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0 COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von DeutschlandRadio / Funkhaus Berlin benutzt werden. Belgrader „Undergrounds“ und die Stille der Provinz Über die Situation serbischer Autoren in der Gegenwart Feature von Mirko Schwanitz ERZÄHLER SPRECHER 1 SPRECHER 2 SPRECHERIN COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden.

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COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von DeutschlandRadio / Funkhaus Berlin benutzt werden.

Belgrader „Undergrounds“ und die Stille der Provinz

Über die Situation serbischer Autoren in der Gegenw art

Feature von Mirko Schwanitz

ERZÄHLER SPRECHER 1 SPRECHER 2 SPRECHERIN

COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt

werden.

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ATMO 01 Straßenlärm / Stimmengewirr / Belgrad ERZÄHLER Wie jeden Tag staut sich in Belgrad der Verkehr. Schon lange

bevor er das Zentrum erreicht, verdichtet er sich zu einer

zähflüssigen Masse, die die Stadt erwärmt wie ein Lavastrom

seine Umgebung. Seine giftigen Ausdünstungen haben „Beli

Grad“, die „weiße Stadt“ längst schwarz gemacht. Und so

gleichen die hell gekleideten Menschen bunten

Schmetterlingsschwärmen, die unablässig durch die Knez

Mihailova flattern - Belgrads beliebteste Fußgängerzone. Es ist

die fröhliche Unruhe einer Stadt mit zwei Gesichtern.

O-TON 01 Marija Knezevic (serb.)

SPRECHERIN Diese Stadt ist leer, obwohl sie voll ist mit Menschen. Es sind

einfach zuviele Menschen von hier fortgegangen. Sie fehlen dem

Land und sie fehlen mir.

ATMO unter Erzähler ausblenden

ERZÄHLER Marija Knezevic sitzt in einem Café, dessen Tische wie Stege in

den dahinplätschernden Strom aus Körpern und Gerüchen

ragen. Sie rührt in ihrem Kaffee und skizziert mit dürren Worten

präzise die Gemütslage vieler serbischer Schriftsteller, die hier

geblieben sind. Die nicht gegangen sind nach Deutschland,

Holland, Kanada, Kroatien….

MUSIK 01 CD Soundtrack Before the Rain Titel 5 „At The Restaurant“

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SPRECHERIN „In der Pause meiner Reise durch das Zimmer rufe ich mir meine

Freunde in Erinnerung, die in den letzten Jahren fast alle

weggegangen sind, jeder auf irgendeine und kaum jemand auf

s e i n e Seite. Sie sind weggefahren, doch nicht um

zurückzukommen, …, mit Fotoapparaten, Tauchermasken, Schi,

Antibiotika und Pavlovic-Salbe. Diesmal nahmen sie ihre

Diplome mit, ihre internationalen Führerscheine,

Gesundheitszeugnisse, …, Manuskripte, Disketten, Kassetten

mit Musik aus den Siebzigern und diesen Seufzer, der in der

Brust stecken geblieben war und noch lange Zeit nicht den Weg

hinaus finden würde.“ („Das Buch vom Fehlen“, Edition Zwei – Wieser Verlag 2004, S. 107/109

Übersetzer: Goran Novakovic)

MUSIK Ausblenden

ERZÄHLER Nach den Ereignissen im Kosovo 1999, den 38 004 Feindflügen

der NATO, dem Sturz Milosevics und dem Mord an Zoran

Djindjic hat der Westen Serbien nicht nur politisch den Rücken

gekehrt. Titelzahlen und Auflagenhöhen übersetzter Bücher

zeigen, das die Verständigung auch im kulturellen Bereich fast

vollständig zum Erliegen gekommen ist. Marija Knezevic ist es

als einziger serbischer Schriftstellerin, die nicht im Exil lebt,

gelungen, im deutschsprachigen Raum ein Buch zu

veröffentlichen. In dem im Klagenfurter Wieser-Verlag

erschienenen „Buch vom Fehlen“ beschreibt sie mit fast

chirurgischer Präzision unter anderem das Entstehen einer

neuen Spezies literarischer Exilanten.

MUSIK 01 CD Soundtrack Before the Rain Titel 5 „At The Restaurant“

SPRECHERIN „Sie sind auch mit jenen Sachen weggegangen, die sie in ihrer

Verwirrtheit vergessen haben, zu welchen auch die

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Verabschiedung von einem Freund gehört. Das ist kein Wunder,

weil wir ungefähr Dreißigjährigen (bis vor kurzem vom Wort

‚Generation’ angewidert) eigentlich überhaupt keine Erfahrung im

Verabschieden besitzen. Diese Menschen mit der vergessenen

Verabschiedung sind nicht, wie man früher zu sagen pflegte,

emigriert. Das ist jetzt ein anachronistisches Wort. Sie sind in

Züge und öfter Flugzeuge gestiegen noch bevor sie sich sicher

werden konnten, ob sie irgendwer oder irgendwas aus dem Land

gejagt hat. Sie wissen nur, dass Emigrant nicht das richtige Wort

ist, können sich aber an ein anderes nicht erinnern.“ („Das Buch vom Fehlen“, Edition Zwei – Wieser Verlag 2004, S. /109

Übersetzer: Goran Novakovic)

MUSIK ausblenden

ERZÄHLER Wie in den meisten Städten Serbiens haben der vergangene

Krieg und die neuen Grenzziehungen auch in Belgrad tiefe

Spuren hinterlassen. Während sich viele Intellektuelle in

Richtung Westen aufmachten, drängten zahlreiche Opfer

ethnischer Vertreibungen aus ländlichen Gebieten in die

Stadt.Von den 1,7 Millionen Einwohnern sind heute mehr als 300

000 Kriegsflüchtlinge aus der kroatischen Krajna, Slawonien,

Bosnien-Herzegowina und dem Kosovo. Nur wenige der heute in

Serbien lebenden Schriftsteller haben den Mut, sich damit

auseinanderzusetzen. Das zumindest meint der Autor und

Dramaturg Filip David. Er hat drei Bände mit Erzählungen

veröffentlicht und einen fantastischen Roman. Unter Milosevic

verlor er seinen Job als Leiter der Abteilung Drama beim

serbischen Fernsehen. 1999 gründete er, zusammen mit Autoren

wie Nenad Popovic aus Kroatien und dem in Deutschland

lebenden Miodrag Pavlovic die Gruppe 99, die versucht, die

abgerissenen Kontakte zwischen den Autoren des ehemaligen

Jugoslawien neu zu knüpfen.

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O-TON 02 Filip David (serb)

SPRECHER 1 Ich glaube, dass es gerade mit Blick auf die letzten 15 Jahre

wichtig ist, dass wir Schriftsteller endlich laut und deutlich

Position beziehen. Wir sind Teil der Öffentlichkeit. Wir können

uns nicht bequem an den Rand des Schlachtfeldes setzen und

zugucken. Für das, was in Jugoslawien, in Serbien geschehen

ist, tragen auch die Schriftsteller eine Verantwortung.

ERZÄHLER Der serbische Schriftstellerverband hatte die Politik Titos bis zum

Ende der 70iger Jahre vorbehaltlos unterstützt. Kein Wunder,

seine Mitglieder hatten im Gegensatz zu ihren Kollegen in

anderen sozialistischen Ländern Zensur kaum zu fürchten. Mit

einem Gedichtband sollte sich das Anfang der 80iger Jahre

plötzlich ändern.

