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Bense, Max 1960 Programmierung Des Schönen (Ocr)

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  • Max Benses informationeile sthetikschliet mit einer Allgemeinen Texttheo-rie ab, die, auf der Grundlage statisti-scher Untersuchungen von Fucks, Herdan,Mandelbrot u. a., als Modell der neuenstatistischen Zeichen-sthetik aufgefatwerden kann.

    Die Allgemeine Texttheorie bezieht sichauf jede Art von Text, schliet also diesthetische Theorie der Poesie und Prosa,aber auch der wissenschaftlichen Spra-chen, Werbesprachen und abstraktenSprachen usw. ein.

    Der Begriff Text wird dabei als derjeni-ge sprachliche Zustand aufgefat, derstatistische bzw. informationelle, seman-tische bzw. sthetische Formen meint, ausderen Materialitt Poesie und Prosa imklassischen Sinne erst hervorgehen. DerBegriff Text zielt also nicht auf vor-sthetische Zustnde der Sprache ab, son-dern auf vorpoetische und vorprosaische.Er bestimmt gewissermaen die archai-schen theoretischen Fundamente der Li-teratur.

    Allgemeine Texttheorie umfat alsoTextstatistik, Textsemantik, Textphno-menologie und Textsthetik. Der bishervllig unklar oder falsch verwendeteAusdruck Logik der Dichtung verschwin-det zugunsten des genau formulierbarenAusdrucks Textsemantik, der den Be-griff Textlogik mit umfat.

    Es werden also sowohl numerische wieessentielle berlegungen zum BegriffText angestellt.

    Die Allgemeine Texttheorie erscheint alsGrundlagenforschung fr zuknftige Li-teraturwissenschaft und Literaturtheorie.Sie will exakte Mittel einfhren und derbeliebigen blichen Interpretation, so-weit sie nicht historische Fakten heraus-stellt, ein Ende bereiten. Nicht die se-mantische, inhaltliche Literaturbeschrei-

  • 4 I960 by Agis-Verlag Baden-Baden und KrefeldSatz und Druck Dr. Willy Schmidt, Baden-BadenUmschlagentwurf K. Jrgen-FischerPrinted in Germany

  • Fr die Pariser Freunde

  • INHALT

    Vorwort ber die Idee unserer Zivilisationsthetik und PhysikDas Existenzproblem der KunstExtrakt der Statistischen sthetikZustzeExkurs ber "Walter Benjamin und Ludwig WittgensteinDer Begriff Text, erste AnnherungTextstatistikKlassifikation in der LiteraturtheorieAllgemeine TexttheorieKlassifikation der TexteText und KontextTextsthetikReflektierbarkeit der TexteMetatheorie und MetatextVisuelle TexteAbschlieende Unterscheidung, klassische und nichtklassische Texte

  • Vorwort ber die Idee unserer Zivilisation

    Zivilisation ist kein Zustand. Zivilisation ist ein Proze. Ein Pro-ze, den wir bevorzugen.Was Proze ist, steht nicht still und was nicht still steht, schreitetfort, entwickelt sich, und Entwicklung ist Ausscheidung und Er-neuerung. Wenn es aber Komponenten in unserem Bewutseinvon dieser Art von Zivilisation gibt, in denen sie grndet undin denen sie sich uert, dann sind es heute das historische, dasgesellschaftliche, das wissenschaftliche und das sthetische Bewut-sein. Ausscheidung und Erneuerungen finden historisch, gesell-schaftlich, wissenschaftlich und sthetisch statt. Wir befinden unsgleichsam in einem vierdimensionalen Raum, in einem Raum mitvier Freiheitsgraden, mit vier Freiheitsgraden fr menschliche T-tigkeit berhaupt, aber sie erweisen sich sehr schnell als mehr oderweniger zusammengefat, integriert in einem einzigen, realittsset-zenden, nm/ich im technischen Bewutsein unserer modernenZivilisation, in einem Bewutsein von der grundstzlichen Mach-barkeit der Welt.Aber Zivilisation als die selbsthergestellte Sphre uerster Be-wohnbarkeit dieser Welt beruht wesentlich auf Przision; es gibtkeine Zivilisation ohne diese Przision, und Przision mag tech-nisch ein Prinzip ihres Funktionierens sein, menschlich gesehen also vorausgesetzt, da der Mensch tatschlich von Hause auszwar eine hhere, aber auch eine schwchere Seinsweise zum Aus-druck bringt , menschlich gesehen, handelt es sich um eineKategorie, mglicher Vernichtung zu entgehen, um eine Kategorieunserer Sekuritt, unserer Sicherheit, kurz: um eine Forderungmit historischem, gesellschaftlichem, wissenschaftlichem und sthe-tischem Sinn, dessen technisches Korrelat, dessen Korrelat im Hori-zont des Machens, das Messen ist. Mebarkeit jedoch ist zweifellosein Mittel unserer Rationalitt, und ihr Vorgang ist analytisch,sofern er einen Sachverhalt in endlich viele Schritte zerlegt, und

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  • er ist synthetisch, sofern er ihn in endlich vielen Schritten kon-struiert.In dem Mae wie Zivilisation berhaupt auf den Aktionenmenschlicher Rationalitt beruht, beruht sie auch auf dem Vor-gang der Messung. Erst mit der Beschreibung der Natur in einerrationalen Sprache im 13. Jahrhundert mit Grosseteste undPeregrinus und dann im 17. mit Galilei und Newton einsetzend wurde es mglich, aus der Naturbeschreibung Folgerungen zuziehen, die in technische Konstruktionen umgesetzt werdenkonnten. Der methodische Aufbau einer Zivilisation als technischeRealitt aus Grnden von Zwngen, die keine andere Lsungzulieen setzt eine rationale Naturbeschreibung voraus, unddie Przision dieser Naturbeschreibung besteht wesentlich in derZurckfhrung von Beobachtungen auf Messungen. Man kann sichleicht klarmachen, da Rationalitt, die in der Idee der Mebar-keit grndet, neben den Folgerungen der Logiker und den Be-rechnungen der Physiker, ganz allgemein das einschliet, wasman Vorhersage, Voraussage nennt. Jede Berechnung, jede Folge-rung, jede Messung hat es mit der Voraussage, mit der Zukunftzu tun. Der menschliche Intellekt ist an Rationalitt interessiert,sofern er an der Zukunft interessiert ist, und noch die geringsteVorentscheidung, die geringste Annherung an eine Gewiheitber Zukunft wird als echtes Zeichen unserer Humanitt verstan-den, als ein Prinzip unveruerbarer Bedingungen unseres zeit-lichen Daseins in der Geschichte und in der Gesellschaft, denn esscheint, da es fr die Menschen nicht mglich ist zu handeln,ohne mit der Aktion eine Antizipation zu verknpfen. Diemenschliche Lage erfordert eine weitgehende und ausreichendeIdentifizierung der Zukunft, und Identifizierung setzt Konsi-stenz, Festigkeit, Widerstand gegen Vernderung voraus, und dieseArt Konsistenz gehrt nicht nur zur klassischen Forderung derBeweisbarkeit des Wissens, sondern auch zu der sich immer deut-licher als entscheidend abzeichnenden wesentlich modernen For-derung der bertragbarkeit des Wissens. In zwei umfassendenGrundlagenwissenschaften haben sich heute diese beiden Forde-rungen unserer Rationalitt an menschliches Wissen berhaupt,die Beweisbarkeit des Wissens und die bertragbarkeit des Wis-sens, als selbstndige Forschungsbereiche herauskristallisiert: inder Wissenschaftstheorie, deren Zentrum die Mathematische Logik

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  • bildet, und in der Kommunikationsforschung, deren Zentrum dieInformationstheorie der allgemeinen Nachrichtentechnik ist. Essind hchst abstrakte Wissenschaften, deren Gegenstand nicht ge-geben, sondern konstruiert ist, aber sie sind daher allgemeinerNatur, sie knnen also angewendet werden auf diese oder jeneArt von Wissenschaft und auf diese oder jene Art von ber-mittlung von Wissen, und in dem prziseren Sinne, wie manWissen unter dem Aspekt seines Beweises als Theorie bezeichnet,bevorzugt man heute fr Wissen unter dem Aspekt seiner ber-tragbarkeit den Ausdruck Information.

    Tatschlich bilden Theorie und Information, Beweis und Nach-richt, heute die Quellpunkte der rationalen Vorgnge innerhalbunserer Zivilisation. Die gesamte exakte Seite der Naturwissen-schaften ist abhngig vom Wesen der Theorie und das gesamteSystem der Nachrichtentechnik ist eine Funktion der exaktenund rentablen Behandlung dessen, was man Information nennt.Darber hinaus aber bilden Beweisbarkeit und bertragbarkeitfaktisch die einzigen Funktionen des Wissens, die der Messungim weitesten Sinne zugngig sind.Zunchst ist der Begriff von Wissen, der in der Idee der Be-weise zugngig wird, ein anderer als der, der in der Idee derbertragung auftritt. Beweisen heit ja immer so viel wie ausVoraussetzungen deduzieren, also mit Hilfe logischer Schlsseableiten; aber bertragen hat es mit einem Auswhlen zu tun,denn es ist nur sinnvoll, das zu bertragen, was der Empfngernoch nicht wei. Wissen im Sinne von bertragen heit imGrunde nichts anderes als berraschen. Besttigung hat ihrerNatur nach ein engeres Verhltnis zur Gewiheit, berraschungein engeres Verhltnis zur Ungewiheit. Tatschlich wird in derWissenschaftstheorie der Begriff des Wissens durch die Wahrheit,in der Informationstheorie durch die Wahrscheinlichkeit dirigiert.In dem Mae wie das theoretische Funktionieren der menschlichenRationalitt logische Strukturen offenbar werden lt, erweistsich die Seite ihrer kommunikativen Wirkungen durch statistischeZusammenhnge beherrschbar.Der Begriff der Rationalitt mu also, denkt man an den Um-fang, den er innerhalb der Grundlagen aller Aktionen und Pro-duktionen, die wesentlich unserer gegenwrtigen Zivilisation an-gehren, besitzt, betrchtlich erweitert werden; menschliche Ratio-

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  • nalitt hat begonnen, das Wesen der berraschung, und damitder Chance, ebenso einzubeziehen wie das "Wesen der Besttigungund der Gewiheit. Mit der Entwicklung der modernen Nach-richtentechnik hat sich innerhalb unserer technischen Realitt derBereich der klassischen Maschine, die Energie erzeugt und Arbeitleistet, um den Bereich der transklassischen Maschine erweitert,die imstande ist, nichtphysische Funktionen, wie Deduzieren undAuswhlen, also Beweis und Information zu realisieren.Da eine solche Integration auch das Problem des Verhltnissesvon Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften betrifft, istleicht einzusehen. Der fachlichen und methodischen Spaltung ent-sprach das definitive Zurckbleiben der Geisteswissenschaftenhinter den Naturwissenschaften, was den faktischen Gewinn anInformation ber Naturprozesse im Vergleich zu dem Gewinnan Information ber sogenannte geistige Produktion betraf. Weylhatte es schon vor Jahren von der Naturwissenschaft, ErnstRobert Curtius von der Geisteswissenschaft her vermerkt. Dierealittssetzende Kraft der Naturwissenschaft ist klar, die Tech-nik verifiziert sie. Aber die realittssetzende Kraft der Geistes-wissenschaften hat sich nicht verifiziert, sie vermag methodischnur hinter den Produktionen unserer Intelligenz, denen sie ihreAufmerksamkeit widmet, also hinter den Hervorbringungen derKunst, Literatur, Sprachen usw., zurckbleiben.Es hat den Anschein, da durch das Eindringen der Grundlagen-wissenschaften der transklassischen Maschine", also der statisti-schen Informationstheorie und Kommunikationsforschung, in dieLinguistik und in die sthetik ein gewisser Umschwung einge-treten ist. Fucks, Mandelbrot u.a. haben numerische Methoden ent-wickelt, die nicht nur den Begriff des Textes bemerkenswerterweitern und literarische Texte ebenso einbeziehen wie journali-stische Reportagen oder Werbetexte, sondern darber hinauspraktisch einen Text mit den gleichen Mitteln beschreiben wie dieThermodynamiker ein Gas. Es handelt sich um eine Beschrei-bung, die das statistische Verhalten der Elemente betrifft, undder Begriff des Elements ist abstrakt, allgemein genug, so da ersich sowohl auf die Menge der Teilchen beziehen kann, die einGas bilden, wie auch auf die gegliederte Elementenmenge",die ein Text darstellt. A. Moles in Paris strebt auf der Grund-lage der Informationstheorie eine komplette Theorie der Musik

