegnung mit Praxisszenen sowie ihrer Verknüpfung mit theoretischen Erkenntnissen“ (dies. 2003, 28).

Auf der Grundlage eines eingegrenzten Datensatzes bietet die fallanalytische Arbeit die Möglichkeit, die pädagogische Beziehungspraxis und den Alltag von Patenschaften als berufsfeldbezogenes und praxisorientiertes Lernarrangement zur Vorbereitung auf die spezifischen Herausforderungen professionellen Lehrerhandelns zu untersuchen und Perspektiven für die Optimierung des Lernfelds zu entwickeln.

Mit diesem kasuistischen Vorgehen wird das Praxisfeld sowohl für die mitarbeitenden Studierenden als auch für die Projektleiterin und Forscherin zum Forschungsfeld. So, wie die von den Studierenden dokumentierten und reflektierten Lern- und Entwicklungsge- schichten einzelner Kinder mit biografischen Darstellungen, Sozialgeschichten und Situa- tionsanalysen zum kasuistischen Gegenstandsfeld ihrer Forschungsvorhaben werden, stehen die individuellen Erfahrungen und Lernwege der studentischen Patinnen und Paten

struiert werden dabei nicht nur Bedeutungen für Dinge, sondern auch für die Personen, da in den Interaktionen die Identitäten gebildet und situativ ausgehandelt werden.

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im Zentrum des Interesses und werden zu Fällen dieser Forschungsarbeit. Fallarbeit fin- det somit auf zwei Ebenen statt: im hochschuldidaktischen Zusammenhang einerseits als Möglichkeit für Studierende, Fallarbeit selbst durchzuführen und daran zu lernen, ande- rerseits als Ansatz und Methode dieser qualitativen Studie. Gemeinsame Schnittmenge bilden die Lerngeschichten.

Auf der Grundlage eines konstruktivistischen Lernverständnisses wird davon ausgegan- gen, dass Eindrücke und Ereignisse des Lernens an Erlebnisse anknüpfen und als Erfah- rungen gespeichert werden. Diese Lern- und Lebenserfahrungen, die die weiteren subjekti- ven Auseinandersetzungen mit der Welt und den Lerninhalten beeinflussen und steuern, verbinden Sach- oder Welterkenntnis mit individueller Selbsterkenntnis. Diese Selbster- kenntnis und die subjektiven Lernkonstruktionen lassen sich nicht direkt beobachten. Um von den individuellen Lernerfahrungen profitieren zu können, müssen sie sichtbar gemacht und rekonstruiert werden. Dies erfordert passende Erhebungsinstrumente bzw. -methoden.

2 Erhebungsinstrumente und Datenbasis

Es müssen Gelegenheiten geschaffen werden, in denen die studentischen Patinnen und Paten rückblickend ihre Erfahrungen erinnern und versprachlichen und dabei aus der re- konstruktiven Perspektive wieder in das damalige Geschehen erneut eintauchen können. Auch der Einblick in die Entwicklungs- und Prozess-Portfolios, in welchen sie ihre damali- gen Erlebnisse und spezifischen Erfahrungen und Problemstellungen in der Projektmitar- beit unmittelbar und zeitnah zum aktuellen Geschehen dokumentiert und reflektiert haben, lässt Rückschlüsse auf zurückliegende subjektive Lernkonstruktionen zu. Die Datenbasis setzt sich somit aus Berichten bzw. Erzählungen und aus Dokumenten zusammen. Ein wichtiges Instrument zur Erhebung der Daten ist das narrative Interview.

2.1 Das narrative Interview

Da es in dieser Studie darum geht, die Perspektiven und Erfahrungsaufschichtungen der studentischen Patinnen und Paten in ihrer Unterschiedlichkeit, aber auch in ihren gemein- samen Aspekten zu erfassen, sind Verfahren erforderlich, die den Befragten genügend Freiraum gewähren, um den eigenen Standort und die individuellen Perspektiven entfal- ten und verdeutlichen zu können. Für die Versprachlichung dieser Anteile bildet das quali- tative Interview den entsprechenden Raum. Interviews werden nach Friebertshäuser (2003, 371) in der qualitativen Forschung häufig eingesetzt, da sie einen raschen Zugang zu dem Forschungsfeld und zu den interessierenden Personen ermöglichen und zudem ein reichhaltiges Datenmaterial versprechen.

Für die vorliegende Studie wurde mit dem narrativen Interview ein qualitatives Verfah- ren gewählt, das als Untersuchungskonzept der Erzählforschung und Instrument der kommunikativen Sozialforschung in den 1970er-Jahren maßgeblich durch den Soziologen Fritz Schütze entwickelt wurde.

Die Grundidee des narrativen Interviews besteht darin, die interviewten Personen durch einen Eingangsstimulus bzw. eine erzählgenerierende Frage zu einer autonom ges- talteten Haupterzählung über ihre Projektmitarbeit anzuregen. Dabei kommt dem Erzäh-

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len ein besonderer Stellenwert zu, denn im freien Erzählen schälen sich, wie die folgen- den erzähltheoretischen Grundlagen verdeutlichen werden, die subjektiven Bedeutungs- strukturen über bestimmte Ereignisse heraus, die sich einem systematischen Abfragen verschließen würden (vgl. Schütze 1987; Riemann 1987 u.a.).

2.1.1 Erzähltheoretische Grundlagen des narrativen Interviews

Alltag zu teilen heißt, sich gegenseitig auszutauschen und sich und das Erlebte anderen mitzuteilen. Dies geschieht auch über das Erzählen von Alltagsgeschichten. Dabei kann davon ausgegangen werden, dass jeder im Alltag unzweifelhaft die intuitiven Kompeten- zen beherrscht, „eine Erzählung so zu gestalten, daß sie – auch wenn sie Stunden dauert – vom Zuhörer verstanden, und das heißt in ihrem Aufbau nachvollzogen werden kann“ (Bohnsack 2000, 107).

Je nach kontextueller Einbindung übernimmt die Alltagserzählung unterschiedliche Funktionen. Grundlegend kommt ihr eine kommunikative und vermittelnde Funktion zu. Das Erzählen von Erlebnissen in Geschichten ist somit ein geeignetes Mittel, um eigene Erfahrungen als Ergebnis und Prozess anderen so mitzuteilen, dass sie für diese nach- vollziehbar und verstehbar werden. Dabei können Informationen und Wissen ganzheitlich, anschaulich und auf emotionaler, (er-)lebensnaher Weise vermittelt werden. Das Erzählen hat aber auch eine soziale Funktion, denn – auf Gegenseitigkeit angelegt – kann es durch den Tausch der Rollen von Erzählendem und Zuhörendem den Bezug aufeinander und damit die soziale Bindung zwischen den Kommunikationspartnern stärken – nach Rein- mann (2005) eine wesentliche Voraussetzung für kooperatives Handeln und Lernen.

Die Wiedergabe von Ereignissen und Erlebnissen übernimmt zudem die Funktion der „Rekonstruktion und Repräsentation tatsächlich geschehener und von einem Erzähler zu einem früheren Zeitpunkt in der Realität erlebter Ereignisse“ (Liedtke 1990, 5). Damit kann dem Erzählen sowohl eine referentielle, evaluative als auch eine auf- bzw. verarbeitende Funktion zukommen. Durch die Rekonstruktion von Erlebtem und Erfahrenem und durch die distanzierte Betrachtung besteht in der Auseinandersetzung mit Alltagserfahrungen die Chance, zu neuen Einsichten zu gelangen, neue Erkenntnisse zu gewinnen und damit neues Wissen zu generieren.

Nach Schütze gewährt das Erzählen ein „Präzidieren von Erfahrungszusammenhän- gen“ (Schütze 1984, 79). Durch die nachträgliche Besinnung kommt das vergangene Ge- schehen ins Bewusstsein und der Inhalt der Erfahrung wird so erkennbar. Es erfolgt eine Aufschichtung der (lebens-)geschichtlichen Erfahrungen. Dargestellt werden nicht nur der äußerliche Ereignisablauf, sondern auch die inneren Reaktionen, die individuellen Erfah- rungen mit den Ereignissen und ihre interpretative Verarbeitung in Deutungsmustern. Der soziale Bezugsrahmen, die Lebensmilieus und die sozialgeschichtlichen Begebenheiten werden – sofern sie für die Erfahrungsaufschichtung relevant sind – darin eingeflochten. Durch den Raffungscharakter des Erzählvorgangs werden die großen Zusammenhänge herausgearbeitet, markiert und mit besonderen Relevanzsetzungen versehen. Auch Erfah- rungsstümpfe von Ereignissen und Entwicklungen, die der erzählenden Person selbst nicht voll bewusst sind oder von ihr theoretisch ausgeblendet oder verdrängt werden, also ver- borgen bleiben sollen, kommen zum Ausdruck. Durch das Erzählen taucht die erzählende Person noch einmal in das Erlebte ein und lässt sich „von den damaligen Wirkmechanis- men für Entwicklungs- und Veränderungsprozesse gewissermaßen mitreißen“ (Glinka

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2003, 26). Die individuellen Verstrickungen und die Verwobenheit eines jeden Menschen mit den eigenen Erfahrungen und der individuellen geschichtlichen Bezogenheit fließt in die Narration ein. Das bisher im Gedächtnis weitgehend diffuse und kognitiv noch nicht bearbei- tete Erleben kann so „aufgeordnet“ (ebd.) und zu einer Gesamtgestalt in Form einer Ge- schichte geführt werden. Verlaufskurven (vgl. Schütze 1987), die je nach positiver oder ne- gativer Ereignisverkettung und ihren Bewältigungsmöglichkeiten und -mustern zustande gekommenen sind (vgl. Kap. 1.2.2.3), können dabei bewusst und erzählend neu formuliert und damit bearbeitet werden. Somit bietet das Erzählen der eigenen Geschichte nicht nur die Möglichkeit der Wiederbelebung vergangener Erlebnisse, sondern auch die Gelegenheit einer distanzierten und differenzierten Draufsicht und analytischen Durchdringung und da- mit auch die Chance der Erfahrungsverarbeitung und der Identitätsbildung.

2.1.1.1 Zur Relevanz der Stegreiferzählung

Die Alltagserzählung verfügt über eine mehr oder weniger stark ausgeprägte Dynamik. Wenn die „Wiederbelebung“ (Liedtke 1990, 5) der vergangenen Ereignisse und Erlebnisse mit der erzählerischen Präsentation gelingt, wird damit die ursprüngliche Dynamik der damaligen Ereignisse zumindest teilweise reaktiviert. Das bedeutet: In dem, was und wie erzählt wird, kann die Dynamik und Bedeutung vergangener Ereignisse und Erlebnisse erkannt werden. Es kann somit davon ausgegangen werden, dass „der Erzähler seine Lebensgeschichte so reproduziert, wie er sie erfahren hat, also die lebensgeschichtliche Erfahrung in jener Aufschichtung, in jenen Relevanzen und Focussierungen reproduziert, wie sie für seine Identität konstitutiv und somit auch handlungsleitend für ihn ist“ (Bohn- sack 2000, 108).

Diese Homologie von Erzählung und identitäts- bzw. handlungsrelevanter Erfahrung (vgl. Schütze 1987) ist jedoch nur in Erzählungen gegeben, die von den Erzählenden un- vorbereitet und damit aus dem Stegreif produziert werden. Mündliche Stegreiferzählungen dienen der Erlebniskapitulation und Erfahrungsweitergabe. Sie beinhalten sowohl die Ge- genwarts- als auch die Vergangenheitsperspektive der Erzählenden. Die Dramaturgie der Erzählung entsteht während des Erzählens. Ziel ist es, dass die interviewten Personen ih- re eigene Version der Geschichte präsentieren, dabei das aus ihrer Sicht Wichtige und Entscheidende herausarbeiten und es verdichtend darstellen. Damit entspricht das Steg- reiferzählen einem schöpferischen Akt, in dem der „Strom der gemachten Erfahrungen weit über die anfänglichen Erwartungen und Vorabbilder des Erzählens hinaus“ (ebd., 184) gestaltet wird. Die erzählende Person knüpft dabei einen möglichst ununterbroche- nen Erzählstrang, bei welchem sie sich ebenso auf bereits abgearbeitete und in der Selbsterfahrung und Selbstkonstitution verankerte Aspekte einlassen muss, wie auch auf Erfahrungen, die nur wenig theoretisch-reflexiv überformt sind (vgl. Bohnsack 2000, 108).

2.1.1.2 Zugzwänge im Aufbau der Haupterzählung

Der Aufbau der Haupterzählung als der „große Wurf der Geschichte“ (Specht-Tomann 2003, 70) wird nicht reflektiert, sondern intuitiv vollzogen. Dadurch gewinnt die erzählende Darstellung eine Selbstläufigkeit, deren Gestalt und Dynamik entscheidend durch soge- nannte „Zugzwänge“ bestimmt wird (vgl. Schütze 1987). Im Einzelnen sind dies der De- taillierungs-, der Kondensierungs- und der Gestaltschließungszwang.

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Hat sich die erzählende Person erst einmal auf ihre Erzählung eingelassen, muss sie –

um die Nachvollziehbarkeit der Geschichte gewährleisten zu können – Details zur Plausi- bilisierung ausführen. Dabei wird immer wieder die Preisgabe von Informationen notwen- dig, die sie freiwillig nicht berichtet hätte, die aber in ihrer so „gestrickten“ Geschichte nicht zu umgehen sind.

Aufgrund der zeitlichen Begrenzung ist eine Beschränkung auf das Wesentliche erfor- derlich. Hier kommt der Kondensierungszwang zum Tragen. Um das Interesse der zuhö- renden Person durch eine möglicherweise als langatmig und langweilig empfundene Er- zählgestalt nicht überzustrapazieren oder gar zu schmälern, folgt die erzählende Person dem Zugzwang der Kondensierung, indem sie ausschweifende (Teil-) Erzählungen ver- meidet bzw. ihre Ausführungen kondensiert, d.h. verdichtet darstellt.

Der Gestaltschließungszwang sorgt für eine geschlossene Darstellung der Geschichte, die damit ein offizielles Ende erhält, das durch ein signifikantes Signal, durch eine Erzähl- koda, verdeutlicht wird. Damit erlischt das bisherige monologische Rederecht und ein an- deres Kommunikationsarrangement kann beginnen.

Auf diese Zugzwänge reagiert die erzählende Person, indem sie das sprachliche Kommunikationsschema für die Ausgestaltung ihrer Geschichte spezifisch nutzt, was sich in der Verwendung der unterschiedlichen Textsorten zeigt.

2.1.1.3 Erzählen – Beschreiben – Argumentieren

Um Rückschlüsse auf die faktischen Handlungsabläufe ziehen zu können, muss die Art der sprachlichen Darstellung und die Verwendung der Kommunikationsschemata „Erzäh- len“, „Beschreiben“ und „Argumentieren“ betrachtet werden. Aufschlussreich und daher von besonderer Bedeutung sind die sogenannten narrativen Passagen (vgl. Schütze 1987).

Diese narrativen Passagen haben im Vergleich zu den beschreibenden und argumen- tativen Ausführungen die komplexesten Kommunikations- und Darstellungsstrukturen, in welchen sie zurückliegende, singuläre Ereignisabfolgen referieren. Den Kern der Erzäh- lung bilden frühere und spätere Haltungen des Betroffenen zum Geschehen, die Verände- rung der Identität des Erzählenden als zentral Betroffener sowie die Veränderungen der umgebenden Welt und der Kollektivitäten. In ihrer szenischen Ausgestaltung zeigen die narrativen Passagen die emotionale Beteiligung und die geringe Distanz des Interviewten zu den Erlebnissen, was sich u.a. in einer Häufung von Versprechern, in unvollständigen Sätzen sowie in längeren Pausen zeigt. Weitere kennzeichnende Merkmale narrativer Passagen sind ihre kontinuierliche Struktur und die stringente Logik zur sequenziellen Nachzeichnung vergangener Ereignisse. Wichtige Einzelheiten werden beschrieben und illustriert, Randerscheinungen dagegen nur angedeutet bzw. ganz weggelassen.

Die Ablaufstruktur von Narrationen erfolgt meistens in sechs Schritten: Nach einer anfänglichen Themenankündigung, die als einführende Übersicht meist in

Form eines Abstracts gehalten ist, erfolgt eine Orientierung, in der erwähnt wird, wann und wo die Geschichte spielt, wer beteiligt war und worum es geht. In der sich anschlie- ßenden Komplikation wird der Ablauf der Ereignisse erzählt, meist in Form einer Zuspit- zung, die mit einem Ereignishöhepunkt versehen wird.

Im Anschluss an die Komplikation wird meist erzählt, wie das erlebte Ereignis ausge- gangen ist, wodurch sich die Situation entspannt hat oder wie das Problem gelöst wurde. Dieser szenische Abschluss erfolgt oft mit einer Pointe. Beendet werden narrative Passa-

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gen häufig mit einer Bewertung, mit der das geschilderte Ereignis retrospektiv als Bilan- zierung für das weitere Handeln aus der Sicht des Erzählenden gedeutet und manchmal in Form einer Art „Moral der Geschichte“ ausgeführt wird.

Zu den sogenannten nicht-narrativen Darstellungsaktivitäten gehören die Beschreibun- gen und Argumentationen. Diese können theoretisch-argumentative, abstrakt-beschreiben- de oder bewertend-stellungnehmende Aktivitäten sein (vgl. ebd., 148). Ihnen gemein ist, dass sie kein Einzelereignis darstellen. Nicht-narrative Darstellungen haben keine konkre- ten Zeit- und Ortsbezüge, sie bringen keinen Übergang von einem Vorher- in einen Nach- her-Zustand und sie gelten über die Situationsgrenzen der erzählten Geschichte hinaus. Meist haben sie feststehende allgemeine Erkennungsmarkierer (ebd.). Diese belegen Hin- tergrundszusammenhänge oder verdeutlichen, dass es um die Aufstellung einer „allsatz- artigen“ (ebd., 147) Behauptung geht, d.h. sie verweisen darauf, dass die Darstellung ü- ber die Geschichtssituation hinaus von Bedeutung ist. Dabei werden gegenüber der Ab- folge der Geschichtenereignisse Verallgemeinerungen vorgenommen, wie z.B.: „Ich habe daraus gelernt, dass…“. Des Weiteren verdeutlichen nicht-narrative Darstellungen, dass nun ein Vergleich durchgeführt oder dass eine ergebnissichernde Reflexion der Auswir- kungen des Geschichtenablaufs vorgenommen wird. Auch bewertende Beurteilung und Bilanzierungen des Erzählers finden in nicht-narrativen Passagen ihren Ausdruck.

Die Beschreibung ist eine Bezeichnung für ein Vertextungsmuster, das der Themen- entfaltung dient. Beschreibungen können sich auf Vorgänge in der Jetztzeit oder auf sol- che aus der Vergangenheit beziehen. Die Gegenstände des Themas werden präsentiert, d.h. räumlich und zeitlich geordnet, z.B. bei Objektbeschreibungen oder Prozess- und Handlungsabfolgen. Im Sinne eines Berichts handelt es sich um eine geraffte Erzählung, die eine Ereigniskette ausführt, ohne dabei Situationen detaillierend auszuarbeiten. Von der zugrunde liegenden Szene als Ereignis wird abstrahiert. Erzählt wird ein Bericht des Geschehens. Die Erlebnisqualität des Subjekts spielt dabei keine Rolle. In der Regel ist die erzählende Person innerlich nicht beteiligt. Häufig werden Berichte im Rahmen von Erklärungen abgegeben. Kennzeichnend für Beschreibungstexte sind deren statische Struktur und ihr Vorgangscharakter. Sie zeigen routinierte Handlungs- und Ereignisabläu- fe auf und fangen psychische Situationen und ihre Veränderungen ein.

Argumentationen sind dagegen Textpassagen, die sich immer auf die Jetztzeit bezie- hen. Ihr Aussagemodus ist nicht narrativ, sondern argumentativ, abstrakt-beschreibend oder bewertend Stellung nehmend. Die theoriehaltigen Textelemente innerhalb und au- ßerhalb von Erzählsequenzen dienen der plausibilisierenden Handlungserläuterung oder der sekundären Legitimationen „im Sinne einer Vermutung, Behauptung, Erklärung, Rechtfertigung, Einschätzung, Vergleichung, Deutung, Beurteilung, Bewertung, Anklage, Bilanzierung usw.“ (ebd., 145). Erzählende Personen reagieren argumentativ, z.B. mit ei- ner Anführung mehrerer Gründe, damit die zuhörende Person ihre Perspektive übernimmt und sich bestätigend einverstanden ihnen gegenüber äußert. Argumentationen werden mit auffälligen Mitteln vom Erzählstrom abgegrenzt, z.B. durch einen anderen Tonfall, durch direkte Anrede des Zuhörers, u.ä. Sie werden in geeigneter Form markiert und z.B. durch die Worte „also“, „ja“, „wohl“ angekündigt. Nach der Ankündigung folgt eine „Kern- aktivität des reflektierenden Theoretisierens, des beschreibenden und vergleichenden Einschätzens oder (…) der bewertenden Stellungnahme“ (ebd., 146). Beendet werden Argumentationstexte mit Abschlussformeln, wie z.B. „dies soweit hierzu“ oder „ich hoffe es

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ist jetzt klarer.“ Dieser schließt sich eine darauf folgende Pause und eine Rückleitung in den dominanten Erzählstrom an, z.B. durch einen Wechsel im Tonfall, durch auf Zustim- mung ausgerichtete Partikel wie „ne?“ oder durch eine narrative Wiederaufgriffsfloskel wie „ja und jetzt“ „und dann“ u.a.

In Erzählungen werden, wie aufgezeigt, Prozesse des Werdens und Wandlungspro- zesse verdeutlicht, die für die Konstituierung des Selbst zentral sind. Insofern dienen Er- zählungen nicht nur der Darstellung, Verarbeitung, Bilanzierung und Evaluierung von Er- fahrungen, sondern auch der Darstellung des sozialen Prozesses der Entwicklung und der Wandlung der biografischen Identität.

2.2 Das narrative Interview – Methode, Beziehungs- und Lernraum zugleich

Das narrative Interview ist nicht nur aus forschungsmethodischer, sondern auch aus hochschuldidaktischer Sicht bedeutsam. Im Hinblick auf die Durchführung dieser For- schungsarbeit dient es der methodisch gesicherten Erhebung von Daten. Es ermöglicht der Forscherin, individuelle Prozessverläufe, wie z.B. das allmähliche Heranreifen von Entscheidungen oder Handlungsplänen, genauer zu betrachten und rückblickende Beur- teilungen vergangener biografischer Phasen und innerer Vorgänge in den Blick zu nehmen.

Seine gleichzeitige hochschuldidaktische Relevanz wird in dieser Arbeit auf zwei Ebe- nen deutlich: Zum einen ist das Interview Bestandteil der Projektkonzeption und hat das Ziel, einen bewussten und reflexiven Abschluss der Projektmitarbeit zu ermöglichen, zum anderen erweist es sich für die Studierenden als ein konkreter Lern- und Beziehungs- raum. Das narrative Interview bietet sich für die interviewte Person als „eine mehr oder weniger bedeutsame, mehr oder weniger bewusst erlebte Lernsituation“ (Altrichter/Posch 1998, 154) an, denn es schafft „einen Rahmen, in dem der Interviewte veranlasst wird, über ein Thema nachzudenken und Erfahrungselemente zu einem tiefer gehenden Ver- ständnis zu verbinden.“ (ebd.). Da die interviewende Person wesentlichen Einfluss auf die Gestaltung der Kommunikation hat, die sowohl auf der inhaltlichen als auch auf der Be- ziehungsebene stattfindet und sich die beiden Ebenen gegenseitig beeinflussen (vgl. Watzlawick u.a. 1980), findet hier Lernen als eine gemeinsame, interaktiv auszuhandeln- de und zu gestaltende Konstruktion statt. In dem Versuch zu verstehen und sich auf die szenischen und metaphorischen Darstellungen einzulassen, wird die interviewende und zuhörende Person im Nachvollzug der dargestellten Erlebnisprozesse zur virtuellen Teil- nehmerin. Aufgrund seiner explorativen Möglichkeiten hat das Interview damit auch eine wesentliche Bedeutung als Beziehungsraum (vgl. Tietel 2000). Die Beziehung zwischen interviewender und interviewter Person, die in der Gesprächssituation zustande kommt, macht das Produkt – die Aussagen zum Gegenstand der Forschung – erst möglich und beeinflusst bzw. lenkt sie entsprechend der Anlage und Struktur des Interviews in nicht unerheblichem Maße.

Da die Studierenden erleben, dass ihnen mit Interesse und Zeit begegnet wird, wird dieses Gespräch zugleich zu einem reflexiven Lernraum für sie und erweist sich darüber hinaus auch als mögliches Unterstützungsangebot bei der Bewältigung von kritischen Le- bens- und Lernerfahrungen der Paten, was zur Veränderung von Sichtweisen und damit indirekt auch von zukünftig zu gestaltenden Situationen beitragen kann (vgl. Altrichter/ Posch 1998, 154).

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3 Methodisches Vorgehen in der Datenerhebung

Für die Datenerhebung sind zur Durchführung des narrativen Interviews vorbereitende, durchführende und auswertende Arbeitsschritte erforderlich, die im Folgenden dargestellt werden.

3.1 Vorbereitung der Datenerhebung: Auswahl der Interviewpartner

Die Auswahl der Interviewpartner ist in dieser Studie im Gegensatz zu verteilungstheore- tisch orientierten Verfahren nicht zufällig, sondern wird – bezogen auf das Erkenntnisinter- esse – vorgenommen. Sie erfolgt nicht nach dem Prinzip des maximalen Vergleichs der Fälle, sondern ist auf die Vollständigkeit der Fälle in den ersten beiden Jahren des Pro- jekts angelegt.

Bis Ende 2002 hatten sich insgesamt 16 Studierende für die Mitarbeit im Projekt K ent- schieden: 14 studierten das Lehramt für Grundschule, zwei Studentinnen kamen aus dem Fachbereich Sozialwesen. Die 14 Lehramtsstudierenden, die ihre Patenschaften bis Ende 2003 abgeschlossen hatten, wurden in einem zeitlichen Abstand von sechs bis 18 Mona- ten nach beendeter Projektmitarbeit zu einem narrativen Interview eingeladen. Zwölf Pa- tinnen und ein Pate sagten zu, eine Studentin hatte den Studiengang gewechselt und war nicht mehr zu erreichen (s. A I: A 05).

Der Durchführungszeitpunkt der Interviews war von den individuellen und studienorga- nisatorischen Ressourcen der Studierenden sowie von den je unterschiedlichen Anfangs- und Beendigungsterminen der einzelnen Patenschaften abhängig. Die Projektkonzeption sah vor, dass zuvor die dokumentierende und reflektierende Arbeit mit dem Portfolio ab- geschlossen sein und die Fallvorstellung in der Projektgruppe stattgefunden haben sollte. Die gesamte Durchführung der Interviews fand im Zeitraum von November 2002 bis Juni 2004 statt.

3.2 Durchführung des narrativen Interviews

Fast jedes narrative Interview weist nach Schütze (1987) in seinem Ablauf die folgende Grundstruktur in fünf Schritten auf: Definition des Erzählgegenstandes (1), Stimulierung der Erzählung (2), Durchführung der Haupterzählung (3), Nachfrageteil (4) und Abschluss mit Bewertung (5). Diese fünf Schritte werden im Folgenden erklärend ausgeführt.

Nach der Definition des Erzählgegenstandes (1), d.h. nachdem den studentischen Pa- tinnen und Paten das Anliegen der Forschungsarbeit und das Thema vertraut war, wur- den sie im zweiten Schritt (2) mit folgender erzählgenerierenden Fragestellung zu einer Stegreiferzählung aufgefordert:

Du hast ein Jahr lang im Projekt K – Kinder begleiten und verstehen lernen mitgearbeitet und dabei eine Patenschaft für ein Kind übernommen. Denke bitte noch einmal zurück an deine allererste Berührung mit der Projektidee und erzähle mir von deinen Erfahrungen und Gedanken während dieser Zeit, vom ersten Moment an, über die Zeit mit deinem Kind bis heute.

(3) Für die Stegreiferzählung war wichtig, dass während des Erzählens der rote Faden aufrecht erhalten bleiben konnte, indem die Erzählung nicht durch Nachfragen unterbro- chen, sondern von der Interviewerin durch aktives Zuhören und durch stete Interessens-

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bekundungen unterstützt wurde. Das Sprechmonopol blieb während dieser Phase aus- schließlich bei der erzählenden Person.

(4) Erst als das Ende der Geschichte durch eine Schlusskoda signalisiert wurde, war es der Interviewerin gestattet, im sich anschließenden Nachfrageteil aktiv einzugreifen und nachzufragen, mit dem Ziel, das Erzählpotenzial noch weiter auszuschöpfen und zu den intendierten subjektiven Bedeutungsstrukturen zu gelangen. Schütze (1987) unter- scheidet hierfür immanente und exmanente Nachfragen: erstere beziehen sich direkt auf das vorher Erzählte (z.B. auf Andeutungen oder Unklarheiten), exmanente Nachfragen beziehen sich dagegen auf Probleme, die vom Befragten gar nicht angesprochen wurden, die aber der interviewenden Person wichtig erscheinen. In der vorliegenden Arbeit wurden im Nachfrageteil sowohl immanente als auch aus exmanente Fragen formuliert.

(5) Die das Interview abschließende Bilanzierungsphase, welche nach Schütze dazu dient, das bisher Erzählte von den Beteiligten zusammenzufassen und zu bewerten, war so konzipiert, dass den interviewten Personen Satzanfänge mit der Bitte vorgegeben wur- den, diese spontan zu beenden. Wichtig war, die Erzählphase bewusst von dieser Bewer- tungsphase abzugrenzen, weil jeweils unterschiedliche Aspekte des subjektiven Erlebens angesprochen wurden: konkrete Episoden in den narrativen Passagen, Theorien bzw. mentale Modelle in den argumentativen Ausführungen.

Einige strukturelle und konzeptionelle Aspekte der methodischen Anlage dieser Studie erwiesen sich für die Interviewdurchführung als problematisch. Sie müssen – da sie sich insbesondere auf die Durchführung der Haupterzählung auswirken – kritisch betrachtet werden, was im Folgenden ausgeführt wird.

3.3 Berücksichtigung forschungsspezifischer struktureller und konzeptioneller Begrenzungen in der Datenerhebung

Das Gelingen narrativer Interviews basiert im Allgemeinen auf der Fremdheit zwischen in- terviewenden und interviewten Personen. Vertrautheit zwischen beiden Personen gefähr- det daher die naive Haltung bei Nachfragen. Es kann zu einem Dilemma zwischen Selbst- repräsentation des Interviewers und den Interviewerfordernissen kommen, das die inter- viewende Person z.B. mit Schonverhalten zu lösen versucht, indem sie auf Nachfragen verzichtet, die jedoch für das Kennenlernen der Lebenswelt und des Wissens der Inter- viewpartner wichtig sind.

Für diese Studie muss kritisch berücksichtigt werden, dass die studentischen Patinnen und Paten davon ausgehen konnten, ihr Wissen mit der Interviewerin aufgrund ihrer Dop- pelfunktion – Projektleiterin einerseits und Interviewerin andererseits – teilen zu können. Da der Interviewerin als Projektleiterin die reale Feldsituation bekannt war, sie die Befrag- ten während den Patenschaften durch die Begleitung in der Projektgruppe miterlebt hatte, Entwicklungsprozesse, Krisenerlebnisse und besondere Erfolge sowie patenschaftsspezi- fische Themen in der begleitenden Projektgruppe z.T. offen besprochen waren und die abgeschlossenen Patenschaften zudem durch kurze Präsentationen in der Projektgruppe vorgestellt wurden, konnten die Studierenden davon ausgehen, dass wesentliche Erleb- nisse ihrer Patenschaft der Interviewerin bereits bekannt waren. Mit wenigen Ausnahmen lagen der Projektleiterin die Portfolios bereits vor. Das so zu begründende unterstellte Mit- und Hintergrundwissen mag ein wesentlicher Grund für den Verzicht auf Detaillierungen

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Kapitel II: Forschungsverständnis und methodischer Zugang

 

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und Plausibilisierungen sein. Greifen Zugzwänge teilweise nicht, gestaltet sich die Erzäh- lung möglicherweise nur bedingt selbstläufig bzw. kann sich nicht vollkommen entfalten.

Zudem muss davon ausgegangen werden, dass die Studierenden trotz vorhandener Zugzwänge und trotz des Getriebenseins im Erzählvorgang versuchen, kritische Bemer- kungen der Interviewerin gegenüber zu vermeiden, um nicht unhöflich zu erscheinen oder mögliche Konfliktpotenziale nicht offen austragen zu müssen, aber auch um ihre weitere und von Abhängigkeit geprägte Lernsituation mit der Perspektive der anstehenden Ab- schlussprüfungen nicht zu gefährden. Aus diesem Grund darf die „kommunikative Gela- denheit von Interviewsituationen“ (Szczyrba 2003, 67) nicht unreflektiert bleiben. Affektive Reaktionen, die im gegenseitigen Kontakt zustande kommen können, müssen daher the- matisiert und analysiert werden, um mögliche Übertragungen und Gegenübertragungen nicht auszublenden. Nur so kann das Interviewgeschehen zu einem Lernprozess für beide Beteiligte werden. Diese fehlende Fremdheit bedeutet für die Auswertung des Datenmaterials

• die bewusste und kritische Thematisierung der Vertrautheit • den kritisch reflexiven Umgang mit den erhobenen Daten, insbesondere mit den Da-

tenlücken • die Berücksichtigung dieses Aspekts bei der Dateninterpretation • eine notwendige Erweiterung der Dateninhalte durch einen Nachfrageteil, der ent-

sprechend des forschungsspezifischen Bedarfs modifiziert wird • eine kompensatorische Schließung dieser Lücken, indem in der Auswertung auf zu-

sätzliche Daten – die Portfolios – zurückgegriffen wird.

3.4 Der leitfadengestützte Nachfrageteil

Das Leitfaden-Interview ist eine gängige Form qualitativer Befragung. Auf der Grundlage bisheriger Beobachtungen während der Begleitung der Projektgruppe im Verlauf des ers- ten Jahres und auf dem Hintergrund eines strukturtheoretischen Professionsverständnis- ses, wurde ein Leitfaden für den Nachfrageteil des Interviews entwickelt, der mit Detaillie- rungsfragen die aus der Sicht der Forscherin für wichtig erachteten Themen und Ereignis- se dezidiert anspricht (s. A I: A 06). Dabei ist genügend Spielraum vorhanden, aus der In- terviewsituation heraus spontan neue Fragen einzubeziehen. Die Studierenden werden gebeten, die Fragen nochmals und möglichst vertiefend bzw. ausführlicher zu beantwor- ten, auch wenn sie die je angesprochene Thematik bereits in ihrer Haupterzählung ausge- führt haben. Die Nachfragen sind auf Tiefgründigkeit ausgerichtet, d.h. es geht nicht nur um evaluative Beschreibungen und Bewertungen, sondern um selbstenthüllende Kom- mentare. Ziel ist, den Fokus der Befragten nochmals oder auch erstmalig gezielt auf ein- zelne Aspekte zu lenken und die Befragten zur detaillierenden und plausibilisierenden Darstellung und zu erweiterten Narrationen zu animieren. Zudem sollen so fehlende The- menbereiche nachgefragt werden können. Die interviewende Person drängt damit auf die Spezifikation und Präzisierung der Aussagen der Befragten.

Der Nachfrageteil in Form eines offenen Leitfadeninterviews trägt zudem dazu bei, dass durch die Anknüpfung erinnerter relevanter Themen das Wissen, das die Paten und Patinnen der Interviewerin als vermeintlich vorhandenes Mitwissen unterstellen, aufgeho- ben bzw. die Unterstellung durchbrochen wird, sodass die Befragten auch ohne Angst be-

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reits bekannte und dadurch als langweilig befürchtete Passagen nochmals möglichst ge- nau ausführen können. Die Studierenden, die ihre Erzählung nur knapp verfasst haben – entweder weil es ihnen nicht gelungen ist, von der fehlenden Fremdheit zu abstrahieren oder wegen geringerer narrativer Kompetenz – können zudem durch die strukturierenden Vorgaben des Nachfrageteils wieder an der Erzählung anknüpfen und so ihr Erzählpoten- zial erweitern. Unklarheiten aufgrund uneindeutiger Formulierungen können dabei unver- züglich angesprochen und geklärt werden. Des Weiteren baut der leitfadengestützte Nachfrageteil eine Art Gerüst für die Datenerhebung und Datenanalyse und unterstützt die Vergleichbarkeit unterschiedlicher Interviews.

3.5 Ergänzende Dokumentensichtung

Wie zuvor begründet, werden die Portfolios als ergänzende Dokumente genutzt. Diese Materialien liegen fallspezifisch unterschiedlich ausgestaltet vor. Im Rahmen der verbind- lichen Anteile sind dabei insbesondere die Förderleporellos als tabellarische Übersicht der Patenschaft im chronologischen Verlauf aller Treffen sowie die verfassten Texte zur Moti- vationsreflexion und die Tagebuchaufzeichnungen von besonderer Bedeutung. Unterstellt wird ein enger Zusammenhang zwischen der Aussagekraft der Dokumente und seiner Au- thentizität und Glaubwürdigkeit (vgl. Wolff 2000, 504). Die Portfolios werden nicht als ei- genständige Datenebene herangezogen und damit auch nicht gesondert ausgewertet. Sie übernehmen vielmehr als Quellen im Hinblick auf die analysierten Erzählungen lediglich ergänzende, konkretisierende und belegende Funktion mit dem Ziel, zu einem vertiefen- den bzw. erweiternden Verständnis zu gelangen. Denn durch die Hinzunahme dieser Do- kumente können fehlende Datenangaben in den erzählenden Ausführungen ergänzt und die rekonstruktive Sicht um die damals zeitnahe Erlebensdokumentation konkretisiert bzw. erweitert werden.48

4 Methodisches Vorgehen in der Datenauswertung

4.1 Aufbereitung des Datenmaterials und Datendarbietung

Von allen Interviews wurden Audioaufnahmen angefertigt. Für die Übertragung in eine entsprechende Textstruktur wurden sie vollständig transkribiert und das zeitgebundene Gesprächsverhalten wurde so in zeitentbundene visuelle Produkte überführt (vgl. Kowa/ O’Connell 2000, 440). Die Transkription bedeutet eine starke Reduktion der reichhaltigen Primär- und Sekundärdaten. Um die verschiedenen Elemente der gesprochenen Sprache in verschriftlichter Form möglichst authentisch in Text abzubilden und um „das flüchtige Gesprächsverhalten für wissenschaftliche Analysen (…) dauerhaft verfügbar zu machen“ (ebd., 438), ist ein entsprechendes Notationssystem mit Symbolinventar nötig. Dieses äh- nelt nach Heinzel (1996) einer Übersetzung und ist mit einer Notation vergleichbar, die

48 Die relevanten Dokumente bzw. deren Auszüge, die zur kompensatorischen Schließung der Datenlücken herangezogen werden, sind im Anhang II einzusehen.

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über „eine rein textuell zentrierte Abschrift“ hinausgeht (ebd., 54). Die Tonbandaufzeich- nungen wurden dafür mehrfach angehört, um so die Zuverlässigkeit der Transkription zu kontrollieren und sukzessiv zu verbessern.

Das Design des Notationssystems, das von dem Ziel und der Gestalt der Gespräche abhängig ist, stellt die Grundlage für die spätere Analyse dar. Da es sich bei der vorlie- genden Studie um die Verschriftlichung narrativer Interviews in Zweiergesprächen han- delt, kommen gleichzeitig einsetzende Gesprächsbeiträge kaum vor. Eine Partitur- schreibweise (vgl. Ehlich/Rehbein 1979) wird somit nicht benötigt. Als Transkriptionsver- fahren ist die Textnotation im Transkriptionsformat der Zeilenschreibweise angemessen, das die räumliche Anordnung und zeitliche Abfolge von Gesprächsbeiträgen dokumen- tiert.

Die gewählten Repräsentationen sollen zugänglich und leicht lesbar und nicht durch Notationsfülle und formale Komplexität überfrachtet sein – dieses Kriterium bestimmt im Wesentlichen die Auswahl der Notationszeichen. Für die Zusammenstellung des Notati- onssystems werden kontextuelle Daten in Anlehnung an Rosenthal (1995) und in Ergän- zung durch Einzelregularien von Ralf Bohnsack (2000) aufgenommen (s. A I: A 07).

4.2 Auswertung der Narrativen Interviews

Im Rahmen der vorliegenden Studie werden in der rekonstruktiven Betrachtung einzelner Fälle die individuellen Erfahrungen und Erlebnisse in ihrer Aufschichtung und Sinngebung betrachtet und die individuellen Lernwege in der analytischen Betrachtung nachgezeich- net. Nach Schütze (1987) lässt sich das Handeln eines Individuums nur verstehen, wenn dem Prozesscharakter der Erfahrungsgewinnung und -verarbeitung methodisch Rech- nung getragen wird. Hierfür wird das Datenmaterial in folgenden Schritten systematisch narrationsstrukturell analysiert:

• Formale Textanalyse • Strukturelle inhaltliche Beschreibung • Analytische Abstraktion • Wissensanalyse • Fallkontrastierung und theoretische Modellbildung

4.2.1 Formale Textanalyse

Zunächst wird das textuelle Erscheinungsbild im Hinblick auf die verwendeten Textsorten Erzählung, Beschreibung und Argumentation in ihrer Abfolge betrachtet. Die eindeutig narrativen Textpassagen werden von den nicht-narrativen unterschieden. So erfolgt eine erste Grobsegmentierung unterschiedlicher Darstellungseinheiten, deren Beginn bzw. Ab- schluss durch sogenannte Rahmenschaltelemente, wie z.B. durch „dann“, „weil“ etc., er- kennbar ist. Die quantitative Bestimmung der unterschiedlichen Textsorten zeigt die Aus- prägung des Erzählflusses und der emotionalen Beteiligung. Sie ist erforderlich, um bei der Interpretation zu wissen, woher die Information stammt – ob aus einer bewertenden Sicht, also reflektiert, oder ob sie aus dem Damals nacherlebend erzählt wird und damit als nicht reflektiert, d.h. bewertungsfrei einzuschätzen ist.

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72 4.2.2 Strukturell-inhaltliche Beschreibung

Nach der formalen Textanalyse folgt die strukturell-inhaltliche Beschreibung. In diesem Analyseschritt wird die Segmentierung betrachtet. Zur Orientierung dienen inhaltlich ge- schlossene Gedankengänge und klare Wendungen in der Erzählung. Größere Sinnzu- sammenhänge werden mit suprasegmentalen Markierern gekennzeichnet (wie z.B. das einführende „also“). Diese sind für den Zuhörer ein Hinweis darauf, dass der Erzähler ei- nen größeren Gliederungszusammenhang mit mehreren Segmenten darstellen und dabei eine bestimmte Haltung zum Geschehensablauf einnehmen wird. Gegenüber dem übri- gen Text bilden sie einen inhaltlich klar abgrenzbaren Erzählzusammenhang. Die einzel- nen Segmente deutet die erzählende Person abgrenzend durch sogenannte Rahmen- schaltelemente und am Abschluss mit einer Erzählkoda an.49 Herausgearbeitet und be- schrieben werden Situationen und Prozesse, wie z.B. Höhepunkterlebnisse, Ereignisver- strickungen und dramatische Wendepunkte. Wichtig ist dabei, dass für die inhaltliche Be- schreibung bewusst eine phänomennahe Sprache benutzt wird, um eine vorschnelle und bewertenden Kategorisierung zu vermeiden und das Gesagte möglichst vollständig aus- schöpfen zu können.

Die unterschiedlichen, voneinander abgegrenzten Erzählketten werden im Hinblick auf die Relevanz der jeweiligen Passagen für die Gesamterzählung betrachtet. Die den ein- zelnen Passagen zugeschriebene Relevanz hängt davon ab, inwiefern sich diese vom üb- rigen Text in ihren Ausdrucksmitteln unterscheidet und nicht als eigener Erzählstil des In- terviewten identifiziert wird. Die einzelnen Textsegmente werden in dieser Arbeit zur bes- seren Übersicht im Anhang in tabellarischer Form dargestellt (s. A II).

4.2.3 Analytische Abstraktion

Im dritten Schritt der Auswertung werden die beschriebenen einzelnen Abschnitte von den Details gelöst und die abstrahierten Strukturaussagen aufeinander bezogen. Auf der Grundlage der Abfolge der erfahrungsdominanten Prozessstrukturen wird der wesentliche Ereignisablauf dargestellt. An dieser Stelle der Auswertung fließen die Daten aus den ge- sichteten Portfolio-Dokumenten als Feld-Notizen aus der erlebten und reflektierten Praxis- erfahrung mit ein.

4.2.4 Wissensanalyse

Nachdem der wesentliche Ereignisablauf ermittelt und die Erfahrungsaufschichtung auf- gezeigt ist, erfolgt die Wissensanalyse. Dabei werden die argumentativen und eigentheo- retischen Einlassungen der erzählenden Personen zu ihrer Geschichte und zu ihrer Identi- tät fokussiert. Die formulierten Gedanken, Argumentationen, Hintergründe, Einstellungen, Erklärungen, theoretischen Anschlüsse oder Bezugnahmen, die in den erzählten Ge- schichten über die Darstellung der Geschehnisse und Ereignisabfolgen hinausgehen, sind sogenannte argumentative und eigentheoretische Einlassungen (Schütze 1987). Sie wer-

49 Beachtet werden auch formale Binnenindikatoren wie Verknüpfungselemente zwischen den Er- eignisdarstellungen (dann, weil, aber etc.), Markierer des Zeitflusses (noch, und dann, plötzlich, damals etc.), Markierer mangelnder Plausibilisierung und notwendige Zusatzdetaillierungen (Verzögerungen, Selbstkorrekturen, plötzliches Absinken des Narrationsgrades).

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den im Hinblick auf die Orientierungs-, Deutungs-, Legitimations-, Ausblendungs- oder Verdrängungsfunktion hin betrachtet.

4.2.5 Fallkontrastierung und theoretische Modellbildung

Für die Fallkontrastierung werden in dieser Arbeit drei analysierte Interviewtexte mitein- ander in Beziehung gesetzt. Dabei werden Kategorien entwickelt und Einsichten gewon- nen, die eine theoretische Modellbildung ermöglichen und zugleich den im Datenmaterial repräsentierten sozialen Prozessen Rechnung tragen. Abschließend werden die empi- risch gewonnenen Kategorien, die für die Forschungsfragen relevant sind, aufeinander bezogen. Das Ergebnis bilden Prozessmodelle von Lernverläufen im Hinblick auf die spe- zifischen Anforderungen und Herausforderungen professionellen Lehrerhandelns.

Da die eigentheoretischen und argumentativen Einlassungen reflexive Anteile darstel- len (Heinzel/Brencher 2008), die auch darüber Aufschluss geben, ob und inwiefern die Erzählenden ihre Erfahrungen bearbeiten bzw. bearbeitet haben, und da Reflexivität im Hinblick auf professionelles Lehrerhandeln von zentraler Bedeutung ist, wird die Betrach- tung reflexiver Erfahrungsbearbeitung im Rahmen einer erweiterten Wissensanalyse in dieser Arbeit besonders gewichtet und im Folgenden ausführlich dargestellt.

4.2.6 Betrachtung reflexiver Erfahrungsbearbeitung

Die eigentheoretischen und argumentativen Einlassungen werden im Rahmen der Wis- sensanalyse in Anlehnung an das von Heinzel/Brencher (2008) entwickelte Modell zur Reflexionstiefe50 auf folgende Reflexionsaspekte betrachtet:

• Selbstbezogene reflexive Anteile – Bezug auf die eigene Person (SB) • Fremdbezogene reflexive Anteile – Bezug auf das oder den anderen (FB) • Bewertende Stellungnahmen (BSt) • Herstellen von weiteren Anschlüssen und Bezügen (A&B) • Entwicklung eigener Fragestellungen (F)

In Anlehnung an Tiefel (2004, 251) werden die Texte zudem im Hinblick auf die Wahr- nehmungsperspektive und den Reflexionsfokus gelesen (RF).51

Selbstbezügliche Reflexionen sind Äußerungen, die die eigenen Gedanken, Vermu- tungen, Gefühle, aber auch Zweifel und Irritationen ansprechen, die u.U. auch begrün- dend ausgeführt werden. Auch mögliche Handlungsalternativen, die angedacht und ggf. in ihren Vor- und Nachteilen diskutiert werden, stellen selbstbezügliche Reflexionen dar. Kennzeichnend sind u.a. formulierte Erkenntnisse, wie z.B. „da habe ich gemerkt“ oder „da wurde mir bewusst“. Aus ihnen können sich weiterführende Fragen oder Handlungs- konsequenzen ergeben. Auch die kritische Betrachtung der eigenen Wahrnehmung ist ein weiterer Hinweis auf die Reflexionen, die sich auf die eigene Person beziehen. Dazu ge-hören neben der selbsteinschätzenden Darstellung der eigenen Stärken und Schwächen auch die Beschreibung des eigenen Handelns, das rückblickend u.U. als fehlerhaft er-

50 Heinzel/Brencher entwerfen das Modell auf Grundlage ausgewerteter Lerntagebücher von Stu- dierenden.

51 Eine tabellarische Zusammenstellung dieser unterschiedlichen Reflexionsaspekte ist im Anhang einzusehen (s. A I: A 08).

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kannt wird sowie die rückblickend kritisch analysierende Benennung der Handlungszu- sammenhänge und situativen Bedingungen.

Die fremdbezüglichen reflexiven Anteile zeigen sich u.a. darin, dass Aussagen durch detaillierte Beobachtungen belegt werden und die emotionale Beteiligung weiterführende Gedanken bewirkt. Werden weitere Vermutungen ausgedrückt und werden fremdbezoge- ne Beobachtungen mit bisherigen Erfahrungen abgeglichen bzw. in Beziehung zu ande- ren Wissensbeständen gesetzt, verweist dies ebenfalls auf fremdbezogene Reflexionsan- teile. Auch die prozessorientierten Darstellungen, die Entwicklungen, die Formulierung ei- gener Erklärungsansätze und Eigentheorien als Verstehensversuche in der reflexiven Aus- einandersetzung mit dem anderen werden als fremdbezogene Reflexionsanteile gelesen.

Bewertende Stellungnahmen oder Beurteilungssätze bringen Absichten und Gefühle des Geschichtenträgers zum Ausdruck und gehören nach Schütze (1987) zu den Mitteln der Erzählsegmentierung. Als Bilanzierungen, Beurteilungen und evaluative Kommentare gliedern sie die erzählte Erfahrungsaufschichtung und können Erzählsequenzen einleiten oder beenden. Wenn sie ein neues Erzählsegment einleiten, haben sie Ankündigungs- funktion und „orientieren den Zuhörer hin auf die Erfahrungsqualität und Zustandsweise des künftigen Geschehens“ (ebd., 116). Schließen sie Erzählsegmente ab, übernehmen sie eine evaluative Funktion. Evaluative Kommentare können sich auf das Gesamtergeb- nis des Ereignisablaufes eines Erzählsegments beziehen oder auf ergänzende Detaillie- rungen. Abschlusskommentare können aber auch Selbstbeschwichtigungscharakter ha- ben, auf das innere Zerstrittensein verweisen und das Argumentieren der Geschichtenträ- ger ausdrücken. Meist werden sie am Ende von Erzählsequenzen formuliert und sind nach Schütze häufig „indirekte Vorankündigungen von kommenden Komplikationen im Geschichtenablauf (ebd., 107). Knappe evaluative Kommentare kennzeichnen als Hal- tungsmarkierer die veränderte Erlebnisperspektive und Haltung der Geschichtenträgerin zum Geschehen. Formulierungen wie „glücklicherweise“, „dummerweise“ oder „dann wur- de es schwierig“ unterstreichen, dass sich die erzählende Person auf eine neue Erfah- rungsperspektive einließ, „die bei hinreichend nachhaltigem Erleben des damals neuarti- gen Ereignisablaufs und dessen Reflexion zu einer bewertenden und theoretischen Hal- tung zum Geschehen führen musste, wie sie der heutigen Erzählhaltung für den entspre- chenden Darstellungsabschnitt entspricht“ (ebd., 114).

Für die reflexive Bearbeitung individueller Erfahrungen ist auch das Herstellen von wei- teren Anschlüssen und Bezügen bedeutsam. Aus diesem Grund werden die Aussagen der erzählenden Personen auch daraufhin betrachtet, ob theoretische Anschlüsse zur Fundierung hergestellt und inwieweit diese konkretisiert und detailliert ausgeführt werden, z.B. durch die Nennung von Autoren, Titelangaben o.ä. Im Hinblick auf die Professionali- sierungsbestrebungen ist es zudem interessant, ob die Studierenden in ihren Erzählungen Bezüge zur Schulpraxis herstellen, ihre Erfahrungen im Kontext universitärer Ausbildung betrachten oder auf andere, für sie relevante und anschlussfähige Seminarveranstaltun- gen, insbesondere auf die Begleitveranstaltungen des Projekts, verweisen.

Die eigentheoretischen argumentativen Einlassungen werden zudem auf Fragestellun- gen hin gelesen, mit denen sich die Studierenden während der Projektmitarbeit beschäf- tigten. Die Entwicklung eigener Fragestellungen ist für das professionelle Lehrerhandeln eine wesentliche Grundlage für unterrichtende, beratende und förderdiagnostische Arbeit. Auf der Beziehungsebene unterstützen Fragen die Kontaktaufnahme, das Kennenlernen

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und die Beziehungsgestaltung. Das fragende Verhalten ist Ausgangspunkt für das Bestre- ben um zwischenmenschliches Verstehen, für den Nachvollzug individueller Lernwege und damit Basis für jegliche Lern- und Entwicklungsförderung. Es dient dabei nicht nur der Exploration und Informationserhebung und der Detaillierung von Wissen, sondern ist zu- gleich eine Voraussetzung zur Orientierung im Alltag, eine Grundlage zum Lernen und Ausgangspunkt für forschende und reflexive Prozesse. Fragen ist damit nicht nur ein Ver-halten, sondern eine im professionellen Lehrerhandeln entscheidende Haltung. Aus die- sem Grund werden die Interviews auch darauf hin betrachtet, ob Fragestellungen aufge- worfen werden und diesen erste eigene Positionen und Stellungnahmen folgen, ob diese Fragen weiterhin konkretisiert und Antworten gesucht werden und wie die Suche nach Antworten erfolgt: ob es bei eigenen Erklärungsansätzen und Vermutungen bleibt oder ob andere Personen als Experten gezielt angesprochen und befragt werden. Im Sinne des Forschenden Lernens ist auch von Interesse, ob eigene Fragestellungen zum Ausgangs- punkt für weiterführende Vorhaben werden und wie diese dann umgesetzt werden.

Abschließend wird die Wahrnehmungsperspektive und der Reflexionsfokus (Tiefel 2004, 251) bestimmt, auf die bereits im Kapitel 1.2.3.2 eingegangen wurde. Auf der Grund- lage der analysierten reflexiven Anteile werden schließlich die individuellen, fallspezifisch reflexiven Erfahrungsbearbeitungen beschrieben und kontrastiert.52

4.3 Auswahl der Interviews für den Fallvergleich

Von den 14 Lehramtsstudierenden, die bis Ende 2003 ihre Patenschaft abgeschlossen hatten, erklärten sich 13 bereit für die Durchführung eines Interviews. Von den 13 transkri- bierten Interviews bilden zehn die endgültige Datenbasis. Diese und die erfolgte Fallaus- wahl werden tabellarisch veranschaulicht (s. Tabelle auf der nächsten Seite).

Das Interview Nr. 2 wurde als Probeinterview durchgeführt und aus diesem Grund nicht in den Datenpool aufgenommen. Bei zwei weiteren Interviews (Nr. 3 und Nr. 5) lagen noch keine ergänzenden Daten in Form von Portfolios vor, sodass auch diese beiden In- terviews nicht mit in die Datenbasis aufgenommen wurden. Da die sechste Patenschaft wegen einer beginnenden therapeutischen Maßnahme für das Patenkind und dem damit verbundenen Kontaktabbruch frühzeitig beendet werden musste, wurde das Interview e- benfalls nicht in die Datenbasis aufgenommen.

Für den abschließenden Fallvergleich wurden von den zehn Interviews (Nr. 4 und Nr. 8–16) drei nach der Strategie der maximalen Kontrastierung ausgesucht. Das Auswahl- verfahren verlief sukzessiv, d.h. aus der Analyse des ersten Falles wurden Kriterien für die Auswahl der weiteren Fälle gewonnen. Die Auswahl der verschiedenen Interviews ori- entierte sich an den fallspezifischen bewertenden Stellungnahmen, die auf die individuelle Einschätzung der Patinnen und Paten hinsichtlich des Gelingens bzw. der erforderlichen Anstrengung in der Begegnung und Auseinandersetzung mit den Facetten professionellen Lehrerhandelns verweisen: vorgestellt werden eine als enttäuschend bewertete, eine als schwärmerisch begeistert zu bewertende und eine als schwierig und herausfordernd re-

52 Die Protokollierung dieses Analyseschrittes ist im Anhang am Fall Jana exemplarisch dokumen- tiert (s. A II).

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konstruierte Patenschafts- und Lernerfahrung. Die drei Typen zeigen die Heterogenität und Varianz des Untersuchungsfeldes auf. Ein weiteres Auswahlkriterium war der Zeitpunkt der Patenschaftsübernahme im Verlauf des Studiums der Patinnen und Paten. Die ausgewähl- ten Fälle bilden den Querschnitt des Lehramtsstudiums ab, in dessen Verlauf die Projekt- mitarbeit zu Beginn oder am Ende und in einem Fall in der Mitte des Studiums erfolgte.

Die erhobenen Forschungsdaten der bis 12/2003 beendeten Patenschaften

Patenschaft

Dokumentation der Patenschaft

Dauer Fall- vorstel-

lung

Port- folio

Exa- mens- arbeit

MA Ar- beit

Interview durch- geführt

am Name d.

Patin d. Paten

Erstkon- takt zum

Kind

Ende

1 Soz Sybille 2000-12 2001-06 Abschlussgespräch 2 LA Sabine 2001-05 2002-06 2002-11 x 2003-04-023 LA Maria 2001-05 2002-06 2004-05 2003-06-064 LA Wera 2001-05 2002-06 2003-03 x x 2003-09-195 LA Uta 2001-08 2002-08 - 2003-04-256 LA Judith 2001-09 2002-04 - 2003-07-107 Soz Juli Spielgr. 2002-12 2003-12-058 LA Katharina 2001-12 2003-01 2003-06 x x 2004-04-14

9 LA Bianca 2002-04 2003-05 2003-11 x 2004-02-1910 LA Nanno 2002-05 2003-07 2004-06 x x 2004-09-0211 LA Janina 2002-06 2003-07 2003-10 x x 2004-01-2312 LA Ute 2002-06 2003-07 2004-12 x 2004-08-0413 LA Anne 2002-08 2003-07 2004-07 x x 2004-08-0314 LA Jana 2002-09 2003-12 2004-07 x 2004-07-2015 LA Mara 2002-10 2003-11 2004-05 x x 2004-06-0416 LA Chris 2002-11 2003-12 2004-05 x 2004-06-14

Soz Studiengang Sozialwesen LA Lehramt Spielgr. Mitarbeit in einer Spielgruppe MA Arbeit Magisterarbeit Markierte Nummern Datenbasis für die Studie Orange markierte Zeilen Auswahl der Einzelfälle

4.4 Interpretative Forschungswerkstätten

Da die Forscherin und Interviewerin zugleich die Funktion der Leitung und der Koordination des Projekts innehatte, verfügte sie über vielfältige projekt- und patenschaftsspezifische Hintergrundinformationen. Dadurch wurden Verstehensprozesse einerseits erleichtert, an- dererseits trugen sie zusammen mit der eigenen Verstrickung in das Projektgeschehen da- zu bei, den Blick auf die Daten in der Auswertung besonders einzufärben und durch die ei- gene Perspektive zu verzerren und zu begrenzen. Zur Perspektivenerweiterung wurden während der forschenden Arbeit regelmäßig unterschiedliche Forschungs- und Interpretati- onswerkstätten besucht.

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Kapitel II: Forschungsverständnis und methodischer Zugang

 

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Die Idee der Forschungswerkstatt hat sich in der deutschen sozialwissenschaftlichen Ausbildung seit den 1980er-Jahren zunehmend etabliert (vgl. Riemann/Schütze 1987; Reim/Riemann 1997; Riemann 2005). Forschungswerkstätten zeichnen sich durch einen hohen kommunikativen Charakter aus und folgen dem Reziprozitätsprinzip, d.h. jeder ar- beitet an einer eigenen Fragestellung und partizipiert zugleich an den Projekten der ande- ren Teilnehmer. Zu nennen sind an dieser Stelle die wiederholte Teilnahme an dem ein- mal im Jahr stattfindenden Methodenworkshop, der im Zentrum für Qualitative Bildungs-, Beratungs- und Sozialforschung in Magdeburg unter Leitung von Fritz Schütze u.a. durchgeführt wurde, die Teilnahme an den jährlichen Methodenworkshops in Berlin unter der Leitung von Gerhard Riemann sowie die Teilnahme an dem Kurs zur qualitativ- hermeneutischen Sozialforschung „Interpretation und Verstehen“ im Inter-University Cen- ter in Dubrovnik. In zeitlich näheren Abständen fand zudem ein Austausch in Forschungs- kolloquien statt: in Potsdam und Kassel, geleitet von Friederike Heinzel und Annedore Prengel, und in Halle unter der Leitung von Ute Geiling. Als äußerst anregend und hilf- reich erwies sich zum einen die Arbeit im interdisziplinär ausgerichteten Promotionskolleg der Arbeitsgruppe Grundschulpädagogik, die an der Universität Kassel stattfindet und von Friederike Heinzel, Herbert Hagstedt, Norbert Kruse, Rita Wodzinsky u.a. geleitet wird, sowie das Forschungskolloquium des Mittelbaus am Fachbereich Erziehungswissen- schaft/Humanwissenschaften der Universität Kassel.

Der dynamische kommunikative Austausch über die Sachverhaltsdarstellung und die gegenseitige Darstellungskritik waren anregend und hatten „Innovationswirkung für Theo- riebildung und Verfahrensentwicklung“ (Schütze 1993, 207). Die Wirksamkeit der zentra- len Aktivitäten der Datenanalyse konnte damit gesteigert werden, denn die gemeinsame mündliche Beschreibung von Texten trägt dazu bei, dass die Darstellung facettenreicher und die analytische Abstraktion differenziert und verdichtet wird (vgl. Riemann 2005). Der Kommunikationsprozess dient zudem dazu, die Eigendynamik des Forschungsprozesses in Gang zu setzen und das systematische Ausschöpfen des Datenmaterials methodisch zu sichern. Indem Auszüge aus dem Material immer wieder vorgestellt und eigene Inter- pretationsansätze offen gelegt und zur Diskussion gestellt wurden, konnte der Interpreta- tionsprozess vielfältig perspektiviert werden. Die gemeinsame Diskussion unterstützte a- ber nicht nur die interpretative Arbeit durch Perspektivenvielfalt, sondern trug wesentlich dazu bei, das Material immer wieder auch mit der erforderlichen Distanz neu zu betrach- ten und die eigene Praxis zu befremden. Zugleich konnten die gebildeten Hypothesen fundiert abgestützt und Ergebnisse der Datenauswertung kommunikativ validiert werden.

5 Ergebnispräsentation der Fallrekonstruktionen

Im Folgenden werden drei Einzelfälle in Form von Fallportraits präsentiert. Folgende As- pekte sind gleichermaßen in allen drei Fällen zu beobachten:

• In allen drei Fällen werden gleichgeschlechtliche Begegnungen fokussiert, d.h. es handelt sich immer um eine Studentin, die eine Patenschaft für ein Mädchen über- nimmt.

• Jede der drei Patinnen setzt ihr Vorhaben der Projektmitarbeit nicht unmittelbar, son- dern erst in einem quasi „zweiten Anlauf“ um.

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Kapitel II: Forschungsverständnis und methodischer Zugang

 

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• Jede von ihnen erlebt in der Erstbegegnung mit dem Kind spontan ein sehr gutes Gefühl.

• Jede Patenschaft findet zum Zeitpunkt des Schuleintritts bzw. während des ersten Schuljahres statt.

• In jeder Patenschaft ist somit das Thema Schulanfang relevant, ebenso wie das des Übergangs und der Freizeitgestaltung von Mädchen im Grundschulalter.

Alle drei Fälle weisen eine einheitliche Grundstruktur auf, ihre inhaltliche Gliederung und die Schwerpunktsetzung orientieren sich jedoch an dem Aufbau der jeweiligen Erzählungen.

Zunächst wird jedem Fall die Begründung für die Fallauswahl vorangestellt. Die Paten- schaft wird kurz skizziert und die Geschichte der Patin zusammenfassend dargestellt. Die Erwartungen und Orientierungsmuster für die individuelle Projektmitarbeit bilden den ers- ten Teil des Fallportraits. Im zweiten Teil werden die Projekterfahrungen thematisiert und im Hinblick auf die Beziehungserfahrungen und Interaktionsdynamik, die spezifischen Rol- len-, Fremdheits- und Differenzerfahrungen, die Vermittlungsleistungen und die Konfron- tation mit antinomischen Strukturen ausgeführt. Es folgen die Darstellung der Lernerfah-rungen und Erkenntnisse sowie abschließend eine kurze Zusammenfassung mit einem Fazit.

Das originäre Datenmaterial eines jeden Falles, bestehend aus den Transkriptionstex- ten, der Kommentierung des Interviews, der tabellarisch gehaltenen Segmentierung zur inhaltlich strukturellen Beschreibung sowie den Auszüge aus den Portfolios sind in digita- lisierter Form im Anhang auf der beigefügten CD einzusehen (A II). Diese CD gliedert sich entsprechend der Fälle in drei Ordner, in welchen jeweils der fallspezifische Datenpool aufgerufen werden kann. Das Datenmaterial im Fall Bianca fällt vergleichsweise ausführ- lich aus. Es dokumentiert beispielhaft und ausführlich die Analyseschritte für die Daten- auswertung und gibt so einen Einblick in die Vorgehensweise der narrationsstrukturellen Datenauswertung. Zugleich unterstützt dies die Nachvollziehbarkeit und Überprüfbarkeit der Fallrekonstruktion und -interpretation.

Um einen besseren Überblick über die komplexen Einzelfälle zu ermöglichen, wurde zu jedem der drei Fälle eine tabellarische Zusammenfassung erstellt. Diese sind im Anhang in diesem Band einzusehen (s. A I: A 10).

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Kapitel III

Bianca, Wera und Jana

1 Bianca: „Dieses Stück weit (…) in die Welt hineinzugehen – die Angst zu verlieren“ (N 52-77)

Der vorliegende Fall zeichnet eine Erfolgsgeschichte nach, für die das Zusammenspiel von Interkulturalität und Intergenerationalität kennzeichnend ist: In der Begegnung von drei Ge- nerationen mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen ist das für jeden Protagonisten relevante Thema die Überwindung der eigenen Ängste und die Suche nach Begleitung. Im Hinblick auf pädagogisches Handeln werden in diesem Fall die Aspekte biografische Selbstvergewisserung und die Unterstützung des Aufbaus eines Arbeitsbündnisses mit dem Kind auf der Basis gelingender Beziehung zu den Eltern, insbesondere zur Mutter des Pa- tenkindes, aufgezeigt. Pädagogische Förderung und Begleitung gelingt durch gemeinsame Vermittlungs- und Aushandlungsprozesse von Pädagogin, Mutter und Kind.

1.1 Patenschaftsportrait

In diesem Fall treten folgende Personen namentlich auf:

Bianca Patin Eila Patenkind Sybel Mutter von Eila Ada Kind aus Biancas Nachbarschaft Emi Eilas Cousine

Die Patin Bianca wird 1959 geboren und wächst in einem kleinen Dorf auf. Nachdem sie einen Beruf erlernt hat, legt sie über den zweiten Bildungsweg ihr Abitur ab und beginnt 2001 – inzwischen verheiratet und Mutter zweier erwachsener Söhne (geboren 1982 und 1984) – mit 41 Jahren das Studium für das Grundschullehramt. Sie trennt sich von ihrem Mann und zieht in eine eigene Wohnung, in welcher sie ein Zimmer an eine andere Stu- dentin vermietet. Nachdem Bianca ihr Blockpraktikum abgeschlossen hat, nimmt sie von April 2002 bis Mai 2003 an dem Projekt K teil. Zu Beginn der Projektmitarbeit ist Bianca 43 Jahre alt und im 3. bzw. 4. Semester. Sie übernimmt eine Patenschaft für das türki- sche Grundschulkind Eila.

Das Patenkind Eila wurde 1995 in Kassel geboren und ist zu Beginn der Patenschaft sechs Jahre alt. Eila hat zwei Brüder, die zwei und vier Jahre jünger sind als sie. Sie wächst zweisprachig auf. In der Familie wird fast ausschließlich Türkisch gesprochen. Eila besucht zu Beginn der Patenschaft die erste Klasse einer Kasseler Regelgrundschule.

Als Begründung für den Vorschlag einer patenschaftlichen Begleitung wird von der Er- ziehungsberatungsstelle Eilas Schüchternheit angegeben. In den ersten telefonischen

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Kapitel III: Bianca

 

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Planungsgesprächen und in einer Teamsitzung im Familienberatungszentrum führt eine Therapeutin Kontaktprobleme in der Schule an. Eila hat nach ihrer Aussage kaum Freun- de und zu Hause ist das Geschwisterverhältnis durch Rivalität geprägt: Sie wird, so die Therapeutin, von den Brüdern weggedrängt und lehnt es ab, diese zu betreuen.

Wegen ihrer feinmotorischen Schwierigkeiten wird Eila zu diesem Zeitpunkt auch ergo- therapeutisch gefördert.

Im Rahmen der Patenschaft nimmt Bianca den ersten Kontakt zu ihrem Patenkind An- fang April 2002 auf. Es folgen insgesamt 42 Treffen.

Zum Zeitpunkt des Interviews ist die Patenschaft fast ein Jahr beendet und Bianca be- findet sich im sechsten Semester. Der Kontakt zu Eila und ihrer Familie besteht immer noch, wenn auch unregelmäßig.

1.2 Biancas Geschichte

Bianca erzählt eine Geschichte des Wachsens oder des Erwachsen-Werdens von Frauen und Mädchen in unterschiedlichen Bezügen. Dafür sind Anstrengungen, wie die Überwin- dung von Ängsten oder Prozesse der Loslösung und Neu-Orientierung erforderlich. Es handelt sich jedoch nicht nur um die Geschichte einer wachsenden Beziehung zwischen einer Studentin und einem Kind, sondern auch um eine Geschichte der Auseinanderset- zung mit Fremdheit in unterschiedlichen Facetten: in der Begegnung mit einer fremden Kultur, in der Interaktion und Kommunikation mit fremden Menschen, im Umgang mit Grenzen und Begrenzungen und in der Auseinandersetzung mit der eigenen Person.

Die Themen „Loslösung“, „Neu-Orientierung“ und „Selbstständigkeit“ werden in der Geschichte aus der Sicht von drei Generationen unterschiedlich perspektiviert und aufge- schichtet. Jede der drei Hauptprotagonistinnen – Bianca, Eila und deren Mutter Sybel – sieht sich herausgefordert, die eigenen Ängste zu überwinden und „dieses Stück weit (…) in die Welt hineinzugehen“ (N 52)53 : Eila, die gerade in die Schule gekommen ist, muss lernen, den Schulweg allein zu gehen, ihre Mutter Sybel stellt sich durch einen gemein- samen Ausflug der Herausforderung, neue Wege zu erproben, um mobiler und unabhän- giger zu werden und Bianca will sich privat und beruflich neu orientieren. Bestrebt, ihr Le- ben neu zu ordnen, sucht Bianca über den zweiten Bildungsweg neue Gestaltungsmög- lichkeiten und Perspektiven. Es geht ihr darum, sich durch die interaktiven und kommuni- kativen Begegnungen im Umgang mit Fremdheiten und Ungewissheiten zu erproben, sich den vielfältigen Herausforderungen zu stellen und Grenzen zu erfahren.

In ihrer Geschichte spricht Bianca vielfältige Differenzerfahrungen an und zeigt zahlrei- che und variierende Vermittlungsleistungen auf. Die Geschichte spielt an unterschiedli- chen Orten und in unterschiedlichen Räumen, zunächst in der Welt des Kindes, dann in der Öffentlichkeit und schließlich in Biancas Welt. Auf diesem Hintergrund ist die Bezie- hungsgeschichte der Patenschaft auch eine Geschichte der Erschließung von Welten, neuen Räumen und neuen Möglichkeiten. Dabei sind zahlreiche Akteure unterschiedlich

53 N steht für den Nachfrageteil, der nach der beendeten Stegreiferzählung den zweiten Teil des Interviews bildet. Die folgende Zahl verweist auf die entsprechende Zeilennummer. Zitate, die aus der Stegreiferzählung entnommen sind, werden nur mit der Zeilennummer, Zitate aus dem Portfolio werden mit dem Kürzel PF und der folgenden Seitenangabe angegeben.

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Kapitel III: Bianca

 

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aktiv involviert. Neben der Erzählerin und Geschichtenträgerin Bianca treten als zentrale Personen das Patenkind Eila und ihre Mutter sowie die Mädchen Ada – ein Mädchen aus Biancas Nachbarschaft – und Eilas Cousine Emi in Erscheinung, welche die Funktion ei- nes signifikant anderen54 (Mead 1968) übernehmen. Andere Personen werden weniger ausführlich eingeführt. Sie sind als sogenannte „Expansionszapfen“ (Schütze 1987) für die Erzählerin erwähnenswert, jedoch mit nur geringem Bedeutungsgehalt.55

In ihrer Vorbemerkung kennzeichnet Bianca den Geschichtentypus und gibt damit zu verstehen, dass es sich um eine lange Geschichte handeln wird. So erhält die Zuhörerin den Hinweis, dass sie sich Zeit nehmen muss.

Untergliedert ist die Geschichte in 13 Segmente. In der Gesamtstruktur baut sie sich wie folgt auf.56 Nach einer in zwei Segmenten dargestellten Einführung beschreibt Bianca in Segment 3 und 4 die Erstbegegnung und die langsame Annäherung zwischen ihr und Eila. Im darauf folgenden Segment 5 thematisiert sie schöne Erlebnisse und wie ein „Wir“ entsteht, dessen Höhepunkt Bianca in Segment 6 ausführt. Es folgt im siebten Segment als Ereignisknoten die Darstellung des Wendepunkts in der Beziehungsgestaltung zwi- schen ihr und Eila. Nach dieser entscheidenden Klärung erzählt Bianca in Segment 8 und 9 von weiteren schönen und mit Freundinnen gemeinsam erlebten Vorkommnissen. Das Ende der Patenschaft, das als Fest und Familienzusammenführung entfaltet wird, ist das Thema des 10. Segments, bevor Bianca in den abschließenden drei Segmenten den Be- zug zur Gegenwart herstellt und mit einen Ausblick in die Zukunft ihre Geschichte been- det. In den letzten beiden Segmenten ihrer Geschichte nimmt Bianca zusammenfassend, ergebnissichernd und bewertend Stellung zum Gesamtablauf ihrer Geschichte. Dies ge- schieht im Hinblick auf alle drei Protagonistinnen der Geschichte.

1.3 Erwartungen und Orientierungsmuster für die Projektmitarbeit: Sich erproben und reflektieren können und dabei „diese pädagogische Begleitung zu haben“ (58)

Zentrales Thema des vorliegenden Falls ist die reflexive Selbstvergewisserung und Identi- tätsfindung der Patin auf dem Weg in die pädagogische Praxis.

Da Bianca die relevanten Teilaspekte bereits in der Eröffnung ihrer Eingangserzählung nennt, wird diese Passage der Erzählung im Folgenden zitiert:

A l s o die Idee, die ist mir also die habe ich kennen gelernt in einem (…) Seminar in einem Wochenendseminar mit der Frau M. (hm) Da hattest d u, also sie hatte dich quasi vorge- stellt, und du hattest dann das Projekt in der Veranstaltung vorgestellt. Und für mich war völ- lig klar, ehm wenn ich mit Kindern in der Grundschule arbeiten will, ist es für mich der beste Einstieg >da ich auch schon etwas älter bin< diesen Kontakt zu den Kindern zu kriegen (hm) und ehm mich quasi von dieser universitären Seite >weil es ist ja nicht nur einfach spielen

54 „Signifikant andere“ sind Menschen, die in der Sozialisation Bedeutung gewinnen und einen prägenden Einfluss auf den Einzelnen dadurch ausüben, dass ihre Rollen, Werte etc. internali- siert werden. Merkmale eines „signifikant anderen“ können emotionale Besetzung, permanente Interaktion, aber auch Machtgefälle sein.

55 Eine tabellarische Übersicht aller in der Geschichte erwähnten Personen befindet sich im An- hang II.

56 Die inhaltlich-strukturelle Beschreibung der einzelnen Segmente kann im Anhang (s. CD) in zwei Versionen eingesehen werden: überblickartig in tabellarischer Form und zur Nachvollzieh- barkeit der Interpretationen bei diesem Fall ausführlich detailliert in Textform.

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mit den Kindern< sondern auf diese pädagogische Ebene ehm mit einem Kind schon mal auseinander zusetzen. So also diese Praxis an einem Einzelfall kennen zu lernen. Und das hat bei mir gar nicht lange gedauert, da habe ich gedacht, das möchte ich machen. Ich sah zwar im Augenblick ehm hatte ich mich noch überfordert gef-, weil es mein erstes Semester war, als ich hier war. Da hatte ich mich in dem Moment etwas überfordert gefühlt, gleich zu dir zu kommen und zu sagen: „Das will ich machen“, aber ich hab gedacht: „Wenn ich das in irgend einer Weise in mein Studium einbauen kann und ich merke, dass es passt, dann komme ich auch. Und dann mache ich das (hm). Und bin dann auch gleich nach dem Block- praktikum >es war quasi ah ich weiß gar nicht mehr< (drittes Semester ist Blockpraktikum), ja (hm) ehm ich hatte mich schon im zweiten Semester angemeldet zum Blockpraktikum und gut, dass ich es ge- gemacht hab, und dann war für mich klar, ehm dass ich gekommen bin. Äh dass ich also das Projekt machen will. Das war also ich hab da gar nicht lange gezweifelt oder so, weil ich ja auch durch meine eigene Kindheit wusste, ehm wie wichtig diese Arbeit ist. Und jetzt hatte ich halt die Möglichkeit, mich noch mal mit dem mit einem Kind auseinan- der zusetzen und dazu diese pädagogische Begleitung zu haben. Und das fand ich unheim- lich reizvoll. (hm) Einfach diesen Aspekt der Reflektion meines Handelns im im in dieser In- teraktion mit dem Kind quasi. Das war mir ehm eine Chance. (hm) Ich hab gedacht: „Eine Chance auch noch mal mein Eigenes meine eigene Person im Umgang mit Kindern zu re- flektieren.“ Das fand ich für mich einfach die, also so das waren meine Erwartungen, die ich einfach so da dran hatte (hm) (36-63).57

Nach der Projektvorstellung im Rahmen einer universitären Seminarveranstaltung bilanziert Bianca spontan die Passung des institutionellen Angebots mit ihrer eigenen Studienbiogra- fie. Auf der Grundlage ihrer biografischen Erfahrungen und ihrer derzeit aktuellen persönli- chen Lebenssituation, auf die Bianca gleich zu Beginn ihrer Erzählung mit dem Verweis auf das eigene Alter kommentierend hinweist – „da ich auch schon etwas älter bin“ (41) –, ist die Bearbeitung des Themas der Begegnung und des Umgangs mit Fremdheit zu diesem Zeitpunkt ein für sie zentrales und äußerst relevantes Anliegen. Bianca erkennt, dass sie aus der Projektmitarbeit mehrfachen Nutzen ziehen kann.

Gründe für die Entscheidung zur Projektmitarbeit

Bianca sucht intergenerative Kontakte als „Einstieg“ (40) in die Praxis. Sie hat ihr Ziel, in der Grundschule zu arbeiten, klar vor Augen. Für dieses Ziel erscheint ihr das Projektan- gebot als der bestmögliche „Einstieg“ in den späteren Berufsalltag. Aufgrund ihres eige- nen Alters befürchtet sie, dass die Begegnung durch die verstärkte Generationendifferenz erschwert sein könnte. Zwar verfügt Bianca als Mutter zweier Söhne bereits über eigene Erziehungserfahrungen, diese liegen jedoch lange zurück und werden von ihr daher infra- ge gestellt. Da sie zu Beginn ihres Studiums keine Kontakte zu Grundschulkindern von heute als die zukünftige Klientel ihres angestrebten Berufs verfügt und ihr die probehan- delnde Auseinandersetzung mit ihnen fehlt, verspricht sie sich durch die Mitarbeit im Projekt diesen unmittelbaren Kontakt zu Kindern auf institutionalisierter und dadurch legitimierter Weise. Für ihre Ausbildungskarriere, die sie bewusst und verantwortungsvoll plant, sucht Bianca auf ihrem neuen Ausbildungsweg dabei nicht das Spiel mit Kindern, sondern ist be- strebt, sich „auf diese[r] pädagogische[n] Ebene mit einem Kind schon mal auseinanderzu- setzen“ (42-44) und „die Praxis an einem Einzelfall kennenzulernen“ (44-45).

Bianca sieht die Projektmitarbeit auch als Möglichkeit, den Praxisanteil im Studium zu verstärken und pädagogisches Handeln zu erproben. Sie erlebt, dass ihr bisheriges Stu- dium von einem für sie unerwartet hohen Anteil theoretischen Lernens dominiert wurde

57 Die in Klammern angegebenen Zahlen verweisen auf die entsprechende Zeile in der Interview-

transkription.

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(vgl. N 34-35)58 . Daher sieht sie das Projektangebot als Möglichkeit „ganz konkret (…) mehr Praxis in (…) [ihr] Lehramtsstudium zu kriegen“ (N 35-36). Die von ihr gesuchte „Nä- he zum Kind, zur Familie, zu (…) [der] späteren Berufspraxis“ (N 39-40) hat sie bisher le- diglich in dem verpflichtenden Blockpraktikum im dritten Semester erfahren. Im Vergleich mit anderen universitären Veranstaltungen konnte sie in diesen zwar Praxisbezogenheit erleben, nicht aber die direkte Arbeit mit einem Kind. Eine ihrer Erwartungen an die Pro- jektmitarbeit ist aber gerade die Auseinandersetzung „mit dem mit einem Kind“ (57–58). Ihre Korrektur des bestimmten Artikels durch einen unbestimmten (dem – einem) verweist sehr früh darauf, dass es Bianca nicht nur um das fremde (Paten-)Kind geht, sondern auch um ihre eigenen Kinder, die eigenen Kindheitserinnerungen und um das eigene in- nere Kind in der erwachsenen Frau Bianca. Die Chance, das eigene Handeln und die ei- gene Person in der Interaktion mit dem Kind erproben und reflektieren zu können und da- bei „diese pädagogische Begleitung zu haben“(58), ist für sie „unheimlich reizvoll“ (59). Sie verspricht sich dadurch stabilisierende und absichernde Wirkung.

Vor diesem Hintergrund sieht Bianca das universitäre Angebot aber auch als Chance für biografische Selbstreflexion. Als sie erfährt, dass neben der pädagogischen auch eine supervisorische Begleitung angeboten wird, gibt es in ihrer Entscheidung, am Projekt teil- zunehmen, kein „Halten mehr“:

(…) als ich das natürlich erfahren habe das war für mich gar kein Halten mehr, weil das also mit einer zwei eine zweigleisige (hm) Begleitung war. Einmal diese pädagogische Begleitung durch dich und die ehm supervisorische Begleitung durch die Frau H. (hm) Also besser hätt’s hätte ich es nicht treffen können (N 23-27).

Bianca will nicht nur retrospektiv ihre früheren Fehler erkennen, sondern im gegenwärti- gen Handeln und in der konkreten Begegnung Hinweise und Anleitungen für ein pädago- gisch professionelles Handeln erhalten, dieses erproben und mögliche Korrekturen direkt umsetzen, vielleicht auch, um Fehler so wiedergutzumachen. Von der professionell gelei- teten Reflexion erhofft sie sich ein Feedback im Sinne einer analytischen Bearbeitung ih- rer Erfahrungen und sieht das Projekt als Angebot, sich ihrer eigenen zurückliegenden Erziehungsmaßnahmen als Mutter bewusst zu werden und diese zu reflektieren (vgl. N 19). Sie erhofft sich nicht nur, im Nachhinein aus der Distanz zu erfahren, was sie da- mals mit ihren Söhnen hätte besser machen können, sondern sie will auch in der aktuel- len Auseinandersetzung ihre Stärken und Schwächen erleben und reflexiv aufarbeiten, um sie für ihren angestrebten Beruf nutzbar zu machen und um möglichst professionell werden zu können. In ihrem Portfolio schreibt Bianca dazu:

Ich (…) habe bereits zwei Kinder erzogen. Dabei bin ich mir klar darüber, dass ich dies unter pädagogischen Gesichtspunkten bestimmt nicht immer zur Förderung meiner Kinder getan habe. Neben einem beruflichen Neuanfang interessiere ich mich, wie man denn nun ein Kind richtig erzieht und wie andere Möglichkeiten und Erkenntnisse von Pädagogen mir dabei hel- fen können (PF, 3, s. A II).

Sich auf die eigene Kindheit beziehend, die Bianca jedoch weder in ihrer Geschichte noch im Portfolio detaillierend entfaltet, weiß sie um die Wichtigkeit, sich mit Kindern ernsthaft auseinanderzusetzen: „weil ich ja auch durch meine eigene Kindheit wusste, ehm wie wichtig diese Arbeit ist“ (56). Ihre Geschichte verdeutlicht das Ziel, stärken und helfen und

58 Das Graphem >N< verweist auf den Nachfrageteil des Interviews.

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mit den eigenen Ängsten umgehen zu wollen. Vermutlich konnte Bianca in ihrer Kindheit auf niemanden zurückgreifen, der sie bei der Bearbeitung ihrer eigenen kindlichen Ängste unterstützte, sodass sie als angehende Lehrerin in dieser Unterstützung eine ihrer we- sentlichen zukünftigen Aufgaben sieht. Zugleich stellt sich diese damalige Angst als im- mer noch aktuell heraus. Sie ist die treibende Kraft für ihren persönlichen Lebensweg und für die aktuelle Entscheidung zur Mitarbeit im Projekt K.

1.4 Projekterfahrungen

Im Folgenden werden zunächst die fallspezifische Beziehungsgestaltung und die Interak- tionsdynamik in der Patenschaft ausgeführt. Nachgezeichnet wird der Verlauf der Bezie- hungsgestaltung zwischen Bianca und Eila. Die Öffentlichkeit und Feste sind dabei – wie sich zeigen wird – als Orte der Begegnung und Vermittlung von besonderer Bedeutung. Der Weg im Beziehungsaufbau erweist sich insbesondere am Anfang als anstrengend und mit Anspannung versehen und verläuft aus der Sicht der Patin indirekt. Die Darstel- lung der Beziehungsgestaltung und Interaktionsdynamik wird mit der Wandlung von der Patenschaft zur Partnerschaft abgeschlossen.59

1.4.1 Beziehungserfahrungen und Interaktionsdynamik: „Es gibt ja so zwei Seiten

– einmal die des Kindes und die Seite der Mutter.“ (N 62)

Bianca beschreibt einen doppelten Beziehungsstrang, den sie während der Patenschaft knüpft: den zu dem Kind und den zu dessen Mutter. Diese zwei Seiten bilden auch die un- terschiedlichen Ebenen ab, auf denen die beiden Beziehungen ge- und erlebt werden: in der Beziehung zu Eila begegnet Bianca dem Kind als Erwachsene, die aber auch mit kindlichen Anteilen reagiert und sich an die eigene Kindheit zurückerinnert. In der Bezie- hung zu Sybel findet eine Begegnung zweier Frauen in unterschiedlichem Alter und mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen statt, zugleich erinnert sich Bianca an die ei- genen, inzwischen zeitlich zurückliegenden Erfahrungen als Mutter.

In jeden der beiden, eng miteinander verstrickten Beziehungsstränge werden spezifi- sche Themen eingewoben. Die vorliegende Arbeit legt das Hauptaugenmerk auf die Be- ziehungsgestaltung zwischen der Patin Bianca und dem Patenkind, für dessen Entwick- lung jedoch, wie noch deutlich werden wird, das mütterliche Vermittlungsverhalten und die entstehende Beziehung zwischen der Patin und der Mutter des Patenkindes von beson- derer Bedeutung ist.

Verlauf der Beziehungsgestaltung zwischen Bianca und Eila

Der Verlauf der Beziehungsgestaltung zwischen Bianca und Eila erfolgt in sechs Phasen: ausgehend von der ersten Begegnung betritt Bianca in der Phase des Kennenlernens die Welt von Eila. Nach drei Monaten kommt es zu einem entscheidenden Wendepunkt, bevor sich Bianca und Eila gemeinsam auf den Weg – heraus aus der Welt des Kindes und hinein in die Öffentlichkeit – begeben. Ein gemeinsamer Familienausflug wird zu einem Höhepunkt und erweist sich als zweiter Wendepunkt. Die darauf folgende Phase beschreibt ein Pen-

59 Die tabellarische Zusammenfassung des Falls ist im Anhang einzusehen: A I: A 10 (1).

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deln zwischen den Welten von Bianca und Eila. Mit einer interkulturellen Begegnung der beiden Familien wird die Patenschaft schließlich als Fest inszeniert und in Biancas Welt be- endet.

Ausgangssituation und erste Begegnungen

Bianca lernt ihr Patenkind Eila in der Erziehungsberatungsstelle kennen. Angesprochen durch ihr äußeres Erscheinungsbild, erlebt sie das Kind in der Situation der Erstbegeg- nung schüchtern, zurückhaltend und freundlich:

(…) wie sie schüchtern in der Erziehungsberatungsstelle war, ehm die Mutter alles noch so distanziert, und ich war ganz aufgeregt, und die Frau H. hatte mir vorher erzählt, ehm (.) ich h- hab sie eigentlich gleich ins Herz geschlossen. Als ich sie da gesehen habe ehm g a n z al-, so so zurückhaltend, aber hübsch und freundlich (73-77).

Die erste Begegnung wird von antizipatorischen Erwartungen determiniert. Aufgrund ihrer bisherigen Informationen zum Projekt und den zuvor geführten Gesprächen mit der The- rapeutin der Erziehungsberatungsstelle erwartet Bianca ein hilfs- bzw. unterstützungsbe- dürftiges Kind.60 Diese Erwartung wird durch ihre Beobachtung der anwesenden Mutter, die auf sie offen, interessiert und um Hilfe suchend wirkt, bestätigt. Bianca reagiert „be- rührt“ (80) mit Gefühlen der unmittelbaren Sympathie und schließt Eila „gleich in ihr Herz“ (75-76). Die Reaktionen von Eila und deren Mutter vorwegnehmend, entwirft sie darauf abgestimmt ihren Handlungsplan (vgl. Petillon 1982): sie will helfen. Bereits hier deutet sich die Spannung von Nähe und fast vereinnahmender Zuwendung einerseits sowie dis- tanzierter Zurückhaltung andererseits als wesentliche, die Patenschaft kennzeichnende Antinomie an.

Eintritt in die Welt des Kindes

Ihre anfängliche Vorstellung über den Verlauf der Beziehungsgestaltung muss Bianca je- doch revidieren. Sie erfährt, dass ihre Gefühle, Bedürfnisse und Erwartungen nicht auf Gegenseitigkeit beruhen. Statt auch sofort von Eila akzeptiert und gemocht zu werden, er- lebt Bianca kindliche Distanz ihr gegenüber. Entgegen ihrer Erwartungen erlebt Bianca den Beginn der Beziehung zu Eila als Enttäuschung:

(…) dann ging’s eher zögerlich. Also die das Ganze ehm das Verhältnis zwischen mir und Eila startete eher zögerlich. Es war so ein l a n g s a m e s Annähern. Ehm dass ich manch- mal auch so ein bisschen enttäuscht war. Oder überlegt hab: „Was soll ich machen. Lag’s an m i r oder liegt’s mehr an i h r (83-87).

Bianca reagiert irritiert. Sie ist verunsichert und sucht nach Gründen, die sowohl auf der Seite des Kindes als auch bei ihr selbst liegen könnten, formuliert sie jedoch nicht detail- lierend aus.

In dieser Situation wendet sich Sybel, Eilas Mutter, Bianca vertrauensvoll zu und über- nimmt – wie später noch ausgeführt wird – vielfältige Vermittlungsfunktionen. Zunächst lässt sie die Patin an ihrem Alltag teilhaben. Dadurch gelingt es Bianca, Eilas Verhalten zu

60 In der Projektbeschreibung und in den Projektvorstellungen im Rahmen universitärer Veranstal- tungen wurde immer von zuwendungsbedürftigen Kindern und unterstützungsbedürftigen Fami- lien gesprochen. Aufgrund der fehlenden detaillierenden Kommentierung, die in fast allen Fällen zu meist einseitigen Interpretationen führt, muss dies kritisch gesehen werden.

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verstehen und ihre Distanz zu akzeptieren. Nachdem Sybel Bianca als Gast in die Familie und in den erweiterten familiären Kreis eingeführt hat, kann sich Eila Bianca tatsächlich langsam annähern und Vertrauen zu ihr aufbauen. Bianca gibt Eila die Chance, ihr einen Platz in ihrer Welt zuzuweisen und nimmt zurückhaltend und abwartend die Impulse und Anregungen des Kindes auf und die ihre zugewiesene Rolle als Zuschauerin an.

Die folgenden zwei Ereignisse geben dem weiteren Beziehungsverlauf zwischen Bian- ca und Eila eine entscheidende Wende. Deren besonderer Stellenwert zeigt sich auch in der Platzierung der entsprechenden Sequenzen. Es handelt sich um die Segmente sechs und sieben, die in der Mitte der Erzählung den Übergang in den zweiten Teil der Ge- schichte gestalten.