MUSIK 02 CD DD Synthesis Titel 7 Chuma unterblenden

SPRECHER 2 … Keiner kann das stumme Buch lesen / Und seine Seiten

zerreißen / Darauf ist das Weltalphabet gedruckt / Und diese alte

Geschichte ohne Ende

Es wurde unterzeichnet / Von einem linkshändigen Schreiber /

Mit Herzfehler / Und einer mit Vogelkot besudelten Brieftaube.

Die Blinden, / Singen und dichten Loblieder / Für diesen Wurm-

Kuttenträger / Und lassen ihn in jedem Dorf ein Haus bauen

(Aus: Goiko Djogo, „Keilschrift“ in: „Das Lied öffnet die Berge - Eine

Anthologie der serbischen Poesie des 20. Jahrhunderts“, Hrsg. Manfred

Jähnichen, Gollenstein-Vlg. 2004, S. 311)

MUSIK ausblenden

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ERZÄHLER In den Zeilen des Lyrikers Gojko Djogo glaubte das Regime eine

Verunglimpfung des 1980 verstorbenen Tito zu erkennen. Als sie

daraufhin den Gedichtband „Wollene Zeiten“ verbot und seinen

Autor kurzerhand ins Gefängnis steckte, passierte etwas völlig

Unerwartetes: Der Schriftstellerverband organisierte zwei Monate

lang literarische Protestabende auf denen das Regime öffentlich

wegen Knebelung der künstlerischen Freiheit kritisiert wurde. Am

Ende erzwang die Organisation die Freilassung Djogos und

verteidigte in der Folge auch andere betroffene Autoren. Eine

Haltung, die den Verbandsfunktionären in ganz Jugoslawien zu

hohem Ansehen verhalf. Vielen von ihnen, auch Gojko Djogo,

sollte man Anfang der 90er Jahre als Kannonieren der

nationalistischen Politik wiederbegegnen – nicht nur in Serbien.

O-TON 03 Filip David (serb)

SPRECHER 1 Diese Schriftsteller haben genau gewusst, was sie taten. Sie

haben Verantwortung zu tragen, weil sie sich für den

Nationalismus entschieden und nicht für Reformen.

ERZÄHLER Mitte der 80er Jahre durchlebte Jugoslawien eine schwere Krise.

Die Wirtschaftslage war schlecht, Rezession und Hyperinflation

erschütterten das titoistische System in seinen Grundfesten. Auf

der Suche nach Sündenböcken wurden zuerst in intellektuellen

Kreisen, danach in allen Bevölkerungsschichten nationalistische

Argumente salonfähig. 1986 veröffentlichte eine der

renommiertesten Institutionen des kulturellen Lebens, die

Serbische Akademie der Wissenschaften, ein Memorandum.

Darin heißt es:

SPRECHER 2 Durch die herrschende Ideologie werden die Errungenschaften

des serbischen Volkes auf kulturellem Gebiet verfremdet, man

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eignet sie sich an oder spricht ihnen jeglichen Wert ab, man lässt

sie einfach unbeachtet oder lässt sie verfallen, die serbische

Sprache wird unterdrückt, die kyrillische Schrift verliert sich

allmählich. Der Bereich der Literatur ist in diesem Sinne ein

bedeutsamer Schauplatz von Willkür und Gesetzlosigkeit. (Aus: „Völkermord an den Kosovo-Serben!“-Das Memorandum der Serbischen

Akademie der Wissenschaften und Künste 1986, in. „Weltenzyklopädie des

Europäischen Ostens“, Bd. 18, Wieser-Verlag S. 643)

ERZÄHLER Das Memorandum stellte einen Wendepunkt in der Entwicklung

Jugoslawiens dar. Unterzeichnet von zahlreichen Schriftstellern,

u.a. von Dobrica Cocic, dem späteren Präsidenten Serbiens,

lieferte es nicht nur den ideologisch-kulturellen Unterbau für die

erstarkenden nationalistischen Strömungen, sondern wies

gleichzeitig der Literatur eine neue Funktion zu:

In dieser Diktion sollte Literatur den territorial verstreut lebenden

Serben nun ihre nationale Zugehörigkeit verdeutlichen. In den

sogenannten „neuen historischen Romanen“ wurde nun die

Geschichte umgeschrieben, wurden Legenden und Mythen mit

der Realität verwoben. Der Belgrader Soziologe Ivan Cirilov hat

in seinem Buch „Die Symbole der Politik“ die über diese Bücher

transportierten Grundthesen des serbischen Nationalismus

provokativ zusammengefasst:

SPRECHER 2 Die serbische Nation lebt seit Urzeiten auf serbischem Boden.

Dieser Boden ist der Körper. Der Neretva-Fluss ist die Aorta des

serbischen Blutstromes, der Fluss Drina ist ihr Rückgrat …,

während die bosnischen und serbischen Gebirge … ihre Lunge

sind. Dieser Boden verschmolz mit seinem Volk zu einem

lebenden Organismus, der Mutter jedes Serben. … Daher sind

die Orte, an denen das Blut der gefallenen Helden vergossen

wurde – die Schlachtfelder, Hinrichtungsstätten, Friedhöfe und

Gräber – von besonderem symbolischen Wert. Sie bewahren

den Keim der nationalen Erneuerung, das ursprüngliche Opfer

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und den Tod sowie die Wurzeln, durch die die Nation mit der

Erde der Ahnen verbunden ist. Gräber sind daher die natürlichen

Grenzen Serbiens. (Aus: Ivan Colovic „Politika Simbola“ Belgrad 1997, S. 14-16)

ERZÄHLER So gesellten sich die wackeren Mythenschöpfer vom Schlage

eines Dobrica Cocic zu jenen Brandstiftern, die Jugoslawien

lange vor seinem Zerfall Feuer unters Dach legten. Weil sie darin

keine Verstrickung sahen, sondern sich im Gegenteil als

Aufklärer ihres Volkes verstanden, machten sie sich zu

Handlangern einer großserbischen Propaganda. Die Folgen,

meint Filip David, bestimmen bis heute das literarische Leben im

Land und haben deutliche Spuren auf dem Buchmarkt

hinterlassen.

O-TON 04 Filip David (serb)

SPRECHER 1 Natürlich gibt es inzwischen wieder so etwas wie eine

Demokratisierung des Buchmarktes. Die Frage ist nur, wie das

aussieht. Große Zeitungsverlage überschwemmen den

Buchmarkt mit Büchern aus billigem Papier. Mit kitschigen

Liebesromanen, ein paar alten Klassikern, für die sie keine

Rechte mehr zahlen müssen. Das Schlimmste aber ist eine

andere Sorte von Büchern, die die eigentlichen Bestseller sind.

Das sind die Memoiren von Kriminellen und Kriegsverbrechern.

ATMO 02 Stadtverkehr / Schritte / Geräusche

ERZÄHLER Verkauft werden die von Filip David erwähnten Bücher nicht nur

in Buchhandlungen, sondern auch in tausenden bunten Kiosken,

die die Gehwege Belgrads überschwemmen. Hier finden sich

die Konterfeis Radovan Karadzics oder Ratko Mladics in trauter

Nachbarschaft von Sex-Postillen und Zeitschriftenkopien

westlicher Großverlage. Diese Kioske, meint Marko Vidojkovic,

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seien das Abbild des Chaos, das Milosevic in den Köpfen vieler

Menschen hinterlassen habe.

