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30 | LIVE 14 Damit rechnen die wenigsten Patienten: dass vier Tage nach dem Spitalaustritt eine Pflegefachfrau anruft und sich er- kundigt, ob sie Schmerzen oder Fieber haben und wie es um den Appetit und die Verdauung steht. Aufmerksame Hoteliers schicken ihren Kunden nach den Ferien einen Fragebogen, aber dass jemand vom Spital persönlich nachfragt, das ist neu. Am Kantonsspital Winterthur wird dies seit letztem Herbst bei Patienten mit Dickdarm- und Enddarmerkrankungen gemacht. Dabei handelt es sich nicht um Behandlungskonzept ERAS Alles für einen optimalen Heilungsprozess Bei grossen Darmoperationen wendet das KSW ein neuartiges Behandlungskonzept an. Der Ansatz heisst ERAS (Enhanced Recovery after Surgery), was sich mit «verbesserte Erholung nach chirurgischen Eingriffen» übersetzen lässt. Schon früh erfahren die Patienten, wie sie Einfluss auf den Heilungsprozess nehmen können. Dank der engen Zusammenarbeit der verschiedenen Fachdisziplinen treten weniger Komplikationen auf. eine isolierte Massnahme, um die Kunden- zufriedenheit zu erhöhen – die telefoni- sche Befragung ist Teil eines neuartigen Therapiekonzepts. Erstes Spital der Deutschschweiz ERAS heisst dieser Ansatz, die Abkür- zung von Enhanced Recovery after Surgery, auf Deutsch «verbesserte Erho- lung nach chirurgischen Eingriffen». Das international anerkannte Konzept garan- tiert die Behandlung der Patienten nach dem neusten Stand der Wissenschaft. Das Kantonsspital Winterthur ist das erste Spital in der Deutschschweiz, das dieses moderne Behandlungskonzept ein- geführt hat. Damit Patienten nach einem Eingriff schneller wieder auf die Beine kommen, arbeiten die verschiedenen Fachdisziplinen und Berufsgruppen am Spital sehr eng zusammen. «Die interdis- ziplinäre Zusammenarbeit wird am KSW seit Jahren grossgeschrieben. Mit ERAS erreicht der ständige Austausch zwi- schen den Fachleuten von Chirurgie, Pflege, Anästhesie, Physiotherapie und Ernährungsberatung nun aber eine neue Dimension», erklärt PD Dr. med. Stefan Breitenstein, Direktor am Departement Chirurgie und Chefarzt Viszeral- und Thoraxchirurgie. «Sämtliche Therapie- massnahmen sind unter den Fachberei- chen abgestimmt und optimiert worden. Das beginnt ein paar Wochen vor dem Spitaleintritt und endet erst, wenn der Patient wieder am Arbeitsplatz oder in seinen Alltag integriert ist.» Umso wichtiger ist es, die Patienten schon vor dem Eingriff zu stärken und so den späteren Heilungsverlauf positiv zu beeinflussen. Auch die Patienten übernehmen einen aktiven Part: «Neu werden sie viel stärker in die Behandlung einbezogen», erklärt PD Dr. Breitenstein. Und das mit gutem Grund. «Je genauer die Patienten über die bevorstehenden Massnahmen informiert sind, desto besser können sie sich darauf einstellen und auch selbst zur Genesung beitragen.» Nach dem Abschluss sämtli- cher Untersuchungen findet deshalb nicht nur eine Besprechung in der Chirurgie statt, um den aktuellen Gesundheitszu- stand abzuklären und den komplexen Eingriff zu erläutern. Einige Tage vor der Operation, bei der entzündete oder von einem Tumor befallene Teile des Darms entfernt werden, informieren auch die Anästhesie und die Pflege ausführlich über die bevorstehende Behandlung. Dabei lässt sich klären, bei welchen Patienten bereits vor der Operation eine Ernährungsberatung angezeigt ist. Wer unter einer Darmerkrankung leidet, ist Schnell wieder bewegen: Dem Patienten werden vor der Operation die Eckpunkte des Konzepts erklärt. FOKUS

Behandlungskonzept ERAS Alles für einen optimalen ... · Andrea Schoke, Oberärztin an der Klinik für Viszeral- und Thoraxchirurgie, erklärt den Grund: «Eine Operation stellt