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  • an, die ihre kommunikative wie ihre sthetische Seite einbezieht;das Centre International d'Enseignement SupeVieur du Journa-lisme in Straburg lehrt eine Vorstellung von Journalismus, zuderen Grundlagen eine Allgemeine Informationstheorie gehrtund an der Technischen Hochschule in Stuttgart bemht man sichin einem eigens dafr vorgesehenen Seminar, eine sthetischeProgrammierung von Texten und visuellen Zeichenkomplexen zuerreichen, die sich der theoretischen und technischen Mittel derInformationstheorie und Kommunikationsforschung bedient; dieGravesaner Bltter" des elektroakustischen Instituts in Grave-sano sowie Eimerts und Stockhausens Reihe", die fr elektro-nische und serielle Musik eintritt, bringen ebenfalls die genanntentheoretischen Aspekte in ihren knstlerischen Absichten zurGeltung.Man sieht, wieder einmal ist die menschliche Intelligenz von derTheorie her in Bewegung geraten und das Entscheidende ist, dasie nun aus einem Stadium der Differenzation in ein Stadiumder Integration eingetreten zu sein scheint. Neben die neuekonsequente Vereinbarung zwischen Wissenschaft und Technik,zwischen Mathematik und Nachrichtentheorie in der transklassi-schen Maschine (der zweiten Maschinen-Idee, die die Menschheitkonzipierte), tritt, vorsichtig anhebend, eine Vereinbarung zwi-schen Technik und sthetik, die natrlich dem, was man Produkt-form im Zusammenhang mit industrieller Fertigung nennt, eineneue Wichtigkeit beimit, aber auch das Kunstwerk als Trgereiner sthetischen Information (und dem Kommunikationsschemazwischen Sender und Empfnger unterworfen) zu einem essentiel-len, nicht blo zu einem luxurisen und zuflligen Bestandteil desZivilisationsprozesses macht. Die Anwendung des Begriffs In-formation" in der sthetik, also die Verwendung des Ausdruckssthetische Information" begrndet die Redeweise, da sthe-tische Verhltnisse nicht nur an einem Kunstwerk, sondern aucham technischen Gebilde realisiert werden, und zwar in einem origi-nalen, ursprnglich gebenden Sinne; darber hinaus rechtfertigtsie natrlich die berschneidungen. Nicht nur das, was Max Billdie funktionale Schnheit" nannte, erhlt jetzt ein theoretischesGewicht. Der Begriff Schnheit" verliert an Substanz, aber ge-winnt an Funktion, und die sthetik selbst hrt auf, die zweifel-hafte Existenz einer philosophisch spekulativen Wissenschaft zu

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  • fhren und entwickelt sich unter den neuen Aspekten immer mehrzu einer technischen Wissenschaft wie die Mechanik seit Galilei.Wie die Mechanik so scheint auch die sthetik letztlich nur diekonstruktiven Bedingungen einer technischen Funktion zu prpa-rieren, und den energetischen Verhltnissen unter dem Gesichts-punkt der Entropie dort, entsprechen hier die kommunikativenunter dem Gesichtspunkt der Information.Damit sind wir also auf die groen gegenstzlichen Glieder desunsere Zivilisation beherrschenden Rationalismus gestoen, aufIntellekt und Originalitt, denen die KommunikationstheorieRedundanz und Information als Ideen ihrer mglichen Mabe-stimmung zuordnet.Redundanz entwirft das numerische Bild unseres Intellekts, In-formation entwirft das numerische Bild unserer Originalitt,deren Entideologisierung und Entmythologisierung nur durchihre Auflsung in die endlich vielen Schritte ihrer Herstellunggelingen kann.Es scheint aber, da schon Descartes diese gleichermaen ergn-zenden wie einander ausschlieende Zge jenes identisch einenPhnomens, das wir gewhnlich als produktiven Geist bezeichnen,bemerkt hat, als er in den 1701 posthum erschienenen Regelnzur Leitung des Geistes" als Regel III. folgendes notierte:Bei den von uns vorgenommenen Gegenstnden drfen wirnicht das, was andere darber gemeint haben noch was wir selbstmutmaen untersuchen, sondern allein das, was wir durch klareund evidente Intuition oder durch sichere Deduktion darberfeststellen knnen, denn auf keinem anderen Wege kann dieWissenschaft erworben werden."Sofern wir nun aber heute Intellekt und Originalitt mit Hilfeder Begriffe Redundanz und Information interpretieren knnen,erscheint die Rationalitt, die ihr entspricht, gleichermaen alseine Rationalitt des Machens wie auch des Erkennens, und eswird mehr und mehr sichtbar, da im Rahmen einer TechnischenZivilisation wenigstens im Prinzip kein essentieller Unterschiedzwischen wissenschaftlicher und knstlerischer Produktivitt be-steht und da die klassische Idee der Schpfung und die mo-derne des Programmierer weitgehend einander nherrcken. Imgleichen Sinne wie Kunst, ist Wissenschaft schpferisch und Kunstist schpferisch in dem Sinne, wie es Wissenschaft sein kann.

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  • Ich mchte nicht sagen, da diese Idee der geistigen Produk-tivitt als rationale Aktivitt die reichere ist. Sie ist sicher einereduzierte Idee, aber die Reduktion wurde zweifellos gegen einenGewinn an Przision eingetauscht, und ich bin davon berzeugt,da ein solcher Tausch Zukunft hat.Der Geist macht von seiner Freiheit Gebrauch, heit es in denMeditationen" Descartes', aber er htte hinzufgen mssen, dadas, wovon Gebrauch gemacht wird, auch dem Verbrauch unter-worfen ist. Der Geist verbraucht in der Zivilisation ursprnglicheFreiheiten und macht auch von den Zwngen Gebrauch, die sichdaraus ergeben.Dieser Vorgang ist kennzeichnend fr den Proze der Zivilisation,von dem wir eingangs gesprochen haben und wesentlich fr alleinformativen und kommunikativen Vorgnge, wie wir sie heuteverwenden.Es handelt sich ganz allgemein um ein Prinzip, das an der Aus-scheidung all dessen interessiert ist, was sich im Horizont desMachens einer Zivilisation nicht aus ihren theoretischen Strukturenergibt.

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  • sthetik und Physik

    Es gibt nicht nur eine moderne Physik, sondern auch eine modernesthetik, und diese Feststellung betrifft keine uerlichkeiten,sondern verweist auf die tiefe Affinitt, die heute zwischen diesenbeiden wichtigen Disziplinen unserer Erkenntnis besteht. Mankann sagen, da Physik und sthetik heute genau dort zusam-mentreffen, wo sich auch die beiden einzig mglichen knstlichenRealitten, nmlich die der Technik und die der Kunst ber-schneiden. Tatschlich bezieht sich die moderne Physik, indemsie die bloe mathematische Beschreibung der natrlichen Welthinter sich lt, immer strker auf das technische Problem derzivilisatorischen Vernderung dieser Welt, und was die modernesthetik angeht, so hat sie es mehr und mehr mit der Wahr-nehmung und der Erklrung einer Kunst zu tun, die keine Nach-ahmung der klassischen Naturgegenstnde mehr kennt, sondernneue sthetische Objekte herstellt, Abstraktionen, Konkretionen,Flecken, Informelles und Vibrationen, wie die Maler sich aus-drcken. Allerdings bleibt das, was man den (energetisch-mate-riellen) physikalischen Proze nennen kann, sowohl fr die Naturwie auch fr die Technik der gleiche, und es handelt sich auchimmer um den identisch einen sthetischen Vorgang, gleichgltigob er das Naturschne" (eine Rose, eine Landschaft, ein Gesicht)oder das Kunstschne" (eine Sule, einen Vers, ein Bild) her-vorbringt.Der Proze der Modernisierung der Physik wie auch der sthe-tik, ein Proze, der, wie wir sehen werden, ihren Zusammenhangherstellte, wird also offensichtlich durch eine deutliche Verschie-bung der Interessen angezeigt. Das Interesse an der metaphysi-schen Bedeutung des Festgestellten (etwa der Kernkrfte) weichtdeutlich genug einem Interesse an seiner technischen Funktion.Diese Lage in der Physik ist auch fr die sthetik kennzeichnend;Abstraktionen, Konkretionen, Informelles, Flecken, Vibrationen

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  • bezeichnen fr den Maler und den sthetiker, der sie erklrt,keine metaphysischen, sondern artistische Aktionen, und man kannsehr leicht aus der neueren Literatur Beispiele beibringen, die denSachverhalt fr das Sprachkunstwerk aufdecken; es gengt anJoyce, Gertrude Stein, August Stramm, sogar Benn und Eliot,Michaux und Ponge zu erinnern. Weder die Physik noch diesthetik wird gegenwrtig als metaphysische Wissenschaft aufge-fat werden knnen, deren Sinn darin bestnde, den Horizontder Wirklichkeit zu bersteigen, zu transzendieren, wie der philo-sophische Sprachgebrauch sagt. Aber wie die Physik so stellt auchdie sthetik eine technische Wissenschaft dar. Es sind technischeWissenschaften geworden, die es sich leisten knnen, ihre Fach-sprachen, also ihre knstlichen Sprachen, an der Mathematik undan der Philosophie zu entwickeln.Natrlich hngt das Zurckweichen der metaphysischen Bedeu-tung des physikalisch Festgestellten vor dem technischen Gebrauchmit dem Eindringen der mathematischen Sprache in die Physik(seit Galilei) zusammen. Erst die mathematische Formulierung derNaturerkenntnis lie es zu, Folgerungen zu ziehen, die in tech-nische Konstruktionen umgesetzt werden konnten; erst die mathe-matische Sprache hat es ermglicht, den physikalischen Proze,der in der gegebenen natrlichen Welt auffindbar ist, zur produk-tiven Grundlage der knstlichen technischen Welt zu machen. Aufdiese Weise wurde die Mathematik zu einem Kommunikations-kanal zwischen zwei Realitten, zwischen der wirklichen der Na-tur und der mglichen der Technik. Ich brauche blo an die Rolleder Mathematik, der Geometrie (in der Perspektive) und derArithmetik (in der Proportionenlehre), in der Geschichte derKunst (einschlielich der Dichtung, denkt man an die Metrik) zuerinnern, um sagen zu knnen, da auch eine tiefe Beziehung dessthetischen Prozesses, der das Kunstwerk hervorbringt, zu seinerDarstellung in mathematischer Sprache besteht. Nun ist oft her-vorgehoben worden, da die moderne Physik mehr und mehr andie Stelle des anschaulich gegebenen physikalischen Gegenstandesdie physikalische Sprache gesetzt hat. Sie ist nicht mehr Theorieeines physikalischen Seins, sondern Theorie der sprachlich fixier-ten Aussagen ber dieses Sein. Physik, so drckt man sich aus,ist nicht mehr Ontologie, sondern Semantik. Hans Reichenbachhat z. B. in seiner berhmt gewordenen Philosophie der Quan-