O-TON 05 Marko Vidojkovic (serb)

SPRECHER 2 Das, was sie hier sehen sehen, hat nichts mit Literatur, sondern

eben nur mit Schund zu tun - diese Biographien. Man kann sie in

zahllosen Zeitungskiosken in der ganzen Stadt kaufen. Nehmen

wir „Legija“ Der schreibt fünf Bücher pro Jahr obwohl er im

Gefängnis sitzt. Und die Leute kaufen es, weil er der Mörder von

Djindjic ist. Also da geht es nicht um das Buch, sondern darum,

wer das Buch geschrieben hat. Daran kann man sehen, wie sehr

solche Kriminellen nach wie vor das Unterbewußtsein in

unserem Lande beherrschen. Hier kriegen sie auch die Bücher

von Karadzic, der sich ja angeblich so versteckt hält, das man

ihn nicht finden kann. Als ob die Manuskripte per Post und

anonym zum Verlag kommen.

ERZÄHLER Marko Vidojkovic gehört zur jüngeren Generation serbischer

Schriftsteller und gilt, obwohl inzwischen bereits ein etablierter

Autor, doch noch immer als „Underground“, als Star der

alternativen Literaturszene. Begründet hat er seinen Ruf mit dem

auch im deutschen Horlemann-Verlag erschienenen Buch „Tanz

der kleinen Dämonen“. Geschrieben hat er es mit 17 Jahren.

O-TON 06 Marko Vidojkovic (serb)

SPRECHER 2 Das erste Buch war auf meine Teenagerzeit fokussiert. Mir ging

es darum darzustellen, wie wir damals den Beginn jener

Krisenzeit wahrnahmen, die zu dem Zustand führte, in dem wir

uns heute befinden.

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ERZÄHLER Vidojkovics Buch ist heute nicht nur ein zeitgeschichtliches

Dokument, mit ihm hielt auch eine neue Sprache Einzug in die

serbische Literatur.

MUSIK 03 CD Soundtrack Underground Titel 7 War

Sprecher 2 Wir saßen da und zogen uns eine Sendung von irgendeinem

Idioten …rein …der unglaublich schnell herumflitzte und

Verbrechen löste. Er war arschschnell. Nach der Serie hatten wir

es mit der Politik. Irgendwo im Lande tobte ein Krieg und mein

Vater erklärte mir warum. Er erzählte, dass die einen wie die

anderen Idioten seien … und das in zehn Jahren alle, die sich

jetzt bekämpften wieder zusammenleben müssten, wenn Europa

ihnen die Ohren langgezogen habe. …. Ich teilte seine Meinung

vor allem deshalb, weil sie ganz anders als die offizielle Meinung

war. Mein Alter war in dieser Hinsicht ein absoluter Punk. ….

Insgeheim war ich für die Serben und wünschte mir, dass sie das

Land der Ustascha in Brand setzen würden. Aber ich wusste,

dass das falsch war, weil das ganze Land dafür war und mein

Land und die Menschen in ihm waren ekelhaft … und so

befasste ich mich nicht mit Politik. … Wichtiger war mir, endlich

eine Möse vor die Flinte zu bekommen, einen guten Song zu

schreiben, einen störenden Pickel am Rand der oberen Lippe

auszudrücken. (Aus: Marko Vidojkovic, „Tanz der kleinen Dämonen“, Horlemann 2005, Übersetzung

Milan Andrejic S. 34)

MUSIK ausblenden

O-TON 07 Marko Vidojkovic (serb)

SPRECHER 2 Ich habe erst spät meinen Stil analysiert. Auch wenn es sich um

eine hyperrealistische Art und Weise des Schreibens handelt,

arbeite ich doch mit vielen Symbolen und Metaphern. Man kann

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meine Romane nehmen wie sie sind. Als Abbild des realen

Lebens ohne Hintersinn. Zugleich aber gibt es eine Metaebene,

die ihnen – so hoffe ich – noch ein zweite Dimension verleiht, die

sich aber nicht jedem beim ersten Lesen erschließt.

ERZÄHLER Marko Vidojkovic steht auch für eine neue Generation serbischer

Autoren. Eine, die sich nicht scheut, in einer drastischen Sprache

mit der jüngeren Vergangenheit abzurechnen. Eine Generation

auch, die es verstanden hat, dass Literatur im Medienzeitalter die

Medien für ihre Zwecke nutzen kann und muss:

O-TON 08 Marko Vidojkovic (serb)

SPRECHER 2 Die Kunst verändert sich mit dem Leben. Aber viele Autoren

verändern sich nicht. Und so läuft das Leben an ihnen und ihren

Bücher vorbei. Das Leben, das sind die Leser. Ich kann also

morgen nicht so schreiben, wie ich heute schreibe und dann

jammern, dass meine Bücher sich schlecht verkaufen. Sie haben

einfach nicht begriffen, dass auch gute Literatur den

Marktgesetzen folgt, dass man für die Verbreitung und den

Verkauf von Kultur etwas tun muss. Ich z.B. habe zusammen mit

dem Sender B92 eine Kampagne gestartet.

ATMO 03 Auschnitt aus Radio-Programm B92

ERZÄHLER B92 hat auf der anderen Seite der Donau seinen Sitz, dort wo die

Beton-Gebirge Neu-Belgrads in den Himmel ragen. Aus dem

Radiosender, der in einer Art Guerilla-Taktik maßgeblich am

Sturz Milosevics beteiligt war, ist längst ein kleiner

Medienkonzern geworden. Neben einem Fernsehsender und

einem eigenen Musiklabel haben die B92-Rebellen schon früh

ein kleines Verlagshaus gegründet, das heute mit wenigen

anderen die Keimzelle eines neuen progressiven Verlagswesens

in Serbien bildet. Den Namen aus der Zeit der Arbeit im

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Untergrund, sagt seine Leiterin Lydia Kusovatz, habe der Verlag

aber behalten

O-TON 09 Lydia Kusovatz (serb)

SPRECHERIN Wir haben den Samizdat-Verlag 1993 gegründet, weil wir die

Grundidee von B92 auch auf den serbischen Buchmarkt

ausdehnen wollten. Uns geht es darum, in all den

gesellschaftlichen Bereichen präsent zu sein, in denen wir

Einfluss nehmen können auf die Entwicklung eines

selbstkritischen und staatsbürgerlichen Bewusstseins in unserer

Gesellschaft. Neben belletristischen Werken geben wir also

auch ein Vielzahl politischer und gesellschaftlich engagierter

Publizistik heraus.

ERZÄHLER Dank B92 ist der kleine Verlag entgegen dem allgemeinen Trend

auch mit seiner Belletristik-Sparte höchst erfolgreich.

O-TON 10 Lydia Kussovatz (serb)

SPRECHERIN Wir geben im Jahr vielleicht 14 bis 20 Bücher heraus. Während

es für andere Verlage unerschwinglich ist, die eigenen Bücher zu

bewerben, wird bei uns jedes Buch mit einer Medienkampagne

des eigenen Hauses begleitet. So gelang es uns stets, für unsere

Bücher die notwendige Aufmerksamkeit bei den Lesern zu

erreichen.

ERZÄHLER Die übliche Startauflage für ein Buch liegt in Serbien zur Zeit bei

etwa 500 Stück. Ab 1000 verkauften Exemplaren gilt es bereits

als Bestseller.

O-TON 11 Marko Vidojkovic (serb)

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SPRECHER 2 Die erste Auflage meines vierten Romans „Krallen“ betrug 1000

Exemplare. Dann starteten wir eine dreiwöchige starke

Werbekampagne für das Buch und siehe da, am Ende wurden

15 000 Bücher verkauft.