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Damit rechnen die wenigsten Patienten: dass vier Tage nach dem Spitalaustritt eine Pflegefachfrau anruft und sich er-kundigt, ob sie Schmerzen oder Fieber haben und wie es um den Appetit und die Verdauung steht. Aufmerksame Hoteliers schicken ihren Kunden nach den Ferien einen Fragebogen, aber dass jemand vom Spital persönlich nachfragt, das ist neu. Am Kantonsspital Winterthur wird dies seit letztem Herbst bei Patienten mit Dickdarm- und Enddarmerkrankungen gemacht. Dabei handelt es sich nicht um

Behandlungskonzept ERAS

Alles für einen optimalen HeilungsprozessBei grossen Darmoperationen wendet das KSW ein neuartiges Behandlungskonzept an. Der Ansatz heisst ERAS (Enhanced Recovery after Surgery), was sich mit «verbesserte Erholung nach chirurgischen Eingriffen» übersetzen lässt. Schon früh erfahren die Patienten, wie sie Einfluss auf den Heilungsprozess nehmen können. Dank der engen Zusammenarbeit der verschiedenen Fachdisziplinen treten weniger Komplikationen auf.

eine isolierte Massnahme, um die Kunden-zufriedenheit zu erhöhen – die telefoni-sche Befragung ist Teil eines neuartigen Therapiekonzepts.

Erstes Spital der DeutschschweizERAS heisst dieser Ansatz, die Abkür-zung von Enhanced Recovery after Surgery, auf Deutsch «verbesserte Erho-lung nach chirurgischen Eingriffen». Das international anerkannte Konzept garan-tiert die Behandlung der Patienten nach dem neusten Stand der Wissenschaft. Das Kantonsspital Winterthur ist das erste Spital in der Deutschschweiz, das dieses moderne Behandlungskonzept ein-geführt hat. Damit Patienten nach einem Eingriff schneller wieder auf die Beine kommen, arbeiten die verschiedenen Fachdisziplinen und Berufsgruppen am Spital sehr eng zusammen. «Die interdis-ziplinäre Zusammenarbeit wird am KSW seit Jahren grossgeschrieben. Mit ERAS erreicht der ständige Austausch zwi-schen den Fachleuten von Chirurgie, Pflege, Anästhesie, Physiotherapie und Ernährungsberatung nun aber eine neue Dimension», erklärt PD Dr. med. Stefan Breitenstein, Direktor am Departement Chirurgie und Chefarzt Viszeral- und Thoraxchirurgie. «Sämtliche Therapie-massnahmen sind unter den Fachberei-chen abgestimmt und optimiert worden. Das beginnt ein paar Wochen vor dem Spitaleintritt und endet erst, wenn der

Patient wieder am Arbeitsplatz oder in seinen Alltag integriert ist.»

Umso wichtiger ist es,

die Patienten schon vor dem

Eingriff zu stärken und so

den späteren Heilungsverlauf

positiv zu beeinflussen.

Auch die Patienten übernehmen einen aktiven Part: «Neu werden sie viel stärker in die Behandlung einbezogen», erklärt PD Dr. Breitenstein. Und das mit gutem Grund. «Je genauer die Patienten über die bevorstehenden Massnahmen informiert sind, desto besser können sie sich darauf einstellen und auch selbst zur Genesung beitragen.» Nach dem Abschluss sämtli-cher Untersuchungen findet deshalb nicht nur eine Besprechung in der Chirurgie statt, um den aktuellen Gesundheitszu-stand abzuklären und den komplexen Eingriff zu erläutern. Einige Tage vor der Operation, bei der entzündete oder von einem Tumor befallene Teile des Darms entfernt werden, informieren auch die Anästhesie und die Pflege ausführlich über die bevorstehende Behandlung.Dabei lässt sich klären, bei welchen Patienten bereits vor der Operation eine Ernährungsberatung angezeigt ist. Wer unter einer Darmerkrankung leidet, ist

Schnell wieder bewegen: Dem Patienten werden vor der Operation die Eckpunkte des Konzepts erklärt.

