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Mit diesem Band kommt unsere Tetralogie zu ihrem Ende. NachTieren, Pflanzen und Steinen nimmt das vorliegende Machinariumabschließend in den Blick, was sich nur scheinbar leicht dem Bereichgemachter Dinge zuschlagen und von der Natur und ihren Reichenauch nur scheinbar leicht unterscheiden läßt. Das mag vor dem Hin-tergrund eingespielter Ordnungssysteme irritieren, entspricht aberder Programmatik dieses Projekts. Schließlich waren es keine Seins-geschichten, sondern Figuren des Wissens, die den Blick auf Tiere,Pflanzen, Steine und jetzt auf Artefakte gelenkt haben. Neben alldem, was man mit den Maschinen und mit der Textsorte eines Ma-chinariums assoziiert, sind damit zugleich Kniffe, Listen und jeneWinkelzüge und Machinationen des Wissens bezeichnet, denen auchdie Vorläuferbände nachstellten. Von Werkzeugen wie dem Univer-salschraubenschlüssel, einem zentralen Akteur des Ökoterrorismus,über die als Erzählmaschine fungierende Zeitmaschine bis hin zuExperimentalräumen wie dem Treibhaus oder dem Staat gehen dieArtikel dieses Buches der Dynamik von Wissensordnungen nach.Die Einträge zeigen, wie Wissen entsteht, welche Sperrigkeiten undWiderspenstigkeiten dabei im Spiel sind, wie mögliche Ordnungenausgehandelt werden, welche Formen der Darstellung und Bericht-erstattung dieses Wissen anzunehmen vermag, wie es zum Zirkulie-ren gebracht, wie es unterdrückt oder gehandhabt wird.

Benjamin Bühler ist Germanist und Kulturwissenschaftler. Derzeitist er als Heisenberg-Stipendiat am Zentrum für Literatur- undKulturforschung in Berlin tätig.

Stefan Rieger ist Professor am Institut für Medienwissenschaft ander Ruhr-Universität Bochum. Zuletzt erschien im Suhrkamp Ver-lag Multitasking. Zur Ökonomie der Spaltung (eu 46).

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Benjamin BühlerStefan Rieger

Kultur

Ein Machinarium des Wissens

Suhrkamp

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Dieses Buch wurde gefördert mit Mitteln des im Rahmender Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder eingerichteten

Exzellenzclusters »Kulturelle Grundlagen von Integration«der Universität Konstanz.

Erste Auflage 2014edition suhrkamp 2650

© Suhrkamp Verlag Berlin 2014Originalausgabe

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere dasder Übersetzung, des öffentlichen Vortrags

sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen,auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet,

vervielfältigt oder verbreitet werden.Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn

Druck: Druckhaus Nomos, SinzheimUmschlag gestaltet nach einem Konzept

von Willy Fleckhaus: Rolf StaudtPrinted in Germany

ISBN 978-3-518-12650-9

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Inhalt

Einleitung 7

Dramatis machinae** Auto 19** Bioreaktor 31** Draht 46** Hand 60** Insbot 80** Laufrad 93** Machinarium 104** Monkey wrench 118** Muskete 130** Neurophon 149** Papier 162** Photovoltaik 179** Probekörper 193** See 206** Staat 219** Treibhaus 232** Zeitmaschine 247

Literaturverzeichnis 260Abbildungsverzeichnis 286

Register der Maschinen und Dinge,die dem Netz der alphabetischenGesamtanordnung und seinerQuerverweise entgingen 292

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Einleitung

Nicht die Dinge selbst beunruhigen den Menschen, son-dern die Meinungen über die Dinge.

Epiktet nach Heubach 1987, Motto

Die äußersten Situationen der Homöotechnik sind Ernst-fälle der Ko-Intelligenz.

Sloterdijk 2001, 72

Wissen am Rande des Menschen

Die drei Reiche der Natur

Ich trink’, und trinkend fällt mir bei,Warum Naturreich dreifach sey.Die Thier’ und Menschen trinken, lieben,Ein jegliches nach seinen Trieben:Delphin und Adler, Floh und HundEmpfindet Lieb’ und netzt den Mund.Was also trinkt und lieben kann,Wird in das erste Reich gethan.

Die Pflanze macht das zweite Reich,Dem ersten nicht an Güte gleich:Sie liebet nicht, doch kann sie trinken;Wenn Wolken träufelnd niedersinken;So trinkt die Zeder und der Klee,Der Weinstock und die Aloe.Drum, was nicht liebt, doch trinken kann,Wird in das zweite Reich gethan.

Das Steinreich macht das dritte Reich;Und hier sind Sand und Demant gleich:Kein Stein fühlt Durst und zarte Triebe,Er wächset ohne Trunk und Liebe.Drum, was nicht liebt noch trinken kann,Wird in das letzte Reich gethan.Denn ohne Lieb’ und ohne Wein,Sprich, Mensch, was bleibst du noch? – – Ein Stein.(Lessing 1841 [1751], 18)

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Nach den drei Reichen der Natur, den Tieren, den Pflanzen undden Mineralien, sowie ihren angestammten Textsorten, dem Be-stiarium, dem Florilegium und dem Lapidarium, soll das Seins-reich künstlicher Artefakte nun im Zentrum des vierten, letztenBandes dieser Reihe stehen, eines Machinariums. Dieses Ende istnicht zwangsläufig, ließe sich, im Anschluß an Jorge Luis Borges,das ganze Unternehmen doch noch um eine Sammlung von Ge-dankendingen erweitern. Ein solches Imaginarium des Wissensist durchaus denkbar, geplant ist es derzeit nicht.

Die Kultur im Namen der Maschine und in der Textsorte ei-nes Machinariums zu verhandeln, greift auf eine Tradition desTheatrum Machinarium zurück, in dem Hebevorrichtungen,Wasserpumpen oder mechanische Vorrichtungen für welche Be-lange auch immer versammelt waren (oMachinarium). Dochdas Machinarium erschöpft sich nicht in der Versammlung sol-cher Vorrichtungen. Der österreichische Literat und Kyberneti-ker Oswald Wiener, der anläßlich eines Buches über die Theorieder Turing-Maschinen in die Wortgeschichte eintaucht, fördertnoch einen weiteren Aspekt zutage, der auch diesem Machinari-um zugrunde liegt:

Es wird nicht schaden, wenn wir zunächst die Wortgeschichte zu Rate zie-hen. »Maschine« leitet sich von dem lateinischen Ausdruck »machina« ab,altgriechisch maxana, mhxangh, was »Vorrichtung«, »Gerüst« bedeutet,»List«, auch »Werkzeug zum Bösen«. Zugrunde liegt das altgriechischemhxow, »Möglichkeit«, »Mittel«, »Behelf«, »Erfindung«, »Findigkeit«, »Plan«,»Kunstgriff«, »Kniff«; übrigens hängt das deutsche Wort »Macht« damitzusammen. (Wiener et al. 1998, 1)

Neben all dem, was die Maschinen an die Semantik des Hei-deggerschen Gestells verweist, bezeichnen Maschinen zugleichKniffe, Listen und damit jene Winkelzüge des Wissens, denenhier im letzten Band unter dem Oberbegriff Kultur nachgegan-gen wird (vgl. dazu Luhmann 1995 [1989]). Damit kommt dievorläufige Heuristik zu ihrem Ende – und das auf eine Weise,in der die vermeintlich künstlichen Dinge ähnlich behandelt wer-den wie die vermeintlich natürlichen in den drei Reichen derTiere, Pflanzen und Steine. Das mag vor dem Hintergrund einge-spielter Ordnungsmechanismen zunächst irritieren, ist aber aus