ERZÄHLER Vidojkovics Roman war damit im Jahr 2005 nicht nur das

meistverkaufte Buch nach dem „Da-Vinci Code“ von Dan Brown.

Schaut man in die Statistiken der Belgrader Nationalbibliothek, in

der die Daten aller Landesbibliotheken erfasst werden, ist es bis

heute auch das meistgelesene Buch in Serbien nach dem Krieg.

O-TON 12 Marko Vidojkovic (serb)

SPRECHER 2 Der Grund ist wahrscheinlich der, das dieses Buch, das in der

Zeit der Studenten- und Bürgerproteste spielt, auch viel über das

Heute und Jetzt aussagt. In meinen Büchern, in meinen Helden

gibt es sehr viel Wut. Ich halte Wut für eine gute Sache – für eine

gesunde Emotion in einer ungesunden Situation. Ich weiß nicht,

was mich trieb, aber ich wollte bei jedem wieder dieses Gefühl

wecken, dass wir es schon einmal geschafft haben, eine

Regierung zu stürzen, dass wir den Mächtigen zeigen können,

von wem die Macht wirklich ausgeht.

ERZÄHLER Und so beginnen literarische Helden, denen jegliche

Heldenmythen fremd sind, nun auch in Serbien zu funktionieren.

Das sei das eigentlich Spannende an Vidojkovics Erfolg, meinen

der Schriftsteller Vladimir Arsenjevic und der soeben aus dem

deutschen Exil nach Belgrad zurückgekehrte Lyriker Dragoslav

Dedovic. Beide kommen – wie Vidojkovic – aus dem

„underground“.

O-TON 13 Vladimir Arsenjevic (serb)

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SPRECHER 1 Ich bin nicht richtig zur Schule gegangen. Ende der 70 Jahre

breitete sich in Belgrad die New Wave und Punkszene wie ein

Lauffeuer aus. Das hieß: Schule schwänzen, abhängen, Mist

bauen. Zugleich ist das Aufkommen dieser Szene untrennbar

verbunden mit dem Tod von Tito, denn plötzlich gab es eine

merkwürdige Form von Freiheit. Alle Beteiligten waren sehr jung.

Ich selbst war 15 damals.

O-TON 14 Dragoslav Dedovic (dt.)

In diesem Jahrzehnt haben sich die Leute intellektuell und

menschlich entwickelt in einem schönen Vakuum. Die Hardliner,

die Kommunisten konnten damals nicht sicher sein, dass sie

auch morgen die Macht haben werden. Und die Chauvinisten

haben sich noch nicht formiert, haben ihre aberwitzigen

Programme noch nicht ausformuliert, und in diesem Vakuum

konnte man wunderbar leben.

MUSIK 04 CD Soundtrack Bevor the Rain Titel 6 In a London Cab

SPRECHER 2 als kind stotterte er und sprach deshalb wenig / es war gegen

ende des sommers da hörte er im radio / the house of the rising

sun seitdem trifft man ihn / in der schule selten häufiger in der

garage wo er / an den bindfäden der weißen bassgitarre zupft / if

you want blood you`ve got it / dürr und gebeugt mit einem joint

hinterm ohr / auf der bühne mit den hüften zuckend zu unserer

geil / aufspielenden Musik never mind the bollocks / im krieg

sagen sie hat er aufgehört zu stottern / doch spricht er immer

weniger und raucht um so mehr / frisch abgeschnittene

Menschenohren tauschend / und abgeschmackte Zigaretten /

seine kalaschnikov ölt er wie weiland die fender / und singt

sindjelic mit der stimme von waits / cold ground mein kumpel /

could, could ground

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MUSIK noch etwas stehenlassen, unterblenden

ERZÄHLER Zwischen dem lyrischen Werk Dedovics, erschienen im

österreichischen Drava-Verlag, und den Romanen Vladimir

Arsenjevics gibt es viele Parallelen. In seinem inzwischen in

zehn Sprachen übersetzten und bei Rowohlt unter dem Titel

„Cloaca Maxima“ erschienenen Roman, schreibt Vladimir

Arsenjevic über eine geopferte Generation. Eine Generation, die

es ablehnt, den Krieg als ihr Schicksal zu akzeptieren, ihm aber

trotzdem nicht entgeht.

MUSIK 04 CD Soundtrack Bevor the Rain Titel 6 In a London Cab

SPRECHER 1 „Ich hatte Mitleid mit uns allen. In einer jäh aufblitzenden Vision,

die das normale Straßenbild vor meinen Augen zerriß, sah ich

uns alle fliehen, während sich der Boden unter unseren Füßen

mit furchtbarem Geräusch auftat und aus den Tiefen der

unerträgliche Gestank der Jahrhunderte emporstieg, die auf

würdige Weise zu nutzen wir in unserer Trägheit versäumt

hatten; ein zuckender Krake grinste uns entgegen, gleichgültig

für das Entsetzen, dass unsere Bewegungen lähmte, für unseren

Wunsch, weit weg von hier zu sein. Während eines teuflischen

Bacchanals, das eine Sekunde dauerte, verschwanden

willkürlich herausgegriffene Opfer in diesem Krater aus Fleisch.

Es waren viele. Alle, die sich nicht rechtzeitig hatten in Sicherheit

bringen können, alle die es traf, wurden fortgetragen wie

Papierdrachen, die uns von den Novemberstürmen aus den

Händen gerissen werden.“ (aus: Vladimir Arsenjevic „Cloaca Maxima“, Rowohlt-Berlin, S. 64/65

Übersetzung: Barbara Antkowiak)

MUSIK kurz stehenlassen, unterblenden

ERZÄHLER Sarkastisch, selbstironisch und doch mit unüberhörbarer

Verzweiflung beschrieb Arsenjevic das Leben in Belgrad Anfang

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der 90er Jahre. Das Erfolgsgeheimnis von Autoren wie

Arsenjevic oder Vidojkovic liegt in ihren literarischen Helden

selbst. Sie widersetzen sich den nationalen Programmen und

beziehen ihren subversiven Geist aus ihrem Beharren auf der

eigenen Individualität.

O-TON 15 Vladimir Arsenijevic (serb)

SPRECHER 1 Ich war immer ein Einzelgänger. Ich gehöre zu keiner Gruppe.

Ich versuche als Schriftsteller und Verleger, meine Ideen in die

Gesellschaft zu rufen. Wenn es überhaupt ein kulturelles Leben

in Belgrad gibt, so glaube ich, ist es noch in einem sehr

armseligen Zustand. Der größte Unterschied zu den 90iger

Jahren ist vielleicht der, dass die Leute sich damals geäußert

haben: Für Milosevic oder gegen Milosevic. Weil es diesen

Austausch gab, war die Situation irgendwie erträglicher als

heute. Und das obwohl die Katastrophe damals viel größer war

als heute. Heute ist alles fragmentiert. Und die Literatur leidet

darunter am meisten.

ATMO 05 Zuggeräusche innen

ERZÄHLER Der Zug schaukelt nach Norden. In die Stille der Provinz. Vor

dem Fenster sind die Dörfer der Vojvodina in den Fluten der

Kukuruz-Felder versunken. Ab und zu Getreidesilos wie

Leuchttürme; gemähtes Gras, das liegenblieb und staubige

Wege, auf denen die Speichen einsamer Fahrradfahrer in der

Sonne blinken. Sechseinhalb Stunden, dann taucht aus den

grünen Wogen ein Eiland auf, mit Marktplätzen und

Sezessionsbauten. Der Blick hält sich fest an Subotica.