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Protokoll des persönlichen Befindens: Der Patient führt über seine Behandlung ein Tagebuch.

vielfach nicht ausreichend ernährt. Umso wichtiger ist es, die Patienten schon im Voraus zu stärken und so den späteren Heilungsverlauf positiv zu be-einflussen. Eine weitere Säule, auf der ERAS aufbaut, ist die Schmerzbehand-lung. «Schmerzen belasten den Körper und verzögern die Heilung, gleichzeitig schränken sie die Beweglichkeit ein. Deshalb fordern wir die Patienten auf, uns frühzeitig über das Auftreten von Schmerzen Bescheid zu geben, damit wir ihnen die passenden Medikamente verab-reichen können», sagt Simone Hochuli, Pflegeexpertin Chirurgie. Ein kurzer Gang durch die Bettenabteilung schliesst die Pflegesprechstunde ab. So wissen die Patienten genau, was sie erwartet.

Möglichst schonend operierenDer Eintritt ins Spital erfolgt in der Regel am Morgen des Eingriffstages, in nüchternem Zustand. Neu erhält der Pa-tient jedoch zwei Stunden, bevor er in den Operationsraum gefahren wird, ein isoto-nisches Getränk. Ganz so, als würde eine sportliche Anstrengung bevorstehen. Andrea Schoke, Oberärztin an der Klinik für Viszeral- und Thoraxchirurgie, erklärt den Grund: «Eine Operation stellt für den Körper eine grosse Belastung dar. Des-halb bereiten wir die Patienten optimal auf diesen Moment vor. Und dazu gehört auch eine gute Energieversorgung.» Bei der Operation selbst achten Chirurgen und Anästhesisten auf ein schonendes Vorgehen. So wird der Eingriff wenn möglich endoskopisch durchgeführt, Drai-nageschläuche und Magensonden werden nur sehr zurückhaltend eingesetzt.Der neue und ehrgeizige Geist des ERAS-Konzepts wird auf der Bettenstation deutlich. Die Patienten sollen so rasch wie möglich wieder selbständig werden. Schon nach wenigen Stunden verlassen sie zum ersten Mal das Bett. Sie erhalten energie- und eiweissreiche Drinks, und damit der Darm seine Tätigkeit möglichst rasch wieder aufnimmt, nehmen sie noch am gleichen Tag wieder feste Nahrung zu sich. Vorbei die Zeit, als nach der Opera-

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Mangelernährung frühzeitig behandeln

Wer ins Spital eingewiesen wird, zeigt oft Anzeichen von Mangelernährung. Jeder fünfte Patient ist davon betrof-fen. Besonders häufig ist dies bei älteren Menschen zu beobachten, die sich wegen Krankheit oder aus sozialen Gründen unzureichend oder einseitig ernähren. Der Zusam-menhang zwischen Mangelernährung und Therapieerfolg wird heute immer besser verstanden. Verschiedene Studien zeigen, dass ein ungenügender Ernährungszustand die Heilung erheblich erschwert. So konnte nachgewiesen werden, dass Mangelernährung häufig zu Komplikationen und Infektionen führt. Zudem verlängert sich der Spitalaufenthalt. Auch am KSW wird die Bedeutung des Ernährungszustands der Patienten wissenschaftlich untersucht. So haben Fachleute des KSW in einer Studie gezeigt, dass sich eine individuell ausge-

richtete Ernährungstherapie positiv auf die Energiezufuhr und die Lebensqualität auswirkt.Aus diesen Gründen hat das KSW schon vor Jahren eine Ernährungsberatung eingeführt. Bereits bei der Eintritts-untersuchung wird der Patient auf Mangelernährung ab-geklärt und der Ernährungsberatung zugewiesen. Mit dem ERAS-Konzept, das bei Bedarf bereits vor der Operation mit einer individuellen Ernährungsberatung beginnt, wird dieser wirksame Ansatz konsequent weitergeführt. Bei Patienten, die an einem bösartigen Tumor erkrankt sind und dadurch Gewicht verloren haben, ist eine Ernährungs-therapie besonders wichtig. Lässt sich der Ernährungszu-stand vor einer grossen Bauchoperation verbessern, so kann sich der Patient nach dem Eingriff schneller erholen.