Die Unmutsäußerung im 13. Treffen – erster Wendepunkt

Während des ersten Vierteljahres arrangiert Bianca die gemeinsamen Treffen, die bei Eila stattfinden und bereitet sie vor: sie bringt Spielsachen mit und plant die Verläufe der Tref- fen. Dabei erlebt sie Eila vorwiegend in einer konsumierenden Haltung. Am 13. Treffen äußert Bianca Eila gegenüber ihre Unzufriedenheit:

(…) ich hab immer ehm Ideen in die Familie gebracht, und Eila hat quasi nur konsumiert (…), da hab ich ihr dann gesagt, dass mir das langweilig wird, (…) wenn ich immer was mit- bringe und sie ehm wenn ich sie frage, dann weiß sie nicht, was sie a- was sie machen will. Und ich fänd’s schön, wenn auch von ihr Ideen kämen. (…) das hat sie wohl doch berührt, dass ich so einen Wunsch geäußert habe, oder auch so meinen Unmut, ich habe das ganz klar gesagt, ich war auch ganz ernst, von da ab hat sich was verändert. Denn von da ab hat sie ehm selbst Ideen eingebracht (240–249).

In dieser Sequenz wird eine typische Anforderungsparadoxie des Lehrerhandelns deut- lich: einerseits werden offene Lernkontexte angestrebt, andererseits aber werden Lern- muster ergebnisorientiert vorstrukturiert. Bianca löst dieses Spannungsverhältnis, indem sie ihre Erwartungen offenlegt: sie erhofft sich Selbsttätigkeit des Patenkindes und geteilte Verantwortungsübernahme bei der Planung und Durchführung der Treffen. Ihr Wunsch, dass auch Eila initiativ wird (245), verdeutlicht, dass Bianca ein Beziehungsverhältnis an- strebt, in dem die vorhandenen Asymmetrie reduziert und Partizipation verstärkt wird. Zugleich ist diese Situation auch ein Versuch der Auflösung der vorhandenen Routinepa- radoxie. Schematische Anwendung von Routinen und eingespielte Handlungsstrukturen sind für Bianca unbefriedigend. Sie möchte die vorhandenen Routinen durchbrechen und strebt (An-)Spannung und Neues an, um Entfaltungspotenziale der Beziehung zu errei- chen. Es fällt Bianca nicht leicht, ihre eigenen Gefühle der Unzufriedenheit zu benennen, zumal sie sich zunächst erst um die Zuneigung des Kindes bemühen musste. Auf der Ba- sis ihrer bisherigen Erfahrungen und dem Gefühl zunehmender Selbstsicherheit, das sie insbesondere durch die Beziehung zu Sybel aufbauen konnte, aber auch durch die per- sönlich erreichte Grenze der Unzufriedenheit, traut sich Bianca nun, trotz der möglichen und zu befürchtenden erneuten Abwendung des Kindes, ihre persönlichen Erwartungen auszudrücken.

Diese Selbstoffenbarung ist eine entscheidende Vermittlungsleistung für die Vertrau- ensentwicklung. Vermittlung erfolgt – wie hier deutlich wird – nicht nur linear im Sinne der Vermittlung von Inhalten, Kompetenzen oder Handlungen, sondern stellt einen situativ zu gestaltenden Konstruktionsprozess dar. In diesem auf Beiderseitigkeit ausgelegten Wechselspiel geht es um die Aneignung, Übernahme oder Weitergabe bestehender kultu-

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Kapitel III: Bianca

 

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reller Werte sowie um die Erneuerung bestehender Verhältnisse durch ein Aushandeln von Bedeutungen.

Eila reagiert unmittelbar auf Biancas Wünsche und beteiligt sich im Folgenden bei der Planung und Gestaltung der gemeinsamen Treffen. Gemeinsam begeben sich Bianca und Eila nun auf den Weg heraus aus der Welt des Kindes und hinein in die Öffentlichkeit.

Ein gemeinsamer Familienausflug – Höhepunkt und zweiter Wendepunkt

Für die Umsetzung geplanter Vorhaben und „größerer Aktivitäten“ (223), die Bianca an- regt, ist sie auf die unterstützende Mitarbeit der Mutter angewiesen. Nachdem ihre Vor- schläge mehrmals nicht angenommen wurden, stimmt Sybel schließlich einem gemein- samen Ausflug mit den Kindern zu. Bei diesem übernimmt Sybel als wenig routinierte Au- tofahrerin die Fahrt im VW-Bus der Familie und Bianca agiert als Beifahrerin. Dieser ge- meinsame „Familienausflug mit Frauen und Kindern“ (227-228) ist von zentraler Bedeu- tung für die Beziehungsgestaltung zwischen Bianca und Eila. Er ist im Hinblick auf die Ver- trauensbildung und die Vermittlungsleistungen ein wichtiger Ereignisknoten und Wende- punkt:

Ja dann hatte ich es mit der Mutter endlich geschafft, ehm also wenn wir größere Aktivitäten vornehmen wollten, (hm) die ich in die Familie brachte, dann hab konnte ich die am besten umsetzten, wenn ich die mit der Mutter umgesetzt habe. (hm) Also ehm hab ich dann mit der Mutter quasi beschlossen, nach drei nach drei von meinen Anläufen äh in diesen Zoo Ram- melsberg zu fahren. Das war dann ein Familienausflug mit Frauen (hm) und Kindern, es war herrlich, es hat uns allen v i e l Spaß gemacht. (hm) Ehm die Mutter ist also mit dem Wagen gefahren, und wir sind saßen dann alle in dem Wagen von der Familie drin und sind dann da hoch gefahren, (…) für die Mutter, die nicht so äh geübt ist, war das auch eine Her- ausforderung, aber sie hat das wunderbar gemeistert. Also das, das war ehm ging also wunderbar, sie hat sich das auch gar nicht anmerken lassen, dass das >schwierig< war (la- chen), ehm jedenfalls haben die Kinder unheimlich Spaß dabei gehabt. Das war das erste Mal, dass Eila dann mir in die Arme geflogen hat ist zum Schluss äh und sich bedankt hat für den schönen Tag. Sie hätte am Anfang nicht gedacht, dass das so schön werden würde. Ne >so ehm ging das dann<. Und das hat mich natürlich sehr gefreut (222-238).

Dieses Erlebnis erfährt Bianca als persönlichen Erfolg, was sie einleitend mit dem Wort „geschafft“ zum Ausdruck bringt. Der Erfolg bezieht sich zunächst auf die Beziehung zu Sybel und auf das Ergebnis ihrer Bemühungen, sie zu einem gemeinsamen Ausflug be- wegt zu haben.

Das Wort „schaffen“ verweist aber nicht nur auf das „Gelingen“, sondern ist auch im Sinne von „bewältigen“ zu verstehen. Bianca und Sybel bewältigen gemeinsam die ange- spannte Autofahrt. Diese Fahrt verweist sinnbildlich auf den emanzipatorischen Weg, den beide Frauen in die Selbstständigkeit und Autonomie einschlagen. Sie ist für Bianca ein zentrales Erlebnis, weil es ihr darüber hinaus die Erfahrungen der familiären Nähe und Zugehörigkeit ermöglicht. Im begrenzten Raum des Autos – „wir saßen dann alle in dem Wagen“ (229) – wird das entstehende „Wir“ entscheidend verdichtet und Eila kann erle- ben, dass Bianca ihre Mutter unterstützt, ihr nahe ist und auch gemeinsam mit ihr Verant- wortung für die Situation der Autofahrt übernimmt. Darauf reagiert sie nach beendeter Fahrt und wendet sich Bianca überraschend spontan, erleichtert und ungewohnt direkt und unvermittelt zu. In ihrer herzlichen Reaktion scheut Eila keinen Körperkontakt. Bianca fühlt sich sowohl in ihrer Anstrengung als auch in ihrer zurückhaltenden Ausdauer bestä- tigt. Endlich erlebt sie die Nähe und Vertrautheit zwischen ihr und Eila, die sie anfänglich so vermisst hat – sie hat es „geschafft“.

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Kapitel III: Bianca

 

88 Pendelnd zwischen den Welten zu dritt auf dem Weg in Biancas Welt

Nachdem Bianca Eintritt in Eilas Welt erhalten, Eila zu ihr Vertrauen gefasst hat und sie auch gemeinsam erste Schritte in die Öffentlichkeit unternehmen konnten, erfolgt eine Annäherung an Biancas Welt. Es beginnt ein Pendeln zwischen den Welten. Dabei über- nimmt Ada, ein Kind aus Biancas Nachbarschaft, eine wichtige Funktion. Als kindliche Verstärkung betritt sie gemeinsam mit Bianca Eilas Welt und lädt sie zu einem Besuch in Biancas Welt ein.

Die gemeinsamen Unternehmungen mit Ada verdichten das Vertrauen in der Bezie- hung zwischen Bianca und Eila und lassen zudem eine neue Mädchenfreundschaft ent- stehen, ganz im Sinne der ursprünglichen Zielsetzung der fördernden Begleitung.

Bianca fühlt sich mit ihrem Engagement am Ziel. Sie sieht den Abschluss des Weges im Hinblick auf den Prozess der Beziehungsgestaltung und der gemeinsamen Annäherung sowie im Hinblick auf ihre eigene Zielsetzung: Sie konnte helfen. Eila hat Vertrauen zu ihr gefasst und durch sie eine Freundin gefunden. Vertrauen und Freunde sind in Biancas Fazit die Basis für den weiteren gemeinsamen Weg, den sie positiv und chancenreich perspekti- viert und dabei die ihr inzwischen bekannten kindlichen Stärken und Schwächen berück- sichtigt.

(…) sie hat jetzt eine Freundin, und da kommt ein, also da hätten wir ganz viel machen kön- nen. Wenn wir jetzt noch ein Jahr weiter gemacht hätten, da hätten wir Fahrradtouren ma- chen können, also äh an an der Fulda lang so, (…) so mit durch die Stadt fahren war Eila noch zu unsicher<, aber so an der Fulda lang, also solche Sachen, da hatten wir auch so >Phantasien, was wir noch alles hätten machen, Schwimmbad so etwas hatten wir nicht, haben wir nicht gemacht. Aber das hätten wir auch noch gerne gemacht. Und dann hätten wir das mit Ada gem-, also gab’s dann so (hm) so Gedanken, die wir weiter gesponnen ha- ben, und das wäre auch so gekommen (372-380).

Interkulturelle Begegnung zum Abschluss der Patenschaft in Biancas Welt

Zum Abschluss der Patenschaft kommt eine gemeinsame Begegnung aller in der Geschich- te Beteiligten in Biancas Welt zustande. Bianca lädt ihren Mann und ihre Söhne, ihre Freundin, Ada, Eila, deren Brüder und Sybel zu ihrem Geburtstag in ihre Wohnung ein. In ihrer Geschichte zeichnet sie das folgende Bild einer spielerischen interkulturellen und in- tergenerationellen Vereinigung:

Ende Mai war dann das Abschlussfest. Da habe ich quasi meinen Geburtstag (…) dann ha- ben wir halt meinen Geburtstag am einunddreißigsten Mai haben wir so als Abschlussfest wirklich für unser Abschlussfest für das Projekt ehm so gehabt, und das war auch ganz schön. Also die Mutter hat die drei Kinder mitgebracht und Emi war auch noch dabei, die war halt zufällig auch noch da, dann hatte ich noch eine Freundin eingeladen, mein Mann und meine Söhne waren da, das fand ich ganz ehm ganz interessant, weil die Mutter ja sonst auch immer zu Hause war, so ganz wenig auch noch draußen ist, ja klar so zu öffentlichen Stellen gegangen ist, (hm) das schon, Kindergarten, Stadt und so, aber so Kontakt ehm zu Freunden, zu deutschen Freunden auch hatte sie auch nicht, ne. Und nun ist sie da gekom- men, (…) >hat sie sich natürlich verhüllt< aber es war gut. Also (…) ich hab Spiele vorberei- tet, und nun hat es geregnet, und dann mussten wir alle Spiele drinnen machen, >aber es war für die Kinder einfach toll< ich hab dann so ein Löwenspiel,(…) da musste man dem Löwen dann immer ehm so ehm irgendwelche Bälle (…) ins (hm) Maul ins Maul rein werfen, so etwas hatte ich gebastelt. Und wir saßen zum Schluss alle auf dem Fußboden und haben ehm Katze fang die Maus gespielt. Alle. Wir saßen so rich-, meine Freundin stand in der Kü- che und die wollte nicht mitspielen, weil sie nicht so gut war, die hat abgewaschen, (hm) an- sonsten standen wir alle wir saßen alle auf dem Fußboden und ehm war gut dass meine Freundin in der Küche stand die hat dann immer Achtung fertig los gesagt (lachen), sonst wäre es nicht nicht gegangen. So, und dann saßen wir auf dem Boden, und wir mussten so lachen. Es war so herrlich, es hat allen so Spaß gemacht, ehm das war wirklich ein schö-

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nes Abschlussfest. Also ich hatte Torte und Kaffee und Saft für die Kinder, und es war ein- fach ehm, es war, war schön. Also die Mutter war auch ganz beeindruckt, dass ich so viel gemacht hab. Ist natürlich völlig anders also das was sie sonst so ehm an Familiefeiern ken- nen lernt, (hm) und das war aber schön. Also hm >das war wirklich toll. Ja doch. Ich hab so eine richtige Festtafel ehm gebaut gehabt, das war doch toll. Es sind dann< als dann alles gegessen war, und alle Spiele gespielt waren, dann sind sie auch ziemlich bald wieder nach Hause gefahren. (…) Also dieses Fest war richtig voll mit mit vielen schönen Dingen (..) ja, das war so unser Abschluss (383-416).

Der zunächst schwierige Beginn der Beziehung zwischen Patin und Patenkind mündet im Erfolg und wird gleichzeitig zum offiziellen Abschluss der Patenschaft. Da ihre Freundin im Hintergrund agiert und in Wettbewerbssituationen aus dem Off das regelnde Startzei- chen setzt, kann Bianca auch als Teilnehmerin ihres eigenen Festes agieren und die Si- tuation des gemeinsamen Spiels auf dem Boden – also im Miteinander auf gleicher Höhe und damit in „egalitärer Differenz“ (Prengel 2006, 61)61 – genießen.

Öffentlichkeit und Feste als Räume der Beziehungsgeschichte

Der Aufbau der Beziehung vollzieht sich während der Patenschaft an diversen Orten und in unterschiedlichen Räumen. Ausgangspunkt für den offiziellen Beginn der Patenschaft ist der neutrale öffentliche, institutionalisierte Raum des Familienberatungszentrums. Die ersten zehn Treffen finden in Eilas Welt statt. Das Haus der Familie ermöglicht dem Kind ein geschütztes Kennenlernen in einem vertrauten Raum. Bianca dagegen kann die neue, ihr fremde Welt, schrittweise erkunden und ihre eigene Welt in diesen Raum einbringen. Nach der ersten Annäherung können sich Bianca und Eila auf den gemeinsamen Weg begeben und sich langsam von Eilas Zuhause entfernen. Im Verlauf der Patenschaft er- weisen sich Öffentlichkeit und Feste als Orte zentraler Bedeutung.

Öffentlichkeit als Begegnungsorte zwischen den Welten

In der zweiten Hälfte der Geschichte finden gemeinsame Interaktionen zunehmend au- ßerhalb der Welt des Kindes statt. Dabei erweist sich die Öffentlichkeit als wichtiger Ort der Begegnung mit Übergangsfunktion. Die öffentlichen Räume werden zu Begegnungs- orten mit intersubjektiver Erfahrungseinfärbung. Zu ihnen zählen die Erziehungsbera- tungsstelle, die Stadt, das Auto und die Jugendbücherei. Diese Orte sind in Biancas Ge- schichte als ereignisreiche und besondere Orte anzusehen Sie stellen ein Bindeglied zwi- schen Eilas und Biancas Welt dar und erweisen sich in der Beziehungsgestaltung und im gemeinsamen Annäherungsprozess als „Orte der Wende“ und „Orte der Vereinigung“. Sie sind Ausgangspunkte im sich weiter verdichtenden Verlauf der Begegnung, die zuneh- mende Autonomie und abnehmende Begleitung ermöglichen. So wird die erste Begeg- nung von Bianca und Eila in der Erziehungsberatungsstelle noch offiziell und institutionell begleitet. Auch die ersten Schritte in dem fremden Familiensystem werden durch Eilas Mutter unterstützt, sie begleitet den Ausflug in den Zoo und lässt sich wiederum von Bian- ca als Beifahrerin begleiten. Doch der Ausflug in die Jugendbücherei verläuft bereits ohne

61 Egalitäre Differenz beschreibt die „wechselseitige Anerkennung zwischen soziokulturell unter- schiedlich individuierten Personen“ (Prengel 2006, 60). Mit Bezug auf Honneth (1990) tritt die egalitäre Differenz in unterschiedlichen Formen auf: als emotionale Achtung (Liebe), wie auch als rechtliche Anerkennung sich selbst und anderen gegenüber (gleiche Rechte).

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mütterliche Begleitung – Bianca und Eila können sich gemeinsam in einer öffentlichen Insti- tution präsentieren.

Feste als Orte der Begegnung

Feste durchziehen als „Zelte der Begegnung“ (Sundermeier 1996, 148) die gesamte Pa- tenschaft. In ihrem Ablauf wird sie durch private Geburtstagsfeste eingerahmt und da- durch ihr Beginn und Ende bekundet. Während der Patenschaft werden insgesamt acht Feste arrangiert.62

Nachdem die Patenschaft mit Eilas Geburtstagsfest am dritten Treffen familiär initiiert ist, besuchen Sybel, ihre Kinder und Bianca gemeinsam in der vierten Woche ein türkisches Gemeindefest mit einer Kirmes (132) und einem Bazar (151) vor der Moschee. Am sechs- ten Treffen findet das Sommerfest in Eilas Schule unter dem Motto „Fest der Sinne“ statt (133). Im Rahmen des Projekt K nehmen Bianca und Eila am 11. Treffen an dem Quartals- treffen teil, das ebenfalls als „Fest der Sinne“ organisiert ist (420). Im Herbst begleitet Bian- ca Sybel und ihre Kinder am 18. Treffen bei einem Drachenfest im Kindergarten, den Eilas Bruder besucht. Im November wird im Kreis der Familie gemeinsam mit Freunden das Fastenbrechenfest gefeiert, bei dem Bianca anwesend ist und ihr die Aufgabe der Kinder- betreuung zukommt. Nach einem Jahr kann Bianca am 39. Treffen mit Eila ein zweites Mal deren Geburtstag feiern, der dieses Mal jedoch nicht als Familienfest arrangiert ist, sondern zusammen mit Ada als ein Fest unter Freundinnen nachgeholt wird (419). Ihren eigenen Geburtstag nimmt Bianca am 42. Treffen zum offiziellen Anlass, die Patenschaft in Form ei- ner interkulturellen Begegnung im Rahmen eines privaten Festes zu beenden. Auch für die Zukunft bleiben Feste bedeutsam und sind Anlass weiterer Begegnungen. Bianca nimmt an dem Fest zur Geschäftseröffnung eines Onkels von Eila teil (423) und sie ist zu dem anste- henden Familienfest zur Beschneidung der Söhne von Sybel eingeladen.

Feste haben vielfältige Funktionen. Sie dienen als Orte der Begegnung der äußeren Rahmung und inneren Strukturierung der Patenschaft. Sie bieten Einblicke in fremde sys- temische und kulturelle Bezüge und sind im Hinblick auf integrative Bestrebungen und das Erleben und Vermitteln von Zugehörigkeit von wesentlicher Bedeutung. Für den Auf- bau und die Gestaltung der Beziehung zwischen Bianca und Eila übernehmen sie die Funktion des arrangierten, inszenierten Raumes und bieten als gemeinsam zu nutzender Spielraum die Möglichkeit des Kennenlernens, der Annäherung, der Selbstpräsentation und des gegenseitigen Annäherns, um einander verstehen zu lernen.

Der gemeinsame Weg: indirekt und anstrengend

Für die Entwicklung der Patenschaft als einer sozialen Beziehung beschreibt Bianca den Weg der gemeinsamen „Annäherung“ (129, 134) als von außerhalb kommend, in die Welt Eilas hinein verlaufend und von dort in Biancas Welt gehend:

(…) unserer Annäherung kam zur Hilfe, dass wir zu Veranstaltungen von außerhalb ge- gangen sind (hm). Außerhalb der Familie. (…) Da bin ich auch mit hingegangen, und über diesen Kontakt, ehm mein Kontakt mit EILAs Welt, das war ehm war sehr hilfreich, hatte ich dann so im Nachhinein das Gefühl, hilfreich ehm für unsere Annäherung (129-134) (…)

62 Eine tabellarische Übersicht dazu ist im Anhang II (CD) einzusehen.

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dadurch dass ich in diesem ja in diesem Bereich reingegangen bin und mich damit ausei- nandergesetzt hab’ (146–148).

Der gemeinsame Weg aufeinander zu verläuft verschlungen und „indirekt“ (165, 172, 173). Dass Bianca auch außerfamiliäre Veranstaltungen besuchen und so den äußeren Rahmen von Eilas Welt kennenlernen kann, schätzt sie als förderlich ein. So kann sie ü- ber den Kontakt mit anderen Menschen aus Eilas Welt indirekt mit Eila in Kontakt treten. Aber nicht nur der Weg der Annäherung verläuft vermittelt, auch Biancas Verhalten ge- genüber Eila ist indirekt. An der Seite von Sybel nimmt Bianca zuhörend und beobachtend an gemeinsamen Interaktionssituationen mit Eila und anderen Menschen in deren Welt teil. Allmählich häufen sich die Kontakte und werden direkter. Die anfänglich zufälligen und flüchtigen Berührungen werden mit der Zeit andauernder und bewusster und führen schließlich in Situationen mit emotionaler Selbstdarstellung zum gezielten körperlichen Kontakt. Nach und nach kommen Bianca und Eila ins Gespräch und können sich zuneh- mend direkt zueinander verhalten.

Stellvertretend für den gemeinsamen Weg der Patenschaft steht das von Bianca ge- zeichnete Bild der gemeinsamen Autofahrt (während des gemeinsamen Familienaus- flugs): „ein bisschen s t e i l da hoch und (…) sehr s c h m a l (…)“ (230-231), eine „Her- ausforderung“ (232), die zu meistern ist und auch „wunderbar“ (232) gelingt, dennoch aber „schwierig“ (234) ist, was aber möglichst unbemerkt bleiben soll.

Begegnung im Möglichkeitsraum

Neben den realen Räumen und Orten, die Bianca und Eila aufsuchen, bildet sich im Ver- lauf der Patenschaft zwischen ihnen ein imaginärer Raum, der „erst durch die entstehen- den Strukturen greifbar und verständlich wird“ (Garlichs 2000, 149). Dieser „dritte Bereich“ (Winnicott 1993, zit. n. Garlichs 2000, 146) wird von ihnen füreinander erfunden und aus- lotend gestaltet. Dies ist nicht von Anlagefaktoren, sondern von gemeinsamen, lebendi- gen Erfahrungen abhängig. Was zwischen ihnen geschieht, „liegt zunächst nur in groben Umrissen fest, sie müssen es gemeinsam konkretisieren und weiter entwickeln“ (ebd., 146). In diesem potenziellen Raum kann sich Spiel und Kulturerleben ereignen, hier kön- nen die Beteiligten voneinander profitieren und lernen, das eigene Selbst zu entdecken und Identität und Integrität zu entwickeln.

Der Besuch von Festen, gemeinsame Mahlzeiten, das Spiel mit Medien sowie das Ab- tauchen in Geschichten sind der äußere Rahmen für dieses gemeinsame Erleben. Hier entsteht ein Vertrauen, das als Grundlage für die räumliche und körperliche Annäherung zwischen Bianca und Eila aufgebaut wird.

Die von Eila vorgeschlagene Unternehmung führt Bianca am 15. Treffen in die ihr bis zu diesem Zeitpunkt noch unbekannte Kinder- und Jugendbücherei: „ich wusste gar nicht, wo die ist“ (251). Dort verbringen Eila und Bianca zusammen „fast den ganzen Nachmit- tag“ (253) und leihen Bücher und Hörkassetten aus, mit welchen sie sich noch die darauf folgenden Wochen beschäftigen (257-261). Bianca und Eila beginnen erste, vorsichtige Versuche, den neu entdeckten potenziellen Raum für sich zu nutzen, sodass sich schöp- ferische Fähigkeiten, Kulturerleben und kreatives Spiel in einer gelösten inneren Haltung entfalten können (vgl. ebd., 147).

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Von zentraler Bedeutung aber für das Vertrauensverhältnis ist der gemeinsame Famili-

enausflug in den Zoo. Sinnbildlich ist dies der gemeinsame Beginn des schwierigen We- ges aus der jeweilig begrenzten eigenen Welt.

Durch diesen Ausflug wird der Möglichkeitsraum von Bianca und Eila erweitert und kann mit weiteren Personen gefüllt werden. Emi, Eilas Cousine, und Ada werden als kind- liche Vertreter der je anderen Welt darin aufgenommen. Die gemeinsamen Unternehmun- gen mit Ada, die mit Gefühlen der Freude, Überraschung, aber auch mit Enttäuschungen und Verlusterfahrungen verbunden sind, lassen Bianca und Eila zunehmend vertrauter und „vertraulicher“ zueinander werden. Bianca erkennt am Ende der Patenschaft die Be- ziehung als an einem „Höhepunkt“ und am Ziel angelangt (368-369). Vertrauen und Freunde sind – so ihr Fazit – die Basis für den weiteren gemeinsamen Weg, der sich aus ihrer Sicht vielfältig weiter entwickeln könnte:

Wo ich dann gedacht hab: „So jetzt das war es“, so was, wo wir, wo ich gedacht hab: „Jetzt können wir, alles mögliche machen. Jetzt steht uns ein Stück die Welt offen“, weil sie hat soviel Vertrauen zu mir (…). Also wir waren s o s c h ö n hatten wir uns angefreundet und waren zutraulich zueinander geworden das ehm, dass ich ganz sicher bin das wir das ehm ganz viele >Sachen noch hätten machen können ganz bestimmt< (369-382).

Von der Patenschaft zur Partnerschaft

Bianca beginnt die Patenschaft mit dem klaren Ziel, helfen zu wollen. Ihre eigenen Bedürf- nisse und Handlungsziele stimmen jedoch, wie aufgezeigt, zu Beginn der Patenschaft nicht mit denen des Kindes überein. Während sie zum einen die Beziehung zu einem Kind an- strebt und zum anderen Zugehörigkeit und Anerkennung sucht, ist es Eilas Bedürfnis, im Schutz der Familie zu bleiben. Bianca möchte sie in ihrer Eigenständigkeit fördern, erlebt aber, dass sie bis zum 16. Treffen nicht gemeinsam aus dem Haus gehen können. Sie steht somit vor der Aufgabe, die Bedürfnisse nach Zugehörigkeit und Eigenständigkeit einerseits und die Ängste vor Isolation und Selbstaufgabe andererseits auszubalancieren. Diese Ba- lance gelingt, indem die Handlungsziele von Bianca und Eila im Verlauf der Patenschaft zu- nehmend mehr aufeinander abgestimmt werden. Anfangs greifen dabei Höflichkeitsfloskeln und Rituale. Noch verfolgen Bianca und Eila in einer Art „Pseudokontingenz“ (Petillon 1982) ihre je eigenen Pläne und warten darauf, von ihrem Gegenüber entsprechende Stichwörter zu erhalten, um darauf zu reagieren. Doch im Laufe der Zeit entsteht eine reale wechselsei- tige Kontingenz, d.h. Bianca und Eila stimmen ihre Pläne aufeinander ab. Die Patenschaft gewinnt an partnerschaftlichen Anteilen, wird symmetrischer, und beide gewinnen immer mehr Zutrauen und werden dadurch auch zunehmend miteinander vertraut.

1.4.2 Biancas Rollenerfahrungen

Im Verlauf der Patenschaft übernimmt Bianca sowohl in der Beziehung zu Eilas Mutter als auch zu Eila vielfältige Rollen. Einige Ereignisse zeichnen sich durch eine besonders ho- he Komplexität und Rollenvielfalt aus, wodurch Rollenkonflikte zustande kommen, die Bi- anca unterschiedlich löst.

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Rollenvielfalt und Rollenkonflikte in der Beziehung zu Eilas Mutter

Zu Beginn der Patenschaft wird ihr von Sybel die Rolle einer Vertrauten zugewiesen (vgl. S 4/2).63 In der Rolle des Gastes und der Freundin der Familie begleitet sie Eilas Mutter auf den Bazar (S 4/8), wo Bianca die dort ausgestellten kunsthandwerklichen Arbeiten würdigt und auch kauft. Dabei nimmt sie als Kundin, die aus einer anderen Kultur kommt, ansatzweise touristische Rollenzüge an. Nachdem sich Bianca von Eilas Mutter akzeptiert fühlt, sieht sie sich im weiteren Verlauf der Patenschaft in der Rolle der Dar- bzw. Anbie- tenden und der Gebenden. Neben Büchern und Spielen für die Kinder bringt sie auch Vorschläge für gemeinsame größere Aktivitäten in die Familie mit.

Auf der gemeinsamen Autofahrt begleitet Bianca Sybel in der Rolle als vergleichsweise geübte und erfahrene Beifahrerin und als Verbündete, die für die Fahrt lenkend mit Ver- antwortung übernimmt. Aufgrund ihres Erfahrungsvorsprungs als Mutter übernimmt sie für Eilas Mutter auch die Rolle der Erziehungsberaterin, die ihr in Fragen der Kindererziehung zur Seite stehen kann.

Während des gesamten Jahres wird Bianca in der Beziehung zu Eilas Mutter mit zwei wesentlichen Rollenkonflikten konfrontiert:

Bei türkischen Familienfesten, zu welchen Bianca eingeladen wird, erlebt sie sich in der ihr zugewiesenen Rolle der Kinderbetreuerin (S 5/6), die jedoch weder ihren individu- ellen Bedürfnissen, noch ihrem Rollenselbstverständnis entspricht. Da die Rollenzuwei- sung zudem unabgesprochen geschieht, fühlt sich Bianca mit indirekten Erwartungen konfrontiert. Es kommt zu einem Inter-Rollenkonflikt:

(…) wenn äh Familienfeiern waren, dann war es in der Regel so, dass ich nicht nur EILA damit betreut habe, sondern auch alle anderen Kinder, die dann da waren (lachen), also die Eltern oder d- nicht nur die Eltern, sondern die Erwachsenen, die haben sich dann eher nicht um die Kinder gekümmert, sondern das war dann so meine Auf-, was heißt meine Aufgabe nicht, sondern ich war dann zufällig da, und dann hab ich es halt gemacht. Und hab mich halt, mit den Kindern beschäftigt (…), ja, dann war ich dann halt da (210–221).

Bianca wird in dieser Situation mit Rollenunklarheit und in der Konsequenz mit Rollenam- biguität konfrontiert, weil die gegebene Information nicht zur Aufgabendurchführung aus- reicht oder weil keine verbindlichen Aussagen getroffen wurden. Die Situation erfordert von Bianca ein hohes Maß an Ungewissheitstoleranz und sie ist gezwungen, situativ ver- antwortlich zu reagieren.

Erschwerend kommt hinzu, dass Bianca in dieser Situation in der Beziehung zu Eilas Mutter auch einen Inter-Rollenkonflikt lösen muss. Für sie werden zwei einander wider- sprechende Rollen relevant: einerseits ist Bianca in der Rolle der Vertrauten und damit Ei- las Mutter sehr nah, andererseits erlebt sich Bianca in dieser Situation des Familienfests als von der Mutter nicht in die Welt der Erwachsenen integriert, sondern als Betreuerin in die Welt der Kinder abgeschoben.

Während Bianca die bisherigen Rollen annehmen und die an sie gebundenen Erwar- tungen erfüllen konnte, stellt sie diese Rolle des Kindermädchens indirekt infrage. Sie dis- tanziert sich von ihr, thematisiert sie für sich und wird sich ihrer bewusst. Ansatzweise übt Bianca vorsichtige Rollenkritik an den Eltern, die sich an den Familienfesten nicht um ihre Kinder kümmern. Bianca lehnt die ihr zugewiesene Aufgabe zwar ab, erfüllt sie aber den-

63 Siehe narrations-strukturelle Beschreibung: Segment 4, 2. Subsegment (s. A II).

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noch. Ihre Anpassung legitimiert sie zweifach: über die Zufälligkeit ihres Daseins und über den aktuellen Bedarf, auf den sie zum Wohle der Kinder reagiert. Bianca handelt, sich in ihren Bedürfnissen selbst verleugnend, bedarfsorientiert im Sinne der Bedürfnisse der Mütter. Distanzierung gelingt ihr nur über die Reduktion auf die mit der Rolle verbundenen Verpflichtungen und die erklärende, sich entziehende Selbstbestimmung.

Bevor sie ihre situationsbezogene Rolle der Patin gegen Ende ihrer Projektarbeit ab- legt, übernimmt Bianca in der Rolle der unterstützenden und verantwortlich koordinieren- den Freundin von Sybel die Organisation der für die Zukunft geplanten unterstützenden Familienhilfe. Da sie sich als potenzielle Helferin in dieser Situation selbst überfordert fühlt, setzt sie eine Annonce in die Zeitung:

(…) da hab ich halt eine Annonce in die Zeitung gesetzt und hab halt gewartet, Familienhil- fe gesucht ne, für März, für eine junge ehm, ehm kinderreiche Familie. Hab ich einfach eine Annonce gesetzt. Weil ich mir nicht anders zu helfen wusste (454-457).

Zudem informiert sich Bianca über mögliche weitere Unterstützungsangebote und kommt dabei selbst in die Rolle der Ratsuchenden: „dann hab ich noch den Mütternotdienst aus- gekundschaftet“ (461-462).

Auch hier deutet sich ein Rollenkonflikt an: Bianca wird um Hilfe gebeten und weiß sich, wie sie sagt, dabei selbst nicht zu helfen. Sie löst dieses Problem aktiv, indem sie als Ratgebende zur Ratsuchenden wird und durch den erworbenen Wissensvorsprung an Si- cherheit gewinnen und ihren Auftrag als Ratgebende doch erfüllen kann. In der Auseinan- dersetzung mit den Personen, die sich auf die Annonce hin gemeldet haben, übernimmt Bianca wieder die Rolle der wissenden Familienhelferin, die eine Vorauswahl bei den Personen treffen und alle gewonnenen Informationen an Eilas Mutter weitergeben kann.

Dieser Konflikt ist für Bianca leichter zu bewältigen, da sie selbstständig handeln kann, ohne unmittelbar auf Eilas Mutter reagieren zu müssen und ihre eigene Ratlosigkeit nicht aufdecken muss.

Rollenvielfalt und Rollenkonflikte in der Beziehung zu Eila

In der Beziehung zu Eila übernimmt Bianca anfangs die Rolle der teilnehmenden Beob- achterin, die sich zwangsläufig aus der Distanz ergibt, mit der Eila Bianca begegnet.

In diskreter Präsenz übernimmt Bianca die Rolle der Anbietenden und der Sicherheit Gebenden. Über die Rolle der Vorleserin (vgl. S 5/3) nähert sich Bianca Eila und ihren Brüdern weiterhin an. Zugleich übernimmt sie in der Lesesituation mütterlich versorgende und pädagogisch anregende, fördernde Rollenanteile.

Eilas Reaktion am Ende des gemeinsamen Ausflugs in den Kleintierzoo – sie demonst- riert ihr zunehmendes Vertrauen und ihr subjektives Empfinden der Freude Bianca ge- genüber spontan und direkt – bringt Bianca einerseits in die Rolle derjenigen, die die Fa- milie beschenkt und überrascht hat, andererseits in die Rolle der großen Freundin und Vertrauten.

In den weiteren Begegnungen mit Eila sieht sich Bianca selbst in der Rolle der Geben- den und nimmt Eila als Konsumierende wahr, was sie, wie bereits aufgezeigt, mit ihren eigenen Bedürfnissen nicht dauerhaft vereinbaren will bzw. kann (vgl. S 7/1).

Sie löst diesen Rollenkonflikt, indem sie sich die Diskrepanz zwischen den Rollener- wartungen in Verbindung mit der Rollennorm und ihren eigenen Bedürfnissen bewusst macht, sie authentisch zur Sprache bringt und Eilas Rolle und Verhalten kritisiert. Die Au-

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thentizität ist ein entscheidender Aspekt für die Klärung dieses Konflikts, denn so wird ein Rollenwechsel möglich: Bianca übernimmt die Rolle der Nehmenden und Reagierenden und Eila wird als Gebende und Vorschlagende aktiv, was Bianca für sich selbst auch nut- zen kann: sie lernt die ihr noch unbekannte Kinder- und Jugendbücherei kennen.

Dieser gelöste Rollenkonflikt und der Rollenwechsel sind auch im Hinblick auf die ge- meinsame Beziehungsgeschichte und -gestaltung bedeutsam: Bianca erlebt sich im wei- teren Verlauf der Patenschaft in der Beziehung zu Eila zunehmend häufiger in der Rolle der Begleiterin, Partnerin und Mitspielerin. Dies ist für sie befriedigend, wenn auch nicht immer leicht, da sie sich in der Rolle der wenig bewegten bzw. beweglichen und beim Spiel zurückhaltenden Erwachsenen vorgeführt erlebt

Und also wenn wir drei zusammen waren war das immer ganz schön. Also Emi ist ist der Ei- la eine gute Freundin und es war /Stuhl rücken/ einfach sehr schön. Also wir haben uns un- terhalten können also auch alle drei ehm ich hab mich dann teilweise je nachdem wenn ich gemerkt habe dass die beiden gut miteinander gespielt haben habe mich auch ein Stück zu- rück genommen ehm manchmal hat haben sie aber auch gesagt: „Komm du sollst auch“ ne wenn sie zum Beispiel Seilspringen draußen (hm) gemacht haben (gut) dann (lacht) ja dann äh habe ich mich auch ein bisschen zurückgehalten. >Ich wollte sie halt spielen las- sen<. Aber dann wollten sie natürlich sehen ob ich das auch kann natürlich. >Und dann ha- be ich das natürlich zeigen müssen dass ich das auch kann< es war irgendwie war das wichtig (264-274).

In der Situation des Kinderspiels erkennt Bianca, dass ihr kindliches und kindgemäßes Spielen schwer fällt. Sie zieht sich in die Rolle der sich zurücknehmenden Beobachterin zurück, da diese von ihr weniger Selbstpräsentation verlangt. Dennoch aber muss sie demonstrieren, dass sie „mitspielen“ kann. Dafür muss sie zwischen Selbstzurücknahme einerseits und Teilnahme andererseits ausbalancieren.

Im weiteren Verlauf der Patenschaft unterstützt Bianca als Organisatorin und Begleite- rin und zugleich in der Rolle der Vermittelnden die Anbahnung einer kindlichen Mädchen- freundschaft zwischen Eila und Ada. Auch hier kann sie im Hintergrund bleiben, scheinbar situationsangemessen handeln und dennoch eine zentrale Rolle spielen.

Am Geburtstagsnachmittag zeigt sich, dass in die von Bianca übernommenen Rollen latent eigene kindliche Rollenanteile eingewoben sind.

(…) ach und ich hab ein genau ich hab ein sch- ehm Drachen mitgebracht ich hatte nämlich vorher in dem Seminar so einen selbst gemachten Drachen mitgebracht ge- äh also gebas- telt gehabt und der flog so toll und da hab ich gesagt: „Den zeig ich EILA den nehme ich auch mit“. So und dann haben die beiden weil die unbedingt Fahrrad fahren wollten haben die den Drachen hinter das hinten an das Fahrrad gebunden und dann sind die immer auf diesem Justus Fischer Platz ist das (hm) ein sehr großer Wiesenspielplatz vor dem Haus der Eltern sind die immer mit dem Drachen am Fahrrad >haben sich immer abgewechselt mit dem Fahrrad< (hm) (lacht) und über diesen Spielplatz gefahren und hatten ihre Freude da dran das war immer toll. Zum Schluss war von dem Drachen (lacht) nichts mehr übrig aber das war dann ja auch egal. >Es war wirklich ein ganz einfacher Drachen den ich ganz leicht hab nachbauen können. Das war also nicht das Problem< (341-352).

Ihr kindliches Ich, das über den Verlust des Drachens enttäuscht ist, verdeckt Bianca durch eine legitimierende, erwachsen-orientierte Argumentation. Der Konflikt zwischen der erwachsenen Frau und dem enttäuschten Kind in ihr wird nicht reflexiv bearbeitet. Zur Ablenkung und Kompensation wird das Augenmerk auf die Interaktion der beiden Mäd- chen gelenkt.

Bis zum Ende der Patenschaft festigt sich in der Beziehung zu Eila Biancas Rolle als Begleiterin und erwachsenen Freundin. An dem Geburtstagsfest, das die Patenschaft ab-

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schließt (382-416), übernimmt Bianca neben der Rolle der Gastgeberin auch die der Spielleiterin, Mitspielerin, Mutter und Ehefrau sowie die der Freundin. In dieser Situation kann sie sich als Familienmitglied einer von ihr zusammengeführten Großfamilie, die aus zwei Kulturkreisen besteht, auf das gemeinsame Spiel einlassen und sich in unterschied- lichen Rollenanteilen präsentieren.

Ein Jahr nach der beendeten Patenschaft hat Bianca die situationsbezogene Rolle der Patin abgelegt. Ihre situationsüberdauernde Rolle dagegen hat sich durch die Patenschaft erweitert: nach wie vor ist sie in der Rolle der Studentin und Mutter, nun aber auch in der einer Freundin und Rat gebenden Bekannten für Eilas Mutter. Diese hat aus ihrer Sicht „immer noch ein gutes Vertrauensverhältnis“ (481-482) zu ihr. Bianca sieht sich selbst ihr gegenüber in der Rolle der etwas distanzierteren Freundin, die sich um sie kümmert, in Kontakt bleibt, Rat gibt und sie auf ihrem Weg unterstützt:

(…) ich hab ja auch angeraten das auch wenn das Kind da ist weiter beizubehalten. Weil ihr das einfach Kraft geben kann Sich mit den Frauen auszutauschen. Und sie hat auch den Eindruck, dass sie ehm dass ihr das hilfreich ist. (..) Genau. So bleiben wir weiter in Kontakt. (..) >Genau< (496-499).

1.4.3 Fremdheits- und Differenzerfahrungen: Neubeginn – Kultur – Generation

Im Rahmen ihrer Projektmitarbeit wird Bianca mit lebensweltlicher Fremdheit konfrontiert, die sich in alltäglichen, kulturellen und intergenerationellen Differenzen zeigt.

Diese Erfahrungen sind für Bianca deshalb von besonderer biografischer Relevanz, weil sie für sie ein vielschichtiges Anliegen und eine besondere persönliche Herausforde- rung für die Welterschließung und Selbsterfahrung darstellen. Bianca erlebt Fremdheit im Sinne von Unvertrautheit, die ihr die Kontingenz ihrer Erwartungen und die Begrenztheit ihres Wissensvorrates vor Augen führt und ihre eingelebten Gewissheiten (vgl. Münkler/ Ladwig 1997, 26) infrage stellt.

1.4.3.1 Alltägliche Fremdheit in Situationen des Neubeginns

Der persönliche Neubeginn – „Da ich auch schon etwas älter bin“ (41)

Während ihres Studiums orientiert sich Bianca sowohl auf der privaten als auch auf der beruflichen Ebene neu. Sie sucht offene, neu zu arrangierende Situationen, in welchen sie auf die bisherigen Routinen und Selbstverständlichkeiten nicht zurückgreifen kann oder will. Vieles, was im Alltag bisher vertraut war, wird ihr fremd.

Als bereits ältere Studienanfängerin hat sie in der Gruppe der Lehramtsstudierenden eine Sonderstellung und erlebt daher doppelte Fremdheit: zum einen ist sie in der hetero- genen Lerngruppe fremd im Sinne von unbekannt und zugleich empfindet sie sich auf- grund ihres Alters fremd im Sinne von anders und auffallend.

Fremd erlebt Bianca aber auch den Ort der Begegnung und der Ausbildung. Die Insti- tution Universität bietet ihr neue inhaltliche Angebote und fordert sie zu Eigeninitiative und selbstbestimmten Lernwegen auf. Diesen neuen Lernort muss sich Bianca aber erst noch erobern und vorbereitend arrangieren. Ihn sich vertraut zu machen bedeutet, die Örtlich- und Räumlichkeiten kennenzulernen, neue Wege zu gehen, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten und das Gefühl der Zugehörigkeit aufzubauen.

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Neubeginn der Patenschaftsbeziehung

In der ersten Begegnung mit ihrem Patenkind erlebt Bianca unmittelbare Distanz, die sich weniger auf die räumliche Dimension von Fremdheit bezieht, als vielmehr auf den sozia- len und kulturellen Abstand zwischen den Angehörigen der aufeinander treffenden sozia- len Einheiten sowie auf das individuell unterschiedliche emotionale Engagement. Bianca erfährt, dass die gemeinsame Situation durch unterschiedliche Erwartungen und differente emotionale Ausgangslagen bestimmt wird. Auf ihrem Weg in die Fremde muss Bianca so- mit gleich zu Beginn die Erfahrung machen, dass Eila auf sie als Fremde trotz oder gerade wegen ihrer hohen emotionalen Beteiligung und Zuwendung mit Irritation, Verunsicherung und indifferentem Verhalten in Form von Rückzug und Ablehnung reagiert und der Bezie- hungsaufbau langsamer als erwartet erfolgt. Bianca erkennt, dass alltägliche Fremdheit auf der Beziehungsebene nicht nur auf die Situation der Erstbegegnung begrenzt werden, son- dern länger dauern und sich u.U. sogar über Monate hinweg hinziehen kann.

1.4.3.2 Kulturelle Fremdheit

Bianca lernt nicht nur fremde Menschen kennen und begibt sich in ein ihr fremdes Famili- ensystem, sondern sie wird auch mit kultureller Fremdheit konfrontiert. Diese zeigt sich in unterschiedlichen Facetten, u.a. in der Kleidung, in der Sprache und in den damit verbun- denen Verständigungsschwierigkeiten, in den fremden Bräuchen und den religiösen Handlungen.

Der intensive Kontakt zu einer ausländischen Familie ist für Bianca neu. Zwar hatte sie, wie sie sagt, vorher bereits Kontakte zu ausländischen Mitmenschen, nicht aber in dieser Intensität (s. N 349-351). Bianca versucht über die Geschlechtersolidarität ethnische Ab- grenzung und kulturelle Fremdheit zu überwinden und stellt in der interkulturellen Begeg- nung unter Frauen und Müttern erstaunt neben all den Unterschiedlichkeiten auch Gleich- heiten fest: „(…) zum Beispiel bei Türkischen ist das so, bei Deutschen ist das auch so“ (N 384-385).

Türkische Frauen – obwohl mit Kopftuch

Bianca beschreibt ihren ersten Eindruck von Sybel, einer türkischen Frau, die sich mit Kopftuch und verhüllt kleidet, wie folgt:

(…) und die Mutter war auch freundlich, und die Mutter schien obwohl sie Kopftuch trug und also, ziemlich verhüllt war schien sie mir doch offen und sehr interessiert und nicht nur inte- ressiert sondern wirklich hilfesuchend. (hm) Das ehm hat mich doch sehr berührt (74-80).

Biancas westliche Sicht lässt sie das Kopftuch als Symbol der Frauenunterdrückung be- werten. Dies ist im Zusammenhang mit ihrer persönlichen, durch Emanzipation bestimm- ten Lebenssituation zu sehen. Davon ausgehend, dass das Leben der türkischen, musli- men Frau konservativ und patriarchalisch bestimmt ist, reagiert Bianca „berührt“ und mit Mitleid. Ihre zuvor als widersprüchlich erfahrene Wahrnehmung der türkischen Frau löst Bianca auf, indem sie die bei Sybel empfundene Offenheit und das Interesse als Hilfe su- chende Haltung interpretiert. Mit ihrer Unterstellung bestätigt sie vermutlich ihr Vorwissen, das sie aus Gesprächen mit der bisher beratenden Therapeutin der Erziehungsberatung erhalten hat. Mit dieser Haltung tritt Bianca Sybel komplementär gegenüber. Sie sieht sie als muslime Frau, die durch Kopftuch und Ganzkörperschleier in ihren Bewegungs- und

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Kommunikationsmöglichkeiten eingeschränkt und auf Hilfe und Zuwendung angewiesen ist. Die Hilflosigkeit wird durch deren Unsicherheit in der deutschen Sprache verstärkt – Sybel „kann deutsch sprechen, ist aber sehr unsicher“ (N 175-176). Sybels Perspektive bleibt von Bianca unerhellt und unhinterfragt.

Im weiteren Verlauf kommt Bianca auch mit anderen türkischen Frauen in Kontakt. Zwar kann sie ihr anfänglich vorurteilsbehaftetes Fremdbild von muslimen Frauen erwei- tern, sie bleibt aber dennoch in ihrem Vorurteil verhaftet. In der Begegnung mit der Mutter von Eilas Cousine erlebt Bianca, dass türkische Frauen weltlich wirken können, „obwohl“ sie ein Kopftuch tragen und sich verhüllt kleiden und stellt überrascht fest, dass sie sich mit ihnen unterhalten kann:

(…) obwohl sie ehm Kopftuch trug, konnte sie wunderbar Konversation machen. Das war, das kannte ich so von von der Mutter von Eila gar nicht, aber fand ich toll. Hab mich also g a n z ganz toll mit ihr unterhalten können, es war sehr schön (428-430).

Miteinander ins Gespräch kommen, sich verständigen und einander verstehen sind im Rahmen der Projektmitarbeit für Bianca wesentliche Aspekte zur Überwindung kultureller Fremdheit.

Verständigungsschwierigkeiten – ein Anzeichen kultureller Fremdheit

(…) dass ich in die Familie gekommen bin ehm und gesehen habe: das sind so l i e b e Menschen, aber sie sprechen nur türkisch (173-174).

Bianca wird in der türkischen Familie herzlich aufgenommen. Ihre Befürchtung, in interkul- turellen Begegnungen abgelehnt zu werden, bestätigt sich nicht. Bianca erlebt die Famili- enmitglieder als „liebe Menschen“, die es ihr von Anfang an leicht machen, sich einzuge- wöhnen und die eigenen Vorurteile und Ängste abzubauen (s. N 354-359). Sie kann sich aber nicht bzw. nur bedingt mit ihnen sprachlich verständigen und ist, da sie selbst die türkische Sprache nicht beherrscht, darauf angewiesen, dass in der Familie mit ihr deutsch gesprochen wird. Die Verständigungsschwierigkeiten verstärken die erlebte kultu- relle Differenz. Gemeinsame Verständigung und die Integration in Deutschland verlangt die Bereitschaft, so erklärt und fordert Bianca von der Familie, deutsch zu sprechen:

Ich hab gleich vom ersten Tag an gesagt: „Also ich verstehe euch nicht, (hm) und wir kön- nen uns nur verständigen, wenn wir deutsch sprechen. Und ihr seid hier in Deutschland. Es geht nicht anders (N 180-182).

Ihre Forderung begründet Bianca mit pädagogischem Fachwissen, indem sie versucht, auf der Basis der Ergebnisse der PISA-Studie die unausweichliche Dringlichkeit der Be- herrschung der Sprache für die späteren Zukunftschancen der Kinder zu erklären:

(…) dann hab ich auch noch die PISA-Studie, und da war natürlich dieses Ergebnis von der Pisa Studie, dass diese Kinder, schlechte Chancen haben. Im Berufsleben. Oder überhaupt im späteren Leben. Wenn sie schlecht deutsch sprechen. Und das habe ich ihnen versucht, mit natürlich entsprechenden Worten, zu erklären, (…) wir müssen deutsch sprechen. Es geht nicht anders (N 183-187).

Bianca zeigt der Familie ihre fachliche Kompetenz. Als angehende Lehrerin weiß sie um die dringliche Notwendigkeit der Sprachförderung, insbesondere für Menschen mit Migra- tionshintergrund. Dafür muss aber die Familie mitarbeiten, sich um eine gemeinsame Ver- ständigung bemühen und entsprechend ihrer Möglichkeiten die deutsche Sprache anwen- den. Bianca differenziert ihre Wahrnehmung. Sie erkennt zum einen, dass die Familien- mitglieder der deutschen Sprache unterschiedlich mächtig sind, zum anderen sieht sie,

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dass Zweisprachigkeit im kindlichen Aufwachsen auch ein erschwerender Aspekt sein kann:

Der Vater spricht ganz gut deutsch, er braucht das für sein Berufsleben, die Mutter kann auch deutsch sprechen, ist aber sehr unsicher, und die Kinder sprechen schlecht. Ehm Eila Ist auch ganz unsicher, sie weiß viele Bedeutungen von den Worten nicht, ehm der Zweite hat mit der türkischen und der deutschen Sprache große Probleme, ehm musste dann auch zum logopädischen Unterricht gehen und wird da auch gefördert (N 173-179).

Unter diesen Bedingungen sieht Bianca für sich einen realen Ansatzpunkt, ihre Anwesen- heit und Tätigkeit im Rahmen der Patenschaft in einer echten Notwendigkeit begründen zu können: sie kann die Familie im sprachlichen Bereich fördern und unterstützend helfen. Fremdheit abzubauen bedeutet dabei auch, sich verständigen zu lernen und eine gemein- same Sprache zu sprechen, um Missverständnisse klären und sich gegenseitig über ver- schiedene Bedeutungsmöglichkeiten aufklären zu können:

Und ich hab dann auch immer wenn ehm wenn hm Missverständnisse aufgetaucht sind, o- der Wörter aufgetaucht sind, dann habe ich das einfach erklärt. (hm) Habe das einfach auf- geklärt und gesagt so und so, oder ich hab gefragt: „Weiß du was das bedeutet?“ (N 187- 190).

Bianca versucht mit den sprachlichen Differenzen und den Verständigungsschwierigkeiten umzugehen, indem sie in Eilas Welt gezielt das Gespräch mit Menschen sucht, die der deutschen Sprache mächtig sind und zudem eine besondere Funktion und damit eine be- sondere Position in der Gesellschaft innehaben, wie z.B. eine ehemalige Lehrerin, die in der Moschee unterrichtet hat oder der Hodscha. Mit diesen Personen kann sich Bianca auf der Basis gemeinsamer Professionalität verständigen, denn auch sie erlebt und ver- steht sich in der besonderen pädagogischen Funktion, zu helfen, zu unterstützen und zu fördern.

Fremde Dinge

Auf einem Basar zeigt sich Bianca an der zum Verkauf ausgestellten türkischen Handar- beitsware interessiert und entschließt sich, sie zu erwerben. Dies kann auch im Hinblick auf den angestrebten Beziehungs- und Vertrauensaufbau als Gefallenstrategie gedeutet werden. Durch ihr Verhalten, das Interesse und Wertschätzung anderen Menschen und der fremden Kultur gegenüber vermittelt, möchte Bianca gefallen und akzeptiert werden, insbesondere von Eila. Dafür stellt sie ihr eigenes Wertesystem im Hinblick auf Ästhetik zugunsten der Suche nach Anerkennung durch das Kind zurück.

(…) ja dann gab’s dort halt auch ehm da gab’s einen B a s a r dann hab ich auf dem Basar was gekauft das heißt ich habe die Arbeiten der Mütter die dort ihre handwerklichen Dinge ausgestellt haben. Die hab ich halt dadurch gewürdigt dass ich mir das angeschaut habe dass ich etwas dort gekauft habe und >das hat der Familie gefallen das hat EILA gefallen< ich hab das natürlich nicht wegen EILA gemacht. (hm) sondern auch also wegen mir ne weil ich das natürlich auch schön fand. (Das verstehe ich) Und ehm d- das war hilfreich (150- 156).

Mit den „handwerklichen Dingen“ erwirbt Bianca ein Stück türkischer Kultur und „impor- tiert“ es in ihre eigene Welt. Vielleicht spielt auch hier der helfende Aspekt unbewusst eine Rolle: dadurch, dass Bianca etwas kauft, unterstützt und hilft sie auf der finanziellen Ebe- ne. Möglicherweise gefallen Bianca die dort zum Verkauf ausgestellten Dinge gar nicht wirklich, was sie aber in diesem Zusammenhang nicht ehrlich sagen darf oder will. Viel- leicht finden sie aber auch als Beleg für die eigene interkulturelle Auseinandersetzung in

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Biancas Welt einen eigenen „ausgestellten“ Platz und damit einen besonderen Stellen- wert, was ihr selbst auch gefällt.

Fremde religiöse Einstellungen

In der interkulturellen Begegnung erlebt Bianca, dass unterschiedliche Lebensformen auf- einander treffen. Die konsequente Ausrichtung am Koran in Eilas Familie kann Bianca „so gut wie überhaupt nicht nachvollzieh[en]“ (N 332). In der Auseinandersetzung um religiöse Identität muss sie ihre westliche Sicht der emanzipierten Frau betonen und legitimieren, dass nicht sie ihre Familie verlassen hat, sondern ihr Mann und sie übereingekommen sind, sich zu trennen. Für Eilas Mutter wiederum ist es „ganz schwer nachvollziehbar“ (N 332), wie Bianca „auch emotional“ in der Situation der Trennung von ihrem Mann „aus- kommen“ (N 331) kann. Ihr Geschenk – „ein Büchlein über die Rolle der Frau im Islam“ (PF, 16, s. A II) – kann als Grundlage für das gegenseitige Verstehen gemeint sein, es kann aber auch als ein Versuch der Unterstützung angesehen werden, durch das Sybel Bianca Kraft und Orientierung in ihrem eigenen Glauben anbieten möchte.

Differenzen, die die Religionen und Glaubensausrichtungen betreffen, werden von Bi- anca in ihrer Stegreiferzählung nicht detaillierend ausführt. In ihren Aufzeichnungen im Portfolio aber thematisiert sie ihre Erfahrungen insbesondere in Situationen, wenn sie aufgefordert wird, zu ihrer Religion und zu ihrer Meinung in Bezug auf die Bereiche „Rolle der Frau“ und „Gefahr des heiligen Krieges durch den Islam“ Stellung zu beziehen. Bianca erlebt dies als „Gratwanderung“, die eigenen Ansichten zu vertreten und gleichzeitig damit Gefahr zu laufen, in ihrer eigenen Position nicht respektiert zu werden bzw. durch ihre ei- gene Einstellung andere Menschen kränken zu können. Bianca hält sich bewusst zurück und versucht, sich „nicht zu sehr in die Weltsicht der Familie einmischen bzw. hineinzie- hen [zu] lassen“ (PF, 16, s. A II).

Bei den gemeinsamen Mahlzeiten wird das stille Gebet zum Ausdruck religiöser Ge- meinsamkeit bei gleichzeitiger Fremdheit. Bianca schreibt in ihrem Portfolio dazu:

Zu allen Mahlzeiten wurde gebetet. Ich betete natürlich auch mit. Ich wurde von den Kindern offen dabei beobachtet, wie ich mich dabei verhielt. Ob es ihre Achtung erhielt, ist mir nicht klar geworden. Ich erwähnte bei Gelegenheit, welcher Religion meine Kinder und ich ange- hören. Auf Nachfrage gab ich die Antwort, dass ich durchaus an eine höhere Macht glaube, diese beinhalte jedoch einen Raum für alle Religionen in Achtsamkeit und Respekt vorein- ander (PF, 16, s. A II).

1.4.3.4 Intergenerationelle Differenzen

Die Konstellation der Patenschaftsbeziehung ist – wie bereits angesprochen – durch ei- nen großen Altersunterschied zwischen den aufeinandertreffenden Generationen gekenn- zeichnet: Eila ist 6 Jahre alt, ihre Mutter 26 und Bianca ist Anfang 40. Dieser Altersunter- schied verstärkt die Differenzerfahrungen zwischen Bianca und Eila, in der Beziehung zwischen Bianca und Sybel erweist er sich dagegen als förderlich. Generationelle Diffe- renzen scheinen in dieser Beziehung zwar aufgrund des Altersunterschiedes und Biancas Erfahrungsvorsprung als Mutter von bereits erwachsenen Kindern und ihren persönlichen Bestrebungen um Emanzipation und Autonomie auf, sie sind aber für Bianca kaum mit Konflikten verbunden. Vor dem Hintergrund ihrer eigenen Erfahrungen kann sie auf Ver- trautes zurückgreifen und sich trotz kultureller Differenzen mit Sybel identifizieren. In der Beziehung zu Eila fehlen Bianca dagegen zum einen die Erfahrung einer Mutter-Tochter-

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Beziehung, zum anderen kann sie nicht auf routinierte und Sicherheit gebende Verhal- tensmuster zurückgreifen, da sie diese bislang mit Mädchen nicht aufbauen konnte.

Differente Grundbedürfnisse in der intergenerationellen Erstbegegnung

In der Erstbegegnung treffen tri-generationell unterschiedliche Bedürfnisse und Erwartun- gen aufeinander, die erst austariert und abgesichert werden müssen.

Die kindlichen Autonomiebestrebungen stehen hier dem Nähebedürfnis der Patin und ihrem Wunsch, gemocht und gebraucht zu werden, gegenüber. Hinzu kommt das Bedürf- nis von Sybel, durch die Patenschaft Unterstützung und Zuwendung in Form von Beglei- tung und Beratung zu erhalten. In dem angespannten Patenschaftsbeginn kommt sie ih- rem situativen Bedürfnis nach, ihre Tochter zu beschützen und zu unterstützen. Da Bian- ca sowohl die Erfahrung und Routine im Umgang mit Kindern als auch die entsprechen- den fundierenden theoretischen Bezüge fehlen, kann sie die Diskrepanz der unterschied- lichen Erwartungen nicht erklärend auflösen und reagiert mit Enttäuschung. Sie erkennt noch nicht, dass Anfangssituationen häufig durch unterschiedliche und oft widersprüchli- che Erwartungen und Bedürfnisse der Interaktionspartner gekennzeichnet sind und Ver- trauen für Interaktionen zwar erforderlich, dieses aber nicht zwangsläufig gegeben ist, sondern erst allmählich aufgebaut werden muss. Deutlich wird die Kontingenz ihrer Erwar- tungen und Erfahrungen, aber auch die Begrenztheit des Wissens zu Beginn des Studi- ums. Vertrautheit kann erst, wie Bianca im Verlauf der Patenschaft erlebt, durch erfolgrei- ches Handeln und sinnhaftes Wahrnehmen in einer intersubjektiv und intergenerativ er- schlossenen Welt entstehen.

Kinderängste – identifizierendes Erkennen im intergenerationellen Kindheitsvergleich

In den konkreten intergenerationellen Interaktionen wird Bianca wiederholt mit der eige- nen Kindheit konfrontiert. Zwar deutet sie diese nur an, betont aber, dass sie zwischen ih- ren Kindheitserfahrungen und denen von Eila Ähnlichkeiten feststellt – identifizierendes Erkennen wird möglich. Bianca erinnert sich: „Viele Dinge sind mir wieder begegnet, die ich als Kind auch hatte, so diese Spontanität, dieses Temperament (…) gerade so diese Ängstlichkeit und das Fürchten“ (N 58-61). Aufgewachsen in einem kleinen Dorf, waren die selbstständigen Schritte „aus dem Haus“ auch für sie als Kind, ebenso wie sie es nun bei Eila erlebt, mit Angst besetzt. Aufgrund dieser ähnlichen Kindheitserfahrungen kann sich Bianca gut in Eila hineinversetzen und die Angst, insbesondere vor „Berührung mit anderen Menschen, Fremden vor allen Dingen“ (N 53-54), nachvollziehen:

(…) und mit Eila, ja es hat mich schon daran erinnert, dieses Stückweit auch ehm aus dem Haus gehen erinnerte mich auch an meine Kindheit, ich bin auf einem kleinen Dorf aufge- wachsen, und dieses Stückweit in die Welt hineinzugehen, die Angst zu verlieren (N 75-77).

Bianca versucht, Eila „die Angst zu nehmen“ (85) bzw. hilft ihr, „mit der Angst umzugehen“ (87), indem sie sie auf ihrem Weg „in die Welt“ begleitet. Ihr Bemühen, Eila bei der Bewäl- tigung der Ängste zu unterstützen, hat jedoch eine entscheidende zweite Ebene. Biancas eigentliches, für sie unbewusstes Anliegen ist es, mit den eigenen Ängsten umgehen zu lernen und sie „ein Stückweit auch in ihr Leben einzubauen“ (N 87-88). Dabei erfährt sie, wie Eila mit den Ängsten umgeht und kann deren kindliche Strategie für sich selbst als Hilfestellung übernehmen:

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(…) einmal gab es so eine Situation, da [hat] EILA auch gesagt äh: „Wenn ich mich fürchte, da gibt es so eine Geschichte, dass man die Angst in Wolken packt. Und sich dann die Angst wie Wolken vorstellt und die dann weiterziehen.“ Und das ist eine ganz schöne Vor- stellung gewesen. Und da hab ich gedacht: „Das ist eine gute Idee, wie man mit seinen Ängsten fertig werden kann.“ (hm) Also hab ich auch was von ihr gelernt ne? (hm) (…) und da hab ich gedacht: „Jawohl meine Ängste so in die Wolken und die ziehen mit dem Wind davon, und ich kann wieder meinen Weg gehen.“ Die sind ja nicht weg. Aber (…) sie regnen irgendwann aus, ne und (hm) f- befruchten auch das Land, was weiß ich (hm) wenn man es jetzt weiterspinnen könnte (lachen) oder so. Also ich hab auch was von Eila gelernt. >Ja und das hat mir Freude gemacht< (N 88-99).

Die Arbeit mit dem Kind und dessen Thema wird zur Arbeit am eigenen Selbst und führt auf indirektem Weg zu den eigenen Themen. Bianca macht dabei die Erfahrung, dass die intergenerationelle Begegnung mit Kindern auch für sie von Nutzen sein kann, indem sie Fremdheit verringert und Vertrauen und Zuversicht aufbauen kann.

Intergenerative Differenzerfahrung im gemeinsamen Spiel

Während der Patenschaft nimmt Bianca wiederholt an Spielsituationen teil, in denen inter- generationelle Differenzen deutlich werden:

(…) wenn die ehm Cousine Emi da war, die hm halbes Jahr älter ist ehm insgesamt aber ei- nen sehr viel reiferen Eindruck macht. Und also wenn wir drei zusammen waren, war das immer ganz schön. Also Emi ist ist der EILA eine gute Freundin, und es war /Stuhl rücken/ einfach sehr schön. Also wir haben uns unterhalten können, also auch alle drei (263-267).

Das Zusammenspiel der Generationen funktioniert zwar auf der Grundlage gemeinsamer Unterhaltung, kindliches Spielen jedoch gelingt Bianca nicht, sie nimmt sich „ein Stück zu- rück“ (268) und spielt nicht mit. Dies begründet sie damit, dass „die beiden gut miteinander gespielt haben“ (268).

(…) wenn sie zum Beispiel Seilspringen draußen (hm) gemacht haben, (gut) dann (lacht), ja dann äh habe ich mich auch ein bisschen zurückgehalten. >Ich wollte sie halt spielen las- sen<. Aber dann wollten sie natürlich sehen, ob ich das auch kann, natürlich. >Und dann habe ich das natürlich zeigen müssen, dass ich das auch kann< es war irgendwie war das wichtig. (.) Ja. (270-274).

Warum sich Bianca zurücknimmt, kann unterschiedlich motiviert sein. Als angehende Pä- dagogin sieht sie ihre Aufgabe vor allem darin, professionell zu handeln und „nicht nur einfach (…) mit den Kindern [zu] spielen“ (42-43). Es geht ihr darum, zu unterstützen, an- zuregen und zu arrangieren, um Selbstständigkeit zu fördern und dabei selbst in den Hin- tergrund zu treten. Spielen in diesem Kontext versteht sie als eine angeregte oder arran- gierte pädagogische Maßnahme für den intragenerationellen Kontakt, in dem sie nicht stö- ren möchte und sich auch nicht als zugehörig sieht. Es fällt Bianca schwer, sich auf das Spiel als nicht zielorientierte Handlung einzulassen, sich auf der Ebene des kindlichen Spiels zu öffnen und sich authentisch, möglicherweise unerwachsen und vielleicht sogar kindisch zu präsentieren. Sie erlebt aber, dass sie von Eila und Emi aufgefordert wird, mitzumachen. Diese Aufforderung „Komm, du sollst auch“ (269) deutet sie als Überprü- fung. Sie spürt, dass die Mädchen sie auf ihre Fähigkeiten testen wollen. Im Gegensatz zu der Unterhaltungssituation, die auf Austausch und Mitteilung angelegt ist und in der al- le drei gleichermaßen beteiligt sind und keiner auf eine bestimmte Rolle festgelegt wird, ist diese Spielsituation für Bianca mit Konkurrenz und möglicher Ausgrenzung durch ü- berprüfendes Vorführen verbunden. Die Anforderung, sich in Bewegung zeigen zu müs- sen – und das auch noch im für Erwachsene eher ungewöhnlichen Bewegungsmuster

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des (Seil-)Springens – setzt Bianca unter Leistungsdruck. Sie reagiert mit Verlegenheit und spontaner Zurückhaltung, kommt aber dennoch der Aufforderung der Mädchen nach. Damit stellt sie sich der Situation, die für sie mit Ungewissheit verbunden ist: weder weiß Bianca, ob sie das Seilspringen noch beherrscht, noch wie die Mädchen auf mögliche Fehler und befürchtetes Versagen reagieren werden.

Mit Kindern zu spielen, ist für Bianca unangenehm, im Kontext der Patenschaftsarbeit und als angehende Lehrerin aber pädagogisch notwendig und „irgendwie“ (274) wichtig.

1.4.4 Vermittlungsleistungen

In der Gestaltung der dreigenerativen Beziehung zwischen Patenkind, Mutter und Patin und in der Auseinandersetzung mit vielfältigen, aufgezeigten Fremdheiten sind von allen beteiligten Personen zahlreiche Vermittlungsleistungen erforderlich. Diese Leistungen fin- den beziehungskonstituierend als Vermittlung „von“ und als Vermittlung „zwischen“ statt.

1.4.4.1 Unterstützende Vermittler

Nachdem sich Bianca mit hohem Engagement und direkter Zuwendung vorgestellt hat, Eila jedoch mit Zurückhaltung und Distanz reagiert, übernimmt Sybel eine entscheidende, zweiseitig ausgerichtete Vermittlungsleistung. Indem sie sich mit dem eigenen Unter- stützungs- und Zuwendungsbedarf an Bianca adressiert, vermittelt sie, dass sie Bianca mag, sie für vertrauenswürdig hält und von ihr Unterstützung erhofft. Ihrer Tochter wie- derum vermittelt sie durch ihr Verhalten, dass Bianca an ihrer Seite im Kreis der Familie einen Platz hat und somit als Gast zugehörig ist.

Bei der Aufnahme in den familiären Kreis wird auch Eilas Großmutter vermittelnd tätig: Mit ihrem Urteil, Bianca „sei eine gute Frau“ (PF, 11, s. A II) verkündet sie ihre Einschätzung und ihre Haltung als Älteste in der Familie, bestätigt und verstärkt die Haltung ihrer Schwie- gertochter und vermittelt Bianca nachdrücklich, „in der Familie angenommen zu sein“ (ebd.).

An dem mütterlichen Vermittlungshandeln können vier wesentliche Funktionen aufge- zeigt werden:

• Sybel vermittelt in einer bilateralen Rolle (Alexi 2004, 111) zwischen Bianca und Eila und damit zwischen zwei Generationen zum Ausgleich der widersprüchlichen Erfah- rungen von Nähe und Distanz und von Engagement und Enttäuschung.

• Das Vermittlungshandeln klärt den im Kontext der Patenschaftsgründung angegebe- nen Zuwendungsbedarf und definiert diesen aus systemimmanenter Sicht neu. Da- mit können die individuellen Erwartungen und Erfahrungen ausgeglichen bzw. in Bi- ancas Fall umgelenkt werden – sie wird angenommen und gemocht und sie kann helfen, jedoch nicht dem Kind, sondern dessen Mutter.

• Sybels Vermittlungsleistung erweist sich auch als korrigierende und unterstützende Maßnahme. Indem sie sich zu Beginn der Patenschaft vor ihre Tochter stellt, kann sich Eila hinter deren Rücken selbst verhalten und muss sich Biancas Ansprüchen nicht unmittelbar ausgeliefert fühlen.

• Schließlich ist die Vermittlungsleistung im Kontext der Mutter-Tochter-Beziehung als eine mütterliche Machtdemonstration zu verstehen. Sybel wie auch die Großmutter demonstrieren ihre Position in der Familie und verdeutlichen, dass sie es sind, die als Mutter und Frau des Hauses Gästen Einlass in die Familie gewähren, und nicht ihre Tochter Eila, deren zurückhaltendes Verhalten als Ablehnung und Ausgrenzung

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gedeutet werden kann. Für die Patenschaftsbeziehung wird so eine neue, persönli- che, stabilisierte und situativ entspannte Ausgangssituation ermöglicht und damit gegenseitige Akzeptanz und Anerkennung als Basis für Verstehen angebahnt.

Bianca findet über das mütterliche und großmütterliche Handeln Einlass in das fremde familiäre System. Auch im außerfamilialen Kreis muss Bianca in der kulturell fremden Ge- sellschaft einen Platz finden. Um dies zu erreichen, wendet sie sich auf türkischen Festen gezielt an Personen, die eine gesicherte Position haben und entsprechendes Ansehen genießen. Über gemeinsame Gespräche mit einer Lehrerin, die in der Moschee unterrich- tete, und mit einem Hodscha erreicht sie Wohlwollen und Akzeptanz. Das erleichtert Bi- anca nicht nur den Eintritt in die türkische Gesellschaft, sondern sie kann damit auch Eila ihre Vertrauenswürdigkeit vermitteln.

1.4.4.2 Intergenerative und interkulturelle Vermittlung als Geben und Nehmen

Das Thema Geben und Nehmen zieht sich von Anfang an durch Biancas Geschichte. Wie dargestellt, erlebt sich Bianca in der Beziehung zu Eila als diejenige, die „Ideen in die Fa- milie“ (240) bringt, und Eila als diejenige, die „quasi nur konsumiert“ (241). Dieses einsei- tige, lineare und transferierende Vermittlungshandeln ist für Bianca nicht zufriedenstel- lend. Sie erkennt allerdings nicht, dass nicht nur unterschiedliche Erwartungen an die Si- tuation gebunden sind, sondern dass sie selbst mit ihrer wiederholten Bereitstellung von Materialien, Ideen und Anregungen das Ungleichgewicht an Macht verstärkt hat. Eila sieht sich Bianca gegenüber in der Schuld stehend. Vor dem Hintergrund ihrer angesammelten Verpflichtungen Bianca gegenüber sieht sie sich veranlasst, Biancas Wunsch Folge zu leisten – sie reagiert mit unmittelbarer Zustimmung. Hier wird ein Paradoxon der Vermitt- lung als sozialer Austausch deutlich: Austausch erzeugt „nicht nur soziale Bande der Freundschaft zwischen Gleichberechtigten, sondern [kreiert bzw. verstärkt] auch Status- differenzen zwischen Menschen“ (Blau 2005, 132). Da bei diesem gegenseitigen sozialen Austausch die Bedingungen der Rückzahlung nicht bereits zum Zeitpunkt der ursprüngli- chen Transaktionsplanung festgelegt sind, muss Bianca den Ermessensspielraum der Rückzahlung sowohl hinsichtlich der Ausgestaltung als auch hinsichtlich des Zeitpunkts der Gegenleistung Eila überlassen. Sie muss zudem die Gegenleistungen nicht nur als solche erkennen und anerkennen, sondern sie muss sie für sich auch positiv deuten. In der folgenden Szene verdeutlich Bianca dies ausführlich:

(…) was ihr sehr gut gefallen hat dass ich einen Kassettenrekorder mitgebracht hab und dann hab ich gesagt: „Ach hast du Lust?“ >Ah ich hab ich einfach nur gesagt<: „Hast du Lust?“ U n d dann war sie s o begeistert also wir haben über anderthalb Stunden n u r hat sie alles was sie in ihren äh Schulbüchern gefunden hat an Liedern. An Texten. Hat sie vorgelesen. Oder vorgesungen und ehm also ich durfte hab das auch leider nicht bekom- men weil ehm das was ganz besonderes war >also das hat dann die Mutter auch ehm weg- geschlossen<. So es musste aufbewahrt werden. Es war was ehm ihr sehr wichtig war, es hat ihr sehr sehr viel Spaß gemacht sie hat dann >immer gesagt: „Du musst leise sein.“< Und wir hat- sie hat das auch unter diesem äh Anspruch gemacht sie ist das was sie jetzt dort auf >Kassette aufnimmt das ehm ist für Andere. Also sie hat in Gedanken anderen et- was vorgesungen oder etwas vorgelesen. So das da darf da darf sie nicht gestört werden. Also da durfte ich sie nicht stören das Schöne dabei war aber dass sie sich während wir auf dem Bett saßen an mich gekuschelt hat. Also dieser Kontakt war ihr dann doch wichtig ne? (hm) Aber äh also das hab ich sehr genossen aber ich durfte sie nicht dabei stören. Also dieser Kontakt das heißt wir haben schon A r m a n A r m und Seite an Seite gesessen das war ein großer Fortschritt (175-191).

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Kapitel III: Bianca

 

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Eila reagiert positiv auf Biancas Gabe – sie nimmt den Rekorder an und nutzt ihn produk- tiv und kreativ. Dass es zu einer ausdauernden Selbst-Präsentation kommt, bei der sie Ei- la nicht stören darf, konnte Bianca nicht vorhersehen. Eilas „Rückzahlung“ erfolgt anders, als von Bianca erwartet. Statt gemeinsam mit dem Gerät umzugehen, weist Eila Bianca in die Position der Zuschauerin. Bianca aber kann diese Situation dennoch positiv als Ver- trauensaufbau werten, denn Eila sitzt dicht neben ihr – Arm an Arm – und präsentiert sich ihr, wenn auch unter der Voraussetzung, dass keine ungeplante Bewegung, kein Eingriff und keine Korrektur ihres Handelns erfolgen. Dennoch bleibt ein abschließendes Enttäu- schungsgefühl bei Bianca. Wieder erlebt sie, dass die Rückzahlung anders erfolgt als er- wartet: Die fertige Kassette wird wie ein Schatz von Sybel „weggeschlossen“ und „aufbe- wahrt“ (181), ohne dass sie Bianca bekommt, obwohl sie an ihrer Entstehung initiierend und begleitend beteiligt war: „ich durfte hab das auch leider nicht bekommen“ (179–180).

Neben dem Kassettenrekorder werden für die Annäherungs- und Vermittlungsprozesse noch andere Übergangsobjekte genutzt. Für die Vermittlung zwischen den unterschiedli- chen kulturellen Welten erweist sich das Buch von Wilhelm Busch bedeutsam. Damit Eila die bösartigen Streiche von Max und Moritz gegen Respektspersonen der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, die schwarzhumorig in Reimform erzählt werden, verstehen kann, muss Bianca wieder vermittelnd handeln. Zusätzliche Erklärungen sind notwendig, da Be- griffe und Sprachspiele der Bildergeschichten für Eila „missverständlich“ (200) sind. Mit Biancas Erklärungen kann sie aber den Witz erfassen und darüber lachen. Sie leiht sich von Bianca das Buch und kann so ein Beispiel deutscher Literatur in ihrer türkischen Fa- milie einführen.

So, wie Bianca zu Beginn der Patenschaft auf dem türkischen Bazar kunsthandwerkliche Arbeiten erworben und in ihre Welt „importiert hat“, bietet sie nun mit dem Hausbuch ein Stück deutscher Kultur als vermittelndes Übergangsobjekt in die andere, fremde Welt an.

1.4.4.3 Feste als Vermittlungsräume

Die Feste, die den Fall besonders auszeichnen, sind, wie bereits aufgezeigt, nicht nur als Ort der Begegnung relevant, sondern sind auch für das Vermittlungshandeln von zentraler Bedeutung. Insbesondere in der Anfangssituation, in der der zwischenmenschliche Um- gang noch fremd ist, weil Regeln, Sitten und Gebräuche weitgehend unbekannt sind, er- leichtert die Teilnahme an den Festen die Einführung der Patin in das neue Familiensys- tem und ermöglicht ihr erste Einblicke in die spezifischen systemischen, religiösen und kulturellen Strukturen. Die Feste erweisen sich als ein Raum zwischen den kulturellen Welten, den Sundermeier als „Gastraum für Fremde“ bezeichnet (Sundermeier 1996, 149). Sie werden zu Orten, an dem Vermittlungshandeln in besonderer Weise arrangiert stattfindet und bieten sowohl die Möglichkeit der nicht bindenden Begegnung unterschied- licher Kulturen als auch die des interkulturellen Austauschs.

Durch ihre Teilnahme an den Festen kann Bianca an der Seite von Sybel Kontakt zu an- deren Menschen aufnehmen, sich selbst und das eigene Anliegen darstellen, ohne weitere Verpflichtungen eingehen zu müssen. Auf der Basis gegenseitiger Bekundung von Aner- kennung und Akzeptanz wird es ihr ermöglicht, sich nicht nur zur Familie, sondern auch zur örtlichen Gemeinschaft zugehörig zu fühlen und sich entsprechend zu präsentieren. So kann sie ihren zunächst familiären Gaststatus veröffentlichen und erweitern. Dabei erlebt sie, dass ihr auch Fehler unterlaufen können, dass sie sich im Hinblick auf den kulturellen, ge-

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Kapitel III: Bianca

 

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schlechts- und rollenspezifischen Anforderungen unangemessen verhält, gegen die gültigen Regeln verstößt, und dass sie bei den Anwesenden Verunsicherung und Irritation auslöst:

Zum Beispiel bin ich zwar forsch auf die Männer losgegangen beim ersten Treffen und hab denen die Hand gegeben. Das macht man ja eigentlich bei den bei denen bei dem Islam nicht, aber so richtig wohl gefühlt habe ich mich dabei auch nicht, ne so (hm) aber ich hab es trotzdem ausgehalten. Ich hab gesagt: „Das will ich jetzt so. (hm) (N 359-366).

Doch die Fehler werden ihr zugestanden und bleiben auf der Grundlage des ihr zuge- sprochenen Gastrechts unsanktioniert. Dennoch ist Bianca durch ihren Regelverstoß ver- unsichert. Ihr wird die auszubalancierende Ambivalenz zwischen Anpassungs- und eman- zipierten Autonomiebestrebungen deutlich und sie erkennt die Unvermeidbarkeit mögli- cher Fehler und die Notwendigkeit, diese und die eigenen Unsicherheitsgefühle akzeptie- ren und aushalten zu müssen.

1.4.5 Antinomie-Erfahrungen

Während ihrer Projektmitarbeit wird Bianca insbesondere mit vier Antinomien konfrontiert, die eng miteinander verwoben auftreten: mit der Nähe-Distanz-Antinomie, mit der Ver- trauens- und Ungewissheitsantinomie sowie mit der Autonomieantinomie.

Wie im Verlauf der Beziehungsgestaltung aufgezeigt (vgl. 5.1.1), zeichnet sich bereits zu Beginn der Patenschaft eine starke antinomische Spannung von Nähe und Distanz ab, die zwischen den drei Protagonistinnen der Geschichte – Bianca, Eila und Sybel – ausge- handelt wird. Die Spannung kann Bianca zunächst für sich nicht auflösen und reagiert ent- täuscht und irritiert.

Ihre Enttäuschung betrifft sowohl das Projekt als auch sie persönlich. Auf der Projekt- ebene befürchtet Bianca ihre weitere Mitarbeit infrage gestellt, denn wie könnte diese fort- geführt werden, wenn das Kind Desinteresse signalisiert, ihre Angebote nicht annimmt und sich auf keine gemeinsamen Unternehmungen einlässt? Auf der persönlichen Ebene scheint sich ihre anfängliche Sorge zu bewahrheiten, aufgrund des eigenen Alters in der intergenerationellen Begegnung auf Schwierigkeiten zu stoßen. Dadurch sieht Bianca so- wohl ihr Vorhaben, Eila eine gute Patin zu sein, als auch ihr Selbstverständnis in der Rolle als helfende Patin infrage gestellt.

Die Beziehung zu Sybel bietet sich ihr jedoch als Chance, die kindliche Distanz auszu- halten und die eigenen Enttäuschungsgefühle zu kompensieren. Die Nähe zwischen ihr und Sybel ermöglicht die erforderliche Distanz zwischen Bianca und Eila. Durch ihr Zurücktreten kann Bianca Eila nicht nur Sicherheit und Akzeptanz vermitteln, sondern sie kann sie da- durch wieder weiträumiger wahrnehmen und das durch die Nähe unscharf gezeichnete Bild in seiner Brennweite richtig stellen und neu ausbilden (vgl. Sundermeier 1996).

Zu Beginn der Patenschaft erkennt Bianca noch nicht, dass sie eine Vertrauensbasis unterstellt, die faktisch noch gar nicht vorhanden ist. Für sie ist es eine neue Erfahrung, dass sich Kinder ihr nicht selbstverständlich vertrauensvoll zuwenden, sondern dass sie selbst diejenige sein kann, die auf das Kind verunsichernd wirkt. Vertrauen, so erlebt sie, muss auf der Basis von Zeit, Geduld und Freiwilligkeit interaktiv aufgebaut und immer wieder neu ausgelotet werden. Auf die aufscheinende Vertrauensantinomie reagiert Bian- ca zunächst irritiert und verunsichert. Sie versucht, das Problem zu lösen, indem sie sich sensibel, geduldig und zurückhaltend verhält, und mit diesem permissiven Verhalten (Wernet 2003) den Vertrauensaufbau fördert.

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Kapitel III: Bianca

 

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Im Verlauf der Patenschaft wird Bianca auch mit der antinomischen Kategorie der Un- gewissheit konfrontiert, und zwar sowohl auf der persönlichen, auf der inhaltlichen wie auch auf der Beziehungsebene.

Auf der persönlichen Ebene thematisiert Bianca die Ungewissheit der Projektarbeit be- reits zu Beginn ihrer Mitarbeit. In ihrer Entscheidung, eine Patenschaft übernehmen zu wollen, gibt es für sie zwar kein Zweifeln, sie kann aber ihr eigenes Handeln im Umgang mit den unvorhersehbaren Anteilen und den möglichen emotionalen Verstrickungen nicht vorausbestimmen. Diese sind ihr, wie sie angibt, gleichgültig: „Ne, egal was da auf mich zu kommt ehm: Das mach ich!“ (81-82). Ohne sich darüber weitere Gedanken zu machen, ist Bianca bereit, etwas zu wagen und sich auf Unbekanntes und Neues einzulassen. Rückblickend erkennt sie ihre Naivität und benennt das unerwartete Mehr, mit dem sie in der Projektarbeit konfrontiert wurde:

Also viel mehr ist dazu gekommen was ich gar nicht ge- gedacht habe. Also so (…) insge- samt die Einstellung, oder dass das auch eine Auswirkung auf mein Studium hat. (hm) Ehm das hab ich alles gar nicht absehen können (67-70).

Auf der inhaltlichen Ebene erlebt Bianca die Antinomie zwischen Vermittlungsversprechen einerseits und struktureller Ungewissheit und Riskanz der professionellen Intervention an- dererseits. Bis zum Schluss der Patenschaft kann sie nicht eindeutig beurteilen, ob Eilas Fortschritte in ihrer eigenen Entwicklung zu begründen oder im Zusammenhang mit Bian- cas Unterstützung zu erklären sind. Ohne weitere Deutungen oder Bedingungsfaktoren da- für in Betracht zu ziehen, lässt sie dies „einfach mal dahin gestellt“ (110). Dass sie Eila da- bei helfen konnte, mit den Ängsten umzugehen und mit ihnen zu leben, bleibt eine Annah- me. Unbelegt und damit ungewiss ist diese von Bianca auf Selbstbestätigung angelegt.

Auf der Beziehungsebene erlebt Bianca Ungewissheit wiederholt als ein konstitutives Element für die Beziehungsgestaltung. Ihr bilanzierendes Lernfazit, „durchlässiger“ (N 377) geworden zu sein, verweist darauf, dass sie Ungewissheit im Sinne von Offenheit versteht. Momente, die überraschend anders verlaufen sind, als von ihr geplant, zeigen ihr, dass pädagogisches Handeln ungewiss und unvorhersehbar ist und auch mit Enttäu- schungen verbunden sein kann. Dies auszuhalten und zu kommunizieren, fällt Bianca je- doch nicht leicht. Sie erlebt diese Offenheit als riskant und verunsichernd und versucht, Situationen so zu gestalten, dass sie das Wagnis der Offenheit situationsabhängig ein- plant oder vermeidet.

So bringt Bianca z.B. das Nachbarsmädchen Ada spontan zu einem Treffen bei Eila mit, ohne dieses Vorhaben längerfristig zu planen und mit beiden Mädchen zu vereinbaren. Handlungsleitend ist ihr durch die bisherigen Erfahrungen angesammeltes Wissen um das Risiko möglicher Enttäuschungsgefühle, die durch ein Scheitern der Planung bei Eila und Ada auftreten könnten, sowie ihre Angst, dafür verantwortlich gemacht zu werden:

(…) und dann brachte ich Ada einfach mit, weil ich nicht wusste wenn ich das jetzt plane, dann klappt das vielleicht nicht, und am besten bringe ich sie einfach mit, dann ist vorher keiner enttäuscht oder was, wenn’s mal nicht klappt, und dann war die Freude natürlich groß, weil ich die Ada mitgebracht hab (299-302).

Statt Ungewissheit als Strukturmoment im Vermittlungshandeln zu akzeptieren und dies in die Handlungsplanung mit einzubeziehen und im Umgang mit Eila auch zu thematisieren, versucht Bianca, Eila durch die Vermeidung der Riskanz zu schützen, um sie nicht zu de- stabilisieren. Zugleich versucht sie, auch sich selbst zu schonen.

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Kapitel III: Bianca

 

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Im Verlauf der Patenschaft kann Bianca Vertrauen als grundlegende Basis für das

Handeln unter Ungewissheitsstrukturen aufbauen, und zwar sowohl im Hinblick auf die ei- genen Fähigkeiten, mit Überraschungen und Unvorhersehbarem umzugehen, als auch im Hinblick auf Eila und die Beziehung zu ihr, aber auch im Hinblick auf die Zeit, die Entwick- lungen und Veränderungen benötigen.

Neben den bisher aufgezeigten Antinomien wird Bianca auch mit der Autonomie- Antinomie konfrontiert. Auf der Basis des aufgebauten Vertrauens gelingt es ihr zuneh- mend, die eigenen Förder- und Unterstützungsmaßnahmen als Angebote zu formulieren und deren Ablehnungen nicht als persönlich gegen sie gerichtet zu verstehen, sondern als kindliche Autonomiebestrebungen:

(…) eine schöne Beobachtung war dann, als ich ihren kleinen Bruder beobachtet hab, wie der sich langsam über so eine halbe Stunde, langsam, selbstständig an dieses Karussell dran gemacht hat und >ganz vorsichtig vorsichtig< bis er dann zum Schluss selbst (…) auf dieses Karussell drauf gesprungen ist (…) fand ich aber toll. Und dann stand ich mit der Mut- ter dabei, und dann sagte sie, ehm: „Wollen wir ihm helfen (…)?“ „Nein, der will nicht, der will nicht geholfen kriegen. Der will das alleine machen“ (432-439).

Zwar begegnet Bianca dem kindlichen Verhalten nach wie vor mit spontanen Hilfsangebo- ten, kann deren Ablehnung jedoch hinnehmen und sich das Verhalten als Versuch, Auto- nomie zu erreichen und heteronome Bedingungen zu bewältigen, erklären. Bianca verhält sich situationsangemessen zurückhaltend und geduldig beobachtend, ohne das Kind durch das eigene, eingreifende Handeln unselbstständig zu machen. Leitend für ihr Ver- halten ist jedoch nicht das theoretische Wissen über kindliche Autonomiebestrebungen, sondern, wie sie im Nachhinein gesteht, ihre vorangegangene Interaktionserfahrung:

Ich hatte nämlich schon versucht ihm zu helfen das wollte er nicht ne. (hm)(…) also er wollte allein sich das ehm erobern quasi (hm.), und das hat er dann auch geschafft (439-424).

1.5 Lernerfahrungen

In diesem Fall bewegt sich die Patin in einem Lernfeld, das durch die Themen „Übergangs- bewältigung“, „Faszination Fremdheit und Selbsterfahrung“, „Soziale Netzwerke“, „Vertrau- ensaufbau und Beziehungsgestaltung“ und „Sprachförderung und Migrationshintergrund“ bestimmt wird. Das Verstricktsein in das antinomische Zusammenspiel von Nähe, Distanz, Vertrauen und Autonomie ist eine besondere Herausforderung für die Patin. Entscheidend ist, dass immer wieder selbstbezogene Orientierungen mit fremdbezogenen abgeglichen und ausbalanciert werden müssen. Grundlegend für die Anbahnung professionellen Be- gleithandelns ist die Lernerfahrung, dass die Patin sich in der Rolle der beratenden Helferin auch hilflos erlebt und Begleitung als einen gemeinsamen Lernprozess erfasst.

Orientierung, Entlastung und Absicherung durch Netzwerke

Biancas Engagement entspricht sozialer Netzwerkarbeit. Diese beschreibt Galuske als

ein sozialpädagogisches Handlungsmodell, das aufbauend auf Methoden und Befunde der sozialen Netzwerkforschung durch die Analyse, Nutzung, Gestaltung und Ausweitung des Beziehungsgeflechts der Klienten zu Personen Gruppen und Institutionen auf eine Optimie- rung ihrer Unterstützungsnetzwerke und damit auf die Stärkung ihrer Selbsthilfepotentiale abzielt (ders. 2003, 285).

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Kapitel III: Bianca

 

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Mit der Netzwerkarbeit als einer Form systemisch orientierter Kooperation und Koordinati- on erprobt Bianca im Ansatz die Überschreitung bzw. erweiternde Verschiebung instituti- oneller Grenzen. Sie betrachtet das außerschulische Handlungsfeld und wendet sich den unterschiedlichen Kooperationspartnern zu, die auch für ihre spätere Arbeit als Lehrerin bedeutsam sein können, und lernt so einen wichtigen Aspekt für die Verbesserung indivi- dualisierender Förderung und damit auch von Schulqualität kennen.