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  • tenmechanik" radikal von dieser Auffassung Gebrauch gemacht.Sie bedeutet, philosophisch ausgedrckt, einen bergang von derersten Seinsklasse (des Seienden selbst) zur zweiten (der Zeichen,die es bezeichnen und sich so verhalten wie das bezeichnete Seien-de). Physikalische Gegenstnde oder solche, die man dafr hlt,gehren zur ersten, aber physikalische Sprachen mathematischerGestalt gehren natrlich zur zweiten Seinsklasse. Diese Verhlt-nisse gibt es auch in der sthetik. Auch die moderne sthetik hatden bergang von der Seinstheorie zur Zeichentheorie, von derOntologie zur Semantik, von der ersten zur zweiten Seinsklassevollzogen. Am frhsten wohl mit Charles W. Morris' Esthe-tics and the Theory of Signs", (Erkenntnis, VIII, 1939). Aller-dings begann diese Entwicklung in der sthetik bereits bei Hegel.Bei ihm bahnte sich der Umschwung metaphysisch an, das Kunst-schne vor das Naturschne zu setzen und nicht den Gegenstand,sondern das Zeichen fr den Gegenstand als schn oder nicht-schn zu bewerten.Die weitere Entwicklung der Zeichensthetik ber Morris hinausvollzog sich jedoch wieder strker unter dem Einflu der Physikund neuerer technischer Disziplinen, vor allem der Nachrichten-technik.Das hat einen tiefliegenden, sachlichen Grund. Die Thermodyna-mik, von der jetzt gesprochen werden mu, war von Anfang aneine hchst entscheidende Disziplin der Physik gewesen. In ihr,genauer mit der kinetischen Wrmetheorie und der mathemati-schen Fassung des zweiten Hauptsatzes, vollzog sich eigentlichder frheste bergang von der klassischen zur nichtklassischenPhysik, vom. stetigen Naturbild der Differentialgleichung zumunstetigen statistischer Wahrscheinlichkeitsrechnung, und mankann zeigen, da dieser bergang von der infinitesimalen Natur-beschreibung zur Hufigkeitsbetrachtung einem bergang vonder ersten zur zweiten Seinsklasse, von der Seinsthematik zurZeichenthematik, von der Ontologie zur Semantik entspricht.Doch kommt es hier auf den Begriff Entropie" an, der in derThermodynamik entwickelt wurde. Er sollte als Ma fr dieWahrscheinlichkeit einer Verteilung von Partikeln dienen, dieden thermodynamischen Zustand eines Gases reprsentierte. En-tropie konnte darber hinaus als Ma fr Unordnung (im Sinnewahrscheinlicher, gleichmiger Verteilung), ja sogar als Ma fr

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  • Unkenntnis gewisser das einzelne Teilchen betreffender Bestim-mungsstcke gedeutet werden. Angesichts dieser Theorie konntedann der integrale Naturproze bzw. der physikalische 'Welt-proze schlechthin als ein Proze aufgefat werden, der auf einMaximum an Entropie tendiert, was einem Maximum an gleich-miger Verteilung entspricht, und diese gleichmige Verteilungbeschreibt den wahrscheinlichen Zustand der Welt.Sucht man nun nach einem Gegenproze zu diesem so beschrie-benen physikalischen Proze mit seiner Richtung auf den wahr-scheinlicheren Zustand der gleichmigen Verteilung, die als Un-ordnung interpretierbar ist, so stt man auf den sthetischen Pro-ze. Denn es ist klar, da in dem Mae wie physikalische Vor-gnge auf Mischung" aus sind, die das Kennzeichen der Un-ordnung" aufweist, sich sthetische Vorgnge gerade als Ent-mischungen", als Gliederungen" darstellen, die als Anordnung"deutbar sind. In diesem Sinne tendiert also der sthetische Prozenicht wie der physikalische auf einen wahrscheinlichen, sondernauf einen unwahrscheinlichen Zustand. Er lebt von der ber-raschung, er wird bestimmt durch das Ma an Ursprnglichkeit,Unwahrscheinlichem, Anordnung, das er zu realisieren vermag.Man kann die Beschreibung der Differenz sehr weit fhren, immerwieder zeigt sich, da es im wesentlichen nur zwei wirkliche undverwirklichende, also erzeugende Weltprozesse gibt, den physi-kalischen und den sthetischen, und da beide gleichsam einegegenlufige Tendenz besitzen. Die moderne abstrakte, sehr ver-allgemeinerte Verwendung des Begriffs Entropie im Sinne vonMischung lt es zu, seinen Gebrauch von den Partikeln einesGases auszudehnen auf die Elemente eines Textes. Der Auffassungdes thermodynamischen Zustandes eines Gases als Zahl der Kom-plexionen von Mikrozustnden, die diesen Makrozustand reali-sieren" entspricht dann die Auffassung des Textes als einer ge-gliederten Elementenmenge". Beide knnen durch den Logarith-mus der Wahrscheinlichkeit, die statistisch als Hufigkeit inter-pretierbar ist, zahlenmig beschrieben werden. So tritt alsoneben die Thermodynamik eine Texttheorie, und wie jene physi-kalische Zustnde (eines Gases) statistisch erfat, bemht sichdiese um die statistische Beschaffenheit eines Textes; Fucks sprichtdabei etwa von Stilcharakteristiken", Mandelbrot von Text-temperaturen", und was dabei zunchst pure linguistische Feststel-

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  • lung zu sein scheint, wird schlielich zu einer sthetischen. Wassich aber als das entscheidend Neue dabei abzeichnet, ist die Tat-sache, da in solchen berlegungen und Analysen der physikali-sche wie auch der sthetische Proze als selektiver und vom Zu-fall durchsetzt erscheint, und wie der physikalische Zustandist auch der sthetische von statistischer Natur; das Kunstmerk batkeine definitive Wirklichkeit, sondern nur Wahrscheinlichkeit.Dieser statistische Charakter des Kunstwerks bringt es mit sich, daseine oft so bezeichnete sthetische Realitt", also seine klassischeEigenschaft, schn" oder nichtschn" zu sein, ganz anders gedeu-tet werden mu als bisher. Bisher sprach man dabei von etwasSubstanzhaftem, vom Wesen des Kunstwerks, kurz von etwasSeinsmigem, von etwas Ontologischem. Die Auffassung des Be-griffs schn" als semantischen Ausdruck wie wahr" oderfalsch", bedeutet, da er die Beziehung zwischen einem Zeichenund einem Seienden betrifft. Der sthetische Proze als Zeichen-proze ist ein Proze, der Seiendes in Zeichen vermittelt und demes nicht um Wahrheit, sondern um Schnheit geht. Was vermit-telt wird, darf in jedem Falle als eine Information bezeichnetwerden und jede Vermittlung selbst stellt in jedem Falle eineKommunikation dar. Der sthetische Proze vermittelt keinegewhnliche semantische Information (wie es der astronomischeSatz Der Mond ist aufgegangen" darstellt), die wahr oder falschsein kann, er vermittelt vielmehr eine sthetische Information,die, wie man in der Umgangssprache sagt, schn oder nicht-schn sein kann. In diesem Sinne fungiert die VerszeileDer Mond ist aufgegangen" in dem Gedicht von Claudiuszweifellos als sthetische Information. Es geht nicht darum, obder Satz wahr oder falsch ist, es geht darum, ob die Zeile schnoder nichtschn ist. Offenbar wird das Kunstwerk (das Gedicht,das Bild, die Plastik) als Trger sthetischer Information aufgefat.Kunstwerk bezeichnet den engeren, sthetische Information denweiteren Begriff. Es ist keinesfalls so, da nur am Kunstwerksthetische Information wahrnehmbar wird, selbstverstndlich kannsie auch an technischen Gebilden wie Autokarosserien, Schiffs-profilen, Hochhusern usw. und an Naturgebilden wahrnehmbarwerden. Die Theorie der Produktform und der industriellenFertigung mu in jedem Falle ebenso sehr technische wie stheti-sche Theorie sein; ihre Aufgabe ist, technische Funktion und

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  • sthetische Information einander anzugleichen, im idealen Fallezu identifizieren. Da die Theorie der sthetischen Information,die Informationssthetik, wie man auch sagen kann, ein Neben-zweig der allgemeinen nachrichtentechnischen InformationstheorieWieners, Shannons, Weavers usw. ist, ist ebenso einsichtig wiedie Tatsache, da sie sich erst am Ausgangspunkt mglicher For-schung und Theorienbildung befindet.Das Kunstwerk wird also als Nachricht aufgefat. Genauer alsTrger einer besonderen, nmlich sthetischen Information. Diesthetische Information ist das entscheidende an ihm. Sie besttigtden Zeichencharakter des sthetischen Prozesses. Auch wre andersnicht verstndlich, da jedes Kunstwerk auf Wirkung, auf Kom-munikation bedacht ist- Jede Information ist aus Zeichen aufge-baut. Zeichen knnen Mengen, Strukturen oder Gestalten bilden.sthetische Information kann strukturell oder gestalthaft sein.Jede Versifikation in der Dichtung bietet strukturelle sthetischeInformation. Le Corbusiers Kapelle in Ronchamp indessen bietetdie sthetische Information als Gestalt an.Doch jede Information ist nach der Informationstheorie nur soweit wirkliche Information als sie Innovation ist, neu, ber-raschend, unvorhersehbar, ursprnglich. Fr die sthetische Infor-mation trifft das in besonderem Mae zu. Im Prinzip ist diesthetische Information, also das realisierte Kunstwerk, vor seinerfaktischen Herstellung unvorstellbar. Seine Realitt ist darberhinaus von uerster Fragilitt, Zerbrechlichkeit. Die poten-tielle Mglichkeit seiner Aufhebung, seiner Zerstrung ist enormgro. Die mathematische Informationstheorie mu mit Wahr-scheinlichkeiten arbeiten, wenn sie diesen Umstnden Rechnungtragen will. Nur als statistische Theorie kann die Informations-theorie der Information die Rolle des Unvorhersehbaren ver-leihen. Ich sagte schon, da auch die Information, will manihren Betrag zahlenmig bestimmen, durch den Logarithmuseiner Wahrscheinlichkeit, einer Unkenntnis also, gemessen wer-den kann. Als Information aufgefat, besttigt also jedes Kunst-werk nicht nur die hohe berraschende und zerbrechlicheNatur seiner Wirklichkeit, es wird auch verstndlich, da dieWahrnehmbarkeir der Kunstwerke als Kunstwerke immer nurvon schwankender Gewiheit sein kann, die ihre Feststellungendurch Interpretationen ergnzen mu.

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  • Der Kreis der neuen Begriffe und Vorstellungen, durch die Kunstund Technik, sthetik und Physik zusammengefat werden, er-scheint demnach als uerst geschlossen. Diese Geschlossenheit isteine Folge der zunehmenden Perfektion, der der Gesamtproze derZivilisation, die wesentlich auf Information und Kommunikationberuht, ausgesetzt ist. Man wird sich daran gewhnen mssen,nicht nur in der Physik, sondern auch in der sthetik eine mathe-matische und eine technologische Sprache anzutreffen und Technikim Dienste der Kunst und Kunst im Dienste der Technik zusehen.

    Das Existenzproblem der Kunst

    Die Entwicklung des Geistes in der Zivilisation hat gezeigt, danicht alles, was ihn bereichert, Ausdruck seiner Freiheit ist, davielmehr weite Bereiche seines Niveaus auch die Hhenzge seinesZwangs verraten und da dieser Zwang anzuwachsen droht,mindestens in der Wissenschaft, deren wesentliche SchpfungenTheorien sind, Theorien hoher Stringenz, Theorien mit einem inder Natur verifizierbaren und in der Technik reproduzierbarenRealgehalt. Gelegentlich hat man den Eindruck, da der Wechselan Stilen, Manieren, Moden, dirigierenden Vorstellungen undEinbildungskrften innerhalb der modernen Kunst mit dem Ver-such zusammenhngt, noch einmal und unbekmmert die alteklassische Verbindung von Schpfung und Freiheit gegen dieneue, aufkommende Relation von Schpfung und Zwang auszu-spielen und sich dabei auf Theorie, also auf intellektuelle Recht-fertigungen zu berufen; doch dieses Bedrfnis an intellektuellerRechtfertigung gehrt bereits zu dem Zwang, dem in der Tech-nischen Sphre die geistige Arbeit ihre Schpfung abgewinnt.Es gibt daher fr uns kein Problem der modernen Kunst, es gibtfr uns nur ein Problem der Kunst berhaupt, das groe Exi-stenzproblem der Kunst in der Zivilisation, gestellt mit der Frage,Hegel hatte sie ja schon erwogen, ob Kunst in diesem hart unddicht strukturierten System des Daseins berhaupt noch ein vi-tales, emotionales oder geistiges Interesse erregt, das von einerbloen Affektion verschieden ist, ob sie als Ganzes berhaupt