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unterschiedlichen Gründen möglich, vielleicht sogar notwendig.Schließlich waren es keine Seinsgeschichten, sondern Figurendes Wissens, die den Blick auf bestimmte Tiere, Pflanzen undSteine gelenkt haben. Jene Winkelzüge des Wissens, die nachWieners etymologischen Überlegungen die Welt der Maschineprägen, waren auch hier in den Figuren und Figurationen desWissens allgegenwärtig – so kann etwa selbst die Frage nachden Weltmeeren entsprechend gestellt werden: »The world ocean:Mechanism or machination?« (Whitfield 1981) Als solche hat-ten diese Wissensfiguren weniger mit den natürlichen Seinsord-nungen, mit der Verortung in der Naturgeschichte oder den Be-mühungen um die Taxonomie zu tun, als vielmehr damit, wieWissen entsteht, wie mögliche Ordnungen überhaupt erst aus-gehandelt werden, welche Formen der Darstellung und Bericht-erstattung dieses Wissen anzunehmen vermag, wie es zum Zir-kulieren gebracht, wie es unterdrückt, manifest oder in welcherForm auch immer gehandhabt wird. Grundsätzlicher gespro-chen geht es darum, wie sich anhand dieser Figuren Wissensord-nungen ausdifferenzieren und zu ihrer jeweiligen Gestalt gelan-gen.

Erst in diesen Prozessen formieren sich Phänomene als Dinge,treten aus einer beliebigen oder diffusen Gegenständlichkeit her-aus und schließen sich zu einem Gegenstand, formieren sie sichzu Objekten von Belang und Bedeutung. Dabei ist es zweitran-gig, ob dieser Objektstatus nachhaltig ist oder ob er nur für einekurze Dauer währt, ob er kanonische Weihen erfährt oder nureine Episode in der Ordnung der Dinge gewesen sein wird. ZumMoment der List gehört das Moment der Überraschung – weildieses uns geleitet hat, wäre der Versuch einer Systematik ver-fehlt. Umgekehrt leistet die Überraschung jener KontingenzVorschub, die für die Auswahl der hier stellvertretend versam-melten Wissensfiguren ausschlaggebend war. Eine Psychologieder alltäglichen Dinge, wie sie in Sparten und in Ansätzen der So-zialwissenschaften von sich redenmacht,um dort von der Domi-nanz eines schier allmächtigen Subjektivismus abzurücken, istum eine Wissenschaft wissenschaftlicher Figuren und Objektezu ergänzen. Deren besondere Pointe besteht darin, daß anden Grenzen der Objekte diese genausowenig enden wie die Sub-

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jekte an den ihren. Dieser Blick kann legitimerweise auch aufeine bestimmte Sorte von maschinenhaft erzeugten Gegenstän-den oder eben auf die Maschinen selbst gelenkt werden. Die Aus-wahl der Gegenstände für dieses Machinarium hat den struktu-rellen Vorgaben dessen zu folgen, was Tiere, Pflanzen und Steinein der Freisetzung und Konturierung von Wissen zu leisten ver-mochten. Virulent werden damit Unterscheidungen wie die zwi-schen Leben und Nicht-Leben, zwischen organisch und nichtor-ganisch, zwischen einfach und komplex, zwischen Natur undKultur, zwischen einem Mehr oder Weniger an affektiver Beset-zung, die wir gegenüber den Dingen an den Tag legen. TechnischeDinge sind aber nicht nur einfach in der Welt, sondern sie betref-fen auch die Seinsweisen der anderen mitvorhandenen Arten unddamit auch die des Menschen. Für eine stärkere Aufmerksam-keit gegenüber den Dingen gibt es also unterschiedliche Anlässe:Diese reichen von den Ontologien der Philosophie bis hin zutheoretischen Veranstaltungen wie der Actor Network TheoryBruno Latours, deren Neubewertung nichtmenschlicher Agen-ten zur Forderung nach deren Vertretung in einem Parlamentder Dinge führt (Latour 2001). Damit einher geht ein Katalogan Fragen, die den Agentenstatus von Menschenaffen im Verhält-nis zu elektronischen Geräten ebenso betreffen wie den Rechts-status von Dingen überhaupt (vgl. Teubner 2006; Vismann 2011;o Bioreaktor).

Für diese Situation gibt es sowohl gegenwärtige als auch histo-rische Indikatoren mit unterschiedlichen Reichweiten und sogarmit eigenen Systematiken. Bemerkbar machen diese sich in derFavorisierung von Zwischeninstanzen. So findet im Fall desDingbegriffs die Öffnung seiner Semantik statt, als deren Einlö-sung sich eine Kleine Galerie neuer Dingbegriffe abzeichnet, dieHybride, Quasi-Objekte, Grenzobjekte oder epistemische Din-ge umfaßt (vgl. dazu Roßler 2008; Bäumler et al. 2011). Um denDichotomien und Zweiwertigkeiten zu entgehen, soll die Figurdes Dritten nicht weniger als ein kulturwissenschaftliches Para-digma eröffnen (vgl. Spreen 2010). Im Gestus großer Systematikkann Peter Sloterdijk somit den Stab über die bisherigen Denk-werkzeuge brechen:

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Das Festhalten an den klassischen Begriffseinteilungen führt in die ab-solute Unfähigkeit, »kulturelle Phänomene« wie Werkzeuge, Zeichen,Kunstwerke, Maschinen, Gesetze, Bücher und alle anderen Artifizien on-tologisch angemessen zu beschreiben, weil bei Gebilden dieses Typs diehochkulturelle Grundeinteilung von Seele und Ding, Geist und Materie,Subjekt und Objekt, Freiheit und Mechanismus danebengreifen muß: AlleKulturobjekte sind ja ihrer Konstitution nach Zwitter mit einer geistigenund einer materiellen »Komponente«, und jeder Versuch, zu sagen, wassie im Rahmen einer zweiwertigen Logik und einwertigen Ontologie »ei-gentlich« seien, führt unweigerlich in aussichtslose Reduktionen und de-struktive Verkürzungen. (Sloterdijk 2001, 63)

Und natürlich gibt es für dieses Unbehagen an der denkerischenErschließung von Kultur Vorläufer. Kaum jemand vermochtedie neue Ordnung der Dinge in ihrer Konsequenz für das Seindes Menschen so präzise zu fassen wie Max Bense, kaum jemalssind dabei die technikphilosophischen Implikationen so vehe-ment und zum Programm verdichtet worden wie in den Essays»Technische Existenz« oder »Der geistige Mensch und die Tech-nik« (Bense 1998b [1949] und 1997 [1946]). Mit seinen Ge-währsleuten aus Informationstheorie und philosophischer An-thropologie zielt Bense in die Zukunft eines Forschungs- undAussageverbundes, von dem er sich eine adäquate Erfassungder Lage in der Moderne erhofft. Seine These, daß man sichdem technischen Sein nicht entziehen kann, ist eine der – voneinigen Protagonisten der Neuen Sachlichkeit wie Walter Benja-min oder Siegfried Kracauer bereits vorweggenommenen – Poin-ten von Benses Ansatz. Aber auch die Haltung, daß dieses neueZusammensein mit den Dingen nicht nur kulturkritisch ver-brämt, bedauert und betrauert zu werden hat, sondern daß ge-rade daraus spezifisch neue Handlungs- und Erfahrungsspiel-räume erwachsen, ist etwas, das den Geisteswissenschaften zusehen und zu denken oft schwerfällt.