Durch die vielfältigen Kontakte, die sie aufnimmt, knüpft Bianca das im Projekt ange- legte Netz nach außen weiter. Je dichter ihr Netz wird, desto sicherer wird sie, denn sie weiß sich zunehmend zu orientieren. Die Patin kann ein Wissen über Unterstützungsan- gebote aufbauen, auf dessen Hintergrund sie bei Bedarf Hilfe zu holen weiß oder aber be- ratend an entsprechende Stellen verweisen kann (s. N 152-157). Damit vollzieht sie einen wichtigen Lernschritt für die Anbahnung professionellen Handelns.

Kooperationsfähigkeit – Basis und Voraussetzung für präventive individuelle Förderung

In Netzwerke eingebunden zu sein bzw. diese zu kennen, ist eine Voraussetzung für Ko- operation. Kooperation als „das geordnete, möglichst produktive und erfolgreiche Zu- sammenwirken von Individuen sowie von sozialen Gebilden“ (Hillmann 2007, 458) ist im pädagogischen Alltag in unterschiedlichen Zusammenhängen erforderlich.

Im Rahmen der Projektmitarbeit lernt Bianca projektinterne und projektexterne Koope- ration kennen und erfährt deren unterstützende und entlastende Wirkungsmöglichkeit. Projektintern erlebt sie die kollegiale Zusammenarbeit unter den Studierenden, die Koope- ration mit den Eltern und dem Kind bzw. die Kooperation und das Zusammenspiel unter Kindern. Projektexterne Kooperation erfährt Bianca in der Zusammenarbeit mit Personen aus dem Familienberatungszentrum und mit Bildungsinstitutionen, also mit Kooperations- partnern, die auch für ihr späteres professionelles Handeln wichtig sind. Für ihre spätere Klientel im schulischen Handlungsfeld, die Bianca durch Heterogenität und Vielfalt ge- kennzeichnet beschreibt, wird ihr das Gelingen von Kooperation als eine wesentliche Ba- sis und „Voraussetzung für präventive individuelle Förderung mit dem Ziel der (…) Ver- meidung von Segregation“ (Pietsch 2007, 169) bewusst.

Eine Pädagogik der Vielfalt, die ein Miteinander der Verschiedenen unterstützt (vgl. Prengel 2006), erfordert nicht nur didaktische Arrangements, die Selbsttätigkeit und Selbstständigkeit fördern, sondern ist auf Kooperationsfähigkeit angewiesen, die ein we- sentliches Merkmal professionellen Lehrerhandelns und Voraussetzung für Beratung und Teamarbeit ist. Im intergenerativen Spiel erfährt Bianca, dass Kooperationsfähigkeit auch eine Voraussetzung für konstruktive Prozesse darstellt und „notwendige Bedingung für soziales Lernen, interkulturelle Verständigung und für die Entwicklung einer toleranten Streitkultur“ (Pietsch 2007, 170) ist. Kooperationsfähigkeit verlangt mehr, als Kontakte aufzubauen und unterstützende Dienstleistungen zu kennen. In einer auf Partizipation an- gelegten pädagogischen Begleitung erfordert sie neben Kontaktfähigkeit Sensibilität und Integrationsvermögen sowie Vermittlungs- und Aushandlungsprozesse. Diese anzubah- nen und einzuleiten und die damit verbundene Ungewissheit auszuhalten, fällt Bianca schwer. Immer wieder zeigt sich ihre Angst, Versprechen nicht einlösen zu können und damit u.U. Enttäuschung bewirken und in der Folge mit Kritik oder emotionaler Abwen- dung umgehen zu müssen. Aus diesem Grund zieht sie es vor, allein und ohne gemein-

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Kapitel III: Bianca

 

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same Absprachen zu planen, um so Unzufriedenheiten und Enttäuschungen möglichst zu vermeiden.

Das Projekt als „kooperative Lernumwelt“ (Lamberigts/Diepenbroock 1993, 94) zu er- fahren, kann – so ist zu hoffen – dazu beitragen, dass Bianca im späteren pädagogischen Alltag Lernumgebungen auf der Grundlage ihrer eigenen Erfahrungen in ähnlicher Form gestalten wird. Indem Bianca die durch die Projektmitarbeit gegebene Möglichkeit nutzt, im pädagogischen Handlungsfeld mit unterschiedlichen Menschen in Kontakt zu treten, übt sie sich in angemessene und situationsadäquate Selbstpräsentation sowie in soziales Wahrnehmungs- und Urteilsvermögen ein und entwickelt Kooperationsfähigkeit mit dem Ziel, Fremdes zu verstehen, mit Differenzen umzugehen und Beziehungen aufzubauen.

Vertrauensaufbau – auf die Zukunft orientiert und auf Wechselseitigkeit angewiesen

Bianca lernt, Vertrauen in unterschiedlichen Zusammenhängen aus unterschiedlichen Sichtweisen zu erfassen: als Persönlichkeitsmerkmal und generalisierte Erwartenshal- tung, als „Grad individueller kooperativer Orientierung in einer Interaktionssituation“ (Schweer 1996, 16), als Verhalten und als Beziehungsvariable. Durch die Projektmitarbeit wird Bianca bewusst, dass Vertrauen gegenüber Menschen nicht zwangsläufig und selbstverständlich vorhanden ist, sondern auf der Grundlage gemeinsamer Erfahrungen und in Abhängigkeit der je eigenen Geschichte aufgebaut werden muss. Sie lernt, dass zwischenmenschliches Vertrauen in unterschiedlichen Ausprägungen gestaltet werden kann, sie kann ihre zunächst generalisierte Vertrauenshaltung zunehmend spezifizieren und individuelle Vertrauensbeziehungen aufbauen und gestalten. Auf Reziprozität ange- wiesen, muss die Entwicklung von zwischenmenschlichem Vertrauen, wie Bianca erlebt, auf Zeit und zukunftsorientiert angelegt werden und ist nicht nur Merkmal sozialer Bezie- hungen, sondern immer das „Ergebnis des Wechselspiels personaler und situativer Be- dingungen“ (Schweer/Padberg 2002, 20). Freiwilligkeit, Machtverteilung, die zeitliche Dauer und das organisationale Umfeld werden Bianca dafür als wichtige Faktoren des si- tuativen Kontextes bewusst.

Im Verlauf der Patenschaft erkennt sie, dass Vertrauen „eine soziale Einstellung [ist], die aus den gemachten Sozialisationserfahrungen resultiert“ (ebd., 9) und dass die indivi- duelle Vertrauenshaltung ein Ergebnis der bisherigen Biografie ist. In der Auseinanderset- zung mit der Beziehungsgeschichte und unter Berücksichtigung vergangener und antizi- pierter vertrauensrelevanter Verhaltensweisen beider Interaktionspartner lernt Bianca die Vertrauensentwicklung zu verstehen. Dass Vertrauen eine affektive, eine kognitive und eine behavioriale Komponente aufweist, bleibt jedoch unreflektiert.

Eine wesentliche Lernerfahrung für Bianca ist, das eigene Gesprächsverhalten zu trai- nieren. Das Thema Kommunikation und Gesprächsverhalten fundiert sie auch theoretisch und erfährt, dass das kommunikative Verhalten zum Vertrauensaufbau beiträgt, wenn es sich durch Kongruenz/Echtheit, Akzeptanz, bedingungslose Wertschätzung, Empathie und einfühlendes Verhalten sowie durch aktives Zuhören und die Betonung von Ich- Botschaften auszeichnet.

Bianca wird in Verlauf des Jahres bewusst, dass Vertrauen ein Mehr an Möglichkeiten des Erlebens und Handelns eröffnet und zugleich zur Reduktion von Komplexität beiträgt (vgl. Schweer 1996).

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Kapitel III: Bianca

 

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Fremdes wahrnehmen und selbst als Fremde Fremdheit provozieren

Dass Bianca mit ihrem emotional engagierten und dem Kind zugewandten Verhalten bei Kindern Angst- und Distanzverhalten auslösen kann, ist für sie eine wichtige und schwierige Erfahrung. Unerwartet und überraschend wird ihr deutlich, dass Fremdheitserleben im All- tag kein einseitiger, sondern ein auf Gegenseitigkeit beruhender Prozess sein kann, in dem nicht nur sie auf Fremde reagiert, sondern dass sich auch andere Menschen ihr als Fremde gegenüber mit nur geringem Vertrauen und sogar mit Abkehr verhalten können.

In dieser Situation Eilas Perspektive einzunehmen, gelingt Bianca zunächst aufgrund von mangelndem Wissen und unzureichenden Erfahrungen nicht. Sie erkennt nicht, dass die Begegnung mit Fremden Selbstsicherheit erfordert und die Fähigkeit verlangt, sich auf Ungewissheit einzulassen und dabei das Risiko einzugehen, auf Vertrautes und bisherige Routinen und Vernetzungen verzichten zu können. Im Gegensatz zu Eila ist dies für sie ein bewusstes und sie herausforderndes Vorhaben. Auch dass der individuelle Zugriff und die je eigene Auseinandersetzung mit Fremden im Zusammenhang mit vorherigen Le- benserfahrungen und bisheriger Sozialisation zu sehen ist und die Fremdbegegnung Neugier und Aufregung, aber auch Verunsicherung und Angst auslösen kann, bleibt von Bianca unreflektiert.

Bianca verhält sich intuitiv sensibel, ihr wird jedoch nicht bewusst, dass die Art von Dif- ferenz und Andersheit, die sie selbst in die Nähe des Kindes bringt, von diesem nur in ei- ner gewissen Entfernung ausgehalten und toleriert werden kann. Diese schwierige Situa- tion auszuhalten, gelingt Bianca nur durch die sich ausgleichend entwickelnde Beziehung, die sich zwischen ihr und Sybel aufbaut. Sybel ist es auch, die ihr bei dem vierten Treffen das kindliche Distanzverhalten aus der Perspektive des Kindes nahebringt und ihr erklärt, dass Eila befürchtet, als schlecht und böse und damit als Problemkind angesehen zu werden, was sich aus ihrer Sicht durch die Begleitung einer ihr fremden Frau für die Um- welt so darstellen könnte (PF: Förderleporello, s. A II).

Fremdheitserfahrung im Perspektivenwechsel: Sich im Spiegel des anderen finden und das eigene Anderssein erkennen

In der Beziehung zwischen Bianca und Sybel kann sich Bianca trotz kultureller Differen- zen selbst sowohl wiedererkennen als auch sich als fremd wahrnehmen.

Dabei wirkt sich der vorhandene Altersunterschied förderlich und stabilisierend aus. Mit einem Altersunterschied von 17 Jahren könnte Bianca fast Sybels Mutter, zumindest aber ihre große Schwester sein. Auf der Grundlage ihrer eigenen Erfahrungen als Mutter zwei- er Kinder kann Bianca Sybels Überforderungsgefühle nachvollziehen und sich gut in Sy- bel hineinversetzen, mehr noch, sie entdeckt sich in den Schilderungen selbst wieder (PF, 30, s. A II).

Bianca erlebt aber auch, dass sie ganz anders ist als Sybel. In der Beziehung zu ihr er- lebt sie das Wechselspiel von Nähe und Distanz in anderer Rollenverteilung (vgl. 88-92).

Zwar fühlt sich Bianca durch Sybels Verhalten ihr gegenüber entlastet, zugleich sieht sie sich wieder mit Differenz und Fremdheit konfrontiert und erkennt sich selbst im eige- nen Anderssein. Durch Sybels Verhalten wird ihr bewusst, dass sie sich anderen Men- schen gegenüber nicht so schnell öffnet.

Im Erleben von Differenzen spielt die Dimension der Geschwindigkeit eine nicht uner- hebliche Rolle. Einander begegnen und kennenlernen braucht zur Überwindung von Dis-

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Kapitel III: Bianca

 

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tanz und Fremdheit Vertrauen. Bianca erfährt, dass Fremdheit abzubauen und Vertrauen aufzubauen in individuell unterschiedlichen zeitlichen Dimensionen und in unterschiedli- chen Tempi verlaufen kann (vgl. 92). In der Auseinandersetzung mit Eila und Sybel erlebt sie zwar, dass jeder Fremde für sich ein Eigener und jeder, der sich als Eigener sieht, auch ein Anderer ist, Fremde somit zum Normalfall der anderen werden (vgl. Heinrichs 1999), es gelingt ihr aber weder, dies positiv zu werten, noch eine Parallele zwischen Ei- las Verhalten und ihrer Selbsterkenntnis zu ziehen.

Individualisierte Förderung ist aufwendig und erfordert Organisationstalent

Um während der Patenschaft erzieherisch Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes nehmen zu können, handelt Bianca auf der Basis eines individuell ausgerichteten Beziehungskonzepts. Dieses ist für eine an den jeweiligen Lern- und Entwicklungsaus- gangslagen anknüpfende, individuelle Förderung erforderlich. Um Kinder in ihrem jeweili- gen So-Sein verstehen zu können, will sie in ihrem späteren Handlungsfeld in einer sozio- ökosystemischen Sichtweise auch den außerschulischen Kontakt zu ihren Schülern su- chen. Die unterschiedlichen Kontexte des Aufwachsens mit den jeweiligen sozialen Netz- werken zu kennen, hält sie für eine Grundlage differenzierenden Unterrichts (N 457-458). Im Zusammenhang mit den Anforderungen an Lehrer kann Bianca nach Ablauf der Pa- tenschaft den dafür erforderlichen Arbeitsaufwand und das notwendige „Organisationsta- lent“ (407) ableiten, insbesondere aufgrund der Heterogenität und Vielfalt, die sie für ihre spätere Klientel im schulischen Handlungsfeld als kennzeichnend beschreibt.

Man bekommt etwas anderes zurück als gegeben und erwartet wurde

Bianca erfährt, dass es wichtig ist, Nähesituationen zu (er)leben, sie aber nicht festhalten zu können. Vermittlungshandeln als Helfen und Begleiten versteht sie im Verlauf der Pa- tenschaft zunehmend als ein auf Freiwilligkeit beruhendes Angebot, das angenommen und genutzt werden und unterschiedlich belohnt bzw. zurückgezahlt werden kann. Sie er- lebt wiederholt, dass ihre Anregungen und (Vor-)Gaben von Eila in Form von Akzeptanz und Nähe zurückgegeben werden. Ihre Gaben übernehmen dabei – für sie jedoch nicht erkenntlich – die Funktion von Übergangsobjekten, die für die intergenerationellen Ver- mittlungsleistungen zwischen den Welten und für den beziehungskonstituierenden Ver- trauensaufbau von besonderer Bedeutung sind.

Anregen lassen und mit Vielfalt umgehen lernen

Bianca lässt sich immer wieder situativ „anstoßen“ (N 487) und anregen. Sie ist an neuen Impulsen interessiert, nimmt diese auf und versucht sie unmittelbar umzusetzen und an die spezifischen Situationen und Bedürfnisse von Eila anzupassen. Sie lernt dabei, mit Fülle und Vielfalt umzugehen, was sie am Beispiel der Grundschulwerkstatt als Lernum- gebung verdeutlicht. Diese weckt Ideen, regt zu völlig neuen Interessensgebieten an und verdeutlicht ihr die Vielfalt dessen, „was man alles machen kann“ (N 105-106). In diesem Zusammenhang erkennt sie auch die Bedeutung der Atmosphäre für eine anregende Lernumgebung und lernt, die vielfältigen Anregungen dosiert einzusetzen. Anfangs nimmt Bianca die Grundschulwerkstatt als voll und sie erschlagend wahr, was sie mit dem Bild eines Angebots im Kaufhaus vergleicht. Alternativ dazu entwickelt sie die Fantasie eines

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Kapitel III: Bianca

 

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leeren Raumes, der nach und nach gemeinsam mit den Lernern gefüllt und ausgebaut werden kann. Schließlich kann sie auf der Grundlage von Vertrautheit das Angebot in sei- ner Vielfalt nutzen, kann auswählen und darin immer wieder Neues entdecken, was sie letztlich als „Bereicherung“ (N 123) empfindet. Im Sinne konstruktivistisch verstandener Lernumgebungen ist für Bianca nicht der besonders effektive Wissenstransfer entschei- dend, sondern die Herstellung anregender Situationen für die Lernenden. Sie erkennt, dass dafür Komplexität reduziert werden muss und die äußeren Reize der inneren Reiz- verarbeitungskapazität anzugleichen sind.

Im Rahmen ihrer Projektmitarbeit lernt Bianca nicht nur in der Grundschulwerkstatt, sondern auch im realen Interaktionsgeschehen der Patenschaft mit Vielfalt umzugehen. Pädagogisch professionell zu handeln, so wird ihr deutlich, bedeutet nicht nur, sich anre- gen zu lassen, sondern auch, mit Vielfalt und Komplexität umzugehen. Dazu gehört, sich selbst bei eigenem Hilfebedarf zu organisieren – eine wichtige Voraussetzung für struktu- riertes professionelles pädagogisches Handeln und für die seelische Gesundheit.

Die eigenen Grenzen erfahren

Im Verlauf der Patenschaft wird Bianca auch mit ihren eigenen Grenzen konfrontiert. Ge- gen Ende der Projektmitarbeit erlebt sich als „hilflose Helferin“ (vgl. Schmidbauer 1977) und erkennt – überfordert, ohnmächtig und selbst hilfsbedürftig –, dass sie nicht alle Prob- leme lösen und nicht immer und auf Dauer helfen kann. Überforderung, Ohnmacht und die eigenen Grenzen zu erfahren und zu akzeptieren sind wichtige Voraussetzungen, die eigenen Möglichkeiten realistisch einschätzen zu können, sich für das Machbare einzu- setzen, sich zu engagieren und Vertrauen in die begrenzten, aber dennoch wertvollen Möglichkeiten des eigenen Handelns zu entwickeln.

1.6 Zusammenfassung und Fazit

Wie die Fallrekonstruktion aufzeigen konnte, sucht die Patin Bianca sowohl eine inhaltli- che und reflexive Begleitung zur Aufarbeitung ihrer Erfahrungen der Vergangenheit als auch eine dauerhafte und unterstützende Begleitung, die sie auf ihrem aktuellen neuen Lebens- und Lernweg unterstützt und der sie sich öffnen und ihre Wünsche und ihre Ängste anvertrauen kann.

Das universitäre Angebot des Projekt K entspricht ihren Lern- und Entwicklungsbedürf- nissen und wird von ihr bewusst genutzt.

Der Eindruck, der in diesem Fall entstehen mag, Bianca würde das universitäre Pro- jektangebot lediglich als Selbsterfahrungsplateau nutzen, ja sogar missbrauchen, kann durch folgende Argumente entkräftet werden:

• Die Lernausgangssituation ist im Fall Bianca durch die Passung von biografischer Relevanz und beruflicher Anforderung gekennzeichnet, was positiv gedeutet werden kann, denn damit wird Lernen biografisch bedeutsam. Bianca erkennt den Aufbau von Reflexionsfähigkeit sowohl für die eigene persönliche Entwicklung und ihren wei- teren, noch nicht absehbaren Lebensverlauf, als auch im Hinblick auf die ange- strebte berufliche Professionalisierung als hilfreich und nutzbringend (vgl. N 30–32).

• Positiv hervorzuheben ist Biancas aktive Lernhaltung und das strukturierte Planen ihres universitären Lernweges. Das Projektangebot bietet ihr einen Anstoß für einen

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Kapitel III: Bianca

 

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Selbstlernprozess in einer Lernumgebung, die ein hohes Maß an Selbstverantwort- lichkeit, Verlässlichkeit, Struktur und Engagement verlangt, aber auch eigenaktives, selbstgesteuertes sowie sachbezogenes Lernen erlaubt und zugleich den Aufbau vielfältiger Verknüpfungen und Verstehensprozesse unterstützt. Bianca lernt, sich selbst Fragen zu stellen und diese Fragen eigenaktiv, selbstorganisiert und kommu- nikativ zu beantworten.

• Zu berücksichtigen ist Biancas individuelle Lern- und Ausbildungssituation. Wenn das Studium als eine transitorische Periode perspektivisch die Übernahme einer neuen Rolle innerhalb des bestehenden sozialen Zusammenhanges anstrebt, sind Möglichkeiten und Räume erforderlich, um Handeln zu erproben und Haltungen ein- zuüben. Für die Anbahnung von Professionalität nutzt Bianca das konkrete Praxis- feld. Dabei sind fehlerhafte und unprofessionelle Handlungsanteile unvermeidbar. Bianca lernt aus der Reflexion der Vergangenheit, ehemalige Fehler zu erkennen und durch die pädagogische Begleitung aktuelle Fehler zu analysieren, sich selbst im Geschehen zu reflektieren und Erkenntnisse ins Handlungsgeschehen wieder einfließen zu lassen.

• Als weiteres Argument ist der zentrale Stellenwert der selbstreflexiven und biogra- fischen Arbeit und der Aufbau von Reflexivität und Biografizität als individuelle Fähig- keit und als eine fragende Haltung zu betonen, die bereits im Rahmen der universitä- ren Lehrerbildung durch die Projektmitarbeit angebahnt werden soll.

• Und schließlich gelingt es Bianca dennoch, auch wenn sie das Projektangebot ein- seitig und verkürzt mit einem primär selbstbezogenen Interesse wahrnimmt, immer wieder den Bezug zur späteren Berufspraxis herzustellen und sich im pädagogi- schen Handeln zu erproben und daraus wesentliche Erfahrungen zu ziehen.

Es ist nicht nur der Gang in die Fremde, den Bianca gehen will bzw. muss, sondern auch das Vorhaben, sich den persönlichen Herausforderungen zu stellen, sich weiter zu entwi- ckeln und selbst neu zu erfahren, wie sie es in ihrem Portfolio formuliert:

Projekt K – hält mich im Bann – spannend – völlig neue Erfahrungen – muss mich öffnen – kann viel über mich lernen – kann mich (wieder) finden

(Bianca).

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Kapitel III

Bianca, Wera und Jana

2 Wera: „Und das fand ich dann eben sehr schade“ (112). Behindert sein – behindert werden: eine ernüchternde Realitätserfahrung

Zu den pädagogischen Aufgaben von Grundschullehrern zählt u.a. auch die integrative Beschulung im gemeinsamen Unterricht behinderter und nicht behinderter Kinder. Die Förderung aller Schüler – ob gesund, behindert oder von Behinderung bedroht – gehört in Hessen zum gesetzlichen Auftrag der allgemeinen Schule. Grundschullehrer müssen sich folglich nicht nur mit unterschiedlichen soziokulturellen Hintergründen, individuellen Lern- ausgangslagen und Entwicklungen ihrer Schüler und Schülerinnen auseinandersetzen, sondern auch mit möglichen Beeinträchtigungen und Behinderungen und den daraus re- sultierenden „spezifischen Bedürfnissen“ (Eberwein 1994, 6). Damit gemeinsames Lernen vor dem Hintergrund unterschiedlich ausgeprägter Heterogenität sowohl für die Schüler als auch für die Lehrer eine Bereicherung menschlicher Erfahrungen darstellen kann, sind eine von Interesse geprägte und auf Zusammenarbeit ausgerichtete Kooperationsfähig- keit, eine in besonderem Maße auf Anerkennung beruhende Beziehungs- und Vermitt- lungsarbeit sowie differenzierende und geöffnete Lehr- und Lernformen erforderlich.

Der Fall Wera ist für die vorliegende Arbeit von besonderer Relevanz, weil er genau diese Thematik aufgreift. Die Studentin Wera übernimmt für ein körperbehindertes Mäd- chen64 eine Patenschaft und setzt sich im Rahmen dieser Patenschaft als angehende Lehrerin intensiv mit den Themen Behinderung und Integration auseinander. Der Fall ge- winnt durch den zusätzlich vorhandenen Migrationshintergrund erschwerende Komplexi- tät. Kennzeichnend ist die sich aufbauende Spannung zwischen einer resignativen Grund- stimmung und dem Anspruch der Patin, nicht aufzugeben und die alltäglichen Belastun- gen auszuhalten. Sie dennoch auch positiv zu deuten, zeigt sich als das zentrale Thema, das alle an der Geschichte Beteiligten betrifft und verbindet.

2.1 Patenschaftsportrait

In diesem Fall treten folgende Personen namentlich auf:

Wera Patin Mascha Patenkind

64 Als körperbehindert wird nach Leyendecker/Thiele „eine Person bezeichnet, die infolge einer Schädigung des Stütz- und Bewegungssystems, einer anderen organischen Schädigung oder einer chronischen Krankheit so in ihren Verhaltensmöglichkeiten beeinträchtigt ist, dass die Selbstverwirklichung in sozialer Interaktion erschwert“ (dies. 2003, 598) und die Teilhabefähig- keit wesentlich eingeschränkt ist (vgl. Verordnung nach § 47 des Bundessozialhilfegesetzes (Eingliederungshilfe-Verordnung) 2001, BGBl. I S.1046/ s. A I: A 13).

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Kapitel III: Wera

 

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Die Patin Wera wird 1978 geboren. Sie beginnt 1998 das Studium für das Grundschul-

lehramt in Kassel. Von Juni 2001 bis August 2002 nimmt Wera – damals im 6. und 7. Se- mester – an dem Projekt K teil.

Die Eltern des Patenkindes Mascha stammen aus Polen. Nach der Geburt von Ma- schas sechs Jahre älterem Bruder zieht das Ehepaar Ende der 1980er-Jahre nach Deutschland. Dort wird 1994 Mascha geboren. Das Mädchen wächst zweisprachig auf. Alle Familienmitglieder beherrschen die deutsche Sprache und sprechen im familiären All- tag situationsgebunden sowohl Polnisch als auch Deutsch. Maschas Beziehung zu ihrem Bruder, der noch zur Schule geht, führt Wera kaum aus. Er ist in ihren Augen der wesent- lich ältere Bruder, der Mascha „wohl auch ab und zu mal [von der Schule] ab[holt]“ (163), sich aber insgesamt kaum um seine Schwester kümmert, was Wera mit dem Altersunter- schied von sechs Jahren erklärt (PF, 14, s. AII). Maschas Großeltern leben in Polen. Die Familie hält zu ihnen brieflichen Kontakt und besucht sie in den Schulferien. Nach Aussa- ge einer Therapeutin der Pädagogischen Frühförderung des Familienberatungszentrums wurde Mascha mit einem „offenen Rücken“ (Spina bifida)65 und einem „Wasserkopf“ (Hydrocephalus) geboren. Sie ist rechtsseitig gelähmt, dadurch grobmotorisch sehr einge- schränkt und auf den Rollstuhl angewiesen.66

Zu Beginn der Patenschaft ist Mascha sieben Jahre alt und steht kurz vor der Einschu- lung in die erste Klasse, die sie an einer Kasseler Regelgrundschule „als Integrationskind“ (Förderleporello, s. A II) besuchen wird. Als Begründung für den Vorschlag einer paten- schaftlichen Begleitung im Rahmen des Projekt K wird von der Pädagogischen Frühförde- rung Maschas anstehende Einschulung angegeben. Da zu diesem Zeitpunkt die Förde- rung ausläuft, spricht sich die Therapeutin für eine weiterführende Begleitung des Kindes aus, mit der Perspektive, noch „einen anderen Ansprechpartner als die Mutter oder die Familie“ (N 123-124) zu erhalten.

Weras erster Kontakt zu Mascha erfolgt am 6.6.2001. Insgesamt finden 39 Paten- schaftstreffen statt. Zum Zeitpunkt des Interviews (9/2003) ist die Patenschaft bereits fast ein Jahr beendet. Wera und Maschas Familie stehen miteinander nicht mehr in Kontakt. Wera studiert zu diesem Zeitpunkt im zehnten Semester und steht kurz vor dem Ab- schluss ihres Studiums. Sie hat ihre Examensarbeit als Fallstudie mit dem Titel „Mascha – ein Integrationskind in der Grundschule – eine Fallanalyse im Rahmen des Schülerbe- gleitprojekts“ verfasst. Diese liegt begutachtet vor – die Benotung ist Wera bekannt. Da diese Fallstudie die im Interview erhobenen Daten um weitere Perspektiven ergänzt, wird für die vorliegende Geschichte auch auf sie Bezug genommen.

65 Spina bifida ist eine angeborene Spaltbildung der Wirbelsäule und/oder des Rückenmarks. Ist das Rückenmark beteiligt, kommt es zu Lähmungen und motorische Ausfällen, die in verschie- denen Formen auftreten können.

66 Eine Beeinträchtigung der Motorik und der Wahrnehmung zählen zu den häufigen, spezifischen Sozialisations-, Lern- und Entwicklungsbedingungen von Menschen mit Körperbehinderungen. Es kann zu zentral-nervös bedingten Einschränkungen und Veränderungen der Wahrnehmung kommen. Betroffen ist meist die sinngebende Verarbeitung von sensorischen Wahrnehmungen. Beeinträchtigt sein können die Auswahl, die Unterscheidung, die Zuordnung, die Verschlüsse- lung oder die Verknüpfung und die sensorische Integration von aufgenommenen Wahrneh- mungsreizen.

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Kapitel III: Wera

 

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2.2 Weras Geschichte

Weras Geschichte thematisiert ihre Begegnung mit Behinderung und die Frage nach Normalität. Sie schildert Körperbehinderung als lebensgeschichtliche Erfahrung prekärer Leiblichkeit (vgl. Pieper 1993) und als erschwerte Lern- und Lebenssituationen aus multi- perspektivischer Sicht: aus ihrer eigenen vor dem Hintergrund einer gesunden, nicht be- einträchtigten Körperlichkeit, aus der Sicht des betroffenen Kindes und dessen Familie sowie aus der der Öffentlichkeit. Es ist eine Geschichte des Aufeinandertreffens unter- schiedlicher Konzepte von Leben mit Behinderung. Behinderung wird als dominante Diffe-renz erfahren, die nicht nur umfassende Fördermaßnahmen erfordert, sondern mit Dis- kriminierung, Einschränkung und Fremdbestimmung einhergeht. Den theoretischen An- sprüchen und Forderungen der Patin, Behinderung zu akzeptieren und Verschiedenheit als Normalität anzuerkennen, stehen körperliche, bis an die eigenen Grenzen gehende Anstrengungen, emotionale Belastung sowie die be- und verhindernden und damit aus- grenzenden Lebensbedingungen gegenüber.

Dass Behinderung auch einsam macht, ist in dieser Geschichte eine gemeinsam geteilte Erfahrung. Allein und wie auf verlorenem Posten versucht jeder – Wera, Mascha und Ma- schas Eltern – zu helfen und zu unterstützen. Zugleich erlebt sich jeder auch selbst hilflos und auf Hilfe angewiesen. Auf die ausweglos erscheinende Situation des Kindes, an den Rollstuhl gebunden zu sein und nicht – bzw. nur unter Verwendung von Hilfskonstruktionen in begrenztem und mit Gefahr verbundenem Rahmen – selbstständig auf eigenen Füßen gehen zu können, reagieren die Beteiligten unterschiedlich: Mascha zeigt sich, die Umstän- de und Bedingungen hinnehmend, mit zurücknehmender Anpassung. Ihr Ziel ist es, nicht aufzufallen und zu gefallen. Maschas Vater versucht, seiner Tochter Leichtigkeit, Zuge- wandtheit und Nähe über Scherze und Musik zu vermitteln, ist aber selbst beeinträchtigt und, wie Wera es erlebt, überfordert und zieht sich zurück. Maschas Mutter schließlich ist diejenige, die immer wieder Hoffnung aufbaut und nicht aufgibt. Die Patin Wera selbst agiert mit hohem Engagement. Sie übernimmt die Begleitung des Kindes zuverlässig und verant- wortlich, ohne sonderpädagogisches Hintergrundswissen, immer bestrebt, das Kind best- möglich und erfolgreich zu fördern. Ihre Erwartungen an sich selbst und an die Patenschaft, aber auch an Mascha und deren Eltern, erweisen sich als überhöht. Als teilnehmende Be- obachterin, die in das Geschehen verstrickt wird, muss sie im Verlauf der Patenschaft er- kennen, dass der eigene Förderansatz sowohl von Mascha selbst als auch von ihren Eltern nur mit mangelnder Resonanz beantwortet und nicht gewürdigt wird. Aufgrund fehlender Entwicklungsfortschritte wertet Wera ihr pädagogisches Handeln zunehmend ernüchtert und enttäuscht als nicht nachhaltig positiv wirksam und deutet es als Scheitern.

Zentrale Ereignisträger der Geschichte sind die Erzählerin und Geschichtenträgerin We- ra, das Patenkind Mascha und dessen Eltern. Maschas Bruder, andere, nicht namentlich genannte Schulkinder, eine Logopädin und unbekannte, fremde Menschen in der Stadt werden von Wera zwar erwähnt, haben jedoch nur einen geringen Bedeutungsgehalt.

Die Geschichte unterteilt sich in vier große Sequenzen und eine kurze, fünfte Ab- schluss-Sequenz mit insgesamt 32 Segmenten.67

67 Die detaillierte Darstellung der Sequenzen ist der narrationsstrukturellen Inhaltsbeschreibung im Anhang II zu entnehmen (CD).

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Kapitel III: Wera

 

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Nach einer Eröffnungspassage, die aus zwei Segmenten besteht und die Patenschaft

zusammenfassend und evaluierend darstellt, beschäftigt sich die zweite Passage als Di- agnosephase mit der Darstellung der Ausganglage der Patenschaft und der Förderung, die die Patin als Angebot und als Gegenentwurf zu dem elterlichen Erziehungs- und För- derverhalten konzeptualisiert. Zentrale Themen dieser Sequenz sind die Frage nach der Wirksamkeit und dem Fördererfolg der Patin, das Rollenverständnis und die Erwartungen, der Umgang mit dem Rollstuhl und Maschas geringes Erinnerungsvermögen sowie ihre mangelnde Eigeninitiative, ihr angepasstes Verhalten und die Themen Freundschaft, Hil- febedarf und helfen können (51-401). Die dritte Sequenz konkretisiert in zwölf Segmenten die Umsetzung der patenschaftlichen Förderung und der therapeutischen Maßnahmen. Dabei werden das Wachstum und die Stärken des Kindes fokussiert. In der sich anschlie- ßenden vierten Sequenz (730-947) werden sowohl die Lernerfolge des Kindes als auch die Ärgernisse und Enttäuschungen der Patin entfaltet. Leben mit Behinderung wird, wie es Wera erlebt, durch nichtbehindertengerechte Bauweisen und vermittelte Mitleidsreak- tionen der Umwelt zusätzlich erschwert. Versuche, Normalität durch Ausblendung und Ausgrenzung von Problemen und Handicaps in Realitätsabbildungen darzustellen, sind zwar eine Möglichkeit der Bewältigung des Umgangs mit Behinderung, sie fördern aber weder Integration, noch unterstützen sie das Prinzip der Normalität von Verschiedenheit und Anderssein. Mit dieser Darstellung ihrer persönlichen Einstellung und Haltung, einem Ausblick und dem Rückblick auf das erschwerte Verstehen durch nicht gelingende erken- nende Identifizierung und das Fremdbleiben von Patin und Maschas Eltern, kommt die Geschichte in der fünften Sequenz zum Abschluss (Segment 31-32).

2.3 Erwartungen und Orientierungsmuster für die Projektarbeit: Exklusivität versprechender Praxisbezug für den Abschluss des Studiums und eine einmalige Chance

Wera fühlt sich, wie sie im ersten Segment ihrer Stegreiferzählung ausführt (7-29), bereits zu einem frühen Zeitpunkt in ihrem Studium von der Projektidee und von der vorstellen- den Projektleiterin (die ihr nun als Interviewerin gegenüber sitzt) angesprochen. Ihre defi- nitive Entscheidung für die Mitarbeit im Projekt K erweist sich jedoch als ein längerer Pro- zess. Sie steht am Anfang ihres Studiums, als Wera von dem früheren Schülerhilfeprojekt – dem Vorläufer des Projekt K – erfährt. Einerseits ist sie an einer Mitarbeit interessiert, zugleich aber schreckt sie die zeitliche Rahmung über ein ganzes Jahr und die Verbind- lichkeit, auch während der Semesterferien präsent zu sein, ab. Für das Studium aus dem Elternhaus aus- und nach Kassel umgezogen, sehnt sich Wera danach, die Semesterfe- rien zu Hause verbringen zu können. Ihrem Interesse an dem vorgestellten Projekt stehen ihre eigenen Bedürfnisse gegenüber. Wera entscheidet sich zunächst gegen die Mitarbeit im Projekt.

Zu einem späteren Zeitpunkt erfährt sie im Rahmen einer Seminarveranstaltung von der Existenz des Nachfolgeprojekts. Ihr Interesse besteht nach wie vor. Inzwischen stu- diert Wera im sechsten Semester und sieht das Projekt K als zweite Chance für sich. Sie erkennt die Passung des institutionellen Angebots mit der eigenen Studienbiografie und der Planung des anstehenden Abschlusses. Mit der Themensuche für die anstehende Examensarbeit beschäftigt, sieht Wera die Möglichkeit, den Praxisbezug des Projekts zu

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Kapitel III: Wera

 

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nutzen und ihre Arbeit auf der Grundlage der eigenen Praxiserfahrungen zu verfassen. Das findet sie „interessanter“ (20) und „einfach besser, als jetzt irgendwie nur aus Bü- chern zu schreiben“ (20). Das kann, so denkt sie, „jeder. Jeder kann irgendwie übern Thema aus der Literatur schreiben“ (20-23). Den Bezug zur Praxis wissenschaftlich auf- zuarbeiten, ist für sie „irgendwie was ganz besonderes“ (23).

Die anstehende Examensarbeit erweist sich also für Wera als der wesentliche Grund, sich für die Mitarbeit im Projekt zu entscheiden. Ihr Ziel ist es, sich auf der Grundlage des Praxisbezugs und durch eine besondere Arbeit in ihrer Exklusivität auszuzeichnen.

Ihre Motivation führt Wera im Nachfrageteil des Interviews erweiternd aus. Wie die fol- gende Passage belegt, ist die Projektmitarbeit für sie von vielschichtiger Bedeutung:

(…) was mich gereizt hat, ist halt einfach der Praxisbezug gewesen. (hm) (ehm) Dass ich halt irgendwie (ehm), ja natürlich studiere und natürlich zum einen auch ja Praxis dabei ist durch die Praktika (ehm) aber irgendw i e da, vielleicht hat mir da einfach noch was gefehlt und vielleicht auch einfach diese besondere Erfahrung zu machen, die mir eigentlich nur im Studium geboten ist. Weil danach werde ich ja wahrscheinlich nicht mehr die Möglichkeit oder die Gelegenheit haben, ein Kind einzeln zu betreuen, weil es ja auch (ehm), so eine Sache ist das (ehm) später in der Schule has- hat man irgendwie eine große Klasse, zwan- zig oder dreißig Schüler da kann man nicht bei vielen Einzelnen eingehen und so durch das Projekt Konnte ich mich ja noch mal ganz intensiv mit einem Kind beschäftigen. Und halt auch einfach mal so sehen (ehm) wie siebenjährige so, sag ich mal d r a u f sind, was sie schon verstehen, weil ich mein ich war ja schon ein paar mal in der Schule, aber da ich hab mir das dann viel intensiver dann kennen gelernt, und vielleicht konnte man auch ein biss- chen was testen sag ich mal, und das war halt einfach die Sache, dass ich mir dachte, jetzt hab ich noch die Möglichkeit dazu, mich (ehm) einem Kind ganz alleine zu widmen und dem meine volle Aufmerksamkeit zu schenken, später geht’s halt nicht mehr. Oder halt nicht mehr so gut. (hm) Und das war unter anderem der Grund, warum ich gesagt hab, das möch- te ich gerne noch mal machen. (hm) Ja, und dann wie gesagt auch anders wie dieser Pra- xisbezug. Und was natürlich schön ist, ist halt einfach die Arbeit in der relativ kleinen Grup- pe. Dass man halt einfach, zum Beispiel zu dir ist ja ein ganz anderes Verhältnis als wenn ich jetzt irgendwie in ein Seminar gehe von was weiß ich irgend ein Dozenten, mach da viel- leicht auch meinen Schein, melde mich ein paar Mal, sag was, aber es ist ja irgendwie ein ganz anderes Verhältnis. (hm) Und das das fand ich halt auch sehr schön. Dass halt irgend- wie so ein (äh) großen Unigeschehen, dass man doch da irgendwie so (ehm) (ehm) so eine kleine Gruppe hat, zu der man so ein Bezug aufsetzt. Zum Beispiel jetzt hab ich neulich dann mal die J. getroffen und man unterhält sich dann, das ist ganz anders, als wenn man irgendwie die Leute ja man sieht sie im Seminar, man sitzt nebeneinander, man man mag sich, man man redet miteinander, was es irgendwie so ein ganz anderes Verhältnis. (hm) Und so lernt man natürlich auch noch mal neue Leute kennen, was ich eigentlich auch im- mer sehr positiv finde. (hm) Wobei ja ich unterhalte mich jetzt mit J. ja schon mehr halt über das Projekt, aber trotzdem finde ich es halt interessant, neue Leute kennen zulernen, und wie gesagt auch diese kleine Arbeit in der kleinen Gruppe, die finde ich halt (hm) fand ich halt auch sehr schön (hm) (N 6-40).

Gründe für die Entscheidung zur Projektmitarbeit

Am Ende ihres Studiums angekommen, bilanziert Wera, dass das Studium zwar durch die Praktika Praxisbezüge bietet, diese insgesamt jedoch für sie unzureichend waren. „Ir- gendwie“ – so sagt sie – hat ihr „da einfach noch was gefehlt“ (N 9). Wera sucht, wie sie in ihrer Examensarbeit ausführt, die Gelegenheit, „zu einem Kind eine enge Beziehung aufzubauen“ und will „durch die Projektmitarbeit mehr Einblicke in die Praxis erhalten“ (E- xamensarbeit S. 30, s. A II).

In der Projektmitarbeit sieht sie zudem eine Möglichkeit, ihr Bild von Grundschulkindern zu konkretisieren. Sie findet es wichtig, auch das familiäre Umfeld des Kindes in den Blick zu nehmen. „Dadurch wird es oft leichter das Kind zu begreifen“ (Examensarbeit S. 31, s. A II).

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Kapitel III: Wera

 

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Die Projektmitarbeit sieht Wera auch als eine Testsituation, die ihr die Gelegenheit des

Probehandelns gibt, ein einzelnes Kind in seinem individuellen Lern- und Entwicklungs- stand zu beobachten, um das bisherige Bild vom Grundschulkind erweitern zu können.

In ihrer Examensarbeit führt Wera zudem die ernsthafte, selbstverantwortliche Arbeit zur konkreten Förderung eines Kindes als einen weiteren, für sie entscheidenden Grund für ihre Projektmitarbeit an. Sie schreibt:

Ein weiterer Grund für meine Teilnahme war der, dem Kind in seiner Entwicklung und bei Schwierigkeiten weiterhelfen zu können. (…) Die Förderung sollte [nach beendeter Frühför- derung] fortgesetzt werden (…). Ich trug die Verantwortung, ein Kind zu fördern und ihm ge- recht zu werden. Eine Herausforderung – aus meiner Sicht (Examensarbeit S. 30f., s. A II).

Wera hat auch den Wunsch, sich im selbstverantwortlichen Handeln zu erproben.

Ich hatte (…) die Möglichkeit, mich für ein Jahr einem zuwendungsbedürftigen Kind im Grundschulalter zu widmen. Eine Beziehung zu einem fremden Kind aufbauen, seine Ent- wicklung zu beobachten, bei Problemen zu helfen, zu unterstützen, Vertrauen aufzubauen, an dem anknüpfen, was ich in den Seminaren theoretisch gelernt hatte und als eine neue Bezugsperson für das Kind da sein, das alles konnte ich bei dem Projekt lernen, ausprobie- ren, machen (Examensarbeit S. 30, s. A II).

Von der Projektmitarbeit verspricht sie sich schließlich Intensität und individuelle Zuwen- dung. Diese „besondere Erfahrung“ (N 10) als Chance veränderter Lern- und Ausbil- dungsbedingungen ergreift sie und sucht in der relativ kleinen Lerngruppe eine Bezugs- gruppe, in der sich der Kontakt zu Mitstudierenden und das Verhältnis zu den Dozenten persönlicher gestalten lassen.

2.4 Projekterfahrungen

2.4.1 Beziehungserfahrungen und Interaktionsdynamik: nicht gelingende Arbeitsbündnisse

Der Fall Wera zeigt, dass der Aufbau eines Arbeitsbündnisses mit zahlreichen Schwierig- keiten verbunden sein kann. Zuversicht und Motivation von Seiten der Patin allein sind nicht ausreichend, um Reziprozität und Flexibilität in der Patenschaftsbeziehung zu errei- chen. Die vorwiegend einseitige Beziehungsgestaltung wird von Wera als belastend und enttäuschend erlebt. Trotz aller Bemühungen, Mascha mit interessanten und anregenden Angeboten zu fördern, muss sie erkennen, dass ihr Ansatz keinen Erfolg hat. Die von ihr initiierten Fördervorschläge werden von Mascha zwar angenommen, aber nicht gemein- sam ausgestaltet. Dennoch kann Wera das initiativarme Verhalten des Kindes, das sie auf der Beziehungsebene als indirekte Ablehnung erlebt, nicht nur aushalten, sondern kann Ablehnungen und Verneinungen als Förder- und Entwicklungsfortschritte deuten und stellt sich damit einer großen Herausforderung. 68

Ausgangssituation und erste Begegnung: Mascha der „Wirbelwind“ im Rollstuhl – ein sehr gutes Gefühl

Zur Ausgangssituation der Patenschaft und ersten Begegnung erzählt Wera folgendes:

68 Eine tabellarische Zusammenfassung der Projekterfahrungen können im Anhang I (A 10 (2)) nachgelesen werden.

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Kapitel III: Wera

 

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(…) ja und dann fing’s halt dann mit der Mascha dann an das Jahr. Wobei es ein bisschen mehr als ein Jahr war. (hm) (…) Es fing ja so an, dass die Frau K. mich anrief und fragte, ob ich Probleme damit hab´, ein Rollstuhlkind zu betreuen. (hm) Und es war einfach so, ich hat- te vorher keinerlei Erfahrungen mit Rollstühlen, und ich hab einfach mal ja gesagt, weil ich dachte mir: „Es wird schon klappen.“ Also ich hab mir da keine großen Gedanken gemacht, ehm und denn kam eigentlich schon so ein p a a r Gedanken: „Mensch ist sie jetzt nur kör- perlich behindert?“ Weil das wusste ich zu dem Zeitpunkt eigentlich gar nicht, ob sie körper- lich behindert ist, oder also körperlich auf alle Fälle, und ob sie halt auch geistig behindert ist, ehm ja, aber als ich sie das erste mal gesehen hab´, war mir halt klar, dass sie nur kör- perlich behindert ist und vielleicht ein bisschen eingeschränkt ist aufgrund ihrer körperlichen Behinderung halt, dass es vielleicht auch im Gehirn ein paar Probleme gibt, weil sie ja natür- lich auch im Motorischen nicht so ehm, ja ihre Motorik ist nicht so ausgebildet wie bei den anderen Kindern, weil sie (hm) auch auf der, ne auf der rechten Seite ist sie ja ehm gelähmt. (hm) Ja, und bei dem ersten Treffen dachte ich gleich so, ist das ein Wirbelwind, also sie war überall und nirgends, und war vielleicht auch ein bisschen aufgeregt weil ja die Frau K. (…) die Betreuerin, war ja da, und ich war ja da, die Mutter war da, und es war ja ziemlich viel Trubel, aber es war sie war einfach sehr auf- aufgedreht, ja aber es ich hab mir gleich ge- dacht, es wird schon, das wird irgendwie klappen zwischen uns beiden. >Ich hatte irgendwie gleich ein sehr gutes Gefühl.< Ja dann haben wir uns ja eigentlich immer wöchentlich getrof- fen (28-52).

Die Möglichkeit, auf ein geistig behindertes Kind zu treffen und u.U. die Entscheidung re- vidieren und damit die eigene Überforderung und Naivität offen eingestehen zu müssen, lässt Wera die Situation der Erstbegegnung unsicher betreten. Sie sucht schnellstmögli- che Klärung. Der erste Eindruck, den sie von Mascha gewinnt, wirkt entlastend. Ihre Be- fürchtungen rücken in den Hintergrund. Wera nimmt sich nicht die Zeit für längere Beob- achtungen und weiterführende Gespräche, um detaillierende Hintergrundinformationen zu erhalten, sondern lässt sich – intuitiv geleitet von ihren spontanen Gefühlen – auf die Pa- tenschaftssituation ein. Die konkrete Begegnung verschafft Wera vermeintlich Klarheit (39). Erleichtert beobachtet sie die Lebendigkeit des Kindes und definiert für sich, dass Mascha „nur körperlich behindert“ ist. Einschränkend zieht sie die Möglichkeit in Betracht, dass Mascha auch geistig „vielleicht ein bisschen eingeschränkt ist“ (39-40). Ihre rechts- seitige Lähmung sieht sie als Beleg für die „Probleme“ (41) im Gehirn. So versucht Wera, ihre eigenen Zweifel und Ängste vor der Uneinschätzbarkeit einer möglichen, nicht sicht- baren und nicht zu belegenden geistigen Behinderung zu reduzieren. Die in der konkreten Begegnung erlebte Vitalität des Kindes verringert Weras Zweifel zunehmend, sodass sie sich vorstellen kann, die Patenschaft durchzuführen.

In der Situation der ersten Begegnung treffen unterschiedliche, einander unbekannte und unvertraute Personen aufeinander: die Therapeutin/Betreuerin der EB, Maschas Mut- ter, Mascha und Wera. Sie begegnen einander mit je individuell unterschiedlichen Verhal- tensmustern, Zuordnungen, Rangfolgen, aber auch mit je eigenen Wünschen und Erwar- tungen, die es zu berücksichtigen gilt. Die Kennenlernphase hat großen Einfluss auf den weiteren Verlauf der Patenschaft.

Wera erlebt diese Situation als turbulent. Diesen „Trubel“ (48) sieht sie als Erklärung für Maschas Aufgeregtheit. In ihrer eigenen Aufregung, gepaart mit Neugier- und Unge- wissheitsgefühlen, die sie jedoch nicht offen anspricht, wird Wera von der Dichte vielfälti- ger Eindrücke und Wahrnehmungen überwältigt. Sie erlebt Mascha trotz der Körperbehin- derung, die sie an den Rollstuhl bindet, in beeindruckender Dynamik und Intensität wie ein „Wirbelwind“ rotierend, „überall und nirgends“, was sie selbst schwindelig werden lässt und von ihr immer wieder Neuorientierung erfordert.

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Kapitel III: Wera

 

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Weras Beschreibung des Kindes verdeutlicht einen perzeptuellen und emotionalen

Perspektivenwechsel. Sie versucht, den Raum und das Geschehen mit den Augen des anderen wahrzunehmen. Da keine mitfühlenden Beschreibungen formuliert werden, bleibt der Perspektivenwechsel auf der Ebene des Erkennens, in Ansätzen auf der des sympa- thischen, nicht aber des empathischen Mitfühlens.

Eingebunden in diese lebendige und dynamische Situation, spürt Wera ein positives und sicheres, „sehr gutes“ Gefühl als Basis für die nun beginnende Patenschaft.

Anders als gedacht – ein enttäuschtes Kennenlernen

Nach der ersten Begegnung, die mit intensiven emotionalen Gefühlen der Entlastung und der zuversichtlichen Perspektive für die Patenschaft endet, macht Wera in den darauf fol- genden Treffen umfassende, ernüchternde und sie befremdende Realitätserfahrungen, und zwar im Hinblick auf das Kind Mascha und die Patenschaftsbeziehung, im Hinblick auf das familiäre Leben mit einem behinderten Kind und im Hinblick auf die gesellschaftli- chen Bedingungen und Beeinträchtigungen für ein Leben mit Behinderung. War ihr erster Eindruck von Mascha der eines wirbelnden und dynamischen Kindes, lernt Wera Mascha nun in den weiteren Treffen als ein Mädchen mit nur wenig Eigeninitiative und Fantasie kennen. Wera merkt, dass sie sich getäuscht hat. Ihre anfänglichen, zwar unkonkreten und diffusen Hoffnungen und Erwartungen gehen nicht auf. Sie muss ihre erste Einschät- zung, so wie vor der Erstbegegnung befürchtet, revidieren. Sie fühlt sich von dem Kind getäuscht. Aus dem Konflikt von Erwartungen und tatsächlichem Erlebnis entsteht Ent- täuschung – für Wera ist dies besonders schmerzlich, da ihr Vertrauen in die Beziehung zu Mascha, aber auch das Vertrauen in die eigene Person erschüttert wird. Dies wird in den gehäuft auftretenden und sich durch die ganze Geschichte hindurch ziehenden negativ be- wertenden Stellungnahmen mit dem variierenden Wortlaut „das finde ich schade“ deutlich.

Gestaltung der Patenschaftsbeziehung – einseitig mit nur geringer Beteiligung

Wera erhofft sich eine Beziehungsstruktur, die auf Partnerschaftlichkeit angelegt ist. In der Beziehung zu Mascha, aber auch in der zu deren Eltern, muss sie jedoch immer wieder mangelnde Reziprozität erfahren. Ein Arbeitsbündnis im Sinne Oevermanns, in dem sich Patin und Patenkind bzw. Patin und Eltern über die gemeinsamen Aufgaben, Erwartun- gen, Wünsche, Arbeitsweisen und über die Merkmale des Settings oder auch über ent- täuschte Erwartungen verständigen, kommt aus verschiedenen Gründen nicht zustande.

Wera ist darum bemüht, die Treffen gemeinsam mit Mascha vorzubereiten, erlebt aber, dass sich Mascha kaum an der Planung und Gestaltung beteiligt und ihre eigenen Wün-sche und Vorstellungen kaum äußert:

(…) sie hat eigentlich nie gesagt was wir machen möchten, also ich hab sie denn gefragt Mascha, was wollen wir machen: „Weiß ich nicht“ (233-235).

Maschas geringe Beteiligung – „von ihr kam halt gar nichts“ (118) – irritiert und verun- sichert Wera.

Deutlich wird, dass die Patenschaftsbeziehung unterschiedlich definiert wird. Während Wera bereits ein „Wir“ unterstellt, hält sich Mascha zurück, vermutlich auch, weil für sie das „Wir“ aufgrund bisher fehlender gemeinsamer Erfahrungen noch nicht konstituiert werden konnte. Dass ihr Verhalten auch darauf verweisen kann, dass Mascha möglicherweise bis-

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her keine konkreten Vorstellungen darüber entwickelt hat, wie gemeinsam Zeit verbracht werden kann, zieht Wera an dieser Stelle nicht in Betracht. Stattdessen hält sie bedauernd stellt: „das fand ich halt auch so schade, dass halt von ihr nichts kommt“ (244-245).

Die sich bereits hier andeutende Vertrauensantinomie (vgl. Kap. I, 1.2.2.3) wird von Wera nicht reflexiv bearbeitet, sondern einseitig mit Gefühlen der Enttäuschung gelöst. Sie sieht das erforderliche Arbeitsbündnis als bereits gegeben an und nicht als ein Bünd- nis, das weder eingefordert noch verordnet, sondern nur interaktiv und kommunikativ ein- geholt und immer wieder neu ausgehandelt werden kann.

Doch Wera gibt nicht auf. Sie sucht weiterhin nach Lösungen, übernimmt die Initiative und macht Vorschläge: „Da musste ich halt immer was vorschlagen“ (235). Sie bereitet die gemeinsamen Treffen umfassend vor und plant diese wie vorzubereitende Schulstun- den als ein lineares Nacheinander unterschiedlicher Aktivitäten in einem zeitlichen Ablauf mit alternativen Variationen. So versucht sie, sich bestmöglich auf die Bedingungen ein- zustellen, sich den vermeintlichen Bedürfnissen des Kindes zu stellen, spontane und un- erwartete Zugzwänge zu vermeiden und sich selbst vor weiteren Enttäuschungen zu schützen.

Also ich hab mich ehm ähnlich vorbereitet sag ich mal wie zum Beispiel in den Praktika auf ne Stunde. Also ich hatte wirklich sag ich mal n komplettes Programm für drei Stunden mir mal überlegt. Also vielleicht natürlich jetzt nicht so wie in der Schule aber es war schon so okay jetzt machen wir das dann machen wir das, dann können wir noch irgendwie spazieren gehen das ja, und dann brauch ich vielleicht noch irgendwas okay dann machen wir noch das. Also ich ich hab mich da wirklich immer richtig darauf vorbereitet (235-242).

Weras organisatorische Strukturierung erweist sich für sie zwar als handlungsentlastend, zugleich behindert sie aber die erforderliche Offenheit für kreative Gestaltungsprozesse, wodurch die Patenschaftsbeziehung nur sehr beengte Möglichkeiten der Entwicklung hat.

Wera wünscht sich, „dass halt mehr von ihr kommt, dass sie einfach mal mehr Eigen- initiative zeigt“ (255-257). Dieser Wunsch bezieht sich auf unterschiedliche Handlungsbe- reiche:

• auf die von ihr erhoffte, aber sich nicht entwickelnde partnerschaftliche Mitgestaltung und Planung der gemeinsamen Treffen,

• auf Maschas Freizeitverhalten, das Wera als wenig eigeninitiativ gestaltet und vor- wiegend auf das Fernsehen beschränkt beobachtet,

• auf Maschas Reaktionen auf die eingeschränkten und hauptsächlich auf den Fern- seher beschränkten elterlichen Vorgaben, die Zeit zu verbringen und

• auf die von Mascha unterlassenen Rückmeldungen bezüglich der Aktivitäten, die Wera ihr vorschlägt bzw. bezüglich der von Wera mitgebrachten und als Geschenk verpackten Fördermaterialien, wie z.B. ein Puzzle.

Für Wera ist und bleibt es nicht nachvollziehbar, dass sich Mascha nicht selbstständig mit anderen Dingen beschäftigt:

(…) weil sie beschäftigt sich kaum mit sich selber, also sie guckt halt immer nur fernsehen. (…) Sie sitzt zwar im Rollstuhl, kann vielleicht ja manche Sachen nicht machen, aber sie kann ja vieles trotzdem machen (53-58). (…) Da dachte ich: „Mensch sie könnte doch so viel machen und warum macht sie irgendwie einfach nichts?“(100-101).

Bedingt durch die einseitigen Anregungen und die ausbleibenden Rückmeldungen erlebt Wera ihre Vorstellungen einer partnerschaftlichen Beziehungsgestaltung als nicht um- setzbar. Enttäuscht stellt sie fest:

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(…) es war nicht so ich bin zu Mascha gekommen: „Mascha, was machen wir heute?“ "Och ich hätte Lust da und dazu". Und das fand ich halt auch so schade dass halt von ihr nichts kommt weil ich halt ich wusste halt nie wirklich will sie es auch machen was ich da vorschla- ge oder will sie es nicht deswegen hatte ich auch immer mehrer Alternativen aber das war halt das war auch so ne Sache wo ich gesagt hab schön wär’s wenn sie jetzt einfach sagt: „Heute möchte ich spazieren gehen oder heute möchte ich dies machen (242-249).

Wera ist verunsichert. Ob ihre Ideen zur Förderung passen und den kindlichen Bedürfnis- sen entsprechen, bleibt offen und ungewiss. Weras Frage „will sie [Mascha] es auch ma- chen, was ich da vorschlage, oder will sie es nicht“ (245-246) bleibt unbeantwortet, was ihre Gefühle der Enttäuschung verstärkt:

(…) aber irgendwie hatte ich gedacht, dass sie sagt: „Hier Wera, gestern hab ich mal dein Puzzle wieder gemacht“, und dann hätte mich eben noch mehr gefreut, halt das war halt lei- der nicht der Fall, aber ehm >na ja< (114-116).

Wera fordert Mascha zur Autonomie auf, berücksichtigt dabei aber nicht, dass deren Handlungsrahmen vielfach fremdbestimmt und somit von Heteronomien durchsetzt ist. Ihre Forderung nach verstärkter kindlicher Eigeninitiative trifft auf einen vorwiegend fremdbe- stimmten Alltag des Kindes. Dass ihre Forderung für Mascha möglicherweise auch eine Überforderung darstellen kann und zunächst als längerfristiges Ziel angestrebt werden müsste, erkennt Wera nicht. Die kindliche Verstrickung in die antinomischen Strukturen von Autonomie und Heteronomie wird Wera nur in Ansätzen deutlich und kann damit für sie auch nur unzureichend die Basis für ihre Deutungs- und Verstehensversuche bilden.

Nach und nach erfasst Wera Maschas Verhalten als eine individuelle Strategie der An- passung. Sie erkennt, dass das Kind um Zuwendung und Akzeptanz bemüht ist und seine eigenen Bedürfnisse zurückstellt, um nicht aufzufallen und um gemocht zu werden. Die- ses Verhalten wertet Wera zunächst als Bequemlichkeit, erkennt dann aber die in der Si- tuation steckende Widersprüchlichkeit, der Mascha verhängnisvoll ausgesetzt ist:

Ich denke, da ist sie dann doch einfach ein bisschen zu bequem. Habe ich so das Gefühl. (lacht) Andererseits will sie es, vielleicht will selbstständig sein, will groß sein, aber sagt sich: „Ach ist gemütlich und schön und angenehm und passiert ja auch nichts.“ Denke ich mir, dass es ein wenig widersprüchlich ist, aber manchmal kommt sie wahrscheinlich so durch. (hm) Dass sie dann halt irgendwie denkt, so soll es doch nicht sein, will ich doch nicht (…), dass die Leute sich um mich kümmern (394-400).

Wera sieht mögliche Gründe für das kindliche Verhalten auch im Kontext von Maschas biografischen Erfahrungen. Die häufigen Krankenhausaufenthalte erklären ihr die kindli- che Anstrengungsbereitschaft, „tapfer“ (202) zu sein, Anforderungen zu erfüllen und die familiäre Umwelt nicht noch mehr zu belasten, um Anerkennung und Lob zu erwirken:

(…) ich denke, vielleicht kommt das auch einfach durch ihre Vergangenheit, sie war ja so oft im Krankenhaus gewesen und wurde so oft operiert, ich glaube sieben mal >oder sogar noch öfter< ich glaube noch öfter, und ehm die Eltern, die Mutter hat auch gesagt: „Ach Ma- scha ist so tapfer und sie hält immer alles durch“, aber ich glaube es ist vielleicht ne Strate- gie, die sie mit der Zeit entwickelt hat, dass sie jetzt sagt, um so weniger Widerstand ich leis- te, um so mehr mögen mich die Leute, wenn natürlich da ein kleines Kind da weint, sag ich mal, wenn sie eine Spritze kriegt, ehm klar sagt natürlich auch keiner was gegen, aber wenn wenn Mascha natürlich tapfer ist, sagen sie: „Mensch das ist ja ‘n tapferes Mädchen.“ Und ich hab das Gefühl, dass sie halt diese Strategie immer noch verfolgt (199-209).

Wera vermutet, dass Mascha gelernt hat, angepasst zu handeln und vorwiegend zu rea- gieren. Sie überlegt, dass sich Mascha u.U. durch die vielfältigen therapeutischen Maß- nahmen daran gewöhnt hat, im Mittelpunkt zu stehen und Entscheidungen von anderen treffen zu lassen. Dass dabei ein selbstbestimmendes, autonomes Agieren und ein ge-

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meinsames Aushandeln nicht erforderlich, ja sogar nicht erwünscht sind und von Mascha somit vermutlich auch nicht eingeübt werden konnte, wird von Wera jedoch nicht als mög- liche Konsequenz abgeleitet. Unberücksichtigt bleibt von ihr zudem, dass die Übernahme von Initiative auch Kraft kostet und die Darstellung von Wünschen und Erwartungen, so wie es Wera für die Patenschaftsbeziehung erhofft, sowohl eine vorhandene Vorstellung von Möglichkeiten voraussetzt als auch ein Vertrauen in die eigene Person und in die Menschen, die an der Interaktion beteiligt sind.

Dass die Übernahme von Initiative für Mascha einen längerfristigen und unter den spe- zifischen Lebensbedingungen für sie erschwerten Lernprozess darstellt, reflektiert Wera nicht. Sie nimmt die rahmenden Bedingungen als gegeben und unveränderbar an und re- agiert, indem sie sich darauf einstellt und anpasst und fortan – wenn auch resigniert – die Initiative bei sich belässt und für die weiteren Treffen vermeintlich passende und Mascha befriedigende Vorschläge entwickelt, immer in der Ungewissheit bleibend, ob ihr Handeln angemessen ist.

Orte und Räume in der Beziehungsgeschichte

Weras Geschichte spielt an unterschiedlichen Orten, die den beiden Welten der Protagonis- ten zugeordnet werden können. Die Treffen finden vorwiegend in Maschas Welt statt: Von den insgesamt 39 Treffen begegnen sich Patin und Patenkind 22 Mal bei Mascha zu Hau- se. 16 Mal gestalten sie das Treffen vorwiegend in der Wohnung, bei sechs Treffen halten sie sich draußen in der näheren Umgebung auf, wo sie zusammen auf den Spielplatz ge- hen, Mascha das Fahrradfahren übt oder sie gemeinsam spazieren oder einkaufen gehen. An vier Treffen verbringen Mascha und Wera den Nachmittag bei Wera zu Hause. Hier ma- len, basteln und kochen sie. Einmal besucht Wera Mascha im Krankenhaus. Zwölf Mal su- chen beide öffentliche Orte auf. Zu ihnen zählen die Karlsaue69 , die Innenstadt, Kinos und das Herkules-Denkmal als Wahrzeichen Kassels im Bergpark, von dem die ganze Stadt überblickt werden kann, sowie die Kinder- und Jugendbücherei und ein Kleintierzoo.

Die Besuche bei der Krankengymnastin und bei der Logopädin, bei welchen Wera anwe- send sein kann und hospitieren darf, stellen ebenso wie die zwei Quartalstreffen, die im Rahmen des Projekt K in der Grundschulwerkstatt der Universität Kassel stattfinden, Zwi- schenräume zwischen der jeweiligen Welt der Protagonistinnen und der institutionalisierten Öffentlichkeit dar.

Die ersten Treffen dienen dem Kennenlernen. Bereits am vierten Treffen fahren Wera und Mascha gemeinsam mit dem Bus in Weras Wohnung und verbringen dort den Nachmit- tag. Patin und Patenkind geben somit in den ersten vier Wochen einander Einblick in ihre jeweiligen Lebensumstände. Bemerkenswert ist das Zutrauen, das Maschas Mutter Wera entgegenbringt sowie das Vertrauen, mit dem Mascha Wera begegnet, indem sie sich von Anfang an auf sie verlässt und sich mit ihr gemeinsam auf den Weg begibt. Für Wera sind diese ersten Unternehmungen aufregend. Ganz im Gegensatz zu Mascha und deren Mut- ter, fühlt sie aufsteigende Zweifel und Anfangsängste, die sie in ihrer Erzählung aber nicht detaillierend ausführt. Ihre Tagebuchaufzeichnungen lassen diese jedoch konkreter werden:

69 Der ursprünglich barocke Park, der zum englischen Landschaftsgarten umgestaltet wurde, bie-

tet als beliebtes Ausflugsziel den Besuchern Platz für Sport und Spiel, beschauliche Spazier- wege und die „Orangerie“ mit einem Technikmuseum.

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Auf dem Weg zu Mascha hatte ich plötzlich große Bedenken. Geplant war, den Nachmittag bei mir zu verbringen. Ich wollte fast einen Rückzieher machen und mir eine doofe Ausrede einfallen lassen. Viele Fragen gingen mir durch den Kopf: wie komme ich in den Bus, wie komme ich wieder raus? Wird mir jemand helfen, wenn ich das nicht schaffe? Ich war sehr unsicher. Schließlich sind wir doch zu mir gefahren, ich hatte meine Bedenken verworfen. Als wir problemlos in den Bus gekommen waren, war ich sehr erleichtert. Ich erzählte Ma- scha auch ansatzweise von meinen Bedenken. Sie sagte: „Die Leute helfen immer, wenn man sie fragt. Sehr beruhigend (Tagebuchauszug vom 4. Treffen/27.06.01, s. A II).

Der gemeinsame Weg: miteinander unterwegs – „eine halbe Tortur“ (629)

Für Wera sind die gemeinsamen Wege besonders wichtig. Sie beschreibt sie in ihrer Ge- schichte erlebnisnah und verdeutlicht damit eindrücklich die besondere, von ihr zu bewäl- tigende Anstrengung und Herausforderung. Gemeinsame Erlebnisse vor Ort werden da- gegen weniger ausgeführt. So erzählt Wera beispielsweise von ihrer Anstrengung, den Weg in die Karlsaue zu planen und dieses Ausflugsziel auch zu erreichen; was sie dort jedoch mit Mascha erlebt, führt sie nicht weiter aus.

Wera erlebt das Planen, aber auch das Zurücklegen gemeinsamer Wege zu einem entfernten Ziel als aufwendig und beschwerlich. Ihre Beschreibung des Weges zur Kran- kengymnastin, den sie gemeinsam mit Mascha und deren Mutter geht, verdeutlicht dies:

Und bei der Krankengymnastik war ich auch einmal mit ihr, ehm und da war es erst mal die Sache gewesen, wir mussten superweit fahren, es war ein elendig langer Weg dahin, weil Mascha wohnt ja in Hausen70 und von Mascha bis zur Innenstadt fährt man eine halbe Stun- de, ne erst mal eine viertel Stunde mit dem Bus, das ist auch eigentlich kein Problem, und dann am Königsplatz musste musste man halt in die Bahn dann umsteigen, und es war dann am ehm am H a u p tfriedhof oder Wiener Straße, so oben an der Holländischen Stra- ße. Es war erst mal so eine halbe Tortur, da hin zu kommen, ehm und die Mutter benutzt ja auch mit Mascha die öffentlichen Verkehrsmittel, und dann war es wirklich so, der Berg zu dieser Krankengymnastik war elendig steil. Also wir mussten, ich war wirklich, ich bin wirklich fast ins Schwitzen gekommen. Aber die Mutter meinte: „Oh wir müssen jetzt da gleich einen ganz steilen Berg hoch.“ Ich so: „Och kein Problem, ich schieb mich schon nach oben.“ War ich total am Ende. Und die Mutter macht es halt immer (622-636).

Unter der Last erlebt Wera, wie sie – ihr Versprecher beschreibt es bildlich – nicht nur den Rollstuhl, sondern auch sich selbst den Berg hochschiebt. Dieser Weg lässt sie ihre kör- perlichen Grenzen spüren und sie kann verstehen, welche körperliche Anstrengung Ma- schas Mutter Woche für Woche auf sich nimmt und dass sie unter dieser Belastung mög- licherweise keine Kraftreserven mehr für weitere freizeitliche Unternehmungen aufbringen kann, so wie es Wera unausgesprochen von ihr erwartet.

Die Beschreibung der Wege drückt bildlich die Anstrengung aus, mit der die Patenschaft für Wera verbunden ist. Ihr Vorhaben, Mascha in ihrer Entwicklung zu fördern und Verände- rungen zu bewirken, bezeichnet sie als einen anstrengenden, langen Weg mit Hindernis- sen, deren Überwindung Ausdauer, Kraft, Zeit und einen Plan zur Orientierung erfordert.

Förderversprechen ohne Erfolgssicherheit

Als Lern- und Entwicklungsbegleiterin und Förderin überlegt sich Wera erlebnisnahe und anregende Angebote zu Freizeitbeschäftigungen, die in ihren Augen Alternativen zum kindlichen Fernsehkonsum darstellen können und zugleich gezielte Übungen zur Förde- rung einzelner Teilleistungen sind. Die praktische Durchführung ihrer Förderung plant sie

70 Der Name des Ortsteils wurde anonymisiert.

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in „Programm[en] für drei Stunden“ (235), sodass ihre einzelnen Aktivitätsangebote unmit- telbar aneinander anschließend die Zeit der Treffen füllen. Damit versucht sie, zielgerich- tet zu handeln und offene Phasen zu umgehen, um Langweile und den Rückgriff auf ü- berbrückende Beschäftigung durch den Fernseher zu vermeiden (vgl. 235-242). Sie be- rücksichtigt jedoch nicht die antinomische Struktur jeglicher Entwicklungsförderung, die in dem Balanceakt zwischen dem Vermittlungsversprechen einer gelingenden Veränderung einerseits und der ungewissen Erfolgssicherung andererseits liegt und im Zusammenhang mit der geringen Prognostizierbarkeit individueller Entwicklung steht.

Die Durchführung der Förderung ist für Wera darüber hinaus erschwert, weil sich Ma- scha kaum partizipativ an der Planung der Treffen beteiligt. So weiß Wera, wie sie sagt, „halt nie wirklich, will sie [Mascha] es auch machen, was ich da vorschlage, oder will sie es nicht“ (245-246). Die Passung zwischen kindlichem Interesse und Förderangebot, a- ber auch die Wirkung und Nachhaltigkeit der eigenen Förderarbeit, bleiben offen und da- mit ungewiss. Wera erlebt, dass sich Mascha schon am nächsten Treffen an die gemein- samen Erlebnisse nicht mehr erinnert, obgleich Wera diese ganzheitlich und erlebnisnah gestaltet hat. Wera entwickelt Zweifel:

(…) manchmal [habe ich] wirklich daran gezweifelt, bringt meine Arbeit eigentlich überhaupt was, wenn sie irgendwie gar keine Erinnerung mehr daran hat (412-414).

Hier werden die antinomischen Strukturen im Förderhandeln nochmals verstärkt deutlich. Wera erlebt, dass Fördern als ein Erzeugen von Neuem und als ein krisenlösendes Ver- sprechen nicht mit Erfolgssicherheit einhergeht. Die Folgen der intendierten Handlungen und ihrer Absichten für die Zukunft bleiben zunächst unabsehbar. Die eigenen pädagogi- schen Pläne und Vorhaben stehen den nicht vorhersehbaren individuellen Entwicklungs- verläufen, aber auch den systemimmanenten Strukturen und Abhängigkeiten entgegen. Wera erfährt, dass dies auch mit den eigenen Ansprüchen und Erwartungen und der selbst zugeschriebenen Rolle zusammenhängt.

Vor dem Hintergrund der Erfahrung, dass mit der Planung unabgesprochener Förde- rung auch Fehleinschätzungen verbunden sein können und geplante Aktivitäten für das Kind u.U. eine Überforderung darstellen, organisiert Wera für ihre Förderangebote „immer mehrere Alternativen“ (246). Trotz dieses zeitaufwendigen Engagements bleiben För- dererfolge aus Weras Sicht meist aus. Erfolg bemisst sie an Dingen, die nicht verlorenge- hen, sondern dauerhaft präsent sind und z.B. in Maschas Zimmer aufgehängt werden. So können sie nachhaltig wirken und Erinnerungen lebendig erhalten (vgl. 430-435). Erfolg – so meint Wera – hat sie dann, wenn etwas „hängen“ bleibt. Mit Bezug auf Maschas gerin- ge Erinnerungsfähigkeit ist diese Erfolgsdefinition doppeldeutig.

2.4.2 Rollenerfahrungen

Im Verlauf der Patenschaft erfährt Wera, dass sie – eingebunden in unterschiedliche so- ziale Beziehungen – in vielfältigen Rollen handeln muss und auch mit uneindeutig formu- lierten Rollenerwartungen konfrontiert wird.

Die selbst zugeschriebene Rolle der anspruchsvollen, anregenden Förderin

Aufgrund ihrer Vorinformationen aus den Erstgesprächen mit der Therapeutin des Famili- enberatungszentrums und auf der Grundlage der Erstbegegnung, in der Wera Mascha

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und ihrer Mutter von der Therapeutin als Patin vorgestellt wird, die sich im folgenden Jahr um Mascha „kümmern“ (PF, 2, s. A II) wird, versteht sich Wera als diejenige, die die ab- geschlossene Förderung der Erziehungsberatung nun fortsetzt, „allerdings unter neuen Bedingungen“ (PF, 22, s. A II). Sie schreibt sich selbst die Rolle der verantwortlich han- delnden Förderin zu: „Ich trug nun die Verantwortung, ein Kind zu fördern und ihm gerecht zu werden“ (ebd.).

Ihre Beobachtungen und Erkenntnisse aus den ersten Treffen mit Mascha bestätigen sie in ihrer Selbstzuschreibung und ihrem Förderanspruch: Wera erkennt den in dieser Familie gültigen hohen Stellenwert des Fernsehers für die Freizeitbeschäftigung von Ma- scha. In diesem Zusammenhang erklärt sie sich auch Maschas fehlende Eigeninitiative, ihr geringes Interesse und ihre wenig ausgeprägte Fantasie. Verantwortlich macht sie da- für die Eltern. Statt ihre Tochter umfassend zu fördern, setzen sie Mascha vor den Fern- seher und sehen sie damit beschäftigt. Auf der Grundlage dieser Interpretation setzt sich Wera das Ziel, Mascha „irgendwie Anregungen (…) [zu] geben, dass sie halt auch mehr machen kann, als Fernsehen gucken“ (61-62). Durch ganzheitlich ausgerichtete und er- lebnisnahe Förderung will sie Fortschritte und Veränderungen bewirken und zugleich mit diesem Gegenentwurf zum elterlichen Handeln Maschas Eltern zeigen, wie ihre Tochter „so ein bisschen in eine andere Richtung zu lenken“ ist (295).

Rollenkonflikte

Im Verlauf der Patenschaft lernt Wera, dass Rollen unterschiedlich definiert werden kön- nen und dass die an sie adressierten situations- und ereignisbezogenen Rollenerwartun- gen nicht immer ihren eigenen Bedürfnissen entsprechen, ja sogar häufig nur schwer mit ihren eigenen Zuschreibungen in Einklang zu bringen sind und damit zu Inter- und Intra- Rollenkonflikten führen können.

Inter-Rollenkonflikt: als Patin zwischen Lernerin und vermeintlich Professioneller

Wera erkennt, dass sich in ihrer Rolle als Patin und Förderin zwei einander widerspre- chende Rollen vereinen: einerseits ist sie als Studentin in der Rolle der Lernenden, ande- rerseits als Patin in der der vermeintlich Professionellen. Wera betont für sich die Rolle der Professionellen und vermittelt dies den an der Patenschaft beteiligten Personen indi- rekt auch durch ihre Anspruchshaltung. Sie muss jedoch erleben, dass sie selbst ihre An- sprüche an professionelles Förderhandeln nicht einlösen kann: ihr Engagement bleibt oh- ne den erhofften Erfolg. Ihren Anspruch, Veränderungen zu bewirken, kann Wera weder im Hinblick auf Maschas Förderung noch im Hinblick auf die angestrebten Veränderungen im familialen System umsetzen. Mascha kann sich trotz umfassender, ganzheitlicher und erlebnisnaher Aktivitäten bereits von einem zum anderen Treffen nicht mehr daran erin- nern, was sie mit Wera erlebt hat. Rückblickend vermutet Wera, dass sich durch die Paten- schaft auch im System Familie nichts geändert haben wird. Sie fühlt ihre Bemühungen und damit auch sich selbst infrage gestellt und reagiert mit Bedauern und Resignation (vgl. 178-188).

Diesen Inter-Rollenkonflikt löst Wera, indem sie sich nicht auf die Rolle der Lernerin rückbezieht und das betroffene Umfeld auf die auftretenden Schwierigkeiten hinweist und damit ihren Konflikt transparent macht, sondern indem sie mit Enttäuschung und Resigna-

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tion reagiert und schließlich ihre Ansprüche relativiert. Damit der ausbleibende bzw. nicht nachweisbare Erfolg ihres Einsatzes nicht als Misserfolg und möglicherweise als nicht er- brachte Leistung gewertet werden kann, arrangiert sich Wera mit der veränderten Definiti- on von Erfolg:

Aber andererseits denke ich mir: es zählen ja jetzt nicht die die großen Ereignisse, die man miteinander gemacht hat, sondern eigentlich eher so das Gefühl, und dass man einfach je- manden hat, und dass man da ist also ist halt, also ich ich ich finde es halt schade, dass sie das dann einfach vergisst, oder sich nicht mehr dran erinnern kann, aber andererseits denke ich mir natürlich dadurch: dass meine Arbeit sinnlos war – auf keinen Fall (414-420).

Durch den grundlegend reduzierten Anspruch und dem Eingeständnis, dass der Förderer- folg nicht offensichtlich sein muss, schwächt Wera auch ihre Demonstration gelingender Förderung als Gegenentwurf zum elterlichen Verhalten ab. Möglicherweise wirkt sie da- durch in ihrem Verhalten auf ihr Umfeld weniger konfrontativ und inkonsistent.

Intra-Rollenkonflikt: „ich weiß jetzt auch nicht, wie die Eltern mich da gesehen haben“ (284)

Während der Patenschaft kommt es zu einem weiteren Rollenkonflikt, der sich als Intra- Rollenkonflikt dadurch auszeichnet, dass die Rolle der Patin von der Studentin Wera und von Maschas Eltern mit jeweils unterschiedlichen und z.T. nicht miteinander zu vereinba- ren Erwartungen besetzt wird.

Während sich Wera, wie aufgezeigt, in der Rolle als anspruchsvolle, auf Veränderun- gen zielende Förderin des Kindes sieht, muss sie erkennen, dass Maschas Eltern – insbe- sondere deren Mutter – sie als wissende und kompetente Gesprächspartnerin, als entlas- tende und unterstützende Hilfe und als Beraterin sucht:

(…) ich hatte auch das Gefühl, dass die Mutter ehm ja in mir auch eine Person gesehen hat wo in mit der sie halt über Mascha ehm reden kann, und die auch eine Sicht von außen hat, und ich weiß halt auch nicht, ehm ich bin mir halt auch nicht so ganz sicher, ob die Eltern wirklich wussten, dass ich halt noch ganz normal studiere, und dass ich halt später Lehrerin werde, und ehm wie gesagt das weiß ich gar nicht so genau, weil ich glaube die Mutter dachte immer, ich bring jetzt da die ganz wichtigen guten nur richtigen Aussagen oder Tipps oder so was, hatte ich immer so das Gefühl, dass die Mutter so so ein bisschen die Erwartung an mich hat, dass ich halt irgendwie plötzlich alles weiß und zu allem irgendwie eine Lösung weiß, (…) wie gesagt die Mutter hat halt auch mal mit mir über Mascha geredet, ich denke >der Mann, der hat sich auch einfach nicht dafür interessiert, leider (hm) na ja hm (….) jo (…) (965-982).

Wera ist in ihren bisherigen, sie belastenden Patenschaftserfahrungen auch auf Entlas- tung angewiesen und sucht (mütterlichen) Zuspruch, Lob und Anerkennung für ihre Be- mühungen. Sie erkennt nicht, dass Maschas Mutter sie in der von ihr selbst vermittelten Rolle als verantwortungsvolle und professionelle Förderin ernst nimmt und ihr entspre- chende Erfahrungen und Kompetenzen unterstellt. Somit sieht sie sich von ihr weder in ihrer Rolle einer lernenden Studentin wahrgenommen noch in der Rolle der Förderin wert- geschätzt. In bestimmten Situationen, wie z.B. beim Katheterisieren (s. 2.4.4.2), fühlt sich Wera durch die Anforderungen bzw. Erwartungen von Maschas Mutter überfordert, was sie jedoch nicht kommuniziert. Bezüglich ihrer eigenen Bedürfnisse erweist sich Maschas Mutter für Wera – wie sie enttäuscht feststellen muss – als falsche Ansprechpartnerin.

Gegen Ende der Patenschaft wird ihr eindrücklich bewusst, dass Maschas Mutter ihr im Umgang mit ihrer Tochter die Rolle als kostengünstige Nachmittagsbeschätigung, als Alternative zum Fernseher und als „ein etwas besserer Babysitter“ (N 140-141) zu- schreibt. Sie ist enttäuscht und reagiert resigniert:

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(…) und dann hab ich gesagt: „Ich hab jetzt erst meine Prüfung und da werde ich so gut wie gar keine Zeit mehr haben.“ Sie dann: „Ja aber du meldest dich danach mal wieder, dann muss Mascha nicht immer Fernsehen.“ Und das hat mich dann auch wieder so erschüttert, weil ich dachte, das Kind muss doch nicht immer Fernsehgucken, es gibt so viele andere Sachen, die die Kinder machen können. Und dann dachte ich auch, so ja wenn jetzt irgend- wie so was wie ein Babysitter für Mascha oder so eine Nachmittagsbeschäftigung. Ich weiß jetzt auch nicht, wie die Eltern mich da gesehen haben. Also ich meine ich habe mich gut mit denen verstanden mit der Mutter halt besser also mit der hatte ich mehr zu tun als mit dem Vater jetzt, dann dachte ich auch so: Mensch irgendwie ich bin ja nun nicht nur da, um Mascha vor dem Fernseher wegzuholen, beziehungsweise Mascha kann auch was an- deres machen als Fernsehgucken (276-289).

Welche Rolle Mascha Wera zuschreibt und mit welchen Erwartungen sie ihr begegnet, bleibt in der Geschichte kennzeichnenderweise bis auf eine Ausnahme unangesprochen. Dass Mascha möglicherweise eigene Vorstellungen und Wünsche hat, erfragt und reflek- tiert Wera nicht. Auch ihre sich selbst zugeschriebene Rolle als organisierende, planende und leitende Förderin hinterfragt Wera in der Beziehung zu Mascha nicht. Lediglich in der Situation nach der Hospitation bei der Logopädin, als Wera versucht, logopädische Übun- gen in das gemeinsame Patenschaftstreffen zu integrieren, erlebt sie, dass Mascha mit ihr nicht in der Rolle der Co-Therapeutin agieren möchte:

Und dann sagte sie [die Logopädin] nachher auch zu mir ehm: „Ich könnte mit Mascha wenn wir uns treffen ja auch einfach mal ein bisschen mit ihr ehm üben.“ Also zum Beispiel das „SCH“ so, die hat das irgendwie auf eine ganz schöne Art gemacht mit ihr, zum Beispiel Ball zugerollt und da musste halt Mascha irgendwas sagen, es war eigentlich ganz nett, und dann wollte ich das mit Mascha auch machen, aber Mascha hatte keine Lust. Mascha hat überhaupt keine Lust, mit mir irgendwelche logopädischen Sachen zu machen, weil sie dachte sich wahrscheinlich: „Da gehe ich irgendwie einmal in der Woche hin, das ist in Ord- nung und dann war’s das.“ Sie wollte es mit mir partout nicht machen, da hatte sie keine Lust zu. (lacht) Das fand ich auch sehr süß. (lacht) Na ja (613-622).

Wera befindet sich in einer komplexen und äußerst komplizierten Rollensituation, in der sie mit vielen unterschiedlichen, uneindeutigen und widersprüchlichen Erwartungen um- gehen muss. Weder will sie sich mit der ihr zugeschrieben Rolle als Alternative zum Fern- seher abfinden, noch kann und will sie die Erwartungen der Mutter im Hinblick auf profes- sionelle Unterstützung erfüllen. Zwar gelingt es ihr, sich von den Rollenerwartungen als Babysitter und als Alternative zum Fernseher innerlich abzusetzen, sie ist aber nicht in der Lage, diese Rollendistanz auch äußerlich sichtbar einzunehmen und entsprechend – im Sinne des „role-making“ – zu handeln, indem sie z.B. ihr Unbehagen und ihre Überforde- rung offen thematisiert und Rollen damit während des Handelns situations- und ereignis- bezogen als Handlungsentwürfe definiert.

Die Konfliktklärung ist für sie mehrfach erschwert: Wera sucht in ihren bisherigen, sie belastenden Patenschaftserfahrungen bei Maschas Mutter Entlastung, vor allem aber An- erkennung und lobenden Zuspruch und eine einvernehmliche, einander verstehende Zu- sammenarbeit, kann aber weder ihre Erwartungen, noch ihre Enttäuschungen transparent machen. Hier zeigt sich, dass Wera auch die für das Vermittlungshandeln erforderliche „Kunst des Fragens“, wie noch ausführlich ausgeführt wird (vgl. 2.4.4.3), noch nicht um- fassend und sicher beherrscht. Bedingt durch ihre zurückhaltende Fragehaltung – auch aus Angst, neugierig zu wirken –, aber auch durch ihre eigene Unsicherheit in der kom- munikativen Vermittlung und Selbstpräsentation, bleiben die gegenseitigen Erwartungen und individuellen Bedürfnisse unausgesprochen und Überforderungen und Enttäuschun- gen verdeckt.

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Schließlich kommt erschwerend hinzu, dass der familiäre Alltag des Patenkindes – ge- prägt durch die unterschiedlichen Rehabilitations- und Fördermaßnahmen – straff organi- siert und belastet ist und kaum zeitliche Freiräume als Handlungsspielräume bietet, um Rollenerwartungen auszuhandeln und widersprüchliche Anforderungen dadurch zu mini- mieren.

2.4.3 Differenzerfahrungen und Fremdheitserleben: Alltag – Kultur – Behinderung

Beim Aufbau einer vertrauensvollen Beziehungen als entwicklungsförderliche Grundlage trifft Wera zwar auf unmittelbare und vertrauensvolle kindliche Zuwendung – Mascha nimmt ihre Vorschläge und Angebote direkt an –, die vielfältigen Differenzen und Fremdheits- erfahrungen erweisen sich jedoch für die Beziehungsarbeit als ungeahntes Erschwernis.

2.4.3.1 Alltägliche Fremdheit: Rollenverteilung und elterliches Erziehungs- und Förder- verhalten

Ungleich verteilte Verantwortlichkeiten

Durch die Übernahme der Patenschaft lernt Wera eine polnische Familie kennen, die ihr sowohl in den spezifischen Strukturen als auch in der Art und Weise der Alltagsbewälti- gung fremd ist. Insbesondere die elterliche Rollenverteilung irritiert. Maschas Mutter, die in Polen eine Ausbildung zur Schneiderin gemacht hat, diesen Beruf aber nicht ausübt, sondern als Haushaltshilfe arbeitet (PF, 13, s. A II), ist Maschas erste Bezugsperson und diejenige, die die Organisation des Alltags fast ausschließlich übernimmt. Maschas derzeit arbeitsloser Vater dagegen hat – wie Wera in ihrem Portfolio vermerkt – keine abge- schlossene Ausbildung. „Er arbeitet zwischendurch auf Baustellen, ist aber nicht fest an- gestellt [und] (…) ist oft zu Hause. Mascha liegt ihm sehr am Herzen, er kümmert sich a- ber wenig um sie“ (PF, 14, s. A II). Wera erlebt wiederholt, dass er sich zurückzieht und – wie sie es deutet – versucht, sich der Verantwortung zu entziehen.

Die elterliche Erziehungsverantwortung gestaltet sich somit als ungleich verteilt. Ma- schas Mutter wird bei der Versorgung ihres Kindes kaum unterstützt:

(…) und die Sache ist ja, dass der Vater arbeitslos ist, und dass der eigentlich den ganzen Tag zu Hause ist, aber nie mit ihr groß rausgeht oder nie mit ihr was unternimmt. Und es gibt es gab ja wirklich Situationen, der Vater hat im Wohnzimmer Fernsehen gekuckt und Mascha in ihrem Zimmer (…). Und das war´n Situationen, wo ich dann gedacht hab: „Das es geht eigentlich nicht.“ Also der Vater hat wohl auch irgendwie so irgendwie Probleme am Hals oder was, der hat den Kopf auch immer so schief gehalten, aber er kann ja trotzdem mit ihr rausgehen und oder einfach mit ihr spielen, und das dacht ich mir dann, Mensch auch wenn die Mutter super viel zu tun hat und sich ja fast eigentlich ausschließlich um Mascha kümmert, der Vater macht ja fast gar nichts, also ehm der kathedrisiert sie nicht, der der macht einfach nichts, und die Mutter hat schon Rückenprobleme, und der Vater zieht sich da sehr aus der Verantwortung, hab ich das Gefühl, und ehm das find ich dann halt so scha- de, wo er ja eigentlich die Zeit hätte, und ehm dann aber trotzdem einfach fernsehen guckt, ne und die Mutter halt sehr viel macht und auch arbeiten geht und >na ja< (118-134).

Wera deutet das väterliche Verhalten voluntaristisch: Das Problem könnte in ihren Augen gelöst werden, wenn der Vater dies (nur) wollte. Dass er es nicht will und damit seine Frau auch nicht unterstützt und entlastet, macht sie ihm zum Vorwurf. Die Situation der Arbeitslosigkeit, die sich auch auf den physischen und vor allem psychischen Gesund- heitszustand auswirken und die betroffenen Personen auf negative Weise beeinflussen und stigmatisieren kann, wird von ihr nicht in Betracht gezogen. Elterliche Arbeitslosigkeit

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und deren mögliche Folgen für die individuelle und familiäre Lebens- und Alltagsgestal- tung sind für Wera ein völlig unvertrauter Aspekt und für sie unvorstellbar.

Väterliche Hilflosigkeit

Wera erlebt Maschas Vater nicht nur zurückhaltend und kaum anwesend, sondern auch hilflos, entscheidungsunfähig und überfordert. Dies wird insbesondere gegen Ende der Patenschaft in der Krisensituation deutlich, als Mascha mit ihrem behindertengerechten Fahrrad wider Erwarten stürzt:

(…) sie hat ja dann ein Fahrrad bekommen im Frühjahr, also ja, wo ich sie schon fast ein Jahr betreut hatte, und das Fahrrad, das hat sie, das war toll für sie. Weil da konnte sie sich irgendwie eigenständig mit bewegen, es war was anderes, als mit dem Rollstuhl, sie saß viel höher (hm,) und es war ganz toll. Und da sind wir mit dem Fahrrad draußen gewesen, und was passiert? Sie fällt hin mit dem Fahrrad. Wobei sie mir gesagt haben, mit dem Fahrrad kann man nicht stürzen. Es ist halt ein Dreirad gewesen, das hatte sie ja auch an der einen Sonderschule ausprobiert, (…) und da fällt sie damit hin, und hat natürlich geweint ohne En- de“ (…) Und das war dann auch so eine Sache wieder, wo man eigentlich auch gesehen hat, dass der Vater irgendwie fast gar nichts und nicht w e i ß, oder irgendwie auch nichts macht, dann sind wir nach Hause, das war direkt bei denen zu Hause, dann sind wir gleich nach Hause, M. hat geweint und geweint, und ich hatte sie dann auf dem Arm, das Fahr- rad, ich weiß gar nicht, wo das war. Und ehm der Vater: „Was soll ich machen?“ und die Bril- le war halt total, also der eine Bügel war irgendwie der stand richtig ab, und ich so:“ Ich weiß nicht ob wir zum zum, die Brille muss zum Optiker, die muss ja heil gemacht werden. Ma- scha muss ja, weil sie war ein bisschen aufs Auge gefallen, muss irgendwie gekühlt wer- den, oder eine Salbe drauf oder was weiß ich.“ Und der Vater so, äh wusste überhaupt nicht, was er machen sollte und im Endeffekt hat es dann der Onkel gemacht. Der war grad zu Besuch und der hat sich dann total liebevoll um Mascha gekümmert, und der Vater er- schien mir total hilflos. Was ich so auch nicht verstanden habe. Weil ich meine, wenn ein Kind stürzt, ich meine, da weiß man ja eigentlich, was als Elternteil was zu tun ist, aber er war total überfordert in dem Moment. Und ich weiß es auch nicht (495-539).