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  • noch wirklich oder nur schematisch, noch schpferisch oder nurimitierend existiert angesichts der kaum zu bestreitenden Tat-sache, da zur Erhaltung und Frderung dieser Zivilisation zwarwissenschaftliche, aber nicht knstlerische Information notwendigist. Zugegeben, da wissenschaftliche und knstlerische Schp-fungen, was den Vorgang der Schpfung, nicht sein Resultatbetrifft, mindestens im Prinzip qualitativ von gleicher Art sind,eben Innovationen, so grndet doch der Proze dessen, was wirZivilisation nennen, tiefer in einer wissenschaftlichen, als in einerknstlerischen Innovation. Jedenfalls hat das Problem der mo-dernen Kunst schlagartig jenes groe Existenzproblem der Kunstberhaupt beleuchtet, und offenbar war die Tieferlegung ihrerFundamente, auf der sie von Anfang an bestand, das bisher ein-zige legitime und erfolgreiche Verfahren, der sicheren berzeu-gung von ihrer mglichen Sinnlosigkeit in einer ethisch wie sthe-tisch hchst irritierenden Zivilisation zu entgehen. Indessen,wir wissen zwar sehr genau, da auch das Kunstwerk letztlichein Gegenstand zum geistigen Gebrauch ist, aber zu welchem Ge-brauch, das konnte mindestens fr die Kunst unserer Epoche nochnicht gesagt werden. Die Tieferlegung der Fundamente hat inder Literatur mit Gertrude Stein, Franz Kafka, James Joyce,in der Musik mit Schnberg, Webern, Pierre Schaeffer und Mil-haud, in der Malerei mit Picasso, Kandinsky und Mondrian, inder Plastik mit Brancusi, Moore, Bill usw. um nur ein paarmotivierende Namen zu nennen, begonnen, und es ist zweifelloseine ernsthafte Frage, ob, wenn man heute Kunst macht, so ge-tan werden darf, als htten sie nie existiert, als knne man be-denkenlos vor sie zurckgehen. Denn im Grunde ist regressiveSchpfung unmglich, Schpfung kann nur progressiv sein, weildie Innovation zu ihrem Wesen gehrt (wie man auch nicht, wasdie intellektuelle Freiheit und Redlichkeit angeht, vor das 18.Jahrhundert, vor Voltaire, Diderot und d'Alembert zurckgehenkann, ohne an Freiheit und Redlichkeit zu verlieren).In diesem Sinne ist Zivilisation, auch die Entwicklung der Kunstin der Zivilisation, also ein Problem der Innnovation. Innovationenthlt sowohl das Moment des Produktiven wie auch das Mo-ment der Progression. Aber schlielich gehren auch Przisionund Perfektion zur intellektuellen Dynamik des zivilisatorischenLebens. Doch damit beginnen gewisse Schwierigkeiten. Die Per-

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  • fektion mag nur ideale Zustnde betreffen, die vielleicht nurdiskutiert, nicht realisiert werden knnen. Die Przision hingegengehrt zum Proze der Zivilisation selbst. Sie hat es mit derAntizipation, der Vorwegnahme, der Vorhersage, der Berech-nung, der Ableitung, der Erschliebarkeit zu tun, mit Kalkulationund Automatisation, also mit der Zerstrung der berraschung,der Unwahrscheinlichkeit, des Unvorhersehbaren, die unerl-liche Kennzeichen echter Innovation, vor allem der sthetischensind. Jede Innovation bedeutet eine Zufuhr an Zivilisation inder Form von Information, aber jede Automatisation grndet inInformationen und verbraucht sie. Automatisation ist also an-gehaltene Information und beschreibt gerade dadurch einenperfekten Zustand im Sinne seiner Przision. Automatisationund Innovation, intelligibilite und originalite, Technik undInformation, wie man allgemeiner formulieren kann, erweisensich unter diesen Aspekten als gleichermaen einander aus-schlieende wie auch ergnzende Teilprozesse der Zivilisation,und es scheint, da die Wissenschaft auf der einen und die Kunstauf der anderen Seite jeweils die perfekten Zustnde der Aus-schlieung wie auch der Ergnzung reprsentieren. VollkommeneTheorien, dargestellt in einer Przisionssprache, deren Syntaxein Logikkalkl ist, entwickeln sich aus Axiomen, die ein Systemvon Tautologien bilden und keine Information geben, denn nichtsUnvorhersehbares, nur Ableitbares ergibt sich aus ihnen, Ableit-bares im Sinne purer Umformung. Aber sthetische Informationkann in keinem Falle ein System von Folgerungen bilden; mankann sie nicht vorhersehen, nicht ableiten; das unterscheidet siegenau von einem technischen Gebilde; sie ist entweder eine ber-raschende Innovation oder keine Kunst und nur so weit ein Kunst-werk Innovation enthlt, gibt es sthetische Information.Zivilisation ist also aus komplementren Prozessen aufgebaut,und Kunst beteiligt sich entweder an dieser Art von Zivilisationund wird ein unerlliches Medium ihrer intellektuellen Dyna-mik. Indem sie ihre Techniken des Machens subtil ausntzt, nichtindem sie ihre Gefhle, Traktoren oder Gesichter darstellt,hat sie die Chance, Innovation im Verhltnis zur progressivenAutomatisation zu gewinnen oder aber Kunst bleibt auerhalbdieser Zivilisation und entzieht sich dem Zugriff ihrer intellek-tuellen Dynamik.

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  • Nun hat jede Information natrlich auch die Bedeutung einer Kom-munikation. Nachricht ist wesentlich Vermittlung und sthetischeNachricht sthetische Vermittlung. Jede Zivilisation ist in demMae an Vermittlung interessiert, als sie Gesellschaft produziert,und die Komplexitt einer Gesellschaft entspricht zweifellos derKomplexitt der Vermittlungen, der Kommunikationen, auf de-nen sie beruht. Auch dies scheint mir eine Folgerung aus demResultat zu sein, das A. A. Schtzen berger und A. A. Moles inihrer Untersuchung ber Sociometrie et Creativite" (1955), dieselbstverstndlich Morenos Soziometrie" und Lewins Dynamikder Gruppen" einbezogen hatte, gewannen, da nmlich einund derselbe mathematische Ausdruck die Komplexitt einersozialen Struktur und die Kommunikation im Sinne der Infor-mation, der Vermittlung, der Nachrichtenkontakte, die in ihrrealisiert sind, beschreibt. Was sich in der intellektuellen Dyna-mik als Information darstellt, spielt in der gesellschaftlichen Dy-namik sogleich die Rolle der Kommunikation. Wie jene, so lebtauch diese von Innovationen, die auf beiden Ebenen der Auto-matisation entgegenarbeiten. Sofern Kunst eine Funktion in derZivilisation hat, produziert sie Information und Kommunikation,die Ausdruck intellektueller und gesellschaftlicher Dynamik undInnovation sind, die jede Automatisation beschrnken. Zugleichmu dann aber Kunst auch unter dem Schema der Nachricht ge-sehen werden, realisierbar, schpferisch und verstndlich, wirksamund wesentlich nur nach Magabe dieses Schemas.Es entspricht also der Sachlage, wenn die moderne sthetik In-formationstheorie und Soziometrie zu ihren Grundlagen macht:die selektive Beschaffenheit einer sthetischen Information gibtes letztlich nur relativ zur Komplexitt einer Gesellschaft. Nun er-setzt die intellektuelle Dynamik der Zivilisation allenthalben dasGegebene" durch das Gemachte". In der Seinsthematik, diewir unserer Wahrnehmung und Bearbeitung der Welt zugrunde-legen, stellt sich dieser Vorgang als kontinuierlicher bergang voneiner ontologischen zu einer semantischen Realitt dar: Zeichentreten an die Stelle von Dingen, Funktionen an die Stelle vonSubstanzen, Bedeutungen an Stelle von Sachverhalten, Seiendeswird nicht festgestellt, sondern hergestellt, es wird nicht inhalt-lich, sondern strukturell, nicht extrahiert, sondern konstruktivaufgefat.

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  • Wir haben also Grund genug, den klassischen, ontologischenBegriff von sthetischer Realitt" durch einen modernen, se-mantischen zu ersetzen, durch den der sthetischen Informa-tion". sthetische Realitt" ist also kein Gegenstand, sondernInformation, aber das hat nichts mit dem Faktum zu tun, dajedes Kunstwerk als Trger sthetischer Information ein Gegen-stand ist, der einzige berdies, der diesen Namen berechtigt trgt(nur das Gemachte" kann im vollen Sinne des Worts gegen-stndlich" sein). Und davon abgesehen, da die sthetische Nach-richt wie jede Nachricht aus Zeichen, aus sthetischen Zeichen ge-baut ist und jeder sthetische Proze, wie wir seit Morris sagen, einZeichenproze ist, stellt der Begriff der Nachricht ein Schemaund eine Funktion heraus, die wesentlich zur intellektuellen undgesellschaftlichen Dynamik der Zivilisation gehren.

    Extrakt der statistischen sthetik

    Es gibt, wie gesagt, nicht nur eine moderne Physik und einemoderne Logik, fr die der souverne Gebrauch, den sie von dermathematischen Sprache machen, typisch ist, es gibt auch einemoderne sthetik, die sich ebenfalls in zunehmendem Mae jenerexakten Ausdrucksweise bedient. Insbesondere moderne Physikund moderne sthetik sind nun in einem spezielleren Sinne durchein gleichartiges Rstzeug verbunden, durch das Eindringen wahr-scheinlichkeitstheoretischer Auffassung und der damit verbun-denen statistischen Methoden. Das gleichartige Rstzeug ist natr-lich nicht zufllig, es ist durch eine gleichartige Vorstellung vonden Sachverhalten bedingt. Sowohl die statistische Physik wieauch die statistische sthetik setzen gewisse der Prozesse, vondenen sie handeln, als stochastische Prozesse voraus. Vor allemdurch die Thermodynamik (Boltzmann, Gibbs) und ihre mole-klartheoretische Betrachtungsweise gerieten statistische Vorstel-lungen und Rechnungen in die Physik; entsprechend gingen vonder nachrichtentechnischen Informationstheorie (Wiener, Shannon)und ihren signal- bzw. zeichentheoretischen Voraussetzungen dieAnregungen aus, Statistik im Gesamtbereich der sthetik, Lin-guistik und Metalinguistik, der Rhetorik, Stilistik und Kunst-

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  • theorie zur Geltung zu bringen. Die Informationstheorie bzw.die Kommunikationstheorie stellen heute die Brcke zwischenPhysik und sthetik dar. In dem Mae, wie die statistische Me-chanik Teilchen-Theorie zur Voraussetzung hat, bildet die Zeichen-Theorie die Grundlage der Statistischen sthetik. Da es Ele-mente gibt, die ein Repertoire bilden knnen, ist stets die Vor-aussetzung einer statistischen Beschreibung. Da der sthetischeRealisationsproze ein Zeichenproze ist, wie schon Morrisdefinierte, ist die Voraussetzung dafr, da das Resultat dersthetischen Realisation, falls es als sthetisches bestimmt werdensoll, nur statistisch beschrieben werden kann.

    Ausgangspunkt ist die Unterscheidung zwischen physikalischenund sthetischen Prozessen, als den beiden einzig wesentlichen deskosmologischen Gesamtprozesses. Physikalische und sthetischeProzesse werden also als kosmologische Prozessse aufgefat,wenngleich sie natrlich im ontologischen Sinne zu unterscheidensind. Aber nicht nur das, da der eine Teilchen und der andereZeichen zur Voraussetzung hat, wre hervorzuheben, wichtigerist, da beide Prozesse letztlich eine intentionale Struktur haben,die entgegengesetzt orientiert ist. Die Intentionalitt des phy-sikalischen Prozesses ist der Intentionalitt des sthetischen Pro-zesses, wenigstens grundstzlich, entgegengesetzt. Das zu be-schreiben, ist bereits eine Aufgabe der statistischen sthetik.

    In ihrem Begriff der Information, den sie abstrakt und generali-siert verwendet, bietet die moderne Theorie der Nachrichten-technik die Mglichkeit, ihn als Schnittpunkt physikalischer undsthetischer Funktionen und Prozesse aufzufassen. Es gehrt zurNatur des Begriffs Information, ebenso allgemein wie speziell,ebenso abstrakt wie konkret verwendbar zu sein. Fr die Allge-meine Informationstheorie, wie sie wohl vor allem im InteresseMacKays liegt, ist es nicht nur wesentlich, da sich mit dem Be-griff der Information auch der der Innovation, der Originalitt(einer Kenntnis, einer Anordnung u. s. f.) verbindet, sondern auchder der Kommunikation, etwa im Sinne des Transports, der ber-tragung der Information und darber hinaus auch der Begriffeines Maes fr den Umfang, den numerischen Wert dieserInformation. Allgemein erscheint jedenfalls Information als

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  • eine Anordnungs- bzw. Verteilungsfunktion, die sich auf gewisseElemente, auf Zeichen und Zeichenkonstellationen bezieht. An-ordnungen, Verteilungen mssen neu sein, Innovation haben,wenn sie den Charakter der Information haben sollen.