Technik und Anthropologie sind durch denselben Strang ver-bunden, sie ziehen am selben Strick, der nicht mehr kulturpessi-mistisch als Gängelband der Dinge (und nicht zuletzt der Me-dien) veranschlagt wird. Die Formel, unter die Bense das neueSelbstverständnis faßt, ist die vom Technik-Sein und nicht mehrdie vom Technik-Haben (oAuto). Diese Unterscheidung mün-

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det in die Forderung nach einer technischen Intelligenz, die derdoppelten Verpflichtung des Menschen gerecht zu werden sucht,und gerät ihm zum Appell, die Technik eben auch geistig in denHänden zu halten und sie nicht auf die bloße Handhabung vonWerkzeugen und Gerätschaften zu reduzieren, die im Zuge vonErweiterungstheorien den Sachstand der Medientheorien vonAutoren wie Ernst Kapp bis Marshall McLuhan und damit fastein ganzes Jahrhundert nachhaltig bestimmt hat (vgl. dazu Kapp1978 [1877]; McLuhan 1968 [1964]; zur Position nach McLuhanRieger 2008b; o Hand). Denn nur wer die Technik geistig be-herrscht, so lautet sein Credo, ist der Moderne gewachsen. In derProgrammschrift »Kybernetik oder die Metatechnik einer Ma-schine« aus dem Jahr 1951, die der für Martin Heidegger so be-deutsamen Regelungstechnik seinsmäßig auf die Sprünge helfenund einer philosophischen Anthropologie den Weg in die Zu-kunft weisen will, umreißt Bense den Status quo:

Durch die Technik schafft sich der Mensch eine Umwelt, die seiner Dop-pelrolle als naturhaftes und geistiges Wesen angemessen ist. Die technischeWelt ist eine Umwelt, eine seinsmäßige Sphäre, aus der das, was wir tech-nische Existenz und technische Intelligenz nennen, wenigstens im Idealfalllückenlos expliziert werden kann. Innerhalb der naturhaften Welt ist derMensch, wie es formuliert wurde, das höhere, aber zugleich schwächereWesen; innerhalb der technischen Welt ist er durchaus das stärkere Ge-schöpf. Es ist nicht gesagt, daß die technische Welt der bisher einzige Ver-such einer Selbsteinrichtung des Menschen innerhalb der Natur sei, aber esscheint sich hier um den planmäßigsten und vielleicht erfolgreichsten derbisher möglichen Versuche dieser Art, durch die ein evidentes Mißverhält-nis kompensiert werden soll, zu handeln. Manuelle, physische Vorgänge ha-ben im gleichen Sinne eine technische Möglichkeit wie intelligible, psychi-sche Vorgänge. (Bense 1998c [1951], 446)

Daß das Verhältnis des Menschen zur Technik mehr ist, als einebloße Frage des Verhaltens ihr gegenüber, das ist der Punkt, denauch Heidegger gesehen und benannt hat. Vor hier aus ergehenForderungen, ihre begründende Funktion nicht im Ressenti-ment zu verspielen und sie nicht einer (Seins-)Vergessenheit an-heimfallen zu lassen. Es sind solche und ähnliche Appelle, die indie Zukunft einer neuen philosophischen Anthropologie weisensollten. Sie wird in diesem Zuge eine Gestalt annehmen, auf die

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hin sie Philosophen wie Martin Heidegger, Max Scheler, ArnoldGehlen und Helmuth Plessner entworfen haben. Damit ist so-wohl die Scheu als auch die Geringschätzung gegenüber denDingen einem neuen Selbstverständnis gewichen. Nur über eineneue Fassung dessen, was sich in einer technischen Welt als Din-ge oder Gegenstände, als Medien oder Gerätschaften, als Arte-fakte oder Hybride ausdifferenziert, wird die Bestimmung desMenschen im Zusammenspiel mit dem,was ihn umgibt, möglich.Diese Lage gewinnt dadurch zusätzlich Brisanz, daß gerade dietechnischen Dinge zunehmend ihre Sichtbarkeit und ihre Unter-scheidbarkeit verlieren. Damit verändern sich die Verhältnissezwischen Mensch und Medium auf eine Weise, die der amerika-nische Computerpionier Mark Weiser für den Fall des ubiquitouscomputing und für die zunehmende Nicht-mehr-Wahrnehm-barkeit der Rechen- und Steuereinheiten unter dem Stichwortseaminglessness diskutiert (vgl. Weiser 1991). Ähnliches gilt fürden Status der Tiere, die mittels RFID-Technologie überwachtund (verbraucherseitig erwünscht) rückverfolgt werden können.Diese Möglichkeiten führen wiederum zu Folgefragen, die denStatus solcher Tier/Technik-Kopplungen betreffen (vgl. Bolin-ski 2011). Das Eindringen bestimmter Techniken ist dabei keinSelbstläufer, sondern es reagiert, wie die Diskussionen um dasAmbient Assisted Living zeigen, auf gesellschaftliche Verhält-nisse. Der demoskopische Wandel führt so zu einem technischenSmart-Werden von Wohnungen, das mittels eines hohen Auf-wandes an Datentechnik gewährleisten soll, daß Menschen mög-lichst lange in ihren gewohnten Umgebungen leben können –dank einer Autonomie der Technik, die sie umgibt (vgl. zu denMöglichkeiten stellvertretend Augusto et al. 2012).

Doch die Dinge umgeben den Menschen nicht nur. Gerade mitBlick auf das Virtualitätspotential digitaler Medien wird schnelldeutlich, wie sehr dort Umwelten sui generis entstehen. Dortmachen künstliche Umwelten von sich reden, die aus welchenGründen und in welchen Verschränkungen von realer, virtuelleroder augmentierter Realität auch immer den Menschen teilweiseselbst oder in Formen der Stellvertretung in Handlungsszena-rien verstricken, die bis zur Frage danach führen, ob es sich dabeium neue Sozialordnungen und Kollaborationsszenarien handelt

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(o Insbot): Ob diese der Immersion in fremde Spielwelten die-nen oder darauf angelegt sind, ressourcenschonend mittels Im-mersive Engineering virtuelle Prototypen in eigens gestaltetenUmwelten nicht nur auf ihre künftige Materialbeschaffenheit,sondern auf die Interaktion mit Menschen hin zu testen, bleibtdabei zweitrangig (o Probekörper). Damit gerät als Ziel-punkt ins Visier, was sich bereits bei Tieren, Pflanzen und Stei-nen als Wissensfiguren zeigte: Wissensbestände, die jenseits desMenschen erhoben werden und zugleich immer auf ihn rückbe-zogen bleiben, Wissensbestände am Rande des Menschen, diezugleich auf sein vermeintliches Zentrum zielen. Wenn es dieserTetralogie gelungen sein sollte, damit ein Stück weit der von Fou-cault so sehr beschworenen Gefahr, daß alles Wissen droht,schleichend anthropologisiert zu werden, entgangen zu sein, wä-re ihr Ziel schon erreicht:

Sicher riskieren weder die deduktiven noch die empirischen Wissenschaf-ten, noch das philosophische Denken, wenn sie in ihren eigenen Dimensio-nen verbleiben, den »Übergang« zu den Humanwissenschaften oder dieÜbernahme ihrer Unreinheit. Man weiß aber, welche Schwierigkeitenmanchmal die Herstellung der Zwischenreiche bereitete, die die drei Di-mensionen des erkenntnistheoretischen Raumes miteinander verbinden.Die geringste Abweichung im Verhältnis zu diesen strengen Ebenen läßtdas Denken in das von den Humanwissenschaften besetzte Gebiet stürzen.Daher rührt die Gefahr des »Psychologismus«, des »Soziologismus« – des-sen, was man mit einem Wort als »Anthropologismus« bezeichnen könn-te –, die sofort bedrohlich wird, sobald man die Beziehungen des Denkensund der Formalisierung nicht korrekt reflektiert oder sobald man die Seins-weisen des Lebens, der Arbeit und der Sprache nicht wie notwendig ge-braucht. Die »Anthropologisierung« ist heutzutage die große innere Ge-fahr der Wissenschaften. (Foucault 1990 [1966], 419)

Verwirrspiel der (Zahl der) Naturen

Die Gefahr der Unreinheit und die Gefahr, durch scheinbarselbstverständliche und scheinbar selbstverständlich stabile Ord-nungszusammenhänge taxonomisch gehegt, aber in seiner Funk-tion als Wissensfigur ausgebremst und damit um das dynami-sche Potential einer solchen gebracht zu werden, war bereits

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im Bestiarium angelegt: Dort spielten neben vermeintlich natür-lichen Tieren wie Hunden, Barschen oder Bären (in zum Teilausgesprochen wenig natürlichen Zusammenhängen) eben auchMickymäuse, eine Modellflugvorrichtung namens Ornithopterund gar eine eigens von Loriot getürkte Steinlaus ihre Rollen.Das systematische Argument von den Vorgaben der Natur, vondenen der Mensch nur zu lernen brauche, um etwa eine effizienteArchitektur im Anschluß an Pflanzen oder um eine Ökonomieder Bewegung im Anschluß an Tiere zu gewährleisten, war esdenn auch, das die Rede vom Übertier und der Überpflanze zurFolge haben konnte (vgl. zum uneigentlichen Gebrauch des letz-teren Begriffs Das Wuchern der Pflanzen. Ein Florilegium desWissens). Doch das Über ist mehr und zugleich ein anderes, alsdie Zahlenspiele und Vergleichswettstreite, die Aemulationenum die jeweiligen Leistungen einzelner Vertreter der unterschied-lichen Naturreiche und ihre Vergleichbarkeit im Zeichen derÜberbietung, der Steigerung und des Auf-die-Plätze-Verwei-sens nahelegen (vgl. dazu Vom Übertier. Ein Bestiarium des Wis-sens, den ersten Band der Tetralogie).

Was etwa hinter der langjährigen Beschäftigung mit dem Flie-gen steckt, ist das systematische Interesse nach dem epistemi-schen Ort sowie der Funktion von Modellen in der und fürdie Ordnung der Dinge. Dabei wird noch etwas anderes ge-stärkt – jenes Argument, das im Umfeld der Kybernetik bei Ju-lian Bigelow, Norbert Wiener und anderen benutzt wird, um beiPaul Virilio dann als Eindämmung der Unterschiede von Men-schen, Tieren, Pflanzen und Maschinen anzukommen. Was mitdem Modell zur Disposition steht, betrifft also nicht nur die Er-kenntnistheorie tierischer (oder anderer) Verhaltens-, Organisa-tions- und Bewegungsweisen, sondern die Ontologie von Seins-arten schlechthin. Es ist die Frage nach dem Verhalten, die eineklassische Zuordnung von Gegenständen verschiebt, die dieGrenzen flüssig und überflüssig werden läßt. So hält der franzö-sische Philosoph Virilio in einem Text mit dem Titel »Die Kunstdes Motors« fest, was man als neuen Differenzierungstyp be-schreiben kann. Die Ausrichtung am Verhalten macht gattungs-mäßige Einteilungen im positiven Sinn prekär, weil sie Vergleicheund Bezugsmöglichkeiten über deren Grenzen hinaus eröffnet:

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Indem diese neue Methode dem Blick auf das Verhalten der Objekte abso-lute Priorität einräumte – unabhängig von der physikalischen Beschaffen-heit der Elemente, aus denen sie bestanden –, ermöglichte sie den Vergleichzwischen jedem beliebigen »Objekt«, und insbesondere den zwischenMensch und Maschine. Die klassische Unterscheidung der Wesen entspre-chend ihrer Zugehörigkeit zur mineralischen, pflanzlichen, tierischen odermenschlichen Gattung wurde auf diese Weise abgelöst von einer Gegen-überstellung, für die die Materie unerheblich war, die sich aber mit demVergleich der Komplexität des Verhaltens befaßte. (Virilio 1997, 152)

Die Ausrichtung am Verhalten ist universal und so angelegt, daßideologische Stellungnahmen sie verfehlen. Wo diese hintereinem vermeintlich ontologischen Argument die Nivellierungder Sonderstellung des Menschen argwöhnen (und diese entspre-chend kritisieren), eröffnet sich für deren Befürworter ein neuesReich der Bezugnahmen, von Netzwerken und ihren unter-schiedlichen Akteuren. Und es sind beileibe nicht nur Einzelvo-ten wie bei Virilio. Auch Denkveranstaltungen wie die Einheits-wissenschaft eines Otto Neurath stehen ganz in ihrem Bann, wiees Neurath unter dem Titel »Soziologie im Physikalismus« alsProgramm formuliert: »Die Einheitswissenschaft macht ebensoVoraussagen über das Verhalten von Maschinen, wie über das vonTieren; über das von Steinen, wie über das von Pflanzen.« (Neu-rath 1931, 405) In einer technischen Welt – und das gilt nicht nurfür die sogenannte Moderne – hat es natürliche Dinge nie gege-ben, genauer noch, es wird sie nie gegeben haben können. Siewaren immer schon Effekt kultureller Vorgaben, Effekt vonWünschen und Begierden, von Hoffnungen und Träumen, vonModellen und Simulationen, von Blaupausen und Prototypen,von dem vorgängigen Bedürfnis nach Eigenschaften, die nacheinem Befund Bruno Latours erst imnachhinein ihre Dingträgersuchen und finden (vgl. Latour 2000).