Diese Situation löst bei allen Beteiligten Hilflosigkeit und Ohnmachtsgefühle aus: Mascha, die mit den Füßen am Fahrrad angeschnallt ist, kann nach dem Sturz nicht selbstständig aufstehen und ist auf unmittelbare Hilfe angewiesen. Wera, von der Sicherheit des Fahr- rades ausgehend, kann die Dimensionen möglicher Verletzungen und Schmerzen nicht einschätzen. Erschreckt und ohne Handlungsplan weiß sie nicht, was sie tun soll. Sie handelt intuitiv, indem sie sich dem Kind zuwendet, es zu trösten versucht und nach Hau- se trägt. Da Maschas Vater in der Situation auch nicht sofort gezielt handelt, wirft Wera ihm Überforderung, Unvermögen und Unterlassung vor. Sie unterstellt, dass Eltern in je- der Situation handlungsfähig sein und wissen müssen, „was zu tun ist“. Ihre eigene Hilf- losigkeit in dieser Situation stellt sie nicht als ein verbindendes Element zu Maschas Vater dar. Vielmehr nutzt sie seine Hilflosigkeit, um ihrer eigenen weniger Bedeutung beimes- sen zu müssen – schließlich ist sie nur die Patin und noch Lernende und nicht ein Eltern- teil.

Fremdes elterliches Erziehungs- und Förderverhalten

Wera sieht, dass sich Maschas Mutter sehr für eine umfassende Förderung ihrer Tochter engagiert und alles daransetzt, dass ihre Tochter perspektivisch selbstständig gehen kann. Hierfür sucht sie unterschiedliche Fachleute auf und fördert Mascha mit verschie- denen Therapien. Dies ist aufwendig und bedarf umfangreicher Ressourcen im Hinblick auf Zeit und Kraft. Der damit einhergehende Druck bestimmt den Alltag von Mascha und ihrer Familie.

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Dass Maschas Eltern ihre Tochter in den Zeiten fehlender Förderung quasi „abstellen“ und die Zeit des Abwartens lediglich mit Fernsehen überbrücken, erlebt Wera als massi- ven Gegensatz. Sie reagiert „erschüttert“ (280):

(…) da hab ich das Gefühl gehabt, dass auch die Eltern ehm sie da einfach nur vor den Fernseher setzen, und da sitzt sie jetzt und ist sie beschäftigt und ist gut“ (58-60). „Und das hat mich dann auch wieder so erschüttert, weil ich dachte, das Kind muss doch nicht immer Fernsehgucken, es gibt so viele andere Sachen die die Kinder machen können (280-282).

Lustbetonte und erlebnisnahe gemeinsame Unternehmungen von Mascha und ihrer Mut- ter bzw. ihren Eltern erlebt Wera im Alltag der Patenschaftstreffen kaum:

Und das Einzige was ich mal gehört hab war, dass ehm ihre Mutter und sie window-colour gemacht haben. Also halt irgendwelche Bilder da fürs Fenster. Und ansonsten hab ich halt nie was gehört, was sie gemacht hat also dass sie mal irgendwas gemacht hat, und das fand ich halt so super schade (102-105).

Die elterliche Förderung kindlicher Autonomie beschränkt sich vorwiegend auf das Ziel, das Gehen zu erlernen, um beweglich und mobil zu werden. Zwar erlebt Wera, dass Ma- schas Mutter mit ihrer Tochter häufig unterwegs ist, sie bemerkt aber zugleich, dass sie Mascha durch das Schieben des Rollstuhls auch in Abhängigkeit hält. Der Mutter sehr zugewandt und ihre Belastung achtend, versucht Wera, sich dies mit alltäglichen Zug- zwängen und mangelnder Zeit sowie mit möglicher fehlender Geduld zu erklären:

(…) ich weiß nicht, ob die Mutter das so sieht, wir müssen schnell, schnell ankommen, oder wie gesagt, ob sie einfach nicht da die Zeit haben, oder die Mutter vielleicht auch keine Ge- duld hat, was ich mir allerdings nicht vorstellen kann (145-148).

2.4.3.2 Kulturelle Fremdheit und sprachliche Barrieren

Im Rahmen der Projektmitarbeit erhält Wera nicht nur Einblick in ein anderes Familien- system, sondern wird auch mit anderen kulturellen71 Identitäten und Auffassungen und mit unvertrauten soziokulturellen Lebensbedingungen konfrontiert. Sie erlebt sich in der Familie ihres Patenkindes als „sehr herzlich aufgenommen“ (N 199). Da alle Familienmitglieder der deutschen Sprache mächtig sind, bestehen keine Verständigungsschwierigkeiten. In ihrem Beisein wird in der Familie darauf geachtet, dass die Unterhaltungen auf Deutsch geführt werden. In Situationen, in denen Wera nicht beteiligt ist, wird jedoch polnisch gesprochen.

(…) wenn die miteinander geredet haben, haben die auf polnisch geredet, also wenn wir jetzt auch so zu Hause waren bei Mascha, und dann die Eltern, haben sich unterhalten, das hörte man dann irgendwie, weil die Tür meist offen war, und das war eigentlich immer ein sehr herzlicher Ton, und sie haben auch sehr viel miteinander gelacht (167-171).

Wera interpretiert diese Situation einerseits als offen und Akzeptanz vermittelnd, zugleich fühlt sie sich aber auch durch die Sprachbarriere ausgegrenzt, weil sie selbst kein Pol-

71 „Kultur“ wird aus ethnologischer Sicht als ein „Netz von Bedeutungen“ verstanden, in das der Mensch selbst verstrickt ist. Kultur ist der das Wahrnehmen, Deuten und Handeln umgebende, gemeinsam geteilte Sinnhorizont (vgl. Soeffner 2000, 168). Die Kultur einer Gemeinschaft oder einer Nation ist nie homogen. Immer lassen sich unterschiedliche kulturelle Orientierungen ihrer einzelnen Mitglieder erkennen, die ideologisch, sozial, berufsbezogen, geschlechtsspezifisch oder nach anderen Kriterien differenziert sind. Jeder einzelne ist zwar an die kulturelle Konstel- lation seiner jeweiligen Gemeinschaft gebunden; er ist aber auch in der Lage, sich abweichend zu konstitutiven Elementen einer vermeintlichen nationalen oder Gruppenidentität zu verhalten. Damit ist Kultur im Sinne Geertz als „selbstgesponnenes Bedeutungsgewebe“ (Geertz 1987, 9) zu verstehen.

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nisch spricht. In den Interaktionen mit Mascha erlebt Wera aber, dass Zweisprachigkeit nicht nur zur Abgrenzung genutzt werden kann, sondern eine besondere Kompetenz und Stärke ist. Die folgende Szene verweist in ihrer vergleichsweise hohen narrativen Aus- gestaltung den besonderen Stellenwert für Wera:

Und was auch immer noch ganz süß war, ehm: sie so: „Liest du mir was vor?“ Ich so: „Ja.“ Und dann ehm hat sie mir ein Buch gegeben, sie hatte sowohl deutsche als auch polnische Bücher. Ich zu Mascha: „Ich kann kein polnisch.“ Und für sie war das natürlich überhaupt nicht nachzuvollziehen, dass ich halt kein polnisch kann. Weil für sie ist es ja normal, sag ich mal (hm), und als Kind versteht man das ja gar nicht, und ehm ich zu Mascha: „Ich kann kein polnisch.“ Und Mascha: „Warum kannst du kein polnisch?“ Ich sag´: „Mascha, ich ich bin doch hier in Deutschland groß geworden, und meine Eltern haben auch immer nur Deutsch mit mir gesprochen.“ „Ach so ja, gut.“ Dann war es dann auch in Ordnung, und da haben wir dann ein deutsches Buch vorgelesen. (hm) Und es ist dann aber immer wieder vorgekommen, dass sie gesagt hat: „Liest du mir das Buch vor? Ach nee du kannst ja kein polnisch.“ (lacht) Das war aber total süß, weil dann ist es ihr wieder eingefallen, obwohl sie das Buch halt gerne von mir vorgelesen haben wollte, dass ich ja halt kein polnisch kann. (lacht) (hm) (unv.) [sie hat dann] auch mal was Polnisches vorgelesen (…) [und] das auch ein bisschen übersetzt, (hm) als sie dann schon weiter lesen konnte (566-582).

Dass ihre eigenen sprachlichen Grenzen durch Maschas Verhalten direkt aufgezeigt und hinterfragt werden, ist für Wera zunächst irritierend. Sie unterstellt Mascha kindliches Un- verständnis und eine kindliche Unfähigkeit, nachvollziehen zu können, dass nicht alle Menschen die polnische Sprache beherrschen. Die Wiederholung dieses Interaktions- musters in weiteren Treffen gefällt Wera aus unterschiedlichen Gründen. Zum einen gefällt ihr Maschas Verhalten, das sie kindgemäß deutet, es niedlich und (klein-)kindlich und damit nicht bedrohlich empfindet. Zum anderen freut sie sich darüber, dass sich Mascha wieder erinnert, was sie in anderen Situationen kaum beobachten kann, und somit eine Routine ins Spiel kommt, bei der Mascha provozierend initiativ ist und an ihrer Stärke und der entdeckten Schwäche der Patin anknüpft.

Wera erkennt, dass diese Situation Mascha die Chance gibt, sich ihr gegenüber in den eigenen Stärken zu präsentieren – sie kann etwas, was Wera nicht kann.

Dass Verständigung trotz sprachlicher Barrieren möglich ist, erlebt Wera insbesondere beim gemeinsamen Singen von Kinderliedern. Viele Lieder sind Wera noch aus ihrer Kindheit bekannt und sie kann sie gemeinsam mit Mascha, wenngleich in unterschiedli- chen Sprachen, singen. Die Melodie erweist sich dabei als das verbindende Element:

>Das dann eigentlich auch ganz schön:< Wir haben auch immer viel zusammen gesungen. (lacht) (hm) Das Liederbuch irgendwie aufgeschlagen und viele Te- äh viele Lieder kannte ich auch noch von Früher. Ja und (…) teilweise war die Melodie wohl auch identisch mit den gleichen polnischen Liedern und war es dann auch in Ordnung (561-566).

Beim gemeinsamen Vorlesen und Singen gelingt es Wera ansatzweise, Behinderung – auf der Basis gegenseitiger Anerkennung in dem jeweiligen fremd erscheinenden Anders- sein – mehr als Verschiedenheit, denn als Fremdheit wahrzunehmen und anzunehmen.

2.4.3.4 Behinderung als Differenz

Im Rahmen der Patenschaft erfährt Wera die Behinderung ihres Patenkindes als Diffe- renz, die die alltäglichen und kulturellen Differenzen entscheidend überlagert. Durch die gemeinsamen Unternehmungen wird ihr die bisher vertraute Umgebung zunehmend fremd, insbesondere auch durch die Erfahrung, dass Menschen mit Handicaps nicht nur durch diese beeinträchtigt sind, sondern zudem auch behindert werden. Öffentlichkeit er-

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fährt Wera dabei sowohl als einen Raum der Begegnung und der Veröffentlichung, der bekanntmacht, offenlegt und somit nicht geheim hält. In gemeinsamen Ausflügen mit Ma- scha macht Wera ihre Position und ihre Einstellung gegenüber körperbehinderten Men- schen öffentlich. Sie zeigt, dass sie am Leben eines behinderten Kindes teilnimmt; nicht deutlich ist aber, in welcher Rolle sie das tut.

Wera erlebt, wie schwer es ist, Behinderung als Normalität zu (er)leben und erkennt er- nüchtert, dass schulische Integration für Mascha nur eine zeitlich begrenzte Perspektive ist.

Öffentlichkeit und Behinderung: Reaktionen und Angebote der Umwelt auf Behinderung und begleitende Personen

Weras anfängliche Zweifel und Befürchtungen bezüglich des Umgangs mit dem Rollstuhl (s. 768-769) erweisen sich im konkreten Alltag als unproblematisch. Erstaunt und entlas- tet bemerkt Wera, dass das Umfeld meist positiv und hilfsbereit auf sie und Mascha rea- giert: „immer waren irgendwie Leute irgendwie hilfsbereit“ (770-771). Die Menschen, de- nen sie begegnen, verhalten sich ihnen gegenüber unterschiedlich: sie zeigen ihr Mitge- fühl, bieten Hilfe an, auch wenn diese nicht immer umzusetzen ist (vgl. 774-778), sie äu- ßern sich aber auch kritisch nachfragend oder lassen sie unkommentiert stehen.

Von Fremden auf Fremdheit angesprochen: „Schafft das kleine Mädchen das?“

Um sie in ihrer Selbstständigkeit zu fördern, fordert Wera Mascha auf, sich bei gemein- samen Unternehmungen nicht schieben zu lassen, sondern selbst zu fahren. Diese For- derung traut sie sich zu, da sie mit zunehmender Routine die zu bewältigenden Wegezei- ten und Anstrengungserfordernisse einschätzen kann. Mascha zugewandt versichert sie, für sie da zu sein, wenn ihre Grenzen erreicht sind. Dazu erzählt sie:

Okay Mascha, wir gehen jetzt zum Bus“ (…) und ist sie halt selber gefahren, weil und ich hab dann immer gesagt: „Mascha, wenn du nicht mehr kannst, sag es“, aber ich mein, ich wusste ja, wie die Strecke ist, dachte ich mir, dann soll sie halt einfach auch mal alleine fah- ren. Ne, das trägt dann ja noch mehr zu ihrer Selbstständigkeit bei. Und ehm irgendwann kam uns auch mal ein Mann entgegen, der meinte: „Schafft das kleine Mädchen das?“ (hohe Stimme) Und dann hab ich gesagt: „Ja natürlich schafft sie das, sonst würden wir ja nicht fahren“, ne sonst würden wir nicht vorwärts kommen (149-157).

Wera hört in der Frage des Passanten zwei Botschaften: Mitleid und Kritik. Auf seine indi- rekte Kritik reagierend vermittelt Wera einerseits sich selbst rechtfertigend, dass sie die Be- lastung in dieser Situation einzuschätzen weiß. Sie antwortet, indem sie über das Kind spricht und für Mascha antwortet. Beide Erwachsene sprechen dabei aber weder das Kind direkt an noch binden sie es in das Gespräch ein. Mascha kommt nicht zu Wort. Wera zeigt aber auch, dass sie sich mit Mascha solidarisiert und tritt für sich und Mascha ein.

Die Situation ist für sie eine doppelte Herausforderung: sie muss in der kurzen Begeg- nung nicht nur spontan reagieren, sondern auch Fremden gegenüber Rede und Antwort stehen, und zwar für sich selbst und für Mascha.

Durch die geteilte Situation wird Wera deutlich, dass nicht nur Mascha, sondern auch sie selbst zum passiven Empfänger von Mildtätigkeit gemacht wird. Wiederholt nimmt We- ra einen Perspektivenwechsel vor, fühlt sich in Mascha ein und überlegt, wie Mascha wohl Mitleid und das Bemühen, helfen zu wollen, empfindet. Da sie ihre Frage nicht offen an- spricht und darüber nicht mit Mascha ins Gespräch kommt, bleibt sie jedoch unbeantwor- tet (vgl. 855-860).

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Kapitel III: Wera

 

136 Ein schreckliches Erlebnis und die Erkenntnis „theoretisch könnte ich auch Maschas Mut- ter sein“ (875)

Neben den direkten und indirekten Mitleidsreaktionen erlebt Wera auch unangenehme, peinliche Situationen, die Irritation und Sprachlosigkeit zur Folge haben.

Bei einer gemeinsamen Busfahrt verhält sich Mascha wie ein Kleinkind und Wera hat das Gefühl, sich dafür rechtfertigen zu müssen:

Da hat sie [Mascha] auf einmal >das war auch ganz schrecklich< da ehm war eine sehr jun- ge Mutter mit ihrem Kind halt in der im Bus, die war noch jünger als ich, und hatte halt schon ein Kind, und ehm dann haben Mascha und das Kind so ein bisschen gespielt, und plötzlich nimmt Mascha den Schnuller in den Mund von dem Kind, und ich: „Oh Gott Mascha.“ (…) Diese junge Mutter und die hat dann auch sofort den Schnulli weggepackt, und ich wusste auch überhaupt gar nicht, was ich sagen sollte. Habe ich halt gesagt: „Mascha du kannst nicht einfach von anderen Leuten halt Sachen in den Mund nehmen.“ Ich mein, ich fand das auch völlig normal, dass die Mutter den Schnuller weggepackt hat. Man kann ja was weiß ich für Krankheiten haben, (hm) das ist ja auch, aber allein wenn es nur eine Erkältung ist, und wenn es dadurch übertragen wird (869-882).

Weras Kommentierung – „das war auch ganz schrecklich“ (866) – lässt unterschiedliche Lesarten zu, die die Intensität und Komplexität dieser Erfahrung verdeutlichen:

Unerwartet und schrecklich ist für Wera der peinliche Ausgang, dem sie sich selbst hilf- los ausgeliefert erlebt. Sie erstarrt und weiß spontan „gar nicht (…), was sie sagen soll“. Da die fremde Frau diese Situation unkommentiert auflöst – sie nimmt Mascha den Schnuller weg und packt ihn ein – sieht Wera sich jedoch veranlasst, in irgendeiner Form zu reagieren, und intuitiv schließt sie diese Situation mit einem an Mascha gerichteten Tadel ab. Dass ihre Reaktion weder professionell, noch situationsangemessen ist, ahnt sie, thematisiert dies aber nicht reflexiv.

Möglicherweise empfindet Wera Maschas Verhalten auch deshalb als schrecklich, weil sie, ohne zu fragen und nicht altersentsprechend, dem anderen Kind einen Gegenstand der oralen Befriedigung wegnimmt und damit nicht nur eine unangemessene Nähe auf- baut, sondern auch in die Intimsphäre des fremden Kindes eingreift. Dieses direkte, un- mittelbare und grenzüberschreitende Verhalten ist für Wera nicht erklärbar, es scheint ihr ein möglicher Beleg dafür zu sein, dass Mascha nicht nur körperlich, sondern doch auch geistig behindert ist.

Diese Situation ist zudem (schrecklich) unhygienisch und birgt die Gefahr der Krank- heitsübertragung. Nicht nur, dass Mascha die kindliche Befriedigung grundlegender Bedürf- nisse unterbricht, sie steckt den Schnuller, das kleine Kind nachahmend, selbst in den Mund. Auch dass sich Mascha regressiv und entsprechend der Altersstufe eines Kleinkinds verhält, bestätigt Wera in ihrer Vermutung einer möglichen geistigen Beeinträchtigung.

Indem sie die Perspektive wechselt, erkennt Wera mit Schrecken und Entsetzen, dass Kinder im Rollstuhl entsprechend ihrer Sitzhöhe lediglich jüngere Kinder im Buggy als ein- zige direkte Ansprechpartner auf gleicher Augenhöhe haben. Durch die gleiche Position wird zudem kein Wissens- und Entwicklungsvorsprung deutlich. Wera empfindet dafür ein „ungutes Gefühl“, das sie auch Mascha unterstellt. Auf diese unveränderbare Tatsache reagiert Wera mit Resignation (vgl. 882-885).

Bestürzt erkennt sie, dass ihr von der Umwelt die Rolle der bemitleidenswerten und un- terstützungswürdigen jungen Frau und Mutter eines behinderten Kindes zugewiesen wird:

(…) und ich weiß halt auch nie was die Leute gedacht haben ob die halt gedacht haben ich bin die Mutter? Und das dachte genau dass die Leute die in der Stadt sind: „Oh Gott, die junge Mutter und dann hat sie auch noch ein Kind, was im Rollstuhl sitzt!“ Wie was manche

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Leute einfach sehen, also oft hatte ich das Gefühl, dass viele Leute das gedacht haben, ne ehm und die, ich meine theoretisch könnte ich auch Maschas Mutter sein (870-875).

Entscheidend ist, dass hier eine Situation stattfindet, die durch Unterstellung und Übertra- gung gekennzeichnet ist. Wera fühlt sich in dieser Begegnung in den Augen der anderen Frau nicht nur als Mutter, sondern zugleich als auch hilflose und überforderte Mutter eines behinderten Kindes gesehen. Deren unkommentiertes Handeln wertet sie als einen stummen Vorwurf und als unterstellte Unfähigkeit. Es gelingt Wera nicht, diese Situation und den damit einhergehenden Rollenkonflikt zu klären.

Sich hilflos und selbst fremd erleben

Indem sich Wera mit den Augen der anderen Frau sieht, wird ihr bewusst, dass nicht nur die anderen und das andere für sie fremd sind, sondern dass sie sich selbst auch fremd wird. Fremd ist ihr die eigene Hilflosigkeit, auf die vermeintlichen Rollenerwartungen zu reagieren und Position zu beziehen. Wera erzählt dazu:

(…) bei mir im Haus ist unten ein Kindergarten, ehm und da sind wir gerade aus dem Haus gegangen, und da kam uns ein Junge entgegen und der sagte „Mama warum sitzt das Mäd- chen im Rollstuhl, was hat die? Hat die das Bein gebrochen?“ //verstellte Stimme – Kinder- stimme imitierend//. Und ich wusste im ersten Moment überhaupt nicht, wie ich reagieren sollte, also ich war total, ich glaub das war auch das erste oder zweite mal wo Mascha bei mir war, und die ich weiß auch gar nicht, was die Mutter gesagt hat, weil die sind halt rein und wir sind raus gegangen, und ehm ich hab da wirklich gar nichts zu gesagt. Und im Nach- hinein hab ich mir dann Gedanken gemacht, und ich hätte vielleicht den Kindern schon mal erklärt, wenn aber es kam dann nie mehr zu so einer Situation, aber hätte man erklärt: „ja und bei der Geburt ehm war halt Maschas Rücken verletzt, und dass halt die Wirbelsäule, vielleicht kennst du das ja schon, und ehm deswegen kann sie jetzt nicht laufen.“ Aber in dem Moment hab ich mich natürlich auch über mich selbst geärgert, dass ich da nichts zu gesagt habe, also dass ich einfach nicht wusste, was ich sagen sollte (902-917).

Auch in dieser unerwarteten und flüchtigen Situation ist Wera so überrascht, dass sie nicht spontan verbal reagieren kann. Berücksichtigt werden muss, dass diese Situation im wahrs- ten Sinn des Wortes eine „vorüber gehende“ Fremdheit auslöst. In der Begegnung, die bei dem Betreten bzw. Verlassen des Hauses stattfindet, bedarf es, wie Wera erfährt, unmittel- barer und schneller Reaktionen. Zu diesem Zeitpunkt in der Patenschaft verfügt sie jedoch weder über Erfahrungen und Sicherheit gebende Routinen noch über die entsprechenden medizinischen Hintergrundsinformationen der Behinderung (diese erarbeitete sie sich erst im Rahmen der Examensarbeit nach der abgeschlossenen Patenschaft). Dies erklärt ihre Überforderung. Dass sie sich über ihr unadäquates Reagieren ärgert, verweist auf ihren Anspruch pädagogischer, fördernder und aufklärender Arbeit mit dem Ziel der Integration.

Behindert sein – behindert werden: Diskriminierungserfahrungen

Während der Patenschaft werden Wera und Mascha insbesondere mit struktureller, indi- rekter Diskriminierung72 konfrontiert. Situationsspezifisch erfährt Wera, dass Mascha im öffentlichen Bereich ungleich behandelt und damit an der gleichberechtigten Teilhabe am Leben der Gesellschaft und in ihrer selbstbestimmten Lebensführung behindert bzw. be-

72 Vorrangige Komponenten von Diskriminierung sind nach Fries (2005) Herabwürdigung, Herab- setzung und unterschiedliche Behandlungen. Folgen, die sich für behinderte Menschen auf- grund erlebter Diskriminierung und Stigmatisierung ergeben können, lassen sich auf der Ebene gesellschaftlicher Teilhabe, auf der der Interaktionen und auf der des Selbstkonzeptes verorten.

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Kapitel III: Wera

 

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nachteiligt ist und wird. Sie erlebt, dass Diskriminierung eine „registrierbare Folge indivi- duellen Handelns“ (Markefka 1995, 43) sein kann, die eintritt „weil Akteure andere Akteure aufgrund wahrgenommener sozialer oder ethischer Merkmale als ungleich bzw. minder- wertige Partner ansehen und, im Vergleich zu den Angehörigen des eigenen Kollektivs, entsprechend abwertend“ (ebd.) behandeln. Sie er„fährt“ auch, dass Diskriminierung un- bedacht und aus Unachtsamkeit, z.B. durch nichtbehindertengerechte Bauweise, verur- sacht sein kann, denn auf den gemeinsamen Wegen stoßen Wera und Mascha auf unter- schiedliche, ungeahnte Behinderungen: sie erleben Treppen und Stufen, Drehtüren, feh- lende Behindertenplätze oder fehlende Fahrstühle als Hindernisse, die sie aber als beson- dere Herausforderung annehmen:

Ich wollte mal mit ihr in die Aue, und ich mein alle Wege die mir eingefallen sind, um in die Aue zu kommen, sind mit großen Treppen. Also sind halt wirklich Treppen, so habe ich stundenlang überlegt, wie ich es machen soll, und im Endeffekt sind wir glaube ich bis zum Altmarkt gefahren, und sind dann von da dann halt rein gelaufen, ehm und ehm einmal sind wir dann wieder so einen steilen Berg hoch und (…) das war teilweise für mich körperlich anstrengend. Irgendwie musste ich total umdenken, weil ich das ist mir dann nachher auch erst aufgefallen, als ich Mascha dann betreut hab, wie ehm normal es für uns ist, dass wir irgendwie Stufen gehen können, dass ehm vor jedem Ein- vor jedem Gebäude eigentlich erst mal 30 Stufen sind bevor [Kassettenwechsel], ja das ist irgendwie äh für, wie schwierig das einfach für Rollstuhlfahrer ist, ehm sich einfach auf ehm ja in in der Öffentlichkeit zu be- wegen. Weil wirklich überall Stufen sind (783-795).

Welche Hindernisse und Erschwernisse rollstuhlfahrende Menschen auf alltäglichen We- gen planend berücksichtigen und bewältigen müssen, bemerkt Wera erst im Alltag, den sie mit einem körperbehinderten Kind teilt, und entwickelt darüber eine besondere Sensi- bilität für behindertengerechte Bauweisen.

Von Drehtüren und automatischen Türöffnern

In einem Kaufhaus wird Wera bewusst, dass nicht alle Eingänge behindertengerecht aus- gestattet sind: entweder fehlt der automatische Türöffner oder die vorhandenen Dreh- kreuze erschweren den Eintritt. Wera erkennt, wie kompliziert es für Rollstuhlfahrer ist, in dieses Gebäude zu gelangen, worauf sie emotional reagiert:

Und was mich eben sehr böse gemacht hat war, ehm der City-Point, [ein Kaufhaus in Kas- sel], der irgendwie ganz neu eröffnet wurde, und alleine kommt man da mit dem Rollstuhl nicht rein. Weil es gibt, ehm es gibt ja drei Eingänge und ein Eingang ist halt einfach mit Tü- ren, die man richtig aufmacht, also es ist nicht automatisch, Mascha würde da alleine nicht reinkommen, und die anderen beiden Eingänge sind halt mit so einem mit so einem Drehteil (…) wie gesagt diese Eingänge, also allein ist es nicht zu bewältigen. Und wenn man dann noch so zart ist wie Mascha, ok sie geht ja jetzt nicht allein in das City-Point, aber ehm das war, das hat mich dann irgendwie so ein bisschen böse gestimmt, und da ist mir eigentlich erst aufgefallen ehm, wie kompliziert das ist (795-810).

Wie sehr Mascha über die Erfahrung des barrierefreien Eintritts und der Möglichkeit des eigenständigen Türöffnens überrascht ist und sich an der unsichtbaren Antriebstechnik für Türen erfreut, beobachtet Wera bei dem gemeinsamen Quartalstreffen an der Universität:

(…) als wir hier an der Uni waren, mit den automatischen Türen das fand Mascha toll. Da war sie so begeistert, dass man erst drauf drücken kann und dann rein kann gehen kann, oder so da war sie wirklich hellauf begeistert, da kam sie gar nicht wieder von weg (834-838).

Behinderung als Last: Lastenaufzug statt Fahrstuhl

Beim Betreten der Kinder- und Jugendbücherei, die Wera bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht kennt, wird sie durch das Vorhandensein eines automatischen Türöffners zunächst

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angenehm überrascht. Das gemeinsame Vorhaben beginnt ohne Hindernisse und ermög- licht sogar ein Anknüpfen an vorherige Erfahrungen an der Universität: Gefühle der Be- geisterung können durch den vorhandenen automatischen Türöffner aktualisiert werden. Dass es aber keinen Fahrstuhl gibt, ernüchtert jedoch umgehend:

Und in der Kinder- und Jugendbücherei ist es auch so, da war ich vorher noch nie gewesen, da geht auch die Tür so auf, ich so: „Ach wenn das schon so gut anfängt dann ist es be- stimmt dann wieder im Erdgeschoss oder mit dem Fahrstuhl.“ Ja und ich kam da hin, kein Fahrstuhl. Und dann habe ich da oben noch mal gefragt, und die hatten nur einen Lasten- aufzug, ja und da habe ich halt erst Mascha hoch getragen und dann den Rollstuhl hoch ge- tragen (838-843).

Mascha kann mit Wera zwar in das Gebäude der Kinder- und Jugendbücherei hinein- kommen, wieder aber ist es eine Treppe, die ihr den selbstständigen und barrierefreien Zutritt letztendlich doch verwehrt. Ein behindertes Kind mit dem Aufzug wie eine Lasten- ware zu „verfrachten“ und ohne Begleitung zu befördern, um es – wie es in dieser Situati- on erforderlich wäre – später wieder in Empfang zu nehmen, ist für Wera indiskutabel und nicht umsetzbar. In der Konsequenz trägt Wera zunächst Mascha und anschließend den Rollstuhl die Treppen hoch.

Dabei empfindet sie nicht das Kind als entscheidende Last, sondern den schweren und unhandlichen Rollstuhl (vgl. 844-846). Diese erforderliche doppelte Anstrengung ist auch der Grund, dass Wera – da sie selbst im zweiten Obergeschoss eines Hauses ohne Fahr- stuhl wohnt – während der Patenschaft nur vier Treffen bei sich zu Hause stattfinden lässt. Die Anstrengung erfordert Weras ganze Kraft, sodass sie sich „schweißgebadet“ (848) und „total am Ende“ (849) fühlt, noch bevor das Treffen und die Umsetzung der ge- meinsamen Aktionen richtig beginnen können.

Spezielle Plätze für Behinderte

Auch in den gemeinsam besuchten Kinos erlebt Wera behindernde und diskriminierende Bedingungen. Sie stellt fest, dass in einem ganz neu gebauten Kino nur einige wenige Ki- nosäle behindertengerecht ausgestattet sind und wertet das als Diskriminierung, weil da- durch das Filmprogramm für behinderte Menschen begrenzt ist und sie nur bedingt die Chance einer freien Filmwahl haben:

Und als wir mal im Kino waren, da war es auch so, theoretisch ehm sitzen die Rollstuhlfahrer wohl oben. Das war im Ufa-Kino, wobei mir auch dann ein Freund erzählt hat der da arbeitet, die können gar nicht in alle Kinos rein. Also es gibt nur es gib- was weiß ich, die haben da jetzt glaube ich acht Kinosäle, und ich mein da laufen ja immer verschiedene Filme drinnen, und in manchen Kinos ist es halt einfach so, dass es nicht behindertengerecht ist, und das ist ja auch wieder so. Das ist ja ein ganz neues Gebäude, und die können zum Beispiel nur in Kino eins, zwei oder drei gehen, weil es ist natürlich auch wegen der Sicherheitsmaßnah- me, wenn es mal brennt, dass die halt eigenständig da wieder raus können.(…) Und als ich halt mit Mascha im Kino war,(…) war es halt so, dass wir den Rolli halt unten hingestellt ha- ben, was eigentlich auch nicht ok war, weil da hieß es, es wäre nichts los, und ich sie dann, wie wir uns oben hingesetzt haben ich sie hoch getragen habe. Aber wenn wenn man einen Erwachsenen hat, der halt im Rollstuhl sitzt, der halt nicht allein laufen kann, dann hätte man das gar nicht machen können. Dann hätten wir unten sitzen müssen, so gucken müssen, und ehm das das finde ich auch einfach so schade, dass halt einfach keine Behindertenplät- ze gibt (820-827).

Integration hat, wie Wera erkennt, einen hohen Preis. Sie sieht sich mit dieser Diskriminie- rungsproblematik erst durch die Projektmitarbeit konfrontiert und erachtet diese Erfahrun- gen als besonders wertvoll (852-853).

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140 Fremdheit bleibt

Zu Beginn der Patenschaft wirkt die durch Behinderung erreichte Fremdheit auf Wera eher faszinierend und herausfordernd. Zunächst begegnet sie dieser Erfahrung mit der Grund- annahme, dass diese Fremdheitsfacette Bestandteil der Ordnung der Wirklichkeit ist. Fremdheit erscheint ihr als prinzipiell überwindbar oder aufhebbar. Im Verlauf der Paten- schaft erlebt Wera aber, dass diese Fremdheit auch durch hohes Engagement und bewuss- te Zuwendung nicht mit dem Kennenlernen aufgehoben werden kann. Die durch Behin- derung ausgelösten Differenz- und Fremdheitserfahrungen erweisen sich als beständig. Es kommt zu Konflikten, deren Ursachen zwar nachdenkend erfragt, nicht aber geklärt, son- dern verschwiegen werden. Das Kommunizieren auf der Oberfläche verstärkt das Unver- ständnis und führt schließlich bei Wera zu Enttäuschungen, zu Bedauern und Resignation.

2.4.4 Vermittlungsleistungen

Für den Umgang mit diesen Fremdheiten und für den Versuch, diese zu überwinden, müssen Lehrer vermittelnd handeln. Diese Vermittlung von Inhalten, Kompetenzen oder Handlungen, die in interaktiven Bezügen stattfindet und mit Macht-, Kompetenz oder Wis- sensunterschieden einhergeht und immer auch mit Ungewissheitsrisiken belastet ist, be- stimmt nach Helsper (2006) das professionelle pädagogische Handeln. Wera erlebt, dass sich Vermittlungsprozesse nicht auf den Wissenstransfer beschränken, sondern dass sie als Aushandlungsprozesse und als ein interaktives, ko-konstruktives Gestalten von und in Zwischenräumen für die Beziehungsgestaltung von Bedeutung sind.

Diese Vermittlungsleistung gelingt ihr jedoch nur in Ansätzen. Immer wieder erlebt sich Wera sprachlos, was sie im erforderlichen Handeln situativ eingeschränkt. Hinzu kom- men, wie im Folgenden ausgeführt wird, ihre unzureichende Fragehaltung und die fehlen- de Berücksichtigung aller drei Konstituenten des Vermittlungshandelns. Erschwert wird das Vermitteln zusätzlich durch den durchorganisierten Alltag und die kaum zur Verfü- gung stehende freie Zeit, aber auch durch die fehlende Unterstützung und Mitarbeit der Akteure in der Rolle als Ko-Konstrukteure.

2.4.4.2 Die Kunst zu fragen als Element der Vermittlung

Dialoge sind ein konstitutives Handlungselement für pädagogische Vermittlungen. Durch wechselseitige Mitteilungen und Austausch von Ansichten und Meinungen kann ein „inter- personales Zwischen“ (Reinhold/Pollak/Heim 1999, 118), d.h. ein gemeinsam geteilter Sinn zustande kommen, der wiederum für die weitere Beziehungsgestaltung und die Ent- wicklung eines „Wir“ entscheidend ist. Um Dialoge anbahnen, sie thematisch rahmen und situativ gestalten zu können, kommt dem Fragen ein besonderer Stellenwert zu. Weras zurückhaltende Art des Fragens erweist sich als eine der Ursachen für die Vermittlungs- probleme in diesem Fall.

„Ich konnte da irgendwie auch nicht nachfragen“ (316)

Im Verlauf der Patenschaft erfährt Wera, dass ihre Fragen für die auf Partnerschaft ange- legte Beziehungsgestaltung nur sehr bedingt förderlich sind. Es fällt ihr schwer, die Frage-

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art73 situationsangemessen zu wählen. Fragen zur Orientierung im Alltagsgeschehen zu stellen, gelingt ihr. Für die Bewältigung von alltäglichen Herausforderungen bei Unter- nehmungen mit Mascha kann Wera durchaus fragend Kontakt mit fremden Menschen aufnehmen und Probleme im Umgang mit dem Rollstuhl klären, z.B. fragt sie im Kino nach Behindertenplätzen oder in der Kinder- und Jugendbücherei nach einem Aufzug. Fremde Menschen dagegen fragend um Hilfe zu bitten, versucht Wera zu vermeiden, vermutlich um die gefragten Menschen durch ihre bittende Nachfrage nicht zu belasten. Sie wartet eher darauf, gefragt zu werden:

(…) ein einziges Mal (…) wo ich einmal Hilfe gebraucht hätte, und da hat mich halt keiner gefragt, und es saßen auch wirklich nur alte Leute im Bus, wie eigentlich fast immer will man die irgendwie auch nicht fragen (771-774).

Fragen zu stellen erfordert ein kommunikatives Können, über das Wera noch nicht sicher verfügt. Situationsbedingt und adressatenbezogen kann oder will sie „irgendwie auch nicht nachfragen“ (316). Es fällt ihr aber auch schwer, sich neugierig zu verhalten. Wera will „nicht zuviel fragen und nicht irgendwie neugierig klingen“ (950-951). Sie sieht das Stellen von Fragen mit der Gefahr verbunden, Grenzen zu überschreiten und dadurch in- diskret zu erscheinen.

In der Beziehung zu Mascha gelingt es Wera nur selten, das Kind so zu fragen, dass es bereit ist, sich infrage stellen zu lassen und ausführlich zu antworten. Wera versucht, „irgendwie (…), sie einigermaßen geschickt zu fragen“ (456-457), es kommen dadurch aber kaum gemeinsame Dialoge und partnerschaftliche Austauschsituationen zustande. Auch Maschas Antworten verhelfen Wera nicht zu vertiefenden Erkenntnissen. Dies wird, wie die folgenden Ausführungen zeigen, u.a. in der Situation vor dem Besuch eines Quar- talstreffens und bei der gemeinsamen Hausaufgabenbearbeitung deutlich.

Leergefragt

Auf Weras Frage, was Mascha mache, wenn sie von anderen Kindern auf dem Quartals- treffen auf den Rollstuhl angesprochen würde, erhält sie von ihr eine auswendig gelernt wirkende Antwort in einem Satz, die auch auf die Nachfrage hin nicht detailliert wird:

Ich hatte sie ja dann gefragt bei dem aller ersten Projekttreffen, was sie macht, ehm was sie macht, wenn die Kinder sie fragen, warum sie im Rollstuhl sitzt. Hat sie gesagt: „Sag ich, dass ich einen offenen Rücken hab“. (hm) Und da hab ich gesagt: „aha“, na dann hab ich gesagt, ja ehm: „Und was ist wenn die Kinder nachfragen?“ Aber ehm da hat sie dann auch nichts mehr zu gesagt (888-893).

Wera stellt offen und direkt eine Antwort-Frage (vgl. Gronke 2004), um sich bestmöglich auf das Interaktionsgeschehen des anstehenden Quartalstreffens einzustellen. Um dabei selbst nicht überrascht oder überfordert zu werden, versucht sie, die Verständigung der aufeinandertreffenden, einander fremden Kinder vorwegnehmend zu planen. Wera zeigt eine „Einstellung des Wissen-Wollens“ (Bußmann 2002, 222). Sie fragt, um das eigene Unwissen verändern zu können, nicht aber um Mascha zu Handlungen zu bewegen oder mit Mascha gemeinsam über mögliche Lösungen nachzudenken bzw. solche auszuhan-

73 Zu unterscheiden sind Entscheidungsfragen (Ja-Nein-Fragen) und Ergänzungs-, sogenannte W-Fragen. Gronke (2004) differenziert entsprechend in Antwort-Fragen, Problemlösungsfragen und handlungsmotivierende Fragen.

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deln. Dass Maschas spontanes Antwortverhalten auch darauf verweisen kann, dass diese Frage für sie vermutlich nicht neu ist und sie daher nicht über neue Problemlösestrategien nachdenken muss, reflektiert Wera nicht. Sie antizipiert, dass die Kinder mit der gegebe- nen Antwort nicht zufrieden sein werden und vermutet aus diesem Grund mögliche Nach- fragen. Wenig konkret, offen und vage fragt sie nach (892). Dass Mascha ihr die Antwort schuldig bleibt, akzeptiert Wera unhinterfragt. Den begonnenen Dialog für die Ergründung möglicher Ursachen für Maschas Verhalten fortzuführen, zieht sie nicht in Betracht. Dass Mascha die Frage nicht genau verstanden haben könnte und aus diesem Grund vielleicht alternativer Formulierungen bedarf oder sie mögliche Nachfragen nicht antizipierend fas- sen kann und sie dafür auf mögliche Vorgaben oder auf einen Dialog im Rollenspiel an- gewiesen sein könnte, reflektiert Wera nicht. Möglicherweise erscheint Mascha die Frage auch überflüssig oder sie ist sich ihrer selbst sicher, sich spontan und situationsspezifisch verhalten zu können. Auch dass Weras vage Frage Mascha langweilen und sie sich u.U. hilflos, resigniert und „leergefragt“ (Bodenheimer 2004, 106) fühlen könnte, deswegen aufgibt und alles weitere mit sich geschehen lässt, betrachtet Wera nicht reflexiv und ver- hindert eine Fortführung des Dialogs.

Wera macht sich nicht unterschiedliche Deutungen bewusst, um auf deren Grundlage den Dialog sensibel und anregend mit offenen Fragen fortzuführen. Es gelingt ihr nicht, Fragen so umzugestalten, dass sie in größere oder kleinere Zusammenhänge gestellt oder nur Teilaspekte in Form von Unterfragen hervorgehoben werden. In der Folge kann sie ihre Bemühungen um Verstehen und Versuche der Unterstützung nicht demonstrieren, um Mascha dazu zu bewegen, von ihren bisherigen Erfahrungen zu erzählen. Somit kann Wera weder das kindliche subjektive Erleben erhellen noch Verstehen vorantreiben.

Verkürzt erklärt sie Maschas Verhalten lediglich mit dem ihr unterstellten, altersbeding- ten Unvermögen, sich im Hinblick auf ihre Behinderung verbal erklärend darstellen zu kön- nen.

(…) also sie konnte das natürlich auch kaum, ja wie soll sie sagen auch erklären mit ihren sieben, acht Jahren damals, aber da hat sie gesagt: „Da sag ich das ich einen offenen Rü- cken habe und gut ist“ (893-895).

„(…) so ein bisschen blöd gestellt“ (182) – fehlende Authentizität im Frageverhalten

Um Mascha zu testen, versucht Wera auch überprüfende Fragen zu stellen:

(…) und dann hab ich sie das nächste Mal gefragt: „So Mascha, was haben was haben wir eigentlich die letzte Woche gemacht?“ Und hab mich auch vielleicht so ein bisschen blöd gestellt also mit Absicht (180-182).

Ihr eigenes Anliegen macht Wera für Mascha nicht transparent. Der eigenen Ungewiss- heit nachgehend und um die Frage zu klären, inwieweit Maschas geringes Erinnerungs- vermögen möglicherweise doch auch im Kontext einer geistigen Beeinträchtigung gese- hen werden kann, spielt sie Mascha Unterstützungsbedarf vor, möchte sie aber lediglich überprüfen. Zum einen erhofft sich Wera, das eigene Wissen erweitern und für ihr Han- deln nutzen zu können, zum anderen sucht sie nach der Bestätigung, dass ihre umfas- sende, ganzheitliche und erlebnisnahe Förderung zum Erfolg führt, und damit besser und nachhaltiger ist, als die von Maschas Eltern. Dabei berücksichtigt sie Maschas Lebens-situation und die in dieser wiederholt auftretenden Überprüfungssituationen zu wenig. Als körperbehindertes und auf umfassende Förderung angewiesenes Kind befindet sich Ma-

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scha immer wieder in Überprüfungs- und Testsituationen, die Fortschritte zu bemessen, Veränderungen zu diagnostizieren und Entwicklungstendenzen zu prognostizieren versu- chen. Dass Mascha vermutlich äußerst sensibel für solche Prüfungsfragen ist und das ei- gentliche Anliegen der Fragen, auch wenn es nicht direkt benannt oder versteckt formu- liert wird, schnell durchschaut, reflektiert Wera nicht. Ihre Frage bleibt unbeantwortet. Damit werden weder ihre Zweifel hinsichtlich einer möglichen Beeinträchtigung im kogniti- ven Bereich aufgelöst noch sieht sie ihre Förderansprüche bestätigt.

Einfühlsame Deutungsangebote statt fragend bewirkter Legitimierung

Während eines Treffens, bei dem Wera Mascha bei ihren Hausaufgaben unterstützt, er- lebt sie, dass Mascha verzweifelt weint, weil sie, wie Wera es deutet, „dann einfach nicht mehr weiter wusste“ (455) – eine Situation, in der sich Wera überfordert fühlt und nicht weiß, wie sich verhalten soll.

Ein- ne zweimal hat sie auch geweint, weil sie dann einfach nicht mehr weiter wusste. Also dann ehm habe ich halt gesagt: „Mascha, wie ist es denn?“ Also ich hab dann irgendwie ver- sucht, sie einigermaßen geschickt zu fragen, aber dann hat sie irgendwann so geweint, und ich wusste überhaupt gar nicht, was ich machen sollte. (…) aber sie konnte es mir dann auch nicht sagen, warum sie geweint hat. Also vielleicht konnte sie mir das in dem Moment doch nicht so beurteilen (455-461).

Weras Versuch, Mascha in ihrer Hilflosigkeit zu helfen und ihr beizustehen, äußert sie in der Frage „Mascha, wie ist es denn?“ Bei dieser Frage kann nicht eindeutig bestimmt werden, ob sie sich auf die Hausaufgabe bezieht oder auf Maschas Erleben, die Aufgabe möglicherweise nicht zu verstehen oder bei deren Bewältigung nicht allein weiter zu kommen und sich hilflos und überfordert zu fühlen. Da Wera von Mascha keine Antwort auf ihre Frage und damit keinen Ansatzpunkt für ihr weiteres Handeln erhält, erlebt sich Wera überfordert. Statt einfühlsam eigene Deutungsansätze vorsichtig vermutend darzu- legen und Verständnis formulierend Mascha beizustehen oder auch die eigene Überforde- rung und Hilflosigkeit anzusprechen, versucht Wera „geschickt“ weiterzufragen. Sie erlebt jedoch, dass sie Mascha mit ihren Fragen noch mehr in die Defensive bringt und Mascha ihr Verhalten nicht kausal legitimierend begründen kann, was ihre emotionale Reaktion verstärkt und sie noch mehr verzweifeln und weinen lässt. Auf der Suche nach möglichen Erklärungen für Maschas Verhalten deutet Wera dies im Kontext der schulischen Lerner- fahrungen. Sie erkennt, dass Mascha in der Hausaufgabensituation – ähnlich wie in der schulischen Lernsituation – unter Druck und an ihre Grenzen gekommen ist und nicht mehr weiter weiß, was sie durch ihr Weinen äußert: „und ja, was will man machen, wenn man nicht mehr weiter weiß, dann weint man halt“ (470-472). Wera bedauert, dies ausge- löst zu haben bzw. nachfragend nicht zur Unterstützung beigetragen haben zu können. Abwartend und ohne weitere, drängende Fragen gelingt es ihr, gemeinsam mit Mascha das Problem zu lösen: „dann haben wir es halt noch einmal versucht und dann ging es ir- gendwann auch mal“ (473-474).

Situative Rahmung

Weras Versuche, Gespräche fragend einzuleiten oder fortzuführen werden durch spezifi- sche situative Rahmenbedingungen erschwert. Insbesondere in Gesprächssituationen, die durch große Nähe und Intimität gekennzeichnet sind und durch den Kontext der Be-

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hinderung gerahmt werden, spürt Wera ihre eigene Ohnmacht – ihr fehlen im wahrsten Sinne die Worte.

(…) ich hab ja schon mal einiges gefragt so im Gespr-, wenn die Mutter zum Beispiel ka- thedrisiert hatte war ich ja halt dabei, wobei ich das erste >mal auch fast in Ohnmacht gefal- len bin< also ich da so ein bisschen anfällig irgendwie bin, und dann ja ehm, und sie hat auch gesagt, sie zeigt mir das halt mal, wenn das, dass ich das dann halt auch selber ma- chen kann. Also ich hätte da vom Prinzip her kein Problem, irgendwie war das nur in dem Moment so schummerig geworden, ich musste mich dann erst mal setzen, und musste in die andere Richtung gucken, also da bin ich ja eben so ein bisschen empfindlich (952-959).

Wera wird in dieser Gesprächssituation unmittelbar mit Begleiterscheinungen der Körper- behinderung konfrontiert. Die Eindrücke beim Legen eines Blasenkatheters und die Er- wartungshaltung der Mutter überfordern sie. Es überfordert sie aber auch, in dieser belas- tenden Situation, die durch Nähe und Intimität gekennzeichnet ist und in der die Aufmerk- samkeit auf Maschas beeinträchtigte Körperlichkeit gelenkt wird, indem Maschas Mutter die Intimsphäre ihrer Tochter ungeschützt aufdeckt und entblößt, Gespräche mit der Mut- ter zu führen (vgl. 962-964). Die Situation bringt sie aus dem Gleichgewicht, sodass sie sich hinsetzen und den Blick abwenden muss, um sich fangen und sich stabilisierend neu zentrieren zu können. Gleich ihrem Wortabbruch – „ich hab ja schon mal einiges gefragt so im Gespr-“ – wird das Gespräch durch die sich anbahnende Ohnmacht von Wera un- ter- bzw. abgebrochen.

Fragen und Dialoge bedürfen, wie in dieser Situation deutlich wird, der angemessenen Rahmung und Einbettung, d.h. es ist ein geeigneter Kontext bzw. ein Vor- und Nachspann erforderlich. Diese Bedingung ist in dieser schwierigen Situation für Wera nicht ausrei- chend gegeben. Gespräche mit Maschas Mutter finden nicht in unbefangenen und unbe- lasteten Situationen statt, sondern unter schwierigen und Wera sehr belastenden und ü- berfordernden Bedingungen. Viel Zeit für verbale Vermittlungen und gemeinsame Aus- handlungen scheint nicht zur Verfügung zu stehen.

Wera weiß um ihre geringe Belastbarkeit. Im Umgang mit plötzlich auftretenden Notsi- tuationen bzw. mit Situationen, die einen hohen Grad an Intimität, Abhängigkeit und Fremdbestimmung demonstrieren und von der Umgebung ein situativ spontanes und pro- fessionelles Handeln erfordern, ist Wera noch unerfahren. Dies im konkreten Handlungs- vollzug zuzugeben, möglicherweise Fehler zu machen und sich selbst und anderen die eigenen Schwächen einzugestehen, vermeidet Wera, indem sie sich das Neugierrecht nicht zugesteht und Beziehungen nicht im Dialog aktiv fragend gestaltet.

2.4.4.3 Verkürztes Vermittlungshandeln

Entscheidend für gelingende Vermittlungen ist, dass die professionell Handelnden die drei Konstituenten Klient, Sache/Inhalt und Professioneller berücksichtigen und in einer inter- mediären Position agieren.

Fehlende Ko-Konstrukteure

Vermittlungen als Konstruktionsprozesse sind für ihr Gelingen auf die Mitarbeit der Betei- ligten angewiesen. Während der Patenschaft werden die Deutungsversuche der Patin aber kaum mit den Interaktionspartnern kommunikativ ausgehandelt. Auch auf der konkreten Handlungsebene erhält Wera kaum Gelegenheit, ihre Erklärungsansätze an der Realität zu überprüfen. Weder Mascha noch deren Eltern stehen ihr als unterstützende Ko-

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Konstrukteure zur Verfügung. Mascha beantwortet Weras Bemühungen nur mit geringer Resonanz, Maschas Vater entzieht sich nach Weras Einschätzung den Auseinan- dersetzungen und Maschas Mutter ist mit ihrer Rolle als primäre Betreuungsperson ihrer behinderten Tochter und mit der alleinigen Verantwortung für das Alltagsmanagement völ- lig ausgelastet. Unter diesen Bedingungen erfolgen Vermittlungsprozesse zwischen Wera und Maschas Mutter zumeist nur nebenbei, so zum Beispiel in der bereits ange- sprochenen Situation des Katheterisierens. Daher gelingt die Vermittlung zwischen Klien- ten, Sache/Inhalt und der angehenden Professionellen nur linear auf zwei Stellen bezo- gen und Weras Versuch, zu verstehen, bleibt in der Auseinandersetzung mit den jeweili- gen Inhalten/Themen auf der selbsterklärenden Ebene verhaftet.

Entlastendes Nicht-Fragen – ein potenzieller Chancenverlust

Gespräche mit Maschas Mutter betreffen zumeist die Organisation und Umsetzung der Fördermaßnahmen. Eingebunden und mitgenommen in den belasteten und durch Unge- wissheit geprägten Alltag, verhält sich Wera Maschas Eltern gegenüber zurückhaltend und abwartend und zeigt ein sensibles, zugleich aber auch übervorsichtiges, hilfloses, sich nicht zutrauendes Frageverhalten. Wenngleich sie sich über Unverständliches gern verständigen würde, vermeidet sie das Nachfragen, um weder Mascha noch deren Mutter mit ihren Fragen zu belästigen, um sie nicht zu bedrängen oder gar in Verlegenheit zu bringen. Das Fragen wird von Wera negativ konnotiert und als ein Ausfragen im Sinne ei- nes Verhörs bewertet.

Die Möglichkeit, ihr Frageverhalten verändern zu können, scheint Wera nicht bewusst. Sie stuft das Fragen als sensible Arbeit und zugleich als Riskanz ein. Fragen indirekt und nicht authentisch zu stellen, birgt wiederum das Risiko, dass diese – wie Wera erlebt – unbeantwortet bleiben und dass damit die Chance auf mögliche Veränderungen verloren geht. So häufen sich Enttäuschungen, die sie bedauernd mit ihren negativen Stellung- nahmen zum Ausdruck bringt.

2.4.5 Antinomie-Erfahrungen

Während der Patenschaft wird Wera mit vielfältigen Antinomien als Ambivalenzen und schwer auflösbaren Spannungen konfrontiert. Diese sind, wie dargestellt, nach dem struk- turtheoretischen Verständnis der Lehrerprofessionalität konstitutiv für das pädagogische Handeln und nicht aufhebbar, sondern lediglich reflexiv zu handhaben (vgl. Kap. I, 1.2.2.3).

Ihr praktisches Handeln, das durch einen starken Entscheidungsdruck belastet ist, kann Wera mit dem im Studium erarbeiteten theoretischen Basiswissen nicht ausreichend entlasten. Theorie und Praxis erscheinen widersprüchlich und kaum vereinbar. Fehlende theoretische und insbesondere sonderpädagogische Kenntnisse erschweren es ihr zu- dem, ihr Handeln und Verhalten zu legitimieren. In kritischen Situationen, die durch einen hohen Entscheidungs- und Begründungszwang gekennzeichnet sind, kann sie daher auf kein verfügbares Instrumentarium zurückgreifen und erfährt so die Antinomie zwischen praktischem Handeln und theoretischer Begründung mit unmittelbarer Härte.

Zusätzlich zu dieser Spannung erlebt Wera die Steigerung der Ungewissheit pädagogi- schen Handelns. Bei dieser Ungewissheitsantinomie erfährt sie die „Antinomie von einer- seits Vermittlungsversprechen und andererseits strukturelle Ungewissheit und Riskanz pro-

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fessioneller Intervention“ (Helsper 2004b, 73). Immer wieder fragt Wera zweifelnd nach der Passung von kindlichen Interessen und Bedürfnissen einerseits und dem Förderangebot andererseits und nach der Wirksamkeit und Nachhaltigkeit ihres Engagements und ihrer Förderbemühungen. Diese Fragen bleiben jedoch ungewiss, ebenso wie der Erfolg ihrer Arbeit und die Prognostizierbarkeit individueller Entwicklung. Um individuelle Lernprozesse bei Mascha zu ermöglichen, müsste Wera Mascha nach dem strukturtheoretischen Ansatz Oevermanns (1996) bewusst in Krisen74 bringen und sie in ihrem Selbstverständnis irritie- ren, sie also durch den Verlust bisheriger Gewissheiten und Sicherheiten destabilisieren. Hier spürt Wera die Grenzen ihrer Handlungsmöglichkeiten und der eigenen Professionali- tät. Die darin liegende Verantwortung kann sie noch nicht allein übernehmen. Enttäuscht stellt sie für sich fest, dass ihr Vermittlungsversprechen nicht einzulösen ist und die Ergeb- nisse ihrer als Gegenentwurf zum elterlichen Verhalten gezeichneten Förderabsichten zu- dem von ihr nicht nachweisbar sind. Wera löst dieses Problem, indem sie ihre Ansprüche und Zielvorstellungen reduziert und anerkennt, dass im pädagogischen Handeln nicht nur die großen Ereignisse zählen. Wera spürt, dass Mascha bei der inneren Bewältigung der Differenzerfahrung wegen ihrer Behinderung weitgehend auf sich allein gestellt bleibt. Die Reduzierung der hohen Ansprüche und Erwartungen der Patin wirkt sich entlastend aus und eröffnet neue Räume für kooperative Aushandlungs- und kreative Gestaltungsprozesse.

Entgegen ihrer Bemühungen erfährt Wera, dass die Beziehung zu Mascha aufgrund geringer kindlicher Eigeninitiative nur bedingt und sehr reduziert reziprok gestaltet wird und die erhoffte Partizipation des Kindes nur in Ansätzen stattfindet. Hier wird das Zusam- menspiel von Autonomieantinomie und Symmetrieantinomie deutlich.

In den gemeinsamen Treffen fordert Wera Mascha immer wieder zu Autonomie und Beteiligung auf und erkennt erst nach und nach, dass diese Forderung in dem von Hete- ronomie durchsetzen Rahmen kaum umsetzbar ist. Am Beispiel der Geh-Hilfen wird Wera die Grundantinomie von Zwang und Freiheit, mit der Mascha durch die körperliche Behin- derung konfrontiert ist, besonders deutlich. Selbstständigkeit und autonome Mobilität wer- den zwar unter professioneller Betreuung eingeübt, sind jedoch unmittelbar mit Risiken und Gefahren verbunden. Wera erkennt, dass die mobilitätsfördernden Maßnahmen Ma- scha zwar Selbstständigkeit ermöglichen, jedoch nur unter bestimmten Bedingungen und in speziell gerahmten Situationen. Zudem schränken sie im Wohlbefinden, in der Beweg- lichkeit und in der Flexibilität ein. Einerseits steigt für Mascha durch die Geh-Hilfen „die Möglichkeit für eine eigenverantwortete autonome Lebensführung (…), gleichzeitig [stei- gen] die Belastungen und Risiken dieser Eigenverantwortlichkeit“ (Krüger/Helsper 2006, 30). Die Auflösung der Abhängigkeit von anderen Menschen gelingt damit nur bedingt. Auf Anpassung ausgerichtete Integration durch Mobilität ist – wie Wera bewusst wird – mit einem hohen Preis verbunden. Am Beispiel des Rollstuhlschiebens erlebt sie darüber hin- aus, dass auch Mascha mit diesen antinomischen Strukturen umgehen muss und sich dabei situativ in entlastende Heteronomie und Abhängigkeit flüchtet.

74 Als „Krise“ wird nach Oevermann das Fehlen oder Scheitern von Routinen verstanden. Da sich faktische Autonomie nur angesichts des Scheiterns von Routinen manifestieren kann, stellen Krisen die Voraussetzung dafür dar, dass eine Bewährungsdynamik für das Autonomiepotenzial der Lebenspraxis ausgelöst wird. Zum anderen bedeutet die Konfrontation mit Krisen die Vor- aussetzung zur „Erzeugung des Neuen“ (Oevermann 1996, 75).

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Das hohe Maß an Fremdbestimmung betrifft, wie Wera erkennt, im Alltag nicht nur Ma- scha und ihre Familie, insbesondere ihre Mutter, sondern auch sie selbst. Immer wieder wird sie im Zusammensein mit Mascha bei den gemeinsamen Treffen mit begrenzenden und beeinträchtigenden Bedingungen konfrontiert, die ihr das eigene autonome Handeln erschweren. Diese nicht aufzuhebenden Widersprüche werden in der Patenschaft durch die Symmetrieantinomie verstärkt. Die in der Behinderung begründeten Anhängigkeiten potenzieren die asymmetrische Anlage der Patenschaftsbeziehung. Weras Versuche, Mascha zu Partizipation zu bewegen, gelingen kaum. Wera erkennt, dass Autonomie, Selbstständigkeit und Partizipation nicht verordnet und erzwungen werden können. Inhalt- lich sieht sie zwar einen Zusammenhang zwischen Maschas Behinderungserfahrungen und deren geringer Eigeninitiative, erkennt aber nicht, dass ihre Forderungen und Erwar- tungen an Mascha für diese einen längerfristigen und unter den spezifischen Aufwach- sensbedingungen beeinträchtigten und erschwerten Lernprozess darstellen. Dass profes- sionelles und auf individuelle Förderung ausgerichtetes Handeln bedeutet, Mascha dabei in Aushandlungsprozessen zu unterstützen und ihr in Kooperation mit Maschas Eltern ein Erfahrungs- und Erprobungsfeld zu ermöglichen, wird Wera nicht bewusst.

Die rahmenden und durch Heteronomie gekennzeichneten Bedingungen nimmt Wera mit Gefühlen der Enttäuschung und Ohnmacht als gegeben und unveränderbar an und reagiert, indem sie die Initiative für die Planung und Gestaltung der gemeinsamen Treffen bei sich belässt. In der Konsequenz muss sie jedoch erkennen, dass dies die Ungewiss- heit hinsichtlich der Passung von Angebot einerseits und nicht offenbarten kindlichen Be- dürfnissen andererseits nicht löst, sondern eher verstärkt.

2.5 Lernerfahrungen

Im Rahmen ihrer Projektmitarbeit wird Wera, wie aufgezeigt, mit vielfältigen Anforde- rungsstrukturen und Herausforderungen konfrontiert, die für professionelle Handlungspra- xis spezifisch sind. Sie verlangen von Wera ein hohes Engagement und eine große Anstrengungs- und Frustrationsbereitschaft. In ihrem Fall bewegt sich die Patin in einem Lernfeld, das durch die Themen „Individuelle Förderung“, „Fragen als Grundlage für pä- dagogisches Vermittlungshandeln“ und „Umgang mit Behinderung“ bestimmt wird. Der Umgang mit den sich aneinanderreihenden Enttäuschungen erweist sich als die wesentli- che individuelle Herausforderung.

Zwar muss zusammengefasst festgehalten werden, dass in diesem Fall für die Patin die enttäuschenden Erfahrungen dominieren und eher ein enttäuschtes Lernen stattfindet als ein Lernen in und an Enttäuschungen, dennoch aber konnte Wera auch vielfältige po- sitive Lernerfahrungen machen. Diese werden von der Patin in ihrer Geschichte allerdings nur nebenbei erwähnt und sie sind immer überlagert von Anstrengungen, Belastungen und Enttäuschungen, was darauf verweist, dass ihr die eigenen Erfolge nicht in ihrem ganzen Ausmaß bewusst werden konnten. Im Rahmen der langen Enttäuschungskette konnten sie nicht genügend an Gewicht gewinnen oder von Wera als besonders bedeut- same Glieder gesehen werden, die dazu beitragen, Enttäuschungen auszugleichen oder abzumildern. Sie sollen im Folgenden knapp skizziert werden:

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Kapitel III: Wera

 

148 Fördern – ein Vorhaben ohne Erfolgssicherheit

Die von ihr gründlich didaktisch und methodisch vorbereiteten Anregungen erlebt Wera zwar von Mascha angenommen, aber immer nur als einmalige Aktion bearbeitet, die nach dem Treffen ohne weitere Auswirkungen auf die Zukunft bleibt. Mascha greift nach den Treffen nicht von sich aus auf die Angebote zurück. Wera wird bewusst, dass der Erfolg und die Nachhaltigkeit ihres engagierten Förderns trotz ganzheitlicher Ausrichtung und er- lebnisnaher Gestaltung ungewiss bleiben. Fördern als ein Erzeugen von Neuem und als ein krisenlösendes Versprechen geht nicht mit Erfolgssicherheit einher – in diesem Fall eine schmerzvolle Erkenntnis, die für professionelles Lehrerhandeln jedoch grundlegend ist.

Von den begrenzten Möglichkeiten und eigenen Ressourcen

Ausgehend von einer Machbarkeitsannahme versucht Wera, die Anforderungen haupt- sächlich allein zu bewältigen. Dabei erlebt sie, dass der Umgang mit Antinomien mit Unsi- cherheiten verbunden ist und geplante Vorhaben scheitern können. Zu akzeptieren, dass Scheitern und Fehler bei deren Bearbeitung möglich sein können, fällt ihr schwer. Wera versteht Unsicherheit und die Möglichkeit des Scheiterns nicht als unumgänglichen Be- standteil professionellen Handelns. Weder gelingt es ihr, diese antinomischen Strukturen rekonstruktiv erschließend zu erarbeiten, noch kann sie Ungewissheit im Sinne von Offen- heit als „pädagogische Ressource der Selbsttätigkeit“ (Helsper 2005, 7) fassen. In der Be- fürchtung, das eigene Scheitern als Versagen interpretieren zu müssen, vermeidet Wera die kritisch selbstreflexive Betrachtung und sucht stattdessen – sich selbst entlastend – die Gründe für nicht gelingendes bzw. anders verlaufendes Handlungsgeschehen bei an- deren betroffenen Personen, bei den Systemen und den rahmenden Bedingungen. Diese familiären wie auch die gesellschaftlichen rahmenden Bedingungen, unter denen das kindliche Aufwachsen, aber auch die Patenschaft stattfindet, nimmt Wera als gegeben und unveränderbar an. Sie erkennt, dass ihr Handeln nicht wie erhofft Veränderungen be- wirkt – weder in der kindlichen Entwicklung, noch im familiären System. In einer Haltung resignativer Akzeptanz gesteht sich Wera die begrenzte Wirksamkeit ihres Handelns ein.

Erweiterung von Handlungs- und Verstehensmöglichkeiten durch fundiertes Wissen

Um sich vertiefend mit der Thematik der Patenschaft auseinanderzusetzen, erarbeitet sich Wera gegen Ende der Patenschaft theoretisches, insbesondere sonderpädagogisches Hintergrundwissen. Sie fertigt im Rahmen der Examensarbeit auf der Grundlage ihrer Pro- jekterfahrungen eine Fallstudie an und setzt sich darin mit dem Thema „Körperbehin- derung und Möglichkeiten der Integration“ auf der theoretischen Ebene auseinander. Auf diese Weise nutzt sie ihre Neugier- und Fragehaltung als eine Ressource zur Selbstvor- sorge und Förderung ihrer (Lehrer-)gesundheit, indem sie sich, ohne den direkten Zug- zwängen ausgeliefert zu sein, aus der Distanz für das spätere direkte Interaktionsgesche- hen professionalisiert. Rückblickend erkennt sie, dass sie auf der Grundlage dieses Wis- sens in manchen Situationen hätte anders handeln und eine eher aufklärende Haltung in der Öffentlichkeit einnehmen können.

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Kapitel III: Wera

 

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Der zunehmend selbstverständliche Umgang mit dem Rollstuhl

Als einen zentralen Lernerfolg definiert Wera rückblickend ihren Umgang mit dem Roll- stuhl, der insbesondere zu Beginn der Patenschaft als augenfällige Differenz von ihr do- minant wahrgenommen wird und bei ihr intensive Fremdheitsgefühle provoziert. Im Ver- lauf der Patenschaft entwickelt sie im Umgang mit dem Rollstuhl Routinen und kann ihre Ängste reduzieren. Sicherlich konnte Wera durch die Patenschaft eine hohe Sensibilität für Menschen im Rollstuhl entwickeln und wird zukünftig mit hoher Wahrscheinlichkeit auf- grund ihres erlernten Umdenkens einfühlsam auf Menschen im Rollstuhl oder auf deren Begleiter reagieren und ihnen Verständnis und Hilfsbereitschaft signalisieren können.

Allmähliche Veränderung des defizitorientierten Blicks

Es gelingt Wera mit der Zeit, ihren Blick zu erweitern und diesen zunehmend auf das im Rollstuhl sitzende Kind, auf die Aufwachsensbedingungen und auf das familiäre Umfeld zu richten. Ihre anfangs defizitorientierte Sichtweise verändert sich. Wera nimmt Mascha nicht mehr nur in der Eigenschaft des Behindertseins wahr, sondern in ihren individuellen Stärken und Vorlieben. Sie erlebt, dass Mascha zwar behindert, aber wie alle anderen Kinder ein komplexer und vielschichtiger Mensch ist, und dass ihre Behinderung zwar ein Teil ihres Lebens, bei weitem aber nicht der wichtigste ist. Diese individualisierende Sicht- weise knüpft an den bereits vorliegenden und zu entwickelnden Kompetenzen an und nimmt das Kind in seinen prinzipiellen Stärken und Möglichkeiten wahr und weniger als Träger von Eigenschaften, die seine Entwicklung bestimmen. Dies ist ein entscheidender Perspektivenwechsel für eine auf Veränderung abzielende individuelle Förderung auf der Basis einer lernbegleitenden Diagnostik für die allgemeine Schule und damit eine wesent- liche Voraussetzung für ein integrativ bzw. inklusiv ausgerichtetes pädagogisches Arbei- ten (vgl. Eggert 1997).

Vom Staunen und überrascht sein

Trotz vielfältiger Erschwernisse finden in der Patenschaft auch gelingende Vermittlungs- prozesse statt. Insbesondere beim Vorlesen und gemeinsamen Singen (vgl. 2.4.3.2) er- fährt Wera unerwartete Verbundenheit mit Mascha.

Beide Situationen stellen einen Möglichkeitsraum für die gegenseitige Annäherung und für den Umgang mit Ungewissheit dar, in dem es in ko-konstruktiven Prozessen gelingt, trotz der vorhandenen Fremdheiten gemeinsam in Verschiedenheit zu handeln. Wera er- fährt Momente, in denen sie sich an Mascha freuen und mit ihr lachen kann. Sie entdeckt die Lebendigkeit des Kindes wie in der ersten Begegnung zu Beginn der Patenschaft. Un- erwartetes überrascht und vereint. Wera kommt ins Staunen. „Im Erstaunen halten sich Distanz und Nähe die Waage“ (Sundermeier 1996, 185). In diesem Erstaunen kann Wera offen sein für das Geringe und Unscheinbare. Sie kann Besonderheit positiv wahrneh- men, Andersheit mit Anerkennung begegnen und Dissonanzen gelassen ertragen.

Verschiedenheit als Normalität leben erfordert Engagement und Bewusstseinsänderung

Verschiedenheit als Normalität zu akzeptieren, erkennt Wera als ein Motto, dessen Um- setzung aktive Auseinandersetzung und individuelles Engagement erfordert und zudem ein kraftaufwendiges Ziel auf einem mit Hindernissen durchsetzten Weg darstellt. Auf der

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Kapitel III: Wera

 

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Grundlage ihrer Erfahrungen wird ihr bewusst, wie wenig normal das Leben mit Behinde- rung verläuft und wie sehr es durch Unachtsamkeit zusätzlich erschwert wird, wie anders familiärer Alltag im Leben mit einem behinderten Kind verläuft und wie viele Ressourcen dieser erfordert. Und sie erfährt, dass Normalität individuell definiert wird. Eine wesentli- che, aber von ihr nicht bewusst formulierte Lernerfahrung ist für Wera, dass Behinderung und Anderssein für die Betroffenen aufgrund fehlender Erfahrungsvergleiche normal im Sinne von selbstverständlich sein und erst im Vergleich mit der anders gebauten Realität als fremd erlebt werden kann. Behinderung kann – wie für Mascha, die mit ihrer Beein- trächtigung seit Geburt aufwächst – Normalität bedeuten. Dass dies aber zumeist die Nicht-Behinderten nicht erkennen und sie eigentlich aufgrund ihrer behinderten Wahrneh- mungsfähigkeit die Behinderten sind (vgl. Pflanz 1994, 115), wird Wera nur in Ansätzen bewusst. Sie konnte an sich selbst erleben, dass Integrationsbemühungen und inklusives pädagogisches Handeln eine Bewusstseinsänderung, insbesondere bei Nichtbehinderten, erfordern. Verschiedenheit als Normalität zu akzeptieren und Vielfalt mit Anerkennung gegenüberzutreten erfordert aber auch eine kritisch reflexive Haltung sich selbst gegen- über. Dass dieses Motto noch nicht grundsätzlich für Weras Handeln leitend ist und nach einer einjährigen Patenschaft auch noch nicht sein kann, wird insbesondere daran deut- lich, dass sie es als Lebensspruch an Mascha weitergibt, nicht aber als verbindendes und für beide gültiges Element anerkennt.

Hoffnung, Zutrauen und positive Bewältigungsvorstellungen

Durch Maschas Mutter erfährt Wera Hoffnung als emotionale und handlungsleitende Aus- richtung auf Zukunft und erkennt, dass es notwendig ist, auch bei Stagnation und Rück- fällen die Hoffnung nicht zu verlieren. Diese mütterliche Hoffnung und das Prinzip des un- beirrbaren Weitermachens wirken in diesem Fall stimmungsaufhellend und entlastend. Bei aller Ungewissheit und trotz der erlebten Enttäuschungen erfährt Wera das beharrliche Ver- halten von Maschas Mutter als sichernd und stabilisierend. Wera übernimmt diese Grund- haltung, wenn auch mit resignativer Konnotation, die sich mit dem Überwiegen ihrer Enttäu- schungsgefühle begründen lässt. Eine solche positive, zutrauende Erwartungshaltung und das hoffnungsvolle Zutrauen in die Entwicklung und die vorhandenen und sich ergebenden Chancen sind sowohl für die individuelle verantwortungsvolle Lebensbewältigung als auch für verantwortungsvolles, pädagogisch professionelles Handeln eine Voraussetzung und „e- lementare Grundlagen einer Pädagogik Körperbehinderter“ (Leyendecker 1994, 179).

Trotz aller Enttäuschungen kann Wera nach beendeter Patenschaft die Zukunft für Mascha mit positiven Bewältigungsvorstellungen entwerfen. Diese positiven Annahmen über die Verwirklichungschancen stellen auch eine wichtige Bedingungsvariable für den Erfolg schulischer Leistungen dar. Hoffnung und Vertrauen begünstigen verantwortliches Handeln, das wiederum das Zutrauen fordert. Wera entwickelt Zutrauen in das Kind und seine Entwicklung, aber auch in die Zeit, die Entwicklung benötigt. Sie erkennt, dass sie Mascha nicht zu einem anderen Menschen formen und sie ausschließlich an Normen an- passen kann. Entscheidend ist vielmehr, Kinder, und ganz besonders Kinder mit Behinde- rung, durch Zutrauen Selbstvertrauen zu geben, damit sie ihren eigenen Weg in dieser Welt finden können. Und dabei zählen, wie Wera es formuliert, „ja jetzt nicht die die gro- ßen Ereignisse, die man miteinander gemacht hat, sondern eigentlich eher so das Gefühl, und dass man einfach jemanden hat, und dass man da ist“ (415-417).

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Kapitel III: Wera

 

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2.6 Zusammenfassung und Fazit

Wera setzt sich während der Patenschaft intensiv mit dem familiären Alltag eines körper- behinderten und auf den Rollstuhl angewiesenen Kindes auseinander und erlebt in ihrem Versuch, durch auf Förderung angelegte Begleitung Veränderungen zu bewirken, vielfältige Ernüchterungen, Enttäuschungen und Überforderungen. Diese beruhen auf dem ge- scheiterten Aufbau des Arbeitsbündnisses mit dem Patenkind, aber auch mit dessen Eltern. Dies erklärt sich in den umfassenden Differenzerfahrungen, deren Bearbeitung wesentlich durch die Behinderungsthematik überlagert wird sowie in der überfordernden Notwen- digkeit, sich in komplexen und vielschichtigen Situationen fragend verhalten zu müssen.

Sich von der eigenen auf Engagement und intensivem Bemühen basierenden Mach- barkeitsannahme verabschieden zu müssen und sich trotz vielfältiger Belastungen und Einengungen nicht entmutigen und demotivieren zu lassen, ist sicherlich eine vergleichs- weise hohe Anforderung an die Patin und eine für sie schmerzvolle Erfahrung, die eine wichtige Grundlage für die weitere Entwicklung ihres professionellen Handelns sein wird.

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Kapitel III

Bianca, Wera und Jana

3 Jana: „(…) so ein anderes Bild von Familie“ (N 432) – vom Umgang mit Belastungen

Der vorliegende Fall betont die Notwendigkeit der Kooperation mit Eltern bzw. Erziehungs- berechtigten und zeigt, dass diese nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden kann. Zudem weist er Faktoren und Bedingungen nach, die den Alltag des Kindes, aber auch das pädagogische Handeln belasten. Mehrgenerationelle Familienstruktur, soziale Herkunft und familiäres Milieu werden als mögliche Erschwernisse für Chancengleichheit aufgezeigt. Im Hinblick auf die Anbahnung professionellen Handelns verdeutlicht der Fall die Nöte und Zugzwänge der Studentin im Umgang mit diesen belastenden Bedingungen. Indem sie die- se als Herausforderungen annimmt, legt sie bereits im Rahmen der Ausbildung wesentliche Grundsteine für den Ausbau ihrer eigenen Widerstandsfähigkeit.

Als besonders interessant erweist sich dieser Fall wegen seiner besonderen Erzählform. Die Stegreiferzählung fällt vergleichsweise kurz aus und wird abrupt beendet. Zwischen den einzelnen Erzählsegmenten sind Kommentierungen platziert, wodurch die Gesamtgestalt der Erzählung wenig einheitlich und kaum fließend erscheint. Im Gegensatz zu den beiden vorangegangenen Geschichten verweisen die bewertenden Stellungnahmen auf die Schwierigkeiten der Patenschaft. Die ergänzenden Daten sind sehr umfangreich. Im Portfo- lio bearbeitet die Patin die fallspezifischen Kooperationserfahrungen auf der theoretischen Ebene und im Tagebuch reflektiert sie alle Treffen mit dem Patenkind. Diese Dokumente tragen dazu bei, die in der Interviewauswertung auftretenden Fragen und Leerstellen zu er- hellen. Besonders hervorzuheben ist schließlich noch, dass der Kontakt zwischen Patin und Patenkind nach der Beendigung der Patenschaft über fünf Jahre lang weiter besteht.

3.1 Patenschaftsportrait

In diesem Fall treten folgende Personen namentlich auf:

Jana Patin Sandra Patenkind Frau John Therapeutin Judith Freundin von Jana und ebenfalls Patin Ruth Patenkind von Judith Herr und Frau Kinian Großeltern von Sandra

Die Patin Jana wird 1981 geboren. Sie wächst als älteste Tochter und Schwester zweier jüngerer Brüder auf. Ihre Mutter ist Lehrerin. Angaben zu ihrem Vater macht sie in ihrer Geschichte nicht.

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Kapitel III: Jana

 

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Im dritten Semester entscheidet sich Jana, das anstehende Blockpraktikum als ein Sonderpraktikum an einer Kasseler Grundschule in einer Brennpunktgegend zu absolvie- ren. Dieses Blockpraktikum wurde zu der damaligen Zeit von der Projektleiterin betreut. Von ihr auf die Mitarbeit im Projekt angesprochen, nimmt Jana – damals 21 Jahre alt und im fünften Semester ihres Grundschullehramtsstudiums – von September 2002 bis De- zember 2003 am Projekt K teil. Sie übernimmt eine Patenschaft für Sandra, ein sechsjäh- riges Mädchen, das 1996 in Deutschland geboren wurde und zum Beginn der Patenschaft die Vorklasse einer Regelgrundschule besucht. Aufgrund der mütterlichen Drogenabhän- gigkeit wächst Sandra seit ihrem vierten Lebensjahr bei ihrem Großvater mütterlicherseits und dessen zweiter Frau auf, die sie „als ihre richtige Oma annimmt und akzeptiert“ (PF, 5, s. A II). Nach Aussage einer Therapeutin der Pädagogischen Frühförderung wurde Sandra für die Begleitung im Rahmen des Projekt K vorgeschlagen, um ihr noch andere Ansprechpartner als die Mutter oder die Großeltern zu ermöglichen, mit denen „man also Dinge unternehmen kann, die man vielleicht sonst mit der Mutter macht“ (N 215-216).

Im Rahmen der Patenschaft nimmt Jana den ersten Kontakt zu ihrem Patenkind Sand- ra am 12.9.2002 auf. Im weiteren Verlauf der Patenschaft finden insgesamt 35 Treffen statt. Am 31. Treffen wird Sandra in die erste Klasse eingeschult. Jana kann an diesem Ereignis teilnehmen. Im Dezember 2003 wird die Patenschaft beendet, doch Jana be- sucht Sandra im Januar 2004 noch einmal zu deren Geburtstag. Danach treffen sich bei- de nicht mehr. Fünf Monate später wird der Kontakt wieder aufgenommen. Dieses Mal liegt die Initiative bei Sandra. Sie meldet sich im Juni 2004 telefonisch bei Jana. Zum Zeit- punkt des Interviews (7/2004) ist die Patenschaft ein gutes halbes Jahr beendet. Jana be- findet sich inzwischen im achten Semester. Sie plant, wie sie berichtet, Sandra in der kommenden Zeit zu besuchen.

3.2 Janas Geschichte

Jana entwirft eine episodenhafte, eher traurige Geschichte, in der die mächtigen Belas- tungen und Risiken im familiären Umfeld eines Kindes aufzeigt werden. Obgleich die Pa- tin von Anfang an um die geringe Veränderbarkeit familiärer Systeme weiß, erlebt sie nicht nur die beengenden Bedingungen kindlichen Aufwachsens, sondern auch familiäre Risiken, insbesondere in Form von Anregungsarmut und Bildungsferne sowie in Konflik- ten und psychischen Belastungen der Eltern bzw. Erziehungsberechtigten durch Alkohol- und Drogenabhängigkeit. Wie belastend ein solches familiäres Umfeld sein kann, erlebt Jana hautnah durch die gemeinsamen Treffen mit Sandra, die hauptsächlich bei dem Pa- tenkind zu Hause stattfinden.

Zentrale Personen in der Geschichte sind das Patenkind Sandra, ihre Mutter und ihr Großvater mit dessen zweiter Frau sowie die Therapeutin der Pädagogischen Frühförde- rung, Frau John. In der Erstbegegnung spielt der Hund Leika noch eine wichtige Rolle. Er- wähnt, aber nicht weiter ausgeführt werden zudem Kinder, die zum Geburtstag eingela- den sind sowie eine Freundin, die, ebenso wie Sandra, auch bei ihren Großeltern wohnt.

Auffällig sind die Erzählpausen, in welchen Jana laut überlegt, was sie noch erzählen könnte. Ihre Formulierungen, wie z.B. „Jetzt muss ich mal grad überlegen“ (81-82) oder „ich überlege, soll ich noch irgendwas erzählen“ (148), können als Zögern und als Zu- rückhaltung gedeutet werden. Zu vermuten ist, dass Jana Schwierigkeiten mit der Ge-

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Kapitel III: Jana

 

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samtgestalt ihrer Geschichte hat. Ihre Erzählkommentare ähneln den Atemzügen einer Schwimmerin, die zwischendurch Luft holen muss, damit sie für die nächsten Züge wieder in die Geschichte eintauchen kann. Dies wird als Beleg dafür gedeutet, dass es Jana schwer fällt, die Belastungserfahrungen erinnernd zu rekonstruieren und sich diesen erneut auszusetzen, was durch die bewertenden Stellungnahmen, wie z.B. „das war schwierig“, bestätigt werden kann.

Der erste Teil des Interviews endet abrupt und unvorhersehbar. Der Nachfrageteil fällt ausführlicher aus. Jana schweift zum Teil von den Fragen ab und führt andere Erzähl- stränge aus. Es scheint, dass ihr die Fragen Struktur und Halt geben und sie von ihnen aus wieder in die Geschichte zurückfinden kann.

Janas Stegreifgeschichte unterteilt sich in fünf größere Sequenzen mit insgesamt elf Erzählsegmenten, die sich wie folgt aufbauen (vgl. Zusammenfassende narrationsstruktu- relle Inhaltsbeschreibung, A II):

Nach einer Eröffnungspassage (1-20), die Janas Erstbegegnung und den Prozess der Entscheidungsfindung zur Mitarbeit thematisiert, wird im zweiten Segment die Planung und Vorbereitung der Patenschaft in Kooperation mit der Pädagogischen Frühförderung dargestellt (21-43). Es folgen Ausführungen zur Erstbegegnung mit dem Patenkind Sand- ra und dessen Großeltern (44-65). Im vierten Segment (65-80) fasst Jana ihre Beziehung zu Sandra zusammen und nennt die belastenden familiären Aufwachsensbedingungen als das zentrale Thema der Patenschaft. Diese konkretisiert sie in den darauf folgenden Segmenten. Im fünften Segment (81-113) stellt sie die gemeinsamen Treffen in ihren spe- zifischen Rahmungen dar. In der Situation der Einschulung gegen Ende der Patenschaft begegnet sie, wie Jana im sechsten Segment ausführt (114-127), Sandras Mutter. An den Geschenken zur Einschulung wird die konkurrente Situation der beiden jungen Frauen aufgezeigt. Janas Ausführungen leiten weiter zu Sandras familiären Aufwachsensbe- dingungen und den Beziehungskontexten, die in den folgenden beiden Segmenten (128- 225) dargestellt werden. Der im achten Segment entfaltete Kindergeburtstag zeigt sich als soziales Drama. In dieser Szene wird das hohe Stigmatisierungspotenzial im kindlichen Umfeld, die massiv erschwerten und riskanten Bedingungen des Aufwachsens und das Enttäuschungserleben deutlich, das sich in Sandras Leben durch wiederholende Tren- nungen und Verluste und die permanente Erfahrung von Unzuverlässigkeit und Unplan- barkeit manifestiert. Im sich daran anschließenden neunten Segment (226-239) evaluiert Jana rückblickend ihre Patenschaft. Durch die Teilnahme an dem Kindergeburtstag, der vier Wochen nach beendeter Patenschaft stattfindet, erlebt sie in dem Moment der Eska- lation, wie sehr die Aufwachsensbedingungen Sandra tatsächlich belasten. Im Nachhinein muss sie erkennen, dass sie zur Zeit der Patenschaft die Belastungen für Sandra in ihrer Mächtigkeit nicht richtig eingeschätzt hat. Ihr wird auch deutlich, wie sehr die Patenschaft sie selbst belastet hat und sie immer noch – durch die Perspektive des anstehenden Wie- dersehens – aktuell beansprucht. Dass dies insbesondere mit der erneut bevorstehenden Auseinandersetzung mit dem Großvater und dessen autoritärer, leistungsorientierter und bedrängender Art zusammenhängt, in der er die kindlichen Stärken verkennt und andere Sichtweisen ignoriert, führt Jana im 10. Segment (240-278) aus. Ihre Stegreiferzählung schließt Jana im 11. Segment (279-290) und führt Freundschaften und Schule als protek- tive Faktoren im Leben von Sandra an. Damit wendet sie ihre bisher traurige Geschichte und perspektiviert die Zukunft mit positiven Bewältigungsstrategien.

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Kapitel III: Jana

 

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3.3 Erwartungen und Orientierungsmuster für die Projektarbeit: „Mit Leib und Seele“ (4) und „nicht so halbherzig“ (5)

Wie in den beiden vorherigen Fällen fühlt sich auch Jana bereits zu einem frühen Zeit- punkt in ihrem Studium von der Projektidee angesprochen, kann aber nicht direkt zusa- gen. Bis zu ihrer endgültigen Entscheidung, am Projekt mitzuarbeiten, bedarf es zunächst einiger Vorüberlegungen und weiterer organisatorischer Planungen. Jana erzählt dazu:

(…) ich hab das ja relativ früh im Studium hab ich dann von dem Projekt erfahren und hab äh hab mich auch schon direkt interessiert, aber ich wusste halt, dass ich dafür keine Zeit habe. Weil ich das dann auch also dann so mit Leib und Seele gerne mache und dann dann nicht so halbherzig. Dann hat ja meine Freundin Judith angefangen, und dann war ich auch schon immer so dabei. Und die hatte ja auch ein ziemlich schwieriges äh ziemlich schwieri- ges Kind gehabt oder ziemlich schwierige Familie, und ehm ja, dann haben wir immer t e l e- f o n i e r t und ich [hab] ihr immer versucht, so Tipps zu geben wie sie sich verhalten kann, und ich hab Ruth75 auch mal gesehen, und ehm ja das war immer nur so so auf einem ge- hobenen Niveau so theoretisch, und ich fand das einfach toll, so mit einem Kind jetzt au- ßerhalb der Familie mal Kontakt zu haben. Weil diese Kinder in der Familie, die mögen ei- nen ja sowieso. Also die, mit denen hat man ja ein ganz anderes Verhältnis, als äh jetzt Kin- der auch, die in der Schule sind. Und ehm ich hab ziemlich lange dann überlegt, und ich hät- te es halt gerne gemacht, und du hast mich darauf angesprochen ehm nach dem Block- praktikum, und äh da hab ich noch mal überlegt (lacht) und hab dann meinen Job gekün- digt, den ich hatte, und ehm meine Eltern haben mich ein bisschen unterstützt, und dann hab ich gesagt: „So jetzt kann ich das machen.“ Und dann habe ich mich gemeldet, und dann ging das glaube ich relativ schnell mit Sandra (2-20).

Jana rahmt die Darstellung ihrer Erwartungen mit der Analyse ihrer Ausgangslage und der Vorbereitungen, bis sie sich endgültig entscheidet, an dem Projekt K mitzuwirken.

Über ihre Freundin Judith, die sich zur Mitarbeit entschieden hat, kann Jana deren Er- fahrungen miterleben und sich so indirekt bzw. vermittelt in teilnehmender Beobachtung und auf eher theoretischer Ebene – „auf einem gehobenen Niveau so theoretisch“ (11) – mit dem Projekt weiterhin auseinandersetzen. Ihr Interesse an der Mitarbeit wächst.

3.3.1 Persönliche Voraussetzungen und Grundeinstellung zur Projektmitarbeit

Jana fühlt sich von der Projektidee angesprochen und ist interessiert, kann sich jedoch aus Zeitmangel nicht zur Mitarbeit entscheiden. Hinzu kommt ihr Wissen um den eigenen Leistungsanspruch und ihre persönliche Grundhaltung. Sich für etwas zu entscheiden, bedeutet für Jana, es „mit Leib und Seele“ und „nicht halbherzig“ (4-5) zu machen. Diese Redensart, bei der der Körper in den Vordergrund rückt, wird im alltäglichen Sprach- gebrauch in unterschiedlichen Zusammenhängen verwendet. So hält z.B. eine gute Mahl- zeit Leib und Seele zusammen, keine der beiden Anteile kommt zu kurz. Oder Freunde, die beispielsweise im Fühlen, Denken und Tun eine hohe Übereinstimmung aufzeigen, gehören wie Leib und Seele bzw. wie ein Herz und eine Seele zusammen (vgl. Röhrich 1994, 949). Jana verweist mit dieser Körpermetapher sowohl auf die persönliche Art ihres ganzheitlichen Engagements – wenn sie eine Aufgabe übernimmt, dann tritt sie dafür mit Leib und Seele, also ganz und gar ein – als auch auf ihren hohen Leistungsanspruch an sich selbst, „(fast) alles „perfekt“ zu machen“ (PF, 1, s. A II), den sie in ihrem Portfolio ein- deutig benennt. Unter den gegebenen Bedingungen aber könnte sie sich nur oberflächlich

75 Ruth ist das Patenkind von Janas Freundin Judith.

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engagieren. Sie entscheidet sich zunächst gegen eine Mitarbeit. Nach gründlichen Über- legungen und entsprechender Umstrukturierung und Neuorganisation ihres Alltages – sie kündigt ihren Job, wofür sie in ihrem Portfolio gesundheitliche Gründe angibt – bittet sie ihre Eltern um finanzielle Unterstützung. Im Juli 2002 meldet sich Jana schließlich für die Mitar- beit im Projekt K an.

3.3.2 Gründe für die Entscheidung zur Projektmitarbeit

Ihre Erwartungen und Orientierungsmuster führt Jana im Interview zunächst nur kurz aus. Für weitere Detaillierungen können der Nachfrageteil (N) und ihr Portfolio (PF) herange- zogen werden, die im Anhang II vorliegen (s. CD).

Jana erfährt durch die Patenschaft ihrer Freundin Judith, dass die Projektarbeit ihr ei- nen Kontakt zu Kindern ermöglicht, die anders sind, und assoziiert mit diesen Kindern ei- ne andere Beziehungsart, als zu den Kindern, die ihr als ihre zukünftige Klientel in der Grundschule begegnen werden. Und sie geht davon aus, dass diese Kinder, die in der Projektvorstellung als zuwendungsbedürftig beschrieben werden, die Menschen, die sich ihnen zuwenden und ihnen helfen wollen, „sowieso“ (13) mögen. Auf dieser Grundlage vorausgesetzter Sympathie unterstellt Jana, dass die Beziehung zu diesen Kindern an- ders, aber zugleich sicher und leicht zu gestalten ist.