    Da in jedem sthetischen Proze Realisation und Wahrnehm-barkeit sthetischer Realitt (Gebilde) den Proze erst kon-stituierten, Realisation und Wahrnehmung aber zugleich auch phy-sikalische Vorgnge sind, verlaufen also sthetische Prozessezugleich auch als physikalische. Was nun die Verknpfungteilchentheoretischer (physikalischer) und zeichentheoretischer(nichtphysikalischer) Prozesse einerseits und den Zusammenhangzwischen der physikalischen Zustandsgre der Entropie" (dieeine physikalische Teilchen-Verteilung mit der Tendenz auf zu-nehmende molekulare Unordnung kennzeichnet) und der nicht-physikalischen Zustandsgre der Information" (die eine Ord-nung charakterisiert, wie ich analog sagen mchte) andererseitsanbetrifft, so sind dafr die berlegungen von L. Szilard (1929)und L. Brillouin (1949) magebend geworden. Durch diese ber-legungen wird jedem Betrag an Information ein gewisser Betragan negativer Entropie zugeordnet. Information wird dann alsNegentropie bestimmt.Der nachrichtentechnische Begriff der Information ist also zu-nchst mit dem physikalischen Begriff der Entropie verknpfbar.Darber hinaus resultiert sein Zusammenhang mit dem stheti-schen Begriff der Realisation vor allem aus dem Auftreten desElements der Zeichen, die ja schon in traditionellen Kunsttheorienund sthetiken verwendet wurden. Ich brauche nicht zu betonen,da jede Information aus Zeichen aufgebaut wird. Der Begriffder sthetischen Information ist also durchaus vorbereitet. ber-flssig auch zu sagen, da Ausdrcke wie Anordnungen, Ver-teilungen usw., mit deren Hilfe wir das, was wir unter Infor-mation verstehen, ganz allgemein kennzeichnen knnen, in dentraditionellen, lteren sthetischen Vorstellungen bereits Verwen-dung fanden. Ich betone aber hier schon, da fr uns statistischesthetik durch den Begriff sthetische Information" konstruiertwird und da dieser Begriff sorgfltig vom gewhnlichen Begriffder Information getrennt gehalten werden mu. Im Prinzipkann es natrlich in jeder sthetischen Information auch seman-

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  • tische und in jeder semantischen Information auch sthetischegeben, aber wir sprechen von Kunstwerken als von Trgernsthetischer Information. Der Begriff der sthetischen Informationreicht demnach weiter als der Begriff des Kunstwerks. Kunstwerkeerweisen sich als spezielle Flle der Trger sthetischer Infor-mation. Da es noch andere gibt, Ornamente, Produktformen,Fotografien, Reportagen, Plakate usw. ist selbstverstndlich.

    Statistische sthetik besteht also zunchst aus der Zeichen-sthetik, in der die Elemente eingefhrt und durch die Funk-tionen bestimmt werden; es folgt die Informationssthetik, inder die sthetische Realisation als eine besondere, eben sthe-tische Information im Unterschied zur semantischen Infor-mation aufgebaut wird, d. h. also als ein Zeichen-Arrangemententwickelt wird, in dem die Zeichen als pure Anordnungsfaktoren,nicht als Bedeutungen aufgefat werden; die Informations-sthetik geht auf in einer Theorie der sthetischen Kommuni-kation; Kommunikationssthetik betrachtet die sthetische In-formation unter dem Aspekt ihrer kommunikativen Effekte, unterdem Aspekt ihres Transports, ihrer Transmission und Transfor-mation; in beiden, in der Informationssthetik und in der Kom-munikationssthetik steckt eine (sthetische) Realisationstheorie,in der die Momente des sthetischen Prozesses betrachtet werden,die in einem engeren Sinne den Vorgang der sthetischen Reali-sation bestimmen. Statistische sthetik ist sowohl Mikrosthetikals auch Makrosthetik, insofern sie nmlich den Proze dersthetischen Realisation sowohl aus mikrosthetischen wie makro-sthetischen Teilvorgngen konstituiert.

    Zeichen bilden ein zweites, anderes, unvollstndiges, nicht vollreales, nur mit-reales Sein neben dem Seienden. In einemexpliziten Sinne haben Zeichen kein gegebenes" Sein, sondernein gemachtes" Sein. Aber Zeichen stellen eine Seinsfunktiondar; man kann etwas in sie einsetzen, man kann sie verwenden,man kann sie geben", und als Seinsfunktionen bertragen dieZeichen Seiendes", transportieren sie es. In der Seinsfunktionder Zeichen wurzelt also der Begriff der Information undder Kommunikation. Darber hinaus haben Zeichen eineWahrnehmungsfunktion; Wahrnehmungen laufen ber Zeichen,

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  • Zeichen sind die Trger der Wahrnehmungen, nicht Gegenstnde,Sachverhalte, Ereignisse usw. Das gilt fr alle drei Dimensionenoder Freiheitsgrade, in denen die Zeichen funktionieren, also frdie semantischen, syntaktischen und pragmatischen Dimensionen,wie Ch. W. Morris sie nannte bzw. fr die drei Sorten von Zeichen,die Ch. S, Peirce bereits als icon, symbol und index unterschied.Das icon funktioniert in der semantischen Dimension, es ist einZeichen fr Etwas oder ein Zeichen von Etwas, es bringt dieSeinsfunktion, die bertragungsfunktion und die 'Wahrnehmungs-funktion der Zeichen am deutlichsten zum Ausdruck, es kon-stituiert eine sthetische Information, die relativ viel semantischeenthlt, die das sthetische nicht nur als Arrangement, sondernals Bedeutung einfhrt. Das Symbol verweist auf die syntaktischeDimension, in der die Zeichen ihren Sinn nur in der Beziehungzu anderen Zeichen finden, Arrangement berwiegt hier also.Ein Zeichen ist schlielich als index zu verstehen, wenn es wieein Wegweiser, wie ein Mittel zur Orientierung, wie eine An-weisung funktioniert; das Plakat ist ein Beispiel.

    Zeichen bilden Anordnungen, Verteilungen, die Information reali-sieren, dokumentarische, semantische oder sthetische; als doku-mentarische und semantische kann sie eine wissenschaftliche Be-deutung haben, als sthetische kann es sich um syntaktische (sym-bolische), semantische (ikonische) oder pragmatische (indikato-rische) Information handeln. Information ist stets realisierteAnordnung. Die Realisation ist Ausdruck einer Auswahlfunktion.Es liegt hier also der klassische Begriff von Realisation vor, wie erbei Leibniz und auch bei Whitehead auftritt: Schpfung alsVerwirklichung, als Verwirklichung der Auswahl. Die Tat-sache, da Information stets realisierte Information ist imSinne einer Auswahl, legt es nahe, das Ma fr Information zu-gleich als Ma fr Realisation anzusehen. Auswahl bezieht sich aufeine gewisse Zahl von Mglichkeiten, unter denen eine zur Realisa-tion ausgewhlt wird. Der Mathematiker von Neumann hat imSinne dieses klassischen Begriffs der Theodizee" auf ein Ma frInformation hingewiesen: Suppose an event is one selected froma finite set of possible events. Then the number of possibleevents can be regarded as a measure of the information contentof knowing which event occured, provided all events are a priori

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  • equally probable . . .* (von Neumann, Probabilistic Logics, Auto-mata Studies, 1956, Princeton). Liegt eine (endliche) Anzahlmglicher Welten (Flle) vor, aus denen eine verwirklicht werdensoll, so bezeichnet diese Anzahl mglicher Welten den Realisa-tionsbetrag der tatschlich verwirklichten Welt. Die Welten kn-nen auch mgliche Texte, mgliche Zeichenanordnungen sein, ausdenen eine realisiert wird. Da die Zeichen hier eine Seinsfunktionhaben, also Seiendes bertragen, mitteilen, geben, entspricht derRealisationsbetrag des Seienden in den Zeichen einem Informa-tionsbetrag. Der Ansatz von Neumanns lt sehr deutlich denZusammenhang zwischen Realisation und Information erkennen.Tatschlich geht man aber bekanntlich bei der Errechnung desBetrages einer Information etwas anders vor. Man benutzt nichtdie Zahl der (gleichwahrscheinlichen) mglichen Flle, aus deneneiner zur Realisation und damit zur Information zugelassen wird,um ein Ma fr diese Realisation bzw. Information zu gewin-nen, man fhrt vielmehr eine gewisse Funktion dieser Zahl dermglichen Flle n ein, nmlich die logarithmische. Das hat rechen-technische Grnde und darber hinaus erscheint dann das Mafr Information bzw. fr Realisation tatschlich analog dem Mafr Entropie. Ist also n, wie gesagt, die Zahl der mglichenFlle, aus denen einer realisiert wird, d. h. einer die Informationstellt, so ist f(n) = Iog2n der Betrag dieser Information bzw.Realisation. Da der Logarithmus zur Basis 2 genommen wird,deutet an, da jeder der mglichen Flle, aus denen einer reali-siert wird, eine Alternative anbietet. Eine Information bzw. eineRealisation wird hier also, ganz im Sinne der klassischen Reali-ttsthematik der Theodizee", durch die Anzahl der Alternativengemessen, die zu ihrer Wahl fhrten. (Eine Alternative bedeutetdie Einheit 1 bit. Die Information, die durch die erscheinendeZahl eines Wrfels bei einem Wurf gegeben, realisiert wird,wre also Iog26 = 2,5 bit).

    Es ist klar, da so einfach wie bei der Errechnung des Infor-mationsbetrags eines Wrfelwurfs die Verhltnisse im stheti-schen Realisationsproze nicht liegen. Die Zahl der zu berck-sichtigenden mglichen Flle ist nicht immer leicht zu bestimmen.Auch bleiben im Verlauf der sthetischen Realisation die mg-lichen Flle, die der Auswahl jeweils zur Verfgung stehen, nicht32

  • mehr gleichwahrscheinlich. Der sthetische Proze ist ein inten-tionaler, ein konvergierender Proze, in dessen Verlauf die Inten-tionalitt gleichsam zunimmt. Im realisierten Kunstwerk erscheintdann sein Informationsbetrag. Gibt es aber verschiedene Auswahl-wahrscheinlichkeiten, dann ndert sich die Formel fr den Reali-sations- bzw. Informationsbetrag. Haben die verfgbaren Zeichendie verschiedenen Wahrscheinlichkeiten pj, p2 . . . pn so hat dieGesamtinformation den WertH = - [ p 1 l o g P i + p 2 l o g p 2 + . . . + p n l ogpn] = - 2 p i l o g p iDie Formel beschreibt eine gewisse Zustandsgre fr eine An-ordnung, ein Arrangement von Zeichen, die mit einer jeweils be-stimmten Wahrscheinlichkeit ausgewhlt werden. Die Formelgibt primr nichts anderes als einen mglichen Realisationsbetragan. Da in Zeichen realisiert wurde, ist dieser Realisationsbetragein Informationsbetrag; ob ein dokumentarischer, semantischer,oder ein sthetischer, hngt von der intentionalen und statistischenVerfassung der Zeichen bzw. von der Zeichensituation ab.

    Unter den Zeichenkonzeptionen, die von wesentlicher sthetischerBedeutung sind, ragen Struktur" und Gestalt" hervor. Durchsie wird die Zeichentheorie mit Strukturtheorie und Gestalt-theorie (in morphologischer, nicht in psychologischer Hinsicht) ver-knpft. Ein Zeichen ist stets ein differenziertes Gebilde. Gestalt"geht aus Zeichen durch einen integrierenden Proze hervor,Struktur" hingegen entwickelt sich aus Zeichen durch Redupli-kation. Ein sthetischer Proze kann als differenzierender ver-laufen und intentional auf die Hervorbringung eines einzelnenZeichens angelegt sein, er kann aber auch unter dem Aspekt einerGestalt" oder unter dem Aspekt einer Struktur" seine Funktionerfllen. Miro als Maler, Giacometti als Plastiker, Wachsmannals Architekt haben Beispiele fr die drei Flle geliefert. Gestalt"scheint immer semantischen, Struktur" syntaktischen Charakterzu haben. Bedeutungen" realisieren sich als Gestalt". GertrudeStein hat Beispiele struktureller Texte gegeben, ihr Stil ist meistnicht semantisch durch Bedeutungen" oder morphologisch durchGestalten" bestimmt.