Für solche Überlegungen und Beobachtungen gibt es Aussa-georte, die den Verdacht einer kulturwissenschaftlichen Anne-xion von allem und jedem einigermaßen im Zaum zu halten ver-mögen. Der Hang zur Relativierung und die gern betriebeneRückführung von Sachen auf die Ebene von bloßen Redeeffek-ten ist dort besonders greifbar, wo die Sachen einer Ordnung un-terzogen werden sollen. Taxonomien sind solche Orte, und was

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sie erteilen, sind Lehrstunden darüber, was an Natürlichkeitwünschenswert und was an Künstlichkeit machbar ist. Goethehat es verdichtet, wenn er das Bestreben nach einem natürlichenSystem der Ordnung der Dinge als Unding,weil als Ding der Un-möglichkeit bezeichnet: »Natürlich System, ein widersprechen-der Ausdruck« (Goethe 1982 [1823], 35; vgl. dazu Rieger 2008b;o Rosa). Und die Praxis auch gegenwärtiger Einordnungsbe-mühungen spricht eine klare Sprache darüber, daß dieser Prozeßnicht aufhören wird, aufzuhören – der Schriftsteller Robert Mu-sil sieht darin gar ein Menetekel der Moderne selbst: »Wir habenin diesen hundert Jahren uns und die Natur und alles sehr vielbesser kennen gelernt, aber der Erfolg ist sozusagen, daß man al-les, was man an Ordnung im einzelnen gewinnt, am Ganzen wie-der verliert, so daß wir immer mehr Ordnungen und immer we-niger Ordnung haben.« (Musil 1981 [1930], 379)

Weil nicht die Seinsbestimmungen, sondern die Umgangswei-senund Aushandlungen vielfältiger Art das Sein bestimmen,weilaber zu diesen Umgangsweisen neben vielen Aspekten inner-weltlichen Hantierens auch jener der Verwissenschaftlichung,der Schließung zum epistemischen Ding seine Rolle spielt, wirddie Beschäftigung mit diesen Dingen zu einer Angelegenheit vonBrisanz. Zwei Aspekte sind dabei besonders hervorzuheben:Die Machinationen des Wissens betreffen nicht nur Phänomenejenseits des Menschen, sondern sie betreffen ihn längst selbst.Die vielfältigen Potentiale der Selbstveränderung, zu denen Trans-genetik, Bioinformatik, Nanotechnik oder Neuroprothetik An-laß gegeben haben, sind Teil dessen, was unter anderen Denkbe-dingungen einmal seine Natur hat heißen können. Wie prekärder Artenbegriff unter den Auspizien von Postbiologie und Trans-humanismus wurde, hat Ursula K. Heise in ihrem Buch Nachder Natur. Das Artensterben und die moderne Kultur skizziert(Heise 2010). Virtuos spielt sie dabei Denkoptionen durch, dieneben allen nur möglichen Sorgfalten in bezug auf andere Artenauch dem Menschen als einer Art gelten. Damit wirft sie unauf-geregt einen Blick auf das Durch- und Miteinander der Artenund das, was als Hybridisierung allerorten von sich reden macht.Was auf diese Weise sichtbar wird, sind Fallstricke, in die sich ge-sellschaftspolitische Diskussionen verheddern: etwa die Frage,

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warum denn ausschließlich dem Menschen, wenn er denn eineArt unter anderen Arten ist, die Aufgabe zugemutet wird, sichum einen nachhaltigen Umgang mit seinem Habitat zu küm-mern, während andere Lebewesen von einem solchen Ansinnenverschont bleiben.

Im Anthropozän, also in einer Epoche, die durch die Be-stimmbarkeit der Erde (und des Menschen) durch den Menschenbestimmt ist (o Erde), lauten die Fragen anders: Gefragt wirdnicht nach der besonderen Stellung des Menschen im Kosmos,wie es noch in den Gründungsschriften der philosophischen An-thropologie hieß, dafür aber etwa nach der technischen Gestaltder Umwelt, nach dem Zusammenleben mit anderen Arten, aberauch nach einer kosmopolitischen Umgestaltung des Artbegriffsselbst und damit nach Reflexionsformen, wie sie unter demBegriff speciesism verhandelt werden (vgl. Heise 2010, 164). Viel-leicht könnte es eine der Lektionen post- und transhumanisti-scher Theoriebildung sein, daß neben den anderen Seinsarten –den Tieren, Pflanzen und Maschinen – ein Welt- oder Umwelt-begriff etabliert wird, der auch virtuellen Gegenständen Raumläßt und der das Sein des Menschen in solchen Umgebungen be-denkt.

Das Gesamtprojekt dieser Tetralogie nahm im Jahr 2006 vonFrankfurt am Main aus Fahrt auf. Daß es jetzt endlich im publi-zistischen Hafen Berlin vor Anker gehen und damit zu einemAbschluß finden konnte, verdankt es vor allem der geduldigenund sachkundigen Zusammenarbeit mit dem Verlag. AlexanderRoesler, der den ersten Band betreute, und Heinrich Geiselber-ger, der uns bei den drei folgenden Bänden mit aller Kraft unter-stützte, sei an dieser Stelle sehr herzlich gedankt.

Benjamin Bühler, Stefan Rieger

18 Einleitung

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Auto

Die Ehen werden im Himmel geschlossen, im Auto gehensie auseinander.

Luhmann 1990 [1982], 42

Autofahren ist so etwas wie eine Geisteswissenschaft.Man muß fortwährend fremde Texte übersetzen, fremdeWelten, Stile, Manieren und Marotten antizipieren. Denndas heißt es ja: mit den Fehlern der anderen kalkulieren.Darin kulminiert der Adel automobiler Intelligenz.

Habermas 1954, o. Pag.

Im Laufe der Zeit immer stärker wurde das fundamen-tale Gefühl, nicht mehr Herr meiner Bewegungen zusein. Ich kam mir vor wie ein ausgeleiertes Auto, beidem meine Steuerungsbefehle nur sehr unpräzise underst nach langen Sekunden ankommen.

Dubiel 2006, 19

Mit der unscheinbaren Wahl eines Verbs verändert der Philo-soph und Semiotiker Max Bense (1910-1990) die Beschreibungder Technik grundlegend: Der Übergang vom Technik-Habenzum Technik-Sein, wie ihn Bense in zahllosen Schriften nach-zeichnet, dient als Bezugspunkt für ein verändertes Denken,das von der Kulturkritik älterer Prägung unerreicht bleibt (vgl.dazu stellvertretend Bense 1998a [1970]). Dabei ist das Techni-sche nicht mehr auf den instrumentellen Umgang mit Werkzeu-gen und Gegenständen reduziert, sondern es bestimmt in derModerne nicht weniger als die Seinsverhältnisse selbst. Das ge-schieht an Stellen, die allgegenwärtig, aber gerade deswegen häu-fig kaum wahrnehmbar sind – wie Bense ausgerechnet am Bei-spiel des Autofahrens veranschaulicht. Für Bense ist das Auto,um die Pointe gleich vorwegzunehmen, mehr ein Vehikel desSeins denn ein solches schnöder Fortbewegung. Dieser Gedankeist gewöhnungsbedürftig, fügt er sich doch wenig in die Gepflo-genheiten ein, im Rahmen derer das Auto sonst Gegenstand viel-

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fältiger und inzwischen sogar kunsthistorischer wie philosophi-scher Betrachtungen hat werden können (vgl. dazu Berns 1996;Schefer 2008; Weibel 2011). War es zu Beginn des 20. Jahrhun-derts die durch das Fließband durchrationalisierte Autoproduk-tion des amerikanischen Fordismus, die Charlie Chaplin in Mo-dern Times (USA 1936) mit all ihren entfremdenden Unbildenvor Augen stellte, so war es im Jahr 2010 die Krise der Ökono-mie, die ihm reichlich Aufmerksamkeit bescherte. Das Kalkülvon Arbeitsplätzen in der globalisierten Weltwirtschaft unddie Labilität internationaler Finanzmärkte haben dazu geführt,seine Zukunft durch staatliche Subventionen von einer Absatz-krise bis zur nächsten zu sichern – Abwrackprämien, wie es hier-zulande, oder »cash for clunkers«, wie es in Amerika hieß, sei esgedankt. Seitdem sind nicht nur die Marke Opel und Fertigungs-standorte wie Bochum in aller Munde. Das Auto war neben allden soziographisch erfaßbaren und hinreichend beschriebenenKategorien das mobile Emblem wirtschaftswunderlichen Er-folgs und einer ungebändigten Reiselust im Nachkriegsdeutsch-land. Es hat zudem einen hohen Nostalgiefaktor, der in zahlrei-chen, in der Krise feuilletonistisch ausgestellten Baureihen derVergangenheit ersichtlich wird (vgl. zur Nostalgie Rettig 2013).Nicht zuletzt mit dem Beharrungsvermögen anthropologisie-render Designmomente hat sich gezeigt, daß es im Konsumver-halten bestimmte Präferenzen gab. So wurde etwa die Gesicht-lichkeit von Fahrzeugtypen ergonomischen Kriterien wie derStromlinienförmigkeit vorgezogen.