O-TON 16 Bosko Krstic (serb)

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SPRECHER 2 Subotica liegt im Schnittpunkt der Gravitationsfelder von

Budapest und Belgrad, auch von Zagreb. In den letzten

einhundert Jahren hat die Stadt fünfmal den Staat gewechselt.

Die großen Ereignisse spielen sich immer in den Zentren ab und

das ist es, was meine Stadt immer verpasst hat, die großen

Geschehnisse aber auch die großen Wahrheiten.

ERZÄHLER Bosko Krstic ist ein drahtiger Mann mit schlohweißem Haar und

blauen Augen in denen Melancholie nistet. Lange Jahre war er

Journalist. Eines seiner Bücher aus dieser Zeit handelt von

seiner Suche nach dem Geburtshaus von Danilo Kis.

O-TON 17 Bosko Krstic (serb)

SPRECHER 2 Mich hat immer interessiert, wieso Subotica überhaupt keine

Notiz nimmt von einem der größten Söhne der Stadt. Und

gleichzeitig hat mich interessiert, warum Danilo Kis die Stadt, in

der er geboren wurde nie erwähnt.

ERZÄHLER Danilo Kis gilt heute als der bedeutendste serbische Schriftsteller

des 20. Jahrhunderts. In seiner Heimat ist er nur wenig beliebt.

Kein Wunder, mutieren seine literarischen sozialistischen Helden

doch nur zu oft zu autoritätsgläubigen Kreaturen, die in blindem

Gehorsam durchaus nicht vor Mord zurückschrecken. Bereits in

seinem Roman „Ein Grabmal für Boris Davidovitsch“, beschrieb

er das Psychogramm jenes Menschentyps, auf den sich später

auch die Macht eines Slobodan Milosevic stützen sollte. Doch

schon in den 70iger Jahren sah die Gesellschaft nicht gern in

einen solchen Spiegel und so wurde Kis schließlich mit einer

Hetzkampagagne überzogen, die ihn 1976 ins französische Exil

trieb.

Warum Kis nie etwas über seinen Geburtsort schrieb, hat Krstic

nicht herausfinden können. Umgedreht jedoch habe er für sich

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eine Antwort auf die Frage gefunden, warum Subotica sich nicht

an Kis erinnern will.

O-TON 18 Bosko Krstic (serb)

SPRECHER 2 Das Problem ist, das es in Serbien keine kontinuierliche

Geschichtsschreibung gibt. Und damit werden auch jene Figuren

ausgeblendet, die uns einen ungetrübten Blick auf bestimmte

geschichtliche Perioden vermitteln könnten. Auch jetzt wird

wieder heftig daran gearbeitet, das die Menschen vergessen,

was vor diesem Krieg geschehen ist. Es geht also um eine

verordnete historische Demenz.

ERZÄHLER Bosko Krstics Thema sind genaue Studien von Individuen in der

Geschichte. In seinem zweiten Roman „Wassermann“

beschäftigt er sich mit dem Innenleben eines Menschen in der

Endphase des Tito-Regimes und dem Beginn der

Machtübernahme von Milosevic. Auch er bemüht die Mythologie,

wenn auch auf ganz andere Art und Weise.

MUSIK 05 DD Synthesis Titel 6 Ljubov i smrt

SPRECHER 2 Mitten im Schritt hielt er inne. Der Raum war voll Wasser. Das

Nass hatte das Bett, auf dem Andrija lag, bereits völlig

verschluckt. … Es sah aus, als er würde er durch sein eigenes

Zimmer schwimmen, während um ihn herum leere Flaschen im

Wasser hin- und her wippten. …. Die leeren Flaschen schienen

Jan wie geheime Botschaften, die Andrija in seinen letzten

Momenten hatte verschicken wollen, … Doch es gab keinen

Fluss, der sie hätte in irgend ein Meer treiben können, hinaus

aus diesem … Zimmer mit seiner niedrigen Decke. Das Wasser

hatte den kleinen Teppich vor Andrijas Bett zur Seite gedrückt,

so dass er jetzt ganz klar die Löcher in der seltsamen Platte

wahrnehmen konnte, die darunter zum Vorschein gekommen

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war. Durch diese Löcher strömte das Wasser mit einem

merkwürdigen Heulen in den Raum. …Die Platte ähnelte sehr

einem schweren Grabmahl … Mit einem Mal verstand er alles.

Andrijas Tod und Andrijas Geheimnis. Er begriff, wieso sein

Freund so ruhig und selbstsicher gewesen war, als sie damals

planten, in ihrer Kneipe das Wasser umsonst anzubieten, und …

warum er den Namen des „Wassermanns“ ins Spiel gebracht

hatte. Andrija war der Hüter!

Jan watete zu seinem toten Freund … Nun selbst bis zur Hälfte

im Wasser … folgten seine Augen dessem erloschenen Blick,

der auf das ausgetrocknete Bett des Flüßchens Mlaka gerichtet

zu sein schien. … Als er nach langer Zeit die Straße betrat, fiel

ihm auf, dass das Wasser sich aus beiden Fenstern des

Zimmers ergoss und seinen Weg ins ausgetrocknete Flussbett

suchte. … Alles um ihn war trocken, schrecklich trocken, nur er

war nass und schwach. (Aus: Bosko Krstic „Vodolija“, Kairos-Verlag Subotica 2000, S. 103-105

Erstübersetzung: Marija Lukic/Mirko Schwanitz)

MUSIK ausblenden

O-TON 19 Bosko Krstic (serb)

SPRECHER 2 Für mich steht das Ende des Buches auch als Sinnbild für das

geistige Leben im Serbien der letzten Jahre. Natürlich scheint es

pessimistisch, denn schließlich findet Jan seinen Freund tot auf

der Wasseroberfläche treibend. Aber genau diese Tatsache ist

für mich das Entscheidende, denn wissen Sie, was die Leute hier

früher glaubten? Nur der kann nicht versinken, der reich im

Geiste ist.

ERZÄHLER So stemmt sich auch Bosko Krstic gegen das Versinken. Er

weiß, dass ein Neuanfang notwendig ist. Zur Zeit bemüht er sich,

der ältesten Literaturzeitschrift Serbiens, der 1956 gegründeten

„Garbe“, wieder Leben einzuhauchen und den verstummten

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Diskurs zwischen den Schriftstellern des einstigen Jugoslawien

von der Provinz aus wieder in Gang zu bringen. Ein schwieriges

Unterfangen.

O-TON 20 Bosko Krstic (serb)

SPRECHER 2 Dieser Krieg hat auch viele Freundschaften beendet. Und das

führt zu einer unglaublichen Vereinsamung. Vielleicht ist deshalb

die unter den Schriftstellern der Provinz am meisten verbreitete

Krankheit, die Depression. Wir wissen nicht mehr viel

voneinander. Die Autoren in Belgrad wissen nichts von denen in

Novi Sad, die in Novi Sad nichts von denen in Subotica.

Dagegen wehre ich mich mit dieser Zeitschrift und einer Gruppe

von Freunden um Otto Tolnai. Er ist vielleicht der einzige, den

man in Belgrad noch kennt. Schließlich war er der letzte

Vorsitzende des gesamtjugoslawischen Schriftstellerverbandes.

ERZÄHLER Otto Tolnai wohnt in Palics, wo die Provinz an einem großen See

ankert, Villen im Schweizer Stil stehen und die NATO ein paar

Bomben fallen ließ – auf eine kleine Wetterstation. Ein weißes

Tor ist übrig geblieben. Nun führt es ins Nichts.