    Wir haben den Verlauf sthetischer Prozesse intentional durchseine Richtung auf eine Zeichenverteilung zunehmender Unwahr-

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  • scheinlichkeit im Sinne zunehmender partikularer Anordnunggekennzeichnet. Da aber sthetische Prozesse als Realisationenverlaufen und die Realisationen durch Wahrnehmbarkeit gekenn-zeichnet sind, darf die Unwahrscheinlichkeit der partikularenAnordnung der Zeichen nie so gro werden, da ihre Wahr-nehmbarkeit und damit ihre Realisation verloren geht. Redundanzheit in der Informations- und Kommunikationstheorie jeneGre, die angibt, welcher Teilbetrag einer Information nichtaus den Alternativen, also nicht aus der Auswahl, der Freiheitstammt, sondern statistisch bedingt ist; es ist jener Betrag, umden die maximale Information kleiner werden mu, damit sieapperzipierbar bleibt; es ist eine Ballastfunktion, die zur Zeichen-funktion hinzukommt, damit Wahrnehmbarkeit, kurz Realisationentsteht, damit der Informationsbetrag, der gestellt wird, tat-schlich ein Realisationsbetrag ist. Alles, was Reglement ist imsthetischen Proze, gehrt zur Ballastfunktion, zur Redundanzund stellt die Wahrnehmbarkeit von Kunst sicher. Wie die Zeichen(und Zeichenkonstellationen), denen sie dient, hat auch die Re-dundanz drei Dimensionen, drei Freiheitsgrade; es gibt syntak-tische (Metrik), semantische (Gegenstndlichkeit) und pragmatische(Ideologie) Redundanz.Man kann sich vorstellen, da sthetische Information bzw.Realisation nicht durch die Redundanzen hervorgerufen wird,die einen sthetischen Proze beeinflussen, also nicht durch denBallast dieser oder jener Art, der ihm auferlegt wird, sonderngerade durch entgegengesetzte Einwirkungen. DokumentarischeInformation kann dadurch, da man gewissen Ballast wegnimmt,da man sie dispersiert, ihren Gehalt an Gegenstndlichkeitzerstreut, vermindert, zu einer sthetischen werden. Dadurch wirdnahe gelegt, eine negative Redundanz, die Dispersion, als wich-tiges Moment sthetischer Prozesse einzufhren. Man kann sichdie impressionistische Technik aus der naturalistischen als Folgeder Zulassung und bertreibung der Dispersion im sthetischenRealisationsproze hervorgehend denken. Auch der freie Vers"ist ein Problem sthetischer Dispersion, die sich auf die gestalt-bildende Kraft jeder Versifikation bezieht. Wie Redundanzkann auch Dispersion eine syntaktische (Metrik betreffende), einesemantische (Gegenstndlichkeit betreffende) und pragmatische(Ideologie betreffende) Funktion haben.

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  • Ich fge noch hinzu, da auch in der Theodizee" des Leibniz,deren Gegenstand letztlich ja die Realisation ist, das Problemder Redundanz, freilich anders formuliert, enthalten ist. DieIdee der besten der mglichen Welten" unterscheidet diesenatrlich von der besten" der Welten berhaupt. Die besteder mglichen" ist diejenige, die, wie die Physiker sich aus-drcken, von Extremalprinzipien beherrscht wird; sie ist apper-zipierbar im Sinne wissenschaftlicher Erkenntnis. Die Extremal-prinzipien stellen in gewisser Hinsicht natrlich ein Redundanz-system dar, ein Redundanzsystem, das die wissenschaftliche Er-kenntnis der Welt erst ermglicht. In der whiteheadschen Kos-mologie, die das Thema der Realisation wieder aufgegriffen hat,stellen die pattern" ein System von Redundanzen dar (aberauch die Dispersion" luft ber gewisse pattern"). Anderer-seits existiert das Problem der Extremalwerte im Sinne derMaxima-Minima-Verteilung der besten der mglichen Welten"auch in der Informationstheorie bzw. der Informationssthetik.In einem idealen Kommunikationssystem", so formuliert W. D.Hershberger, wird ein Maximum von Information" durch einMinimum von Auswahl", die durch die Zeichen angezeigt wer-den, gegeben. Es ist leicht einzusehen, da diese Formulierungeinen sthetischen Sinn hat. Sie impliziert eine Forderung, diees ausschliet, da zu reich instrumentiert" wird.

    In der Literaturtheorie Ezra Pounds, enthalten z. B. in ABC ofReading" und in How to Read", spielen drei Verfahren eineRolle, Worte mit Sinn aufzuladen", wie Pound sich ausdrckt:Phanopoeia", Melopoeia" und Logopoeia", also visuelle,klangliche und logische Wortverwendung. Der Ausdruck Sinn"bleibt an und fr sich, wie vieles bei Pound, unbestimmt. Aberda er offensichtlich eine sowohl semantische wie auch sthe-tische Funktion besitzt und da weiterhin Sprache bei Ezra Pounddeutlich genug als ein Mittel zur Mitteilung" eingefhrt wird,lt er sich als Information" deuten. Tatschlich kann Infor-mation, semantisch wie sthetisch, visuell-bildhaft, klanglich-melodisch oder logisch-grammatisch konstituiert werden. In-teressant ist noch, da fr Pound die eigentliche sthetische Mani-festation der Worte durch Logopoeia" erfolgt; es sei die amsptesten" aufgekommene Erscheinungsform, aber auch die hei-

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  • kelste" und unzuverlssigste". Wir wrden sagen, da die sthe-tische Sensibilitt einer sthetischen Information mit dem Gehaltan Logopoeia" ansteigt. Die durch Mittel der Logik konstituiertesthetische Information scheint mir also die sthetisch, genauermikrosthetisch abhngigste und empfindlichste zu sein. DieseDinge sind indessen nur im Zusammenhang mit der modernenMeta-Linguistik, etwa dem System von Benjamin Whorf, dasdurchaus als Kommunikationssystem gedeutet werden kann, zuuntersuchen und zu beurteilen.

    Information erscheint im Rahmen der statistischen sthetik grund-stzlich als zusammengesetzter Begriff, bestehend aus seman-tischer und sthetischer Information. Sofern der Unterschiedstatistischer Natur ist, ist er graduell; also sind semantische undsthetische Information ineinander berfhrbar und im Prinzipim Horizont knstlerischer Produktion keineswegs immer trenn-bar, im Gegenteil leicht verwechselbar. Im allgemeinen kanndie semantische Information durch das berlagern einer stheti-schen gesteigert werden. Die Aufgabe der Proportion semantischerund sthetischer Informationsbetrge erweist sich natrlich vorallem im Gebiete der Texte, des Funks, der Fotografie, der Tele-vision und des Films als besonders wichtig und kritisch. Insbe-sondere stellen die visuellen und die textlichen Reportagen indieser Hinsicht spezielle Anforderungen, die mit Problemen in-formationssthetischer Modulation und Demodulation zusammen-hngen. Das Problem des Moments" in den visuellen Technikenund das Problem der Aktualitt" im Gebiet der Reportagensind ja nicht nur Schwierigkeiten einer besonderen Klasse seman-tischer Information, nmlich der dokumentarischen, sondern auchder sthetischen Information, die in jeder Werbung, in jeder Re-portage mitgegeben wird.

    Im Rahmen der statistischen sthetik wird also ein Zusammen-hang zwischen Kunst als zivilisatorischer und Kunst als kosmo-logischer Erscheinungsform hergestellt. Im Sinne eines Kommuni-kationssystems ist die sthetische Information, ist Kunst Aus-druck der Zivilisation. Gebrauch und Verbrauch von Kunst sindzivilisatorische Vorgnge, und zwar erweist sich Geschmack alsKategorie des Gebrauchs, aber Kitsch als Kategorie des Verbrauchs

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  • von Kunst. Ontologisch bedeutet die Verwendung des AusdrucksInformation" nichts anderes als die Ersetzung des BegriffsGegenstand" durch einen angemesseneren, jedenfalls in dersthetischen Sphre (obgleich sein Eindringen in den physikali-schen Bereich leicht zu beobachten ist). Information" bezeichnetalso eine Seinsthematik, eine kommunikative Seinsthematik, unddie Fixierung von sthetischen Realisationen (z. B. Kunstwerken)durch statistische Zustandsgren und ihre formelmige Kom-bination bedeutet also die numerische Angabe eines statistischenund kommunikativen Seinszustandes, der nur scheinbar einemirrationalen entspricht. sthetische Realisationen werden durchstatistische Zustandsgren an Stelle irrationaler Wertmotivebeschrieben, aber das bedeutet offensichtlich nicht ihre erschp-fende, vollstndige Bestimmung, sondern gerade ihre nicht-er-schpfende, nicht-vollstndige, wenn auch individuelle Charak-teristik.Die statistische sthetik bringt also zur Analyse und Interpreta-tion eines Kunstwerks die drei Begriffe Innovation, Informationund Kommunikation bei, je nachdem ob sie die Originalitt, dieOrdnung der Zeichen oder die zu ihrer Konstituierung und Kom-bination verbrauchten Wahlakte oder Entscheidungen, also dieschpferische Freiheit ins Auge fat. Sie sieht in jenen drei Be-griffen die drei Phasen eines einzigen Prozesses ausgedrckt, densie sthetische Realisation oder einfach Realisation nennt. In jederRealisation korrespondieren natrlich materielle und nichtmate-rielle Elemente; auf keines kann verzichtet werden, ohne da dergesamte Proze in Frage gestellt wrde.Was ist damit erreicht? Es ist damit erreicht, da in der Analyseund Interpretation eines Kunstwerks die alte kategoriale Diffe-renz zwischen Inhalt und Form, von der die klassischen stheti-ken und Kunsttheorien der traditionellen Geisteswissenschaftenimmer noch leben, in den Hintergrund tritt. Form und Inhalthren auf, eine magebende, verbindliche kategoriale Rolle zuspielen, und was hervortritt, ist die tiefer liegende, wesentlichereund umfassendere, im strengen Sinne auch angemessenere demHorizont des Machens angemessenere Kategorie der Ent-stehung, des Prozesses, der Produktion des Kunstwerks, eben diestatistische selektive Realisation. Es ist etwa das, was VaUrysPoetik als conquete methodique", als instant de la Separation"

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  • bezeichnete, Ferdinand Lions sthetische Selektion", und sie stelltden gesamten Betrag an Information, den das Kunstwerk ber-haupt zu geben vermag; es ist das, was Louis Couffignal einecombinaison d'informations" nennt, une Operation ideale", derrealiter nur Approximationen entsprechen knnen.Es ist klar, entwickelt an der Kategorie seiner Realisation, wirdder sthetische Effekt zweifellos in Richtung des Artistischen ver-schoben. Man dringt in die Vorstadien der sthetischen Realisationdes Kunstwerks ein und fllt die Konfinien zwischen Kunst undTechnik, zwischen Kunst und Natur mit jenen schpferischen undvorschpferischen Partialprozessen aus, die ganz allgemein alsApproximationen an Kunst berhaupt aufzufassen sind. Das arti-stische Moment der Kunst erweist sich also als ihr essentielles, ihressentielles als statistisches. Das darf nicht berraschen Ich habe inaesthetica II" und in aesthetica III" darauf hingewiesen, dader sthetische Proze, heute deutlicher denn je, die nachrichten-technischen Schemata der Information und der Kommunikationmanipuliert. Es hat sich gezeigt, da diese technisch und mathe-matisch przisierbaren Begriffe auch sthetisch tief liegen und eineweitreichende Bedeutung haben; sie enthllen die statistische Naturdes sthetischen Prozesses und den Wahrscheinlichkeitscharakterdes Kunstwerks.Der Angelpunkt ist, da Innovation das entscheidende Momentder Information ausmacht. Nur Information, die neu ist, ist wirk-liche Information. Neu jedoch im Sinne von unvorhergesehen,unerwartet, berraschend, ja unwahrscheinlich. Am schrfsten for-mulierte diesen Sinn des Begriffs wohl D. W. Hershberger, wenner in seinen Principles of Communication Systems" (1957) sagt,the essence of Information is unpredicability". Tatschlich, Un-vorhersehbarkeit, ja Unvorstellbarkeit gehren wesentlich zurKunst; die berraschenden, unerwarteten, unwahrscheinlichen Zgeeines Kunstwerks bestimmen offensichtlich seinen sthetischenCharakter. Der Ausgang eines sthetischen Prozesses ist immerungewi.Mit der grundstzlichen Unwahrscheinlichkeit sthetischer Realitthngt es zusammen, da Kunstwerke nur realiter, nicht idealiterexistieren knnen und da sie wahrnehmbar, aber nicht vor-stellbar sind; nur der Proze der effektiven Realisationentscheidet somit ber ihr Sein. Information, zu deren Wesen