So kam es, daß beim Auto-Casting anläßlich des Films Ein tol-ler Käfer (USA 1968, Regie: Robert Stevenson) aufgrund des beiPassanten ausgelösten Lächelns dem Modell von Volkswagen derVorzug vor weniger empathietauglichen Mitkonkurrenten gege-ben wurde (vgl. Windhager et al. 2008). Aber es geht nicht vor-rangig um die nostalgische Verbrämung von Fahrzeugtypen undVerkehrsformen. Weder ist es um die Wahl zwischen dem be-tulichen Wandern, dem Fahrrad- oder Autofahren zu tun (vgl.Burri 1998) noch um die Gemütsverfassung des pedantischenPolizeihauptwachtmeisters Eberhard Dobermann im Film Na-türlich die Autofahrer (D 1959, Regie: Erich Engels), der beimWerben um eine Frau auf automobile Rückendeckung verzichten

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Abb. 1: Physiognomien des Automobils nach Windhager et al. 2008.

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muß – jedenfalls bis zu jenem finalen Führerscheinerwerb, dankdem dann dem von Heinz Erhardt gespielten Polizisten endlichauch die Einfahrt in den Ehehafen gelingt.

Ein kurzer Text Benses mit dem zunächst wenig eingängigenTitel »Auto und Information. Das Ich, das Auto und die Tech-nik« aus dem Jahr 1970 attestiert dem Auto, über seine Existenzals bloßes Fortbewegungsmittel und seinen kulturellen Status alssemantischer Attraktor hinaus, mit den Seinsverhältnissen selbstauf das Engste verwoben zu sein. Am Ende dieses Gedanken-gangs steht nicht nur eine veränderte Sicht auf das Auto, viel-mehr wird an diesem scheinbar willkürlich herausgegriffenenBeispiel deutlich, was Bense als Forderung nach einer techni-schen Existenz zur Bewältigung der Moderne für unverzichtbarhält. Technische Existenz, hier argumentiert Bense mit stupen-der Gelehrsamkeit von der Antike über das Barock bis in die Ge-genwart, krankt vor allem an ihrer grundlegenden Mißachtungder Dinge.

Diese Geringschätzung hat nun ihrerseits eine lange Ge-schichte und vor allem damit zu tun, daß gerade in der Philoso-phie die Objekte den Subjekten auf eine Weise gegenübergestelltwurden, die sie in den Status verfügbarer Gegenstände ver-bannte. Anders gesagt: Die Hybris der Subjekte hat den Dingennie eine wirkliche Chance gelassen. Bense faßt diese Haltung ge-genüber den Dingen in der Formulierung vom Technik-Habenzusammen. Dieses Haben suggeriert, die Menschen hätten aufeine Weise mit den technischen Gegenständen zu tun, in dersie selbst entscheiden, wann und in welcher Intensität sie von ih-nen Gebrauch machen und wann eben nicht. Einem solchen Ok-kasionalismus stellt Bense das Technik-Sein gegenüber und be-gründet mit diesem Wechsel in der Leitformel nicht wenigerals eine neue Seinsweise, die der Moderne angemessen ist unddie in ihrer theoretischen Reflexion verabsäumt zu haben eineder großen Schwächen eben dieser Moderne darstellt (vgl. Bense1997 [1946]). Folgt man dieser Wendung, dann hat nicht mehrder Mensch die Dinge, sondern umgekehrt haben die Dinge ihn.

Die Aktualität dieses Ansatzes führt zu Überlegungen, dievor allem durch die Actor Network Theory zum Anlaß neuerAushandlungen zwischen menschlichen und nichtmenschlichen

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Akteuren haben werden können. Was an neuen Objektbeziehun-gen mit Dingen dingfest zu machen ist, wird von deren Verfech-tern und namentlich von dem französischen WissenssoziologenBruno Latour so weit vorangetrieben, daß selbst die Frage nacheiner Vertretung der Dinge in einem eigens für sie vorgesehenenParlament kaum mehr zu überraschen vermag (vgl. Latour 2001;vgl. zur Modernität der favorisierten Gegenstände Hahn 2008).Aller vermeintlichen Verspieltheit zum Trotz, wie sie in derSchrift »Auto und Information. Das Ich, das Auto und die Tech-nik« aufscheint, ist Benses Befundlage in einem sehr weitenSinne anthropologisch geerdet. Bevor er sich über den Maschi-nenstatus des Autos äußert, wird der Unterschied von Habenund Sein im Rüstzeug typographischer Markierung und in ver-wirrender Ausführlichkeit eingeführt:

Ein Ich hat man nicht, man ist es. Aber man hat ein Auto und ist es nicht,und so hat das Auto ein Ich, aber ist kein Ich und hat ein Ich ein Auto, istjedoch kein Auto. Dieser Text ist ein Text über den Unterschied zwischenHaben und Sein, und dieser Unterschied zwischen Haben und Sein ist auchder Unterschied zwischen dem Auto, das fährt und dem Ich, das es fährt,aber da das, was fährt, sowohl das Auto als auch das Ich sein kann, hebt das,was fährt, den Unterschied zwischen Ich und Auto auf, und damit wird derText über Haben und Sein oder Auto und Ich zu einem Text über das Fah-ren, in dem das Auto zum Ich und das Ich zum Auto wird. (Bense 1998a[1970], 291)

Natürlich kann man das Auto, und das tut Bense auch, zunächstund naheliegenderweise als klassische Maschine veranschlagen,mithin als Vorrichtung, die Energie verbraucht, um eine Arbeitzu verrichten – in diesem Fall eine Bewegung (vgl. zu einer ent-sprechenden Typologie der Maschinen Günther 2002 [1957];o Treibhaus). Aber es ist zugleich mehr, nämlich eine trans-klassische Maschine, »insofern, als sie Informationen verarbeitetund Kommunikationen erzeugt wie alle transklassischen Ma-schinen« (Bense 1998a [1970], 291). Das Fahren wird so zurÜbersetzung von Informationen, die das Ich liefert, in die Bewe-gung, die das Auto liefert. Aufgerufen ist damit der Status derautomobilen Steuerung, der den Ausfall oder das Außerkraftset-zen zentraler Steuerungsgrößen und vorrangig des Bewußtseinszu seinem Gegenstand hat (vgl. zum Erwerb dieser Kompetenz