Ein weiterer Grund ist ihre Faszination am Anderssein und das Bestreben, Kinder, die anders sind, verstehen zu wollen. In Ihrem Portfolio schreibt sie dazu:

Schon immer haben mich Menschen, insbesondere Kinder interessiert, die nicht so waren und sind, wie ich. Ich will grundsätzlich verstehen, was hinter bestimmten Menschen steckt, warum sie wurden, was sie sind und ob sie sich verändern können (PF, 1, s. A II).

Für die eigene Entwicklung und Professionalisierung wünscht Jana, sich im Rahmen der Projektmitarbeit in der Auseinandersetzung mit Schwierigkeiten selbst erproben zu kön- nen. Wiederum am Beispiel der Patenschaft ihrer Freundin erlebt sie, dass deren Paten- kind zu einem schwierigen Fall wird: die Patenschaft geht „sehr negativ aus“ (20), da das Kind in die Psychiatrie kommt. Diese Beobachtung verstärkt Janas Neugier, insbesondere auch hinsichtlich der eigenen Kompetenzen und Fähigkeiten. Sie will nicht nur theoreti- sche Tipps geben, sondern „die schwierige Arbeit mit einem Kind selbst erproben“ (PF, 1, s. A II). Auf die Nachfrage bezüglich ihrer Motivation führt Jana aus:

Ich wollte einfach sehen, wie ich mit einem anderen Kind zurecht komme, wie ich mich ver- halte, also mich selber beobachten, das Kind beobachten. Ja, und einfach (…) so eine Be- ziehung aufzubauen (N 22-24).

Ein weiterer Grund für ihre Projektmitarbeit ist der Wunsch, helfen zu wollen mit dem Ziel „Türen zu öffnen“ (16). Auf der Grundlage der Patenschaft ihrer Freundin weiß Jana, wie sie im Nachfrageteil des Interviews ausführt, dass im Rahmen der Projektarbeit von den Paten keine Veränderungen in den familiären Systemen bewirkt werden können, sondern dass sie nur helfen können, indem man sich vornimmt. „mit dem Kind ein paar schöne Stunden zu haben, einmal in der Woche sich zu treffen, vielleicht (…) Türen zu öffnen, dass sie mal was anderes sehen“ (N 15-16).

Und schließlich wird Jana in ihrer Entscheidung durch die persönlich an sie gerichtete Anfrage der Projektleiterin unterstützt. Diese persönliche Ebene bestärkt Jana vermutlich darin, sich mit der Idee einer Mitarbeit intensiver auseinanderzusetzen und erleichtert es ihr

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möglicherweise, nach ihrer ersten Absage erneut den Kontakt zur Projektleiterin aufzu- nehmen. 76

3.4 Projekterfahrungen

3.4.1 Beziehungserfahrungen und Interaktionsdynamik: Eine eigene Welt „bauen“ und die anderen „ein bisschen außen vor“ lassen (62)

Die Patenschaftsbeziehung zwischen Jana und Sandra ist von Anfang an durch vertrau- ensvolle und einander zugewandte Gegenseitigkeit gekennzeichnet. In einem Umfeld, das durch Spannungen, Risiken und Widersprüche geprägt ist, was Entwicklung belastet und Veränderungsbestrebungen erschwert, bietet die Beziehung zwischen ihnen einen stabili- sierenden und schützenden Raum. Im Rahmen der Patenschaft gestalten Jana und Sand- ra Orte ihrer gemeinsamen Begegnung und erweitern dadurch den privaten, familiären Lebensraum des Kindes. Sie schaffen sich Räume, in denen sie sich aufeinander beziehen, die sie gemeinsam entfalten und gestalten und sich in ihnen schützend nach außen ab- schotten können. Dies wird von Jana gleich zu Beginn ihrer Geschichte bildhaft ausgeführt:

Ja, und dann ein paar Wochen später waren wir eingeladen mit Frau John zusammen bei Kinians also bei Sandras Großeltern, und äh ich kam an mit Frau John, wir haben uns dann da getroffen, und Sandra kam uns schon entgegengelaufen so ganz süß, also auf der einen Seite ganz schüchtern und auf der anderen Seite ganz äh zuvorkommend, und (hm) so so herzlich. Und äh mit dem Hund Leika, und da hat man schon gesehen, dass die beiden so eine ganz innige Beziehung haben, das ist glaube ich entweder ein Golden Retriever oder ein Labra-, ich glaube ein Labrador. (hm) >Ich kann die immer nicht auseinander halten.< (lacht) Ja, und ehm also halt ziemlich groß, und äh ich hatte eigentlich ziemlich Angst vor Hunden, und der kam halt gleich so an, und sprang so hoch, das war erst mal so ein biss- chen äh schwierig, und ja, (…) wir haben uns schon mal unterhalten, es gab Kuchen, und sie [die Frau des Großvaters] hat mir Kaffee eingeschüttet, obwohl ich ja keinen mag, den musste ich dann trinken (lacht), hat mir dann noch zwei, drei mal nachgeschüttet (lacht) (hm,) und ehm ja, dann hat äh Sandra ganz langsam erzählt, und immer mehr und am Ende haben wir die ganze Zeit nur zusammen gespielt, und alle anderen waren so ein bisschen außen vor. Wir haben dann ich glaub Verstecken gespielt im Garten und Puzzeln und alles Mögliche ja, und dann bin ich irgendwann gefahren, hab dann glaube ich noch einen Termin ausgemacht, und das fand ich erst mal so ganz schön (44-65).

Im Gegensatz zu den meisten Patenschaften findet die geplante Erstbegegnung mit der Familie des Patenkindes auf Anregung der Therapeutin und in Absprache mit der Pro- jektleiterin nicht in den Räumen des Familienberatungszentrums statt, sondern bei Sandra zu Hause. In dieser Situation zeigt sich die für die Patenschaftsbeziehung kennzeich- nende Anlage in der Grundspannung zwischen zurückhaltender Zuvorkommenheit einer- seits und grenzüberschreitender Vereinnahmung andererseits. Der unmittelbaren, direk- ten und zugewandten Lebendigkeit steht vorsichtige und lähmende Handlungseinschrän- kung gegenüber.

Unvermittelt und überraschend wird Jana mit Leika, dem Hund der Familie, konfrontiert und reagiert zunächst ängstlich. Sie erlebt diese Situation der Erstbegegnung als „schwie- rig“, weil sie mit grenzüberschreitendem Verhalten konfrontiert wird. Im Gegensatz zu dem kindlichen Verhalten, das sich durch Zurückhaltung und Zuvorkommenheit auszeich- net, muss Jana an diesem Nachmittag nach diesem Übergriff gleich ein zweites Mal mit

76 Eine tabellarische Zusammenfassung des Falls ist im Anhang nachzulesen (s. A I: A 10 (3)).

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Kapitel III: Jana

 

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einer Grenzverletzung umgehen, denn Sandras Großmutter schenkt ihr ungefragt mehr- fach Kaffee ein, obwohl sie keinen mag. Auch in dieser Situation wird die Distanz nicht ge- wahrt. Sandras Großmutter verhält sich Jana gegenüber unangemessen vertraut, indem sie ihre Bedürfnisse nicht erfragt, sondern über diese bestimmt. Jana fühlt sich verpflich- tet, den eingeschenkten Kaffee zu trinken. Die eigenen Grenzen zu artikulieren oder gar Kritik zu äußern, gelingt ihr in dieser Situation nicht. Ihre eigenen Bedürfnisse zurückste- ckend, hält Jana die Übergriffe aus, reagiert mit Anpassung und lässt sich zunächst ver- einnahmen. Dieses Spannungsverhältnis gleicht sich allmählich aus, Jana kommt mit Sandra ins Gespräch und schließlich spielen sie gemeinsam im Garten. Es gelingt ihnen, sich eine eigene Welt zu „bauen“ und die anderen anwesenden Personen „ein bisschen außen vor“ zu lassen (62). Dieses Bild ist für die Patenschaftsbeziehung und die Interakti- onsdynamik charakteristisch und wird – wie im Weiteren noch aufgezeigt wird – wieder- holt gezeichnet.

Orte und Räume

Sich in der Beziehung gemeinsame Räume aufbauen und gestalten zu können, erfordert, über entsprechende Räume zu verfügen. Im Sommer können Jana und Sandra die ge- meinsame Zeit draußen verbringen, entweder im Garten oder in der näheren Umgebung, z.B. auf dem Spielplatz. Dabei wird der Garten zu einem zentralen Ort, denn er bietet sich als attraktiver Lebens- und Erfahrungsraum an, der das gemeinsame Erleben mit allen Sinnen geradezu herausfordert. Bei schlechtem Wetter sind Jana und Sandra auf häusli- che Aktivitäten angewiesen. Aufgrund der beengten Verhältnisse (vgl. 3.5.3.1) bleibt ihnen im Haus nur wenig Platz, der „Radius“ ist, wie Jana erzählt, „sehr beschränkt“ (88). Meis- tens halten sie sich in der Küche auf und basteln oder malen dort. Die häusliche Umge- bung erweist sich nicht nur beengt, sondern zudem eher anregungsarm. Unter diesen Be- dingungen reicht es für das von Jana verfolgte Ziel, Sandra anzuregen, zu fördern und ihr „Türen zu öffnen“ (16), nicht aus, die gemeinsamen Aktionen und Vorhaben nur vorzube- reiten, sie bringt auch das benötigte Material mit. Neben den Treffen zu Hause planen Ja- na und Sandra gemeinsame Ausflüge und Unternehmungen in der näheren Umgebung. Diese stellen für Jana einen integrativen Bestandteil ganzheitlicher Erziehungs- und Bil- dungskonzepte mit der Möglichkeit dar, Entwicklungs- und Erziehungsdefizite zu kompen- sieren. Aber auch hier erlebt Jana organisatorische, finanzielle und kooperative Be- schränkungen durch das Umfeld, die später noch ausgeführt werden.

Gestaltung der Patenschaftsbeziehung

Auf der Grundlage unterstellter Sympathie perspektiviert Jana für die Zukunft eine positive Patenschaftsbeziehung, in der sich Sandra ihr gegenüber zugewandt und zuvorkommend verhalten wird, denn Sandra ist ihr gegenüber „von Anfang an unheimlich offen“ (67).

(…) hab so gemerkt, dass Sandra eigentlich von Anfang an unheimlich offen war, mir also direkt Dinge auch erzählt hat von ihrer Mutter, was ich nie gedacht hätte, und dass ich dann aber auch keine Hemmungen hatte, sie zu fragen. (hm) Also das war so ganz direkt, ganz offen und ehm auch nie irgendwie, dass was tabuisiert wurde oder so was, man hat direkt dann angefangen zu reden, und das war unheimlich schön (66-71).

In ihrem Tagebuch hält sie Ehrlichkeit, Herzlichkeit und Nähe zueinander als Kennzeichen ihrer Beziehung fest:

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Kapitel III: Jana

 

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Das Schöne im Umgang mit Sandra ist, dass sie immer sagt, was sie denkt und fragt, wenn sie etwas wissen will, so dass gleich eine herzliche Atmosphäre entsteht und man sich sehr nah ist (PF: Tagebuch 18. September, s. A II).

Die Beziehung ist auf Partizipation und gegenseitige Anerkennung angelegt. Erleichtert wird der Aufbau des gemeinsamen Bündnisses, da in der Begegnung von Patin und Pa- tenkind übereinstimmende und sich ergänzenden Kompetenzen und Haltungen aufein- ander treffen: Jana übernimmt die erste Initiative und betritt die Welt des Kindes, in der sie Zuversicht, Zugewandtheit, Sympathie und Lust an Bewegung und Spiel vermittelt und sich angemessen vorsichtig, zurückhaltend, abwartend und angepasst verhält. Sie trifft auf ein lebendiges und zuversichtliches Kind, das sich ihr gegenüber freundlich, zuvor- kommend und zugleich abwartend verhält, das schnell Vertrauen fasst, die Angebote an- nimmt und aktiv mitgestaltet.

In den gemeinsamen Unternehmungen erleben sich Jana und Sandra als einander zu- gewandt und aneinander interessiert, einander vertrauend, ohne Geheimnisse voreinan- der, ohne Leistungsdruck und ohne Angst.

Vertrauensaufbau mit Zeit und auf der Basis von Freiwilligkeit

Jana beobachtet Sandra in unterschiedlichen Situationen und erkennt, dass sie häufig ei- ne distanzierte und beobachtende Phase benötigt, um Vertrauen in die Situation und das eigene Können aufzubauen, bevor sie neue Situationen ausprobiert und schließlich daran Spaß findet (vgl. N 120-126).

An den Bedürfnissen des Kindes orientiert, erkennt sie die besondere Bedeutung des Elements Wasser für Sandra. Das Schwimmbad und der Pool im Garten sind ein Ort, der ihnen bildlich gesprochen ein Abtauchen ermöglicht. Sandra gewinnt an Sicherheit und lernt, sich vom Wasser tragen zu lassen, immer abgesichert durch die Begleitung von Ja- na. Trotz beständiger Versuche gelingt es Jana jedoch nicht, Sandra soweit zu ermutigen, dass sie auf die Sicherheit gebenden Schwimmflügel verzichtet. Jana akzeptiert diese kindliche Grenzsetzung. Einfühlsam spürt Jana die kindliche Angst und erlebt, dass für Sandra die Erfahrung wichtig ist, sich sicher sein zu können, nicht verlassen zu werden:

(…) wie Sandra manchmal (…) ja auch sehr ängstlich ist, dass sie immer Angst hatte, ich gehe weg, weil sie immer gefragt hat: „Ja, äh bist du immer noch hinter mir, bist du immer noch“, beim Schwimmen zum Beispiel (N 160-162).

Jana nimmt die sich hier andeutende Vertrauensantinomie sensibel wahr. Sie vertraut auf die Zeit, das wachsende Zutrauen und das kindliche Können und geht davon aus, dass sie das „irgendwann (…) dann von selber“ machen wird (N 111). Eine entscheidende Erkennt- nis für Jana ist, zu merken, „dass man auch ein Kind nicht zwingen kann“ (N 105-106). Ver- trauen lässt sich, wie sie merkt, nicht verordnen – Vertrauen ist nicht durch Überzeu- gungsarbeit anderer zu leisten, sondern kann nur von der Person selbst aufgebaut werden:

(…) weil ich hab gesagt: „Sandra, ich halt dich doch hier unten“, aber das konnte sie nicht. Ne, und am Ende hat sie es dann doch gemacht, aber von selber (N 118-120).

Wiederholt demonstriert Jana ihre Zuverlässigkeit. Ganz gezielt und bewusst übt sie mit Sandra kurze Situationen des Verlassens in der gewährten Sicherheit des Wiederkom- mens. Beispielhaft führt Jana dies in ihrer Erzählung wie folgt aus:

Und irgendwann geht’s, da hab ich sie irgendwo hingesetzt, hab gesagt: „So, ich gehe jetzt mal ganz kurz in den Media Markt rein, du hast ja meine Tasche“ sozusagen als Pfand, „ich komme auf jeden Fall wieder“. Und dann ist sie da sitzen geblieben. Ich bin alleine da rein,

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Kapitel III: Jana

 

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hab irgendwas kurz gekauft, und äh kam wieder. (hm) Ne, und so ehm, man konnte das nicht ganz abstellen, aber so ein paar Fortschritte, (hm) die hat, hat man gesehen (N 162-167).

Im Verlauf der Patenschaft kann Jana zunehmende kindliche (Selbst-)Sicherheit beob- achten und erkennt, dass sie zu einer vertrauensvollen und vertrauten Person für Sandra wird. Sandra öffnet sich ihr gegenüber immer mehr. Sie berichtet Jana von den hohen und sie belastenden Leistungsanforderungen, die ihr Großvater an sie stellt, „dass sie sich mit ihrem Opa gestritten hat, weil er fand, dass sie nicht richtig schreibt und den Stift falsch halte“ und dass sie „auch geweint“ habe (PF: Tagebuch vom 24. September, s. A II). Jana hört von Sandra auch von den Eheproblemen der Großeltern und von dem hohen Alko- holkonsum des Großvaters (vgl. 179-180). Immer wieder versucht Jana, Sandra in Situa- tionen massiver Enttäuschung beizustehen und ihr Orientierung, Bestätigung und entlas- tende Aufmunterung zu bieten. Jana erkennt, dass nicht das Kind oder die Beziehung zum Kind problematisch ist, sondern die schwierige Beziehung zu dem Großvater und die beengenden und durchaus riskanten Aufwachsensbedingungen.

Jana erlebt die Beziehung zu dem Kind als das tragende und sie bestätigende Element ihrer Projektmitarbeit. Zweifel und die Frage, warum sie diese Arbeit und diese Anstren- gung trotz der belastenden Rahmenbedingungen und der sich schwierig gestaltenden Be- ziehung zu Sandras Großvater auf sich nimmt – “auch wenn (…) das mit dem Opa so blöd war“ (N 355-356) –, kommen dadurch bei ihr erst gar nicht auf:

Die Frage brauchte ich mir nie stellen, weil einfach das mit Sandra so gut lief. Wenn das jetzt so gewesen wäre, dass Sandra (…) sich mir gegenüber abgewendet hätte, oder irgendwie, dass man nicht gemerkt hätte, das was ankommt, dann wäre es vielleicht auch anders ge- wesen. Aber das war immer, immer innig (N 357-361).

Die anfangs offene, direkte und innige Patenschaftsbeziehung festigt sich zunehmend und gewinnt an Partnerschaftlichkeit. Dies erklärt Jana als das Entscheidende, was sie „an dieser Patenschaft gehalten hat“ (N 355).

3.4.2 Rollenerfahrungen

Im Rahmen der Patenschaft wird Jana neben der sich selbst zugeschriebenen Rolle mit vielfältigen weiteren situations- und ereignisbezogenen Rollen konfrontiert. Zudem werden ihr sowohl in der Beziehung zu Sandra als auch in der zu Sandras Großeltern und zu Sandras Mutter auch unterschiedliche Rollen zugewiesen.

Helfende Begleiterin, Türöffnerin und Beobachterin als selbst zugeschriebene Rollen

In der situationsbezogenen Rolle als Patin sieht sich Jana als Helferin, die das Ziel ver- folgt, ihr Patenkind zu begleiten, ihm Gesellschaft zu bieten und ihm „Türen zu öffnen“. Sie möchte mit Sandra im Alltag schöne Dinge erleben, die sie sonst nicht erleben kann und ihr neue Perspektiven und Sichtweisen ermöglichen (N 426 und PF, 2, s. A II). Diese Perspektivenerweiterung bezieht sich auf den Bereich der Freizeitgestaltung, aber auch auf die fremden, dominanten und eng gefassten Ansichten und Erklärungsansätze, die Sandras Großvater seiner Enkeltochter, insbesondere im Hinblick auf türkische Mitbe- wohner, vermittelt. Dieser Aspekt wird im Kapitel Differenz- und Fremdheitserfahrungen noch detaillierend ausgeführt.

Neben der Rolle der helfenden Begleiterin schreibt sich Jana auch die Rolle der Fremd- und Selbstbeobachterin zu. Sie möchte sich selbst nicht nur im Umgang mit ei-

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Kapitel III: Jana

 

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nem Kind erproben, sondern auch sehen, wie sie mit einem anderen Kind zurechtkommt, sie will also sich selbst und das Kind beobachten (vgl. N 22-24).

Spielgefährtin, große Freundin, Vertraute, Verbündete und Gesprächspartnerin in der Beziehung zu Sandra

In der Beziehung zu Sandra ist eine der bedeutenden Rollen die der Spielgefährtin, die Jana bereits in der Erstbegegnung übernimmt (vgl. 62-63). Bei den gemeinsamen Unter- nehmungen übernimmt sie die Rolle der großen Freundin, die Sandra mit Anregungen versorgt, mit ihr kreativ tätig ist und bastelt, ihr neue Freizeitangebote ermöglicht und sie ins Schwimmbad und ins Kino begleitet. Dabei agiert Jana nicht nur in der Rolle als Be- gleiterin, sondern im Kontakt zu fremden Kindern auch in der einer Vermittlerin (vgl. 3.5.4). Nach und nach kommt Jana immer mehr in die Rolle der Vertrauten, die um das familiäre Geheimnis der mütterlichen Drogenabhängigkeit weiß, es wahrt und auch Sand- ras damit verbundene Gefühle der Scham kennt:

Also ich glaube, (…) ihr war das dann irgendwie peinlich, wobei ihr das glaube ich nicht pein- lich war, sondern ihr das von den Großeltern immer eingeredet wird [geheimnisvolle Stimme] „du darfst das doch nicht sagen, was deine Mutter hat“. Und ehm ganz am Anfang hat sie gesagt: „Ja weißt du denn, was mit meiner Mutter ist?“ Und da hab ich gesagt: „Ja, deine Mutter ist krank“ und //geheimnisvolle Stimme//: „Ja, die ist ja drogenabhängig.“ (hm) Ne, und also sie wusste eigentlich gar nicht, was drogenabhängig ist, aber dieses, diese Pein- lichkeit. Und diese Scham, die man haben musste deswegen (N 277-284).

Jana erkennt diese psychische Belastung für Sandra. Sie spürt, dass Sandra sich allein fühlt: nicht nur allein mit dem Familiengeheimnis, sondern auch, weil die Frage der Zuge- hörigkeit für sie relevant ist und Sandras Großeltern ihr nicht die Eltern ersetzen können. Jana erzählt dazu:

Also bei Sandra glaube ich, dass sie oft denkt, dass sie allein ist. Also dass sie (…) mit ihrer Großeltern, zu denen hat sie zwar guten Kontakt, aber sie ist ja trotzdem jemand anders. Sie weiß auch, dass sie Enkelkind ist. (hm) Und dass das nicht ihre richtigen Eltern sind. Und ehm ja, mit den Freundinnen hat sie nur bedingt Kontakt, weil sie das einfach nicht, nicht nachvollziehen können, ihre Situation. (…) und ich glaube einfach, dass sie noch mal je- manden hat, die weiß, was los ist, (hm) die die Situation kennt und die auch auf ihrer Seite ist (N 457-463).

Auf dieser Grundlage erfährt sich Jana auch in die Rolle der Verbündeten. Sie sieht sich in der Beziehung zu Sandra als jemand, die „weiß, was los ist, die die Situation kennt und die auch auf ihrer Seite ist“ (N 463). Jana kann Sandra entlasten und ihr Sympathie, Ak- zeptanz und Anerkennung vermitteln und sie in ihrem Selbstvertrauen bestärken. Immer wieder verhält sich Jana Sandra gegenüber als zugewandte Gesprächspartnerin. In Mo- menten der Verzweiflung versucht sie ihr Halt und Orientierung zu geben und sie bei aller Belastung und Enttäuschung aufzumuntern.

Als Zuhörerin, Nachhilfelehrerin, angehende Professionelle, helfende Hand im familiären System

Im System Familie werden Jana weitere Rollen zugewiesen. Sandras Mutter sucht Jana als Gesprächspartnerin, der sie von ihren persönlichen Nöten erzählen kann. Jana über- nimmt die Rolle der Zuhörerin, die der Mutter mit quasi therapeutischer Funktion Auf- merksamkeit schenkt und sich nicht von ihr abwendet.

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Kapitel III: Jana

 

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Sandras Großvater weist Jana zunächst die Rolle der Förderin und Nachhilfelehrerin,

später die der angehenden professionell handelnden Pädagogin zu. Im Kontakt mit Sand- ras Großmutter erlebt sich Jana in der Rolle als helfende Hand bei der Organisation und Durchführung des Geburtstages sowie als Unterstützung und Verstärkung im familiären System, indem sie sich um Sandra, insbesondere „um ihre Psyche“ (158), kümmert.

Rollenkonflikte

Die Konfrontation mit der aufgezeigten Rollenvielfalt führt im Verlauf der Patenschaft so- wohl zu Inter- als auch zu Intra-Rollenkonflikten.

Jana erkennt, dass sie ihre Vorstellungen von der Rolle als Patin selbst verkürzt und einseitig definiert. Ihr wird deutlich, dass sie sich nicht nur mit dem Kind Sandra ausein- andersetzen kann, sondern, um mit ihr in deren sozialem System interagieren zu können, auch Beziehungen zu deren Großeltern und zu deren Mutter aufbauen muss. Dabei wird sie mit einander widersprechenden Rollen konfrontiert, denn sie ist als Patin zugleich Begleiterin des Kindes und Beraterin der Mutter bzw. der Großeltern.

Neben dem Inter-Rollenkonflikt kommt es auch zu Intra-Rollenkonflikten. Diese zeich- nen sich dadurch aus, dass die Rolle der Patin einerseits von der Studentin Jana und an- dererseits von Sandras Großeltern definiert und mit jeweils gegensätzlichen Erwartungen besetzt wird. Jana befindet sich in einer komplexen und äußerst komplizierten Rollen- situation, in der sie mit konfligierenden Erwartungen umgehen muss.

Ablehnung der zugewiesenen Rolle als Hol- und Bringedienst

Die gemeinsamen Unternehmungen erweisen sich für Jana nicht nur kosten- und zeitauf- wendig, sie werden zudem durch Verbote und Untersagungen sowie durch unstrukturierte und unzuverlässige familiäre Bedingungen massiv erschwert und zudem von den Groß- eltern nicht entsprechend gewürdigt. Dies wirkt sich für Jana demotivierend aus. Die ge- meinsamen Treffen sind wegen der relativ weit entfernten Wohnorte der Patin und des Patenkindes für Jana mit einem längeren Anfahrtsweg verbunden. Sandras Großeltern gehen unhinterfragt davon aus, dass sie das Kind für die gemeinsamen Unternehmungen bei ihnen abholt und auch wieder nach Hause bringt. Die unterlassene großelterliche Ko- operation wertet Jana als geringe Anerkennung und Wertschätzung dem Projekt und ih- rem persönlichen Engagement gegenüber und sieht sich selbst von ihnen als selbstver- ständlichen Hol- und Bringedienst interpretiert. Aufgrund dieser widersprüchlichen und unvereinbaren Erwartungen an die Rolle der Patin bahnt sich ein Konflikt an.

Jana versucht zunächst klärende und regelnde Absprachen zu treffen. Diese werden zwar vereinbart, von Sandras Großeltern aber wiederholt nicht eingehalten. Jana reagiert verärgert und wütend. Sie fordert von Herrn und Frau Kinian nachdrücklich mehr Unter- stützung. Die Situation lädt sich zunehmend konflikthaft auf. Jana ist bestrebt, ihre eige- nen Vorhaben durchzusetzen und die Großeltern zur Unterstützung zu verpflichten, was aber nicht gelingt:

(…) weil ich am Anfang auch versucht habe, auf mein Recht zu pochen, immer zu sagen: „So geht das aber nicht, und so kann man das nicht machen, und jetzt hören Sie mir mal zu.“ Und ehm und ich hab gemerkt, das eskaliert dann. (hm) Und das war vielleicht auch noch ein bisschen, vielleicht pubertär, ich weiß es nicht ehm, und ich hab dann irgendwie gemerkt, dass man das anders machen muss. Also, dass man da so nicht ehm weiterkommt (N 48- 53).

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Kapitel III: Jana

 

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Auf das eigene „Recht zu pochen“ bewirkt keine Veränderung, sondern führt zur Eskalati- on. In ihrem Tagebuch beschreibt Jana den im Februar 2003 erreichten Tiefpunkt:

Weil ich von Seiten der Familie mehr Kooperation forderte, gerieten Herr Kinian und ich am Telefon in einen Streit und er wollte die Patenschaft abrupt beenden (vgl. PF: Familie K als Bezugssystem, s. A II).

Diese Situation erfordert, wie noch detaillierend ausgeführt wird, umfassende Vermittlungs- leistungen. Jana reagiert, wie sie im Tagebuch ausführt, auf das bestimmende und macht- demonstrierende Verhalten von Herrn Kinian mit unterschiedlichen „Strategien: fordernd, verständnisvoll, verärgert und schließlich lösungsorientiert“ (PF: Tagebuch, 12, s. A II).

In diesem Rollenkonflikt greift Jana schließlich auf die in der Projektkonzeption veran- kerten Unterstützungssysteme zurück. Sie nimmt zunächst Kontakt mit der Projektleiterin auf und trägt dieser ihre Schwierigkeiten vor. Zudem thematisiert sie die Probleme in der begleitenden Supervision. In Absprache mit der Projektleiterin wird daraufhin das Fami- lienberatungszentrum eingeschaltet. Im Gespräch mit der Therapeutin der Pädagogischen Frühförderung, die Sandra für eine Patenschaft vorgeschlagen hatte, wird ein gemein- sames Gespräch als Halbjahresgespräch zum Erfahrungsaustausch und zur Klärung der aktuellen Schwierigkeiten angesetzt, an dem die Therapeutin, die Patin und die Großel- tern in den Räumen des Familienberatungszentrums teilnehmen. In diesem Gespräch kann Jana gelingende Elternarbeit beobachten und die unterstützende Kraft von Koopera- tion und institutioneller Vernetzung erkennen. Dass in dieser Situation auch institutionelle Macht demonstriert wird, bleibt von Jana unreflektiert. In den folgenden Treffen verhält sich Sandras Großvater ihr gegenüber mit erhöhter Zuwendung und Wertschätzung und akzeptiert sie in der Rolle als angehende Lehrerin. Dennoch erlebt sich Jana gegen Ende der Patenschaft immer weniger bereit, den Aufwand für die Ausflüge allein und ohne un- terstützende Mitwirkung der Großeltern auf sich zu nehmen (91-93).

3.4.3 Fremdheits- und Differenzerfahrungen: Soziale Herkunft und familiäres

Milieu

Die Differenz- und Fremdheitserfahrungen beziehen sich in diesem Fall insbesondere auf die soziale Herkunft des Patenkindes und auf das familiäre Milieu.

Die soziale Herkunft, die durch die sozioökonomische Stellung einer Familie beschreibt und durch die Indikatoren „Berufstätigkeit der Eltern“ und „relativer Wohlstand der Familie“ erfasst wird, ist in der Diskussion um Chancengleichheit und sozialer Ungleichheit, wie die Ergebnisse der Pisa-Studie (2000) aufzeigen, ein entscheidender Faktor, der Disparität konstituiert. Die Patin Jana erlebt, dass für den Zugang zu und für die Teilhabe an Bil- dungsprozessen der Kinder auch das elterliche Bildungsniveau sowie die ethnische Her- kunft der Familie entscheidend sind. Schullaufbahn und Berufschancen sind wesentlich abhängig von familiären Sozialisationsprozessen, unterschiedlichen Erziehungsstilen und -zielen und der Zugehörigkeit zu einer Schicht bzw. einem Milieu.77 Die Patenschaft er-

77 Die soziale Disparität der Bildungsbeteiligung ist sozialschichtbedingt. Soziale Ungleichheiten entstehen als sogenannte sekundäre Ungleichheiten aus dem elterlichen Entscheidungsverhal- ten hinsichtlich der Schulentscheidung. Die disparaten Bildungsentscheidungen stehen in Ab- hängigkeit von der sozialen Lage der Familien und werden mit beeinflusst durch das Motiv des intergenerationellen Statuserhalts, durch die Erfolgserwartungen und die Kosten-Nutzen-Relati- onen (vgl. Baumert/Schümer 2001, 354).

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laubt ihr Einblicke in das familiäre kulturelle und soziale Kapital der Familie, das nach Bourdieu (1983) neben finanziellen Mitteln entscheidend die soziale Herkunft mitbe- stimmt,78 denn kulturelle und soziale Ressourcen erweitern die Handlungsmöglichkeiten und können folglich auch die sozioökonomische Stellung positiv beeinflussen.

Viele Kinder leben heute aber – wie das Patenkind von Jana – in familiären Verhältnis- sen, in welchen die ökonomischen und systemischen Voraussetzungen nicht oder nur be- dingt gegeben sind, um Zeit und Kraft für den Auf- und Ausbau des kulturellen und sozia- len Kapitals zu investieren, das schließlich in ökonomisches Kapital konvertiert werden kann (vgl. Baumert/Schümer 2001, 326).

3.4.3.1 Fremde Werte, Normen und Geschmackspräferenzen

Jana trifft auf ein Familiensystem, das sie in seiner Außendarstellung und ihrer Innensicht als widersprüchlich erlebt. Nach außen scheint die Welt ihres Patenkindes „in Ordnung“: Sandra wächst als Einzelkind auf, wohnt im Reihenhaus ihrer Großeltern und kann im Garten mit deren Hund spielen. Dennoch spürt Jana eine zunächst nicht genau fassbare Fremdheit. Insbesondere in der Begegnung mit Sandras Großvater wird sie im Verlauf der Patenschaft mit fremden Wertorientierungen, Einstellungen, Deutungen und Verhaltens- weisen konfrontiert. Diese fremden Werte und Normen und die Kumulation belastender Faktoren, insbesondere aber auch die ausländerfeindliche Einstellung, die sie wahrnimmt, lassen Jana das familiäre Milieu als der Unterschicht zugehörig einstufen:

(…) die sind äh, also ganz anders, so als ich das kenne, also als auch die Eltern meiner Freundinnen, oder wie man so, so ja so Familien, die man kennt. Die müssen ja nicht immer unbedingt studiert sein, aber ehm das ist einfach ja so, so Proleten, oder also so diese Rich- tung (N 411-414).

Sandras Mutter, die drogenabhängig ist und sich in einer dauerhaften Krise mit existenz- bedrohlichen Ausmaßen und Folgen befindet, wohnt nicht im Haus ihrer Eltern. Sie hält aber Kontakt zu ihrer Tochter und kommt unregelmäßig zu Besuch. Ihre prekäre Lebens- situation79 wird in der Familie nicht thematisiert.

78 Als kulturelles Kapital sind „alle Kulturgüter und kulturellen Ressourcen zu verstehen, die – als symbolische Machtmittel – dazu beitragen, dass in einem sozialen System die Qualifikationen, Einstellungen und Wertorientierungen vermittelt werden, die das System zu seiner Bestander- haltung braucht“ (ebd., 329). Gemeint sind damit verinnerlichte Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata. Das soziale Kapital meint dagegen ein Netzwerk an sozialen Beziehun- gen, in die der einzelne neben der Familie eingebunden ist. In diesem Netz sozialer Beziehun- gen wird auf der Grundlage von wechselseitigen Erwartungen und Verpflichtungen Vertrauen gebildet und Zusammenarbeit ermöglicht.

79 Der Begriff „prekär“ meint im Kontext der Lebenslage eine gefährliche und risikoreiche Lebens- situation von Menschen, die sich durch akute soziale Krisen, materielle Notlagen mit u.U. le- bens- oder existenzbedrohenden Ausmaßen und Folgen ausweisen. Gemeint sind Le- benssituationen, die durch eine Kumulation unterschiedlicher sozialer Probleme gekennzeich- net sind, die sich gegenseitig verstärken und die Risiken sozialer Ausgrenzung begründen kön- nen. Zu den möglichen Belastungsfaktoren zählen u.a. materielle Unterversorgung, verursacht etwa durch Arbeitslosigkeit, Überschuldung, Wohnungsproblematik oder Krankheit in Form von Behinderungen, psychosomatischen Symptomen oder Sucht, aber auch psychosoziale und seelische Problematiken, wie beispielsweise belastende Familienbiografien, Überforderung der Erziehenden, Gewalt in der Familie. Häufig kommt es zudem zu massiven Problemen mit der Organisation des Alltags.

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3.4.3.2 Kumulierende Belastungsfaktoren

Dieses familiäre Milieu zeichnet sich im Alltag durch eine Anhäufung belastender Fakto- ren aus: Neben den fremden Werten, Normen und Geschmackspräferenzen erlebt Jana belastende Beziehungsvielfalt und ein äußerst angespanntes Beziehungsklima. Die Be- ziehungen sind emotional unausgewogen, unzuverlässig, widersprüchlich und häufig un- berechenbar und bewirken Gefühle der Zerrissenheit, Unsicherheit und Orientierungslo- sigkeit. Zusätzlich wird die Aufwachsenssituation durch ein autoritäres und inkonsistentes Erziehungsverhalten und die elterliche Sucht in zwei Generationen belastet.

Räumliche Beengtheit, Gesundheitsbelastung und Anregungsarmut

Während der gemeinsamen Treffen können sich Jana und Sandra im Garten aufhalten oder etwas unternehmen, bei schlechtem Wetter und im Winter sind sie aber auf das Haus angewiesen, das ihnen kaum ungestörten Spielraum bietet:

(…) meistens waren wir bei äh Sandra zu Hause (hm), und Sandra hat ein relativ kleines Kinderzimmer, das heißt da konnte man nicht spielen. Das Bett nimmt eigentlich den ganzen Platz ein, ehm ja [im] Wohnzimmer liefen meistens irgendwelche, diese Richtersendung (lacht) am Nachmittag, das heißt da war es auch ziemlich schwierig, sich irgendwie hinzu- setzten, zu malen oder so, ehm weil auch da relativ viel geraucht wurde, und wir waren meistens in der Küche. (hm) Und dadurch war natürlich so der Radius sehr beschränkt (82- 88).

Zu diesen beengten Räumlichkeiten kommt ein Raumklima, das Jana als gesundheitsbe- lastend einschätzt. Sie vermutet einen Zusammenhang zwischen Sandras chronischem Husten und ihrer hohen Krankheitsanfälligkeit einerseits und dem verrauchten und unge- lüfteten Klima in den Wohnräumen andererseits:

Sandra hat irgendeinen chronischen Husten. äh die hat sich meistens, ist ja eben anfällig vor Krankheiten, ich meine das ist hängt ja jetzt dann mit dem Rauchen zusammen. (ja) Also das ist. das merkt man auch. Ne. wenn man da drin ist dann, die lüften also auch nicht, oder jedenfalls nicht häufig, wie das eigentlich notwendig wäre, auch mit dem Kind zu Hause, und ehm ich denke einfach, das hängt damit zusammen. Und er hat aber immer Angst, Sandra wird krank (95-101).

Aus Janas Sicht handelt der Großvater zwar besorgt, aber dennoch unverantwortlich: statt das räumliche Klima zu verbessern und die Zimmer intensiv zu lüften und damit Raum zu ermöglichen, begrenzt er sowohl die patenschaftlichen Handlungsspielräume als auch die fördernden und kompensatorischen Entwicklungsangebote und verbietet Sandra zudem, mit Jana gemeinsam das Haus zu verlassen, aus Sorge, sie könnte draußen krank wer- den. Im Vordergrund stehen, wie Jana erkennt, nicht die Bedürfnisse des Kindes, sondern die der Großeltern.

Sandra wächst jedoch nicht nur beengt und unter gesundheitsbelastenden Bedingun- gen auf, sondern zudem in einer „bildungsungewohnten Familie“ (vgl. Armbruster 2006). Die Bildungsferne sieht Jana in dem Bildungsstand der familiären Bezugspersonen bestä- tigt – Herr Kinian, früher als Drucker tätig, ist zur Zeit der Patenschaft „in Frührente“ (PF: Tagebuch, 1, s. A II) und als Aushilfe in einer Spielothek beschäftigt, seine Frau ist als Friseurin berufstätig, ob in Teil- oder Vollzeit eingebunden, bleibt unerhellt.

Bildungsfern ist aber auch der familiäre Umgang mit Bildungsangeboten, denn Sandra erhält in diesem Milieu kaum angemessene Lern- und Entwicklungsangebote – die weni- gen werden zudem unansprechend gestaltet und orientieren sich kaum an den eigentli- chen Bedürfnissen des Kindes.

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Kapitel III: Jana

 

166 Autoritäres und inkonsistentes Erziehungsverhalten

In ihrer Geschichte unterstellt Jana Herrn Kinian autoritäres Verhalten, ohne dies situati- onsspezifisch zu detaillieren. Die großväterlichen Erziehungspraktiken zeichnen sich u.a. durch hohe Kontrolle und geringe Responsivität aus. Im Alltag gelten strenge Regeln und es wird vorwiegend auf die Erziehungsmittel Belohnung und Bestrafung gesetzt, weniger auf Überzeugungen. Jana beobachtet, dass mehr negative als positive Sanktionen grei- fen, der Großvater seiner Tochter wie auch Sandra gegenüber eine z.T. feindliche Einstel- lung entgegenbringt und die Interaktionen kaum dialogische Kommunikationsstrukturen aufweisen. Jana muss aushalten, dass sich Herr Kinian auch ihr gegenüber eher zurück- weisend und stark kontrollierend verhält. Grenzen und Konsequenzen erscheinen unein- deutig und instabil. In ihrem Portfolio führt Jana dies beispielhaft aus:

Ein weiteres Beispiel war, als Herr Kinian einmal voller Wut in die Küche kam, wo Sandra und ich saßen und brüllte, dass sie so unordentlich sei, irgendwann würde er einen Sack nehmen und alle ihre Spielsachen wegwerfen. Sandra hatte eine Barbie-Bürste im Wohn- zimmer liegen lassen (PF: Beschreibung des Kindes aus der Sicht des Opas, s. A II).

Jana erlebt, dass Sandra sowohl in der Mutter-Tochter- als auch in der Großvater-Enkel- tochter-Beziehung mit emotionaler Unausgewogenheit und Unbeständigkeit, mit mangeln- der Empathie, starker Ambivalenz und permanenter Unberechenbarkeit konfrontiert wird. Sie erkennt aber auch, dass die autoritären Vorgaben dem Kind auch Sicherheit vermitteln.

Von Sandra erfährt sie, dass diese ihren Großvater und sein Handeln ganz anders wahrnimmt. Durch diesen Perspektivenwechsel sieht Jana ihre Sichtweise erweitert und ihre bisherige Bewertung relativiert:

Und sie hat mir dann auch immer Dinge erzählt, dass er so gemacht hat, wie so ein Affe, ir- gendwie (lacht) sich so am Kopf gekratzt hat, und so, und das konnte ich mir am Anfang immer gar nicht vorstellen, dass der so lustige Sachen macht, aber ehm der hat also eine ganz lustige Art, aber eben auch eine sehr autoritäre Art (172-175).

Dass die Förderung und Begleitung durch familiäre Rahmendingungen derart beengt und erschwert werden kann, hat Jana zu Beginn der Patenschaft nicht bedacht. Sie muss feststel- len, dass die Alltagsnöte der Erziehungsberechtigten und ihre bisherigen Erfahrungen und Routinen Abwehrhaltungen bewirken können, die sich in Geringschätzung, mangelnder Em- pathie und Einsicht zeigen und das pädagogische Engagement massiv erschweren können.

Gegen Ende der Patenschaft aber kann Jana das großväterliche Erziehungsverhalten im Zusammenhang mit der von ihm übernommenen Verantwortung für den Erziehungsauftrag seiner Enkelin sehen und dessen Überforderung erahnen. In ihrem Portfolio führt sie aus:

Bis zu einem gewissen Grad kann ich seine Ängste und Sorgen verstehen. Er war es schließ- lich, der Sandra verwahrlost bei sich aufnahm und mit ihr alles das nachholte, was sie bei der Mutter verständlicherweise nie gelernt hatte. Ohne seine Hilfe wäre Sandra heute bestimmt nicht schulfähig (…). Dennoch sieht Herr Kinian leider vor zu viel Sorge Sarahs wirkliche Fä- higkeiten und Fortschritte nicht (PF: Beschreibung des Kindes aus der Sicht des Opas, s. A II).

Unzuverlässigkeit und Unstrukturiertheit im familiären Umfeld

Die Vorhaben plant Jana mit Sandra gemeinsam immer schon für das darauf folgende Tref- fen. Sie muss die dafür erforderlichen Terminabsprachen allerdings mit den Großeltern kurzfristig festlegen, damit sie im Alttag nicht in Vergessenheit geraten und sie schließlich „vor verschlossener Tür“ (106-107) steht. Auch die Fahrten versucht sie zu organisieren, muss aber wiederholt die Erfahrung machen, dass diese Absprachen nicht eingehalten

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Kapitel III: Jana

 

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werden, was sie verärgert: „Ich bin sauer auf Kinians, weil sie, obwohl es abgemacht war, Sandra nicht bringen wollen“ (PF: Tagebuch vom 27. November, 7, s. A II). Sie fühlt sich und das Projekt nicht ernst genommen. In der Folge fixiert sie vereinbarte Termine schrift- lich und hofft, dass Sandras Großeltern sich diese „aufschreiben werden und so das Projekt etwas ernster nehmen“ (PF: Tagebuch vom 27. November, 8, s. A II). Rückblickend erkennt sie allerdings, dass ihr Verhalten im Umgang mit Sandras Großeltern weder angemessen noch wirksam war und bezeichnet es als unerwachsen und unprofessionell.

Familiäre Belastung durch elterliche Sucht

Die Suchtthematik erweist sich nicht nur als Familiengeheimnis, das als Drogenabhängig- keit an Sandras Mutter gebunden ist, sondern sie tritt als Alkoholabhängigkeit auch im großelterlichen Familienalltag zunehmend zu Tage. Jana erlebt Herrn Kinian wiederholt alkoholisiert. In einem Telefonat erkennt sie an seinem sprachlichen Verhalten, dass er betrunken ist:

Am Telefon hatte ich Herrn Kinian. Ich habe ihn erst gar nicht erkannt, weil er so komisch geredet hat. Nach ein paar Worten habe ich gemerkt, dass er wohl betrunken sein muss. Er hat so gelallt und so einen Unsinn erzählt (er hat mir zur Hochzeit gratuliert), so dass es kei- nen Zweifel gab. Kurze Zeit später hat er mir erzählt, dass sein Chef ihn heute morgen (! – mittlerweile war es 17h) eingeladen hat und dass er deshalb betrunken sei. (…) Mir wurde das Gespräch immer unangenehmer, obwohl er freundlich war und viel erzählt hat (PF: Ta- gebuch, S. 26, s. A II).

Ihre Irritation hält Jana in ihrem Tagebuch fest. Darin beschreibt sie z.B. auch die „Freun- de“, mit denen sich Herr Kinian oft zu Hause trifft und mit ihnen zusammen trinkt, als „sehr seltsame Typen“ (PF: Tagebuch: 24. Juli, 27, s. A II), denen sie „nicht im Dunklen begeg- nen möchte“ (ebd.). Dass Sandra zu diesen Freunden scheinbar eine „sehr gutes Ver- hältnis“ (ebd.) hat, versucht sich Jana durch den häufigen Kontakt zu erklären.

Wie stark der familiäre Alltag und das Aufwachsen von Sandra durch die großväterli- che Alkoholsucht bestimmt und belastet werden, erlebt Jana am Ende der Patenschaft di- rekt und unmittelbar.

„(…) und schämt sich gar nicht, da in Unterwäsche zu sitzen und zu frühstücken – nach- mittags“ (185-186)

Eindrücklich und sie verunsichernd ist das Erlebnis, als sich Herr Kinian Jana gegenüber ungeniert in seinen Alltagsroutinen demonstriert und ihr nachmittags, in Unterwäsche in der Küche beim Frühstück sitzend, von seinen vorabendlichen alkoholisierten Vergnügun- gen berichtet – diese Situation festigt ihre Einschätzung der „proletenhaften“ Verhaltens- weisen:

(…) er ist wahrscheinlich um vier aufgestanden und ehm: „Ich hab die Nacht getrunken“, und erzählt das dann auch immer ganz offen, also mir dann auch direkt, wie dass er erst um was weiß ich dann ins Bett gegangen ist, und war ja so betrunken, und es wäre so lustig gewe- sen, also der geht damit auch irgendwie, (hm) als wäre das so normal, (hm) und schämt sich auch gar nicht, da in Unterwäsche zu sitzen und zu frühstücken – nachmittags, ja (181-186).

Die zur Schau gestellte Intimität empfindet Jana unangemessen und nicht den Konventio- nen entsprechend, ihr ist diese Situation peinlich. Dass der Großvater zum einen die Klei- derkonventionen unbeachtet lässt und ihr zum anderen „ganz offen“ (183) und „direkt“ (183) und ohne Kommunikationsaufforderung über seine Erlebnisse der vergangenen Nacht erzählt, erlebt Jana als grenzüberschreitend.

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Kapitel III: Jana

 

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In dieser Situation erlebt sie eine Momentaufnahme eines ihr gänzlich fremden Alltags,

der aber für Herrn Kinian Normalität besitzt. Für ihn ist es normal im Sinne von selbstver- ständlich, täglich Alkohol zu konsumieren, darüber zu reden und sich derart zu präsentie- ren, möglicherweise auch zu inszenieren. Der durcheinander geratene Tagesablauf und die Überschreitung der Schamgrenzen verdeutlichen als äußere Zeichen des Alkoholis- mus das fremde Wertesystem und die fremden Verhaltensmuster, die Jana als krassen Widerspruch zu den sonst von Herrn Kinian demonstrierten Ordnungsvorstellungen, Leis- tungsanforderungen und Anpassungserwartungen erfährt.

Rückblickend erklärt Jana, dass sie die Alkoholsucht von Herrn Kinian gegen Ende der Patenschaft „immer stärker gemerkt“ hat (176). Ihre Beobachtung kann sie unterschiedlich deuten: Sie vermutet, dass diese Beobachtung zum einen ihrer sensibilisierten Wahrneh- mung zugeschrieben werden kann, sieht es alternativ aber auch als Möglichkeit, dass sich der Alkoholkonsum zunehmend gesteigert hat, wofür ihrer Meinung nach auch spricht, dass Sandra zunehmend häufiger von Streitsituationen ihrer Großeltern erzählt:

(…) gegen Ende habe ich das also immer stärker gemerkt, auch diese Alkoholsucht, wird es wahrscheinlich sein, dass Opa dann also auch immer mehr äh ihn eingenommen hat. Ent-, entweder ich hab das am Anfang nicht so mitbekommen, oder es ist stärker geworden. Also Sandra hat mir auch gegen Ende immer mehr erzählt. Darüber, wie sich auch die Großeltern gestritten haben, äh wenn er wieder was getrunken hatte (176-180).

In ihren Tagebuchaufzeichnungen hält Jana dazu detaillierend fest:

Sandra sagte (…), dass sich ihre Großeltern ganz schlimm gestritten haben. Als ich nach dem Grund fragte, sagte sie, dass ihre Oma sauer auf ihren Opa war, weil er schon wieder betrunken gewesen ist tagsüber. Herr Kinian muss sehr aggressiv gewesen sein und hätte seine Frau fast geschlagen. Sandra erzählte das ganz ruhig, als wäre das normal. Anderer- seits hatte sie sicher das Bedürfnis, den Streit jemanden mitzuteilen. Sie erlebt alles aus ih- rem Zimmer mit (PF: Tagebuch: 24. Juli, S. 28, s. A II).

Dass der ansteigende Alkoholkonsum von Herrn Kinian auch eine Folge möglicher Über- forderung und er der Verantwortung des Sorgerechts nicht gewachsen sein könnte, er- fasst Jana erst gegen Ende der Patenschaft.

Sich in diesem fremden familiären Milieu zu bewegen, ist für Jana die eigentliche Her- ausforderung. Sie erlebt eingeschränkte soziale und kulturelle Ressourcen und eine Häu- fung von „krisogenen Faktoren“ (Gehrmann/Müller 1998, 56), die das Aufwachsen von Sandra belasten und beschweren. Auf dem Hintergrund ihres eigenen Herkunftsmilieus erkennt Jana soziale Herkunft und familiäres Milieu als bedeutende, Disparität kon- stituierende Faktoren. Sie erkennt mit der Zeit die Kumulation der unterschiedlichen sozi- alen Probleme, die sich gegenseitig verstärken und das Stigmatisierungspotenzial und die Risiken sozialer Ausgrenzung erhöhen.

3.4.3.3 Kindheit im Vergleich

In ihrer Stegreifgeschichte thematisiert Jana Kindheit und altersspezifische Verhaltens- weisen und Fähigkeiten im intra- und intergenerationellen Kindheitsvergleich.

Kindliche Selbstständigkeit im intragenerationellen Vergleich

Janas Einschätzung nach ist Sandra außergewöhnlich selbstständig (102, 194). Sie weiß sich zu helfen, zeigt sich initiativ und kann bzw. muss für sich selbst sorgen. Im intragene-

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rationellen Vergleich findet sie Sandras vorausschauendes und selbstständig planendes Handeln für ein sechsjähriges Kind bemerkenswert:

Ja, und sonst kann ich noch sagen Sandra ist ziemlich selbstständig, für ihr Alter unheimlich, äh denkt an sehr viel, also wenn wir schwimmen gehen, Opa hat’s vergessen, dann hat sie schon alles gepackt (hm), also das fand ich also, das das weiß ich, hätten meine Brüder oder Kusinen nie nie gemacht, ja, ein Shampoo und Bade- äh Latschen und alles da in eine Tüte rein (240-245).

Aufwachsensbedingungen im intergenerationellen Vergleich: Ein Hund als Begleiter und Geschwisterersatz

Das Leben mit dem Hund sieht Jana als einen stabilisierenden und damit protektiven Fak- tor in Sandras Leben. Sie erlebt, dass sich Sandra voller Zuneigung und Vertrauen im Dialog mit dem Hund verhalten kann. Im Umgang mit dem Tier weiß sich Jana weniger unbefangen und sicher als Sandra. Sie selbst kennt sich mit Hunden nicht aus und kann aller Wahrscheinlichkeit nicht auf sichernde Erfahrungen aus der eigenen Kindheit zurück- greifen. Sandra dagegen verhält sich mit dem Hund spielerisch und verantwortungsvoll zugleich. Im Gegensatz zu Jana wächst Sandra als Einzelkind auf. Dabei spielt der Hund Leika eine ganz besondere Rolle: er ist für Sandra Spielgefährte, Vertrauter, „Geschwis- terersatz“ und ihr „wichtigster Bezugspunkt“ (PF, 5, s. A II), wie Jana in ihrem Portfolio ausführt:

Ihr wichtigster Bezugspunkt ist (…) der Hund Leika, ein Labrador. Sie [Sandra] spielt, wenn sie allein ist, sehr oft mit ihr und spricht mit ihr. Man spürt durch ihren liebevollen Umgang mit Leika die sehr enge Bindung. Leika versteht, was Sandra sagt und reagiert auf ihre Be- fehle. Zudem können die beiden sogar gemeinsam Verstecken spielen. Leika findet Sandra, egal wo sie sich versteckt, das finde ich sehr beeindruckend. Leika ist für Sandra ein Ge- schwisterersatz, der sie alles anvertraut (PF, 5, s. A II).

Vor diesem Hintergrund kann sich Sandra angstfrei und vital bewegen und kann Tren- nungen aushalten. Jana ist beeindruckt (vgl. PF, 5, s. A II), sowohl von dem Können des Hundes als auch vom kindlichen, angstfreien Umgang mit ihm und von der lebendigen und liebevollen Beziehung zwischen Kind und Hund und der attraktiven Vielfalt von Erleb- nis- und Verhaltensmöglichkeiten mit Hunden, die ein hohes Maß an kindlicher Lebens- qualität vermittelt. Dieses beobachtete Spiel greift Jana auf. Ab dem Moment der Erstbe- gegnung wird das Versteckspiel eine wichtige gemeinsame Spielart, auf die im Verlauf der Patenschaft immer wieder zurückgegriffen wird und die sich, wie noch aufgezeigt wird, als wichtige Situation der Vermittlung erweist.

Kindliche Selbstpräsentation in der Welt der Erwachsenen – „Das hätte ich mich früher nie getraut“ (N 139)

Während der gemeinsamen Treffen beobachtet Jana Sandras situationsspezifisch unter- schiedliches Verhalten. Sie erlebt, für sie zunächst unerklärlich, dass sich Sandra in frem- den Gruppen nicht wohl fühlt,

(…) dass sie nach Hause möchte, dass sie keine Lust hat mit Kindern zu reden, wenn Kin- der sie ansprechen, dass sie gar nichts sagt, dass sie weg geht und dann, wenn das intensi- ver wird, dass immer mehr Kinder auf sie zu kommen, dann gleich sagt: sie möchte gehen (N 133-136).

Zugleich macht Jana die Erfahrung, dass sich Sandra bei gemeinsamen Unternehmungen in der Öffentlichkeit völlig entgegengesetzt verhält und sich offen und kontaktfreudig zeigt:

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(…) wenn ich mit ihr in der Stadt war, dann hat sie fremde Verkäufer angesprochen, hat mit denen Witze gemacht auf eine Art, (…) (hm) Also unheimlich offen, und alle sagen sie: „Och, ist ja eigentlich ganz süß“, und äh haben dann auch, beziehungsweise sind in da Gespräch eingestiegen – in der Eisdiele, oder also das war wirklich überall. Und wo sie also mit Erwach- senen unheimlich offen umgeht, aber äh mit Kindern komischerweise nicht (N 137-143).

Im intergenerativen Kindheitsvergleich erkennt Jana: „das hätte ich mich früher nie getraut“ (N 139). In der weiteren Auseinandersetzung mit diesen differenten Beobachtungen bezieht Jana die eigenen Kindheitserinnerungen nicht mit ein, sondern setzt sich intensiv mit den aktuellen Bedürfnissen des Kindes auseinander. Sie erkennt, dass Sandra sich zwar selbst- ständig und wendig in der Öffentlichkeit bewegen kann, sie jedoch unterschiedlich viel Zeit benötigt, um Vertrauen in neue, nähere Kontakte zu Menschen aufzubauen. Zugleich ver- mutet sie, dass Sandras Verhalten von ihrer jeweiligen „Gefühlslage“ (179) und den situati- ven Rahmungen abhängig sein könnte oder aber dass Sandra ihre Patin in den gemeinsa- men Treffen für sich allein haben und mit niemandem sonst teilen möchte.

Abwägende und schüchterne Grundhaltung als Ähnlichkeit zwischen Patin und Patenkind

Auf die Frage nach Erinnerungen an die eigene Kindheit oder an Kindheitserlebnisse, mit denen Jana während der Zeit der Patenschaft konfrontiert wurde, stellt Jana trotz der Dif- ferenz in Bezug auf die Geschwisterkonstellationen – Sandra wächst allein auf, Jana da- gegen hat noch zwei jüngere Brüder – eine „sehr große Ähnlichkeit“ (N 29) zwischen ihr und Sandra fest, die sie jedoch nicht genauer fassen kann. Als gemeinsam beschreibt Ja- na die abwartende, beobachtende und abwägende, eher schüchterne Grundhaltung, die Jana bei Sandra in unterschiedlichen Situationen während der gemeinsamen Treffen be- obachten konnte und die sie in ihrer Geschichte an der Situation des Rutschens im Schwimmbad belegt (vgl. N 120-126) – etwas zu wollen, es sich aber nicht zuzutrauen:

(…) auf der einen Seite auch so ein bisschen schüchtern und sich manchmal nicht trauen, aber das doch eigentlich gerne wollen (hm), so das ehm ja, das kenn ich. Und ehm, also ich hab immer das Gefühl gehabt, wir sind da sehr, sehr gleich in vielen Dingen (N 32-35).

In ihrem Versuch, die sie verbindenden Ähnlichkeiten weiter auszudifferenzieren, erwähnt sie die „sehr autoritäre Art“ (N 36) von Sandras Großvater, die sie auch bei ihrem eigenen Vater erlebt hat.

Autorität der Väter/Großväter und der Wunsch, ernst und angenommen zu werden

In der rekonstruktiven Betrachtung der Patenschaft erkennt Jana nicht nur die ähnlich zu- rückhaltende Grundhaltung von ihr und Sandra, sondern sieht auch Parallelen zwischen Sandras Großvater und ihrem eigenen Vater. Diese zuzugestehen, fällt Jana aufgrund der Milieudifferenz sehr schwer. Auch wenn Jana in einem anderen familiären Milieu aufge- wachsen ist und die beiden familiären Systeme grundlegend verschieden und deswegen nicht zu vergleichen sind (vgl. N 40), erkennt Jana Ähnlichkeiten in der autoritären Art der Familienväter:

(…) also meine Eltern sind ganz anders, als, als ihre Großeltern, ehm mein Vater hat auch eine sehr autoritäre Art, (…) ehm aber sonst sind meine Eltern da ganz, deswegen, da könn- te ich jetzt nichts vergleichen (N 35-40).

Entgegen der sich selbst zugeschriebenen, schüchternen und zurückhaltenden Art, betont sie ihr Verhalten im Umgang mit der väterlichen Autorität im Vergleich zu Sandra als oppo-

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sitionell mit rebellischen Zügen, was sie auch mit einem selbstkritischen Kommentar infrage stellt:

Also ich bin, also ich poche immer auf mein Recht, also gerade vor meinen Eltern, und da ist sie [Sandra] ganz anders“ (N 30-31). „(…) mein Vater hat auch eine sehr autoritäre Art, wo- bei ich damit anders umgehe, als sie, also eher dann auch, äh ja vielleicht auch nicht immer gut (hm), aber (lacht) auch ehm ja, aufs Recht dann pochen, und auch äh ruhig was riskie- ren, und mal aufstehen und sagen: „So mach ich das nicht mit“ (N 36-39).

In dem Bemühen, ihrem Großvater zu gefallen und „zu genügen“ (247-248), erlebt Jana ihr Patenkind Sandra dagegen mit Reaktionen der Anpassung und einer verstärkten Selbstständigkeit. Dennoch kann sie den Erwartungen des Großvaters nicht entsprechen und muss „immer sehr viel zurückstecken“ (272).

Durch den Vergleich der familienväterlichen Haltungen wird Jana eine weitere Ähnlich- keit bewusst. Sie erkennt, dass sie sich als Kind von ihrem Vater in ihren Bedürfnissen und Meinungen nicht ernst genommen fühlte, ebenso, wie Sandras Großvater die Bedürf- nisse seiner Enkelin nicht sieht, sie übergeht und sie nicht ernst nimmt:

(…) in der Familie ist jetzt [m]ein Wunsch, (lacht) (…) dass der Opa mehr auf sie eingeht, dass er ihre Bedürfnisse sieht, dass er sie nicht übergeht, (hm) äh ja, sie ernst nimmt. Das ist übrigens auch noch mal so eine Sache mit dem Ernstnehmen. Wo ich da Parallelen sehe mit meinem Vater, genauso. Also, (in wie weit?) dass man als Person, also damit meine ich sowieso das Kind, das hat jetzt nichts zu sagen, dass es äh, wenn man jetzt irgendwie sagt, ist so und so, das ist meine Meinung, jaa das ist so. (hm) Das ist auch jetzt bei meinem Va- ter immer noch so. Ganz äh extrem. (hm) Hm, und das ehm, das kenn ich auch (N 313-320).

Diese Erfahrung, nicht nur als Kind nichts zu sagen zu haben, sondern auch als Frau und Tochter von dem Vater nicht ernst genommen zu werden, sich Gehör verschaffen und die eigene Meinung gegen Widerstände vertreten zu müssen, aktualisiert sich in der Paten- schaft in der Beziehung zwischen Jana und Sandras Großvater. Auch hier erlebt Jana, dass ihre Meinung nicht von Interesse ist, sie nicht um ihre Meinung gefragt wird und ihre Anliegen, Sichtweisen, Erwartungen und Bedürfnisse im wahrsten Sinne nicht ernst ge- nommen werden. Einem Menschen mit Interesse und Anerkennung zu begegnen, das er- leben Jana und auch Sandra nicht in der Beziehung zu Sandras Großvater.

Aufgrund dieser Erfahrung hofft Jana, dass Sandra „in der Pubertät vielleicht auch eine andere Richtung einschlägt, dass sie sich auch mal entgegensetzt, und nicht sich so duckt“ (N 323-324).

3.4.4 Vermittlungsleistungen

Für den Umgang mit vielfältigen Differenzen und Fremdheiten sind auch im Fall Jana um- fassende Vermittlungsleistungen erforderlich. Das vorrangig beziehungskonstituierende Ver- mittlungshandeln, das in unterschiedlichen Situationen als Vermittlung „von“ und als Ver- mittlung „zwischen“ erfolgt, unterstützt den Vertrauensaufbau und die Perspektivenerwei- terung und hilft, Verstehen vorzubereiten und Räume des Nichtverstehens zu überbrücken.

Jana muss vorrangig zwischen den Generationen vermitteln: zwischen Sandra und de- ren Großvater, aber auch zwischen Sandra und deren Mutter. Für die Gestaltung der Pa- tenschaftsbeziehung muss sie aber auch ihre eigenen Wünsche und Erwartungen ver- mitteln. Dabei erfährt sie, dass partizipative Aushandlungsprozesse in den hierarchisch und autoritär geordneten familiären Verhältnissen kaum möglich sind, da die erforderliche Grundhaltung der Offenheit füreinander und des echten Interesses aneinander fehlen.

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Das beziehungskonstituierende Vermittlungshandeln als ein interagierendes und ko-

konstruierendes Gestalten von Zwischen- und Möglichkeitsräumen gelingt lediglich in der Beziehung zu Sandra. In der Beziehung zu Sandras Großvater, aber auch in der zu Sand- ras Mutter, wird Jana deutlich, dass Veränderungsbestrebungen durch Vermittlungshan- deln nicht nur gegenseitige Akzeptanz erfordern, sondern auch sensibel angelegt sein müssen und nicht nur von außen gefordert werden dürfen. Die Kraft für Veränderung liegt, wie Jana erlebt, im System und bei den Beteiligten selbst. Voraussetzung ist, dass Verän- derungen von den jeweils Betroffenen gewünscht, Vermittlungen angenommen und die Rolle als Ko-Konstrukteure mitverantwortlich übernommen werden können. Bedingt durch mangelnde Kooperationsbereitschaft, aber auch durch die eigenen Kommunikationsschwie- rigkeiten, erlebt Jana das Vermittlungshandeln erschwert und stößt an ihre Grenzen.

3.4.4.1 Inter- und intrageneratives Vermittlungshandeln im Spiel

Das gemeinsame Versteckspiel erweist sich für den Aufbau der Patenschaftsbeziehung, für deren weitere Entwicklung und für die Unterstützung intragenerationeller Beziehungen als beziehungskonstituierendes Element: das Spiel bietet sich als Vermittlungsraum an und das Spielen als eine spezifische Form des Vermittlungshandelns.

Das Versteckspiel in der Erstbegegnung bringt Jana und Sandra in Bewegung und er- möglicht ihnen in dem geregelten Setting einen Raum für die gegenseitige Annäherung und das gemeinsame Kennenlernen. Jana und Sandra verstecken sich voreinander, su- chen einander und erproben sich dabei in unterschiedlichen Entfernungen zueinander. Dieses „sinn-volle“ Spiel bietet ihnen einen Zwischenraum, in dem Sandra und Jana schöpferisch tätig sein können. Im Wechsel von Nähe und Distanz scheinen dabei unmit- telbar und überraschend Momente des ungeschützten gegenseitigen Erkennens im „face to face“ (Goffman 1996) auf und lassen gegenseitiges Wahrnehmen im Sinne von Koprä- senz stattfinden (vgl. ders. 1971, 28, zit. n. Reiger 2000, 43).

Die spielerisch gestaltete Erstbegegnung ist, insbesondere vor dem Hintergrund der kindlichen biografischen Erfahrungen, von Vorteil. Das Spiel ermöglicht dem Kind „das Gefühl, daß (…) [es] sowohl den Raum als auch die Menschen, vor denen es sich ver- steckt, meistern kann“ (Ayres 1992, 211). Jana dagegen ist gefordert, den Garten als Teil der kindlichen Welt zu erkunden, sich mit Sandra darin spielerisch zu bewegen und sich mit ihr zu verständigen. Sie muss nicht nur Sandra an fremden Orten suchen, sondern auch fremde und noch unvertraute Plätze finden, um sich selbst zu verstecken und dort abwartend auszuharren, bis sie von Sandra gefunden wird, oder sie muss ihr Versteck geheim halten bis sie sich „freischlagen“ kann.

Versteckspiel als Vermittlungshandeln zur Zentrierung

Das Spielen in der Gegenwart ermöglicht Jana und Sandra gemeinsam „die Befriedigung des Moments ohne Rücksicht auf die Zukunft“ (Fritz 1991, 18). In der Situation der Erst- begegnung gelingt es Jana und Sandra, die ganze Aufmerksamkeit auf das gemeinsame Spiel zu richten, ohne dass sich die Umwelt als störend bemerkbar macht. Nebenereig- nisse und Ablenkungen des täglichen Lebens können dabei ausgeblendet werden. So können Jana und Sandra andere Möglichkeiten der Wirklichkeit erleben und „sich anders als sonst (…) erfahren: mit ganzem Herzen dabei, ungeteilt, lebendig“ (ebd., 19). Dieses

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auf Ganzheitlichkeit ausgerichtete Handeln und Erleben entspricht der persönlichen Grundstruktur, mit der Jana ihren eigenen Anspruch für das pädagogisch engagierte Han- deln bereits zu Beginn der Patenschaft dargestellt hat: „Mit Leib und Seele“ (4) und „nicht so halbherzig“ (5). Vermittlungshandeln dient damit der Ausblendung und der Zentrierung auf den aktuellen Moment. Entscheidend sind in diesem spielerisch gerahmten Vermitteln das gemeinsame Erleben, die situativen und ko-konstruktiven Aushandlungs- und Gestal- tungsprozesse sowie die unmittelbare Konsequenz des Handelns im gegenwärtigen Au- genblick. Spannung und Abenteuer verbinden sich dabei mit einem kalkulierbaren Wagnis und Risiko. „Alles ist sehr klar, obwohl es von Augenblick zu Augenblick aufregend und ungewiß ist“ (ebd.). Diese Spannung kann aufgrund der vorhandenen Widersprüche zwi- schen Wahrnehmungen und Erwartungen und dem Reiz der Überraschung im Spiel im- mer wieder neu inszeniert und immer wieder neu erlebt werden.

Versteckspiel als Vermittlung gegenwärtiger und gegenseitiger Versicherung

Unter pädagogischen Gesichtspunkten ist dieses Spiel für Sandra besonders förderlich, weil sie zusammen mit Jana „das Alleinsein in Gegenwart eines anderen“ (Winnicott 2002, 59) und den Umgang mit Trennung spielerisch einüben und dabei die Erfahrung neu erzeugter Potenzialitäten machen kann. Sie, die in ihrem bisherigen Leben wiederholt Trennungen erleben musste und auch aktuell in der Beziehung zu ihrer Mutter immer wieder mit Trennungen und Unzuverlässigkeit konfrontiert wird, kann durch das Versteck- spiel Trennungen bewusst und eigeninitiativ herbeiführen, aber auch die Vereinigung selbstbestimmt wieder zustandebringen, indem sie ihr Versteck preisgibt, sich zeigt oder bewusst dazu beiträgt, gefunden zu werden. Immer kann so ein guter Ausgang herbeige- führt werden. Auch wenn sich Jana versteckt und dadurch abwesend erscheint, kann Sandra mit Sicherheit ihr Dasein wissen. Als pantomimische Versicherung gedeutet (vgl. Peller 1973), kann das Versteckspiel im Hinblick auf alltägliche Trennung zunehmende Sicherheitserfahrungen ermöglichen und damit Stärke und Selbstsicherheit fördern. Die Gewissheit, gesucht und gefunden zu werden, bildet die Basis für zunehmendes Selbst- vertrauen und das Vertrauen ineinander. Im Erleben des gemeinsamen Spiels kann Fremdes so überbrückt und ein gemeinsamer Raum mit Verständnis füreinander aufge- baut werden.

Verstecke als Orte des Rückzugs und der selbstheilenden Entlastung

Im Rahmen der Patenschaft ist das Versteckspiel nicht nur für das Kennenlernen und das gegenseitige Annähern bedeutsam. Es verweist metaphernhaft auf die kindliche Lebens- situation, in der der tägliche Alltag im Spiel seine lustvolle Unterbrechung findet. Aufgrund der Häufung belastender Faktoren sind Nischen und Schlupfwinkel als Orte des Rück- zugs, (über-)lebensnotwendig, denn sie bieten Möglichkeiten der Entlastung und der Re- kreation, um sich neu auf die Realität einlassen zu können.

In der Situation des Kindergeburtstages erlebt Jana das kindliche Sich-verstecken in diesem Sinne als Selbstschutz und Entlastung. Sandra verlässt wiederholt die Gesamt- gruppe, zieht sich in ihr Zimmer zurück und versteckt sich dort – nicht, um dort gefunden und aufgesucht zu werden, sondern um allein sein zu können. Das eigene Zimmer wird nicht wie im Versteckspiel als geheimer, unbekannter und spannungsgeladener Ort ge-

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nutzt, sondern als ein Raum, in dem keine Rechenschaft abgelegt werden muss, Allein- sein gestattet ist, Fragen, Kommentare und Ansprüche nicht laut werden und Emotionen – vor den Blicken der anderen geschützt – freien Lauf haben können: so wird ihr Entlastung, Rückbesinnung und Auftanken neuer Kraft ermöglicht.

Unterstützendes Vermittlungshandeln im intragenerationellen Spiel

Wiederholt erlebt Jana, dass Sandra zwar intergenerationelle Kontakte erstaunlich offen und souverän gestaltet, sich im Kontakt mit anderen Kindern jedoch zurückhaltend, schüchtern und stark verunsichert verhält, diesen Situationen sogar entfliehen möchte. Immer wieder erlebt sie, dass vermittelnde Unterstützungshandlungen auch in der intra- generationellen Begegnung und Auseinandersetzung im Spiel erforderlich sein können (vgl. PF: Tagebuch: 4. April, 17-18, s. A II). Jana unterstützt vorsichtig und sensibel ver- mittelnd intragenerative Begegnung, an denen Sandra beteiligt ist, indem sie das gemein- same Spiel moderiert, das Gespräch mit den anderen Kindern sucht und versucht, Trans- parenz und Verständnis für Sandras Verhalten herzustellen. Im Rückgriff auf ihre Spieler- fahrungen mit Sandra unterstützt sie das Spiel in seinem Nutzen als „Verständnisbrücke“ (Fritz 1991, 61). Jana kann Sandras Impulse aufgreifen und das gemeinsame Versteck- spiel der Kinder begleiten, indem sie Sandra aus Enttäuschungen herausführt, die Situa- tion wendet, mit ihr den Möglichkeitsraum des Spiels erneut betritt und zur Fortführung des Spiels verhilft. Das Versteckspiel übernimmt somit nicht nur beziehungskonstituie- rende Funktion, sondern ist zudem ein wesentlicher Inhalt der patenschaftlichen Förde- rung, denn es unterstützt die sensumotorischen Fähigkeiten, insbesondere die Entwick- lung der Raumvorstellung und Körperwahrnehmung (vgl. Ayres 1992, 239),80 und fördert zugleich soziale Verhaltensweisen, wie z.B. Kooperation, Rollenverständnis, Perspektiven- wechsel oder Gemeinschaftsgefühl.

3.4.4.2 Vermitteln zwischen den Generationen

Wiederholt bemerkt Jana, dass sich Sandra sehr an der Sprache ihres Großvaters orientiert und seine fremdenfeindlichen Einstellungen übernimmt (vgl. PF: Tagebuch 24. Januar, 11, s. A II):

(…) wenn die Sandra was erzählt hat (…) also „Türken sind dreckig“ (…) und dann sag ich zu ihr: „Warum sind denn Türken dreckig?“ „Ja, der Opa sagt das. Die sind dreckig. Die stin- ken oder die, ich weiß nicht, die waschen sich nicht oder so“ (N 420-423).

Im Dialog mit Sandra versucht Jana, die übernommenen Ansichten zu reflektieren und ihr alternative Perspektiven anzubieten. Wiederholt wird sie während der Patenschaft mit Si- tuationen konfrontiert, in denen sie sich in der Funktion als vermittelnder „Gegenpol (…) zum Opa“ (N 377-378) erkennt, so z.B. auch im Hinblick auf die Mutter-Kind-Beziehung, die sie durch die großväterlichen abwertenden Kommentare als belastet sieht.

Mitzuerleben, dass Sandra von ihrer Mutter häufig enttäuscht wird, weil sie Vereinba- rungen und Versprechen nicht einhält und dass dadurch das grundlegende Vertrauen in

80 Die sich versteckende Person muss sich nach einem Platz als Versteck umsehen, der groß ge-

nug ist, um den eigenen Körper darin zu verbergen. Dabei muss sie sich körperlich an die Raumvorgaben anpassen, indem es sich beispielsweise klein macht und zusammenrollt oder sich in einen schmalen Spalt zwängt und sich dabei flach machen muss.

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der Mutter-Kind-Beziehung brüchig wird, ist für Jana „sehr schwierig“ (205). Sie versucht, Sandra zu trösten und zu entlasten, indem sie ihr die Perspektive der Mutter nahebringt, auch wenn sie selbst mit den Verhaltensweisen von Sandras Mutter nicht einverstanden ist bzw. diese als unverantwortlich einschätzt – so erfährt sie z.B., dass Sandra in der Ta- sche ihrer Mutter eine Spritze findet und dadurch unverhofft und unmittelbar direkt mit der Drogenabhängigkeit konfrontiert wird. Dennoch ist es auch ihr Anliegen, Sandras Mutter „in Schutz zu nehmen“ (200). Um zu verhindern, dass die Mutter-Kind-Beziehung noch stärker belastet wird, versucht Jana eine Ausrede zu formulieren: „Na ja, ihr geht’s be- stimmt nicht gut, und deswegen konnte sie dich bestimmt auch nicht anrufen“ (201-202). Sie möchte auf keinen Fall, „dass Sandra wütend auf ihre Mutter ist“ (202).

Sandra formuliert ihre Zweifel und bittet Jana um Stellungnahme. Sie sucht für die ei- gene Stabilisierung bei Jana Orientierung und fragt sie direkt und offen nach ihrer Mei- nung zu dem Geschehen:

(…) und dann sagt sie: „Das glaube ich ihr sowieso nicht mehr, was sie mir sagt.“ (hm) Und dann: „Was glaubst du denn?“ (203-204).

Zwar kann Jana Sandras Reaktion „gut verstehen“ (PF: Tagebuch, 6. Mai, 21, s. A II), be- fürchtet aber, mit einer ehrlichen Antwort zwischen Sandra und deren Mutter polarisierend zu wirken und die Mutter-Kind-Beziehung zu belasten. In der Konsequenz gelingt es ihr nicht, die eigene Meinung ehrlich zu sagen, denn sie will Sandras „Mutter nicht schlecht machen“ (N 379), das wäre aus ihrer Sicht „ganz, ganz schlimm“ (N 379):

Natürlich glaube ich ihr nicht, dass sie Rückenschmerzen hat und deswegen zu Hause liegt. (hm) Ne, ehm ich, ich weiß aber, dass äh Sandras Mutter sehr viel auch an ihr liegt, und äh dass sie auch gerne was machen, aber ich weiß eben auch von Drogenabhängigen, dass das, das Wollen und dann tatsächlich tun, das ist ja was ganz anderes. (hm) Und ehm ich kann mir das auch nicht anmaßen, da irgendwie sauer über sie zu sein, oder ehm so wie der Opa: „Die ist da schon wieder, da und da“ (N 371-377).

Zwar teilt Jana Sandras Einschätzung, weiß aber um die spezifisch belastete Situation von Sandras Mutter und die möglichen Auswirkungen der Drogenabhängigkeit. Mit einer zustimmenden Antwort sieht sich Jana zudem in der Gefahr, ihren eigenen Ärger über die mütterliche Unverantwortlichkeit zum Ausdruck zu bringen. Eine derartige Bewertung steht ihr nach ihrem Ermessen aber nicht zu. Außerdem möchte sie auf gar keinen Fall, dass ihr Antwortverhalten mit dem des Großvaters vergleichbar ist.

Rückblickend bewertet sie ihr vermittelndes Handeln kritisch. Besonders die Erwar- tung, immer Verständnis für die eigene Mutter zu haben, kennzeichnet sie als fragwürdig. Selbstkritisch erkennt sie im Nachfrageteil des Interviews:

(…) vielleicht musste ich auch am Anfang erst mal lernen, wie man auch mit ehm der Mutter umgeht, also wie man über die Mutter redet, also ich, man stellt sich ja dann schon die Fra- ge, muss man Sandra gegenüber immer sagen ja: „Deine Mutter ist krank, es tut ihr auch Leid“. Ehm wobei man dann auch wieder von ihr so Verständnis erwartet von Sandra, (hm) was vielleicht auch nicht gut ist, ehm dass Sandra immer Verständnis haben muss für die Mutter, weil sie immer Verständnis haben muss für alles (N 363-369).

Um Sandra bestmöglich unterstützen zu können, versucht Jana, ihr die Lage ihrer Mutter zu verdeutlichen und ihr zu vermitteln, dass das Verhalten nicht als Desinteresse, sondern als Unvermögen gedeutet werden muss. Zugleich wird sie sich der eigenen, nur sehr be- grenzten Einflussnahme bewusst und sie erkennt:

Das einzige, was ich in dieser Situation leisten kann, ist nur Sandra in bestimmten Momen- ten zuzureden, dass ihre Mutter sie lieb hat, und das nicht tut, um Sandra zu schaden, son-

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dern weil sei eine Krankheit hat, die es ihr nicht möglich macht, öfter zu Besuch zu kommen. Das alles versuche ich „bildlich“ mitzuteilen, so dass sie es auch fassen kann. Ich hoffe, ihr dadurch Unterstützung geben zu können, damit sie besser mit ihrer Mutter und ihren Ge- danken und Erinnerungen umgehen kann (PF: Tagebuch: 24. Januar, 11, s. A II).

3.4.4.3 Nicht gelingendes Vermitteln von eigenen Ansichten

Jana erkennt, dass Herr Kinian sich zwar um Sandra sorgt und „ihr was Gutes tun“ möch- te, er aber nicht sieht, „dass das nicht gut ist“ (260-261). In ihrem Portfolio führt sie seine Perspektive detailliert aus:

Herr Kinian ist stets voller Sorge, wenn er von Sandra spricht. Er hat sehr viele Ängste, bei- spielsweise dass Sandras Fähigkeiten nicht für die Schule ausreichen werden und er fing deshalb bereits vor ihrer Einschulung in die Vorschule an, mit ihr Lesen, Schreiben und Rechnen zu lernen, mit sehr wenig Erfolg. (…) Immer wenn ich da bin, ich weiß nicht, ob es sonst anders ist, fängt er übermäßig an, über Sandras Faulheit zu meckern und darüber wie wenig Geduld sie in all ihre Aufgaben investiert (PF: Beschreibung des Kindes aus Sicht des Opas, s. A II).

Jana sieht die großväterlichen Ängste vorrangig im Zusammenhang mit den von außen gestellten Leistungsanforderungen und der Gefahr, diese nicht erfüllen zu können. Eine tiefer gehende Analyse der Ängste bzw. diese im systemischen Kontext zu betrachten, gelingt ihr nicht. Weder kann Jana die Angst als Befürchtung deuten, Sandra könnte mög- licherweise genau so „enden“, wie ihre Mutter, was Herr Kinian um jeden Preis verhindern möchte, noch kann sie seine Bemühungen als möglichen Versuch der Wiedergutmachung interpretieren.

Auf der Grundlage ihrer Erfahrungen mit Sandra und ihren eigenen Einschätzungen kann sie diese Sicht zwar nicht bestätigen, sie sieht sich jedoch, wie sie in ihrem Tage- buch festhält, nicht in der Lage, dies Herrn Kinian zu vermitteln:

Ich weiß leider nicht, wie ich ihm klarmachen soll, dass er ein sehr geschicktes und intelli- gentes Kind hat und dass er sich keine Sorgen machen soll, denn er ist in seiner Meinung voll eingefahren (PF: Tagebuch; 24. September, 4, s. A II).

Das persönliche Scheitern zu erkennen, kann Jana mit ihrem Wissen darüber abmildern, dass auch die Therapeutin der Frühförderung bereits in dieser Hinsicht vermittelnd tätig war, aber trotz ihrer Professionalität auch keinen Erfolg hatte.

(…) und Frau John hatte mit ihm da auch immer so kleine Str- Streitereien, also nette Strei- tereien, wo sie gesagt hat also: „das klappt nicht, das äh brauchen Sie gar nicht erst anfan- gen, das bringt nichts“, ne (hm) Aber äh der ist da immer noch so dran (262-264).

Die ihr von der professionell handelnden Therapeutin vorhergesagte Erfolglosigkeit dieses Vermittlungsanliegens ist eingetreten. Jana erlebt: Scheitern gehört zum pädagogischen Alltag.

3.4.4.4 Professionell unterstützte Vermittlung von außen

Jana versucht unterschiedliche Strategien, um Sandras Großeltern für eine Unterstützung zu gewinnen und um ein kooperatives Verhältnis zu schaffen: Sie probiert, kommunikativ geschickt zu argumentieren, zu überzeugen und zu überreden, was für sie, wie sie in ih- rem Tagebuch festhält, „jedes mal (…) sehr viel Arbeit und Geschick“ (PF: Familie K als Bezugssystem für meine Patenschaft, s. A II) bedeutet. Insbesondere im Umgang mit den autoritären Vorgaben zur Gestaltung der Patenschaftstreffen nimmt sie sich – wie sie es auch bei Sandra beobachtet – selbst zurück und geht Kompromisse ein.

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Jana interpretiert die wiederholten Absagen und die auf ein Minimum beschränkte Ko- operation (vgl. PF: Familie K als Bezugssystem für meine Projektarbeit, s. A II) als man- gelndes Interesse an ihrer Person und an dem Projekt. Sie reagiert enttäuscht und emoti- onal, wie sie in ihrem Tagebuch zum Ausdruck bringt:

Ich war sehr außer mir, da dies nun schon das dritte mal war, wo mir abgesagt wurde. Dies sagte ich ihm auch, aber er sagte, dass er im Moment sehr viel zu tun haben usw. Obwohl ich ihm meine Meinung unmissverständlich klargemacht habe, ist er nicht darauf eingegan- gen. (…) Im Moment bin ich (…) ziemlich ratlos, wie ich mit der Situation weiter umgehen soll (PF: Tagebuch: 24. Januar, 11, s. A II).

Jana drängt weiterhin auf mehr Kooperationsbereitschaft. Im Februar kommt es deswe- gen zu einem Streit am Telefon. Herr Kinian will daraufhin die Patenschaft abrupt abbre- chen. Jana versucht zunächst mit unterschiedlichen kommunikativen Strategien den Streit zu lösen: „fordernd, verständnisvoll, verärgert und schließlich lösungsorientiert“ (PF: Tage- buch: 18. Februar, 12, s. A II). Ihre Bemühungen scheinen jedoch ohne Aussicht auf Ver- änderung. Diese Situation beschreibt Jana als Krise. An die eigenen Grenzen gelangt, teilt Jana Herrn Kinian schließlich mit, dass sie den Kontakt zur Projektleiterin aufnehmen werde und ein gemeinsames Gespräch mit ihr und Herrn Kinian anstrebe. Die vernetzten Strukturen des Projektes nutzend, sucht Jana das Gespräch mit der Projektleiterin und thematisiert die Schwierigkeiten der mangelnden Kooperationsbereitschaft der Großeltern und ihre eigene Hilfsbedürftigkeit. Mit dem Ziel, diese Schwierigkeiten mit Herrn Kinian gemeinsam zu besprechen, wird Frau John als Kooperationspartnerin um unterstützende Vermittlung gebeten.

Diese Krisensituation, die auf das Ende der ersten Halbzeit der Patenschaft datiert werden kann (vgl. PF: Förderleporello, s. A II), erweist sich für die Gesamtgestalt der Pa- tenschaft als ereignisträchtiger Knoten- und entscheidender Wendepunkt. Es kommt zu einem Gespräch, das sich für die weitere Beziehung zwischen Jana und Herrn Kinian und damit für den weiteren Verlauf der Patenschaft als förderlich erweist, und Jana, wie sie rückblickend erzählt, zudem einen wesentlichen Lernschritt im Bereich Elternarbeit er- möglicht:

Und so dieser Umgang mit, mit Eltern, (…) das fand ich also unheimlich wichtig. Und das hab ich auch noch mal gemerkt an diesem Halbjahresgespräch mit Frau John. Und ehm wie Herr Kinian sich in der Erziehungsberatungsstelle äh, wie sie das gemacht hat, und da hab ich mir unheimlich auch ein Vorbild dran genommen. Ich kann jetzt nicht sagen, dass sie ihn ausgetrickst hat, aber so ein bisschen hat sie, auch ehm wenn man sich das von oben mal anguckt (hm) ja, so ein bisschen (..) ja, ihn in eine Richtung gelenkt, so. (ja) Und das ehm, also das fand ich ganz toll, wie sie das gemacht hat. (…) weil Frau John hat eben auch ge- sagt: „Ja, und äh äh man muss auch wertschätzen, das ist jetzt eine angehende Lehrerin und studiert, und die macht das freiwillig“, und ich glaube, da hat er zum ersten Mal so ge- sehen, dass ich ja vielleicht auch was kann, oder dass, dass ich das vielleicht auch mit ei- nem Hintergrund mache und nicht einfach mal so, ich äh wie so, weiß nicht, also so Kinder- betreuung da (hm hm) für drei vier Stunden, (ja) und ehm ja, da hat er das glaube ich ge- merkt (N 57-77).

In diesem Halbjahresgespräch, das in der Projektkonzeption in dieser Art nicht festgelegt, sondern situationsbedingt zustande gekommen ist, erhält Jana die Chance mitzuerleben, wie Frau John situations- und fallbezogen reagiert und zwischen Theorie und praktischem Alltag einerseits und zwischen den Zielen der Beteiligten und der Problembearbeitung an- dererseits vermittelnd die Balance hält (vgl. Galiläer 2005, 153).

Jana erlebt lenkende Momente in der Gesprächsführung und erkennt, wie Frau John den Blick von Herrn Kinian auf das Projekt und auf die Patin Jana mit ihrem ehrenamtli-

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chen Engagement lenkt, ihm die Perspektive auf Kompetenzen und angehende Professi- onalität nahebringt und behutsam die erforderliche wertschätzende Sicht vorgibt. Frau John leitet dabei einen Teil ihrer Autorität auf Jana über und positioniert diese damit als eine im Familiensystem anerkannte Autorität.

Die Auswirkungen dieses professionell gestalteten Vermittlungshandelns bekommt Ja- na unmittelbar nach dem Gespräch zu spüren. Die Situation erscheint ihr gänzlich gewen- det. Sie erlebt Herrn Kinian auf dem gemeinsamen Weg zurück mitteilungsbereit, „locker“, witzig“, „freundlich“, „zuvorkommend“ und an ihrer Person und ihrer Lebens- und Ausbil- dungssituation interessiert:

Und danach hat er mir auch direkt erzählt wieder von irgendwelchen Geschichten, die hätte er mir früher nie erzählt. Also da war er unheimlich locker, unheimlich gut drauf, und ehm sind wir zusammen dann noch Straßenbahn zurück gefahren, und der hat mir dann Sachen, also das war, das war ganz, ganz witzig. (hm) Da hab ich gedacht, das kann doch gar nicht sein, wie der jetzt auf einmal so äh freundlich ist, und ehm so zuvorkommend ist, und auch nach mir, nach mir fragt, so mein Studium, das hat der vorher nie gemacht (N 65-71).

Auch Wochen später erlebt Jana Herrn Kinian wie ausgewechselt. Ihre Anwesenheit im Hause Kinian scheint ihn selbst in seiner Bedeutung für die Selbstdarstellung nach außen aufzuwerten. Er gewinnt durch Jana, die sich als angehende Lehrerin in seiner Familie aufhält und sich mit seiner Enkelin beschäftigt, die Einsicht, dass durch die Patenschaft nicht der Förderbedarf des Kindes oder der Unterstützungs- bzw. Kontrollbedarf des Fa- miliensystems betont wird, sondern dass der Kontakt mit professionell handelnden Men- schen ihm in seinem Bekanntenkreis Bedeutung und Anerkennung einbringen kann. Die- se Beobachtung ist für Jana „sehr interessant“. Als weitere positive Veränderung hält Ja- na zudem den gebesserten Umgang fest:

Und ein paar äh Wochen, paar Treffen später, hat er dann auch zu jemanden am Telefon gesagt: „Ja, ich kann jetzt leider nicht weg, ich hab eine Lehrerin hier.“ (lacht) (hm) Obwohl (unv.), weil der ist ja sonst auch immer weggefahren. Der hat sich auch gar nicht um uns ge- kümmert. Der saß im Wohnzimmer, das ist halt eine Ausrede, aber er hat gesagt: „Ich hab eine Lehrerin hier. Das geht jetzt nicht.“ Hm, das war sehr äh sehr interessant. (hm) Und den, der Umgang, der hat sich danach also auch gebessert (N 77-83).

Entscheidend für diesen veränderten und positiv gewendeten Fortgang der Patenschaft ist Janas unmittelbares und professionelles Handeln. Sie greift auf die vorhandenen Unter- stützungssysteme zu und holt sich professionelle Unterstützung von außen, durch welche es gelingt, die angebahnte Störung in den belasteten Strukturen nicht zu verhärten, sondern pädagogische Absichten und Ressourcen ins Zentrum der Betrachtung zu rücken.

3.4.5 Antinomie-Erfahrungen

Auch Jana wird während der Patenschaft mit vielfältigen Antinomien und schwer auflösba- ren Spannungen konfrontiert. Diese kann sie in den Beziehungen zwischen Sandra, dem Großvater und der Mutter beobachten und in der eigenen Auseinandersetzung mit Herrn Kinian sowie in der Beziehung zu Sandra auch unmittelbar selbst miterleben.

In dem familiären System trifft sie auf ein Feld, das sich u.a. durch die Spannung von Offenheit und Verschlossenheit auszeichnet, und sieht sich insbesondere mit der Autono- mie- und mit der Symmetrieantinomie konfrontiert. Immer wieder erlebt Jana den Wider- spruch von wissenschaftlich kodifiziertem Wissen einerseits und alltags- und lebensweltli- chen, biografisch gefärbten Weltversionen andererseits und wird sich für den anstehen- den schulischen Alltag der Notwendigkeit der Differenzierung bewusst. Rückblickend er-

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kennt sie, wie schwierig es ist, in der Beziehungspraxis Distanz einzulegen und zwischen engagierter Nähe und erforderlicher, entlastender Distanz auszubalancieren.