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  • Charaktere der Unwahrscheinlichkeit und berraschung gehren,bedarf also zur Realisation und zur Apperzeption eines Ballastes,einer Redundanz, die die Unwahrscheinlichkeit und die ber-raschung nicht beliebig hoch werden lassen. Mag die Originalitteines Kunstwerks von seiner Information her bestimmt sein, waswir seinen Stil nennen, ist zweifellos eine Wirkung der Redun-danz. In seiner Information transzendiert ein Kunstwerk die auf-gewendete Materialitt und Mechanik, in seiner Redundanz be-sttigt und bettigt es sie.Man kann im Versuch einer metaphysischen Begrndung der Re-alisation als der eigentlichen, fundamentalen Kategorie stheti-scher Analysis und Interpretation auf Whitehead zurckgreifen.Sein Essay in Cosmology" trgt nicht ohne Grund den TitelProcess and Reality". In Victor Lowes Darstellung bilden crea-tivity, eternal objects, actual occasions und prehensions dieGrundbegriffe whiteheadscher Kosmologie. Ich wrde realisationhinzufgen. Es tritt dann deutlicher hervor, da die whitehead-sche Kosmologie nicht nur einen metaphysischen, sondern aucheinen sthetischen Aspekt besitzt. Die Verknpfung zwischen denkosmologischen und sthetischen Momenten luft ber die Be-griffe pattern und value. Value hat fast schon den Charakterder Information und pattern den Charakter der Redundanz.Realisation therefore is in itself the attainment of value"lautet eine Formulierung in Science and Modern World"; Everyart is founded on the study of pattern" heit es in Mathematicsand the Good".Aber die Einfhrung der Realisation als konstituierende Kate-gorie sthetischer Information und Kommunikation bedeutet nichtnur eine neue Art der Analysis und Interpretation der Kunst;als fundamentale Kategorie des Machens reflektiert sie auf Stil-bildung und berlt diese Reflexion keineswegs den alten Form-und Inhalts-Kategorien. Stil aus der Idee der Realisation hatdie Tendenz, Stil, der aus Form- und Inhaltsforderungen stammt,zu suspendieren. Darber knnen sthetische Untersuchungen desImpressionismus und Expressionismus, der Ecriture automatiqueund der tachistischen Malerei belehren. Festzuhalten ist in diesemZusammenhang auch, da Kunst, vom Standpunkt ihrer Reali-sation aus betrachtet, zweifellos vorwiegend eine Angelegenheit desIntellekts, weniger der Emotion ist, und es scheint, da Kunst fr

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  • die Interessen des Intellekts eben doch tiefer liegt als fr die Inter-essen der Emotion. In diesem Falle hat sie es zur Erkenntnis undzum Genu ntig, da ihre Gebilde in einem leichten, hintergrn-digen Drahtgeflecht aus Theorien aufgehngt werden. Man darfsich darber nicht tuschen. Die Betrachtung der Kunst vom Stand-punkt ihrer Realisation ist selbstverstndlich eine zivilisatorische;die Ausntzung der Begriffe Information und Kommunikation alsSchemata ihres Sinns und ihres Seins deutet zugleich auch ihreFunktion innerhalb der Zivilisation an.Die Kategorie der Realisation, angewendet im Bereich der sthe-tischen Produktion, klrt damit auch ihr Verhltnis zumkosmologischen Proze der Natur. Ecriture automatique undtachistische Malerei sind ausgezeichnete Beispiele fr dieses Fak-tum. Der Zerfall traditioneller Form- und Inhaltsvorstellungen istfr beide kennzeichnend. Das Hervortreten der Realisationsideeebenfalls. Allerdings ist sie in der Ecriture automatique psychischund im Tachismus physisch orientiert. Deutlich ist das Eindringenin den somatischen und dynamischen Bereich, die Fixierung in derkosmologischen Sphre, eine zweifache Form der Regression derInformation und Kommunikation.Es war von Realisation die Rede, also von Realitt, die wird. Of-fenbar entsteht dadurch ein Begriff von Realitt, der nicht wie dertraditionelle der identisch-eine ist. Ich hatte in aethetica I" be-reits den Ausdruck Mitrealitt" als spezifischen Modus stheti-scher Wirklichkeit eingefhrt. Zur Feinstruktur dieser sthetischenWirklichkeit wird man durch berlegungen gefhrt, die zu einemTeil aus der Physik (Henry Margenau, The Nature of PhysicalReality, 1950) zum anderen aus der Historie (Patrick Gardiner,The Nature of Historical Explanation, 1953) stammen. Die Un-terscheidung zwischen einer Realitt als Geschichte und einer Re-alitt als Natur begnstigt ihre berschneidung im statistischenBereich der Mikrophysik, in der das Elektron, wie bekannt, nureine wahrscheinliche, nicht adquat identifizierbare Gre ist, alsonur den statistischen Rang eines Wahrscheinlichkeitsverlaufs be-sitzt, der auch das Signum der historischen Realitt nicht entbehrt.Doch bleibt dieses wahrscheinliche Elektron im Horizont desGegebenen. Mir scheint jedoch, da im Unterschied dazu etwa einwahrscheinlicher Text seine Historie im Horizont des Gemachtengewinnt, so da eine Gabelung der historischen Realitt angenom-

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  • men werden mu. Offensichtlich dringt die Kunst, die sthetischeMitrealitt, als eine dritte Art von Realitt zwischen die derNatur und die der Geschichte ein. Fat man Realitt im Sinneder Realisation auf, so knnte das bedeuten, da es eine Gren-ordnung fr Realisationsbetrge gibt, die Innovationen entspre-chen und die zwischen den Grenordnungen der Betrge fr kos-mologische Realisation einerseits und historischer Realisation ande-rerseits liegen. sthetische Realisationen knnen also nur Prozessebezeichnen, deren Betrge zwischen den Realisationen der Naturund den Realisationen der Geschichte statistisch schwanken. Damithngt zusammen, da ein statistisches Partikel der Mikrophysiksozusagen das stochastische Dasein eines sthetischen Gebildes zufhren vermag oder ein Kunstwerk in seiner mikrosthetischenStruktur den Habitus einer physikalischen Natur annehmen kann,whrend die Realitt beider, des wahrscheinlichen Elektrons wiedes wahrscheinlichen Textes, letztlich nur historisch (in einemallgemeinen Sinne) gedeutet werden kann.Sofern nun jeder Informationsflu also ein Zeichenflu istund jedes Zeichen eine syntaktische, semantische oder prag-matische Funktion besitzt, kann man natrlich leicht von syntak-tischer, semantischer und pragmatischer Information sprechen undsie geeignet definieren. Moles unterscheidet etwas summarischzwischen semantischer und sthetischer Information. Um die Un-terschiede zwischen wissenschaftlicher und knstlerischer Infor-mation deutlicher hervortreten zu lassen, differenzieren wirzunchst zwischen dokumentarischer, semantischer und stheti-scher Information. Jetzt geht der Mond auf" stellt in dieserKlassifikation eine dokumentarische Information dar, eine Ob-servable, einen empirischen Satz, fast von der Art eines Protokoll-satzes. , Jetzt geht der Mond auf ist wahr" bedeutet hin-gegen eine semantische Information; aber Der Mond istaufgegangen" als Verszeile ist eine sthetische Information undzwar im Hinblik auf Rhythmus und Metrum, also im Hinblickauf ihre Stellung im Claudiusschen Gedicht. Man beobachtetleicht, da die semantische Information wesentlich auf einerTranszendierung der dokumentarischen beruht, der Horizont derBeobachtung wird berschritten, wenn gesagt wird, da es sichbei der Information um eine Wahrheit handelt oder die In-formation, da es sich um eine Wahrheit handelt, bringt etwas

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  • weiteres zum Faktum der Beobachtung bei, das selbst nichtbeobachtbar ist. Im gleichen Sinne transzendiert, was Unvorher-sehbarkeit, berraschung, Unwahrscheinlichkeit der Anordnungder Zeichen betrifft, die sthetische Information wesentlich die se-mantische. Darber hinaus wird auch deutlich, da die Empfind-lichkeit gegenber Strungen und Zerstrungen bei der dokumen-tarischen Information am kleinsten, bei der sthetischen Infor-mation aber am grten ist. Die Fragilitt der Information, sosagen wir, wchst von der dokumentarischen zur sthetischen In-formation an, und da die Faszination der Kunstwerke nichtzuletzt auf ihrer Fragilitt beruht, ist oft bemerkt worden. Zur Re-dundanz einer Information gehren nun alle diejenigen Anteile, dienach der partiellen Zerstrung der Information ohne weiteres wie-derhergestellt werden knnen, weil sie gleichsam vorhersehbar, ab-leitbar aus den Resten sind. Im Verhltnis zu einer dokumentari-schen oder einer semantischen Information ist in der sthetischenInformation die Redundanz relativ am kleinsten, das heit die Dif-ferenz zwischen maximal mglicher (sthetischer) und tatschlichrealisierter (sthetischer) Information ist beim Kunstwerk immerdie kleinste. Damit hngt die mindestens prinzipielle Nicht-Wie-derherstellbarkeit zerstrter Kunstwerke zusammen. Auchkann man nicht von einem sthetischen Code im Verhltnis zueinem semantischen sprechen, in dem eine Information gegebenwird. Eine dokumentarische oder semantische Information wieJetzt geht der Mond auf" kann in verschiedenen Codierungen,Sprachen, Zeichensystemen usw. gegeben werden. Eine sthetischeInformation bleibt ihrem Wesen, ihrer Funktion nach an ihreMittel, an ihre singulre Realisierung gebunden. Die Informa-tionsbetrge einer sthetischen Information sind in jedem FalleRealisationsbetrge, daher mindestens im Prinzip auch unber-setzbar. Der Mond ist aufgegangen / die goldnen Sternlein pran-gen / am Himmel hell und klar." Ist in einer anderen Spracheeine andere sthetische Information, wenn auch die gleiche seman-tische. brigens folgt aus diesen Kennzeichnungen auch, da diesthetische Information nicht semantisch interpretiert werdenkann.Zur Redundanz gehrt natrlich die Wiederholung. Es ist klar:was wiederholt wurde, kann rekonstruiert werden und wasrekonstruiert werden kann, ist prinzipiell apperzerpierbar, und oft

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  • ist sthetische Information nur dadurch als solche apperzerpier-bar, da sie eine Redundanz besitzt, die auf der Wiederholungberuht. In dieser Hinsicht sind in der Poesie nicht nur Metrumund Rhythmus Phnomene der Redundanz, sondern auch derReim, und da in der sthetischen Information der Poesie dieDifferenz zwischen maximaler (denkbarer) und tatschlicher(realisierter) Information die kleinste ist, wird deutlich am Reimsichtbar. Die Schnheit der Zeile Der Mond ist aufgegangen"wird als solche erst apperzipierbar durch den Reim in der nch-sten Zeile Die goldnen Sternlein prangen" und dieser Reimstellt eine Wiederholungs-Redundanz der ersten Zeile dar, die sichauf ein Minimum in ihr, nmlich blo auf die Endung angen"erstreckt. Schon diese minimale Redundanz (des Reims) gengt,um die erste Zeile und die zweite Zeile als sthetische Informationoffenbar werden zu lassen. Selbstverstndlich kann man die Re-dundanz, die Breite der Wiederholung auch grer werden lassen.Es tritt dann, z. B. in Texten Gertrude Steins, der eigentmlicheEffekt auf, da triviale Informationen sich als sthetische ent-hllen.

    Money is what words are.Words are what money is.Is money what words areAre words what money is."