O-TON 21 Otto Tolnai (serb)

SPRECHER 1 Nach dem Krieg wurde nicht nur das Land in einzelne

Republiken zerissen, auch die Städte innerhalb Serbiens haben

sich voneinander entfernt und was für die Menschen in ihnen gilt,

gilt auch für die Schriftsteller - sie haben sich eingeschlossen in

ihre kleinen intimen Kreise.

ERZÄHLER Otto Tolnai stammt aus der ungarischen Minderheit in Serbien.

Über 30 seiner Bücher sind in Ungarn und im ehemaligen

Jugoslawien erschienen. Als einer der engsten Freunde von

Danilo Kis und Alexander Tisma, hat er seine kleine Welt rings

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um den Palics-See in den Mittelpunkt eines literarischen Kosmos

gestellt, der ihn zu einer der wichtigsten Stimmen in der

zeitgenössischen ungarischen Literatur machte. Doch wenn er

heute auf sein Leben zurückblickt, bezeichnet er sich nicht ohne

eine gewisse Bitterkeit und Resignation als „Orpheus vom

Lande“, als Dichter aus der Provinz.

O-TON 22 Otto Tolnai (serb)

SPRECHER 1 Ich habe erst jetzt verstanden, wie sehr mein Geist geprägt war

von diesem großen Raum. Einige nannten das Jugoslawien, ich

aber nehme diesen Begriff nicht politisch. Als ich aufwuchs, war

hinter mir der eiserne Vorhang und vor mir nur dieser Raum, der

sich bis zur Adria erstreckte. Diesen Raum habe ich durchlebt,

diese Literatur habe ich durchlesen von Ljubljana über Zagreb

bis Pristina. Das war für mich der Spiegel, in dem ich mich selbst

sah und dieser Spiegel ist jetzt zerbrochen.

O-TON 23 Otto Tolnai (serb)

SPRECHER 1 Mir ist aufgefallen, dass es mir schwer fällt, andere Menschen zu

besuchen. Es überrascht mich, wie klein der Kreis jener

Menschen geworden ist, mit denen ich gern diskutieren würde.

Früher hat mich Alles und Jeder interessiert. Das ist jetzt anders.

Alle verdächtigen einander und das hat damit zu tun, dass es

Schriftsteller waren, die sich diese Kriegsideologie der letzten

Jahre nicht nur ausgedacht, sondern auch geholfen haben, sie in

die Praxis umzusetzen. Jetzt definieren sich alle nur noch über

die Grenzlinien ihrer Nationalität.

ERZÄHLER Tolnais Umgang mit der Wirklichkeit, seine Schreibweise, seine

Modernität und seine zum Teil kühnen Anachronismen lassen

sich nirgends einordnen. So umhüllen auch seine Geschichten in

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dem Bändchen „Eine Postkarte an Don Dukay“ – erschienen in

der Reihe Spurensicherung des DAAD – den Leser mit einem

feinen Spinnennetz, gewebt aus den Fäden von Tolnais geistiger

Existenz, derben Tatsachen und einem unglaublichen

Detailreichtum. So sehr ihn Grenzlinien immer interessierten, so

sehr bemüht er sich, sie in seinem Schreiben völlig aufzuheben.

MUSIK 05 DD Synthesis Titel 6 Ljubov i smrt

SPRECHER 1 „Jemand hatte uns empfohlen, für unsere Pflanzen, … , Torf aus

einem der kleinen Seen zu holen. … Dabei erblickte ich fast

gleichzeitig mit meiner Frau einige prächtige gelbe Wasserlilien.

… Als ich sie im schnell tiefer werdenden Wasser erreicht hatte,

wollte ich rasch ein paar Lilien ausreißen. … Jedoch mir war, als

wollte ich mit meiner Hand einen Baum ausreißen … Wie auch

immer, ich musste tauchen und die näheren Umstände ertasten.

Kaum hatten meine Finger den Seeboden berührt und sich durch

den Schlamm gewühlt, erkannte ich verblüfft, dass sie auf ein

festes Gewirk, auf einen starken, dichten und wahrhaft

berückenden Rhizom-Boden stießen …. bis es mir endlich

gelang, zwei, drei Stengel zu entwirren und dem dichten,

zusammenhängenden Geflecht zu entreißen. Doch da glitt ich

vor lauter Anstrengung aus und griff nach einem schiefen und

vereinzelt dastehenden Pfosten. Solcherart gelang es mir, mit

meinem Strauß in der Hand, das Gleichgewicht

wiederzuerlangen. Und dann besah ich mir .. den Pfosten

genauer.

An seinem oberen Teil waren drei Streifen zu sehen: blau – rot –

weiß.

„Ist das nicht die jugoslawische Trikolore?“ fragte ich meine Frau

… „Ist das nicht vielleicht der Grenzpfosten?“

„Doch, das ist er“ sagte sie, plötzlich ernst geworden. „Wage dich

nur nicht weiter vor!“

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„Hoffentlich“, sage ich, die wunderschönen gelben Lilien

ängstlich an meine Brust gedrückt „hoffentlich ist der See nicht

vermint.“ Vom ehemaligen eisernen Vorhang übriggebliebene

Tretminen, so sinnierte ich, indem ich den Seeboden mit den

Füßen abtastete; die würden auch den Rhizomteppich nicht

verschonen. Sie würden das zusammenhängende göttliche

Gewebe zerfetzen. Und den Boden, den ich ganz genau ertasten

konnte, neu gliedern (…) – er war nämlich vollkommen

ungegliedert. Die Grenzlinie, die sogar noch auf dem

Wasserspiegel markiert war, spiegelte sich in der Tiefe

keineswegs. Es ist nicht ausgeschlossen, das nunmehr jene

Minen schon verrostet und zu Rhizomen geworden sind,

vielleicht sind es gerade die, aus denen die Wasserlilien

sprießen, aus den rostzerfressenen Rhizomen des ehemaligen

eisernen Vorhangs …. Vor Kälte immer heftiger schlotternd,

fragte ich, meine Blöße mit dem Strauß bedeckend: „Und dann

… worum geht es dann eigentlich?!“ (Aus: Otto Tolnai „Eine Postkarte an Don Dukay“, DAAD Spurensicherung Bd.

15. 2005, S. 81/82 Übersetzung: Gyorgy Buda)

MUSIK ausblenden

ERZÄHLER Tolnais Freund und Kollege Laszlo Vegel meint die Antwort zu

kennen. Immer gehe es um Macht. Und im Kampf um die Macht

sei die Identität die größte Manipulationsmasse. Als solche ist sie

aber nur zu gebrauchen, wenn sie sich an der Nationalität

orientiert. Gewissermaßen, meint Vegel, lebten die Autoren der

ungarischen Minderheit in Serbien immer eine Form von

Invalidität.

O-TON 24 Laszlo Vegel (ung)

SPRECHER 2 In den 60iger Jahren waren unsere Werke in Ungarn verboten.

Wir durften nicht in das Land unserer Muttersprache reisen. Als

sich dann die Situation in Ungarn zu verändern begann, wurden

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meine Werke plötzlich in Serbien verboten. Ich fühlte mich immer

als einer, der zwar zwei Beine hat, aber stets gezwungen war,

auf einem Bein herumzuhüpfen.

ERZÄHLER Für den jüngst bei Matthes und Seitz in Berlin erschienenen

Erzählband „Berlin, meine Liebe“ hat Laszlo Vegel versucht,

seine innere Befindlichkeit und die seiner Heimat in Worte zu

fassen.