Auch die Antinomie von Offenheit und Verschlossenheit ist für das familiäre System, in dem Sandra aufwächst als kennzeichnend. Jana erscheint das System zu Beginn der Pa- tenschaft offen: es bestehen außerfamiliäre Kontakte zu fördernden Institutionen, die Fa- milie sucht Unterstützungen, gestattet Einblicke in das System, gewährt Eintritt und ar- rangiert die gemeinsame Begegnung gastfreundlich. Im Verlauf der Patenschaft verändert sich jedoch das Bild und Jana bemerkt zunehmend eine sich nach außen abgrenzende, eher ethnozentristische Haltung gegenüber Fremden.

Auch bei dem Thema Drogenkonsum und Abhängigkeit erfährt Jana diesen Wider- spruch von Offenheit und Verschlossenheit. Einerseits äußern sich sowohl Herr Kinian als auch seine Tochter ihr gegenüber offen über deren Abhängigkeiten, andererseits ist die Drogenabhängigkeit von Sandras Mutter ein familiäres Tabuthema und kann als ein Ver- such der systemischen Begrenzung nach innen gedeutet werden, um interne Problemla- gen als stigmatisierende Potenziale nicht nach außen deutlich werden zu lassen.

Diesen Widerspruch erkennt Jana auch in Sandras Verhalten. Einerseits zeigt sie sich fremden Menschen gegenüber „so offen“ (N 176) und „ganz locker“ (N 177), andererseits ist sie „ganz verschlossen“ (N 178). Als mögliche Erklärung zieht Jana die jeweils situati- ven Vorerfahrungen und die emotionalen Belastbarkeiten des Kindes mit in Betracht, die bei Anforderungen und eventuellen Überforderungen möglicherweise zu wenig berück- sichtigt werden, aber wesentlichen Einfluss auf die Gestaltung und den Verlauf der Be- gegnung, insbesondere mit anderen Kindern, haben können (vgl. N 179-183).

Selbstkritisch reflektiert Jana in diesem Zusammenhang auch das eigene Verhalten. Einfühlsam zieht sie in Betracht, dass sie durch ihre eigene Offenheit Sandras Angst, die stigmatisierenden und tabuisierten Familienthemen würden aufgedeckt, verstärkt haben könnte. Sandra könnte sich möglicherweise von ihr verraten gefühlt haben:

(…) ich glaube, dass ich da auch mal ein Fehler gemacht hab, ganz am Anfang, dass ich das äh ihr so beschrieben hab, was wir jetzt machen [geplant war der Besuch des Quartals- treffens]. Dass da Kinder sind ehm auch aus dem Projekt, und hab ihr das so ein bisschen erzählt. Und ich glaube, vielleicht habe ich mich nicht richtig ausgedrückt, oder was falsch war, ich hätte ihr das gar nicht sagen dürfen, ehm dass jetzt alle wussten, was mit ihr los ist. (hm) Also ich glaube, das war das, war auch ein Fehler von mir. Dass sie ehm, ihr war das dann irgendwie peinlich, wobei ihr das glaube ich nicht peinlich war, sondern ihr das von den Großeltern immer eingeredet wird [geheimnisvolle Stimme] „du darfst das doch nicht sagen, was deine Mutter hat“ (N 272-280).

Neben diesem Widerspruch von Offenheit und Verschlossenheit zeichnet sich diese Pa- tenschaft durch das Spannungsfeld von Anpassung und Widerstand aus. Sowohl Jana als auch Sandra können und müssen sich auf neue Umweltbedingungen einlassen und sich in ihrem Verhalten anpassen, damit „das Überleben gesichert ist“ (Schaub/Zenke 2002, 34): Jana versucht, sich auf das für sie fremde und spezifisch strukturierte Familiensystem einzustellen und in diesem für die Dauer eines Jahres ihren Platz zu finden. Wie sie musste sich auch Sandra – nachdem ihrer Mutter das Sorgerecht entzogen wurde – in das sie aufnehmende System der Großeltern einfinden. Um sich in neuen Systemen zu- rechtzufinden und sich einfügen zu können, ist es erforderlich, sich an den Erwartungen des sozialen Umfeldes zu orientieren. Das je eigene Verhalten muss entsprechend ange- passt und die Spannung zwischen der Übernahme sozialer Werte, Normen und Regeln einerseits und Widerstand und Ablehnung andererseits ausbalanciert werden.

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Jana bemerkt, dass Sandra Verhaltensmuster und Einstellungen aus der kulturell vor-

geordneten Welt ihrer Großeltern übernimmt. Als Patin trägt sie dazu bei, sich aktiv mit diesen Haltungen auseinanderzusetzen, indem sie, wie aufgezeigt, den Dialog mit Sandra sucht und ihre eine andere, die Sicht erweiternde Perspektive vermittelt. Sie versucht Sandra darin zu unterstützen, sich diese Form der Nichtanpassung zuzutrauen und Wi- derstand zu entwickeln. Denn wegen der belastenden Faktoren befürchtet sie, dass ohne außerfamiliäre Unterstützungen Sandra Gefahr laufen könnte, selbst in Abhängigkeit zu geraten und sich, wie sie ausführt, das familiäre Thema „Sucht“ damit fortsetzen würde.

(…) ich habe auf der einen Seite da ein bisschen Angst vor, auf der anderen Seite hoffe ich, dass auch, dass sie jetzt in der Pubertät vielleicht auch eine andere Richtung einschlägt, dass sie sich auch mal entgegensetzt, und nicht sich so duckt, (hm) und ehm ja, dass man hat da ja immer Angst, dass sie in also auch genauso in die Drogenabhängigkeit oder eine andere, andere Sucht irgendwie rein kommt, dass äh das natürlich nicht passiert, sondern dass sie sich dadurch ehm (..), ja durch Freunde und Schule vielleicht anders entwickelt. (hm) Hm, weil also wenn man jetzt nur von der Familie ausgeht, sind da vielleicht schon so Ansätze gegeben, also ich meine, gerade durch den Alkoholmissbrauch des Opas, ich mein, das ist ja auch eine Sucht, dass das auch wieder so weiter geht (hm) hm, auf eine andere Art, oder ein Abhängigkeitsverhältnis mit Männern, oder so was. Das ist ja auch, also da äh hoffe ich, dass das einfach durch, durch Schule anders läuft (N 321-333).

Die Autonomieantinomie zeigt sich bei Jana, da sie mit fremden familiären Normen und Strukturen konfrontiert wird, an die sie sich anpassen muss. Einerseits muss sie die Vor- gaben bzw. Reaktionen von Sandras Großeltern aushalten, andererseits fühlt sie sich durch diese fremdbestimmt und in ihren Handlungsabsichten eingeschränkt. Auch Jana wird, wie bereits aufgezeigt, durch die autoritären Vorgaben von Herrn Kinian in den eige- nen Autonomiebestrebungen eingeschränkt. Verbote, wie z.B. der unterbundene Besuch des Schwimmbads, lassen bestimmte Vorhaben erst gar nicht zustande kommen, An- sprüche und Erwartungen der Patin an Sandras Großeltern werden von diesen, wie auf- gezeigt, unterlaufen und blockieren dadurch die von Jana und Sandra geplanten Aktivitä- ten. Jana möchte Sandra in ihrer Autonomie unterstützen und fördern, erlebt aber, dass ihre Autonomieerwartungen auf eine organisatorische Rahmung fallen, die durch spezifi- sche Zwänge, Regeln und heteronome Strukturen geprägt ist. Wiederholt beobachtet sie, dass Herr Kinian Selbstständigkeit und autonomes Handeln seiner Enkelin tadelt. Jana erlebt den familiären Erziehungsprozess im Spannungsfeld zwischen „Entfaltung kindli- cher ,Natur‘“ (Helsper 2006, 16) einerseits und Disziplinierung andererseits. Ihr wird be- wusst, dass die Förderung von Selbstständigkeit bedeutet, Sandra zwar Autonomie zuzu- schreiben, dass die Grenzen aber aufgrund der vorhandenen heteronomen Strukturbedin- gungen mit ihr ausgehandelt werden müssen, ohne sie dabei so weit zu überfordern, „dass die Aufforderung zur Selbständigkeit systematisch zum Scheitern führt und damit die Gefahr einhergeht, dass entlastende Abhängigkeit und Heteronomie gewählt werden“ (ders. 2004b, 83).

Während des ersten halben Jahres der Patenschaft gelingt es Jana nicht, ihre Ansich- ten und Erwartungen durchzusetzen. Zunächst versucht sie, sich den Anforderungen an- zupassen, im Weiteren versucht sie situationsspezifische Lösungen in Form von Kom- promissen zu finden. Schließlich will sie auf ihren Erwartungen und Forderungen behar- ren, erkennt aber, dass letztendlich Sandra und die Patenschaftsbeziehung darunter lei- den müssen. Im Hinblick auf die erforderliche Ausbalancierung der antinomischen Struk- turen, insbesondere in den Spannungsfeldern von Autonomie und Heteronomie, erlebt

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Jana in der Auseinandersetzung mit Herrn Kinian die eigenen Grenzen. Sie erkennt, dass für ein angemessenes pädagogisches Verhalten sowohl Akzeptanz und Verständnis auf der Grundlage von Perspektivenwechsel als auch ein einfühlsames und zugleich eindeu- tiges Vermittlungshandeln notwendig ist, in welchem auch die eigenen Bedürfnisse ange- sprochen werden müssen (vgl. N 440). Ihr wird bewusst, dass sie in ihrer bisherigen uni- versitären Ausbildung auf diesen Aspekt professionellen Handelns noch nicht vorbereitet wurde:

Und so dieser Umgang mit, mit Eltern, der den lernt man an der Uni ja sonst nicht. Also da gibt’s ja keine Seminare (lacht) zur Elternarbeit. (hm) Und das fand ich also unheimlich wich- tig (N 57-59).

Deutlich wird, wie eng in diesem Fall die Autonomieantinomie mit der Symmetrieantinomie verwoben ist. Sandra gegenüber ist Jana als Professionelle in einer überlegenen Position. In der asymmetrisch angelegten Beziehung ist sie als angehende Lehrerin darin domi- nant. Sich dessen bewusst, entwickelt Jana immer wieder symmetrische Verhältnisse zum Problemlösen, legt die Patenschaftsbeziehung auf Reziprozität und Partizipation an und unterstützt und fördert so die Entwicklung von Vertrauen. Zugleich erkennt sie, dass Autonomie und Vertrauen nicht erzwungen werden können (vgl. N 105). In der Auseinan- dersetzung mit Herrn Kinian erlebt Jana jedoch, dass dieser die Beziehung zu ihr, aber auch die zu seiner Enkelin Sandra autoritär gestaltet und an der asymmetrischen Anlage und den vorhandenen Machtstrukturen festhält. Sie erfährt, dass sie kaum eine Chance hat, diese grundlegenden familiären Strukturen zu verändern.

Für ihren bevorstehenden schulischen Alltag wird Jana die Differenzierungsantinomie bewusst. Sie überträgt ihre Erfahrungen aus dem Projekt gedanklich auf die unterrichtli- che Situation und beschreibt die Spannung zwischen homogenisierter Gleichbehandlung aller Schüler und Schülerinnen und der Notwendigkeit, zwischen der Schülergruppe und den einzelnen Schülern und Schülerinnen differenzieren zu müssen als besonders er- schwert, wenn in der Lerngruppe Kinder sind, die „scheinbar keine Meinung haben“ und „sich immer sehr zurück nehmen“ (N 442). Diese Anforderung assoziiert Jana in ihrer Ge- schichte als „total schwierig“ (N 443) und sie besonders herausfordernd:

(…) dass man darauf achtet, das ist ja grad im Unterricht dann total schwierig, wenn man ganz viele Kinder hat, und äh dann ist eins, das immer nur so mitläuft, dass man da auch drauf guckt, weil das übersieht man ja schnell, das ist ja jetzt was anderes, ob ich jetzt das Kind alleine hab, oder im Klassenverband und ja, irgendwie auch immer die Familie im Blick haben (N 443-447).

Während der Patenschaft konnte sie mit Sandra die beziehungskonstituierenden Aspekte von Nähe und Distanz spielerisch und auf der Grundlage von Akzeptanz und gegenseiti- gem Vertrauen erleben und aushandeln. In der Beziehung zu Herrn Kinian erfährt Jana dagegen den nicht gelingenden Balanceakt als belastend umso stärker, weil sie mit Dis- tanz und Gleichgültigkeit konfrontiert wird und ihre Bemühungen um Akzeptanz und Wert- schätzung nicht gelingen und sie das familiäre System als unveränderbar erkennt:

In der Familie, also ich weiß gar nicht, was sich da groß verändert hat. Also ich glaub, sie sind so und die bleiben so (N 240-241).

Jana wird bewusst, dass der Umgang mit Antinomien immer mit Unsicherheiten verbun- den ist und dass deren Bearbeitung auch mit Scheitern und Fehlern einhergehen kann. Der distanzierte Rückblick lässt sie schmerzlich die damalige Fehleinschätzung erkennen:

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Ja, und das war also für mich äh ziemlich schlimm, das so mitzubekommen, weil ich eigent- lich, also bis dahin – und da war die Patenschaft eigentlich auch schon abgeschlossen – immer das Gefühl hab, es äh Sandra verkraftet das alles auch ganz gut, und da hat man ir- gendwie gemerkt, also es geht gar nicht (226-229).

Ihr Blick von außen macht Jana zudem deutlich, wie sehr sie während der Patenschaft emotional verstrickt war und wie schwer es ihr fiel, mit Beendigung der Patenschaft Dis- tanz zu den Erfahrungen einzulegen. Nach beendeter Patenschaft schwankt Jana zwi- schen ihrem Wunsch, Sandra weiterhin nahe zu sein und dem Verlangen, Distanz zu hal- ten und sich nicht wieder mit den Belastungen zu konfrontieren.

Ja, und für mich war das eben ganz schwierig, dann also Abstand zu kriegen davon, und ehm auf der anderen Seite auch noch eigentlich, sie anrufen zu wollen. Und das hab ich, also sie hat mich ja vor, im Juni hat sie mich angerufen. Das fand ich so ganz schön. Und da haben wir telefoniert, und ich hab auch gesagt, dass ich mich jetzt melde, und ich werde jetzt auch diese Woche hinfahren, aber ehm das fällt mir dann ganz schwer, dann wieder hinzufahren, und also wenn man auch viel um die Ohren hat, weil man merkt, dass einen das unheimlich mitnimmt, unheimlich beschäftigt, belastet, also ja, belastet, und ehm wenn man so viel anderes zu tun hat, weiß man genau, das wirft einen aus der Bahn, ne. (hm) Auch wenn man telefoniert ist das schon wieder so, dass man den ganzen Tag so da dran hängt (229-239).

Zum Zeitpunkt des Interviews liegt der letzte Kontakt einen Monat zurück. Jana fühlt sich an das Versprechen erinnert, das sie Sandra gab, sich wieder bei ihr zu melden. Die Um- setzung ihres Vorsatzes fällt ihr nicht nur aufgrund der Häufung eigener Verpflichtungen schwer. Auch die Perspektive, sich wieder den familiären Strukturen stellen und sich mit den vielfältigen, ihr inzwischen zwar bekannten, aber noch immer belastenden Risikofak- toren auseinandersetzen zu müssen, erschweren ihr die Konkretisierung ihres Planes.

In der Auseinandersetzung mit Antinomien gelingt es Jana, die damit verbundenen Un- gewissheiten im Sinne von Offenheit zu akzeptieren und als „pädagogische Ressource der Selbsttätigkeit“ (Helsper 2005, 7) zu fassen. Auf der Basis ihrer Erfahrungen mit Sandra und in dem Wissen um deren Selbstständigkeit hofft sie, dass Sandra durch wei- tere außerfamiliäre, schulische und nachbarschaftliche Kontakte zunehmend stabilisiert wird und dadurch den belastenden Bedingungen ihres Aufwachsens standhalten kann. So wie Sandra auf Unterstützung von Außen angewiesen ist und lernen muss, dieser und sich selbst zu vertrauen, konnte sich Jana mit den Widersprüchen arrangieren, die sich eröffnenden Spielräume nutzen und erweitern, indem sie auf die vernetzten Strukturen des Projektes zugreifen und Hilfe und Unterstützung zur Krisenbewältigung holen und an- nehmen konnte.

3.5 Lernerfahrungen

Die bemerkenswertesten Lernerfahrungen macht Jana in den Themenfeldern „kindliches Lernen“, „Kooperation mit Erziehungsberechtigten“ sowie im „Umgang mit Schwierigkeiten und belastenden Situationen“.

Lernen ist ein Wagnis und kann nicht erzwungen werden

Während der gemeinsamen Treffen nimmt Jana bewusst Sandras Lernstrategien wahr. Sie erkennt deren Eigeninitiative und Selbstständigkeit als Stärke und akzeptiert, dass Impulse für auf Veränderungen zielende Lernschritte wesentlich von Sandra selbst kom- men müssen. Die Erkenntnis, dass Lernen nicht erzwungen werden kann (vgl. N 105), ist

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für Jana eine entscheidende Lernerfahrung. Einfühlsam und aus der distanzierten Posi- tion der Beobachterin heraus erfasst sie, dass Gefühle der Angst nicht durch Überreden und Überzeugen, sondern nur vom Lernenden selbst überwunden werden können. Jana kann daher im Laufe der Zeit kindlichen Lernprozessen mit Zuversicht begegnen und er- kennt Lernen auch als ein Wagnis, für das die Lust am Ausprobieren und an der Selbst- überwindung sich schließlich als tragend erweisen muss, damit die lustvolle Wiederho- lung, das damit verbundene Spaß- und Erfolgserleben und die Selbstbestätigung die Ba- sis für Lernerfolge und Professionalisierungsprozesse bilden kann (vgl. N 120-126).

In der Beziehung zu Sandra lernt Jana, ihre eigene Unzulänglichkeit als Lern- und Ent- wicklungsbegleiterin anzunehmen, denn sie kann ihre eigene Zusage, sich regelmäßig mit dem Kind zu treffen, nicht immer einhalten. Auch wenn sie befürchtet, dass Sandra ent- täuscht reagieren könnte, muss sie doch die Grenzen ihrer Kraft anerkennen. Jana lernt, das schlechte Gewissen (vgl. N 94) und die Ungewissheit im Hinblick auf Zumutbarkeit ihres eigenen Verhaltens auszuhalten. Dabei wird ihr bewusst, dass sie für die Gestaltung des Arbeitsbündnisses selbst zum Krisenauslöser und zu einem Belastungsfaktor werden kann.

Jana erkennt, dass für individuell spezifisches und lebensbedeutsames Lernen (vgl. Begemann 1997, 9) die verschiedenen Bedingungen kindlicher Entwicklungsmöglichkei- ten im Sinne einer Kind-Umfeld-Analyse (Carle 2003, 711) berücksichtigt werden müssen. Dass auch die Umgebungen für Lernprozesse entsprechend vorbereitend und begünsti- gend gestaltet werden müssen, dass sie Materialien für die jeweilige Lernsituation bereit- stellen und auch die beeinflussenden Beziehungen berücksichtigen muss, wird Jana deut- lich. Zur Umsetzung der von ihr angestrebten Autonomie und Partizipation lernt Jana je- weilige Lern- und Lebenserfahrungen einzubeziehen.

Eltern und Erziehungsberechtigte für Kooperation gewinnen

Viel Zeit und Kraft ist erforderlich, um Arbeitsbündnisse auch mit Eltern bzw. Erziehungs- berechtigten herzustellen und sie als Ko-Konstrukteure gewinnen zu können. Die Ausein- andersetzung mit Sandras Großvater löst daher bei Jana den intensivsten Lernprozess während der Patenschaft aus. Wiederholt untergräbt dieser ihre Autorität, indem er ihre Grenzen überschreitet oder geplante Vorhaben mit Sandra durch autoritäre Vorgaben be- und sogar verhindert. Auf dieses Verhalten reagiert Jana zunächst mit stillschweigender Anpassung. Sie muss sich „zügeln“ (70-80), denn eine ehrliche, emotionale Reaktion ges- tattet sie sich nicht, eine sachlich begründete kann sie noch nicht artikulieren.

Das Gefühl der Ohnmacht gegenüber dem Großvater, das Jana auch bei Sandra wie- derholt beobachtet und auf dem Hintergrund ihrer eigenen Erfahrungen in der Beziehung zu ihrem eigenen Vater verstehen lernt, bleibt jedoch nicht leitend. Jana interpretiert das Verhalten des Großvaters als Widerstand gegen ihre fördernden Absichten. Sie erkennt, dass sie diesen Widerstand nicht durch Forderungen abbauen kann, sondern den Groß- vater zur unterstützenden, mindestens aber anerkennenden Mitarbeit gewinnen muss. Ihr wird bewusst, dass nicht das Kind oder die Arbeit mit ihm schwierig und belastend sind, sondern die Auseinandersetzung mit dem Umfeld und der Kampf gegen Widerstände.

Die Mitarbeit im Projekt ermöglicht Jana, wie sie es selbst zum Ausdruck bringt, „ein anderes Bild von Familie“ (N 432). Durch das Kontrasterleben von Aufwachsensbedin- gungen in einem Multiproblemmilieu wird sie sich ihres Bildes von Familie bewusst. Es gelingt ihr, ihre bisherigen Vorstellungen über familiäre Strukturen und Aufwachsensbe-

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dingungen zu revidieren. Auf der Grundlage ihrer Erfahrungen erweitert Jana ihre Per- spektive. Die angebahnte ökosystemische Sichtweise (vgl. Bronfenbrenner 1981) unter- stützt das Verstehen und erleichtert die weitere Ausgestaltung der individuellen Lern- und Entwicklungsbegleitung.

Umgang mit Schwierigkeiten und Belastungen – Aufbau eigener Widerstandsfähigkeit

Zur Bewältigung der vielfältigen Schwierigkeiten und Belastungen sind nicht nur Anpas- sungsleistungen, sondern auch eine reflexive, Fortschritte und Veränderungen analysie- rende Haltung erforderlich. Im Rahmen der Patenschaft nimmt Jana die vorliegenden Schwierigkeiten als Herausforderung an und baut durch deren Bearbeitung die eigene Widerstandskraft aus. Dabei nutzt sie sowohl positive Beziehungserfahrungen als auch Unterstützungsangebote als protektive, sie stärkende Faktoren.

Immer wieder ringt Jana dafür um die eigene authentische Position und balanciert zwi- schen den Erfordernissen, sich anpassen und zurücknehmen zu müssen einerseits und dem Anspruch, sich selbst zu vertreten und dem Widerstand etwas entgegenzusetzen andererseits. Dabei erkennt sie, dass sie selbst Strategien entwickeln muss, um nicht „vor verschlossener Tür“ (106-107) stehen zu bleiben. Dennoch – die Widerstände scheinen unüberwindbar.

Durch ausführliche, kritische und ehrliche Selbstreflexionen wird Jana bewusst, dass sich ihre eigenen Kraft-, Ausdauer- und Motivationsressourcen mit der Zeit erschöpfen und sie keinen Erfolg darin sieht, sich gegen die gegebenen Widerstände aufzulehnen und diese aufzulösen. Ihr eigenes Engagement schwindet. Resigniert und trotzig zugleich gibt sie auf. Enttäuscht muss sie allerdings erkennen, dass das Schwinden des eigenen Engagements nicht dem Kind zugute kommt: Wenn sie als Patin gemeinsame Vorhaben nicht durchsetzt bzw. sich nicht weiter dafür einsetzt, werden sie nicht durch großelterliche Initiativen kompensiert, sondern fallen eben aus. Auch ihre Zweifel, ob sie mit ihrem eige- nen Verhalten Sandra zusätzlich belastet, statt sie zu entlasten, bearbeitet Jana reflexiv, indem sie sich die eigenen Gefühlen bewusst macht, sich diese ehrlich eingesteht und kri- tisch und ausführlich reflektiert. Sie gesteht sich eigene Fehler ein (vgl. N 272-289) und versteht Unsicherheit und die Möglichkeit des Misserfolges als einen unvermeidbaren Be- standteil pädagogisch interaktiven Handelns, der nur rekonstruktiv erschließend zu bear- beiten ist (vgl. Helsper 2005, 7).

Die formale Anforderung, Prozesse zu dokumentieren und zu reflektieren und hierfür ein pädagogisches Tagebuch zu führen, erfährt Jana als hilfreiche Unterstützung. Sie kann so Veränderungen und Entwicklungsfortschritte bei Sandra durch den zeitlichen Vergleich feststellen. Der nachträgliche Blick auf frühere Beobachtungsprotokolle oder auf ihr Tagebuch helfen ihr, beobachtete Veränderungsprozesse zu belegen, zu bewerten und ihre Deutungen nachvollziehbar zu machen und zu bestätigen. Jana entwickelt mit der Zeit einen förderdiagnostischen Blick, der sich insbesondere auf die Um- und Mitwelt des Kindes richtet. Sensibel und mehrperspektivisch ausgerichtet wertet sie die zuneh- mende kindliche Selbstsicherheit nicht als ausschließliche Folge des eigenen Engage- ments und damit als Erfolg des eigenen Handelns, sondern erkennt an, dass dies auch im Zusammenhang mit Sandras Entwicklungsfortschritten zu sehen ist und die Schule dabei einen wichtigen, die Entwicklung fördernden und Sozialisation beeinflussenden Faktor darstellt (vgl. N 229-231).

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Im Verlauf der Patenschaft verknüpft Jana ihre Beobachtungen, die immer differen- zierter werden, zunehmend mit vorhandenen Erfahrungen und eigenem Wissen und ent- wickelt mit der Zeit alternative Denk- und Blickrichtungen. Die zunehmende Alkoholsucht des Großvaters deutet sie nicht nur monokausal, sondern auf dem Hintergrund unter- schiedlicher Erklärungsmuster (vgl. 175-180).

Um belastende Situationen bewältigen zu können, ist es erforderlich, neben den An- passungs- und Reflexionsleistungen protektive Faktoren zu kennen und Unterstützungs- systeme nutzend einsetzen zu können. Hierfür greift Jana auf positive Beziehungserfah- rungen und auf unterstützende Angebote zurück.

Sie sieht sich in der gelingenden Beziehung zu Sandra bestärkt. Deren positive Rück- meldungen stabilisieren Jana in ihrem Handeln und lassen sie die Patenschaft trotz aller Widrigkeiten doch noch fortführen und durchhalten (vgl. 108-113). Ihre Zweifel und die Frage nach dem Grund ihres Engagements gewinnen dadurch nicht die Oberhand (N 349-357).

Ein weiterer entscheidender protektiver Faktor und die Widerstandsfähigkeit der Patin stärkender Aspekt ist ihr aktives Problemlösungsverhalten in der entscheidenden Krisen- situation. Dem vom Großvater angedrohten frühzeitigen Abbruch der Patenschaft begeg- net Jana unmittelbar und transparent, indem sie ihm ihre verbleibenden Lösungswege an- kündigt und diese auch umsetzt. Sie zeigt sich in der Lage, mit dem eigenen Hilfebedarf offen umzugehen, teilt sich der Projektleiterin mit und erbittet Unterstützung. Durch das interinstitutionelle Gespräch, das zur Krisenklärung geführt wird, gelingt es Jana schließ- lich, im weiteren Verlauf der Patenschaft mit den Großeltern an einem Strang zu ziehen. Sie erkennt, dass gezielte Elternarbeit ein entscheidender Faktor für erfolgreiches und professionelles Handeln ist.

Die Unterstützung der Erziehungsberatungsstelle in der Krisenintervention ist ein wei- terer, sie stärkender Faktor. Die Möglichkeit, bei dem Gespräch mit dem Großvater hospi- tieren und miterleben zu können, wie ein Beratungs- bzw. Krisengespräch professionell geführt wird und sich dieses nachhaltig positiv auf den weiteren Verlauf der Patenschaft und die Anerkennung ihrer Person als Patin auswirken kann, ist für Jana eine weitere ent- scheidende und sie stärkende Lernerfahrung. Sie erfasst, dass sich kompetentes Handeln in hohem Maße situationsabhängig intuitiv-improvisierend vollzieht und „durch die sen- sible Einlassung auf situative und ständig wechselnde Umstände gesteuert [wird]“ (Neu- weg 2004, 13). Ihre Erfahrungen betrachtend, erkennt sie, dass das Gelingen von Ver- mittlungsprozessen von Anerkennung, Akzeptanz und gegenseitigem Vertrauen abhängig ist und sieht ihr eigenes Verhalten in diesem Kontext selbstkritisch als „noch ein bisschen (…) pubertär“ (N 51). Kooperation kann, so begreift Jana, nicht erzwungen, sondern muss angebahnt werden und erfordert Feinfühligkeit, Verständnis für die Situation, zugleich a- ber auch Transparenz, Eindeutigkeit im Hinblick auf das eigene Anliegen und die gegen- seitigen Erwartungen (vgl. N 53-59). Durch diese Lernerfahrung fühlt sich Jana in ihrer Selbstsicherheit und im Umgang mit Eltern derart gestärkt, dass sie sich – würde eine neue Patenschaft durchgeführt – einen veränderten und angemesseneren Umgang mit Eltern zutraut (vgl. N 84-85). Dies schätzt sie als ihren „größte[n] Lernerfolg“ (N 85) ein.

Auch die supervisorische Begleitung, die Jana durch die Erfahrungen ihrer Mutter be- reits kennengelernt hat, schätzt sie als „hilfreich“ (N 544) ein. Durch sie lernt sie, mit den belastenden Situationen besser zurechtzukommen. Sie fühlt sich bestärkt, Probleme zu-

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nächst bei sich selbst zu erkennen, sich dann zurückzunehmen, die eigene Sicht durch die der anderen erweitern zu können und neue Denkanstöße zu erhalten (vgl. N 538-550). So gelingt Jana zunehmend eine „bipolare Aufmerksamkeit“ (Zwiebel 2006, 47), durch welche sie neben Sandras Situation auch die eigene mit den jeweiligen sozialen und in- stitutionellen Kontexten in den Blick nehmen kann. Diese Lernerfahrungen unterstützen, dass sich Jana als reflektierte Praktikerin (vgl. Schön 1987, zit. n. Dick 1996, 96) versucht, indem sie das Nachdenken über ihre Beobachtungen und Erfahrungen im Hinblick auf das eigene und das fremde Handeln zum Ausgangspunkt für das weitere Handeln und die professionelle Entwicklung werden lässt. Es gelingt ihr der ständige Wechsel von reflexi- ver Durchdringung im Sinne kritischer Überprüfung der eigenen Denkinhalte unter Rück- bezug auf die aktuellen und vergangenen biografischen Erfahrungen einerseits und weite- rem Engagement andererseits. Dabei stellt sie ihre Konstruktionen und Handlungen in- frage und korrigiert sie durch neue Informationen.

Unterstützt durch die supervisorische Begleitung erkennt Jana die Subsumtionsanti- nomie (Helsper 2005), die darin liegt, dass jeder Fall mit spezifischen Schwierigkeiten ver- bunden ist, für deren Bearbeitung keine schematischen Lösungen zur Verfügung stehen.

Am Schluss der Patenschaft muss sich Jana jedoch eingestehen, dass sie ihrem „An- spruch, (fast) alles „perfekt“ zu machen“ (PF, 1, s. A II), nicht gerecht werden konnte. Rückblickend erkennt sie ihre frühere Fehleinschätzung (226-229), denn durch die Teil- nahme an Sandras Geburtstag erfährt sie, dass sie sich in ihrer damaligen Einschätzung – Sandra verkrafte das alles „auch ganz gut“ (228) – geirrt hat. Sie gesteht sich und der Interviewerin ein, dass sie nicht von einem Erfolg berichten kann.

Ihre bilanzierten Lernerfahrungen, für deren Verarbeitung sie die folgenden Monate nach dem Abschluss der Patenschaft benötigt, sind außerordentlich schmerzvoll. Sie er- kennt, wie schwer es ihr fällt, sich aus der zu Sandra aufgebauten Nähe zu distanzieren und wie sehr sie die Projektmitarbeit tatsächlich belastet hat. Dass sich die Patenschaft in den folgenden Jahren doch noch zu einer Erfolgsgeschichte entwickeln wird, ist für Jana zum Zeitpunkt des Interviews noch nicht absehbar.

3.6 Zusammenfassung und Fazit

Jana konnte während der Patenschaft Belastungen und Schwierigkeiten im Aufwachsen ihres Patenkindes kennenlernen und zugleich Erfahrungen im Umgang mit selbsterlebten Belastungen sammeln. Sie hat nicht nur Sandra im Aufwachsen unter erschwerten Bedin- gungen unterstützt und sie im Ausbau personaler und sozialer Ressourcen zur Stärkung ihrer Resilienzfähigkeit gefördert, sondern auch die eigene Widerstandskraft erprobt. Sie konnte Belastungen und Schwierigkeiten für die Dauer eines Jahres aushalten, diese pä- dagogisch gestalten und reflexiv bearbeiten. Durch Sandras erneute Kontaktaufnahme und Janas Versprechen, sich wieder bei ihr zu melden, sieht sich Jana nun vor die Auf- gabe gestellt, aus der inzwischen aufgebauten und entlastenden Distanz wieder die Nähe zu Sandra einzugehen und sich den Anforderungen erneut zu stellen. Während sich Jana zu Beginn der Patenschaft dafür bewusst Raum und Zeit verschafft hat, muss sie die an- stehende Belastung nun in ihren derzeitigen Alltag integrieren. Sie steht vor einem be- deutenden Lernschritt, den sie zum aktuellen Zeitpunkt noch scheut, aber aufgrund ihres Versprechens nicht mehr verdrängen kann.

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Diese Chance des weiteren Ausbaus der eigenen Widerstandsfähigkeit ist Jana zum aktuellen Zeitpunkt noch nicht bewusst, sie wird aber – wie sich später herausstellen wird – zu einer entscheidenden Wendung führen und der bisher traurigen Lerngeschichte schließlich doch noch ein positives Ende geben.

Noch heute (2009) besteht zwischen Jana und Sandra ein freundschaftlicher Kontakt. Jana erlebt in den Jahren nach beendeter Patenschaft mit, dass sich Sandras Stiefgroß- mutter von ihrem Mann trennt und sich dafür einsetzt, dass Sandra bei ihr leben kann und das Kind damit den belastenden und gesundheitsgefährdenden Risikofaktoren nicht mehr in der bisherigen Intensität ausgesetzt ist.

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Kapitel IV

Fallvergleichende Analyse

Im Folgenden werden die Erfahrungen der studentischen Patinnen sowohl im Hinblick auf anzubahnendes professionelles Lehrerhandeln als auch im Hinblick auf deren Lernen kontrastierend betrachtet. Ausgangspunkt für die fallvergleichende Analyse ist die Darstel- lung der gemeinsam geteilten Herausforderungen (1). Diese zeigen die für die Kontrastie- rung erforderlichen Vergleichsdimensionen auf, entlang derer die differenzierte Bewälti- gung der Anforderungen, die reflexive Erfahrungsbearbeitung und die Lernerfahrungen im Fallvergleich ausgeführt werden (2).81

1 Gemeinsam geteilte Herausforderungen

Die Analyse des empirischen Datenmaterials zeigt zunächst, dass sich die drei Fälle durch vielfältige Gemeinsamkeiten auszeichnen. Diese beziehen sich sowohl auf das Praxis- angebot an sich und die damit verbundenen Erwartungen der Studierenden als auch auf die inhaltlichen Dimensionen ihrer im Rahmen der Patenschaften gesammelten Erfahrungen.

Die drei Fälle verweisen darüber hinaus auf das Theorie-Praxis Problem universitärer Lehrerbildung. Jede Patin gibt als eine Begründung für ihre Mitarbeit im Projekt K die Su- che nach einem Praxisfeld an: Bianca wünscht sich auf der Grundlage ihrer bisherigen Studienerfahrungen, die sie als theorielastig beschreibt, eine Erhöhung des Praxisanteils. Wera dagegen sucht ein Praxisfeld, das sie zum Abschluss des Studiums für die Qualifi- kationsarbeit im ersten Staatsexamen nutzen kann. Und für Jana bietet das Projekt K eine Möglichkeit, den Praxisbezug nach dem gerade beendeten Blockpraktikum zu verlängern.

Dieser gemeinsam geteilte Wunsch nach Ausweitung des Praxisanteils bildet eine der beiden Positionen in der kontrovers geführten Diskussion um Lehrerbildung und Profes- sionalisierungsbestrebungen ab. Zwar wird der Praxisbezug für die Professionalisierung einheitlich als wichtig und notwendig angesehen (vgl. Neuweg 2004), die Professionalisie- rungsbereiche Theorie und Praxis werden aber unterschiedlich gewichtet aufeinander be- zogen. Die in den Fällen zu erkennende Suche nach einem in das Studium integrierten Praxisfeld vertreten insbesondere Bauer/Kopka/Brindt (1996) mit dem aufgabenbezogenen Theorieansatz, der einen gezielten Aufbau professioneller Handlungskompetenzen durch eine sich wiederholende „dichte Folge von Übung und Anwendung“ (ebd., 235) vorsieht.

Die Bedürfnisse der Patinnen stimmen auch in der Suche nach einem pädagogischen Feld überein, in dem sie sich – abgesichert durch die Begleitung – in der Begegnung und in der selbstverantwortlich gestalteten pädagogischen Arbeit mit einem Kind erfahren und erproben können. Auch in der grundlegenden Haltung, die die Patinnen dem Kind gegen- über einnehmen, gleichen sich die Fälle. Alle drei Patinnen wenden sich dem Kind mit

81 Ein kurz gefasster tabellarischer Überblick über die kontrastierten Dimensionen findet sich im

Anhang in diesem Band (A I: A 11).

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Kapitel IV: Fallvergleichende Analyse

 

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Sympathie und Neugier und mit einer positiven Grundeinstellung zu. Jede Patin hat den Wunsch, zu helfen und zu unterstützen. Dem Helfen werden jedoch – wie noch ausge- führt wird – unterschiedliche Konzepte zugrunde gelegt.

Bemerkenswert ist die Bereitschaft der Patinnen, sich mit der Übernahme einer Paten- schaft auf umfassende Ungewissheit einzulassen. Keine von ihnen kennt das Kind, für das sie eine zeitlich gebundene Patenschaft übernehmen und keine kann absehen, wie weit sie in das pädagogische Handlungsgeschehen eintauchen, in welche Verstrickungen und Verwicklungen sie geraten und wie sie mit den Anforderungen umgehen werden. Mit der Bereitschaft, sich auf Ungewissheit einzulassen, gehen die studentischen Patinnen auch das Risiko ein, Fehler zu machen oder gar zu scheitern. Eine Patenschaft zu über- nehmen, erweist sich als ein Wagnis. Mutig, neugierig und zuversichtlich vertrauen sie al- le in die Fähigkeiten der eigenen Person, mit Überraschendem und Unvorhersehbarem umzugehen, sie haben Vertrauen in die Kinder, die Eltern und in die Beziehungen zu ih- nen, und sie vertrauen in die Projektkonzeption, die ihnen die Gewissheit vermittelt und zusichert, begleitet zu werden.

Diesen unvorhersehbaren Prozessverlauf zu akzeptieren und ihn als eine besondere Herausforderung anzusehen, ist nicht nur ein Strukturmoment der Vermittlung, sondern auch ein wichtiger beziehungskonstituierender Aspekt im pädagogisch professionellen Handeln. Ungewissheit – positiv gewendet – ist im Sinne von Überraschungen und Un- vorhergesehenem eine Chance für gemeinsames, einander zugewandtes und aufeinan- der bezogenes Handeln in geöffneten Unterrichts- und Handlungssituationen des päda- gogischen Alltags (vgl. Mühlhausen 1994). In jeder Patenschaftsgeschichte werden sol- che Überraschungsmomente thematisiert.

Eine weitere gemeinsame Herausforderung ist der erforderliche Umgang mit vielfälti- gen, ihnen zugeschriebenen, aber auch erworbenen Rollen (vgl. Nave-Herz 1977). Wie im schulpädagogischen Alltag ist es auch im Rahmen der Patenschaften notwendig, die un- terschiedlichen und z.T. unvereinbaren Erwartungen, die an die Rollen gebunden sind, in jeder Interaktionssituation neu auszutarieren (vgl. Lenzen 2006). Die Analyse der Fälle verdeutlicht zudem sehr nachdrücklich einen in der Rolle der Patin angelegten Konflikt, denn in jeder Patenschaft vereint die Patin zwei einander widersprechende Rollen: die der Lernerin und die der vermeintlich Professionellen. Dieser Widerspruch erfordert es, dass die Patinnen die eigenen Erwartungen aufdecken und mit denen der Interaktionspartner abgleichen müssen. Die Rollen modellierend und verändernd mitzugestalten und auszu- handeln, Rollendistanz aufzubauen, Grenzen zu setzen und Nein zu sagen und die eige- nen Bedürfnisse, Erwartungen und Enttäuschungen zu kommunizieren, fällt jeder Patin unterschiedlich schwer.

Schließlich wird durch die Datenauswertung auch deutlich, dass alle drei Patinnen mit vielfältigen Differenzen, Fremdheiten und mit Widersprüchen umgehen müssen. Jede von ihnen erlebt das Aufwachsen ihres Patenkindes als erschwert und belastet und im Ver- gleich mit der erinnerten eigenen Kindheit als fremd: das eine Kind wächst in einer ande- ren Kultur auf, das andere ist an den Rollstuhl gebunden und in Janas Fall lebt das Pa- tenkind bei den Großeltern und hat nur einen unregelmäßigen und unzuverlässigen Kon- takt zu seiner drogenabhängigen Mutter. Entsprechend zeichnet sich jede Patenschaft durch spezifische Fremdheitsfacetten aus. Auch wenn die Erfahrungs- und Deutungs- muster von Fremdheit in jedem Fall unterschiedlich ausfallen, wird Fremdheit nicht nur im

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Sinne von Andersheit als eine Eigenschaft oder Eigenart von Dingen bzw. Personen er- kannt, sondern als Gegenpol zu dem Vertrauten und als eine kommunikative (Zu-)Ord- nung, die immer in Relation zu einer sozialen Ordnung besteht (vgl. Stichweh 1997; Gieß- Stüber 2003). Zusätzlich zu den vielfältigen Differenzerfahrungen werden alle drei Patin- nen in der Beziehungspraxis mit Handlungssituationen konfrontiert, die durch Antinomien gekennzeichnet sind. Insbesondere die Spannung von Nähe und Distanz, von Freiheit und Zwang bzw. Autonomie und Heteronomie werden als „antinomische Sinnfiguren“ (Helsper 2004b, 56) in den Patenschaftsbeziehungen deutlich.

Dass pädagogisch professionelles Handeln auf die unterstützende Mitarbeit der Eltern angewiesen ist und daher auch Arbeitsbündnisse mit den Erziehungsberechtigten aufge- baut werden müssen, ist eine weitere gemeinsam geteilte Erfahrung. Allen drei Patinnen wird bewusst, dass die Bereitschaft zur Zusammenarbeit nicht als gegeben vorausgesetzt werden kann, sondern von ihnen ein hohes Maß an zugewandter Vermittlungsleistung er- fordert, das wiederum auf ein geübtes, flexibles kommunikatives Können angewiesen ist.

Beziehungserfahrungen, Rollen- und Differenzerfahrungen, antinomische Strukturen, Ungewissheit und Vermittlungsleistungen werden als Vergleichs- und Kontrastierungsdi- mensionen genutzt, entlang derer im Folgenden die fallspezifischen Kontraste und Diffe- renzen aufgezeigt werden.

2 Differenzen in der Bewältigung der Anforderungen

2.1 Gründe und Motivationen zur Projektmitarbeit

Die drei rekonstruierten Fälle zeigen die unterschiedlichen Motivationen der Studierenden, im Projekt K mitzuarbeiten. Steht in dem einen Fall die Suche nach biografischer Selbst- vergewisserung und Selbstbestätigung im Vordergrund (Bianca), wird in dem anderen die Mitarbeit im Projekt zur Qualifizierung (Wera) und im dritten Fall ein Lernangebot zur Selbsterprobung auf dem weiteren Professionalisierungsweg (Jana) gesucht.

Zwar spricht das Projekt alle Patinnen insbesondere wegen des Berufsfeldbezugs an, in den Fällen Bianca und Wera aber wird auch eine biografische Relevanz deutlich, die in ihrer persönlichen Übergangssituation zu begründen ist.

Bianca sucht sowohl die reflexive und selbsterfahrungsorientierte Auseinandersetzung mit der eigenen Person als auch eine Begleitung und zugleich eine reflexive Unterstüt- zung in der von ihr aktuell zu bewältigenden Übergangssituation der privaten und berufli- chen Neuorientierung. Wera dagegen steht am Ende ihrer universitären Ausbildung und sieht in dem Angebot eine nochmalige und letzte Chance, sich auf einen pädagogischen Alltag vorzubereiten. Für sie stellt die Projektmitarbeit im Wesentlichen eine Unterstützung beim anstehenden Abschluss des Studiums am Übergang zum Referendariat dar. Und Jana, die sich in der Mitte des Studiums befindet, sucht nach dem absolvierten Blockprak- tikum die Möglichkeit, den Praxisbezug zu verlängern und ihre Begegnung mit sogenann- ten „schwierigen“ Kindern zu vertiefen und auf Verstehen auszurichten.

Hinzu kommt in ihrem Fall, dass sie von der Projektleiterin persönlich auf die Möglich- keit der Mitarbeit im Projekt angesprochen wurde, wohingegen die beiden anderen Patin- nen den Kontakt zur Projektleiterin von sich aus gesucht haben.

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2.2 Differenzen im Umgang mit Anforderungen

2.2.1 Beziehungspraxis und Interaktionsdynamik

Die drei rekonstruierten Fälle repräsentieren unterschiedliche Interaktionsdynamiken und belegen, dass der Aufbau von Arbeitsbündnissen entgegen dem ersten Eindruck nicht zwangsläufig gelingt.

Im Fall Bianca entwickelt sich das Arbeitsbündnis mit dem Kind nicht auf Anhieb, son- dern nur langsam und zögerlich. Das Arbeitsbündnis mit dessen Mutter dagegen gelingt sofort. Im Fall Wera gelingt weder das Arbeitsbündnis mit dem Kind noch das mit den El- tern. Der Fall Jana dagegen zeigt, dass die Patin unmittelbar in der ersten Begegnung ei- ne Beziehung zum Kind herstellen kann, dass die Zusammenarbeit mit den Erziehungs- berechtigten dagegen erschwert ist und nur durch vermittelnde professionelle Unterstüt- zung vor dem Abbruch bewahrt werden kann.

In allen drei Patenschaften kommt der Situation der ersten Begegnung ein zentraler Stellenwert zu. Hier bildet sich der erste Eindruck, gefiltert durch die individuellen Vorer- fahrungen, dem bereits vorhandenen fallspezifischen Hintergrundswissen und den sich daraus abgeleiteten Erwartungen. Auf der Grundlage dieses ersten Eindrucks, der in allen drei Fällen positiv ausfällt, entwickeln die Patinnen ein positives Grundgefühl für die an- stehende Patenschaft. Dieses Gefühl verfestigt die Erwartung an eine Patenschaftsbezie- hung, von der angenommen wird, dass sie beiderseitig gewollt und beständig ist.

Der erste Eindruck und die Erwartung der Beständigkeit sind Ausgangspositionen, die mit dem realen Verlauf der Patenschaft ständig abgeglichen werden müssen und deren qualitative Veränderung Rückwirkungen auf die Wahrnehmung des Kindes und die Quali- tät der Patenschaft haben. Die Verarbeitung dieses Abgleichs wird aber in keinem der drei Fälle ausreichend reflektiert.

In zwei Fällen müssen die Patinnen ihren ersten Eindruck schon am folgenden Treffen revidieren. Sowohl Bianca als auch Wera fühlen sich getäuscht. Beide reagieren mit Irrita- tion und Enttäuschung, die sie aber in unterschiedlicher Weise bewältigen. Während We- ra zur Entlastung nach möglichen Erklärungsansätzen sucht und sich diese Enttäu- schungserfahrung während der Patenschaft immer wieder aktualisiert, nimmt Bianca das Beziehungsangebot von Eilas Mutter an und kann so die Beziehungsdistanz ihres Paten- kindes Eila kompensieren. Beide Fälle zeigen, dass einseitige Sympathiebekundung für die Beziehungsgestaltung allein nicht ausreicht. Eine zugewandte und auf Anerkennung und Wertschätzung ausgerichtete Beziehung muss erst aufgebaut und das Gelingen die- ses Aufbaus zunächst als ungewiss akzeptiert werden.

Auch Vertrauen als Voraussetzung einer patenschaftlichen Beziehung muss sich als reziproke Verpflichtung erst entwickeln. Die Sympathie, die die Patinnen den Kindern ent- gegenbringen, ist noch keine ausreichende Basis, um das Vertrauen des Kindes zu ge- winnen. Dieses ist, wie insbesondere im Fall Bianca deutlich wird, nicht zwangsläufig auf Wechselseitigkeit angelegt. Bei der kommunikativen Herstellung interaktiver Gegenseitig- keit wird von der Patin eine Vertrauensbasis unterstellt, die faktisch noch gar nicht vor- handen ist. Die Herstellung von Vertrauen, die insbesondere in Anfangssituationen schwierig ist, stellt für die Gestaltung von Arbeitsbündnissen eine wesentliche Grundlage dar. Weder im Fall Bianca noch im Fall Wera wird dies von den Patinnen entsprechend berücksichtigt. Die Abwehr des Kindes, die besonders im Fall Bianca zu beobachten ist,

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kann – wird sie nicht sensibel und bewusst wahrgenommen und nicht reflexiv bearbeitet – die weitere Beziehungsgestaltung erheblich erschweren.

Verglichen mit dem Fall Wera erweisen sich Biancas Lebenserfahrungen, insbesonde- re in der Beziehung zu der Mutter ihres Patenkindes, als vorteilhaft. Dass sie auf ihr Er- fahrungswissen zurückgreifen kann, lässt sie in ihrem Auftreten und Handeln sicher auf- treten, wodurch der Vertrauensaufbau unterstützt wird.

Nur im Fall Jana gelingt zwischen der Patin und dem Kind auf Anhieb eine unmittelbare und von Zuwendung getragene Begegnung. Sensibel und ohne große Worte scheint zwi- schen Jana und Sandra gegenseitige Anerkennung in der jeweiligen Besonderheit und Andersartigkeit möglich. Dieser Moment der sozialen Ko-Präsenz ist eine Voraussetzung dafür, dass es in einer Beziehung zu Symmetrie im Sinne von Gleichrangigkeit kommen kann. Eindrücklich veranschaulicht der Fall, dass die Beziehung sofort auf der inneren Ebene organisiert wird. Beiden Parteien – der Patin und dem Kind – gelingt spontan das Wechselspiel von „führen“ und „sich führen lassen“. Sie erfüllen damit eine wichtige Be- dingung für den Aufbau von Arbeitsbündnissen.

Die Analyse der Fälle belegt, dass ein gelingender Aufbau von Arbeitsbündnissen durch ein Zusammenspiel unterschiedlicher Faktoren begünstigt wird. Zu diesen zählen auf der Seite des Kindes u.a. Selbstsicherheit, Selbstständigkeit, Neugier und Offenheit, aber auch Interesse und Bereitschaft, Prozesse auszuhandeln und mitzugestalten. Die Patin dagegen muss sich sowohl offen und zugewandt, zugleich aber auch intuitiv, zu- rückhaltend und permissiv verhalten können, wie dies insbesondere in den Fällen Bianca und Jana nachgezeichnet werden konnte. Hier gelingt es, die Bedürfnisse des Kindes wahrzunehmen und ihm in zurückhaltender Präsenz die Möglichkeit der Kontaktaufnahme anzubieten. Dass dies u.U. ein zögerlich verlaufender Prozess ist und von der Patin ein geduldiges, aus der Distanz beobachtendes und dennoch zugewandtes Verhalten erfor- dert, macht besonders der Fall Bianca deutlich. Annäherungsprozesse müssen – so zeigt der Fall – sowohl im Tempo als auch in ihrer Intensität individuell bestimmt werden.

Dass der Aufbau des Arbeitsbündnisses nicht oder nur bedingt gelingt, kann auch in einer zu hohen Erwartungshaltung der Patin oder in überfordernden und nicht miteinander zu vereinbarenden Erwartungen begründet sein. Dies belegen die beiden Fälle Bianca und Wera. Als entscheidend erweist sich, dass die jeweiligen Erwartungen, Bedürfnisse, aber auch Überforderungen kommuniziert werden. Der zentrale Stellenwert des fragenden Verhaltens zu einer solchen Verständigung wird eindrücklich durch den Fall Wera belegt.

Ein weiterer Aspekt, der für die Beziehungsgestaltung unumgänglich ist, ist die Analyse der umgebenden Strukturen, um die sich alle drei Patinnen bemühen. Es gilt aber nicht nur, die begrenzenden heteronomen Rahmenbedingungen zu erkennen und diese resig- nierend hinzunehmen, weil sie sich – wie im Fall Wera – als unveränderbar erweisen, vielmehr gilt es, den Fokus auf vorhandene Ressourcen zu richten, diese sich und den anderen bewusst zu machen und planvoll auszubauen.

Der Aufbau von Arbeitsbündnissen mit den Kindern ist auf unterstützende Mitwirkung der Erziehungsberechtigten angewiesen und wird durch sie entscheidend befördert. Dies zeigen die beiden Fälle Bianca und Wera. Während sich die mütterlichen Vermittlungs- leistungen im Fall Bianca direkt sowohl an die Patin als auch an das Kind adressieren und deren Beziehungsaufbau unterstützen, fällt die mütterliche unterstützende Mitwirkung im Fall Wera indirekt aus, indem Maschas Mutter der Patin ihre eigene Grundhaltung und

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Einstellung vermittelt. Ihr beständiges Hoffen und ihr fester Glaube, dass ihre Tochter doch noch das Laufen lernt, stabilisieren die Patin in ihren eigenen Bemühungen.

Ganz im Gegensatz dazu zeigt der Fall Jana, dass die spontan gelingende und einan- der vertrauende Beziehungsgestaltung zwischen der Patin und dem Kind durch ungenü- gende und unzuverlässige Unterstützung der Erziehungsberechtigten erschwert werden kann, wenn z.B. gemeinsame Absprachen nicht eingehalten werden. Dass die Erzie- hungsberechtigten die Arbeit mit dem Kind befürworten und an einer Begleitung interes- siert sind, kann aber – wie dieser Fall belegt – nicht erzwungen und eingefordert werden. Eltern und Erziehungsberechtigte müssen zur Mitarbeit gewonnen werden. Auch mit ih- nen müssen Arbeitsbündnisse geschlossen werden, wofür Vertrauen aufgebaut und eine gemeinsame Sprache gefunden werden muss.

In allen drei Fällen erweisen sich gemeinsame Unternehmungen für die Entwicklung der Patenschaftsbeziehung als förderlich. Damit begeben sich die Patinnen und Kinder gemeinsam auf einen Weg, der nicht vollständig geplant werden kann, sondern mit Offen- heit und Ungewissheiten verbunden ist. Vertraute oder individuell bedeutsame Orte kön- nen dem anderen gezeigt und eröffnet werden, es können aber auch neue Orte aufgesucht und als bedeutsam entdeckt werden. Auf diesem Weg können gemeinsame Erfahrungen gesammelt werden, welche die Grundlage für den Vertrauensaufbau bilden können.

In jeder Patenschaft zeigen sich unterschiedliche fallspezifische Möglichkeitsräume, die die Patinnen mit ihren Patenkindern gemeinsam gestalten, indem sie Angebote an- nehmen, sie zusammen genießen und die damit verbundenen Herausforderungen auch gemeinsam bewältigen.

Im Fall Jana sind das der Garten bei Sandra, das gemeinsame Versteckspiel sowie das Schwimmbad. Im Fall Bianca sind es die Feste, die sich durch die gesamte Paten- schaft ziehen, die als Spielraum genutzt und in denen Überfluss und Fülle gemeinsam er- lebt werden. Auch die Jugendbücherei wird als ein Erlebnisraum entdeckt. Und im Fall Wera wird die Öffentlichkeit zum potenziellen Raum, der mit unbedachten Hindernissen und einer Vielzahl von zu bewältigenden Stigmatisierungspotenzialen erlebt wird. Ge- meinsame Unternehmungen sind wichtig und für den Beziehungsaufbau förderlich, sind aber, wie allen Patinnen bewusst wird, zeitaufwendig, werden nicht zwangsläufig von den Erziehungsberechtigten wertgeschätzt und können, wie der Fall Wera aufzeigt, auch mit Konfrontationen und Verunsicherungen einhergehen und als belastend erlebt werden.

2.2.2 In Rollen handeln – Rollen aushandeln

Im Hinblick auf professionelles Lehrerhandeln, das ein möglichst großes Rollenrepertoire erfordert, können die Patinnen in allen drei Fällen ihr Repertoire individuell unterschiedlich erweitern. Ihre Rolle als Patin erfahren sie als Rollenbündel und die Patenschaft als „Rol- lenszenario“ (Klippert 2006, 34), in dem sie – wie im Lehreralltag – mehrdeutige und wider- sprechende Erwartungen aushalten und konfligierende Ansprüche ausbalancieren müs- sen. Zur Bearbeitung der auftretenden Rollenkonflikte werden die unterschiedlich vorhan- denen Handlungsspielräume genutzt.

Jede Patin interpretiert ihre Rolle anders und formuliert entsprechende Zielsetzungen. Bianca versteht ihre Rolle der Patin als Helferin und Beraterin und verfolgt das Ziel,

Menschen behütend bei der Alltagsbewältigung zu unterstützen und sie auf dem Weg in die Selbstständigkeit zu begleiten. Entsprechend strebt sie ein Beschützer-Helfer-Verhält-

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nis an. Wera sieht sich dagegen in der Rolle der verantwortungsvollen Förderin, die ganz- heitlich und erlebnisnah ausgerichtet Veränderungen bewirken will und ihren Ansatz als Gegenentwurf zum elterlichen Förder- und Erziehungsverhalten konzipiert. Sie strebt ein Therapeuten-Klienten-Verhältnis an. Ganz anders wiederum definiert Jana ihre Rolle. Sie sieht sich einerseits in der Rolle der beteiligten Begleiterin und in der einer Fremd- und Selbstbeobachterin andererseits. Ihr Ziel ist es, das Kind in seinem Anderssein zu verste- hen, sich im Umgang mit ihm zu erproben und es zu unterstützen, indem sie ihm neue Möglichkeiten zu eröffnen versucht. Entsprechend entwickelt sie die Beziehung zu ihrem Patenkind als ein freundschaftliches Türöffner-Berater-Verhältnis.

Diese selbst zugeschriebenen Rollen entsprechen der Trias von Behüten/Helfen, Ent- gegenwirken und Ermöglichen/Unterstützen, mit der Garz (2004, 511) das pädagogische Tätigkeitsfeld Erziehung zur Förderung von Entwicklung beschreibt.

Da sich die Rolle der Patin in jedem Fall situations- und ereignisbezogen ausdifferen- ziert, müssen die Patinnen flexibel in vielfältigen, für sie z.T. unvorhersehbaren Rollen a- gieren, und zwar sowohl in der Beziehung zu dem Patenkind als auch in der zu den Erzie- hungsberechtigten. Dabei werden sie mit unterschiedlichen Anforderungen und z.T. wi- dersprüchlichen Erwartungen konfrontiert. Weil sie sich in zwei Beziehungskomplexen bewegen, wird das gesamte Beziehungsfeld vielschichtiger und undurchsichtiger als von ihnen erwartet. In der Beziehung zu dem Patenkind müssen die Patinnen sowohl die sich selbst zugewiesene Rolle mit den Bedürfnissen des Kindes als auch die ihnen vom Kind zugeschriebene Rolle mit den eigenen Erwartungen und Bedürfnissen abgleichen. In der Beziehung zu den Erziehungsberechtigten gestaltet sich dieser Abgleich komplizierter, da die Erziehungsberechtigten ihre Bedürfnisse sowohl im Hinblick auf die eigene Person als auch im Hinblick auf das Kind an die Patinnen adressieren.

Zwei der drei Fälle verdeutlichen, dass die Passung von fremd zugewiesener und selbst zugeschriebener Rolle nicht zwangsläufig vorliegt, sondern erst ausgehandelt und gemeinsam gestaltet werden muss.

Wera erkennt, dass die Mutter ihres Patenkindes in ihr einen besseren Babysitter und eine Alternative zum Fernseher für ihre Tochter sieht und für sich selbst eine professio- nelle Ansprechpartnerin und Tipps gebende Alltagsentlastung sucht. Jana dagegen erlebt, dass ihr von dem Großvater ihres Patenkindes die Rolle der als überflüssig erachteten Nachhilfe und des selbstverständlichen Hol- und Bringedienstes zugewiesen wird. Nur im Fall Bianca treffen die Rollenerwartungen der Patin und der Mutter des Patenkindes pas- send aufeinander. Dies kann u.a. in den ähnlichen Grundbedürfnissen der beiden Frauen begründet werden, denn beide suchen eine Begleitung auf ihrem jeweils eigenen weiteren Weg, oder auch in den gemeinsam geteilten Rollenerfahrungen als Mutter.

Alle drei Patinnen erleben, dass die Erwartungen an eine soziale Rolle ungenau und diffus und aus diesem Grund immer interpretationsbedürftig sind. Da diese Interpretatio- nen in den Patenschaften kaum aufgedeckt und offen ausgehandelt und mit den jeweili- gen Bedürfnissen abgeglichen werden, kommt es zu Konflikten, mit denen die Patinnen auf unterschiedliche Weise umgehen.

Im Fall Wera versucht die Patin, allen Erwartungen, die an die unterschiedlichen Rollen gebunden werden, zu entsprechen und Unklarheiten auszuhalten. Dies führt dazu, dass sie für die Umwelt nicht mehr eindeutig erkennbar ist. Rollenkonflikte bleiben sowohl in der Beziehung zu dem Patenkind als auch zu dessen Eltern unausgesprochen und damit

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ungelöst. Auch im Fall Bianca versucht die Patin, den unterschiedlichen Erwartungen ge- recht zu werden. Es gelingt ihr jedoch, dem Kind gegenüber ihre eigenen Enttäuschungs- gefühle und Erwartungen offen anzusprechen, was auch zu einer unmittelbaren Verände- rung der Beziehung führt. Im Verlauf der Patenschaft gelingt das gemeinsame Aushandeln und Gestalten der Rollen zunehmend sicherer und selbstverständlicher. Im Fall Jana kön- nen die Rollen in der Beziehung zum Patenkind im interaktiven Geschehen als Hand- lungsentwürfe definiert und situationsbezogen aktiv im Sinne des „role-making“ ausgestaltet werden. Die Rollen der großen Freundin, Vertrauten, Verbündeten und Gesprächspartnerin werden von Jana nicht einfach übernommen, sondern sind auf Wechselseitigkeit gerichtet.

2.2.3 Differenzerleben und Umgang mit Fremdheit

Das analysierte Datenmaterial belegt, dass die Patinnen in allen drei Fällen in der Ausein- andersetzung mit unterschiedlichen Subkulturen und Lebenswelten mit vielfältigen Diffe- renzen konfrontiert werden und so einzelne Dimensionen von Heterogenität kennenlernen können. Als fremd nehmen sie wahr, was nicht in ihre gewohnten Sinn- und Deutungs- muster passt, diese überschreitet und potenziell infrage stellt.

Biancas Fall thematisiert Fremdheit in der Situation des Neubeginns und lässt die Patin sowohl intergenerationelle Fremdheit erfahren als auch kulturelle, die sich in vielfältigen Facetten abbildet: in der Art der Kleidung, der Sprache und den damit verbundenen Ver- ständigungsschwierigkeiten, in den fremden Kulturgütern und den religiösen Hintergrün- den. Weras Fall zeigt Fremdheit, die in der Organisation des Familienlebens angelegt ist, das durch die Behinderungsthematik überlagert wird. Auch der Fall Jana thematisiert im System angelegte Fremdheit. Die Patin erlebt ein für sie fremdes Familienmilieu, das mehrgenerationell strukturiert und durch Wertorientierungen, Einstellungen, Gewohnhei- ten, Deutungen und Erziehungsstrukturen gekennzeichnet ist, die für sie fremd und be- drohlich sind und von ihr der Unterschicht zugeschrieben werden.

Sowohl im Fall Wera als auch im Fall Jana ist der familiäre Alltag durch eine der Patin unvertraute Häufung von belastenden, „krisogenen Faktoren“ (Gehrmann/Müller 1998, 56) sowie durch eingeschränkte soziale, finanzielle bzw. kulturelle Ressourcen und ein hohes Stigmatisierungspotenzial gekennzeichnet: Arbeitslosigkeit, Migrationshintergrund und das vielfach erschwerte Leben mit einem behinderten Kind kennzeichnen den Familien- alltag im Fall Wera, eine unzuverlässig gestaltete Mutter-Kind-Beziehung, Generationen- konflikte, häusliche Beengtheit und Anregungsarmut, ein rigider, autoritärer Erziehungsstil sowie elterliche Drogenabhängigkeit und Alkoholismus den Fall Jana.

Diese vielfältigen Fremdheiten irritieren und verunsichern die Patinnen um so mehr, da in den Patenschaftsbeziehungen, insbesondere in den Fällen Wera und Jana, die Ge- meinsamkeiten einer Sozialisationsgeschichte, eines Milieus oder einer „sozialen Lage- rung“ (Bohnsack/Nohl 2001, 16) nicht bzw. nur bedingt geteilt werden können.

In zwei der drei Fälle wird auch Kindheit im Vergleich als fremd erlebt. Wera ist irritiert durch die geringe Selbstständigkeit ihres Patenkindes, nur schwer nach- zuvollziehen ist für sie aber auch, Kindheit ohne Freundschaft zu beobachten. In Janas Fall reagiert die Patin erstaunt auf die Selbstständigkeit des Kindes und die kindliche Selbstdarstellungssicherheit in der Begegnung mit fremden Erwachsenen. Irritiert ist sie aber durch die Erfahrung, dass Tiere für Kinder wichtige Begleit- und Vertrauensfunktion übernehmen können.

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In jeder Patenschaft finden sich Prozesse des identifizierenden Erkennens, die die An-

näherung in der Fremdbegegnung mit dem Kind erleichtern: Bianca fühlt sich durch die kindliche Schüchternheit und durch die miterlebte Angst vor dem Fremden zurückerinnert an die eigene Kindheit und erfasst diese damalige Angst für sich noch gegenwärtig aktu- ell. Auch Jana erkennt sich in der schüchternen Grundhaltung ihres Patenkindes wieder, ebenso wie in dessen Bemühen um (groß)väterliche Zuwendung und Anerkennung. Auch in ihrem Fall findet eine Aktualisierung und Übertragung auf die Gegenwart statt: ihr eige- ner Vater-Tochter-Konflikt wird im Rahmen der Patenschaft durch die Auseinanderset- zung mit Sandras Großvater aktualisiert. Im Gegensatz dazu findet im Fall Wera das iden- tifizierende Erkennen über erinnerte Kinderlieder statt, es kommt jedoch zu keiner Kon- fliktsituation. Dass sich Wera kaum an die eigene Kindheit erinnert fühlt, begründet sich u.a. darin, dass die vorhandenen Differenzerfahrungen durch die Behinderungsthematik massiv überlagert und diese als dominante und unveränderbare Fremdheit erlebt wird.

Diese Erfahrung des identifizierenden Erkennens, die an Intensität gewinnt, wenn in ihr aktuelle und erinnerte Anteile zusammentreffen, kann sich förderlich auf das Gelingen zwischenmenschlicher Dialoge auswirken und Verstehen anregen. Denn indem sich die Patinnen an die eigene Kindheit erinnern, können sie sich leichter in ihre Patenkinder ein- fühlen, d.h. sich in deren Lage hineindenken, deren Perspektiven übernehmen, ihre in- dividuellen Bedeutungen erfassen und sich ihnen so verstehend annähern.

Die drei Fälle belegen: So unterschiedlich die Intentionen der Patinnen sind, sich mit Fremdheit zu konfrontieren, so unterschiedlich sind ihre individuellen Deutungen des Fremden.

Auf Bianca übt das Fremde und Unvertraute eine große Faszination und Anziehungs- kraft aus. Mit dem Ziel, anderen zu helfen, sich in der Arbeit selbst zu verwirklichen und sich in der Fremde neu zu erfahren und wiederzufinden, wird Fremdheit sowohl als Er- gänzung und Bereicherung wahrgenommen wie auch als Resonanzboden des Eigenen genutzt. Es geht in diesem Fall also um ein Zusammenspiel von Aneignung und Selbst- veränderung. Fremdes wird vorwiegend in seinem Nutzwert und nicht in seinem Eigen- sinn wahrgenommen. Dass Bianca dabei das Fremde in den Dienst für das Eigene nimmt und so auch eine Form von Enteignung stattfindet, die im Kontext der Ausbildungssitua- tion jedoch durchaus legitimiert werden kann, wird ihr nicht bewusst. Im Gegensatz dazu wird Fremdheit im Fall Wera im Modus des Gegenbildes wahrgenommen. Das anfangs positive Bild des Anderen wandelt sich im Laufe der Zeit. Sowohl in der Beziehung zu dem Patenkind als auch in der zu dessen Eltern erlebt die Patin das Fremde in starker Abgrenzung zum Eigenen. Die dazwischen liegende Grenzlinie ist unaufhebbar. Durch wiederholte Überforderungen, Enttäuschungen und indirekte Schuldzuweisungen baut sich in diesem Fall eine Distanz auf, die unüberbrückbar bleibt, sodass sich ein einander akzeptierender, aber distanzierter Umgang zwischen der Patin und dem Kind sowie zwi- schen ihr und Maschas Mutter einspielt. Auf dem Hintergrund wiederholter Erfahrungen der Unveränderbarkeit verhärtet sich diese Grenzlinie allmählich und im Gegensatz zu dem Fall Bianca löst das Fremde und Unvertraute bei Wera zunehmend Unverständnis, Angst und Abwehr aus. Das Fremde rückt somit als Kontrasterfahrung und Gegenbild in den Vordergrund und wird schließlich ausgeschlossen und negiert. Möglichkeiten des Kennenlernens werden damit verhindert. Als Erfahrungsmuster bleibt das Fremde letztlich unerkennbar.

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Der Fall Jana bildet im Hinblick auf die Deutungsmuster von Fremdheit eine Mischform aus den beiden anderen Fällen ab. Die Patin nimmt Fremdheit – wie im Fall Wera – im Modus des Gegenbildes, aber auch – wie im Fall Bianca – als Ergänzung wahr. In der Beziehung zum Kind kann sie Fremdheit dagegen ansatzweise komplementär wahrneh- men. Mit Blick auf ihr späteres professionelles Handeln sucht die Patin die Fremdbegeg- nung als persönliche Herausforderung. Wie Bianca sieht auch sie in der Fremdheit eine Chance auf Erweiterung: zum einen fokussiert sie die Selbstentwicklung und Selbstüber- prüfung, zum anderen das Kind, das sie in seiner Andersheit verstehen und stärken möchte. In der Beziehung zu Sandras Großvater erfährt die Patin das Fremde als das Fremdartige. Wie im Fall Wera wird Fremdheit im Gegensatz zum Eigenen und Normalen als unpassend oder auch ungehörig verstanden. Da von dem Fremden eine massive Be- drohung ausgeht, die die Patin in ihren eigenen Norm- und Wertmaßstäben irritiert, muss es von ihr ferngehalten, außerhalb des eigenen Sinnhorizontes angesiedelt und abge- wehrt werden. Doch der Fall Jana zeigt auch Ansätze, Fremdheit als Komplementarität wahrzunehmen. In der Beziehung zum Kind kann die Patin das Fremde in seiner Beson- derheit belassen. Es wird als das Unbekannte erfahren, das zwar außerhalb des Vertrau- ten liegt, aber erreichbar ist und durch Kennenlernen zum Bekannten werden kann. In dieser Konzeption komplementärer Ordnung spielen Eigenheit und Fremdheit einander wechselseitig kontrastierend zusammen. Eigenes und Fremdes behalten jeweils den Ei- gensinn, ergänzen oder widersprechen sich, oder sie stehen in Spannung zueinander, was sich in dem Versteckspiel sinnfällig abbildet.

2.2.4 Vermittlungsleistungen

Der Umgang mit Differenzen und Fremdheiten und die Bewältigung von Rollenkonflikten verlangen von den Patinnen vielfältige Vermittlungsleistungen. Das vermittelnde Handeln ist – wie die Analyse der Fälle zeigt – hoch komplex und wird in unterschiedlicher Weise erforderlich. Dabei geht es sowohl um die Vermittlung von Inhalten, Wissen, Sichtweisen oder Standpunkten als auch um die beziehungskonstituierende Vermittlung zwischen Menschen. Diese unterschiedlichen Typen der „Vermittlung von“ und der „Vermittlung zwischen“ (vgl. Combe/Helsper 2002) sind in jeder der drei Patenschaften zu beobachten. Die situative Notwendigkeit für vermittelndes Handeln, die Art und Weise, wie diese Ver- mittlungsprozesse stattfinden, d.h. wer wem wann und mit welcher Zielsetzung vermit- telnd begegnet, aber auch die Bedingungen, unter welchen diese Vermittlungen stattfin- den, sodass sie erfolgreich verlaufen können oder aber erschwert werden, gestalten sich jedoch fallspezifisch unterschiedlich.

Im Fall Wera geht es hauptsächlich um die Vermittlung von Wissen, Strategien und Angeboten, aber auch um das Vermitteln von Haltungen, Erwartungen und Routinen. Die Vermittlungen finden vorwiegend linear und eindimensional statt, d.h. sie sind auf das Mit- teilen, Erklären und Demonstrieren angelegt. Wechselseitigkeit kommt kaum zustande. Beziehungskonstruierendes Vermittlungshandeln als Ko-Konstruktion gelingt nicht.

Im Gegensatz dazu finden die Vermittlungen in den Fällen Bianca und Jana dialogisch und wechselseitig statt. Vermittelt wird zwischen Generationen, kulturellen Welten und Mi- lieus. Im Fall Bianca wird Vermittlung als Ausgleich und Austausch angelegt. Vermittlun- gen finden hier interaktiv und dialogisch statt. Im Fall Jana geht es dagegen um Vermitt- lungen als ein Eröffnen und Erweitern von Perspektiven und Sichtweisen und als ein Mit-

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teilen von Erkenntnissen. In dem reaktivierten Vater-Tochter-Konflikt zeigt sich die Not- wendigkeit zum Vermitteln als Aushandeln von Positionen mit dem Ziel, (groß-)väterliche Anerkennung und Akzeptanz zu bewirken, die von Jana jedoch nicht erreicht wird. In der Beziehung zwischen Jana und dem Patenkind dagegen gelingt ein auf Wechselseitigkeit beruhendes Vermittlungshandeln auf Anhieb. In diesem Fall wird, wie erwähnt, der zent- rale Stellenwert des Spiels als Raum für gelingende Vermittlungsprozesse deutlich.

Ähnliche Handlungsspielräume bieten sich im Fall Bianca im Rahmen der Feste und in den gemeinsamen Unternehmungen. Im Fall Wera dagegen sind die gemeinsamen Un- ternehmungen und die Öffentlichkeit als Vermittlungsraum weniger mit Chancen und Mög- lichkeiten als vielmehr mit belastenden Begrenzungen verbunden.

In allen drei Patenschaften sind unterstützende mütterliche Vermittlungsleistungen zu beobachten. Maschas Mutter vermittelt Strategien und Routinen für den Umgang mit ihrer behinderten Tochter, Eilas Mutter vermittelt ausgleichend die Nähe, die ihre Tochter der Patin verwehrt. Neben diesen Vermittlungsleistungen, die auf die Unterstützung der be- ginnenden Patenschaftsbeziehung ausgerichtet sind, teilen beide Mütter aber den Patin- nen auch ihren eigenen Unterstützungs- bzw. Entlastungsbedarf mit. Auch Sandras Mut- ter wendet sich der Patin Jana zu und sucht in ihr eine quasi therapeutische Ansprech- partnerin, die ihr zuhört und sich ihrer Sorgen annimmt. Sowohl im Fall Wera als auch im Fall Jana wird deutlich, dass die unausgesprochenen, indirekten Vermittlungsanteile auch eine zusätzliche Anforderung für die Patinnen darstellen.

Im Fall Wera erweist sich diese Anforderung als Überforderung, die tiefe Enttäuschung auslöst. Der Fall Jana dagegen zeigt, dass mütterliche Erwartungen zwar vermittelt und von der Patin auch wahrgenommen werden, durch Distanz und seltene Kontakte aber nicht zwangsläufig in Zugzwang bringen müssen. Lediglich im Fall Bianca wirken die müt- terlichen Vermittlungen unterstützend, zum einen, weil sie nicht hierarchisch angelegt sind und zum anderen, weil sie den jeweiligen Bedarf treffen.

Sowohl in Biancas als auch in Janas Patenschaft werden die Patinnen auch durch klä- rende, beziehungsstiftende und stabilisierende Vermittlungsleistungen Externer unter- stützt. Die vermittelnden Personen erscheinen aus unterschiedlichen Gründen vertrau- ensvoll und unterstützen die Verständigung maßgeblich: entweder weil sie der gleichen Generation angehören, die gleiche Sprache sprechen, durch ihre Profession als Autorität anerkannt werden oder weil sie an zurückliegende, gemeinsame Erfahrungen anknüpfen können. Diese Vermittlungsleistungen durch Externe sind von beiden Patinnen gesuchte oder erbetene Unterstützungsmaßnahmen. Sie gelingen, weil die vermittelnden Personen durch Wissen, Kenntnisse, Vorerfahrungen und Kompetenzen eine Nähe zu beiden Sei- ten aufbauen können und von diesen akzeptiert und angenommen werden. Derartige un- terstützende Vermittlungsleistungen Externer kommen im Fall Wera nicht zustande. Für das insgesamt erschwerte Vermittlungshandeln wäre dies aber möglicherweise hilfreich gewesen und hätte u.U. zur Entlastung, Perspektivenerweiterung und zur Stabilisierung beitragen können.

Die rekonstruierten Fälle verdeutlichen, dass gelingende Vermittlungsleistungen von unterschiedlichen Faktoren abhängig sind. Sie sind auf eine gemeinsame Sprache ange- wiesen und erfordern eine um Verstehen bemühte Haltung. Diese verstehenwollende Ein- stellung bedarf einer fragenden Grundhaltung und einer Bereitschaft, auch die eigene Person infrage stellen zu lassen. Ist diese Grundhaltung unzureichend entfaltet, kann

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Vermittlungshandeln – wie es besonders im Fall Wera deutlicht wird – massiv erschwert sein. Beziehungskonstituierende Vermittlungsprozesse gelingen, wenn sie auf Ko-Konstruk- tion angelegt sind und die Kommunikationspartner die Rolle der Ko-Konstrukteure über- nehmen (können), denn der je eigene Blick, die Beobachtungen und Deutungen müssen miteinander im Dialog abgeglichen werden. Vermittlung ist kein Machtspiel, das auf Gewin- nen oder Verlieren angelegt ist, auch wenn externe Vermittler hinzugezogen werden.

Ko-konstruktive Vermittlungsprozesse halten, wie die Fälle zeigen, überraschende Momente bereit, in denen sich die Studentinnen mit ihren Patenkindern oder mit deren El- tern im Unerwarteten verbunden fühlen.

Bianca erlebt die unmittelbare emotionale und körperliche Zuwendung von Eila nach der gemeinsamen Autofahrt, Wera ist überrascht, dass Mascha doch nicht alles vergisst und durchaus eigene Wünsche bei der Bearbeitung der Gipsmaske äußern kann, und Ja- na ist erstaunt über die Selbstständig- und Widerständigkeit des Patenkindes, aber auch über das veränderte Verhalten des Großvaters ihr gegenüber nach dem Krisengespräch.

Diese Momente des Ungeahnten und Augenblicklichen können ko-konstruktive Pro- zesse einleiten, sie können intergenerationelle und interkulturelle Differenzen überwinden helfen und Fremdes positiv erleben lassen. Entscheidend ist die Bereitschaft, sich überra- schen zu lassen. Trotz oder vielleicht auch gerade wegen des erschwerten Vermittlungs- handelns sind diese Momente in Weras Patenschaft besondere Ereignisse, in welchen sich Wera nicht nur an, sondern auch mit Mascha freuen und mit ihr gemeinsam lachen kann, deren Lebendigkeit und Stärken erkennt und sich ihr nah und verbunden fühlt. Im Erstaunen kann Wera offen sein für das Unscheinbare, kann Besonderheit positiv wahr- nehmen und der Andersheit mit Anerkennung begegnen.

Wichtig ist aber auch, das eigene Handeln in seinem offenen Ausgang als Überra- schungsquelle und damit als Potenzial für sich eröffnende gemeinsame Handlungsräume anzusehen. Im Fall Wera wird deutlich, dass die Patin Situationen, die nicht ihren eigenen Planungen entsprechend, sondern überraschend anders verlaufen und damit nicht zum assoziierten und vorhergesagten Erfolg führen, ja sogar mit Pannen einhergehen, noch nicht als Überraschung interpretieren und mit Humor nehmen kann. Statt diese Situation zu öffnen und positiv zu wenden, deutet die Patin sie als Scheitern. Dass Mascha in die- sen Situationen freudig und erheitert reagiert und ihr so möglicherweise Leichtigkeit, Er- heiterung und damit positive Widerstandskraft vermitteln möchte, kann Wera noch nicht entschlüsseln. Da sie Pannen und Misserfolge weder als Ausgangspunkt des gemeinsa- men situativen Erlebens noch als Aufforderung und Herausforderung für eine gemein- same veränderte Wiederholung annehmen kann, verschließt sie selbst den sich gerade eröffnenden Möglichkeitsraum des gemeinsamen Ausprobierens und Experimentierens.

2.2.5 Antinomie-Erfahrungen

In allen drei Fällen werden die Patinnen mit widersprüchlichen Anforderungen konfrontiert, die für das pädagogische Handlungsfeld generell kennzeichnend sind. Jeder Fall zeichnet sich durch eine dominante Antinomie aus, die aber nie isoliert auftritt, sondern im engen Zusammenspiel mit anderen – auf unterschiedlichen Ebenen zu verortenden Widersprü- chen – zu beobachten ist.

Der Fall Bianca wird besonders durch Aushandlungsprozesse im spannungsvollen Wechselspiel von Nähe und Distanz bestimmt. Diese antinomische Spannung lässt sich

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auf der Beziehungsebene als Nähe- und Vertrauensantinomie insbesondere in der Bezie- hung zwischen Patin und Patenkind ansiedeln. Im Gegensatz dazu thematisiert der Fall Wera eindrücklich die Spannung von Autonomie und Heteronomie, die auf der Hand- lungsebene zu verorten ist. Sowohl die Patin als auch das Patenkind erleben sich in ihrem um Autonomie bestrebten Handeln durch Fremdbestimmungen beengt und einge- schränkt. Und im Fall Jana zeigt sich als dominante Spannung der Widerspruch von Of- fenheit und Verschlossenheit, in dem sich das Familiensystem der Patin gegenüber prä- sentiert. Auf der Handlungsebene ist sowohl für die Patin als auch für das Patenkind in der Beziehung zum Großvater der Balanceakt zwischen anpassenden und widerständi- gen Reaktionen notwendig. Wie im Fall Wera zeichnet sich die Patenschaft zudem durch die Symmetrieantinomie auf der Beziehungsebene aus, denn das Bemühen der Patin, in der Beziehung zum Großvater symmetrische Verhältnisse herzustellen, ist, wie bereits angeführt, auf vermittelnde Unterstützungsmaßnahmen angewiesen.

Alle drei Patinnen reagieren auf die Spannungen irritiert und verunsichert. Jede von ih- nen versucht, sich zunächst angepasst zu verhalten, die Lösungsversuche aber fallen un- terschiedlich aus. In zwei der drei Fälle müssen die Patinnen mit Enttäuschungen umgehen.

Bianca reagiert permissiv und nutzt die sich ihr bietende Chance der Kompensation, indem sie Momente des Scheiterns als Selbsterfahrungen verbucht. Wera lässt sich da- gegen durch die Enttäuschung herausfordern. Immer wieder sucht sie nach möglichen Erklärungsansätzen und fühlt sich zu neuen Handlungsmustern aufgefordert, muss aber wiederholt erleben, dass sie die antinomischen Strukturen nicht auflösen kann. Auch im Fall Jana versucht die Patin zunächst, die Spannungen auszuhalten. Im Gegensatz zu der Patin Wera werden in diesem Fall jedoch unterschiedliche Umgangsstrategien deutlich. Die Patin versucht auf der Handlungsebene für den Ausgleich der Spannungen Spiel- räume zu nutzen, indem sie Kompromisse eingeht und diese auch dem Kind gegenüber transparent macht. Sie bringt ihre Erwartungen zum Ausdruck, formuliert Forderungen und holt schließlich Hilfe und Unterstützung, indem sie auf die vernetzten Projektstruktu- ren zurückgreift. Im Gegensatz zu den Fällen Wera und Jana reflektiert sie die Spannun- gen auf den unterschiedlichen Ebenen und bezieht dabei selbstkritisch das eigene Ver- halten in die Reflexionen ein. Die das System kennzeichnenden Widersprüche werden je- doch nicht im Kontext der eigenen Normen und Werte reflektiert. Erst aus der Sicherheit der Distanz kann Jana rückblickend eigene Fehleinschätzungen und Scheitern eingestehen.

2.3 Reflexive Erfahrungsbearbeitung im Fallvergleich

Alle drei Patinnen zeigen ihre Bereitschaft, offen und unvoreingenommen von ihren Erfah- rungen während der Projektmitarbeit, von ihren Einstellungen und Überzeugungen zu be- richten und die zurückliegenden Erfahrungen aus der Distanz erneut zu betrachten. Jede von ihnen nutzt damit die Interviewsituation zur Reflexion im Sinne einer fremd- und selbstbezogenen Vergegenwärtigung und Rekonstruktion der eigenen Erfahrungen.

Ausgangspunkt für Reflexionsprozesse sind in jeder Geschichte die persönlichen Zwei- fel und Irritationen. Meist stehen sie im Zusammenhang mit unbeantwortet gebliebenen Fragen und mit Gefühlen zurückgebliebener Enttäuschungen oder mit dem erinnerten Verhalten in Situationen, die durch Ungewissheit oder Widersprüchlichkeit gekennzeich- net sind und als Überforderung oder besondere Herausforderung empfunden werden.

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Immer geht es auch um die Frage nach der Richtigkeit bzw. Angemessenheit der eigenen Entscheidungen. Dementsprechend übernimmt die Reflexion die Funktion der Verarbei- tung und Stabilisierung durch Entlastung einerseits und durch Erkenntnisgewinn anderer- seits und dient damit auch der Bildung und Aufrechterhaltung von Identität.

In zwei der drei Fälle werden vorwiegend die Kinder in ihrem individuellen Verhalten und die familiären Strukturen mit den spezifisch gestalteten Eltern-Kind-Beziehungen und dem elterlichen Förder- bzw. Erziehungsverhalten reflexiv betrachtet. Nur im Fall Bianca steht die eigene Person der Patin in der aktuellen und durch Veränderungen geprägten Lebenssituation vorrangig im Zentrum der Reflexion.

Voraussetzung für Reflexivität ist aber nicht nur die Bereitschaft, offen über die eigenen Zweifeln und Irritationen nachzudenken, Reflektieren erfordert auch eine fragende Grund- haltung. In allen drei Fällen fließen fragend formulierte Ausführungen in das Interview ein und bilden den Anlass zum Nachdenken. Die von den Patinnen formulierten Fragen treten unterschiedlich gehäuft auf und werden auch unterschiedlich bearbeitet.

Während die Patin Bianca hauptsächlich nach dem angemessenen Verhalten Kindern gegenüber, nach der Beziehungsgestaltung und nach Möglichkeiten der Sprachförderung unter Berücksichtigung des Migrationshintergrundes fragt, beschäftigt sich Jana haupt- sächlich mit der Frage, ob Kinder, die in belasteten Verhältnissen aufwachsen, zu ihrem Wohl nicht besser aus den Familien herausgenommen werden sollten. Der Fall Wera zeichnet sich durch vergleichsweise viele fragende Ausführungen aus. Die Fragen der Pa- tin beziehen sich auf die Ergründung des kindlichen Verhaltens, auf die vorliegende Kör- perbehinderung in Abgrenzung zu einer möglichen geistigen Behinderung und auf die Perspektive der Fortführung schulischer Integration. Ihre Fragen bleiben jedoch meistens unbeantwortet und so greift die Patin wiederholt zu eigenen Deutungs- und Erklärungsan- sätzen, um die beobachteten Sachverhalte zu verstehen. Da sie aber auf diese Verste- hensversuche innerhalb der Patenschaft keine Resonanz erhält, bleibt sie in einer unbe- friedigenden und enttäuschenden Ungewissheit gefangen.

Sich fragend zu verhalten, wird im Rahmen der Projektmitarbeit im Spannungsfeld zwi- schen Intimität und Öffentlichkeit, zwischen Diskretion und Indiskretion und zwischen Be- fangenheit und Unbefangenheit erlebt. Fragen zu stellen, erfordert ein sensibles Handeln und kann – wie Wera befürchtet – als indiskretes Neugierverhalten ausgelegt werden. Die Grenzen des privaten Bereichs müssen erkundet und akzeptiert, sie können aber auch leicht überschritten werden. Fragen zu stellen, kann aber auch, wie es im Fall Jana in der Beziehung zum Patenkind erlebt wird, eine selbstverständliche Grundhaltung sein, die im Idealfall auf Offenheit und Vertrauen basiert, sodass keine Tabus befürchtet werden müs- sen und die eigenen Hemmungen überwunden werden können. Im Gegensatz zu diesen beiden Fällen ist im Fall Bianca eine Fragehaltung zu erkennen, die sich vorwiegend auf die eigene Person bezieht. Anderen Menschen gegenüber nimmt die Patin eine sehr zu- gewandte und unterstützende, aber wenig fragende Haltung ein. Dies ist auch im Zu- sammenhang mit den Wahrnehmungsperspektiven im individuellen Reflexionsfokus zu sehen, der wiederum entscheidend durch die jeweils aktuelle Lebenssituation gefärbt wird.

Um persönliche Fragen stellen zu können, ist eine angemessene und auf Vertrauen und Akzeptanz basierende Kommunikationssituation erforderlich, die jeweils aufgebaut und situationsspezifisch gestaltet werden muss. Wichtig ist dabei auch, als fragende Per- son die eigenen Grenzen und Befürchtungen zu thematisieren, was der Patin Wera, wie

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sie selbst erkennt, schwer fällt. Entscheidend ist damit eine fragende Grundhaltung, die über das bloße Stellen von Fragen im Sinne des Ab- oder des von Wera befürchteten Ausfragens hinausgeht.

Insbesondere die Fälle Wera und Bianca verweisen auf ein immanentes Frageverhal- ten. Um Antworten auf ihre Fragen zu erhalten, nutzen sie Begegnungen, die sie entwe- der selbst gezielt organisiert haben, wie z.B. die Hospitation in der Schule im Fall Wera, oder sie nehmen sich ihnen bietende Gelegenheiten im Alltag des Patenkindes wahr, wie z.B. die Besuche bei den Therapeuten im Fall Wera oder die Teilnahme an dem türki- schen Bazar und den unterschiedlichen Festen im Fall Bianca. Im Rahmen dieser Begeg- nungen ergeben sich Gespräche, in welchen die Patinnen auch ihre Fragen einbetten können. Um Antworten und zusätzliche Informationen zu erhalten, „sammelt“ Wera das Expertenwissen und nimmt es als Grundlage für ihre eigenen Erklärungsansätze.

In zwei Fällen bilden die im Rahmen der Patenschaften aufkommenden Fragen den Ausgangspunkt für eine weiterführende, vertiefende theoretische Auseinandersetzung mit der fallspezifischen Thematik: Bianca setzt sich mit den Themen „Zweisprachigkeit“ und „sprachkulturelle Vielfalt“ auseinander und plant ihre erste große Seminar-Hausarbeit da- zu. Wera erstellt zum Thema Integration ihre wissenschaftliche Hausarbeit als Exa- mensarbeit. In den Interviews wird in unterschiedlicher Weise Bezug auf das individuell erarbeitete theoretische Faktenwissen genommen.

Obwohl sich Wera im Rahmen ihrer Examensarbeit, deren Abschluss zum Zeitpunkt des Interviews ein Jahr zurück liegt, intensiv mit der Integrationsthematik auseinanderge- setzt hat, sie darin die Problematik der Arbeit mit einem Kind mit einer spezifischen Be- hinderung umfassend entfaltet, sich mit Integrations- und Sonderpädagogik und den spe- ziell in Hessen geltenden administrativen Bestimmungen beschäftigt und auch pädagogi- sche Konzepte vor diesem Hintergrund in den Blick genommen hat, kommen theoretische Anschlüsse in ihren Ausführungen im Interview nicht vor. Zwar betont sie die von ihr als vorteilhaft erfahrene Verbindung von Theorie und Praxis während des Projektjahres, sie fundiert aber ihre umfassenden Praxiserfahrungen und die miterlebten, oft nicht behin- dertengerechten gesellschaftlichen Bedingungen im Leben mit einem körperbehinderten Kind kaum theoretisch. Es scheint ihr leichter zu fallen, erarbeitete Theorie mit selbster- lebten Praxisbezügen zu „bebildern“, als die eigenen Praxiserfahrungen mit theoretischen Bezügen wissenschaftlich zu „sättigen“.

Als ein für sie persönlich bedeutsames Leitmotiv nennt Wera den von ihr Hans Eber- wein zugeschriebenen Anspruch „es ist normal, verschieden zu sein“, d.h. also auch Be- hinderung als Bestandteil der möglichen Vielfalt von Normalität anzuerkennen und im All- tag umzusetzen. Dieses Leitmotiv reflektiert sie aber weder auf seine moralische Implika- tion hin, noch auf die gesellschaftliche Realität, in der sie in vielfältigen Situationen Aus- grenzung und Chancenungleichheit erfahren und erlebt hat. Eine kritisch reflexive vertie- fende Auseinandersetzung mit der Frage nach der Normalität von Behinderung findet so- mit nicht statt.