tion nur flüssige Nahrung und Brei ser-viert wurden. «Die Patienten sollen sich schnell wieder bewegen und normal er-nähren. Dadurch kommen sie rascher in den Alltag», sagt Dr. Schoke. Nichts tun und warten, bis man gesund wird, das

passt nicht in das ERAS-Konzept. Die Patienten werden motiviert, sich aktiv an ihrer Genesung zu beteiligen.Auf der Station zahlt sich aus, dass die Patienten über den Verlauf der Therapie genau Bescheid wissen. Sie verstehen,

dass die frühe Mobilisierung das Risiko von Thrombosen und Druckstellen senkt. Sie wissen, dass die Atemübungen dazu dienen, die Gefahr einer Lungenentzün-dung einzudämmen. Und sie kennen Sinn und Zweck des Patiententagebuchs, das

Rund sechs Wochen nach der Operation wird vom behandelnden Chirurgen eine Abschlussuntersuchung durchgeführt.

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Wer sich früh bewegt, kann das Spital meistens auch früher als vielleicht geplant verlassen.

sie beim Eintritt erhalten haben. «Wer regelmässig über Schmerzen, Darmtä-tigkeit, körperliche Bewegung, Appetit und allfällige Übelkeit Buch führt, kann genau verfolgen, wie es aufwärtsgeht. Das ist sehr motivierend, etwa wenn die Spaziergänge jeden Tag etwas länger werden», sagt Simone Hochuli. So lässt sich etwas sportlicher Ehrgeiz wecken.

Frühzeitige PlanungDamit die Patienten nach fünf oder sechs Tagen wieder nach Hause gehen können, muss der Spitalaustritt frühzeitig geplant werden. Dazu gehören Informationen über die Ernährung und die erforderlichen Medikamente. Wenn nötig, ist bereits die Spitex organisiert, bei eingeschränkter Beweglichkeit ist zudem eine Physiothe-rapie vereinbart worden. Damit ist die Behandlung nach dem ERAS-Konzept aber noch nicht abgeschlossen. In der Woche nach dem Austritt erkundigt sich jemand von der Pflege telefonisch nach dem Befinden des Patienten. So können allfällige Komplikationen frühzeitig er-kannt und die Person den richtigen Fach-personen zugewiesen werden. Ebenfalls zur Nachbehandlung gehört eine Ab-schlussuntersuchung, welche der behan-delnde Chirurg rund sechs Wochen nach der Operation durchführt. Erst für weite-re Nachuntersuchungen bei Tumorerkran-kungen sind danach der Onkologe oder der Hausarzt zuständig.

«Die Patienten werden

dann entlassen, wenn sie

optimal versorgt sind.»

ERAS wird nicht auf den Behandlungs-pfad bei Darmoperationen beschränkt bleiben. «Denkbar ist, dieses moderne Konzept auf andere Bauchoperationen und danach auf Eingriffe in anderen Disziplinen wie der Urologie oder der Gynäkologie auszudehnen», sagt Ariella Jucker von der Unternehmensentwicklung des KSW. «Grundsätzlich ist das Konzept bei allen Operationen anwendbar.» Die Basis dafür hat das KSW bereits ge-schaffen. Vor ein paar Jahren sind für

planbare Eingriffe Behandlungspfade eingeführt worden, welche die erforderli-chen Therapieschritte definieren. «Mit ERAS wird dies nun konsequenter umge-setzt. Und weil wir den Behandlungs- erfolg ausführlich dokumentieren, sind wir auch in der Lage, die konkreten Ver-besserungen zu erkennen», sagt Ariella Jucker.Verschiedene internationale Studien zei-gen, welche Fortschritte am KSW dank ERAS zu erwarten sind. So traten an Kliniken, die ERAS bereits früher einge-führt hatten, weniger Komplikationen

auf, die Aufenthaltsdauer verkürzte sich, und dadurch sanken auch die Behand-lungskosten. Entsprechend lautet auch am KSW das Ziel, nach dem neuen Konzept die Patienten ganzheitlich und effizient zu behandeln. «Die Patienten werden dann entlassen, wenn sie optimal versorgt sind. Wenn sie das Spital früh verlassen können, dann ist dies Ausdruck der hohen Qualität», sagt Dr. Schoke. «Die konse-quente Ausrichtung auf das Wohl des Patienten zeigt, dass Qualität und Wirt-schaftlichkeit keine Gegensätze sind.»

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