MUSIK 05 DD Synthesis Titel 6 Ljubov i smrt

SPRECHER 2 Diese nächtliche Stille zu Hause sucht dich heim, während du in

Berlin in einem billigen Zimmer wach liegst, mit deinem Heimweh

kämpfst, darüber grübelnd wie viele in der sozialistischen Welt

demnächst den Narren spielen, in dem sie hochmütig kundtun,

stets alles klar gesehen, keiner Gewalt je etwas geopfert zu

haben, am allerwenigstem dem kommunistischen Dämon, emsig,

mit pilatushafter Scheinheiligkeit waschen sich die

frischgebackenen postsozialistischen Prohpeten die Hände. Die

ein Leben lang über dich Charakterstudien verfassten, deine

weltanschauliche Eignung bestimmten, trampelten nun auf ihren

seinerzeit heuchlerisch geweihten Fahnen herum, währen sie dir

triumphierend auf die Schulter klopfen und stolz wiederholen:

Alles ist zertrümmert. Aber die Trümmer trösten dich nicht, du

bist vorsichtig, der einen Truppe der Unfehlbaren folgt die

nächste, und man weiß nicht, was sie für dich bereithalten. Von

der Art ist das Heimweh, das dich bedrückt, selbst wenn es für

dein Weh keine Heimat gibt. (Aus: Laszlo Vegel „Nach Berlin…“ S. 199 in: „Berlin, meine Liebe“ –

Ungarische Autoren schreiben über Berlin“, Matthes und Seitz 2006

Übersetzung: Akus Doma)

MUSIK ausblenden

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O-TON 25 Laszlo Vegel (ung)

SPRECHER 2 Meine Heimatstadt Novi Sad, die Hauptstadt der Vojvodina ist

eine große Verliererin des 20. Jahrhunderts. 1945 wurden die

dort lebenden Deutschen vertrieben. Während des zweiten

Weltkriegs die meist ungarischen Juden. Der größte Verlust aber

war, als 1990 fast die gesamte Generation junger serbischer

Schriftsteller auswanderte. Die Vojvodina ist heute keine

mulitkulturelle Region mehr und bei den letzten Wahlen wurden

auch hier die Nationalisten der Radikalen Partei gewählt. Es gibt

dort wieder ein paar junge Autoren. Sie leiden unter der

Situation, aber keiner spricht darüber, was dieses Leiden

ausgelöst hat. Sie meinen, die Aufarbeitung der serbischen

Geschichte sei nicht ihre Aufgabe. Und so fühle ich mich in

meiner Heimatstadt sehr einsam.

ATMO 06 Bahnhof Subotica / Ansage geht über in:

ATMO 05 Zugeräusch innen geht über in:

MUSIK 04 CD Soundtrack Bevor the Rain Titel 6 In a London Cab

SPRECHERIN Was die Einsamkeit ausspuckt / klebe ich auf meine Zähne /

lache / wie hinter dem Glas einer Vitrine in die gewissenlose

Stille / …. / auf dem leuchtenden Kinn der Steine / begegne ich

einem Fischer / Guten Morgen / Guten Morgen / beugt er sich

nach vorn und zeigt mit dem Finger auf den Auswurf / der

Einsamkeit / … / ich wickle mich mit Muscheln ein und schrei / …

/ er zieht mich am Ärmel noch schneller / zerreiß ich mir die

Bluse / wir zappeln wie Fische im Schlamm der Kleider / und

quietschen wie Geldmünzen / Bist du verrückt / Bist du verrückt /

Bist du verrückt / ich grabsche nach dem Auswurf / der

Einsamkeit / ich kopiere den Tanz der Bienen und vermute unter

den Nägeln / die betrunkene Endlosigkeit (unveröffentlicht / dt. Erstübersetzuung. Marija Lukic/Mirko Schwanitz)

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MUSIK ausblenden geht über in:

ATMO 05 Zug innen

ERZÄHLER Irgendwer hatte mir das Gedicht der jungen Lyrikerin Maja Solar

in die Hand gedrückt. Ich lese es, während der Zug auf

verworfenen Schienen durch die serbische Provinz schlingert. In

Novi Sad, der Heimatstadt Laszlo Vegels, habe ich mich mit drei

jungen Autoren verabredet, die vielleicht schon in einigen Jahren

die literarische Szene ihrer Heimatstadt prägen werden.

ATMO 07 Fußgängerzone

ERZÄHLER Wir treffen uns in einem Café in der beliebten Fußgängerzone in

der Innenstadt. Neben Maja Solar ist da noch die 20jährige

Alexandra Miramarov und den an Muskeldystrophie leidenden

nur wenig älteren Sinisa Tusic.

O-TON 26 Maja Solar (serb)

SPRECHERIN Ich bin gerade mit dem Philosphiestudium fertig geworden. Doch

nun bin ich arbeitslos. Das, was mich in meine Gedichten

beschäftigt, sind die patriarchalischen Strukturen in unserer

Gesellschaft, denn alles hier ist von einem zunehmenden

Phalluszentrismus geprägt.

ERZÄHLER Die Gedichte Maja Solars sind erste zaghafte Versuche der

jungen Generation, anzuknüpfen an die engagierte

jugoslawische Frauenliteratur der 80iger Jahre. Damals schufen

Autorinnen wie Dubravka Ugresic, Slavenka Drakulic und Biljana

Jovanovic literarische Heldinnen, die sich nicht mit der ihnen

vorgegebenen Rolle in der Gesellschaft abfinden wollten. Maja

Solar und Alexandra Miramarov schreiben in einem Umfeld, in

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dem ihre Vorbilder als „kroatische Hexen“verunglimpft im Exil

leben und die Serbin Biljana Jovanovic als Heimatlose zwischen

Ljubljana und Belgrad pendelt. Heute, so meint Alexandra,

bestimmen in der Mehrheit Männer die Gesellschaft, die den

Frauen nur eine Rolle zuweisen wollen – als „Hüterin des

Herdes“ und Erzieherinnen kommender Generationen

auserwählter Völker.

O-TON 27 Alexandra Miramarov (serb)

SPRECHERIN Dieser Haltung begegnen wir überall, nicht nur in der Geschichte.

Sie bestimmt unseren Alltag. Du spürst es in der Art, wie die

Männer nach dir pfeifen, als pfiffen sie nach ihrem Vieh. Du

spürst es in der Art wie sich die Professoren an der Universität

dir gegenüber verhalten, eigentlich überall, wo ich als Frau

hinkomme. Viele Frauen werden da depressiv. Ich wehre mich

dagegen, in dem ich mich zurückziehe und versuche, mich nur

im engsten Freundeskreis zu bewegen und mich auf mich selbst

zu konzentrieren.

MUSIK 04 CD Soundtrack Bevor the Rain Titel 6 In a London Cab

SPRECHERIN Ist immer noch keine Zeit zu schreiben? / Alles bleibt in meinem

Kopf / das Gehirn eine Raffinerie / Ich kann nicht schreiben! /

schon eine Zeit lang nicht / Alles ist / irgendwie umgekehrt

melodiös und doch / auf seinem Platz /… / die Dummheit macht

mir Angst / Zeit und Raum / eine pulsierende Vagina / in der wir

versinken / wenn ich krank werde / sind auch meine Wörter krank

/ ich will mich wehren / gegen jede Erwartung / unter meinem

Stift / wird mürbe das Papier / (unveröffentlicht, dt. Erstübersetzung Marija Lukic/Mirko Schwanitz)

MUSIK ausblenden

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ERZÄHLER Die jungen Autorinnen haben ihre eigene Form gefunden, sich

gegen den Kollektivismus eines neuen Nationalismus zur Wehr

zu setzen. Und bauen dabei auf jene weiblichen Netzwerke, über

deren Funktionieren auch während des Krieges in dem Drava-

Verlag erschienenen Briefwechsel von Marusa Krese mit Biljana

Jovanovic und anderen zu lesen war.