Im Fall Bianca treten dagegen theoretische Bezüge häufiger auf. Wiederholt werden die Arbeiten von Thomas Gordon (1994) als für sie persönlich bedeutsam und als „Chance“ und „Handwerkszeug“ für pädagogisches Handeln auf der Beziehungsebene betont. The- oretische Bezüge werden insbesondere im Kontext der Themen der individuellen Sprach- förderung unter Berücksichtigung von Kulturalität und Zweisprachigkeit hergestellt und in

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diesem Zusammenhang auch auf die PISA-Studie verwiesen. Dennoch fallen diese theo- retischen Anschlüsse zumeist nur angedeutet aus und werden, mit Ausnahme der didak- tischen Überlegungen zum Erstlesen und -schreiben, weder inhaltlich detaillierend ausge- führt noch vertiefend reflexiv betrachtet. Die Patin Jana erwähnt als für sie wichtige Litera- tur die Ausführungen von Hansjörg Kautter (1998) mit dem Titel „Das Thema des Kindes erkennen“, ohne sie aber inhaltlich auszuführen oder auf sie kritisch reflexiv einzugehen.

Im Gegensatz zu den theoretischen Bezügen, die, wie aufgezeigt, nur stark verkürzt ausfallen, ist der Bezug zum späteren Handlungsfeld Schule in den Interviews bemer- kenswert ausgeprägt. Insbesondere in den Fällen Wera und Bianca werden didaktische Reflexionen artikuliert. Diese beziehen sich auf die Gestaltung kindlicher Lernprozesse, auf Lernumgebungen, die Planung und Umsetzung individueller Förderung, und zwar so- wohl im Rückblick auf die Patenschaftstreffen als auch im Ausblick auf das spätere Hand- lungsfeld Schule. Dies kann als Verweis dafür angesehen werden, dass die Patinnen als angehende Lehrerinnen pädagogisches Vermittlungshandeln in ihrer Ausbildung sehr be- wusst einüben wollen.

Der Fall Wera belegt, dass die Planung der gemeinsamen Zeit mit dem Patenkind wäh- rend der Patenschaftstreffen methodische und didaktische Überlegungen erfordert, die die Patin mit dem schulischen Alltag vergleicht. Die Patin greift Erfahrungen aus ihren bishe- rigen Praktika auf und nutzt sie für die Planung der Treffen, ohne aber ihr planerisches Vorgehen im Sinne einer allumfassenden Machbarkeit infrage zu stellen. Auf der Grund- lage ihrer theoretischen Auseinandersetzung mit dem Thema Integration sieht sie rückbli- ckend ihre Vorstellungen von der Umsetzung integrativer Beschulungsmaßnahmen selbstkritisch und ernüchtert. In Desillusionierung verhaftet, gelingt es ihr dabei nicht, ihre Enttäuschung als Antrieb für eigene Visionen oder persönliche Zielsetzungen mit Blick auf ihr zukünftiges Handeln als Lehrerin in und mit solchen Herausforderungen zu entwickeln.

Auch im Fall Jana wird der Bezug auf das spätere Handlungsfeld Schule deutlich und dafür das Themenfeld „Elternarbeit“ als eines der zentralen Themen für professionelles Handeln hervorgehoben. Kritisch merkt die Patin mit Bezug auf die universitäre Lehrerbil- dung die zu dieser Thematik kaum vorhandenen Lehrangebote an.

Alle drei Patinnen sehen auf der Grundlage ihrer Projekterfahrungen die Notwendigkeit der individuellen Förderung und betonen, dass sie ihre Vorstellungen von der Heteroge- nität ihrer späteren Lerngruppen konkretisieren konnten.

Die Erfahrungen mit der supervisorischen Begleitung werden in allen drei Fällen positiv bewertet. Die Supervision ermöglicht – wie Wera es ausdrückt – neue Einblicke, konfron- tiert mit bisher unbekannten und unbewussten Zusammenhängen und unterstützt die In- tensivierung der reflexiven Auseinandersetzung durch den auf tiefer gehende Analyse ausgerichteten Dialog mit den anderen Patinnen. Erfahrungen in diesem Rahmen ge- meinsam teilen zu können, wird von allen drei Patinnen als Entlastung und Vorteil für das gegenseitige Verstehen dargestellt. Das supervisorische Unterstützungspotenzial wird sowohl auf den Umgang mit dem Anderen, dem Fremden und auf das Unverständliche perspektiviert als auch auf das eigene Erleben und Handeln als Patin. Die supervisorische Begleitung hilft aus Weras Sicht, das Patenkind in seinen spezifischen Eigenarten zu ver- stehen. Als eine entscheidende Erfahrung wird die Unterstützung des situationsgebunde- nen Nachspürens der eigenen emotionalen Beteiligung hervorgehoben. Von der Patin Ja- na wird im Hinblick auf professionelles Handeln die Notwendigkeit erkannt, sich den ei-

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genen Gefühlen zu stellen und diese zulassen zu dürfen. Dabei wird auch betont, wie wichtig es ist, sich der eigenen Vorurteile und „Konzepte im Kopf“ (Bianca) bewusst zu werden. Die durch die Supervision erreichte Mehrperspektivität wird sowohl reflexiv ange- sprochen (Jana), sie zeigt sich aber auch insbesondere in Weras bereits aufgezeigtem Versuch, möglichst unterschiedliche Deutungen als Erklärungsansätze zu formulieren. Im Gegensatz zu den Fällen Wera und Jana steht die Supervision im Fall Bianca vorrangig im therapeutischen Dienst der Selbsterkennung und zur Bearbeitung bisheriger und zur Begleitung aktuell neuer Erfahrungen.

In allen drei Fällen scheint die für die Selbstreflexion erforderliche Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie auf.

Wera erkennt im Vergleich der Kindheiten, wie „behütet“ (N 214) sie selbst aufgewach- sen ist und dass viele Kinder in nicht so gesicherten Verhältnisse groß werden. Sie er- wähnt ihren ursprünglichen Berufswunsch der Logopädin und erkennt die eigene Emp- findsamkeit insbesondere in Situationen, die durch Unmittelbarkeit, Intimität und Hilfsbe- dürftigkeit geprägt sind. Jana sieht in der Beziehung ihres Patenkindes zu dessen Groß- vater die eigene Vater-Tochter-Problematik reaktiviert und erinnert das eigene Bemühen um väterliche Anerkennung, das sie als noch immer aktuell erfährt. Und Bianca erinnert die bei ihrem Patenkind beobachtete Angst, aus dem Haus in die Fremde zu gehen, als eigene Kinderangst, die sie in ihrer derzeitigen Lebenssituation als noch aktuell gültig und als ein mögliches generelles Lebensmuster für sich erkennt.

Bemerkenswert ist der unterschiedlich ausgerichtete „Reflexionsfokus“ (Tiefel 2004, 248). Die Patinnen perspektivieren ihre Wahrnehmungen fallspezifisch unterschiedlich: Bianca kombiniert den Selbst- und den Nahbereich mit dem der Institution, Jana fokus- siert ebenso wie Bianca den Selbst- und den Nahbereich, jedoch in Kombination mit dem gesellschaftlichen Bereich und Wera kombiniert im Reflexionsfokus den Nahbereich mit dem institutionellen und gesellschaftlichen Bereich.

Die reflexiven Anteile beziehen sich in allen drei Fällen – mehr oder weniger ausge- prägt – sowohl auf die eigene Person als auch auf dargestellte Inhalte, wobei dies nur im Fall Jana zu annähernd gleichen Teilen erfolgt. Daher kann bei diesem Fall von einer sich anbahnenden Ausgewogenheit der zweiseitigen Reflexivität im Sinne einer „bifokalen Aufmerksamkeit“ (Zwiebel 2006, 47) gesprochen werden. In den beiden anderen Fällen dominiert jeweils eine Perspektive: Im Fall Wera beziehen sich die reflexiven Anteile vor- wiegend auf die different erlebten und zumeist ungeklärt gebliebenen Situationen, wäh- rend die reflexive Bearbeitung der eigenen Person in Ansätzen verhaftet und damit ober- flächlich bleibt. Die Patin versucht, die selbstkritische und vertiefende selbstreflexive Be- trachtung in der Befürchtung zu vermeiden, das eigene Scheitern eingestehen zu müs- sen, das sie noch nicht als einen unumgänglichen Bestandteil professionellen Handelns anerkennt. Stattdessen versucht sie, ihre eigenen Erklärungsansätze durch die Meinun- gen und Ansichten und ihr gesammeltes Expertenwissen durch Erfahrungen und das Wissen anderer zu bestätigen. Dabei übernimmt sie unbewusst deren Wertmaßstäbe, Auffassungen und Ansprüche, ohne sie kritisch zu hinterfragen, aber auch ohne ihr eige- nes introjizierendes Verhalten in den Blick zu nehmen. Sich selbst entlastend sucht sie al- ternativ die Gründe für nicht gelingendes oder anders als gedacht, erhofft oder geplant verlaufendes Handlungsgeschehen bei den anderen beteiligten Personen oder den un- veränderbaren systemischen oder situativen Bedingungen.

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Im Fall Bianca dagegen beziehen sich die reflexiven Anteile vorwiegend auf die eigene Person. Die Situation der in ihrer Geschichte mitspielenden Protagonisten wird vergleichs- weise wenig in den Blick genommen.

Eine „multiple Bifokalität“ (ebd.), in der unterschiedliche Pole der Aufmerksamkeit oszil- lieren können und die Subjekt-Objekt-Perspektive um weitere Blickwinkel wie Gegen- wart/Vergangenheit oder Innen/Außen erweitert wird, gelingt – ebenso wie die Einbezie- hung fundierter theoretischer Anschlüsse – in keinem der drei Fälle.

2.4 Lernerfahrungen und Erkenntnisse im Fallvergleich

Die Analyse der Fälle zeigt ein facettenreiches Bild von Herausforderungen, Lernerfah- rungen und Erkenntnissen. Jede der drei Patinnen setzt sich mit fallspezifischen Themen auseinander.

Im Fall Bianca sind es die Themen Übergangsbewältigung, Selbsterfahrung im Kontext der Begegnung mit faszinierender Fremdheit, Aufbau von Vertrauen und soziale Netz- werke sowie die Sprachförderung unter Berücksichtigung von Migrationshintergründen. Im Fall Wera setzt sich die Patin mit den Themen Fördern, kommunikative Grundlagen für Vermittlungshandeln, Umgang mit Behinderung und Integration auseinander. Der Fall Ja- na schließlich thematisiert das pädagogische Handeln von Lern- und Entwicklungsbe- gleitern, die mit Familien als „Multi-Problem-Milieus“ (Bender 1995) konfrontiert und für die Förderung von Resilienzfähigkeit auf gelingende Elternmitarbeit angewiesen sind.

Der Vergleich der Fälle zeigt darüber hinaus Herausforderungen, deren Bearbeitung zu unterschiedlichen Lernwegen und Erkenntnissen führt.

In allen drei Fällen wird das spannungsreiche Wechselspiel von Engagement und Dis- tanzierung angesprochen, aber nur im Fall Bianca liegt eine Passung von individueller Motivation und den spezifischen Bedürfnissen der Patin vor, die die intensive Verstrickung in das antinomische Zusammenspiel von Nähe, Distanz und Vertrauen begründet. Dies stellt für die Patin die zentrale Herausforderung dar. Im Fall Wera dagegen ist der Um- gang mit unerfüllt gebliebenen Erwartungen und wiederkehrenden Enttäuschungen die zentrale Herausforderung sowie das für das Vermittlungshandeln erforderliche kommuni- kative Verhalten. Der Umgang mit kumulierenden Belastungen und Grenzüberschreitun- gen sowie die Arbeit mit Widerständen zeigen sich im Fall Jana als zentrale Herausforde- rungen, aber auch das nachträgliche Erkennen der eigenen Fehleinschätzung.

So unterschiedlich die Herausforderungen sind, so verschieden sind die Lernwege und Erkenntnisse. In allen Fällen reflektieren die Patinnen ihren eigenen Lernprozess und bi- lanzieren wesentliche Lernerfolge.

Jana schätzt den Umgang mit Eltern bzw. mit den Erziehungsberechtigten als den zentralen Lernerfolg für sich ein sowie das erworbene Wissen um die Notwendigkeit, sich im pädagogischen Alltag kommunikativ angemessen zu verhalten, insbesondere auch bei zurückhaltenden Kindern. Ihr wird bewusst, dass Förderung die Erziehungsberechtigten einbeziehen muss und die Beziehung zu ihnen auf Vertrauen angewiesen ist. Elternarbeit aber muss gelernt werden. Unterstützende Kooperationen und die Vermittlung von außen bieten, wie sie erfährt, eine erweiterte Lernsituation für Elternarbeit. Durch die Supervision wird Jana die Bedeutung von Perspektivenvielfalt deutlich. Sich der eigenen situativ emo- tionalen Beteiligung bewusst zu werden, diese situationsgebunden nachspüren zu können

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und die eigenen Gefühle für die reflexive Bearbeitung zuzulassen und eingestehen zu können, erachtet die Patin als einen weiteren wesentlichen Lernerfolg. Selbstkritisch hält sie ihre Fehleinschätzung fest und erkennt die Schwierigkeit des Balancierens von Nähe und Distanz, was sie aber für professionelles Handeln als wichtig erachtet. Ihr wird be- wusst, dass die Nähe zum realen Feld entlastende Distanzierungen erfordert.

Wera dagegen formuliert als wesentliches Lernergebnis für sich das „Umdenken“ (789), das im Umgang mit einem körperbehinderten Kind erforderlich ist. Sie erkennt, dass sozioökonomische Faktoren das Leben und Aufwachsen der Kinder einschränken und belasten können. Bilanzierend hält sie als einen wichtigen Lernschritt fest, sich neuen und fremden Situationen und Anforderungen ausgesetzt und die neuen Anforderungen gemeistert zu haben. Selbstkritisch sieht sie ihre Schwierigkeit, gezielt nachzufragen, aus Angst, neugierig zu wirken. Im Verlauf der Patenschaft verändert sich allmählich der an- fangs defizitorientierte Blick auf das Kind – die Patin sieht mit der Zeit die Stärken des Kindes. Ernüchtert stellt sie fest, dass Fördern ein Vorhaben ohne Erfolgssicherheit ist, die eigenen Möglichkeiten und Ressourcen begrenzt sind und sie keine systemischen Veränderungen bewirken kann. Durch die wissenschaftliche Bearbeitung erkennt Wera, dass fundiertes Wissen Handlungs- und Verstehensmöglichkeiten erweitern kann.

Im Fall Bianca konnte sich die Patin nach eigenen Aussagen auf der Grundlage ihrer Projekterfahrungen u.a. der eigenen Vorurteile und „Konzepte[n] im Kopf“ (N 373) be- wusst werden und diese kritisch in den Blick nehmen. Sie erkennt, dass sie sich Neuem, Fremdem und Ungewissem gegenüber öffnen kann und beschreibt sich als „durchlässi- ger“ (N 377) geworden. Grundlegend ist in diesem Fall die Erkenntnis, dass auch die ei- gene Person in der Begegnung mit anderen Fremdheit provozieren und Abwehr auslösen kann. Einerseits konnte die Patin das eigene Anderssein im Spiegel des anderen erken- nen, andererseits erfährt sie interkulturelle Gemeinsamkeiten trotz kultureller Differenzen. Bianca konnte Netze knüpfen und erfahren, dass diese im pädagogischen Handeln der Orientierung, Entlastung und Absicherung dienen. Als einen weiteren entscheidenden Lernerfolg sieht sie ihre aufgebaute Fähigkeit, sich anregen zu lassen, bei all der Vielfalt die Orientierung nicht zu verlieren und zu wissen, dass sie sich in neuen oder schwierigen Situationen Hilfe holen kann. Individuelle und präventive Förderung, so erkennt sie, ist aufwendig und erfordert Organisationstalent, sie ist zudem auf Vertrauensaufbau ange- wiesen, der nicht durch einseitige, unmittelbare Zuwendung erreicht werden kann, son- dern auf Entwicklungsprozesse angewiesen ist. Im Hinblick auf die Gestaltung von Bezie- hungen wird der Patin bewusst, dass dafür nicht nur das Eingehen von Nähe, sondern ein Wechselspiel von Nähe und Distanz erforderlich ist. Sie erkennt, dass Nähe Kraft kostet und Distanz entlastend wirken kann.

Alle drei Patinnen erzählen von der Begrenztheit ihrer Selbstwirksamkeit und gehen entscheidende Lernschritte, um ihre Ressourcen auf den unterschiedlichen Ebenen realis- tisch einschätzen und kommunizieren zu können.

3 Differente Konzepte pädagogischer Begleitung

Die vergleichende Fallbetrachtung verdeutlicht, dass die Studierenden während ihrer Pro- jektmitarbeit die patenschaftliche Begleitung unterschiedlich entwerfen. Diese individuel- len Entwürfe werden als Konzepte bezeichnet.

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Der Begriff Konzept steht synonym für eine Anlage, einen ersten Entwurf. Da es sich um persönliche, innere, meist unreflektierte und unbewusste Anlagen handelt, wird von inneren Konzepten gesprochen. Diese speisen sich aus individuellen Vorstellungen, Auf- fassungen und Einstellungen. In der Reflexion des eigenen Lernweges spricht die Patin Bianca von den eigenen „Konzepte[n] im Kopf“ (N373), die sie im Zusammenhang mit Vorurteilen sieht, denen sie auf die Spur kommt. Konzepte stellen in diesem Sinne einen ersten Entwurf des eigenen Begleithandelns dar, der aufgrund bisheriger unmittelbarer Er- fahrungen spontan und noch unsystematisch entsteht. Sie formen sich im situativen, inter- aktionellen Geschehen handlungsleitend aus, sind aber noch nicht bewusst geplant und methodisch entwickelt, d.h. ihnen liegt eine noch nicht formulierte Idee, eine naive Theorie zugrunde, wie pädagogische Begleitung auf der konkreten Handlungsebene professionel- len Handelns umgesetzt und ausgestaltet werden kann. Von einem Konzept im Sinne ei- nes durchgearbeiteten, klar umrissenen Plans, aus dem hervorgeht, auf welchem Wege ein Vorhaben realisiert werden soll, kann aber noch keine Rede sein. Diese inneren Kon- zepte sind unmittelbar auf die konkrete Erfahrungswelt bezogen. Sie lassen Raum, um flexible Lösungswege für individuelle Fragestellungen und Vorhaben zu entwickeln und entstehen in einem allmählichen Verstehensprozess, in dem aus alten Mustern neue ent- stehen. Innere Konzepte weisen eine große Nähe zu Subjektiven Theorien82 auf. Wie die- se umfassen sie Wissensbestände, Annahmen oder Sichtweisen und beinhalten eine Mi- schung aus konkreten zurückliegenden und gegenwärtigen Erfahrungen, pädagogisch- psychologischen Alltagstheorien und professionellen Wissensbeständen. Ebenso wie Subjektive Theorien nehmen sie strukturierenden Einfluss auf die Begegnung mit Welt und sind meist implizit, d.h. es wird nicht bewusst auf sie zurückgegriffen. Ihre Ausgestal- tung erfolgt interaktiv und situativ.

Dennoch sind innere Konzepte von Subjektiven Theorien abzugrenzen. Sie sind enger gefasst und im Sinne der anglo-amerikanischen conceptual-change-Forschung „domä- nenspezifisch“ (Fussangel 2008, 79), d.h. sie sind Einheiten, die sich auf eng umschrie- bene Inhalts- bzw. Wissensbereiche beziehen. Während die Konzeptforschung haupt- sächlich naturwissenschaftliche Konzepte im Hinblick auf erforderliches Umlernen für Prozesse der Wissensveränderung betrachtet (vgl. Schnotz 2001, 75), begrenzen sich die herausgearbeiteten individuellen Konzepte in der vorliegenden Arbeit auf den Bereich der pädagogischen Begleitung.

Mehrere Konzepte können zusammengenommen als Typ im Sinne von Formen oder Figuren pädagogischer Begleitung zusammengefasst werden. Aufgrund der geringen Fall-

82 Zu diesem kognitionspsychologischen Konstrukt wurde in den 1970er Jahren von Norbert Groe- ben und Brigitte Scheele das Forschungsprogramm Subjektive Theorien (FST) gegründet. Grundannahme ist, dass „Menschen über relativ überdauernde kognitive Strukturen verfügen, in denen pädagogisches und didaktisches Wissen nicht lexikalisch oder lehrbuchartig gespeichert weist, sondern in einem situationsspezifischen und handlungsorientierten Format“ (Drechsel 2001, 52). Subjektive Theorien stellen ein Repertoire subjektiv-theoretischer Wissensbestände über sich selbst und die Umwelt dar. Diese Form professionellen Wissens reguliert das Han- deln, beeinflusst die Zielvorstellungen, Wahrnehmungen und Deutungen (vgl. Baumert/Kunter 2006, 499) und dient der Situationsdefinition, der Erklärung und Bewertung eingetretener und der Vorhersage zukünftiger Ereignisse sowie der Generierung von Handlungsentwürfen (vgl. Fussangel 2008, 70). Die Bedeutung der Subjektiven Theorien für das Lehrerhandeln wird seit- dem unter verschiedenen Perspektiven erforscht (Mandl/Huber 1983, Koch-Priewe 2000, Drechsel 2001, Dann et al. 1987, Dann 1994 u.a.).

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zahl in dieser Studie kann dieses Vorhaben jedoch nur als möglicher Ausblick für an- schließende Forschungen formuliert werden.

Wie die Fallrekonstruktionen und die vergleichende Analyse zeigen, wird pädagogische Begleitung als Beratung, als Intervention und als Beteiligung realisiert. Diese verschiede- nen Konzepte zeichnen sich durch je unterschiedliche Spannungsverhältnisse aus, die sich aus der auf die Klientel ausgerichteten Zielsetzung einerseits und der individuellen Motivation der Begleitperson andererseits ergeben. Sie sind durch folgende Pole gekenn- zeichnet:

• Fürsorge und Selbstvergewisserung, • Förderung und Qualifizierung und • Unterstützung und Entfaltung.

Je nachdem, welcher der beiden Pole sich jeweils als dominant ausweist, kann das Kon- zept vorwiegend selbst- bzw. fremdbezogen ausfallen, oder die Begleitung wird bei gelin- gender Ausbalancierung bipolar ausgerichtet. Die Ausgestaltung des jeweiligen Konzepts erweist sich in seiner zugrunde liegenden Orientierung nicht einheitlich ausgeprägt. Unter- schieden werden können – wie die Fälle zeigen – erfahrungs-, ergebnis- oder erlebnisori- entierte Konzeptualisierungen.

Es ergeben sich also folgende Konzepte pädagogischen Begleitens:

• das erfahrungsorientierte Konzept im Spannungsfeld von fürsorgender Beratung ei- nerseits und selbstvergewissernder Bestätigung andererseits (aus dem Fall Bianca)

• das ergebnisorientierte Konzept zwischen intervenierender Förderung einerseits und profilierender Qualifizierung andererseits (aus dem Fall Wera) und

• das erlebnisorientierte Konzept im Spannungsfeld des Erzieherischen zwischen be- teiligender Unterstützung und selbstständiger Entfaltung (aus dem Fall Jana).

Diese unterschiedlichen Konzepte pädagogischer Begleitung sollen im Weiteren näher aus- geführt werden.

3.1 Erfahrungsorientiertes Konzept im Spannungsfeld zwischen fürsorgender Beratung und selbstvergewissernder Bestätigung

In diesem Konzept wird pädagogische Begleitung als fürsorgende83 Beratung entworfen und der zugrunde liegenden Motivation nach erfahrungsorientiert umgesetzt. Es geht der begleitenden Person darum, präsent zu sein und anderen Menschen in schwierigen Situa- tionen beratend beizustehen.

Kennzeichnend für dieses Konzept ist eine engagierte, emotional stark beteiligte, um- fassend fürsorgende Grundhaltung der begleitenden Person. In der Begegnung mit dem Fremden wird dabei zunächst eine „diakonische Haltung“ (Sundermeier 1996, 74) einge- nommen, d.h. es geht vorrangig um das Sein für andere und weniger um das Sein mit an- deren. Diese fremdorientierte Haltung muss mit selbstbezogenen Orientierungen und dem

83 Fürsorge existiert in unterschiedlichen Lebensbereichen und kann an unterschiedliche Klientel adressiert sein, so z.B. an Kinder, Senioren, Kranke. Es geht darum, Menschen in Notsituatio- nen in unterschiedlicher Weise beizustehen bzw. Vorsorge zu treffen, dass keine noch schlech- teren Lebensumstände eintreten.

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Bedürfnis nach Selbstvergewisserung und Selbstbestätigung abgeglichen und ausbalan- ciert werden.

Die pädagogische Begleitung adressiert sich in diesem Konzept an sozial, gesundheit- lich oder finanziell schwächer gestellte Personen. Die Beziehungsstruktur ist asymmet- risch angelegt und die Machtstrukturen sind damit ungleich verteilt. Pädagogische Beglei- tung ist darauf ausgerichtet, Autonomie auszubauen, vorhandene Machtstrukturen egali- sierend zu verändern und Abhängigkeit und Fremdbestimmung zu reduzieren.

Beratung bedeutet dabei eine personenbezogene, kommunikativ handelnde Dienstleis- tung, die sich als Unterstützung im Sinne der Hilfe zur Selbsthilfe versteht, indem Informa- tionen, Deutungen, Ratschläge und Empfehlungen weitergegeben werden (vgl. Dewe 2006, 132). Ziel ist, mögliche Variationen der Problemsicht und verschiedene Handlungs- alternativen aufzuzeigen. Die beratende Zuwendung der pädagogischen Begleitung ba- siert dabei auf einem Wissensvorsprung, der sich nicht zwingend auf theoretisch fundier- tes Faktenwissen beziehen muss. Auf der Grundlage der eigenen Lebenserfahrungen verfügt die begleitende Person über ein „,erfahrungsgesättigtes‘ Wissen über die Lebens- situation spezifischer Klientengruppen und der für sie sozial typischen Problemsituationen und sozial gültigen Strategien der Problembearbeitung“ (ebd., 138). Gesucht und umgesetzt werden lebenspraktische, dialogische, intervenierende und sozial integrierende Hilfsange- bote. Dabei wird versucht, die wirtschaftlichen und psychosozialen Hindernisse abzubauen oder präventiv tätig zu werden. Entscheidend ist die transitive Form des Beratens, nach der die formulierten Rat- oder Handlungsvorschläge unverbindlicher Art sind, sodass sie von der ratsuchenden Person abgelehnt oder akzeptiert werden können (vgl. ebd., 133).

Die Art der konkret unterstützenden Hilfe bleibt als Fürsorge zunächst unspezifisch. Wie die Begleitung umgesetzt und ausgeführt wird, ergibt sich jeweils situativ. Im Vorder- grund steht die beratende Unterstützung, die zumeist nicht in professionell arrangierten Settings, sondern nebenbei im alltäglichen Miteinander stattfindet. Die persönlichen Be- lange der begleitenden Person werden dagegen zurückgestellt, u.U. bleiben sie unreflek- tiert und unbewusst, finden aber dennoch zumeist in unterschiedlichen und nicht immer direkten Äußerungen ihren Niederschlag in der Gestaltung der Beziehung.

In diesem Konzept bewegt sich pädagogische Begleitung im Spannungsfeld zwischen fürsorgender Beratung einerseits und Selbstbestätigung andererseits. Ob und inwieweit das persönliche Anliegen der pädagogischen Begleitung selbstlos und die Selbstaufopfe- rung die erfüllungbringende Zielsetzung der begleitenden Person ist, muss vor dem Hin- tergrund der individuellen Erfahrungen und Motive gesehen werden, die für die Entschei- dung zur Durchführung einer pädagogischen Begleitung zum Tragen kommen, denn der altruistischen Haltung kann auch der Wunsch zugrunde liegen, sich als gebraucht zu er- fahren.

Auch das Bedürfnis, Kontakte zu finden und in neuen Beziehungsgeflechten eingebun- den zu werden, sich Fremdes zu erschließen, um die eigenen Lebensstrukturen erweitern zu können, sich im Hinblick auf anstehende Anforderungen in der Konfrontation mit Fremdheit zu erproben und das Selbstbild zu überprüfen, kann eine Motivation zur Für- sorge sein.

Vor dem Hintergrund der Austauschtheorie werden neue Kontakte dann eingegangen, wenn Beziehungen als lohnend gelten können. Mit dem Geben erwartet die begleitende Person, etwas zu bekommen. „Das Konzept der sozialen Interaktion als Austauschpro-

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zess ist die logische Folgerung aus der Annahme, dass Menschen danach trachten, Nut- zen aus ihren Kontakten zu ziehen“ (Blau 2005, 126). Fürsorgend und beratend zu geben, ist in diesem Konzept an die Erwartung gebunden, im Gegenzug neue Erfahrungen, An- knüpfungspunkte für die eigene Fortentwicklung zu erhalten und die eigenen, an Selbster- fahrung und biografischer Selbstvergewisserung gebundenen Bedürfnisse zu befriedigen.

In diesem Spannungsverhältnis zwischen Beratung und Selbstbestätigung treten spezi- fische Herausforderungen und Anforderungen zutage. Pädagogische Begleitung, die sich sowohl an das zu begleitende Kind als auch an dessen Eltern richtet, erfordert eine diffe- renzierende Ausformung der Beziehungsgestaltung und ein flexibles und auf die je indivi- duellen Bedürfnisse ausgerichtetes Verhalten. Die Aushandlung von Erwartungen anein- ander fällt dementsprechend komplex aus und erfordert ein hohes Maß an Authentizität. Dabei darf die begleitende Person nicht erwarten, dass die Fürsorge dankbar angenom- men wird, sondern muss akzeptieren, dass sie auch mit Widerständen und Konflikten ver- bunden sein kann. Notwendig ist die Bereitschaft, sich auf ungewisse Situationen einzu- lassen, sich auch in konfliktuösen Situationen zu positionieren und die eigenen Erwartun- gen und mögliche Missverständnisse offen anzusprechen, um sie zu klären und Bezie- hungen möglichst transparent gestalten zu können. Für das Ziel der Selbsthilfe und der Förderung von Autonomie muss die mühevoll aufgebaute und durch Nähe und Akzeptanz gekennzeichnete Beziehung mit der Zeit verändert werden. Wichtig ist dabei, als fürsor- gende und helfende Begleitperson Verantwortung auch wieder abzugeben, loszulassen und sich selbst wieder zu distanzieren. Das bedeutet auch, es positiv zu bewerten, nicht mehr „gebraucht“ zu werden und diese Sicht auch der Klientel als deren eigene Stärke zu vermitteln.

Eine weitere Herausforderung ist das erforderliche Eingeständnis der eigenen Gren- zen. Auch helfende Begleitpersonen können hilflos und auf die Hilfe und Unterstützung anderer angewiesen sein. Überforderung, Ohnmacht und die eigenen Grenzen zu erfah- ren und zu akzeptieren, sind wesentliche Voraussetzungen für professionelles pädagogi- sches Begleithandeln, um die eigenen Möglichkeiten realistisch einschätzen zu können, sich für das Machbare einzusetzen, zu engagieren und Vertrauen in die begrenzten, aber dennoch wertvollen Möglichkeiten des eigenen Handelns zu entwickeln.

Kritisch betrachtet birgt Begleitung im Spannungsfeld zwischen beratender Fürsorge und Selbstbestätigung ein hohes Konfliktpotenzial und unterschiedliche Risiken. Umfas- sende Fürsorge, die sich zugleich unterschiedlich adressiert, läuft nämlich Gefahr, sich u.U. nicht differenzierend an den jeweiligen Bedürfnissen auszurichten. Eine Fürsorge für Kinder und für Erwachsene erfordert daher eine sensible und adressatengerechte Zu- wendung mit entsprechenden kommunikativen Strukturen. Insbesondere in der vertrau- ensbildenden Anfangsphase des Beziehungsaufbaus kann eine unvermittelte Zuwendung der begleitenden Person und eine diffus ausgreifende, überschwänglich positive Beurtei- lung der Gesamtsituation die Annäherung erschweren. Werden Zuwendungs- und Annä- herungsversuche als ein grenzüberschreitendes Zu-nahe-kommen und als ein distanzlo- ser Zu- bzw. Übergriff gedeutet, kann so Abkehr und Distanz generiert werden, statt dass Nähe aufgebaut wird.

Erfolgt pädagogische Begleitung zudem in einer selbstaufopfernden Haltung als Für- sorge und als Dienst am Nächsten, können begleitende Personen damit schnell an ihre eigenen Grenzen geraten.

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Das Spannungsfeld, in dem sich Begleiter bewegen, wird nicht deutlich, wenn die ei- genen Motivationen unbewusst bleiben. In der Folge kann die erforderliche Ausbalancie- rung erschwert sein, was wiederum die Gefahr birgt, dass Begleitung unbewusst einseitig dominant erfolgt, die Bewertung des Erfolges unklar bleibt, an dem Maß der für die eigene Person bedeutsamen Erfahrungen gemessen wird und dieser Intention nicht bewusst ent- gegengewirkt werden kann. Wird pädagogische Begleitung also vorwiegend selbstbezo- gen konzeptualisiert und für den eigenen Fürsorge- bzw. Unterstützungsbedarf genutzt, dient sie dem Eigennutz und findet möglicherweise auf Kosten des Unterstützungsbedürf- tigen statt. Die eigene Stärke gründet dann auf der Basis der Schwäche des anderen und der Kontakt zu dem Fremden dient vorrangig der eigenen Bereicherung und der Erweite- rung des eigenen Lebens. Begegnung und Begleitung können so u.U. als (Um)Weg zu sich selbst genutzt werden. Auf dieser Grundlage kann sich die in Fürsorge aufgebaute Beziehung nicht zu einem ausgewogenen und gleichberechtigten Verhältnis entwickeln.

Ein weiterer kritisch zu betrachtender Aspekt in diesem Konzept ist die möglicherweise ausbleibende reflexive Auseinandersetzung mit den Aspekten Hilfe, Hilfebedarf und Zu- wendungsbedürftigkeit. Um Hilfe zur Selbsthilfe zu ermöglichen, ist es erforderlich zu fra- gen, was Fürsorge- und Zuwendungsbedürftigkeit ist, worin sie sich begründet und wel- che individuellen oder gesellschaftlichen Umstände dazu geführt haben, dass Menschen in eine Situation geraten, in der sie aktuell, nicht mehr oder noch nicht ihre existentiellen Bedürfnisse selbst erfüllen können. An dieser Stelle ist sowohl eine gesellschaftskritische Auseinandersetzung erforderlich als auch eine kritische Betrachtung des Kontexts, in den pädagogische Begleitung eingebunden ist.

3.2 Ergebnisorientiertes Konzept im Spannungsfeld zwischen intervenierender Förderung und profilierender Qualifizierung

In diesem Konzept wird pädagogische Begleitung als Förderung konzipiert, die ergebnis- orientiert umgesetzt wird. Ziel ist es, intervenierend tätig zu werden, Entwicklung voranzu- treiben und Veränderungen zu bewirken. Fördernde pädagogische Begleitung ist in die- sem Konzept präventiv angelegt, um „drohendem Leistungsversagen und anderen Beein- trächtigungen des Lernens, der Sprache sowie der körperlichen, sozialen und emotiona- len Entwicklung mit vorbeugenden Maßnahmen entgegenzuwirken“ (HSchG 2005, §3 Abs. 6 Satz 2). Entgegenwirken bedeutet aber auch, begrenzend Einfluss zu nehmen, d.h. dazu beizutragen, dass vorhandene Beeinträchtigungen nicht an Ausmaß zunehmen und sie sich nicht negativ auf andere Bereiche auswirken.

Hier stehen im Sinne der kompensatorischen Erziehung Bemühungen im Vordergrund, Chancenungleichheit und Bildungsdefizite auszugleichen, unabhängig von dessen sozia- lem Hintergrund und der Art der Benachteiligung (vgl. Iben 1972, Bronfenbrenner 1974). Dafür werden entsprechende Lerngelegenheiten zur Verfügung gestellt, „die zur Verbes- serung lernhemmender kognitiver oder motivationaler Persönlichkeitsmerkmale bzw. Funktionen dienen“ (Arnold/Richert 2008, 27) sollen.

Für die angestrebte Stärkung individueller Autonomie wird Förderung einerseits als ab- zuleistendes Programm und andererseits als eine Vermittlung von Sicherheit verstanden, bei der dem förderbedürftigen Menschen mit Akzeptanz und Zuwendung begegnet wird.

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Kapitel IV: Fallvergleichende Analyse

 

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Kennzeichnend sind dabei eine grundlegende Machbarkeitseinstellung und eine er-

gebnisorientierte Anspruchshaltung der begleitenden Person. Gemeinsame Produkte sol- len den Förderprozess dokumentieren und das Engagement, den Erfolg und die Leistung der begleitenden Person abbilden.

Eine fördernde pädagogische Begleitung adressiert sich an Personen, die besonderer Förderung bedürfen, ein Handicap aufweisen oder auf unterstützende Hilfe angewiesen sind. Die Beziehung ist asymmetrisch angelegt und durch Ungewissheiten, Fremdbe- stimmung und Abhängigkeiten gekennzeichnet.

Umgesetzt wird die fördernde pädagogische Begleitung mit vielfältigen Angeboten, die möglichst erlebnisnah und abwechslungsreich gestaltet werden. Unter Berücksichtigung des individuellen, bereits definierten Förderbedarfs wird das individuelle Interesse und die Bedürfnislage der zu begleitenden Person eruiert und daran anknüpfend werden weitere Förderangebote entwickelt. In dem Bestreben, fördernde Begleitung auf Anschlussfähig- keit anzulegen, ist die begleitende Person daran interessiert, aus möglichst unterschiedli- chen Perspektiven möglichst vielfältige Informationen über die zu begleitende Person zu erhalten. Hierfür werden Kontakte zu Bezugspersonen aus dem Umfeld der begleiteten Person aufgenommen.

In diesem Konzept verortet sich pädagogische Begleitung im Spannungsfeld zwischen intervenierender Förderung einerseits und eigener Profilierung und Qualifizierung ande- rerseits. Die Motive für die Durchführung einer fördernden Begleitung liegen in dem Wunsch, über die Besonderheit der Arbeit und der zu begleitenden Klientel Exklusivität und wertschätzende Anerkennung für die eigene Person zu erzielen und sich sowohl im privaten als auch im beruflichen Feld hervorzuheben und zu profilieren.

In diesem Spannungsverhältnis gilt es, spezifische Anforderungen zu bewältigen. Die Begleitung von Menschen mit einem körperlichen Handicap ist z.T. körperlich anstren- gend und erfordert einen oft unterschätzten Kräfteeinsatz. Hinzu kommt das Angewiesen- sein auf hilfsbereite Unterstützung durch fremde Menschen, die entweder ihre Hilfe an- bieten, sie aufdrängen oder aber gezielt um Hilfe gebeten werden müssen. Auch der Um- gang mit Besonderheit ist eine spezifische Herausforderung in diesem Konzept. Beson- derheit kann sowohl reizvoll und positiv erlebt werden, sie kann aber auch Abstand hal- tende und ausgrenzende Reaktionen im Umfeld bewirken.

Im Hinblick auf die Gestaltung und Umsetzung der Förderung muss des Weiteren zwi- schen Schonung und Forderung ausbalanciert werden. Sich zu fordernd zu verhalten, birgt das Risiko, die zu begleitende Person zusätzlich zu belasten, zu überfordern oder zu irritieren. Ein zu sehr schonendes Verhalten und die andauernde Vermeidung von Kon- frontation und Auseinandersetzung kann dagegen möglicherweise Langeweile und Un- terforderung auslösen. Förderangebote müssen einerseits vorgeben, strukturiert und durchgeplant umgesetzt werden, andererseits sind sie auf ein nicht unerhebliches Maß an Offenheit angewiesen, um sich sowohl situativ auf die individuellen Bedürfnisse, aber auch auf die Beziehungsgestaltung und auf gemeinsame Aushandlungsprozesse einlas- sen zu können. Fördernde pädagogische Begleitung braucht einerseits eine konzeptuelle Struktur, einen Förderplan, andererseits ergibt sie sich zu einem großen Teil situativ, so- dass die begleitende Person flexibel und in vielfältigen Rollen handeln, sich auf offene Si- tuationen einlassen und von den eigenen Planungen abweichen können muss. Berück- sichtigt werden muss, dass nicht immer alle angestrebten Zielsetzungen wie erwartet und

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Kapitel IV: Fallvergleichende Analyse

 

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erhofft erreicht werden. Unumgänglich ist in fördernder pädagogischer Begleitung, indivi- dueller Entwicklung Zeit zu geben und entsprechend langfristig zu planen. Schließlich ist der Umgang mit Ungewissheit erforderlich und die sich daraus ergebende Notwendigkeit, von den eigenen Ansprüchen und Plänen ggf. auch abzuweichen, sich flexibel und offen auf individuelle Bedürfnisse und situative Bedingtheiten einzulassen und Fehler und Scheitern als Möglichkeiten des Ausgangs zu akzeptieren.

Kritisch betrachtet birgt auch die pädagogische Begleitung im Spannungsfeld zwischen Fördern und Qualifizierung zahlreiche Risiken.

Wird der Förderansatz der begleitenden Person als Gegenentwurf zum elterlichen För- der- und Erziehungsverhalten konzeptioniert, mit dem Ziel, den Erziehungsberechtigten „richtige“ Förderung zu demonstrieren, kann dies belehrend und als indirekte, persönliche Kritik empfunden werden, was sich auf der Beziehungsebene auswirken und die Gestal- tung des Arbeitsbündnisses mit den Eltern massiv erschweren kann. Wichtig ist, dass die Begleitperson versucht, mit den Erziehungsberechtigten, statt gegen sie gerichtet wirksam zu werden.

Bleiben die eigenen Motivationen der begleitenden Person für die Durchführung einer besonderen fördernden pädagogischen Begleitung unbewusst, so wird das Spannungs- feld nicht deutlich und gerät in die Gefahr einer einseitigen Ausprägung. Auch wenn die Begleitung einseitig selbstbezogen, vorwiegend ergebnisorientiert ausgerichtet bleibt, birgt dies die Gefahr, dass andere Prozesse, die auf der emotionalen und sozialen Ebene und im unmittelbaren Erleben stattfinden und ohne belegende Endprodukte erfolgen, we- niger Beachtung finden. Nachhaltigkeit ist nicht immer unmittelbar belegbar. Dies bedeu- tet, dass Prozesse anders als produktorientiert dokumentiert werden müssen und dass das Zutrauen nicht verloren gehen darf.

Ist mit der Förderungsmaßnahme eine bewertete persönliche Qualifizierung verbunden und nimmt die Benotung wesentlichen Einfluss auf den weiteren Fortgang der eigenen Karriere, kann sich der im Rahmen der Qualifizierung entstehende Leistungsdruck u.U. auf die pädagogische Begleitung übertragen. Dies kann dazu führen, dass der Ausgang der Förderung mit ihrer Bewertung in Zusammenhang gebracht wird. Gute Fördererge- bisse würden dann eine gute Bewertung bedeuten.

Fördern ohne Konzept und Plan läuft zudem Gefahr, diffus und unstrukturiert auszu- fallen. Ohne Zielformulierungen und Prozessdokumentationen wird Förderung nicht nach- vollziehbar und damit nicht evaluierbar.

Werden pädagogische Begleitprozesse dagegen bis in das Detail geplant, um der Un- gewissheit zu entgehen und Begleitung vorbestimmbar zu machen, kann dies u.U. Offen- heit und Neugier verhindern. Mögliche Fehler sind dann nicht Bestandteil professionellen Handelns und Misserfolge werden u.U. verkürzt mit persönlichem Versagen interpretiert und emotional belastend erfahren. Auch wiederkehrende Enttäuschungsgefühle können sich in diesem Zusammenhang in Form einer skeptischen, eher zweifelnden, statt zutrau- enden Grundhaltung auf weitere pädagogische Prozesse auswirken. Werden darüber hinaus die eigenen Ressourcen zu wenig bedacht bzw. falsch eingeschätzt, kann dies sehr schnell zu Überforderung, frühzeitiger Erschöpfung und gesundheitlicher Belastung und auf dem Hintergrund der eigenen Enttäuschungen zu Abwehr und Abwertung führen.

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Kapitel IV: Fallvergleichende Analyse

 

214 3.3 Erlebnisorientiertes Konzept im Spannungsfeld des Erzieherischen

zwischen beteiligender Unterstützung und selbstständiger Entfaltung

In diesem Konzept wird pädagogische Begleitung vor dem Hintergrund einer kindgemä- ßen Pädagogik als Unterstützung der kindlichen Selbstbildungsprozesse konzipiert und erlebnisorientiert umgesetzt. Verfolgt wird das Ziel, die individuelle Persönlichkeit inner- halb der aktuellen Lebensgemeinschaft zu entfalten. Im Sinne der Resilienzförderung sol- len die kindliche Widerstandsfähigkeit ausgebaut, Perspektiven erweitert und neue Mög- lichkeiten eröffnet werden, um dem gegenwärtig und vorläufig Unveränderbaren belastbar zu begegnen und Chancenungleichheit entgegenwirken zu können.

Pädagogische Begleitung ist in diesem Konzept auf Mitwirkung angelegt. Betont wer- den die aktiven und partizipativen Elemente. Auf den gemeinsamen Dialog ausgerichtet, geht es um beteiligte, beteiligende und teilhabende Unterstützung.

Kennzeichnend für dieses Konzept pädagogischer Begleitung sind Offenheit und Auf- richtigkeit, gegenseitiges Vertrauen und Achtung und eine erlebnisorientierte Grundhal- tung der begleitenden Person sowie ihre Bereitschaft, sich auf neue Spielräume einzulas- sen. Ihr Interesse ist es, dem Fremden und Anderen zu begegnen, es verstehen zu wollen und ein Miteinander zu erleben. Im Spannungsfeld zwischen Unterstützen und Entfaltung sind fremd- und selbstbezogene Orientierungen im Wechselspiel vertreten.

Mitwirkend unterstützende pädagogische Begleitung adressiert sich an Personen, deren Alltag durch vielfältige sozio-ökosystemische Belastungen geprägt ist. Trotz unvermeidbarer asymmetrischer Anlage ist die Beziehung durch Reziprozität, grundlegende Offenheit und gegenseitige Anerkennung geprägt. Bezeichnend ist das ständige Bestreben um Partizipa- tion. Um neue Wege und Alternativen zu eröffnen, steht das gemeinsame „Spiel“ und die kreative Zusammenarbeit im Vordergrund. Hierbei können Zwischenräume entdeckt und ko-konstruierend gestaltet werden. Dabei verlaufen Vermittlungsprozesse einander vertrau- ensvoll zugewandt, direkt und unmittelbar und ohne Angst vor Grenzüberschreitung.

Beteiligende, unterstützende pädagogische Begleitung basiert nicht auf einem Wis- sensvorsprung, sondern auf der Bereitschaft, die zu begleitende Person sensibel in unter- schiedlichen Bezügen umfassend wahrzunehmen, gemeinsame Erfahrungen zu sammeln und Leben zusammen zu erleben. Für die Umsetzung der begleitenden Angebote sind Transparenz, Freiwilligkeit und Zuverlässigkeit zentrale Prinzipien. Da die Begleitung situ- ativ und an den individuellen Bedürfnissen der zu begleitenden Person ausgerichtet durchgeführt wird, handelt die begleitende Person flexibel und in vielfältigen Rollen. Diese übernimmt sie nicht nur, sondern formt sie interaktiv aus.

Im Spannungsfeld zwischen Unterstützung und Entfaltung werden positive Beziehungs- erfahrungen ermöglicht und Zuverlässigkeit und Konstanz als zentrale Aspekte pädagogi- scher Begleitung vermittelt. Stärkende Unterstützung erfolgt an den Bedürfnissen der zu be- gleitenden Person orientiert und versucht, die individuellen Stärken bewusst zu machen. Vor dem Hintergrund erschwerender belastender Lebensbedingungen ist es wichtig, einer- seits aus beengenden Räumen herauszutreten, Anregungen zu geben und andere Sicht- weisen zu ermöglichen, andererseits müssen in der aktuellen Lebenssituation neue Freiräu- me gesucht und erschlossen werden. Entscheidend ist, neue, auf die Zukunft gerichtete Al- ternativen und Wege aufzuzeigen, vorbereitend anzulegen und gegebenenfalls einzuleiten.

In diesem Spannungsverhältnis muss die begleitende Person spezifische Anforderungen bewältigen. Eine der zentralen Herausforderungen ist, die durch Belastungen gekennzeich-

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Kapitel IV: Fallvergleichende Analyse

 

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nete Lebenssituation der zu begleitenden Person mitzuerleben, auszuhalten und als zu- nächst unveränderbar zu begreifen. Erforderlich ist die kritisch überprüfende Selbstein- schätzung der eigenen Leistungsfähigkeit und der Wirksamkeit des eigenen Engagements. Will die begleitende Person mitwirkend unterstützen, um Handlungs- oder Entscheidungs- möglichkeiten der zu begleitenden Person zu erweitern und zu verbessern, sind Abspra- chen notwendig. Veränderungen und Entfaltungen zu ermöglichen, bedarf der zustimmen- den und möglichst unterstützenden Mitwirkung der Erziehungsberechtigten. Auszuhalten, dass diese nicht zwangsläufig dazu bereit sind, u.U. Unterstützung zwar befürworten, aber nur in dem Maß und in der Art, wie es ihren eigenen Vorstellungen entspricht, ist eine weite- re Herausforderung für die begleitende Person. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, Kon- takte mit Bezugspersonen aus dem Umfeld aufzunehmen, mit ihnen eine gemeinsame Kommunikations- und Interaktionsebene zu finden und sie zur freiwilligen Kooperation zu gewinnen. In diesem Zusammenhang ist es auch erforderlich, einerseits die eigene Mei- nung zurückhalten zu können und gleichzeitig aber den zu begleitenden Personen gegen- über offen und transparent aufzutreten. Die begleitende Person muss für ihr Handeln die Gratwanderung zwischen Höflichkeit und Zurückhaltung einerseits und Durchsetzungsver- mögen und leitender Vorgabe andererseits bewältigen. Eine weitere Anforderung stellt in diesem Kontext die Notwendigkeit dar, Polarisierungen zu vermeiden und nicht gegen an- dere Bezugspersonen zu wirken, sondern für diese zu vermitteln und dabei als begleitende Person Freiwilligkeit, Unabhängigkeit und Unparteilichkeit als zentrale Prinzipien in Bera- tungssituationen zu beachten.

Auch eine in diesem Spannungsfeld angelegte pädagogische Begleitung birgt kritisch betrachtet Risiken. Die milieubedingte Fremdheit kann sich als so dominant und unüber- windbar erweisen, dass sie die begleitende Person abschreckt und sie situativ hand- lungsunfähig werden lässt. So kann die aktiv gestaltende Haltung durch eine reaktive ab- gelöst werden oder zu Sprachlosigkeit führen, wodurch u.U. die eigenen Grenzen und schmerzhaft erlebten Grenzüberschreitungen unausgesprochen bleiben. Eine weitere Ge- fahr ist es, sich als begleitende Person für Anliegen der Personen im Umfeld vereinnahmen zu lassen, sodass die begleitende Person zum Gehilfen des Systems und zum Betreuer, statt zum Begleiter wird, der den Erwartungen entsprechend Vorgaben erfüllt und damit zwar unterstützt, u.U. aber die Begleitung nicht auf die Entfaltung neuer Optionen ausrich- ten kann. Durch unaufgearbeitete und unreflektierte Verstrickungen im aktuellen und prob- lembeladenen Geschehen in eigene frühere Beziehungsstrukturen zurückzufallen und alte Konflikte reaktivierend mit in die Begleitung einfließen zu lassen, ist ein weiteres Risiko die- ses Konzepts.

Die Gestaltung von Kommunikations- und Interaktionsverläufen kann darüber hinaus durch milieubedingte Differenzen mit dem Risiko des Nichtgelingens und einer dadurch ver- stärkten Fremdheit verbunden sein. Verhält sich die begleitende Person zu fordernd und besteht sie auf der Durchsetzung ihrer Sichtweise und ihrer Erkenntnisse, kann Widerstand und Abwehr bewirkt und die gewünschte Zusammenarbeit maßgeblich erschwert werden. Hinterfragt die begleitende Person nicht die eigenen Vorerfahrungen und sieht sie ihre Wahrnehmungen, Urteile und Forderungen nicht vor dem eigenen biografischen Hinter- grund, besteht die Gefahr, dass das Fremde von ihr im Gegenbild fixiert wird und Verände- rungen nur von dem Anderen, nicht aber von der eigenen Person gefordert werden.84

84 Zur besseren Übersicht werden die unterschiedlichen Entwürfe pädagogischer Begleitung im Anhang in diesem Band nochmals tabellarisch dargestellt (A I: A 12).

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Kapitel V

Lernerfahrungen und Erfolgsfelder praxisnaher Fallarbeit im Projekt K

In dieser Untersuchung wurden drei individuelle Lerngeschichten angehender Grund- schullehrerinnen in den Blick genommen. Auf der Grundlage der empirischen Befunde soll nun praxisnahe Fallarbeit im Hinblick auf universitäre Professionalisierungsbestrebungen betrachtet werden.

Aufgezeigt werden konnte, dass praxisnahe Fallarbeit in ihrer speziellen Anlage und Ausgestaltung des Lernarrangements Projekt K vielfältige, subjektiv bedeutsame Erfah- rungen ermöglicht und damit den Studierenden einen Einblick in die Komplexität professi- onellen Lehrerhandelns geben kann. Folgende relevante Lernerfahrungen können schlag- lichtartig skizziert werden:

• Pädagogisches Lehrerhandeln ist eine facettenreiche Arbeit in komplexen Sozialbe- ziehungen, die sensibel als Arbeitsbündnisse entwickelt und ausgestaltet werden müssen.

• Pädagogische Begleitung ist situationsgebunden auf unterschiedlich adressiertes, professionelles Vermittlungshandeln angewiesen.

• Die Widersprüche von Nähe und Distanz, Autonomie und Heteronomie sowie von Offenheit und Verschlossenheit sind grundlegende Spannungsverhältnisse, die irri- tieren und verunsichern und ausbalanciert werden müssen.

• Kinder zu begleiten bedeutet, Belastungen und Begrenzungen mitzuerleben und auszuhalten.

• Pädagogisches Begleithandeln erfordert den professionellen Umgang mit Widerstän- den.

• Die vielfältig erlebten Differenzen können bedrohen und irritieren und erfordern ein angemessenes, akzeptierendes und um Verstehen bemühtes Handeln.

• Begleitpersonen müssen sich auf Ungewissheiten einlassen und damit Risiken ein- gehen.

• Praxisnahe Fallarbeit beinhaltet Grenzerfahrungen und konfrontiert mit eigener Hilf- losigkeit.

• Die Begrenztheit der eigenen Ressourcen wird deutlich. • Die Wirksamkeit und Nachhaltigkeit des eigenen Engagements muss als nicht unmit-

telbar belegbar akzeptiert und als ungewiss auf die Zukunft perspektiviert werden.

Im Folgenden werden die Erfolgsfelder umrissen, die sich aus der vorliegenden Arbeit für praxisnahe Fallarbeit ergeben.

Integrativ konzipierte praxisnahe Fallarbeit bereitet angehende Lehrer darauf vor, sich in pädagogischer Praxis immer wieder auf Neues und Ungewisses einzulassen. Studie- rende lernen in der Praxis an der Praxis. Nach Bauer et al. lernt man „Handlungen da- durch, dass man tut, was man erst lernen will. [Und] man lehrt Handlungen dadurch, dass man die Lernenden in Situationen bringt, die zu bewältigen sie lernen sollen“ (dies. 2007, 30). Das in diesem Zitat angesprochene pädagogische Paradox entspricht dem erfah-

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Kapitel V: Lernerfahrungen und Erfolgsfelder praxisnaher Fallarbeit im Projekt K

 

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rungsorientierten und situierten Lernansatz, der dem Projekt K als Beispiel praxisnaher Fallarbeit zugrunde liegt: Angehende Lehrer lernen, indem sie – wie die Fälle belegen – das tun, was sie lernen wollen: sie begleiten Kinder, so wie sie später in ihrem beruflichen Alltag auch Schüler begleiten werden. Dafür werden ihnen universitäre Lernräume, hier das Projekt K, bereitgestellt, die ein auf Selbsttätig- und Selbstverantwortlichkeit ange- legtes Lernen und ein erprobendes Handeln im authentischen Handlungsfeld erlauben. Das Projekt eröffnet den Studierenden somit bereits in der universitären Ausbildung einen Lern- und Erfahrungsraum, in dem sie sich als angehende Lehrer selbstständig und ei- genverantwortlich in der pädagogischen Beziehungspraxis erproben können.

Im Gegensatz zum Alltagsverständnis von „begleiten“ im Sinne des „miteinander Ge- hens“, erhält die Begleitung, die die Studierenden erlernen, jedoch eine veränderte Be- deutung: Indem sie im Projekt mit der zunächst irritierenden Komplexität professionellen Lehrerhandelns konfrontiert sind, erfahren sie selbst im Verlauf ihrer Mitarbeit auch die Aspekte des Lehrerhandelns, die zu den grundlegenden Aufgaben dieses Berufs gehö- ren: sie fördern, beraten und erziehen. Begleitung wird in diesem Erfahrungsprozess also zur spezifisch „pädagogischen Begleitung“. Sie gehört zum Kern pädagogischer Professi- onalität und wird zur zentralen Schlüsselkategorie pädagogischen Handelns.

Die analysierten Fälle belegen die Facettenhaftigkeit pädagogischer Begleitung, die sich unterschiedlich adressiert und je nach Anlage und Zielsetzung situations- und kon- textgebunden mit vielfältigen Methoden durchführen lässt. Wie die individuellen Lernge- schichten zeigen, konnten die Studentinnen pädagogische Begleitung individuell in unter- schiedlichen Spannungsfeldern konzeptualisieren und diese Konzepte mit individuellen Schwerpunkten in der Umsetzung ausprägen:

• ergebnisorientiert im Spannungsfeld von intervenierender Förderung auf der einen Seite und eigener profilierender Qualifizierung auf der anderen Seite im Fall Wera,

• erfahrungsorientiert im Spannungsfeld von fürsorgender Beratung einerseits und vergewissernden Selbstbestätigung andererseits im Fall Bianca sowie

• erlebnisorientiert im Spannungsfeld des Erzieherischen zwischen beteiligender Un- terstützung einerseits und selbstständiger Entfaltung andererseits im Fall Jana.

Auf der Grundlage der empirischen Ergebnisse kann davon ausgegangen werden, dass praxisnahe Fallarbeit vielfältige Gestaltungsspielräume zulässt, sich in pädagogische Be- gleitung einzuüben, die sich, wie die Fälle belegen, in einer Trias von Fördern, Beraten und Erziehen ausgestaltet. Die Grenzen zwischen diesen drei wesentlichen Grundformen pädagogischen Handelns im Handlungsfeld von Erziehung und Bildung (vgl. Faulstich- Wieland/Faulstich 2006, 55) sind im Kontext professionellen Lehrerhandelns durchlässig.

Professionelles, auf individuelle Förderung ausgerichtetes Lehrerhandeln ist bestrebt, helfend auf die weitere Entwicklung einzuwirken (vgl. Kiper/Mischke 2006, 134).85 Im Kon- text praxisnaher Fallarbeit lernen Studierende, dass die Förderung individueller Lern- und

85 Aus schulpädagogischer Perspektive beschreibt der Begriff „Fördern“ eine Form des Unterrichts, er verweist aber auch auf ein pädagogisch notwendiges Handeln im Umgang mit Heterogenität, insbesondere im Hinblick auf unterschiedlichen Lernvoraussetzungen und Lernausgangslagen. Aus der Perspektive der Entwicklungspsychologie intendiert Förderung die positive, begünsti- gende Beeinflussung individueller Entwicklungsverläufe (vgl. Arnold/Graumann/Rakhkochkine

2008).

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Kapitel V: Lernerfahrungen und Erfolgsfelder praxisnaher Fallarbeit im Projekt K

 

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Entwicklungsprozesse nicht nur bedeutet, Inhalte angemessen aufbereitet zu vermitteln und Lernumgebungen anregend zu gestalten, sondern dass es dafür notwendig ist, sich mit der Individualität des Lerners und den jeweiligen Lern- und Lebensbedingungen aus- einanderzusetzen, lern- und entwicklungsanregende Angebote bereitzustellen und ko- konstruktive Auseinandersetzungen anzuregen. Förderung ist dabei an eine fragende und beobachtende Grundhaltung gebunden: zur Bestimmung der Ist-Situation, z.B. durch die Erhebung der Lernausgangslage, zum Verstehen des individuellen Vorgehens und zur bewertenden, rückmeldenden Aus- oder Bewertung. Durch die kontinuierliche Auseinan- dersetzung mit dem Kind in den regelmäßigen Treffen können die Studierenden erste Schritte gehen, um diese Stärken zu erkennen, den individuellen Förderbedarf zu erheben und um Förderung an diesen ansetzend individuell zu konzipieren.

Um in diesen Prozessen die Handlungssicherheit zur Bewältigung auftretender Prob- leme oder schwieriger Situationen zu erhöhen, ist Beratung erforderlich. Durch die praxis- nahe Fallarbeit lernen die Studierenden unterschiedliche Anlässe für pädagogische Be- ratung kennen: vor dem Hintergrund fehlender Informationen, bei der Suche nach Stabili- sierung in belastenden Situationen oder wenn es um die „Prävention zur Verhinderung von antizipierten Problemen“ (Krause 2003, 27) geht. Die studentischen Patinnen werden mit unterschiedlichen Aspekten pädagogischen Beratungshandelns konfrontiert und müs- sen erkennen, dass es in der Beratung „nicht nur darum [geht], die Richtung der Verände- rung in den Blick zu nehmen, sondern die Rat suchende Person darin zu unterstützen, die anvisierten Veränderungen in Angriff zu nehmen und umzusetzen“ (Schnebel 2007, 18). Eingebunden in die sozialen Bezüge ihrer Patenkinder werden auch sie um Rat gefragt und müssen ihre eigene Ratlosigkeit akzeptieren. So erfahren sie sich nicht nur in der Rolle der Ratgebenden, sondern immer wieder auch in der der Ratsuchenden und sind so mit einer wiederkehrenden Anforderung des pädagogischen Alltags konfrontiert, sich dem eigenen Unwissen zu stellen und mit Ungewissheit umzugehen. Die Zugzwänge im kon- kreten Handlungsfeld verweisen auf die Notwendigkeit, sich mit unterschiedlichen Ansät- zen pädagogischer Beratung vertiefend auseinanderzusetzen und die Beratungskompe- tenzen auf der Grundlage ihrer Erfahrungen auszubauen.

Wie durch die vergleichende Analyse der Fälle gezeigt werden konnte, gestalten die Studierenden während ihrer Mitarbeit im Projekt K nicht nur komplexe und riskante Hand- lungssituationen, die unter vielen Gesichtspunkten der pädagogischen Handlungssituation von Lehrern entsprechen, sondern sie unternehmen dabei gemäß dem schulischen Bil- dungsauftrag auch selbstständige, probehandelnde Versuche, erzieherisch tätig zu sein.86

Sie probieren sich darin aus, intentional Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung ihrer Patenkinder zu nehmen, sie in ihrer Suche nach Wertorientierung zu unterstützen und auf dem Weg zur Identitätsfindung und -stabilisierung zu begleiten. Dabei lernen sie sozialisa- torische Einflüsse kennen, versuchen in Ansätzen, auf diese entgegenwirkend Einfluss zu nehmen und wirken selbst sozialisierend mit.

86 Diese absichtsvolle Einflussnahme zur Unterstützung der Persönlichkeitsentwicklung gehört nach Terhart zum Aufgabenspektrum der Lehrkräfte, das nicht auf den Unterricht zu beschrän- ken ist, sondern sich auf das gesamte Schulumfeld erstreckt und in dem die Tätigkeiten des Lehrens und Erziehens untrennbar miteinander verbunden sind (vgl. Terhart 2000, 50).

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Praxisnahe Fallarbeit bietet sich damit auch als Möglichkeits- und Zwischenraum an, der sich als Entwicklungsraum ausgestaltet. Studierende können Entwicklungsprozesse erleben, werden an Entwicklung beteiligt und entwickeln sich selbst. Das Entwicklungspo- tenzial hängt dabei von der Art der dialogischen Interaktionsstrukturen und ihrer reflexiven Bearbeitung ab.

Im Kontext praxisnaher Fallarbeit können Studierende miterleben, dass Entwicklungen prozesshaft erfolgen und – eingebunden in komplexe Sozialbeziehungen – sowohl auf Veränderungen ausgerichtet als auch auf diese angewiesen sind. Selbst in diese Prozes- se involviert, können sie als angehende Lehrer diese Dynamik nicht nur miterleben, son- dern müssen sie mitgestalten. Ihnen wird bewusst, dass pädagogisches Handeln auf die Entwicklung und Ausgestaltung von Arbeitsbündnissen angewiesen ist. Dass dieses nicht selbstverständlich und zwangsläufig auf Anhieb gelingt, sondern u.U. ein langwieriger Prozess sein kann, der Geduld, Zurückhaltung und Vertrauensbildung erfordert, ist eine wesentliche Erfahrung für die Anbahnung professionellen Lehrerhandelns.

Für den gelingenden Aufbau von Arbeitsbündnissen ist die Ko-Konstruktion von Zwi- schenräumen erforderlich. Wird pädagogische Begleitung erlebnisorientiert und im Span- nungsfeld zwischen Unterstützung und Entfaltung angelegt, so wie es in Janas Konzept umgesetzt wird, können durch mitwirkende Unterstützung und im gemeinsamen Spiel kreativ gemeinsame Zwischenräume entdeckt und diese auch gemeinsam ausgestaltet werden. Die Ko-Konstruktionen basieren dabei auf gemeinsamer und wechselseitiger Ausrichtung, d.h. sie finden dann statt, wenn sich die Partner im Hinblick auf eine Aufgabe intensiv austauschen, wenn sie in der auf Vertrauen basierenden Zusammenarbeit ge- meinsame Ziele verfolgen und weiter entwickeln können, sodass individuelles Wissen aufeinander bezogen (ko-konstruiert) werden und daraus neues Wissen entstehen kann. Davon ausgehend, dass pädagogische Begleitung weder „unreflektierte Unterordnung, [noch] eine im preußischen Gehorsam ausgeführte Leistung, oder das geduldige Bereit- halten einer solchen Leistung entsprechend einer Anordnung“ (Hähner u.a. 2006, 133) in eindeutigen Machtverhältnissen bedeutet, muss die auf Ko-Konstruktion angelegte Bezie- hungsgestaltung reflexiv betrachtet und die Erwartungen der Beteiligten aneinander aus- gehandelt werden, was Hähner et al. mit einer zu entwickelnden „Kultur der Begleitung“ beschreiben (ebd., 121).

Durch die permanente Auseinandersetzung mit den Erfahrungen in pädagogischer Be- ziehungspraxis üben sich Studierende darin ein, das Handlungsgeschehen und die Erfah- rungen zu kommunizieren, pädagogische Praxis zu einem kommunizierbaren Geschehen werden zu lassen (vgl. Heinzel 2006), darüber im Hinblick auf professionelles Lehrerhan- deln eine reflexive Haltung aufzubauen und Reflexivität anzubahnen (vgl. Dick 1999, Tie- fel 2004). Gezeigt werden konnte, dass sich die Studierenden während ihrer Mitarbeit im Projekt in unterschiedlichen Bezügen und Anlässen und mit je unterschiedlichen Zielset- zungen mit der von ihnen erlebten Praxis auseinandersetzen, über ihre Erlebnisse nach- denken und diese in unterschiedlicher Weise in Worte fassen. Sie halten ihre Erfahrungen schriftlich in ihrem pädagogischen Tagebuch fest und beschreiben und reflektieren dabei Erlebnisse im Dialog mit sich selbst. Durch die Portfolioarbeit dokumentieren, sortieren und strukturieren sie Verläufe und Veränderungen, sie tauschen sich über Erfahrungen und aufgeworfene Fragen im Freundeskreis und mit anderen Paten in der pädagogischen Begleitung aus und planen gemeinsam Vorhaben, für die sie methodisch-didaktische Ü-

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berlegungen anstellen. Zudem bearbeiten sie ihre Erfahrungen reflexiv angeleitet in der supervisorischen Begleitung. Diese vielfältigen Reflexionen spiegeln auch die erhobenen Daten wieder. In ihnen kommen die individuellen Erfahrungen zur Sprache, Konflikte wer- den als elementarer und produktiver Bestandteil pädagogischen Handelns angesprochen, individuelle, mehr oder weniger gelingende Lösungsversuche werden gesucht und Erklä- rungsansätze und eigene Orientierungen entworfen. Schließlich werden in der Interviewsi- tuation die spezifischen Zugzwänge geschildert. Die darin angeführten Positionierungen, Einschätzungen und Erklärungen werden begründend zu der eigenen Person und/oder dem späteren Berufsfeld in Beziehung gesetzt. Dieses überdenkende und erfragende Bearbeiten von Erfahrungen ist Bestandteil professionellen Lehrerhandelns und insbesondere für den Umgang mit Widersprüchen, Ungewissheit und Diffusität erforderlich (vgl. Kap. 1.2.3).

Die Ergebnisse dieser Studie verdeutlichen, dass der Blick in den Erzählungen unter- schiedlich intensiv auf das Kind, die dargestellten Inhalte oder auf die eigene Person ge- lenkt wird. Die für pädagogisch professionelles Handeln erforderliche „bifokale Aufmerk- samkeit“ (Zwiebel 2006) wird damit durch praxisnahe Fallarbeit in ersten Schritten ange- bahnt und eingeübt. Ausgangspunkt für die Reflexionsprozesse sind in jedem Fall aber immer persönliche Zweifel und Irritationen. Die Anlage der vorliegenden Arbeit mit ihren spezifischen Fragestellungen lässt allerdings keine Aussagen darüber zu, ob die Studie- renden durch ihre Mitarbeit im Projekt K über ein Mehr an Reflexivität verfügen als zuvor. Die Ergebnisse dieser Studie verweisen lediglich darauf, dass in der Reflexion Unter- schiedliches fokussiert wird und sich der Reflexionsfokus fallspezifisch unterschiedlich ausprägt. Da Reflexion aber bipolar und aufgabenorientiert angelegt werden muss, sind weitere Erfahrungskontexte und entsprechende angeleitete Reflexionszirkel notwendig, um den Fokus zunehmend zu erweitern, zu dynamisieren und zu flexibilisieren.

Bemerkenswert ist, dass die Patinnen ihre individuellen Praxiserfahrungen kaum theo- retisch fundiert dargestellt haben. Es gelingt ihnen nur selten, über theoretische Bezüge eine reflexive Distanz zu ihren eigenen Erfahrungen herzustellen. Die Studierenden üben sich zwar in dem Fallverstehen, nutzen aber das in anderen Bezügen erworbene oder selbst erarbeitete Theoriewissen nur ansatzweise für die Analyse und Bewertung prob- lembehafteter Situationen. Die Ergebnisse dieser Studie lassen den Schluss zu, dass es den Studierenden leichter fällt, auf der Grundlage ihrer Erfahrungen aus praxisnaher Fall- arbeit erarbeitete Theorie mit Praxisbezügen zu „bebildern“ und damit zu konkretisieren, als die Praxiserfahrungen theoretisch zu fundieren und damit zu abstrahieren. Auch impli- zite pädagogisch relevante Themen aus ihren Erfahrungen zu abstrahieren, zu erkennen und zu benennen, fällt ihnen schwer.

Praxisnahe Fallarbeit im Rahmen des Projekt K bietet sich in besonderem Maße als Forschungsfeld und als Basis für Forschendes Lernen an. Indem eigene, persönlich be- deutsame Fragen Ausgangspunkt für Forschung werden, kann der forschende Habitus als Bestandteil professionellen Handelns (vgl. Helsper 2001) mehr in das Bewusstsein der Lehramtsstudierenden rücken. Für professionelles Handeln ist eine solche forschende Haltung erforderlich, denn das eigene, auf systematisch und methodisch kontrolliert ge- wonnenes Wissen gestützte Handeln muss im Hinblick auf die sich stetig verändernden Bedingungen immer wieder aktualisiert werden. Diese Haltung vorzubereiten, sie in grö- ßere Forschungszusammenhänge einzubetten und die Forschungspraxis der Studieren- den kritisch zu unterstützen, ist eine wichtige Aufgabe wissenschaftlicher Begleitung.

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Kapitel V: Lernerfahrungen und Erfolgsfelder praxisnaher Fallarbeit im Projekt K

 

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In dem auf längere Zeit angelegten und für die universitäre Lehrerbildung eher unge- wöhnlichen Lernkontext verändern die Studierenden den zunächst defizitorientierten Blick und richten den Fokus zunehmend auf die individuellen Stärken aus, auf deren Grundlage dann Förderangebote konzipiert und umgesetzt werden. Während der Projektmitarbeit üben sie zudem das teilnehmende Beobachten, Analysieren und das Führen von Gesprä- chen, kurz: sie erproben sich in wesentlichen Aspekten förderdiagnostischen Handelns, das es später auszubauen und in das komplexe Unterrichtsgeschehen zu integrieren gilt.

Konkrete Fallarbeit provoziert und fördert die Auseinandersetzung mit Fremdem und Fremden. Anderes und Fremdes anerkennend anzunehmen und ihm mit Neugier zu be- gegnen erfordert eine um Verstehen bemühte Haltung. Die Bedeutung von Fallarbeit liegt nach Heinzel vor allem „in einer Schulung des Verstehens“ (dies. 2006, 36). Im Kontext einer zu verbessernden Lehrerbildung kann der Erwerb „hermeneutischer Kompetenz“ durch Fallarbeit unterstützt werden (vgl. Schierz/Thiele 2002, 30). Doch ist in dem durch Vielfalt und Heterogenität gekennzeichneten pädagogischen Alltag nicht nur sprachliches Verstehen, sondern auch ein Verstehen von Handlungen, Zuständen und (sozialen) Insti- tutionen notwendig. Eine Schulung des Verstehens kann damit auch als ein Verstehen von Situationen und Szenen87 gedacht werden. Ein solches szenisches Verstehen als zentrales Element der psychoanalytischen Pädagogik versucht, emotionale Zustände an- derer nachvollziehend zu begreifen und fragt nach den latenten Sinnstrukturen der Sze- nen. Davon ausgehend, dass nicht bewältigte Interaktions- und Dialogerfahrungen aus frühen Lebensjahren und die daraus generierten Lebensthemen immer wieder unbewusst und verschlüsselt in Interaktionen inszeniert werden (vgl. Prokop/Görlich 2006, Trescher 2001, Leber 1985, Lorenzer 1983), sich dabei reale Erlebnisse mit subjektiven Wünschen und Vorstellungen vermischen und zudem die Interaktionspartner in diese (Re-) Inszenie- rungsprozesse eingewoben werden, ist gelingendes Verstehen auf vielfältige, objektive, subjektive und szenische Informationen angewiesen. Fokussiert werden insbesondere Mitteilungen auf der Gefühlsebene, szenische Informationen und eigene Assoziationen. Gefühle, die andere bei einem auslösen, können nach Musall (1997) ein Schlüssel dafür sein, die Gefühle des anderen in dieser Situation zu fühlen. Auffälliges und u.U. nicht an- gemessenes Verhalten, die Szene, wird dabei als Botschaft und symbolischer Ausdruck für den Versuch gedeutet, sich zu situativ zu verhalten. Die Begleitperson muss dabei permanent im Kontakt mit dem eigenen Innenleben stehen, sich mit den eigenen Gefüh- len, Assoziationen und Erinnerungen auseinandersetzen und sich auf der Basis der Wahr- nehmung von Übertragungs- und Gegenübertragungsprozessen fragen, was der andere Interaktionspartner mit ihr macht, was er in ihr auslöst, wie er die Beziehung gestaltet und welche Szenen sich zwischen den Beteiligten abspielen.

Es darf davon ausgegangen werden, dass durch praxisnahe Fallarbeit im Rahmen des Projekt K sowohl das methodische als auch das szenische Verstehen angebahnt werden kann. Der pädagogischen und supervisorischen Begleitung kommt dabei ein besonderer Stellenwert zu. Während die Studierenden im konkreten Handlungsvollzug der unmittelba-

87 Szenen beschreiben allgemein eine Interaktionssituation, deren Status zwischen realem Ge- schehen, Erinnerung und Phantasie schwankt. Seinen Ursprung hat der Begriff „Szene“ im klassischen Drama. Als Untereinheit eines Aktes beschreibt eine Szene einen Schauplatz und eine dort stattfindende Handlungssequenz zwischen mehreren Personen.

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Kapitel V: Lernerfahrungen und Erfolgsfelder praxisnaher Fallarbeit im Projekt K

 

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ren Praxis auf das implizite Begreifen und das praktische Aufgreifen der In- und Gehalte der Ausdrucksgestalten angewiesen sind, ermöglichen die begleitenden Veranstaltungen ihnen „die handlungsentlastende, methodisch explizite Rekonstruktion der objektiven Be- deutungsstruktur von Ausdrucksgestalten aller Art“ (Loer 1999, 52).

Zwischenmenschliches Verstehen mit seinen vielseitigen Facetten setzt Perspektiven- übernahme und Perspektivenwechsel voraus. Perspektivität als „prinzipielle Standort- und Positionsbezogenheit aller Erkenntnis“ (Graumann 2002, 26) ist eine entscheidende Vor- aussetzung für das Sicheinlassen auf Andere. Dies wiederum ist die basale Vorausset- zung für konkrete Fallarbeit. Unterschiedliche Perspektiven ermöglichen verschiedene Einsichten. Durch die „Pluralität der Erkenntnisperspektiven“ (Prengel 1999, 41) und mit „mehrperspektivischem Erwägen“ (ebd.) kann die Analyse von pädagogischen Situationen und Verstehensprozessen unterstützt werden. Konkrete Fallarbeit trägt dazu bei, dass sich Studierende in der Perspektivenübernahme und im Perspektivenwechsel erproben, dadurch einen multiperspektivischen Blick entwickeln und sich in Verstehensprozesse als Voraussetzung für individualisierte Zugänge zu Kindern einüben. Sie lernen, Mehr- perspektivität zu entwickeln, erkennen individuelles Lernen in Abhängigkeit von soziokul- turellen und ökosystemischen Aufwachsensbedingungen, erfassen also individuelle Lern- ausgangssituationen und Lernbedingungen im systemischen Umfeld des Kindes, und ler- nen, Bedürfnisse zu erfragen. Erst „unterschiedliche Sichtweisen ermöglichen (…) ein fle- xibles Bild mit abgrenzbaren Teilen, die sich wie in einem Kaleidoskop verschieben las- sen, durch Überlagerung und Überschneidung unterschiedlich färben und (…) zu neuen Sichtweisen oder Fragen herausfordern“ (Pietsch 2005, 238).

Praxisnahe Fallarbeit zwingt die Patinnen zur Auseinandersetzung mit dem jeweils an- deren, aber auch mit sich selbst und mit sich in Beziehung zu dem Anderen. Mit dieser Chance kann aber auch als potentielles Risiko verbunden sein, „sich zur Veränderung des eigenen Weltbildes genötigt zu sehen“ (Holzbrecher 1997b, 154) und aufgrund dessen in eine Krise zu geraten. Denn „wer sich auf das Andere einläßt, riskiert den Verlust vertrau- ter Deutungsmuster und den Beginn einer kaum absehbaren dynamischen Beziehungs- geschichte“ (ebd., 155). Professionelle pädagogische Begleitung sieht sich damit in der Verantwortung, zur Bewältigung ausgelöster Krisen beizutragen. Davon ausgehend, dass die Klienten ihre Krise als von ihnen nicht lösbar empfinden, müssen hierfür routinehafte Handlungsmuster problematisiert und aufgebrochen, Konzepte zur Krisenbewältigung entworfen und in ihrer Umsetzung geplant werden. Krisen bieten als komplizierte, schwer zu bewältigende Lern- oder Lebenslagen immer gegensätzliche Möglichkeiten des Um- gangs: sie bergen Gefahren, bieten aber auch Gelegenheit der Veränderung und beinhal- ten damit auch eine potenzielle Chance.

In der Umsetzung praxisnaher Fallarbeit ist das Risiko zu berücksichtigen, dass ein zu stark selbst aufopferndes Engagement der begleitenden Person in der Beziehungsarbeit, wie im Fall Bianca, aber auch die an die selbsttätige Praxis gebundenen Erfahrungen, die u.U. – wie im Fall Wera – zu einer Kette sich wiederholender Enttäuschungen führen, die Studierenden zu stark belasten und bei unzureichender Begleitung und reflexiver Aufar- beitung möglicherweise dazu beitragen können, ein burn-out vorzubereiten, statt diesem durch Anbahnung von Widerstandskraft präventiv entgegenzuwirken.

Im Kontext der Diskussion um den Ausbau von Resilienzfähigkeit darf vermutet wer- den, dass praxisnahe Fallarbeit im Rahmen des Projekt K den Aufbau der individuellen

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Kapitel V: Lernerfahrungen und Erfolgsfelder praxisnaher Fallarbeit im Projekt K

 

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Widerstandsfähigkeit der Studierenden unterstützt. Resilienzfähigkeit kann mit der Belas- tungsfähigkeit angehender Lehrer in Verbindung gebracht werden. Um bestmöglich auf die spätere Berufssituation vorbereitet zu werden, ist neben dem Wissenserwerb und der Anbahnung einer professionellen Haltung auch die Entwicklung psychischer Stabilität und Widerstandfähigkeit entscheidend, um den in verschiedenen Studien belegten Arbeitsbe- lastungen im pädagogischen Alltag standhalten zu können (vgl. Schaarschmidt u.a. 1999; Dauber/Vollstädt 2003 u.a.). Durch die Projektmitarbeit erfahren sich die Studierenden selbst in schwierigen und belastenden Situation. Als belastend wird u.a. die nur geringe Beteiligung am Beziehungsaufbau erfahren, die engen Vorgaben der Erziehungsberech- tigten, die Schwierigkeit, Widersprüche und Spannungen auszuhalten sowie die Diskre- panz zwischen den Rollen als professionell Handelnde einerseits und als Lerner anderer- seits. Als belastend wird aber auch die unüberwindbar erscheinende Fremdheit in dem begegnenden Milieu erfahren, das Erkennen und Eingestehen der eigenen Fehler und Fehleinschätzungen, die Unbelegbarkeit der eigenen Wirksamkeit und die ungewiss blei- bende Nachhaltigkeit der Förderung sowie das Erleben der eigenen Grenzen in Situatio- nen, in denen sich die Herausforderung als Überforderung erweisen kann.

So unterschiedlich die Erfahrungen als belastend empfunden werden, so unterschied- lich gestaltet sich das individuelle Bewältigungshandeln. Die Fälle beschreiben eine Spannbreite von selbstbezogenem Nachdenken, der permanenten Fortsetzung der eige- nen Suche nach alternativem Lösungsvorgehen trotz sich wiederholender Enttäuschun- gen, die nachträgliche theoretische Bearbeitung, die Organisation und aktive Suche nach Unterstützungsangeboten und Kooperationsmöglichkeiten, den Rückgriff auf die in der Projektkonzeption angelegten Unterstützungsangebote und das begleitende reflexive Be- arbeiten der eigenen Erfahrungen in der pädagogischen und supervisorischen Begleitung. Ob die Mitarbeit im Projekt K dazu beitragen konnte, individuelle Widerstandsfähigkeit für professionelles Handeln als angehende Lehrer aufzubauen, ist auf der Grundlage dieser Studie noch nicht abzusehen.

Praxisnahe Fallarbeit im Rahmen des Projekt K unterstützt die Studierenden auf unter- schiedliche Weise in der Übergangsbewältigung. Das Thema Übergang ist – wie das der Resilienzförderung – aus zwei Perspektiven für die Studierenden relevant. Zum einen ist es ein wichtiges Thema für die spätere pädagogische Praxis der angehenden Lehrer, de- ren zentrale Aufgabe es sein wird, Kinder gezielt und stärkend, d.h. an den vorhandenen Ressourcen orientiert, auf Übergänge vorzubereiten und sie in Übergangssituationen zu begleiten. Zum anderen befinden sich die Studierenden in der aktuellen Ausbildungssitua- tion des Studiums selbst in einer für sie entscheidenden Übergangssituation, in der sie mit vielfältigen Anforderungen konfrontiert werden.

Übergänge werden durch Unterstützungsangebote erleichtert. Sinnvoll ist es, diese so- wohl auf der individuellen als auch auf der kollektiven Ebene zu organisieren. In jedem Fall ist ein dauerhaftes Angebot von Struktur und Orientierung gebender Begleitung mit theoretischer Fundierung, reflexiver Erfahrungsaufarbeitung und Beratung für die konkrete Handlungsebene zweckmäßig. Praxisnahe Fallarbeit, wie sie im Projekt K angelegt ist, bietet in der Bewältigung von Übergängen wirkungsvolle Unterstützung auf mehreren E- benen an: auf der Sachebene erfolgt die Vermittlung von Wissen, Informationen, Metho- den und Techniken, auf der reflexiven Ebene findet die Auseinandersetzung mit der eige- nen Person und der Bearbeitung von Paradoxien und den sich möglicherweise daraus er-

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Kapitel V: Lernerfahrungen und Erfolgsfelder praxisnaher Fallarbeit im Projekt K

 

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gebenden Schwierigkeiten und Konflikten statt. Auf der interaktiven, kooperativen Ebene ist die Unterstützung gewährt durch die Herstellung sozialer Kontakte und angebotener Hilfen für das Arbeiten im Team sowie durch Unterstützungsangebote von Außen.

Wie die Ergebnisse dieser Studie belegen, erfolgen die je individuelle Auseinanderset- zung mit der Übergangsthematik bzw. die Versuche der Übergangsbewältigung unter- schiedlich: erlebnis-, ergebnis- und erfahrungsorientiert.

Da Übergänge keine punktuellen Ereignisse, sondern Prozesse sind, müssen die Un- terstützungsangebote entsprechend durchgängig sein und dürfen nicht als isolierte Ein- zelangebote konzipiert werden. Fallarbeit muss demnach für die Anbahnung professionel- len Lehrerhandelns spezifisch didaktisch ausgestaltet werden.

Zusätzlich zu den unterschiedlichen Reflexionsanlässen setzen sich die Studierenden im Rahmen des Interviews rückblickend reflexiv mit ihrer abgeschlossenen Patenschaft und ihren Erfahrungen auseinander und konstruieren ihre eigene, in sich abgeschlossene, „sinnvolle“ Geschichte. Dem Erzählen kommt dabei in mehrfacher Hinsicht ein besonderer didaktischer Stellenwert zu. Indem die Studierenden im narrativen Interview ihre Ge- schichte in Worte fassen und ihre Erfahrungen und Erlebnisse zur Sprache bringen, stel- len sie Zusammenhänge her und geben dem Erlebten Sinn. Sie machen es für sich selbst und andere begreiflich und verstehbar, vielleicht auch nachvollziehbar. Das daraus ent- stehende Gespräch, das im universitären Lern- und Ausbildungsalltag verortet ist, wird zu einem potenziellen Bildungsanlass.

Die Interviewsituation ermöglicht den Studierenden damit nicht nur einen bewussten und reflexiven Abschluss der Projektmitarbeit, sondern bietet sich ihnen als eine Lernsitua- tion an, die von ihnen individuell unterschiedlich bewusst erlebt und genutzt wird, um über die eigenen Themen nachzudenken und ihre Erfahrungselemente zu einem tiefer gehen- den Verständnis zu verbinden (vgl. Altrichter/Posch 1998), sich also zu bilden.

Erfahrungen in Worte zu fassen und diese zu einer erzählende Geschichte zu verbin- den, stellt einen „Brückenschlag zwischen Leben und Lernen“ (Völzke 2005, 12) dar. Die- ser unterstützt und fördert die rekonstruktive Grundhaltung, die auch ein wesentliches Po- tenzial für professionelles pädagogisches Handeln darstellt, vielfach aber in der Ausbil- dung unterschätzt und zu wenig genutzt wird. Das Erzählen unterstützt die Studierenden nicht nur in der Selbstdarstellung und Evaluation, sondern bietet sich ihnen auch als eine Möglichkeit der nachträglichen Bewältigung kritischer Lern- und Lebenserfahrungen. Dies kann zur Veränderung von Sichtweisen und von zukünftig zu gestaltenden Situationen beitragen. Um dies zu belegen und zu konkretisieren, wären neue und auf Längerfristig- keit angelegte Studien notwendig. Zugleich können sich Studierende in der Erzählsituati- on darin einüben, auf der Grundlage ihrer Erfahrungen und der Annäherungsprozesse die Geschichte so zu entwerfen, dass das Bild von dem Kind, das sie in seiner Besonderheit und Individualität kennen- und verstehen gelernt haben, von Anerkennung und Zuge- wandtheit geprägt gezeichnet wird. Im Kontext einer „demokratisch und für Heterogenität aufmerksamen Pädagogik“ (Heinzel 2007, 154) ist dies ein wesentlicher Aspekt professi- onellen Lehrerhandelns.

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Kapitel VI

Konsequenzen für die universitäre Lehrerbildung

Praxisnahe Fallarbeit als didaktisches Ausbildungsinstrument ermöglicht, wie aufgezeigt, vielfältige individuelle Lernerfahrungen. Sie zeichnet sich durch zahlreiche Erfolgsfelder aus und kann damit auf vielfältige Weise zur Verbesserung der Lehrerbildung beitragen.

Die Lernerfahrungen und Erfolgsfelder sind aber nicht zwangsläufig und selbstver- ständlich zu erreichen. Um angehende Lehrer im Hinblick auf die komplexen An- und Herausforderungen pädagogischer Praxis zu professionalisieren, reicht es nicht aus, pra- xisnahe Fallarbeit anzubieten und mit ihr ein authentisches Praxisfeld zu eröffnen. Zwar erwerben die Studierenden dabei einen hohen Anteil von berufsrelevantem, erfahrungs- basiertem Fallwissen, individuelle Lernerfahrungen und -erfolge sind aber auch für das Lernen Erwachsener in der Hochschule auf Begleitung angewiesen. Dies ist unterschied- lich zu begründen:

• Begleitung ist immer dann erforderlich, wenn praxisnahe Fallarbeit professionelles Handeln erfordert, dieses aber erst erlernt werden soll. Lerner in dieser widersprüch- lichen Rollenanforderung unbegleitet zu lassen, wäre sowohl im Hinblick auf die zu begleitende Klientel als auch im Hinblick auf die in der Ausbildung befindlichen be- gleitenden Lerner unverantwortlich.

• Begleitung ist auch dann erforderlich, wenn einerseits Individualität, Eigensinnigkeit und Eigenwilligkeit des Lernens gewünscht ist und die Vielfalt der Interessen, Wahr- nehmungen und Denkstile in einer Lerngruppe zum Tragen kommen sollen, anderer- seits Lernen zugleich im Kontext von Ausbildung im Hinblick auf Lernerfolg, -entwick- lung und Professionalisierungsbestrebungen abschließend bewertet werden soll.

• Schließlich ist Begleitung erforderlich, damit angehende Lehrer das professionelle Begleithandeln erlernen, um ihren zukünftigen Schülern im späteren beruflichen All- tag individuell begleitetes Lernen auf der Basis ihrer eigenen Lernerfahrungen er- möglichen können.

Diese Begleitung der praxisnahen Fallarbeit ist im Projekt K strukturell verankert und wird durch dessen organisatorische Anlage gewährleistet durch

• die Leitung und die entsprechenden Methoden, • den Kooperationspartnern, • den Begleitveranstaltungen und • die Projektgruppe als beständige und fürsorgende Lerngemeinschaft.

Für praxisnahe Fallarbeit ist eine derartig breit angelegte Begleitung wichtig. Sie unter- stützt eine intensive und engmaschige Verknüpfung von Theorie und Praxis: Praxis kann zum Gegenstand und zum Korrektiv der Theorie werden und Theorie zur möglichen Hilfe in der Bewältigung von Praxis (vgl. Heil/Faust 2000). Ziel der pädagogischen Begleitung ist es, die Lerner im Hinblick auf die Praxis, ihr Lernen und die individuellen Entwicklun- gen zu unterstützen, ihnen beratend zu Seite zu stehen, sie zu bestärken und zu ermuti- gen. Ausschlaggebend ist, dass die individuellen Erfahrungen im Umgang mit den spezifi-

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Kapitel VI: Konsequenzen für die universitäre Lehrerbildung

 

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schen An- und Herausforderungen professionellen Handelns reflexiv bearbeitet. im Kon- text pädagogischer Professionalität verortet und ihre Bedeutung sowohl für individuelles Lernen als auch für pädagogische Praxis bewusst und nutzbar gemacht werden können, um einen professionellen Habitus anzubahnen, um also Fachwissen und Fähigkeiten ein- zelfallspezifisch und mit einer fragenden, suchenden und forschenden Haltung zur An- wendung bringen zu können.

Dafür sollte sich auch die pädagogische Begleitung der Studierenden im Rahmen uni- versitärer Lehrerausbildung situationsabhängig und dynamisch gestalten und sich je nach Bedarf erfahrungs-, ergebnis- und erlebnisorientiert ausprägen. Auf dem Hintergrund ei- nes konstruktivistischen Lernverständnisses bedeutet pädagogische Begleitung, dass die begleitende Person nicht immer der wissende Experte ist, sondern ein Begleiter, der sich gemeinsam mit dem Lerner auf die Wagnisse, Irritationen und Erfolgserlebnisse, aber auch auf Krisen einlässt und ihm beratend zur Seite steht, insbesondere dann, wenn Ler- nen in der direkten Konfrontation mit Leben stattfindet.

Begleiten ist immer ein Beziehungsprozess, der bewusst und feinfühlig zu gestalten und auszuhandeln ist. Dafür sind dialogische, ko-konstruktive Vermittlungs- und Aushand- lungsleistungen erforderlich. Derart individualisiertes und situiertes, d.h. in der Praxis ver- ankertes und begleitetes Lernen ist derzeit von der universitären Lehrerbildung in Anbet- racht der aktuell hohen Studierendenzahlen in den Lehramtsstudiengängen kaum bzw. nur bedingt zu leisten. Daher gilt es, sich auch auf bildungspolitischer Ebene für eine Ver- besserung der Studienbedingungen einzusetzen, um überschaubare Lerngruppen und ei- ne möglichst dichte Vernetzung der Lerner untereinander zu erreichen.