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Möser 2004). Dessen Ausfall beschreibt Bense als schleichendenProzeß – als Chance für die Kommunikation mit der Beifahrerinebenso wie als Chance für eine neue Seinsweise:

Erst später, nach und nach, hat sich das Ich dem Auto angepaßt; automa-tisch, gedankenlos, während der zärtlichen Unterhaltung mit der Freundinauf dem Nebensitz über den Flug nach Madeira, werden auch die Informa-tionen gegeben, deren der Wagen bedarf, um sie in Bewegung umzusetzen;alles geschieht auf einmal wie von selbst. […] Indem sich das denkende We-sen an das fahrende Wesen gewöhnt, Ich und Auto mehr und mehr zueinem beinah surrealen Automaten verschmelzen, jene aber dennoch auchbei sich selbst bleiben, uns stets auch noch ein selbständiges Etwas, ebenfahrendes Wesen und denkendes Wesen bedeuten, ist fast eine neue Artdes Existierens entstanden. (Bense 1998a [1970], 292)

Was Bense mit einer solchen Verschmelzung im Sinn hat, istkeine Wiederholung eines Moderne- oder Technikpathos, wiees noch den künstlerischen Avantgarden eignete. Der Vergleicheiner griechischen Göttin mit der Form eines Automobilkühlers,wie ihn der Italiener Filippo Tommaso Marinetti in seinem be-rühmten Manifest des Futurismus sehr zum Nachteil der Nikevon Samothrake zog, bleibt eine ästhetische Aussage, begründetvielleicht sogar eine politische Haltung, aber eben keine Ontolo-gie (vgl. dazu etwa Schmidt-Bergmann 1993). Mit der Emphasedes Von-selbst-Gehens, des unbewußten Automatismus und desAusfalls zentraler Steuerung verdoppelt Bense, was in der Be-fundlage der klassischen Moderne nachgerade ein Topos fürdie Möglichkeit neuer Erfahrungsräume hat werden sollen.

Ebenfalls die beschleunigte Fortbewegung des Automobilsbemühend, findet bei Autoren wie Robert Musil eine Wertschät-zung statt, die in der gesteigerten Bewegung die Option aufdas Erreichen anderer Zustände und den Durchbruch durchdie bewußte Person regelrecht feiern (Musil 1978 [1925/26 oderspäter]). Das Versagen der Steuerung wird zur Option eines mo-dernen Glücksgefühls – und zum Einfalltor von Effizienzbestre-bungen, die neben Sport und Verkehr gerade auch die ökonomi-schen Bewegungen mit einem Netz diverser Aufmerksamkeitenüberziehen (vgl. dazu Rieger 2001). Andere Theoretiker desFahrens arbeiten entlang der gesteigerten Beschleunigung dieVeränderungen des Verkehrwesens konsequent als Architektur-

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und Wahrnehmungstheorie aus – so etwa Paul Virilio, dem mo-derne Fortbewegungsmittel gar zu Projektoren werden, mittelsderer Wahrnehmungsgeschwindigkeiten in städtebaulich er-schlossenen Umwelten manipulier-, weil schaltbar werden (vgl.dazu Virilio 2000; Schenck 1925; Steininger 2004).

Aber es gibt nicht nur Befürworter solcher Seins- und Wahr-nehmungsweisen. Ein kurzer Text aus dem Jahr 1904, der unterdem Titel »Der Geisteszustand des Automobilfahrens« im Ar-chiv für Kriminalanthropologie veröffentlicht wurde, zeichnetein gänzlich anderes Bild. Sein Autor, der Colditzer Psychiaterund Kriminologe Paul Näcke, beginnt anläßlich des Autofah-rens gar über die Sittlichkeit von Geisteszuständen zu sinnieren.Näcke, der im Jahr 1907 ausgerechnet den eher Pferden zuge-neigten Schriftsteller Karl May auf seinen Geisteszustand hinzu begutachten hatte, nimmt mit dem Automobilführer einenneuen Menschentyp ins Visier, der nicht zuletzt für die Fragenach der juristischen Zurechnungsfähigkeit von ungeahnter Bri-sanz ist. Für ihn wird auf ganz eigene Weise zum Problem, wasbei Bense zwischen moralisch belangbarer Weltvernunft undästhetischer Daseinslust ventiliert wird – die zunehmende Be-schleunigung von Seinsgefährt (und Seinsgefährtin):

Setzt man die Reflexion fort, vor allem bei zunehmender Geschwindigkeit,wird man schnell entdecken, daß auch dieses Doppelwesen eines fahrendenIchs und handelnden Autos seine Schwierigkeiten zwischen Daseinslustund Weltvernunft besitzt. Der kategorische Imperativ des sittlichen Han-delns wird beständig gefährdet von der intimen Erfahrung ästhetischerLust. […] Ist aber der Augenblick der Höchstgeschwindigkeit gekommen,der das vollkommene Gleichgewicht zwischen Präzision und Sekurität ver-wirklicht, muß diese schwierige Reflexion zweifellos abgebrochen werden.Also brechen wir sie ab. (Bense 1998a [1970], 292 f.)

Ein Eskapismus so kurz vor dem kategorischen Imperativ Kantsist für die Kriminalanthropologie Näckes undenkbar. Seine Sor-ge um die Sekurität des Verkehrswesens hat gerade dort ein-zusetzen, wo Bense sie kurzerhand für beendet erklärt – beimVerhältnis von Sittlichkeit und Tempo. Sein Text reagiert aufdie Ignoranz der Psychologie gegenüber veränderten Fortbewe-gungsarten und wartet mit einem regelrechten Szenario auto-mobiler Grenzzustände auf. Aus seinem höchsteigenen Bekann-

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tenkreis weiß der Kriminalanthropologe von Erfahrungen zuberichten, die das Rauschhafte des Verkehrs gegen jede Formgezügelter oder tempolimitierter Vernünftigkeit stellen. Selbstbesonnene Kollegen aus seinem Umfeld erliegen am Steuer denVerlockungen des Temporausches und werden im Moment derautomobil beschleunigten Welterfahrung leicht zu trunkenenAutokraten. Umpeitscht vom Fahrtwind, glaubt sich der Fahreram Steuer seines Automobils in ein Märchen versetzt, »die De-korationen seines Reiches wechseln jeden Augenblick, Häuser,Bäume, Felder, Menschen flüchten an ihm vorbei, und es steigtihm wie ein Herrschergefühl ins Hirn […]. Das Gefühl machtihn leicht zum Autokraten« (Näcke 1904, 335). Besonders per-fide scheint dabei die positive Rückkopplung zwischen Fahrge-schwindigkeit und Sorglosigkeit. Der unnatürliche Zustand undder flüchtige Taumel verführen dazu, das Gefährt immer kühnerund damit noch schneller zu steuern, was eine Rauscherfahrungzur Folge hat, die nur durch noch weitere Beschleunigung be-friedigt werden kann. Der Automobilist im Laufrad wird zumKilometerfresser (oLaufrad). Eine Selbsterfahrung des in sei-ner eigenen Wahrnehmung sonst so bedächtigen und selbst derNächstenliebe zugewandten Näcke fördert noch mehr Befremd-licheszutage. Die Intoleranz gegenüberanderen, die eigene Schnell-fahrt einschränkenden Teilnehmern konnte und mußte der Psych-iater am eigenen Leib erfahren. Nur zu schnell ist man am Steuergeneigt, jeden Fußgänger lediglich für einen den eigenen Ver-kehrsfluß behindernden Dummkopf zu halten und entspre-chend anzugehen.