O-TON 28 Alexandra Miramarov (serb)

SPRECHERIN Wir haben hier die sogenannte Aschenova-Schule, wo junge

Autorinnen sich mit der Schriftstellerin Dubravka Djuric treffen

und über ihr Schreiben diskutieren. Das ist eine Initiative, die

Feminismus und Poesie zu verbinden sucht.

ERZÄHLER Anders als in Belgrad entwickelt sich im Untergrund von Novi

Sad langsam wieder so etwas wie eine alternative junge

Schriftstellerszene. Der junge Dichter Sinisa Tusic ist darin trotz

oder gerade wegen seiner Muskeldystrophie eine der

markantesten Gestalten. In Belgrad oder Subotica ist er völlig

unbekannt – in Novi Sad aber sind bereits zwei Lyrikbände von

ihm erschienen. Der dritte mit dem Titel „Neue Heimaten“ liegt

noch warm von der Druckerpresse in einigen Buchhandlungen.

MUSIK 04 CD Soundtrack Bevor the Rain Titel 6 In a London Cab

SPRECHER 1 Wie schön auf dem Klo zu sitzen / die ganze Scheiße

loszuwerden / Immer in der Angst, dass mich eine Ratte am

Arsch hat / mich mit ihrem Speichel besudelt / und dann stelle ich

mir das Meer vor / da irgendwo unter mir / Ach wäre es mir

möglich hineinzuspringen / wie der Schauspieler in „trainspotting“

/ einzutauchen in die unendliche Bläue / zu spielen mit

manipulierten Delphinen / zu schwimmen zu den Inseln / dieser

stereotypen Filme / über Schiffbrüche / und Unwetter und …/

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Kannibalen / deren Kot anders stinkt als der / den Manconi einst

ausstellte / der Stammesführer hat befohlen / das man dem

Jungen / das Gehirn kocht / zwischen Millionen Websites / …

Vielleicht hat Bill Gates nicht mit ihnen gerechnet / aber ich

bewahre für mich immer noch die Annehmlichkeit / selbst aufs

Klo zu gehen / wenn unsere Zivilisation auf eine einsame Insel

geworfen wird / wird unsere Scheiße nur anders riechen / und

alle werden sich auffressen / und die / die Überleben / werden

über die Apokalypse berichten / in Form von SMS-Nachrichten /

und die manipulierten Delfine / werden ihren treuen

Wissenschaftlern eine verbogene Poetik bringen / und mit ihrem

Überleben gestalten / das post-kannibalistische Zeitalter (unveröffentlicht, dt. Erstübersetzung: Marija Lukic/Mirko Schwanitz

MUSIK ausblenden

ERZÄHLER Sinisa Tusic beschäftigt sich in seiner Lyrik vor allem mit den

Verwerfungen, die der Krieg in der serbischen Gesellschaft

hinterlassen hat und registriert zugleich, wie sich diese nun mit

den Folgen der Globalisierung vermischen und wie es gerade

der jüngeren Generation vor diesem Hintergrund immer schwerer

fällt, die Vorgänge im eigenen Land zu durchschauen.

O-TON 29 Sinisa Tusic (serb)

SPRECHER 1 Wir leben immer noch in einem Post-Konfliktzeitraum. Für mich

ist eindeutig, dass sich die Schriftsteller in unserem Land zu

wenig engagieren, dass sie keine Verantwortung übernehmen

wollen. Es sind meist die Autoren, die im Exil sind, die darüber

schreiben, dass auch wir Verantwortung übernehmen müssen

für die Kriegsverbrechen in Bosnien-Herzegowina.

ERZÄHLER Seit dem Tod von Zoran Djindjic, meint Sinisa, stehe Serbien nun

noch isolierter da als vorher. Kaum ein Jugendlicher würde ein

Visum für ein westeuropäisches Land erhalten. Und das, obwohl

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Europa doch gerade von seiner Generation einen

demokratischen Aufbau erwarte. Wenn man aber die Jugend in

dem Topf lasse, in dem nach wie vor nationalistische Köche

rührten, werde der Westen sich schon bald wieder mit

unschönen Dingen befassen müssen. Eine Einschätzung, der

Marija Knezevic nur bitter zustimmen kann. Denn es entspricht

ihren eigenen Erfahrungen mit jungen Studenten der Belgrader

Universität, in der sie vergeblich versuchte, einen Kurs für

Kreatives Schreiben zu etablieren.

O-TON 30 Marija Knezevic (serb)

SPRECHERIN Ich glaube, dass uns eine neue große Tragödie bevorzustehen

scheint – nämlich hier nicht mehr herauszukommen, nicht mehr

reisen zu können. 80 Prozent der serbischen Jugendlichen

waren noch nie in einem anderen Land. Das Wort, dass das am

besten beschreibt, ist das Wort: Perspektive. Meine Studenten

haben keine Perspektive, ihr Blick ist verengt, wie soll man da

kreatives Schreiben lehren. Natürlich kann man die Phantasie

befördern, aber die Phantasie ersetzt nicht die eigene Erfahrung.

Und ich beobachte schon jetzt, welche Auswirkungen das auf

unsere Literatur hat. Bei den meisten beobachte ich so etwas wie

eine hölzerne Sprache. So wird eine Sprache, wenn Erfahrungen

nur noch aus zweiter oder dritter Hand stammen. Doch eigentlich

geht es um Gefühle. Wenn sie an einem Meer stehen, dann

weitet sich der Blick. Aber was ist, wenn sie in einem Keller

sitzen? Das ist die Situation junger Autoren in Serbien.

MUSIK CD DD Synthesis Titel 6 Ljubov i smrt

Sprecherin Der Zimmerstaub kam in meinen Mund, siedelte sich auf meiner

Zunge an, lagerte sich in meinem Körper ab, vom Zeitmessen

ungestört, unmerklich und gleichgültig. … Die Mundhöhle mit

dem feinen Rahmen aus Zahnknochen wurde dadurch noch ein

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dekoratives Element im Zimmer, das nur ein erfahrener

Beobachter von den Kolonien der Vasen und Tassen

unterscheiden kann – also von verschiedenen

Erinnerungsstücken, die auf den Regalen verteilt sind und kraft

des unaufhebbaren Gesetzes der Sentimentalität untereinander

gleichgestellt wurden – also mit brüchigen Zeugnissen immer

ungewisser erscheinenden Reisen, die in die Vergangenheit

ausgewandet sind. Die Vollkommenheit der taubstummen Szene

wird nur noch vom Krächzen des Fußbodens gestört. … Diese

abgenutzten Brettchen … erinnern an ein Musikinstrument,

dessen Klänge in dieser tadellosen Stille ganz klar

wahrzunehmen sind. Und die schwache Erinnerung an das

Knirschen von Kies unter den Schuhen … , welches genügt, um

die Unübersichtlichkeit des Weges zu ersetzen, der in der Ferne

eingemeißelt ist, hat bewirkt, dass das beeinträchtigte Mosaik

des Zimmerparketts jetzt meine neue und einzige Straße wird. (Aus: Marija Knezevic „Das Buch vom Fehlen“ Wieser Verlag 2004 S. 75/77

Übersetzung: Goran Novakovic)

MUSIK auf und ausblenden

ENDE