Die pädagogische Begleitung im Projekt K ist – wie es die Patin Bianca formuliert – „zweigleisig“ (Bianca, N 24-25) angelegt: durch eine supervisorische und eine pädagogi- sche Begleitveranstaltung wird den Studierenden eine ständige Reflexionsebene angebo- ten, die für die Schulung des Verstehens den Blick aus unterschiedlichen Perspektiven und mit abwechslungsreichen Methoden sowohl auf den anderen als auch auf die eigene Person mit der eigenen Geschichte, den bisherigen Erfahrungen und den aktuellen Ein- bindungen richtet. Bemerkenswert ist, dass zwei Patinnen der vorgestellten Fälle durch die Konfrontation mit den kindlichen Belastungen ihre eigenen Schwierigkeiten als Schü- lerinnen als noch immer gültige Verhaltensmuster erkennen. Diese biografischen Ansatz- punkte könnten in der ressourcenorientierten Arbeit vertiefend bearbeitet und weiter aus- gebaut werden.88

Eine so konzipierte Begleitung entspricht, wie die Fälle zeigen, auch den unterschiedli- chen Bedürfnissen der studentischen Lerner – diese nutzen sie selbst- und fremdorientiert zur biografischen Selbstvergewisserung, zur Aufarbeitung pädagogischer Fragestellungen und zur eigenen Professionalisierung.

88 Hierzu müssen zunächst die eigenen Ressourcen vergegenwärtigt werden, und zwar sowohl die inneren, wie z.B. die Selbstwertschätzung, das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, Flexi- bilität im Umgang mit Anforderungen, körperliche Fitness und Reflexivität, als auch die äußeren Ressourcen, zu welchen u.a. das Vorhandensein sicherer Bindungen und Unterstützungspo- tenziale durch Eltern, Freunde und/oder Kooperationspartner und Fachkräfte zählen, ebenso wie zuverlässige Strukturen, Soziale Netzwerke, ein „gesundes“ Wohnumfeld und finanzielle Absicherung. Systeminterne Lösungsmöglichkeiten müssen gesucht und an den Stärken anset- zend Potenziale (Leistungsfähigkeiten) für zukünftiges Handeln freigesetzt werden.

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Kapitel VI: Konsequenzen für die universitäre Lehrerbildung 

 

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Durch die kooperative Anlage des Projekts kann die pädagogische Begleitung sogar als dreigleisig angelegt gesehen werden, denn wie der Fall Jana zeigt, wird auch die Be- gleitung durch den Kooperationspartner als förderlich beschrieben.

Auch der Projektgruppe, die in allen drei Fällen besonders bedeutsam betont wird, kommt eine begleitende Funktion zu. In einem situierten Lernangebot, wie es praxisnahe Fallarbeit im Kontext des Projekt K darstellt, entspricht sie einer fürsorglichen und protek- tiv wirkenden „caring community“ (vgl. Opp 1997; Wustmann 2004). Dieser Aspekt bildet den vierten Eckpunkt im Konzept der projektspezifischen pädagogischen Begleitung. Die ausgewerteten Äußerungen lassen erwarten, dass die Lernform als Projekt, die individuell ausgerichtete Begleitung der einzelnen Patinnen, die begleitende reflexive Arbeit und die Erfahrung, über einen längeren Zeitraum in einer Lerngruppe eingebunden zu sein, dazu beitragen, individuell „Stärke“ zu entwickeln, einerseits um selbst stark und widerständig zu sein und andererseits Kindern in der Schule ähnliche Erfahrungen zu ermöglichen und sie in ihrer Resilienzfähigkeit zu fördern. Dies ist allerdings noch nicht nach einem Jahr evaluierbar, sondern wäre in längerfristig angelegten Studien zu überprüfen.

Mit dem Anliegen, die Qualität der Lehre weiter zu verbessern, muss in universitären Angeboten, die angehende Lehrer durch praxisnahe Fallarbeit auf das professionelle Leh- rerhandeln vorbereiten und in dieses einüben wollen, das Augenmerk also auf die Beglei- tung des Begleitens gerichtet werden. Unter diesem Aspekt könnte das Konzept der pä- dagogischen Begleitung im Projekt K sowohl auf der methodisch-didaktischen als auch auf der konzeptionellen Ebene ausdifferenziert werden.

Durch das parallele und eng miteinander verknüpfte Angebot von Praxis und Theorie lernen die Studierenden zwar, ihre Praxiserfahrungen zu reflektieren, die theoretische Fundierung aber, so zeigen die Fälle, fällt ihnen trotz intensiver Begleitung und trotz wis- senschaftlich theoretischer Aufarbeitung pädagogischer Fragestellungen schwer. Wie in der Fallanalyse bereits aufgezeigt, gelingt es leichter, Theorie mit Erfahrungs- bzw. Pra- xiswissen zu konkretisieren, als Erfahrungen in verbalen Darstellungen mit theoretischem Wissen zu sättigen. Dies muss intensiv eingeübt werden. Das Differenzverhältnis zwi- schen theoretischen und praxisbezogenen Wissensbeständen kann demnach durch pra- xisnahe Fallarbeit ansatzweise überbrückt werden. Die in den Fällen geäußerte Diskre- panzerfahrung von Wissenschaft und Praxis, von theoretischem Wissen und praktischen Erfahrungen und Können muss im Rahmen der pädagogischen Begleitung reflexiv bear- beitet werden, damit sie nicht, wie es häufig bei Berufsanfängern vorkommt, zu einem Praxisschock führt (vgl. Fritz Bohnsack 2000), sondern produktiv genutzt werden kann.

Soll durch die Begleitung das erfahrungsorientierte, situierte Lernen reflexiv und wis- senschaftlich theoretisch aufgearbeitet werden, sind die Studierenden auf umfassendes pädagogisches Fachwissen89 angewiesen, das im Rahmen der pädagogischen Beglei-

89 Die Fälle verdeutlichen, dass die Themenkomplexe Prozesse des Lernens, zwischenmenschli-

ches Interaktionsgeschehen, Beziehungsgestaltung, Kommunikation, kindliche Entwicklung und mögliche Beeinträchtigungen von besonderer Relevanz sind. Da die begleitende Person am Geschehen teilnimmt und zugleich die Rolle des Beobachters innehat, sind auch grundlegende Kenntnisse über das Zusammenspiel von Fördern und Diagnostik, Möglichkeiten der Prozess- dokumentation und -evaluation erforderlich, ebenso wie Erfahrungen und Wissen in den Berei- chen Elternarbeit, Beratung und Kooperation. Im Hinblick auf die beratenden und vermittelnden Anteile pädagogischer Begleitung ist die theoretische Auseinandersetzung mit Kommunikati- onsmodellen hilfreich.

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tung vermittelnd zu erarbeiten ist, damit auf der Grundlage dieses Wissens alternative Handlungsplanungen entworfen und herausfordernde Situationen flexibel und verstehend bewältigt werden können. Zu bedenken ist dabei aber, dass das theoretische Wissen, das nach der Fallarbeit erarbeitet wurde, nur noch genutzt werden kann, um die erinnerten Er- lebnisse im Nachhinein anders zu deuten und damit besser bzw. anders zu verstehen, nicht aber, um Einfluss auf das aktuelle Geschehen zu nehmen. Wie schmerzvoll das nachträgliche Erkennen eigener Fehler, Fehlinterpretationen oder die Desillusionierung und das Erkennen der Begrenztheit der eigenen Wirksamkeit sein kann, verdeutlicht ins- besondere der Fall Wera, zeigt sich aber auch im Fall Jana. Für die Anbahnung professi- onellen Lehrerhandelns als Umgang mit Ungewissheit muss die Begleitung daher darauf ausgerichtet sein, auch die eigenen Lernwege zu reflektieren und eigene Fehler nicht ne- gativ zu besetzen, sondern sie als nicht vermeidbar zu akzeptieren: nicht die Fehlerlosig- keit, sondern die Bereitschaft, sich auf Ungewisses einzulassen in der Gewissheit, Fehler machen zu können, und der reflexive, konstruktive Umgang mit diesen bestimmt professi- onelles Lehrerhandeln.

Soll praxisnahe Fallarbeit Forschendes Lernen unterstützen, ist es erforderlich, bei den Studierenden eine fragende Grundhaltung auszubauen. Dafür sollte die pädagogische Begleitung darauf ausgerichtet werden, Interesse zu wecken und eine Neugierhaltung aufzubauen. Wichtig ist, die Studierenden dahingehend zu bestärken, sich fragend zu ver- halten, was auch bedeutet, sich selbst infrage stellen zu lassen, für Forschendes Lernen eigene Fragen zu entwickeln und diese als Ausgangspunkt für eine weiterführende vertie- fende theoretische Auseinandersetzung mit den aufgeworfenen Thematiken zu nutzen.

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Kapitel VII

Schluss und Ausblick

Die vorliegende Arbeit konnte aufzeigen, dass praxisnahe Fallarbeit im Hinblick auf die spezifischen Anforderungsstrukturen und Herausforderungen professionellen Lehrerhan- delns den Aufbau von Fallwissen unterstützt, den Theorie-Praxis-Dialog intensiviert und sowohl Einblicke in die Beziehungspraxis als auch erprobendes und einübendes pädago- gisches Handeln in der Rolle als Lern- und Lebensbegleiter ermöglicht.

Die Studierenden haben ihr eigenes Lernen nicht zuletzt durch das große Ausmaß an Selbstverantwortung als authentisch und gewinnbringend erlebt. Für sie war es ein Ler- nen in einem Zwischenraum, der ihnen eigene Entwicklungsprozesse ermöglicht, sie vo- rantreibt und vor allem: bei dem sie begleitet werden. Vor dem Hintergrund dieser Erfah- rungen kann davon ausgegangen werden, dass das Projekt K nicht nur bedeutende Lern- schritte bei den Teilnehmern in Gang gesetzt hat, um professionelles Lehrerhandeln bereits während des Studiums entwickeln zu können, sondern dass sich die Arbeit am Fall auch produktiv und nachhaltig auf ihren späteren Alltag als künftige Lehrer auswirken wird.

Aufgezeigt werden konnte, dass pädagogische Begleitung unterschiedlich konzeptio- niert wird. Von Interesse wird sein, die sich in dieser Arbeit andeutende Variationsbreite und den Gestaltungsspielraum für pädagogische Begleitung durch zusätzliche Fallanaly- sen weiter auszudifferenzieren und auf mögliche Typenbildungen hin zu befragen. Auch stellt sich die Frage, ob die in diesen Fällen herausgearbeiteten Konzepte in anderen Spannungsfeldern umgesetzt und in anderen Schwerpunkten ausgeprägt werden. Da die- se Studie angehende Lehrerinnen in Patenschaftsbeziehungen mit Mädchen fokussiert, wäre es zudem interessant zu fragen, welche Erfahrungen angehende Lehrer im Rahmen praxisnaher Fallarbeit als subjektiv bedeutsam in ihren Erzählungen schildern oder wie sich gegengeschlechtliche Patenschaftsbeziehungen ausgestalten.

Wie sich die Mitarbeit im Projekt und der Prozess des erfahrungsorientierten und situ- ierten Lernens im Bewusstsein und im künftigen Handeln der angehenden Lehrer nieder- schlagen wird und ob sie in ihrer weiteren beruflichen Ausbildung auf ihre Projekterfah- rungen zurückgreifen können, ist jedoch nur durch weiterführende Forschungen zu bele- gen. Die geplanten Interviews mit Berufsanfängern, die an dem Projekt teilgenommen und inzwischen das Referendariat abgeschlossen haben, lassen in dieser Hinsicht konkretere Aussagen erhoffen.

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Literaturverzeichnis

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Anhang – A I

Inhalt

A 01 (a) Flyer_S-1 A 01 (b) Flyer_S-2 A 02 Verpflichtungserklärung A 03 Vereinbarung – Kontrakt A 04 Leitfaden für Portfolioarbeit A 05 Synopse aller Patenschaften A 05 (a) Übersicht über die Mitarbeit im Projekt bis 12-2003 A 05 (b) Übersicht über die Patenschaften bis 12-2003 A 06 Interviewfragen – Nachfrageteil A 07 Transkriptionssystem A 08 Aspekte reflexiver Erfahrungsbearbeitung A 09 Übersicht über die Forschungsdaten A 10 (1) Tabellarische Zusammenfassung – Fall B A 10 (2) Tabellarische Zusammenfassung – Fall W A 10 (3) Tabellarische Zusammenfassung – Fall J A 11 Tabelle_Kontrastierte Dimensionen A 12 Tabelle_Konzepte pädagogischer Begleitung A 13 BSHG §47 V § 1 Körperlich wesentlich behinderte Menschen

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ANHANG

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A 02Verpflichtungserklärung zur Mitarbeit im Projekt K

 

Projekt

Kinder begleiten und verstehen lernen

Universität Kassel in Kooperation mit dem Familienberatungszentrum Kassel

Verpflichtungserklärung für studentische Projektteilnehmer und –teilnehmerinnen

Ich möchte an dem Projekt mitarbeiten.

Ich möchte für ein Jahr

- in einer sozialpädagogischen Spielgruppe in der EB mitarbeiten O - eine Patenschaft übernehmen und O

ein zuwendungsbedürftiges Kind begleiten und fördern Über die Projektkonzeption bin ich informiert und fühle mich an die daraus resultierenden Verpflichtungen gebunden.

Meine Projektarbeit werde ich durch einen Zwischenbericht (maximal 3 Seiten) und einen Abschlussbericht dokumentieren.

Kassel, den

Unterschrift

*************************************************************************************************

Name:

Anschrift:

Tel. / e-mail:

Studienfächer Semester

Name des Patenkindes:

Begleitung des Kindes ab

Leiter/Leiterin der Spielgruppe

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A 03 Vereinbarung/Kontrakt

 

Projekt

Vereinbarung

Kinder begleiten und verstehen lernen

Universität Kassel in Kooperation mit dem Familienberatungszentrum Kassel Für , geb. , wohnhaft in

Name des Kindes , Tel.:

ist eine weiterführende Förderung durch das Projekt K an der Uni Kassel geplant.

Für diese Förderung vereinbaren alle Beteiligten folgende Punkte:

1. Die bisherige Förderung des Kindes durch die Erziehungsberatungsstelle / Pädagogische Frühförderung im Familienberatungszentrum Kassel bei Frau / Herrn ist ab dem beendet.

2. Die Förderung ist für die Dauer eines Jahres geplant. Sie beginnt ab und wird regelmäßig, einmal wöchentlich für drei Stunden stattfinden.

3. Die Studierende / der Studierende wird die Förderung in Form einer Patenschaft übernehmen.

4. Die Eltern / Erziehungsberechtigten des Kindes wünschen eine weitere Förderung für ihr Kind im Projekt K.

5. Sie erklären sich damit einverstanden, dass ihr Kind in der Förderung über das Projekt K mit der Patin / dem Paten an gemeinsamen Unternehmungen teilnehmen darf.

6. Die Eltern / Erziehungsberechtigten unterstützen die Projektarbeit (wenn möglich) durch einen einmaligen Betrag von 25 €. Das Geld kann für gemeinsame Unternehmungen genutzt werden. (Ausgaben im Rahmen des Projektes werden schriftlich verlistet).

7. Die Erziehungsberatungsstelle / Pädagogische Frühförderstelle nimmt den Betrag entgegen, quittiert ihn und leitet das Geld an die Projektgruppe der Universität Kassel weiter.

8. Für eventuelle weitere Beratung und Auskünfte über die bisherige Förderung steht Frau / Herr von der Erziehungsberatungsstelle / Pädagogischen Frühförderung weiterhin zur Verfügung.

Kassel, den

Mitarbeiter/Mitarbeiterin des Familienberatungszentrums

Studierende/r Erziehungsberechtigte/r

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A 04 (1)Leitfaden für die Portfolioarbeit

 

Projekt K Dokumentation und Reflexion der Projektarbeit mit Portfolios

Leitfaden für die Arbeit mit dem Portfolio (Projektportfolio, Entwicklungs- und Prozessportfolio)

Sie haben sich für die Mitarbeit im Projekt K – Kinder begleiten und verstehen lernen - entschieden. Ihre Zeit mit dem Patenkind oder der Mitarbeit in einer sozialpädagogischen Spielgruppe der Erziehungsberatung dokumentieren und reflektieren Sie bitte und verarbeiten Ihre pädagogischen und didaktischen Erfahrungen. Hierzu führen Sie bitte in dieser Zeit ein Tagebuch, in welchem Sie nicht nur notieren, was Sie mit Ihrem Patenkind oder mit der Spielgruppe gemacht und erlebt haben, sondern vor allem auch Ihre eigenen Überlegungen, Gedanken, Beobachtungen, Fragen und Selbstbeobachtungen in der Beziehung zu dem Kind. Der Schreibprozess ermöglicht eine Distanz zum Geschehen und das Geschehene kann, nachdem es erlebt ist, neu durchdacht und nacherzählt werden. Wichtig ist ein kontinuierliches Schreiben – so können Entwicklungen und Lernprozesse auch kontinuierlich unterstützt werden. Ihre Tagebuchaufzeichnungen sind einerseits eine wichtige Quelle für Diskussionen in der Projektgruppe, andererseits sind sie Grundlage für den Zwischen- und Abschlussbericht der Projektarbeit. Statt einer großen Abschlussarbeit können Sie verschiedene kleinere Arbeiten und Arbeitsergebnisse aus Ihrer Zeit der Projektmitarbeit in einem Portfolio verfassen.

Portfolio – was ist das? Den Begriff Portfolio findet man in Wirtschaft, Berufsbildung, Fremdsprachen, Schule und in letzter Zeit zunehmend häufiger auch im Bereich der Lehrerbildung. Er bezieht sich nach Hascher/Schratz (2001) allgemein auf die strukturierte Darstellung von (berufl.) Leistungen und Erfolgen. Ursprünglich kommt das Portfolio aus Amerika und bedeutet (Akten-)Mappe, d.h. eine Mappe, in der wichtige Dokumente gesammelt werden. Im pädagogischen Bereich dokumentieren und beurteilen Portfolios ausgesuchte Werkstücke (die Qualität von) Leistungen. In der Literatur werden in der Auseinandersetzung mit dem Thema auf den ersten Blick verwirrend viele unterschiedliche Begriffe verwendet; um nur einige zu nennen: Lernportfolio, Prozessfolio, Kompetenzportfolio, Teaching-Portfolio, Bewertungsportfolio, Entwicklungsportfolio, Ausbildungsportfolio, Sprachenportfolio. Die Definition ist nach Häcker (2002) abhängig von der Intention und Funktion des Portfolios in seiner jeweiligen Verwendung und Anwendungs- bzw. Einsatzbereiche. Für die Projektarbeit übernimmt das Portfolio verschiedene miteinander verbundene Funktionen. Es ist

• Arbeitsmethode • Dokumentationshilfe • Kommunikations- und Präsentationsinstrument • Hilfe und Kontrolle eigenständigen Lernens und Lernbegleitung • Brücke zwischen Theorie und Praxis • Bewertungs- und Beurteilungssystem

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A 04 (2) Leitfaden für die Portfolioarbeit

 

• Evaluationsmethode oder auch Instrument der Qualitätssicherung.

In der universitären Lehrerausbildung an der Universität Kassel möchte ich im Rahmen des Projekts K Portfolios als Arbeits- und Vorzeigeportfolio aber auch als Medium der Selbstreflexion und in der Arbeit mit dem Kind als alternatives Beurteilungsinstrument und als pädagogisch- diagnostisches Medium erproben.

• Einerseits soll Ihr Portfolio eine Art „Arbeits- und Vorzeigemappe“ (Behrens 2001) werden, in

welcher Sie Ihre Arbeit und Lernergebnisse mitteilen und im Verlauf des Jahres und zum Abschluss Ihrer Projektarbeit präsentieren. Portfolios als Lehr- und Lerninstrument dienen der verbesserten Steuerung individualisierten und differenzierten Lernens und sind Dokumentationshilfe und Präsentationsinstrument.

• Mit Hilfe Ihres Portfolios können Sie Entwicklungen, Wachstum und Veränderungen sowohl auf der Seite des Kindes wie auch auf Ihrer eigenen aber auch in der Beziehungsgestaltung zwischen Ihnen und Ihrem Patenkind dokumentieren und reflektieren – das Portfolio wird als „Entwicklungs- oder Prozessportfolio“ ein entwicklungsorientiertes Instrument zur Selbst- und Fremdeinschätzung“ (Schratz/Tschegg 2001). Es dokumentiert Ihre „Sammlung von (...) Erfahrungsstücken" und wird zu einer "Reportage über die Geschichte des (Ihres) Lernens“ (Niggli 2001). Dabei soll das Portfolio auch als „Medium der Selbstreflexion“ (Wintersteiner 2002) Auskunft über Ihre selbst eingeschätzten Lernentwicklung und – fortschritte geben und eine veröffentlichte Form der Selbsteinschätzung darstellen.

• Im Verlauf der Projektmitarbeit werden Sie zunehmend mehr Informationen und „Daten“ über Ihr Patenkind erhalten und möglichst umfassende Eindrücke und Erfahrungen mit und über den Anderen und sich selbst sammeln mit dem Ziel des Begleitens und Verstehen-Lernens. In diesem Zusammenhang kann das Portfolio als Methode zur Beurteilung, die der Pädagogischen Diagnostik zugeordnet ist, also als pädagogisch diagnostisches Medium verstanden, genutzt und ausgebaut werden (vgl. Lissmann 2001).

• Im Rahmen der universitären Lehrerinnen- und Lehrerausbildung lernen Sie durch die Arbeit mit dem Portfolio ein alternatives Beurteilungsinstrument kennen, das zunehmend mehr im schulischen Alltag zum Einsatz kommt, um Lernprodukte und -prozesse zu begleiten, abzubilden und zu bewerten.

Inhalte Ihres Portfolios Sowohl der Zwischen- als auch der Projektabschluss werden Bestandteile des Portfolios. Nach ungefähr 6 Monaten Ihrer Projektmitarbeit sollten Sie einen Zwischenbericht über Ihr Patenkind und Ihre bisherigen Erfahrungen im Projekt sowie Ihre Planung für das zweite Halbjahr anfertigen. Am Ende Ihrer Projektmitarbeit bitte ich Sie, der Projektgruppe mit Hilfe Ihres Portfolios Ihre Arbeit zu präsentieren. Das Portfolio soll dabei u.a.

• das Jahr mit Ihrem Patenkind dokumentieren

• Wachstum und Veränderungen aufzeigen

• Ihren Fortschritt und ihre persönliche Lernwege dokumentieren sowie

• Auskunft über Ihre Selbsteinschätzung über das geben, was Sie in der Zeit gelernt haben. Sie können Beschreibungen von Eindrücken, Erfahrungen und Gefühle, Dokumentationen, Reflexionen von (Unterrichts-)Handlungen, Erörterungen von Schwierigkeiten, Bewertung von Stärken und Eigenleistungen, Verarbeitung von Lerninhalten sowie Auszüge von Arbeiten von

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A 04 (3)Leitfaden für die Portfolioarbeit

 

Schülern und Schülerinnen in Ihr Portfolio aufnehmen (vgl. Hascher/Schratz 2001). Es besteht somit wie ein Mosaik aus mehreren, miteinander lose verbundenen Elementen. Diese werden durch einen ein- und begleitenden Kommentar zu einer Einheit zusammengeführt. Die Arbeit mit dem Portfolio beinhaltet Tätigkeiten wie Sammeln, Auswählen, Sich orientieren, Bewerten, Dokumentieren und zur Sprache kommen (vgl. Hecker 2002). Die Sammelmappe ist als „direkte Leistungsvorlage“(Vierlinger 1999). Grundlage für Gespräche über das Lernen, Veränderungen, Wachstum und über den (Arbeits-) Prozess. Das Portfolio ist Ihre veröffentlichte Selbsteinschätzung. Dabei veröffentlichen Sie (nur) das, was Sie veröffentlichen wollen und dies in einer strukturierten und kommentierten Weise, so dass es für andere nachvollziehbar ist. Das Material wird aufgrund gemeinsamer Vereinbarungen gesammelt. Durch diese Vorgaben und Vereinbarungen über die Inhalte gewinnt das Portfolio eine steuernde Funktion für Ihre Aktivitäten und Arbeiten.

Ihr Portfolio sollte/könnte folgende Dokumente enthalten: Einige Dokumente sind für Ihr Portfolio verpflichtend (!), andere können Sie selbstbestimmt einbringen (*).

Einleitung

• Ihre eigene Motivation für die Projektmitarbeit !

Vorstellung des Patenkindes

• Ausführliche Beschreibung des Kindes aus Ihrer Sicht !

• Beschreibung des Kindes aus der Sicht der Erziehungsberechtigten, * Therapeuten, der Lehrerin, von Freunden, ...

• Ausgewählte Arbeitsergebnisse, Produkte aus der Hand des Kindes *

• Zeichnerische Selbstdarstellung des Kindes !

• Ihr Kommentar dazu und vertiefende Auseinandersetzung mit dem

Thema Kinderzeichnung (Richter 1987, s.a. Literatur) *

• Das Kind in seinem sozialen Umfeld ! Familie, Nachbarschaft, Schule, Therapien, ... (erster Eindruck, Problemdefinition)

• Die Familie als Bezugssystem für die Projektarbeit !

(Kontaktherstellung, Eindrücke, Einstellungen zur Zusammenarbeit, ...)

• Protokolle, Notizen, narrative Interviews * von Hospitationen in Schule, außerschulischen Institutionen und/oder von Gesprächen mit an der Förderung des Kindes beteiligten Personen

Ihre gemeinsame Zeit

• Dokumentation der Treffen mit Ihrem Patenkind während des Jahres ! mit Hilfe des Förderleporellos

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A 04 (4) Leitfaden für die Portfolioarbeit

 

• Gemeinsame Aktivitäten *

• ein ausgesuchtes Protokoll von einer gezielten, strukturierten, * teilnehmenden Beobachtungen einer Situation in der Zeit mit Ihrem Patenkind unter Verwendung von Beobachtungsbögen

• Ausführliche Beschreibung eines Treffens mit dem Kind !

incl. Tagebuchaufzeichnungen / -ausschnitten

• Beschreibung einer für Sie besonders schwierigen Situation ! in dem Jahr mit Ihrem Patenkind und Ihr eigener Umgang damit (belegt und ergänzt durch Tagebuchausschnitte) mit anschließender Reflexion

• Beschreibung und Reflexion eines Quartalstreffens !

Mitarbeit und Dokumentation eines Quartaltreffens in Form von Text, Fotobuch, Ausstellung, ...)

• Überlegungen zum Halbjahr – Halbjahresbericht bestehend aus !

- den zuvor aufgezählten Punkten - der Planung für das zweite Halbjahr - einer Beschreibung des für Sie aktuellen Themas, mit dem Sie sich

in der Zeit mit Ihrem Patenkind näher auseinander gesetzt haben oder sich noch auseinander setzen wollen

• Beschreibung der Abschiedsphase und der Abschlusstreffen !

Rückblick und Ausblick

• Reflexion des Jahres mit Hilfe des Förderleporellos ! - der Blick aus der Distanz auf das vergangene Jahr: - was wird in dem Leporello deutlich? (Highlights, Besonderheiten,

Krisen in der Zeit mit Ihrem Patenkind, ...)

• drei Treffen mit dem Kind ausführlich beschreiben * (Anfang – Mitte – Ende) incl. Tagebuchaufzeichnungen/-ausschnitten

- gibt es Veränderungen? - wenn ja, welche und - wie könnten sie begründet werden?

• Das Thema des Kindes erkennen !

- theoretische Erarbeitung des Aufsatzes von Hansjörg Kautter (s. Literatur)

- Kann ein Bezug zum Kind hergestellt werden?

• Kurzer Essay zu einem Problem/Thema, * mit dem Sie in der Arbeit mit dem Kind konfrontiert wurden – kann auch in begleitenden Seminaren erarbeiten werden/worden sein (Multi-kulturelle Erziehung, Begegnung mit einer anderen Kultur, Umgang mit türkischen Kindern, Wahrnehmungsförderung, Umgang mit Konflikten, Beratung, ...)

• Reflexion der Fortschritte/Veränderungen auf der Seite des Kindes !

• Reflexion des persönlichen Lernprozesses im Verlauf des Jahres !

• Beschreibung und Reflexion Ihrer Erfahrungen mit Supervision !

in der Projektmitarbeit

• kreative Darstellung des Jahres, der Entwicklung, des Themas, ... *

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A 04 (5)Leitfaden für die Portfolioarbeit

 

als Selbst- und Projektreflexion und Dokumentation ggf. als Abschiedsgeschenk für das Kind (ein Jahr im Karton, Collage, Leporello, Spiel, ...)

• Video, Tonband, Fotos von und mit dem Kind *

(protokolliert und dokumentiert)

• Bezug und Reflexion eigener (biografischer) Erfahrungen *

• Präsentation ! Den eigenen Fall mir/oder der Projektgruppe als Vortrag präsentieren: 20 bis 30 Minuten freies Reden zur kritischen Darstellung der Projektarbeit, individueller Erfahrungen, Konsequenzen für eigene gegenwärtige und zukünftige Tätigkeiten (Nutzen) und anschließende Diskussion (ca.15 Min.). Dies wird mit Tonband oder Video von mir aufgenommen – sie können die Aufzeichnung in Kopie erhalten)

• Eigene Ideen und Inhalte *

Formale Gestaltung Ihres Portfolios

Für die formale Gestaltung Ihres Portfolios gibt es nur einige wenige Vorgaben. Für den Anfang rate ich Ihnen, alle Unterlagen in einem A4-Ordner zu sammeln und diesen mit Trennblättern zu gliedern. So strukturieren Sie Ihre Unterlagen gleich übersichtlich. Inwieweit Sie für Ihr Portfolio dieses Format einheitlich beibehalten oder ob Sie den Ordner als ein Element in eine Schachtel einfügen, oder diesen durch andere Arbeitsergebnisse in anderen Formaten ergänzen, hängt einerseits von den von Ihnen ausgewählten Inhalten und deren Formaten ab und bleibt andererseits Ihrer Fantasie und Gestaltungsfreude überlassen. Die einzelnen Inhaltselemente Ihres Portfolios sollten jedoch miteinander durch einen roten Faden verbunden werden. Dieser sollte durchgängig gedruckt, in einheitlicher Schriftart und -größe geführt und dadurch erkennbar sein. Sinnvoll ist des Weiteren, Ihrem fertigen Portfolio eine Einleitung und ein Verzeichnis der Inhalte mit Seitenanzahl oder mit angegebenem „Fundort“ in Ihrem Portfolio zu geben. Auch bei der Wahl des Formates Ihres Tagebuchs haben Sie freie Wahl. Ob Sie es handschriftlich oder im Computer führen, ist Ihnen freigestellt. Die Auszüge daraus, die Sie in Ihr Portfolio einfügen wollen, bitte ich Sie maschinenschriftlich zu verfassen. Gestalten Sie für Ihr Portfolio ein kreativ ansprechendes, passendes Cover und geben Sie ihm einen Titel. Dieses ergänzen Sie bitte durch die Angabe des Zeitraumes Ihrer Projektmitarbeit, sowie Ihre persönlichen Angaben als Autorin des Portfolios (Name, Anschrift, Semester, ...)

Begleitung und Feedback Ihre Arbeit am Portfolio werde ich individuell begleiten. Sie können jederzeit Textauszüge oder andere Arbeitsergebnisse der Projektgruppe vorstellen und als Diskussionsgrundlage anbieten. Ihre Verschriftlichungen oder Entwürfe können Sie jederzeit an mich mailen. Diese werde ich, wenn gewünscht, kommentiert wieder an Sie zurückschicken und auf Ihre Fragen eingehen. Gern können Sie auch mit mir Termine für Beratungsgespräche vereinbaren.

Vielleicht könnten zukünftig Projektpatenschaften oder –teams entstehen, um sich gegenseitig in Arbeitsprozessen zu unterstützen und/oder sich gegenseitig Rückmeldung zu geben. Die gegenseitige Rückmeldung könnte dadurch erfolgen, dass Lernpartner jeweils ihre

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A 04 (6) Leitfaden für die Portfolioarbeit

 

Aufzeichnungen oder Auszüge daraus (zu einer Projektgruppensitzung) austauschen und diese wechselseitig (schriftlich) kommentieren, darüber ins Gespräch kommen und sich ggf. gegenseitig auch Fragen beantworten können. Arbeitsteilungen wären in der Projektgruppenarbeit ebenfalls denkbar: so könnten Sie auch Themen, die andere ProjektteilnehmerInnen während der Projektzeit erarbeitet und vorgestellt haben, mit in Ihr Portfolio aufnehmen und diese auf Ihre eigene Fallarbeit beziehen und individuell reflektieren.

Und zum Schluss Für Ihre Dokumentation Ihrer Projektmitarbeit in Form eines Portfolios können Sie zwei Scheine erhalten:

Bereich A: Vorstellung ihres Falles Bereich B: theoretische Auseinandersetzung mit einem zu Ihrer Fallarbeit passenden Thema Nach Beendigung Ihrer Projektmitarbeit und abschließender Präsentation bitte ich Sie um Einsichtnahme in Ihr Portfolio, um es zu Evaluationszwecken zu nutzen: einerseits möchte ich die Arbeit im Projekt K und dessen Qualität erfragen, andererseits wird zur Zeit an der Universität Kassel eine veränderte Leistungsbewertung im Studium und in diesem Zusammenhang u.a. die Arbeit mit Portfolios diskutiert, welche im Vorlauf ab WS 2002 erprobt wird. Hierfür bitte ich Sie, mir eine kopierte Version Ihres Portfolios zu überlassen. Ihre für das Portfolio angefertigten Produkte, besondere Gestaltungen oder Unikate bleiben selbstverständlich in Ihrem Besitz. Diese können Sie mir in Form von Beschreibungen und Fotos abgeben.

Literatur: Behrens, M.: Denkfiguren zum Portfoliosyndrom. In: journal für lehrerinnen- und lehrerbildung: 1. Jg., 2001, Heft 4, S. 8ff. Garlichs, A.: Schüler verstehen lernen. Donauwörth 2000. Häcker, T.: Der Portfolioansatz – die Wiederentdeckung des Lernsubjekts? In: Die Deutsche Schule: 94. Jg. 2002, Heft 2, S. 204ff. Hascher, T. , M. Schratz: Portfolios in der LehrerInnenbildung. In: journal für lehrerinnen- und lehrerbildung: 1. Jg., 2001, Heft 4, S. 4ff. Hecker, U.: Perspektive Portfolio. In: Grundschulunterricht: 2002, Heft 10, S. 45ff. Kautter, H.: Das „Thema des Kindes“ erkennen. Umrisse einer verstehenden pädagogischen Diagnostik. In: Eberwein, H.; Knauer, S. (Hrsg.): Handbuch Lernprozesse verstehen. Weinheim und Basel, 1998, S. 81ff. Lissmann, U.: Die Schule braucht eine neue Pädagogische Diagnostik. In: Die Deutsche Schule: 93. Jg. 2001, Heft4, S. 486ff. Niggli, A.: Portfolios und der Theorie-Praxis-Bezug im Umgang mit Ausbildungsstandards. In: journal für lehrerinnen- und lehrerbildung: 1. Jg., 2001, Heft 4, S. 26ff. Richter, H.-G.: Die Kinderzeichnung. Düsseldorf 1987. Schratz, M. und K. Tschegg: Das Portfolio im Kontinuum unterschiedlicher Phasen der Lehrerbildung. In: journal für lehrerinnen- und lehrerbildung: 1. Jg., 2001, Heft 4, S. 17ff. Vierlinger, R.: Leistung spricht für sich selbst. Konzept der direkten Leistungsvorlage. Heinsberg 1999. Wintersteiner, W.: Portfolios als Medium der Selbstreflexion. In: die: 2002, Heft 1, S. 35ff.

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A 06 (1)Fragen für Teil II des Interviews

 

Fragen zum narrativen Interview

I Eröffnungsfrage für die Stegreiferzählung:

Du hast ein Jahr lang im Projekt K - Kinder begleiten und verstehen lernen - mitgearbeitet und dabei eine Patenschaft für ein Kind übernommen. Denke bitte noch einmal zurück an deine aller erste Berührung mit der Projektidee und erzähle mir von deinen Erfahrungen und Gedanken während dieser Zeit, vom ersten Moment an, über die Zeit mit deinem Kind bis heute.

II Nachfrageteil

Fragen zur Person der Patin/des Paten

Motivation zur Mitarbeit: Warum hast du dich für das Projekt entschieden?

Eigene Kindheit

Gab es Erinnerungen an deine eigene Kindheit oder Kindheitserlebnisse, mit denen du in der Zeit der Projektmitarbeit konfrontiert wurdest?

Ein pädagogisch interessantes Erlebnis

Welche Erfahrung war für dich in dem Projektjahr pädagogisch so interessant, dass sie sich nachhaltig auf deine spätere Berufsrolle auswirken wird? - Kannst du diese bitte anschaulich und möglichst an einem Beispiel schildern? Erinnerst du dich im Projektverlauf an Situationen, in denen du dich auch kritisch mit dir selbst auseinander setzen musstest? – Welche waren das?

Theoretische Auseinandersetzung Mit welchem Thema oder Problemen wurdest du durch die Patenschaft konfrontiert? Hast du dich mit einem Thema oder Problem auch intensiver theoretisch auseinander gesetzt?

Fragen zum Kind

Fö-Grund von der EB oder PFF

Kannst du bitte noch einmal darstellen, warum das Kind von der Erziehungsberatungsstelle oder der Pädagogischen Frühförderung für eine Begleitung durch das Projekt vorgeschlagen wurde?

Veränderungen/Entwicklungen

Erinnere dich bitte noch einmal an deine ersten Begegnungen mit deinem Patenkind und vergleiche sie mit denen am Ende der Patenschaft. Welche Veränderungen und Entwicklungen kannst du beschreiben? - bei dem Kind, in seiner Entwicklung und in seinem Verhalten - und/oder im System Familie

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A 06 (2) Fragen für Teil II des Interviews

Höhepunkte/Krisen Gab es im Verlauf der Projektmitarbeit Höhepunkte oder Krisen im Hinblick auf die Entwicklung des Kindes?

Ausblick Was wäre deiner Meinung nach wichtig für die weitere Zukunft deines Patenkindes - in der Familie? - in der Schule? - in der Freizeit?

Fragen zur Beziehung zwischen Pate/Patin und Patenkind

Die Beziehung im Verlauf der Zeit?

Wie hat sich die Beziehung zu deinem Patenkind im Verlauf der Zeit gestaltet? Gab es Höhepunkte oder Krisen? Hast du dich in der Beziehung persönlich auch verändert?

Erfahrungen mit dem System Familie Welche Erfahrungen hast du mit dem dir fremden Familiensystem deines Patenkindes gemacht?

Bilanzierende Fragen

Wenn du noch einmal zurück denkst, was hast du im Verlauf der Projektarbeit gelernt? Was hältst du nach deinen Erfahrungen für das Wichtigste im Umgang mit Kindern? Was hältst du für das Wichtigste im Hinblick auf deinen späteren Beruf? Wie wünschst du dir nach deinen Projekterfahrungen kindgerechten Unterricht und eine kindgerechte Schule? Was heißt für dich heute "verstehen lernen"?

Was war während des Jahres für das Verstehenlernen für dich förderlich bzw. notwendig? Die Projektarbeit wurde mit Supervision begleitet – war sie für dich hilfreich? (Kannst du das etwas ausführlicher darstellen?) Was verstehst du unter „diagnostischer Sensibilität“?

Meinst du, dass du durch das Projekt in diesem Bereich dazu gelernt hast? Und wenn ja, kannst du es konkreter darstellen? Wenn du das Jahr mit deinem Patenkind, den Förderanlass und das -Förderziel deines Kindes als Titel formulieren solltest, wie würde dein Buch heißen?

Abschlussfrage

Eine letzte Frage zu den Aspekten Brauchbarkeit, Anforderungsniveau und Attraktion des Projektes in der universitären Ausbildung. Bitte ergänze zum Schluss spontan die Satzanfänge: - Nützlich fand ich ... - überflüssig fand ich ... - leicht fiel mir ... - schwer fiel mir ... - toll war ... - schlecht war ...

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A 06 (3)Fragen für Teil II des Interviews

 

- mein größter Lernzuwachs im Hinblick auf meine spätere pädagogische Praxis ist

...

Angaben zu den Rahmenbedingungen und zur Person

Rahmenbedingungen: • Ort des Interviews • Datum des Interviews • Uhrzeit • Aufnahme des Interviews mit Kassettenrekorder

Zur Person: • Name • Alter • Geboren 19 • zur Zeit im Semester • Projektteilnahme war von bis • war damals im Semester • LA Primar/ LA Sek I/ Mag/Sozialwesen

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A 07 (1) Transkriptionssystem

Transkriptionssystem

Sprachliche Äußerungen Repräsentationszeichen kurze Sprechpause (Komma) , kurze Pause: Dauer der Pause in Sekunden durch Anzahl von entsprechender Anzahl von Punkten in runder Klammer, z.B. 3 sec. Pause

(…) Längere Pausen (länger als 5 Sec.): Angabe der entsprechenden Zahl für die Pausendauer in runder Klammer, z.B. 10 sec Pause

(10) Wortbetonung: fett formatiert nein Dehnung: auseinander gezogene Schreibweise mit Leerzeichen

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Leise: > < >nein< Reden mit verstellter Stimme in Dialogform „komm doch“ Beschreibender Kommentar zur Art des Sprechens: mit Schrägstrichen gerahmt

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Lachen, Seufzen oder Gähnen der erzählenden Person (lacht) Wortabbruch: Bindestrich nach dem Wortfragment viel- Ereignisse und weitere Merkmale der Kommunikationssitua- tion, die das Gespräch beeinflussen oder für das Verstehen von Äußerungen wichtig sind: in eckige Klammer gesetzt

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unverständliche oder nicht sicher verstandene Äußerungen (unv.) interpretative Kommentare der transkribierenden/interviewenden Person: in Doppelklammer beschrieben

((ironisch))

ergänzende, erklärende Angaben zum besseren Sinnverstehen

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Redebestätigung der Interviewerin (hm)

Transkriptionssystem in Anlehnung an Rosenthal (1995) mit ergänzten Einzelregularien in Anlehnung an Bohnsack (2000, 233) und Altrichter/Posch 1998, 137

Sprecherwechsel die ohne Simultansprechen einsetzen, beginnen jeweils mit einer neuen Transkriptzeile. Die so untereinander geschriebenen Zeilen bilden das Nacheinander der Sprecherbeiträge ab. Hörer-Rückmeldungen und zeitgleich stattfindende, bestätigende Kurzäußerungen der Interviewerin, wie z.B. „hm“, werden kursiv in runder Klammer in den Fließtext eingebunden und so klar und überschaubar repräsentiert. Zum Besseren Sinnverständnis kann es erforderlich sein, ergänzende, erklärende Angaben durch einzelne Wortangaben zu machen. Diese werden in eckigen Klammern gekennzeichnet. Die Verschriftlichung in Standardorthographie (orthografische Umschrift) orientiert sich zur besseren Lesbarkeit an der Norm der geschriebenen Sprache. Satzzeichen werden dabei nicht als Standardinterpunktion geschrieben. Sprechpausen werden durch Kommata gekennzeichnet, das Setzen der Satzpunkte ist abhängig vom Heben und Senken der Stimme. Dialektale Varianten werden berücksichtigt. Orts- und Personennamen werden anonymisiert. Prosodische Merkmale wie Sprechpausen, Betonung, Dehnung und Lautstärke, sowie parasprachliche Phänomene wie Lachen, Seufzen oder Gähnen werden berücksichtigt und, in runder Klammer gesetzt, beschrieben. Auslassungen einzelner Laute oder Angleichungen auf einander folgender Laute bleiben als Besonderheiten der gesprochenen Sprache jedoch, ebenso wie außersprachliche Merkmale wie z.B. Blickzuwendung oder Gesten,

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A 07 (2)Transkriptionssystem

 

unberücksichtigt. Im Hinblick auf Perspektivübernahme und Verstehenlernen ist die Darstellung der Pausen interessant. Sie verweisen auf individuelle Erzählübergänge, Themenwechsel oder auf Phasen des Überlegens und des Einfühlens in die Situation oder in eine andere Rolle. Auch die veränderte Stimme in der Erzählung der Interviewten wird beachtet, da sie auf Stimmungswechsel oder narrative Ausgestaltungen verweisen kann: wann und warum werden Erfahrungen in Dialogform wieder lebendig gemacht und nacherlebt? Schlüpfen die Interviewten damit in die Rolle der anderen? Hierfür wird nicht das Heben und Senken der Stimme detailliert verdeutlicht, sondern durch Unterstreichung gekennzeichnet und mit Kommentaren der Transkribierenden versehen. Markante, über einzelne Wörter hinaus gehende melodische Stimmvariationen, z.B. wenn das Sprechen des Kindes oder ein Gespräch mit zwei Personen in wörtlicher Rede imitiert, wird in Schrägstrichen eingerahmt dargestellt.

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A 08 (1) Reflexionsaspekte zur erweiterten Wissensanalyse

Reflexionsaspekte zu Betrachtung reflexiver Erfahrungsbearbeitung in Anlehnung an Heinzel (2008) und Tiefel (2004)

Eigentheoretische argumentative Einlassungen mit Bezug auf die eigene Person (Selbstbezug = SB)

1 Das eigene Verhalten wird konkret beschrieben 2 Gedanken, Vermutungen zu dem eigenen Handeln werden angestellt

(z.B. ich glaube/ ich denke/ ich habe das Gefühl) 3 Gedanken, Gefühle, Einstellungen, Vermutungen zu dem eigenen Handeln werden begründet

(z.B. ich glaube/ ich denke/ ich habe das Gefühl, weil ...) 4 Eigene Irritationen oder Zweifel werden artikuliert (z.B. da wusste ich nicht/ es war nicht sicher/

das konnte ich mir gar nicht vorstellen/ so habe ich das noch nie erlebt/man weiß nicht, ob ...) 5 Handlungsalternativen werden formuliert (z.B. auf der anderen Seite/ andererseits/ man weiß

genau, dass,... aber)6 Erkenntnisgewinn wird formuliert (z.B. da habe ich gemerkt/ mir wurde bewusst/ jetzt wusste

ich) 7 Den Erkenntnissen folgt die Frage nach weiteren Konsequenzen, Handlungsmöglichkeiten 8 Aus den Erfahrungen gehen veränderte Strategien hervor bzw. die Erfahrungen führen zu

verändertem Verhalten (z.B. in der Beschreibung der Organisation von weiteren Treffen) 9 Die eigene Wahrnehmung von Veränderungsprozessen wird kritisch betrachtet (z.B. entweder

habe ich das am Anfang nicht so mitbekommen, oder es ist stärker bzw. /anders geworden) 10 Biografische Bezüge werden formuliert 11 Eigenes Verhalten und Wissen wird kritisch betrachtet, mögliche Fehler werden erkannt 12 Situationen werden rückblickend kritisch analysiert 13 Selbsteinschätzungen werden ausgedrückt

Eigentheoretische argumentative Einlassungen mit Bezug auf das oder den anderen (Fremdbezug = FB)

1 Beobachtungen werden detailliert ausgeführt und belegt (z.B. das hat man daran gesehen/ man konnte sehen/ man hat gemerkt,...)

2 Beobachtungen werden auf die eigene Person bezogen, regen zu weiterführenden Gedanken an, führen zu Vermutungen, lösen Gefühle aus

3 Beobachtungen werden mit bisherigen Erfahrungen abgeglichen bzw. in Beziehung zu anderen Erfahrungen/Wissen gesetzt

4 Veränderungen werden wahrgenommen, prozessorientiert dargestellt und Entwicklungen damit belegt (z.B. am Anfang ... dann später/ am Anfang .... am Ende/ im Verlauf/ mit der Zeit)

5 Eigene Erklärungsansätze werden formuliert - Eigentheorien

Bewertende Stellungnahmen = BSt 1 positive / negative Bewertende Stellungnahmen

Herstellen von weiteren Anschlüssen und Bezügen (A&B) 1 Herstellen theoretischer Anschlüsse - theoretische Fundierungen ohne Quellenverweise 2 Theoretische Anschlüsse werden konkretisiert (z.B. Autoren-Nennung, Titel, Inhalte, ...) 3 Herstellen von Berufsbezügen 4 Verweis auf das eigene Tagebuch 5 Verweis auf andere Seminarveranstaltungen die sich als anschlussfähig erwiesen

Entwicklung eigener Fragestellungen (F) 1 Er werden Fragestellungen aufgeworfen (z.B. wo ich mir die Frage gestellt habe) 2 Den Fragestellungen folgen erste eigene Positionierungen bzw. Stellungnahmen 3 Es wird versucht, erste Antworten zu finden bzw. die Fragen zu konkretisieren 4 Aus den Fragestellungen und Vermutungen werden weiterführende Vorhaben geplant 5 Weitere Vorhaben werden umgesetzt

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A 08 (2)Reflexionsaspekte zur erweiterten Wissensanalyse

 

1 Wahrnehmungsperspektive „Selbst“ Im Fokus der Aufmerksamkeit stehen Möglichkeiten und Barrieren der individuellen Entwicklung und persönlicher Verortung in der Welt

2 Wahrnehmungsperspektive „Nahbereich“ Fokussiert werden die soziale Einbindung, Kommunikations- und Interaktionsprozesse der persönlichen und beruflichen Verortung

3 Wahrnehmungsperspektive „Institution“ Leitende Prinzipien eigener Beurteilungen und Entscheidungen sind institutionelle Vorgaben, Normen und Maßstäbe

4 Wahrnehmungsperspektive „Gesellschaft“ Wichtig für die eigene Person sind politische und philosophische Fragestellungen und Systembedingungen

6 Beschrieben wird die aktive Suche nach Antworten (z.B. um Antworten auf die eigenen Fragen

zu erhalten, werden andere Personen gezielt angesprochen bzw. befragt 7 Aussagen/Erklärungen anderer (v. d. Eltern, Experten, Lehrerin, ...) werden zur Untermauerung

eigener Annahmen oder für die Beantwortung eigener Fragen genutzt

Wahrnehmungsperspektiven/Reflexionsfokus (Tiefel 2004, 251) (RF)

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A 10 (1)/1Tabellarische Zusammenfassung – Fall B

 

Tabellarische Zusammenfassung des Falls Bianca

„Dieses Stück weit in die Welt hinein gehen – die Angst zu verlieren“ (N 77) Motivation Gründe für die Projektmit- arbeit

- Das universitäre Angebot als Chance für biografische Selbstreflexion in einer persönlichen Übergangssituation

- Feedbackangebot zur Reflexion im Hinblick auf die zurückliegenden Erfahrungen als Mutter

- zur Reflexion im Hinblick auf die eigene Kindheit - Selbsterfahrung auf dem neuen Karriereweg - Als Angebot der Begleitung für das Probehandeln im Umgang mit Kindern

Beziehungs- erfahrung

Arbeitsbündnis mit dem Kind gelingt nicht auf Anhieb, sondern entwickelt sich langsam und zögerlich Arbeitsbündnis mit den Erziehungsberechtigten gelingt auf Anhieb

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Indirekt und anstrengend, aber sich lohnend. Von außen kommend nach innen, um wieder nach außen zu gehen. Ein schmaler, enger und anstrengender Weg bergauf mit einem ungeahnt positiven Ausgang und einer lohnenswerten Perspektive: von der Patenschaft zur Partnerschaft

Rollen- erfahrungen

Selbst zugeschrieben Rolle: helfende und Rat gebende Patin, rückblickend als Freundin der Mutter Rollen im System Familie: in der Beziehung zu Eila: Beobachterin, anbietende Förderin, große Freundin, Vertraute, Begleiterin, nicht mitspielende Erwachsene, Vermittlerin zwischen den Welten und Organisatorin in der Beziehung zu Eilas Mutter: Vertraute, Gast, Freundin der Familie, Begleiterin und Beraterin

Umgang mit Rollenvielfalt

Anpassendes und aktives Lösungsverhalten: Versuch, es alleine zu schaffen, Suche nach professionellen Unterstützungsadressen – reflexive Aufarbeitung in der Supervision

o Fremdheiten Differenz- erfahrung

- Alltägliche Fremdheit in der Situation des Neubeginns - Kulturelle Fremdheit - Intergenerationelle Differenzen

Kindheit im Vergleich

Wiedererkennen der kindlichen Ängste fremdem gegenüber – diese kindlichen Ängste als noch immer aktuell erkennen, bewältigende Umgang mit Ängsten vom Kind gelernt

Stellenwert der Fremdheit

Fremderleben im Modus „Resonanzboden des Eigenen“ und als Ergänzung (vgl. Schäffter 1991, zit. n. Holzbrecher 1997, 170)

Umgang mit Fremdheit

Offen, interessiert, vereinnahmend, Vorbehalte und Klischees können z.T. abgebaut werden

Vermittlungs- leistungen

Vermittlung von Akzeptanz und Vertrauen, Unterstützungsbedarf, Nähe und Distanz, Erwartungen, Wünsche, korrigierende Kritik, Solidarität auf dem Weg in die außerfamiliale Welt, professionellen Unterstützungsangeboten Vermittlung zwischen den unterschiedlichen Welten, den Generationen, Unterstützung in dem Vermittlungshandeln durch Übergangsobjekte und unterstützende Vermittlerpersonen

Vermittlungs- räume

Unterwegs, Feste, Vorlesen, Kinder- und Jugendbücherei

Vermittlungs- wege

direkte Vermittlung von Wünschen und Erwartungen (Nähe und Distanz) indirekte Vermittlung korrigierender Kritik und von Vertrauen

Antinomie- erfahrungen

Zusammenspiel von Nähe und Distanz, Vertrauensantinomie, Ungewissheitsantinomie, und Autonomieantinomie

Umgang mit Widersprüchen

Anpassung durch zurückhaltende Präsenz und Angebote, Kompensation durch Ersatzbeziehung

Reflexion vorwiegend selbstbezüglich reflexive Anteile

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A 10 (1)/2 Tabellarische Zusammenfassung – Fall B „Knowing in action“ (Schön zit. N. Altrichter/Posch 1990, 322) (implizites Wissen

in der Handlung), Selbstreflexion

Anstoß zur Reflexion

persönliche Übergangsphase Ziel: Selbststabilisierung durch Selbstvergewisserung

Erfahrung mit der Supervision

Dient vorrangig der Selbstreflexion und der biografischen Selbstvergewisserung Hilft bei der Bewusstwerdung und Bearbeitung der eigenen Vor-Urteile und „Konzepte im Kopf“

Konfrontation mit der eigenen Geschichte

Erinnert die eigenen Kinderangst vor dem Weg in die Fremde und sieht diese in der aktuellen Situation noch gültig

Reflexions- fokus (Tiefel 2004)

Hierarchischer Fokus: Selbst- und Nahbereich und die Institution Schule als berufliche Zukunft

Theoretische Anschlüsse

Bezug auf Thomas Gordon – zum Thema Kommunikation, Erziehung und Beziehungen, Konfliktlösung Auseinandersetzung mit Sprachentwicklung und Sprachförderung vor dem Hintergrund des zweisprachigen Aufwachsens

Fallspezifische Themen

- Übergangsbewältigung - Faszination Fremdheit – Selbsterfahrung - Soziale Netzwerke - Vertrauensaufbau - Zweisprachigkeit – Sprachförderung und Migration

Sich entwickelnde Fragen

- Wie verhalte ich mich Kindern gegenüber rollengemäß, sicher und wie gestalte ich angemessen und verantwortungsvoll die Beziehung zu ihnen

- Grundlagen und Umsetzung für sprachliche Förderung (N 201-202) Heraus- forderungen für die Patin

- Verstrickt sein im antinomischen Zusammenspiel von Nähe – Distanz - Vertrauen

- Nähe und Vertrauen als nicht selbstverständliche beziehungskonstituierende Aspekte erfahren

- Selbstbezogene Orientierung muss mit fremdbezogenen Orientierungen abgeglichen und ausbalanciert werden

- Sich als helfende Begleitperson hilflos und begrenzt erleben und annehmen Lern- erfahrungen

- Orientierung, Entlastung und Absicherung durch Netzwerke - Kooperationsfähigkeit –Voraussetzung für präventive individuelle Förderung - Vertrauensaufbau - Fremdes wahrnehmen und selbst als Fremde Fremdheit provozieren - Sich im Spiegel des anderen finden - das eigene Anderssein erkennen - Individuelle Förderung ist aufwendig und erfordert Organisationstalent - Anregen lassen und mit Vielfalt umgehen - Beziehungen zu gestalten erfordert das Eingehen von Nähe und Distanz - Nähe kostet Kraft – Distanz wirkt entlastend

Praxisnahe Fallarbeit als

Zwischenraum zur Transitionsbewältigung und Identitätsbildung

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A 10 (2)/1Tabellarische Zusammenfassung – Fall Wera

 

Tabellarische Zusammenfassung des Falls Wera

„Und das fand ich dann eben sehr schade“ (112). Behindert sein – behindert werden: eine ernüchternde Realitätserfahrung

Motivation Gründe für die Projektmit- arbeit

Projektmitarbeit als - Möglichkeit, sich darüber zu qualifizieren - Verstärkung des Praxisbezugs im Studium - Angebot für selbständige Arbeit mit Verantwortungsübernahme Möglichkeit, das Bild von Grundschulkindern zu konkretisieren

- Feld, um Kinder zu testen und sich selbst zu erproben - Chance einer anderen Lern- und Ausbildungsbedingung - Angebot mit garantierter intensiver und individueller Zuwendung

Beziehungs- erfahrung

Arbeitsbündnis mit dem Kind: gelingt nicht Arbeitsbündnis mit den Erziehungsberechtigten gelingt ebenfalls nicht

der gemeinsame Weg

Miteinander unterwegs auf langen und beschwerlichen Wegen mit unterschiedlichen Hindernissen, die Kraft, Ausdauer und Kondition erfordern:„eine halbe Tortur“ (siehe 629):

Rollen- erfahrungen

Selbst zugeschrieben Rolle: anspruchsvolle, anregende Förderin mit ganzheitlichem und erlebnisnahem Ansatz Rollen im System Familie: in der Beziehung zu Mascha: Programm machende Animateurin, Freizeitgestalterin, Betreuerin und Begleiterin, als Nachhilfelehrerin sowie als Zuhörerin und Trösterin in der Beziehung zu Maschas Mutter: Gast der Familie, als Gesprächspartnerin und entlastende Begleiterin und in der Situation des Katheterisierens als Zuschauerin und Lernerin

Umgang mit Rollenvielfalt

Versuch, allen Erwartungen gerecht zu werden und es alleine zu schaffen, Rollenkonflikte bleiben unausgesprochen, Resignation, Enttäuschung

Fremdheiten Differenz- erfahrung

- Alltägliche Fremdheit: Rollenverteilung und elterliches Erziehungsverhalten - Kulturelle Fremdheit und sprachliche Barrieren - Behinderung als Differenz

Kindheit im Vergleich

Keine Parallelen erkannt. Entscheidende Differenz: Kindheit ohne Freundschaften –Vertraut sind Kinderlieder

Stellenwert d. Fremdheit

Fremderleben im Modus des „Gegenbildes“ (vgl. Schäffter 1991, zit. n. Holzbrecher 1997, 170)

Vermittlungs- leistungen

Vermittlung von Anspruch und Engagement, Erwartungen und Enttäuschung, Hoffnung und Zuversicht Vermittlung zwischen gelingt nicht

Vermittlungs- räume

Unterwegs, gemeinsames Lesen und Singen

Vermittlungs- wege

Vermittlungshandeln ist vielfach erschwert - gelingt in Ansätzen als ein situativ zu gestaltender Konstruktionsprozess - die Patin erlebt sich wie das Patenkind wiederholt sprachlos.

Antinomie- erfahrungen

Zusammenspiel von Begründungsantinomie, Autonomieantinomie, Ungewissheitsantinomie und Symmetrie-Antinomie

Reflexion Unausgesprochene Reflexion in der Handlung und nachträgliche Reflexion über die Handlung nach beendeter Patenschaft im Rahmen der Examensarbeit (vgl. Schön 1983 in Altrichter/Posch 1990, 322)

Anstoß zur Reflexion

Ziel: vertiefende Aufarbeitung der Erfahrungen im Rahmen der Examensarbeit – eigene Qualifikation

Reflexions- fokus

Relationaler Reflexionsfokus: Nahbereich, Institution Schule, gesellschaftlicher Bereich. Der Wahrnehmungsbereich des Selbst wird möglichst ausgeblendet.

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A 10 (2)/2 Tabellarische Zusammenfassung – Fall Wera

(Tiefel 2004) Theoretische Anschlüsse

Im Interview angedeutet, aber nicht vertiefend ausgeführt Zitat „Es ist normal, verschieden zu sein“ Theoretisch vertiefende Auseinandersetzung mit dem Thema „Schulische Integration“

Fallspezifische Themen

- Individuelle Förderung - Integration - Fragen als Grundlage für pädagogisches Vermittlungshandeln - Umgang mit Behinderung

Sich entwickelnde Fragen

- Wie wird sich die schulische Situation weiter gestalten? - Geht mit der Körperbehinderung auch eine geistige Beeinträchtigung einher? - Warum verhält sich Mascha so, wie sie es tut?

Heraus- forderungen

- Umgang mit Enttäuschungen und Ungewissheiten - Sich angemessen fragend verhalten, ohne indiskret und neugierig zu wirken

Lern- erfahrungen

- Fördern – ein Vorhaben ohne Erfolgssicherheit - Von den begrenzten Möglichkeiten und eigenen Ressourcen - Erweiterung von Handlungs- und Verstehensmöglichkeiten durch fundiertes Wissen - Der zunehmend selbstverständliche Umgang mit dem Rollstuhl - Allmähliche Veränderung des defizitorientierten Blicks - Vom Staunen und überrascht sein - Verschiedenheit als Normalität leben erfordert Engagement und Bewusstseinsänderung - Hoffnung, Zutrauen und positive Bewältigungsvorstellungen

Praxisnahe Fallarbeit ist

eine Möglichkeit des Praxisbezugs als Ausgangspunkt und Grundlage für die anzufertigende wissenschaftliche Arbeit zur Abschlussqualifikation und eine Möglichkeit des forschenden Lernens

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A 10 (3)/1Tabellarische Zusammenfassung des Falls Jana

 

Tabellarische Zusammenfassung des Falls Jana

„So ein anderes Bild von Familie“ (N 432) – Vom Umgang mit Belastungen Motivation Gründe Für die Projektmit- arbeit

- um mit anderen Kinder in Kontakt zu kommen in der Sicherheit, von diesen gemocht zu werden

- um Kinder in ihrem anders Sein zu verstehen - um sich selbst zu erproben - helfen zu wollen und um „Türen zu öffnen“ (16) - persönlich angesprochen und zur Mitarbeit aufgefordert

Beziehungs- erfahrung

Arbeitsbündnisse mit dem Kind gelingen auf Anhieb Arbeitsbündnis mit den Erziehungsberechtigten gelingt kaum

der gemeinsame Weg

Zeitintensive Wege mit dem Auto und öffentlichen Verkehrsmitteln – als selbstverständlicher Hohl und Bringedienst angesehen

Rollen- erfahrungen

Selbst zugeschrieben Rolle: Helfende Begleiterin, Türöffnerin und Beobachterin, Situationsgebundene Rollen in der Beziehung zum Kind: Spielgefährtin, große Freundin, vertraute, verbündete, Gesprächspartnerin Rollen im System Familie: Zuhörerin, Nachhilfelehrerin, angehende Professionelle, helfende Hand, Hol- und Bringedienst

Umgang mit Rollenvielfalt

Patin erkennt ihre Vorstellung von der Rolle als Patin als von ihr selbst verkürzt und einseitig definiert – Versuch, sich weitestgehend anzupassen zum Wohle des Kindes – Suche nach Kompromisslösungen es fällt schwer, die großväterlichen Vorgaben zu verweigern, Jana kann ihn aber auch nicht von ihrem Ansatz überzeugen. Auf den nicht gelingenden Versuch, Regeln zu vereinbaren, reagiert Jana wütend – versucht ihre Vorhaben durchzusetzen – erkennt, dass dies nicht wirksam ist, sucht professionelle Unterstützung

Fremdheiten Differenz- erfahrung

- Mehrgenerationelles Familienleben - Soziale Herkunft und familiäres Milieu - Kumulierende Belastungsfaktoren

Kindheit im Vergleich

Kindliche Selbständigkeit, Anpassungsleistungen und Widerstandsfähigkeit, Tier als Begleiter und Geschwisterersatz als Differenzen. als Ähnlichkeit zur Patin erkannt werden die abwägende und schüchterne Grundhaltung und das Bemühen, vom autoritären (Groß-)Vater ernst und angenommen zu werden

Stellenwert der Fremdheit

Fremdheit als Komplementarität (vgl. Schäffter 1991 zit. n. Hozbrecher 1997, 170) - Herausforderung, Fremdheit zu akzeptieren und nicht als ein Eigenes zu vereinnahmen, sie als fremd zu belassen und im Anderssein verstehen zu wollen

Vermittlungs- leistungen

Vermittlung von Wertschätzung und Anerkennung, Realitätsangemessene Handlungs- und Arbeitsmodelle für soziale Wirklichkeit, Zuversicht, Zuverlässigkeit, Fürsorge, Partizipation Vermittlung zwischen den Generationen (Mutter-Tochter; Großvater-Enkelin) mit dem Ziel der Perspektivenerweiterung, Entlastung Spiel als Vermittlungsraum und vermittelndes Handeln Unterstützung in dem Vermittlungshandeln durch PFF

Vermittlungs- räume

Spielen, Verstecke im Garten, Schwimmbad/Pool (Wasser), unterwegs

Vermittlungs- wege

direkte Vermittlung von Wünschen und Erwartungen (Unterstützung, Akzeptanz) indirekte Vermittlung korrigierender Kritik über andere Personen (PFF)

Antinomie- erfahrungen

Offenheit und Verschlossenheit, Anpassung und Widerstand, Autonomie- Antinomie, Symmetrie-Antinomie, Nähe und Distanz

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A 10 (3)/2 Tabellarische Zusammenfassung des Falls Jana

Reflexion Sowohl selbst- als auch fremdbezüglich reflexive Anteile Reflection in action (Reflexion in der Handlung)

Anstoß zur Reflexion

Anderssein verstehen wollen Ziel: Entwicklungsförderung, Möglichkeitseröffnung, Professionalisierung

Reflexions- fokus (Tiefel 2004)

An Ansätzen flexibel- komplexer Fokus: Selbst-, Nah- und Gesellschaftsbereichfließen ansatzweise parallel in Reflexionen ein

Theoretische Anschlüsse

Bezug auf Kautter (1998): Das Thema des Kindes erkennen Auseinandersetzung mit der kindlichen Malentwicklung

Fallspezifische Themen

- Pädagogisches Handeln als Lern- und Entwickungsbegleiterin - Familie als „Multiproblem-Milieu“ (Bender 1995) - Resilienzförderung - Umgang mit Eltern/Elternarbeit

Sich entwickelnde Fragen

Ist es zum Wohl des Kindes nicht besser, das Kind aus den derart belastet familiären Bezügen herauszunehmen?

Heraus- forderungen für die Patin

- Häufung der Belastungen im Alltag des Kindes aushalten - Aufbau des Arbeitsbündnisses mit den Großeltern - Arbeit gegen Widerstände - Sich fordernd, erklärend, vermittelnd und verstehend verhalten– nicht „auf das eigene Recht pochen“

- Umgang mit Grenzüberschreitungen - Im Nachhinein die eigene Fehleinschätzung erkennen und aushalten - Distanz wahren und dennoch Nähe wieder eingehen - Als angehende Professionelle in die Rolle der Tochter zu rutschen: Reakti- vierung der eigenen Erfahrungen in der Vater-Tochter-Beziehung – Aktuali- sierung der damaligen Konflikte durch die Begegnung mit dem Großvater

Lern- erfahrungen

- Vertrauen lässt sich nicht erzwingen - Fördern des Kindes erfordert den Umgang mit Erziehungsberechtigten – Elternarbeit

- Unterstützende Kooperationen mit der PFF – Vermittlung von außen - bieten erweiterte Lernsituation für Elternarbeit

- Nähe zum realen Feld mit Belastungen belastet und erfordert Distanzierungen Praxisnahe Fallarbeit als

Als Zwischenraum und Möglichkeitsraum zur Stärkung der Belastbarkeit und der Widerstandskraft

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A 11 (1)Tabellarische Darstellung der kontrastierten Dimensionen

 

Motivationen und Gründe für die Projektmitarbeit im Fallvergleich

Bianca

Wera

Jana Das universitäre Angebot

- als Chance für biografische Selbstreflexion in einer persönlichen Übergangssituation

- als Feedbackangebot zur Reflexion im Hinblick auf die zurückliegenden Erfahrungen als Mutter

- zur Reflexion im Hinblick auf die eigene Kindheit

- zur Selbsterfahrung auf dem neuen Karriereweg

- als Angebot der Begleitung für das Probehandeln im Umgang mit Kindern

Projektmitarbeit

- als Möglichkeit, sich darüber zu qualifizieren

- zur Verstärkung des Praxisbezugs im Studium

- als Angebot für selbständige Arbeit mit Verantwortungsübernahme und Möglichkeit, das Bild von Grundschulkindern zu konkretisieren

- als Feld, um Kinder zu testen und sich selbst zu erproben

- als Chance einer anderen Lern- und Ausbildungsbedingung

- als Angebot mit garantierter intensiver und individueller Zuwendung

Projektmitarbeit

- um mit anderen Kinder in Kontakt zu kommen, in der Sicherheit, von diesen gemocht zu werden

- um Kinder in ihrem Anderssein zu verstehen

- um sich selbst zu erproben

- um helfen zu können und „Türen zu öffnen“ (16)

- weil persönlich darauf angesprochen und die Mitarbeit angefragt

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A 11 (2) Tabellarische Darstellung der kontrastierten Dimensionen

 

Differenzen im Umgang mit Anforderungen: Beziehungsdynamik und Rollenerfahrungen

Bianca

Wera

Jana Beziehungserf ahrungen

Arbeitsbündnis mit dem Kind gelingt entwickelt sich langsam und zögerlich Arbeitsbündnis mit den Erziehungsberechtigten gelingt auf Anhieb

Arbeitsbündnis mit d. Kind gelingt nur bedingt,

Arbeitsbündnis mit den Erziehungsberechtigten gelingt nicht

Arbeitsbündnis mit dem Kind gelingen auf Anhieb, Arbeitsbündnis mit den Erziehungsberechtigten gelingt kaum

Der gemeinsame Weg

Indirekt und anstrengend, aber sich lohnend. Von außen kommend nach innen, um wieder nach außen zu gehen. Ein schmaler, enger und anstrengender Weg bergauf mit einem ungeahnt positiven Ausgang und einer lohnenswerten Perspektive: von der Patenschaft zur Partnerschaft

Miteinander unterwegs auf langen und beschwerlichen Wegen mit unterschiedlichen Hindernissen, die Kraft, Ausdauer und Kondition erfordern:„eine halbe Tortur“ (629)

Zeitintensive Wege mit dem Auto und öffentlichen Verkehrsmitteln – als selbstverständlicher Hohl und Bringedienst angesehen

Rollen- erfahrungen

Selbst zugeschrieben: helfende und Rat gebende Freundin

im System Familie: in der Beziehung zu Eilas Mutter: Vertraute, Gast, Freundin der Familie, Begleiterin und Beraterin

in der Beziehung zu Eila: Beobachterin, anbietende Förderin, große Freundin, Vertraute, Begleiterin, nicht mitspielende Erwachsene, Vermittlerin zwischen den Welten und Organisatorin

Selbst zugeschrieben: anregende Förderin mit ganzheitlichem und erlebnisnahem Ansatz

im System Familie: in der Beziehung zu Maschas Mutter: Gast der Familie, als Gesprächspartnerin und entlastende Begleiterin und in der Situation des Katheterisierens als Zuschauerin und Lernerin

in der Beziehung zu Mascha: Programm machende Animateurin, Freizeitgestalterin, Betreuerin und Begleiterin, als Nachhilfelehrerin sowie als Zuhörerin und Trösterin

Selbst zugeschrieben Rolle: Helfende Begleiterin, Türöffnerin und Beobachterin,

im System Familie: Zuhörerin, Nachhilfelehrerin, angehende Professionelle, helfende Hand, Hol- und Bringedienst

in der Beziehung zum Kind: Spielgefährtin, große Freundin, vertraute, verbündete, Gesprächspartnerin

Umgang mit Rollenvielfalt

Anpassendes und aktives Lösungsverhalten: Versuch, es alleine zu schaffen, Suche nach professionellen Unterstützungsadressen – reflexive Aufarbeitung in der Supervision

Versuch, allen Erwartungen gerecht zu werden und es alleine zu schaffen, Rollenkonflikte bleiben unausgesprochen, Resignation, Enttäuschung

Patin erkennt ihre Vorstellung von der Rolle als Patin als verkürzt und einseitig definiert – Versuch, sich weitestgehend anzupassen zum Wohle des Kindes – Suche nach Kompromisslösungen Versuch, Regeln zu vereinbaren scheitert, Jana wütend – versucht ihre Vorhaben durchzusetzen – erkennt, dass dies nicht wirksam ist, sucht professionelle Unterstützung

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A 11 (3)Tabellarische Darstellung der kontrastierten Dimensionen

 

Umgang mit Differenzen und Fremdheit und Vermittlungsleistungen

Bianca

Wera

Jana Fremdheits-, Differenzerfahr ungen

- Alltägliche Fremdheit in der Situation des Neubeginns - Kulturelle Fremdheit - Intergenerationelle Differenzen

- Alltägliche Fremdheit: Rollenverteilung und elterliches Erziehungsverhalten - Kulturelle Fremdheit und sprachliche Barrieren - Behinderung als Differenz

- Mehrgenerationelles Familienleben - Soziale Herkunft und familiäres Milieu - Kumulierende Belastungsfaktoren

Stellenwert von Fremdheit

Fremderleben im Modus „Resonanzboden des Eigenen“ und als Ergänzung (vgl. Schäffter 1991, zit. n. Holzbrecher 1997, 170)

Fremderleben im Modus des „Gegenbildes“ (vgl. Schäffter 1991, zit. n. Holzbrecher 1997, 170)

Fremdheit als Komplementarität (vgl. Schäffter 1991 zit. n. Hozbrecher 1997, 170) - Herausforderung, Fremdheit zu akzeptieren und nicht als ein Eigenes zu vereinnahmen, sie als fremd zu belassen und im Anderssein verstehen zu wollen

Umgang mit Fremdheit

Offen, interessiert, vereinnahmend, Vorbehalte und Klischees können z.T. abgebaut werden

Ziel: Selbsterfahrung

Durch Begrenzungen und Grenzüberschreitungen erschwert; Suche nach Erklärungsansätzen bleiben unkommuniziert, Fixierung im Gegenbild, Schulzuweisung, Resignation –

Ziel Qualifikation

Durch Begrenzung und Grenzüberschreitung erschwert Anfängliche Kompromissbildung, allmähliche verhärtung der grenzlinie, Unterstützende Vermittlung bei drohender Eskalation Ziel: Professionalisierung

Kindheit im Vergleich

Wiedererkennen der kindlichen Ängste fremdem gegenüber – diese kindlichen Ängste als noch immer aktuell erkennen, bewältigende Umgang mit Ängsten vom Kind gelernt

Keine Parallelen erkannt. Entscheidende Differenz: Kindheit ohne Freundschaften –Vertraut sind Kinderlieder

Kindliche Selbständigkeit, Anpassungsleistungen und Widerstandsfähigkeit, Tier als Begleiter und Geschwisterersatz werden different erlebt. Ähnlichkeiten: abwägende und schüchterne Grundhaltung und das Bemühen, vom autoritären (Groß-)Vater ernst und angenommen zu werden

Vermittlungs-leistungen

Vermittlung von Akzeptanz und Vertrauen, Unterstützungsbedarf, Nähe und Distanz, Erwartungen, Wünsche, korrigierende Kritik, Solidarität auf dem Weg in die außerfamiliale Welt, professionellen Unterstützungsangeboten Vermittlung zwischen den unterschiedlichen Welten, den Generationen, Unterstützung in dem Vermittlungshandeln durch Übergangsobjekte und unterstützende Vermittlerpersonen

Vermittlung von Anspruch und Engagement, Erwartungen und Enttäuschung, Hoffnung und Zuversicht Vermittlung zwischen gelingt nicht

Vermittlung von Wertschätzung und Anerkennung, Realitätsangemessene Handlungs- und Arbeitsmodelle für soziale Wirklichkeit, Zuversicht, Zuverlässigkeit, Fürsorge, Partizipation Vermittlung zwischen den Generationen (Mutter- Tochter; Großvater-Enkelin) mit dem Ziel der Perspektivenerweiterung, Entlastung Spiel als Vermittlungsraum und vermittelndes Handeln Unterstützung in dem Vermittlungshandeln durch PFF

Vermittlungs-räume

Unterwegs, Feste, Vorlesen, Kinder- und Jugendbücherei

Unterwegs, gemeinsames Lesen und Singen

Spielen, Verstecke im Garten, Schwimmbad/Pool

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A 11 (4) Tabellarische Darstellung der kontrastierten Dimensionen

 

Antinomie-Erfahrungen und Umgang mit Widersprüchen

Antinomie- Erfahrungen

Zusammenspiel von Nähe und Distanz, Vertrauensantinomie, Ungewissheitsantinomie, und Autonomieantinomie: vorwiegend auf der Beziehungsebene

Zusammenspiel von Begründungsantinomie, Autonomieantinomie, Ungewissheitsantinomie und Symmetrie-Antinomie: Beziehungsebene, Handlungsebene, Familiensystemebene; Meta- Ebene

Offenheit und Verschlossenheit, Anpassung und Widerstand, Autonomie-Antinomie, Symmetrie-Antinomie, Nähe und Distanz: Familiensystemebene, Handlungsebene, Beziehungsebene

Umgang mit Widersprüchen

Anpassung durch zurückhaltende Präsenz und Angebote, Kompensation durch Ersatzbeziehung

Aushalten, Anpassen, Begrenzung und Überforderung wird akzeptiert, Resignation, Bearbeitung vorwiegend auf der Handlungsebene

Anpassung, Kompromissbildung, auf eigene Forderungen beharren, Unterstützung durch Rückgriff auf Vernetzung; reflexive Bearbeitung a. d. Beziehungs- u. Systemebene, eigene Normen/Werta sind unreflektiert

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A 11 (5)Tabellarische Darstellung der kontrastierten Dimensionen

 

Reflexive Erfahrungsbearbeitung im Fallvergleich

Bianca

Wera

Jana Reflexion vorwiegend selbstbezüglich

reflexive Anteile „Knowing in action“ (Schön zit. N. Altrichter/Posch 1990, 322) (implizites Wissen in der Handlung), selfreflection

Unausgesprochene Reflexion in der Handlung und nachträgliche Reflexion über die Handlung nach beendeter Patenschaft im Rahmen der Examensarbeit (vgl. Schön 1983 in Altrichter/Posch 1990, 322)

Sowohl selbst- als auch fremdbezüglich reflexive Anteile Reflection in action (Reflexion in der Handlung)

Anstoß zur Reflexion

persönliche Übergangsphase Ziel: Selbststabilisierung durch Selbstverge-wisserung

vertiefende Aufarbeitung der Erfahrungen im Rahmen der Examensarbeit – eigene Qualifikation

Anderssein verstehen wollen Ziel: Entwicklungsförderung, Möglichkeitseröffnung, Professionalisierung

Sich entwickelnde Fragen

Wie verhalte ich mich Kindern gegenüber rollengemäß und sicher? Wie gestalte ich angemessen und verantwortungsvoll die Beziehung zu ihnen? Grundlagen und Umsetzung von Sprachförderung

Wie wird sich die schulische Situation weiter gestalten? Geht mit der Körperbehin- derung auch eine geistige Beeinträchtigung einher? Warum verhält sich Mascha so, wie sie es tut?

Ist es zum Wohl des Kindes nicht besser, das Kind aus den derart belastet familiären Bezügen herauszunehmen?

Erfahrung mit der Supervision

Dient vorrangig der Selbstreflexion und der biografischen Selbstvergewisserung Hilft bei der Bewusstwerdung und Bearbeitung der eigenen Vor-Urteile und „Konzepte im Kopf“

Ermöglicht neue Einblicke, hilft, das Patenkind in seinen spezifischen Eigenarten zu verstehen ermöglicht Mehrperspektivität konfrontiert mit bisher unbekannten und unbewussten Zusammenhängen und unterstützt die Intensivierung der reflexiven Auseinandersetzung durch den Dialog mit den anderen Patinnen

Erfahrung des situationsgebundenen Nachspürens der eigenen emotionalen Beteiligung im Hinblick auf professionelles Handeln wird die Notwendigkeit erkannt, sich den eigenen Gefühlen bewusst zu werden und diese zulassen zu dürfen

Konfrontation mit der eigenen Geschichte

Erinnert die eigenen Kinderangst vor dem Weg in die Fremde und sieht diese in der aktuellen Situation noch gültig

Erkennt, wie behütet sie selber aufgewachsen ist Erinnerung an den Wunsch, Logopädin zu werden Erinnert eigene Empfindsamkeit, insbesondere in Situationen, die durch Unmittelbarkeit, Intimität und Hilfsbedürftigkeit geprägt sind

Reaktivierung der Tochter- Problematik, erinnert das eigene Bemühen um väterliche Anerkennung, das sie als noch immer aktuell erfährt

Reflexions- fokus (Tiefel 2004)

Hierarchischer Fokus: Selbst- und Nahbereich und die Institution Schule als berufliche Zukunft

Relationaler Reflexionsfokus: Nahbereich, Institution Schule, gesellschaftlicher Bereich. Der Wahrnehmungsbereich des Selbst wird möglichst ausgeblendet.

An Ansätzen flexibel- komplexer Fokus: Selbst-, Nah- und Gesellschaftsbereich fließen ansatzweise parallel in Reflexionen ein

Theoretische Anschlüsse

Bezug auf Thomas Gordon – zum Thema Kommunikation, Erziehung und Beziehungen, Konfliktlösung Auseinandersetzung mit Sprachentwicklung und Sprachförderung vor dem Hintergrund des zweisprachigen Aufwachsens

Im Interview angedeutet, aber nicht vertiefend ausgeführt Zitat „Es ist normal, verschieden zu sein“ Theoretisch vertiefende Auseinandersetzung mit dem Thema „Schulische Integra- tion“

Bezug auf Kautter (1998): Das Thema des Kindes erkennen Auseinandersetzung mit der kindlichen Malentwicklung

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A 11 (6) Tabellarische Darstellung der kontrastierten Dimensionen

 

Lernerfahrungen und Erkenntnisse im Fallvergleich

Bianca

Wera

Jana Fall- spezifische Themen

- Übergangsbewältigung - Faszination Fremdheit –

Selbsterfahrung - Soziale Netzwerke - Vertrauensaufbau - Zweisprachigkeit –

Sprachförderung und Migration

- Individuelle Förderung - Integration - Fragen als Grundlage für

pädagogisches Vermitt- lungshandeln

- Umgang mit Behinde- rung

- Pädagogisches Han- deln als Lern- und Entwickungsbegleiterin

- Familie als „Multi- problem-Milieu“ (Bender 1995)

- Resilienzförderung - Umgang mit Eltern

Heraus- forderungen für die Patin

Verstrickt sein im antinomischen Zusammenspiel von Nähe - Distanz – Vertrauen; Nähe und Vertrauen als nicht selbstverständliche beziehungskonstituierende Aspekte erfahren; Selbstbezogene Orientierung muss mit fremdbezogenen Orientierungen abgeglichen und ausbalanciert werden

Umgang mit Enttäuschun- gen und Ungewissheiten Sich angemessen fragend verhalten, ohne indiskret und neugierig zu wirken

Häufung der Belastungen im Alltag des Kindes aushalten Aufbau des Arbeits- bündnisses mit den Großeltern gegen Widerstände Umgang mit Grenzüberschreitungen nachträgliches Erkennen der eigenen Fehlein- schätzung Reaktivierung der eigenen Erfahrungen in der Vater- Tochter-Beziehung – Aktualisierung damaliger Konflikte

Lern- Erfahrungen und Erkenntnisse

Orientierung, Entlastung und Absicherung durch Netzwerke Kooperationsfähigkeit – Voraussetzung für präven- tive individuelle Förderung Vertrauensaufbau Fremdes wahrnehmen und selbst als Fremde Fremdheit provozieren Sich im Spiegel des anderen finden - das eigene Anderssein erkennen Individuelle Förderung ist aufwendig und erfordert Organisationstalent Anregen lassen und mit Vielfalt umgehen Beziehungen zu gestalten erfordert das Eingehen von Nähe und Distanz Nähe kostet Kraft – Distanz wirkt entlastend

Fördern – ein Vorhaben ohne Erfolgssicherheit Von den begrenzten Mög- lichkeiten und eigenen Ressourcen Erweiterung von Handlungs- und Verstehensmöglichkeiten durch fundiertes Wissen Der zunehmend selbst- verständliche Umgang mit dem Rollstuhl Allmähliche Veränderung des defizitorientierten Blicks Staunen und sich über- raschen lassen Verschiedenheit als Normalität leben erfordert Engagement und Bewusstseinsänderung Hoffnung, Zutrauen und positive Bewältigungs- vorstellungen

Vertrauen lässt sich nicht erzwingen Fördern des Kindes erfordert den Umgang mit Erziehungsberechtigten – Elternarbeit Unterstützende Kooperationen – Vermittlung von außen - bieten erweiterte Lernsituation für Elternarbeit Nähe zum realen Feld mit Belastungen belastet und erfordert Distanzierungen

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A 12 (1)Konzepte pädagogischer Begleitung

 

Unterschiedliche Entwürfe pädagogischen Begleithandelns

Konzept für Pädagogische

Begleitung

Pädagogische Begleitung als fürsorgende

Beratung

Pädagogische Begleitung als

intervenierende Förderung

Pädagogische Begleitung als beteiligende

Unterstützung Fall Bianca Wera Jana

Implizite Themen

Übergangsbewältigung Selbsterfahrung Biografische Selbstvergewisserung

Familienstrukturen Individualisierung Behinderung Integration

Resilienzförderung Belastung, familiäre Strukturen

Orientierung (selbst-) erfahrungsorientiert

ergebnisorientiert erlebnisorientiert

Spannungsfeld Zwischen Beratung / Beistand und Selbstbestätigung / Selbstvergewisserung

Zwischen interve- nierender Förderung und Selbstprofilierung / Qualifizierung

Zwischen mitwirkender Unterstützung und persönlicher Entfaltung

Lösung Vorwiegend einseitig selbstorientiert

Vorwiegend einseitig selbstorientiert

Beidseitig: selbst- und fremdorientiert

Selbstlegitimier ung für die Begleitung

Erfahrungswissen durch Lebensalter

Erfahrungsvorsprung

Gelerntes Faktenwissen als angehende Professionelle Bildungsvorsprung

Neugier und Interesse im Lern- und Ausbil- dungskontext Kein Vorsprung

Adressaten der

Begleitung

Sozial, gesundheitlich und/oder finanziell schwächer gestellte Menschen

Menschen, die aufgrund eines Handicaps beson- derer Förderung be- dürfen u. auf unter- stützende Hilfe ange- wiesen sind, integriert werden müssen

Menschen, deren Alltag durch vielfältige sozio- ökosystemische Be- lastungen geprägt ist, so dass sie nicht über glei- che Chancen verfügen

Grundverständn is für Angebote

Beistand heißt präsent sein, dem anderen nahe, zugewandt sein; ihn mit Rat und Tat zu unterstützen, zuhören und Sorgen und Gedan-ken teilen, Erfahrungen u. Wissen weiter geben

Fördern als abzu- leistendes Programm, als Vermittlung von Sicherheit, für den anderen da zu sein und ihn zu akzeptieren und als Gegenkonzept

Beteiligende und beteiligte Unterstützung mit aktiven und partizipativen Elementen,

Umsetzung der Begleitangebote

Ganzheitlich und situativ an den individuellen Bedürfnisses orientiert ausgerichtet gemeinsam verhandelt

Ganzheitlich und situa- tiv an den individuellen Bedürfnisses orientiert ausgerichtet vorgegeben

Ganzheitlich und situativ an den individuellen Bedürfnisses orientiert ausgerichtet gemeinsam verhandelt

Ziele für die Klientel

Helfen und beistehen in der erschwerten Lebenslage Autonomie stärken Angst überwinden

Veränderung bewirken Selbständigkeit fördern Autonomie stärken

Förderung der individuellen Stärke und Widerstandsfähigkeit Möglichkeiten eröffnen Chancengleichheit

Persönliche Ziele

Selbsterfahrung, Biografische Selbstvergewisserung, Gebraucht werden Beziehung aufbauen

Selbsterfahrung Herausforderung zur Profilierung über die anzufertigende Abschlussarbeit

Selbsterfahrung Herausforderung annehmen Das Anderssein ver- stehen

Grundhaltung der

begleitenden Person

Engagiert, emotional stark beteiligt, fürsorgend, beratend, diakonisch

Engagiert, distanziert zugewandt, Anspruchs- haltung, grundlegende Machbarkeitseinstellung

Engagiert, abwartend zugewandt;Bereitschaft, sich auf neue Spielräu- me einzulassen,

Page 292: Begleiten und begleitet werden - uni-kassel.de · 2.2.5 Antinomie-Erfahrungen.....199 2.3 Reflexive Erfahrungsbearbeitung im Fallvergleich.....200 2.4 Lernerfahrungen und Erkenntnisse

 

A 12 (2) Konzepte pädagogischer Begleitung

fordernd, Konzept für

Pädagogische Begleitung

Pädagogische Begleitung als

beratende, beistehende

Fürsorge

Pädagogische Begleitung als

entgegenwirkende Förderung

Pädagogische Begleitung als mitwirkende

Unterstützung

Fall Bianca Wera Jana Grundhaltung

der begleitenden

Person

Engagiert, emotional stark beteiligt, fürsorgend, beratend, diakonisch

Engagiert, distanziert zugewandt, Anspruchshaltung, grundlegende Machbarkeitseinstellung

Engagiert, abwartend zugewandt, Bereitschaft, sich auf neue Spielräume einzulassen, fordernd,

Heraus- forderungen

Spannung zwischen fremd- und selbstorientierten Zielsetzungen

unterschiedliche Adressiertheit erfordert differenzierende Ausformungen der Beziehungsgestaltung

Körperliche Anstrengung, Kräfteeinsatz

Belastungen und Beengtheiten erkennen, miterleben und als unveränderbar aushalten

Komplexe Rollen- und Erwartungsaushandlun gsprozesse

Sich fragend zu verhalten

angemessener Umgang mit Erziehungsberechtigten

Andersheit kann auch Stigmatisierung bedeuten Stigmatisierung und Ausgrenzung in der Öffentlichkeit erleben

Sich auf milieubedingte Fremdheit einlassen und angemessen reagieren – eine gemeinsame Sprache finden

Nähe-Distanz-Balance Autonomie- Heteronomie-Balance

Balance zwischen Höflichkeit/Zugewandth eit und Vorgabe/Anleitung

Eigene Hilflosigkeit erkennen und akzeptieren – Bereitschaft, Hilfe zu suchen Verantwortung wieder

abgeben Von der eigenen Planung abzuweichen, sich auf offene Situationen einlassen

Die eigenen Grenzen formulieren

Im Austausch als Gegenleistung auf das Gegebene etwas anderes als erwartet zu erhalten

Eigene Fehler und die Möglichkeit des Scheiterns einzugestehen

Eigene Fehler und die Möglichkeit des Scheiterns einzugestehen

Eigenen Ansatz nicht als Gegenentwurf sondern als Unterstützung vertreten

Sich nicht polarisierend verhalten

Fürsorge wird nicht dankbar angenommen

Engagement wird nicht gedankt

Kooperation kann nicht erzwungen werden

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A 13Verordnung nach § 47 des Bundessozialhilfegesetzes (Eingliederungshilfe-Verordnung)

 

Verordnung nach § 47 des Bundessozialhilfegesetzes (Eingliederungshilfe-Verordnung) in der Fassung der Bekanntmachung vom 1. Februar 1975 (BGBl. I S. 433, geändert durch Gesetze vom (...) 19. Juni 2001 (BGBl. I S. 1046)

Abschnitt I Personenkreis

§ 1 Körperlich wesentlich behinderte Menschen

Durch körperliche Gebrechen wesentlich in ihrer Teilhabefähigkeit eingeschränkt im Sinne des § 39 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes sind

1. Personen, deren Bewegungsfähigkeit durch eine Beeinträchtigung des Stütz- oder Bewegungssystems in erheblichem Umfange eingeschränkt ist,

2. Personen mit erheblichen Spaltbildungen des Gesichts oder des Rumpfes oder mit abstoßend wirkenden Entstellungen vor allem des Gesichts,

3. Personen, deren körperliches Leistungsvermögen infolge Erkrankung, Schädigung oder Fehlfunktion eines inneren Organs oder der Haut in erheblichem Umfange eingeschränkt ist,

4. Blinden oder solchen Sehbehinderten, bei denen mit Gläserkorrektion ohne besondere optische Hilfsmittel a) auf dem besseren Auge oder beidäugig im Nahbereich bei einem Abstand von mindestens 30 cm oder im Fernbereich eine Sehschärfe von nicht mehr als 0,3 besteht oder b) durch Buchstabe a nicht erfaßte Störungen der Sehfunktion von entsprechendem Schweregrad vorliegen,

5. Personen, die gehörlos sind oder denen eine sprachliche Verständigung über das Gehör nur mit Hörhilfen möglich ist,

6. Personen, die nicht sprechen können, Seelentauben und Hörstummen, Personen mit erheblichen Stimmstörungen sowie Personen, die stark stammeln, stark stottern oder deren Sprache stark unartikuliert ist.

BSHG§47V § 1: Online im Internet unter: http://www.beraterjobs24.de/bundesrecht/inline.php?portal=valuenet&paramPath=bshg_47v (12.01.2009)

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