Derlei Befundlage bedarf einer Erklärung, und Näcke findetsie in einem diffusen Amalgam von physiologischen Vermutun-gen, die natürlich auf den Moderne-Topos einer grassierendenNervosität zusteuern. Im Kern läuft seine Theorie auf Störun-gen eines regelmäßigen Blutzuflusses hinaus, die zusammen miteinem furchtbaren Luftwiderstand und dem Staub den Kopf an-greifen – was auch Schutzbrillen und andere Hilfsvorrichtungennur bedingt verhindern können. Das Resultat klingt ebenso er-nüchternd wie verheerend: »Man steigt im ethischen Niveauherab, und hierin liegt die große Gefahr des Sports.« (Ebd.,336) Weniger gefährdet erscheinen in diesem Szenario Berufs-

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kraftfahrer, da »hier eine Art Gewöhnung eintritt, und die un-angenehmen Wirkungen sich nicht oder nur wenig bemerkbarmachen« (ebd.). Die Forderungen in bezug auf den Charakterkünftiger Automobilführer liegen somit auf der Hand. Wer ausprofessionellen Gründen ans Steuer will, muß charakterfest,ethisch entwickelt und mit einem stabilen Verantwortungsge-fühl gesegnet sein. Nur so ist für Näcke zu vermeiden, daß erwie die geschilderten Sportfahrer, bei denen die Geistesverfas-sung nicht mehr im Bereich des für Näcke Normalen liegt, indie Dunstkreise verminderter Zurechnungsfähigkeit und in dieFänge justitiabler Erwägungen gerät. Und natürlich weiß derKriminalanthropologe auch noch einen übergeordneten, bewuß-ten wie unbewußten Grund anzugeben, der den Hang zum au-tomobil induzierten Sinnestaumel erklärt. Es ist jenes Drehmo-ment des vertige, das auf Schaukeln und Karussellen, aber auchbeim Walzertanz seine euphorisierende Wirkung zeitigt. In phy-siologischen Erklärungen sind Blutschwankungen im Gehirnund in der Lymphe des Labyrinths für den Schwindel verant-wortlich (o Ohrstein).

Aber das Autofahren ist nicht nur für die Belange kriminalan-thropologischer Typisierung ein denkbar geeigneter Anlaß. Wiesehr ausgerechnet die Sittlichkeit noch in ganz anderer Weisebetroffen sein kann, führt Niklas Luhmann in seinem Buch Lie-be als Passion vor Augen. Nach und zwischen allen nur denk-baren Herleitungen der Liebessemantik und unter Verwendungvon Material aus sehr automobilfernen Jahrhunderten – etwader französischen und englischen Romanliteratur des 17. und18. Jahrhunderts –, verfällt der große Systemtheoretiker bei sei-ner Veranschaulichung auf gerade diejenige Situation, die Bensemit seiner Gefährtin im vertrauten Gespräch über den Flug nachMadeira im Auto verortet. Was veranschaulicht werden soll, istjene Selbstreferenz, die in Liebesdingen so aufreibend wie unab-stellbar geworden ist. Am Steuer wird nicht weniger entschiedenals die ebenso grundlegende wie strapaziöse Frage, welche Weltdem gemeinsamen Erleben in der Intimkommunikation zugrun-de gelegt wird. Luhmann hat die Situation hinter dem Steuer aufunnachahmliche Weise beschrieben – abstrakt in der Terminolo-gie seiner Theorie, konkret, indem er Besonderheiten individuel-

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ler Fahrstile auf die Eigenheiten selbstreferentieller Kommuni-kationen im Modus der Liebe und deren Notwendigkeit als un-umgehbar hochrechnet. Verhaltensweisen, die automobilen Be-sonderheiten und nicht den scheinbaren Belangen der Liebegeschuldet sind, schaukeln sich unter dem eisernen Gesetz derZuschreibung auf eine Weise hoch, die einen Grundsatz der Sy-stemtheorie vor Augen stellt. Spezifika des Fahrstils wie konse-quentes Kurvenschneiden (im Wissen, daß der oder die anderesich davor ängstigt) oder Regelverstöße wie stures Linksfahrenauf der Autobahn (im Wissen, daß der oder die andere um regel-konformes Fahrverhalten pedantisch bemüht ist) – all das sindfür Luhmann (Ver-)Fahrensweisen, die geeignet sind, »Nuancendes Verhaltens attributionsfähig zu profilieren« (Luhmann 1990[1982], 43). Das Resultat dieser fremdwortreichen Einschätzungist verheerend und gipfelt in jenem Bonmot, dem zufolge dieEhen zwar im Himmel geschlossen, aber im Auto beendet wer-den oder, genauer noch und weniger aktantenmäßig gesprochen,die im Auto schlicht auseinandergehen. Bevor Kurven konse-quent geschnitten und unablässig links gefahren, bevor Sicher-heitsabstände ignoriert und unter Einsatz akustischer und op-tischer Signale gedrängelt wird, muß die Theorie symbolischgeneralisierter Kommunikationsmedien derlei Verhaltensweisenanschlußfähig halten:

Denn derjenige, der am Steuer sitzt, richtet sich nach der Situation undfährt, wie er meint, auf Grund seines besten Könnens; aber der, der mit-fährt und ihn beobachtet, fühlt sich durch die Fahrweise behandelt, führtsie auf Eigenschaften des Fahrers zurück. Er kann nur in einer Weise han-deln, nämlich kommentieren und kritisieren; und es ist wenig wahrschein-lich, daß er dabei die Zustimmung des Fahrers findet. Im Taxi hätte man(von Extremsituationen abgesehen) wenig Anlaß, darüber zu kommunizie-ren. Bei Intimbeziehungen wird jedoch genau diese Situation zum Test aufdie Frage: handelt er so, daß er meine (und nicht seine) Welt zu Grundelegt? (Ebd., 42)

Das klingt für die Theorie einigermaßen stimmig, erweist sichjedoch für die Situation im Auto als ungemein strapaziös. Dieenorme Aufmerksamkeit von Psychologen, Kleingruppentheo-retikern, Unfallforschern und Automobilreifenherstellern fürgenau diese Situation hinterm Steuer ist eine der Folgen (vgl. da-

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zu Schönhammer 1993 und 1994). War bei Bense in der neuenExistenzweise automatischen, gedankenlosen Hingleitens nochRaum für die zärtliche Unterhaltung mit der Freundin auf demNebensitz, so scheint bei Luhmann eine andere Form derGrundsätzlichkeit eingeholt. Was immer Menschen, die frühereinmal Kommunikationspartner hießen, tun, nichts ist dabeiohne Bedeutung. Ob Werthers Lotte Schwarzbrot schneidetoder ob individuelle Fahrstile auf den Prüfstand wechselseitigerBeobachtungen geraten – all diese Verhaltensweisen werden ein-gespeist in die Selbstreferenz der unabschließbaren Frage,welcheWelt und welchen Horizont für Welterfahrung man jeweils zu-grunde legt. Wo Habermas das Fahren in die Nähe einer Geistes-

Abb. 2: Die Gefahren der Paarbindung in Beifahrsituationen nach ADACMotorwelt 1982.

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