    Es ist ganz klar, da Redundanz also den Betrag der sthetischenInformation im Proze ihrer Realisierung vermindert, die ur-sprngliche Originalitt also verringert, aber dadurch gerade diesesthetische Information zu einem Stilprinzip entwickeln kann.Stil in der Kunst beruht auf den Redundanzen der ursprnglichensthetischen Information. Nur was an ihr redundant ist, kannberhaupt in Stil umgesetzt werden. In dieser Hinsicht, da er dieUnvorhersehbarkeit, die Unwahrscheinlichkeit in der Schpfungvermindert, entspricht der Stil in der Kunst dem, was man in derWissenschaft Methode nennt. Je mehr Methode, desto weniger Un-vorhersehbares in der wissenschaftlichen Information.Man mu sich klarmachen, da sthetische und nichtsthetische(semantische) Information sich nicht nur durch Art und Grad derstatistischen Unwahrscheinlichkeiten im Auftreten und in der Ver-teilung der sthetisch wirksamen Elemente unterscheiden. Auch dasSystem der zur sthetischen Wahrnehmung notwendigen Redun-

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  • danz ist verschieden von dem, das in der gewhnlichen Wahrneh-mung vorausgesetzt wird. Im allgemeinen unterscheiden sichsthetische und semantische Information nur durch geringe stati-stische Verschiebungen. Eine minimale Vernderung in den stati-stischen Verhltnissen kann unter Umstnden eine triviale in einesthetische Information berfhren. In solchen Fllen ist der fra-gile statistische Bau einer sthetischen Information nur apperzi-pierbar vermittels einer ebenso empfindlichen Redundanz. Jeden-falls ist das Verhltnis maximal mglicher sthetischer Informationzu faktisch realisierten und wahrnehmbaren sthetischen Informa-tionen in diesem Bereich anders als im Bereich des Semantischen.Die Beziehung zwischen sthetischer Information und entsprechen-der sthetischer Redundanz ist relativer, labiler und differenzier-ter. Wahrscheinlich sind in bezug auf die Apperzeption stheti-scher Informationen die aufgewendeten Redundanzen immer sehrklein. Damit hngt zusammen, da Ch. Morris und S. Langer im-mer wieder betonen, da Kunst keine Sprache im blichen Sinne sei,der knstlerische Zeichenproze als keinen sprachlichen darstelle.Natrlich ist das auf Grund der Informationssthetik nur be-schrnkt richtig. Wenn Sprache Ausdruck und Darstellung ist, soist Kunst zweifellos Sprache, Sprache, deren Ausdruckssystem undDarstellungssystem zwar sehr wenig festgelegt ist im Vergleichzu den Festlegungen in der Umgangssprache. Dennoch ist nochgenug Redundanz vorhanden, um das zu fixieren, was man Stilnennt. Stil ist aber ein Identifizierungsmittel fr Kunstwerke, erdient der Erkennbarkeit sthetischer Information, ist also einTransportmittel, sofern er ja diese sthetische Information ber-trgt. Sofern also Stil der Apperzeption sthetischer Informationdient, verweist sie auf ihre Mitteilbarkeit, also auf die drittesprachliche Funktion neben Ausdruck und Darstellung.Seit William Empsons Buch Seven Types of Ambiguity" (1931)spielt der Begriff ambiguity im Sinne von Zweideutigkeit, Dop-pelsinnigkeit usw. eine Rolle in der angelschsischen Literatur-theorie; man tut allerdings gut, diesen Ausdruck auf Zeichen(also auf die syntaktische, semantische oder pragmatische Zei-chenfunktion bzw. auf Ikon, Symbol und Index) zu beziehenund ihm etwas allgemeiner den Sinn von statistischer Plastizittim Sinne statistischer Schwankung zu unterlegen und dann vonder Plastizitt von Zeichen, von Zeichen-Plastizitt zu sprechen.

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  • Zweifellos gehrt diese Plastizitt zur artistisdien und tedinisdienNatur der Zeichen, sie erleichtert und begnstigt nicht nur ihreFunktion, sie ermglicht sie sogar erst. A. Kaplan und E. Krisheben daher mit Recht in ihrem Artikel ber Esthetic Am-biguity" (1948) hervor: ambiguity is not a disease of langua-ge but an aspect of its life-process . . . a necessary consequence ofits adaptability to varied contexts". Offenbar hat also die Zei-chen-Plastizitt eine kommunikative Bedeutung im Aufbau dersthetischen Information. Aber jede aufgebaute sthetische Infor-mation legt natrlich kommunikativ, also im Kontext, die sthe-tischen Zeichen realiter fest. Der Realisationsproze einer stheti-schen Information erweist sich als ein Zeichenproze, der die ur-sprngliche Plastizitt der Zeichen verbraucht, erstarren lt, aus-kristallisiert. Die Entstehung der sthetischen Information grndetalso einerseits in der statistischen Plastizitt der Zeichenhufigkeit,andererseits gehrt das Abschtteln der Mehrdeutigkeit, der am-biguity, aber zum Proze der semantischen Information. So ge-sehen geben also sthetische Information und semantische Infor-mation gewisse einander ausschlieende Zge an einemi Kunstwerkwieder.Um zusammenzufassen, lt sich jetzt Folgendes sagen: Kunst-werke sind Objekte in einem relativ unwahrscheinlichen Zustand.Diesen Zustand kann man als sthetischen Zustand bezeichnen.Als Objekte sind die Kunstwerke somit Trger einer aus Ele-menten (Zeichen) aufgebauten und besonders selektierten Vertei-lung. Diese selektierte Exzentrizitt kann als sthetische Infor-mation aufgefat werden, denn sie ist repertoirebezogen undzeigt kommunikative Wirkungen. Die statistische Beschreibungauf Grund von Hufigkeitsangaben, die sich auf Auswahl, Ver-teilung bzw. Gliederung der Elemente und Zusammenfassungenvon Elementen etc. bezieht, gibt numerische Indizes an, die dieseSelektion hoher Exzentrizitt vergleichsweise erkennbar macht.Alle im Prinzip statistisch vorgehenden Prozesse, die sich an einemselektierbaren Material abspielen, die repertoirebezogen in dersogenannten Schpfung" und bertragungsabhngig in der soge-nannten Wirkung" sind, haben die Chance, sthetischer Prozezu sein.

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  • Exkurs ber Walter Benjamin und Ludwig WittgensteinMan wird im Rahmen der deutschen Sprache gleichzeitigauf Walter Benjamin und Ludwig Wittgenstein zurckgreifenmssen, wenn man sich von der Praxis der Texte als der Praxiseiner Theorie her Zugang verschaffen will zu jenem allge-meineren Begriff von Information, der einerseits aus dem kon-kreten der Umgangssprache und andererseits aus dem abstrak-ten der Wissenschaften gewonnen werden kann. Ich meine alsojenen Begriff von Information, der sowohl die logische wie auchdie sthetische Seite der Sprache und der Texte beeinflut. Vorallem durch das, was man Information nennt, wird ja der Wort-aspekt der Sprache ein Weltaspekt, ihre Zeichenthematik eineSeinsthematik. Man ist geneigt, auf Karl Kraus zu verweisen,aber uns scheint, da weder seine Theorie noch seine Praxis,weder seine Kritik noch seine Polemik sich ausreichend von inne-ren Unruhen befreit haben, um auf die Dauer klar und berzeu-gend zu bleiben.Beide, Walter Benjamin und Ludwig Wittgenstein, haben sichabstrakte Vorstellungen ber Sprache gemacht, denen mindestensim Prinzip konkrete Verwirklichungen entsprechen knnen. Ak-tuale Theorien im Sinne potentieller Texte. Man gewinnt sehrschnell den Eindruck, da dies beiden vorgeschwebt hat. Wasdie Theorie betrifft, so denke ich bei Benjamin an ber dieSprache", an ber einige Motive bei Baudelaire" und an Ur-sprung des deutschen Trauerspiels"; was die verwirklichten Texteangeht, so nenne ich diese Arbeiten selbst, dann aber vor allemEinbahnstrae", Berliner Kindheit", Paris, die Hauptstadtdes XIX. Jahrhunderts" und kleinere Lesestcke" wie Moskau",Neapel" und dergl. Bei Ludwig Wittgenstein mu man sich,was Theorie und Text anbetrifft, natrlich gleichermaen aufden Traktat" und die Untersuchungen" beziehen. Ich sprecheselbstverstndlich nicht von persnlichen, historischen Beziehun-gen, ich meine nur systematische Zusammenhnge, Zusammen-hnge in den Prinzipien und in ihren Verifikationen,Sprache als Ereignis im Universum, Sprache als zugleich phno-menologische wie kosmologische Aktion, Sprache als in jedemFalle seins- oder nichtseinssetzende Kraft, Benennung als Ver-wirklichung oder als Aufhebung, das bezeichnet wohl fr beide

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  • den Grund, auf dem sie ihre subtilen berlegungen entwickelten,der eine mehr in logischer, der andere mehr in rhetorischer Rich-tung. Es handelt sich also nicht um eine Metaphysik, die manbei diesem oder jenem auftauchen sieht. Bei dem einen zerstrtder Sinn der Logik, bei dem anderen der Sinn der Rhetorikdiese eminente Gefahr, in der sich jeder befindet, der berSprache nachdenkt. Deshalb auch keine Erinnerung an KarlKraus. Die Reinheit seiner Grammatik und die Stringenz seinerSchlsse sind ebenso eine Tuschung wie die Schnheit seinesStils. Sie werden bestndig von metaphysischen Eitelkeiten heim-gesucht, die die Substanz dem Detail zum Opfer bringen. Klein-brgern in der Polytechnik der Prosa. Ich glaube Albert Ehren-stein hat sie ihm schon vorgeworfen.Texte, wie sie in jeder fortgeschrittenen Zivilisation, in der dieRealitt strker ihren technischen als ihren natrlichen Zustanderweist, gebraucht und verbraucht werden, von der Werbung biszur Unterhaltung, von der Nachricht bis zur Reportage, vomRezept bis zur Literatur, haben zur Kommunikation keine meta-physischen, wohl aber logische und rhetorische Energien ntig.Das Verhltnis von Information und Propaganda, das so leichtzu einem Miverhltnis wird, beruht in starkem Mae auf denProportionen zwischen logischen und rhetorischen Mitteln oderauf ihrem Zerfall. Man wird nicht leugnen knnen, da diegroen kommunikativen Bewegungen unseres Typs von Zivili-sation auf Information und Propaganda beruhen. Folgerichtighaben Walter Benjamin und Ludwig Wittgenstein das metaphy-sische Zeugnis durch den Syllogismus und durch den Topos er-setzt. Im Bereich der Sprache ist aber der Schnittpunkt von Syl-logistik und Topik stets ein sthetischer Ort.Indem man zwischen mikrolinguistischen und makrolinguisti-schen Mitteln unterscheidet, bemerkt man wie sehr auf der einenSeite der Schlu und auf der anderen Seite der Topos die makro-linguistische Gestalt eines Textes mikrolinguistisch aufarbeitet.Und wiederum auch hier keine Erinnerung an Karl Kraus. Seinemikrolinguistische Aufarbeitung der Texte hat noch in denmeisten Fllen einen makrolinguistischen Sprachleib zerstrt,ganz davon zu schweigen, da er sinnlicher und wahrnehmbarergeworden wre. Hier ist brigens Gelegenheit, darauf hinzuweisen,da ein Topos immer strker die Gestalt, die Ganzheit eines

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  • Textes betont, whrend der Schlu die Struktur hervorhebt. Indiesem Sinne schreibt Wittgenstein: Denn, ist das Ding durchnichts hervorgehoben, so kann ich es nicht hervorheben, denn sonstist es eben hervorgehoben". Benjamin: Im Spalt des kaum ge-ffneten Speiseschranks drang meine Hand wie ein Liebenderdurch die Nacht vor. War sie dann in der Finsternis zu Hause,tastete sie nach Zucker oder Mandeln, nach Sultaninen oderEingemachtem."Fr Walter Benjamin ist jede Mitteilung geistiger Inhalte . . .Sprache", wie es in ber Sprache berhaupt und ber dieSprache des Menschen" heit. Sprache ist ein auf Mitteilunggeistiger Inhalte" gerichtetes Prinzip. Diese Wiederholung be-tont die Funktion der Mitteilung. Diese Funktion ist universell.Jeder Ausdruck, der geistige Inhalte mitteilt, ist Sprache. Lud-wig Wittgenstein geht nicht so weit. In den Philosophischen Un-tersuchungen", wo deutlicher von der Sprache als von den Stzenwie im Traktat" die Rede ist, wird erklrt, da nicht alles, waswir Sprache nennen, der Verstndigung" dient. Zweifellos gehtaber der Verstndigung die Mitteilung voran. Wenn nicht allesder Verstndigung dient, dient auch nicht alles der Mitteilung.Und so fgt Wittgenstein der Funktion der Verstndigung nochdie Funktion des Spiels hinzu. Im Traktat" wird die kosmolo-gische Rolle der Sprache unter dem Aspekt der Zeichen, des Aus-drucks, der Darstellung gesehen. In den Untersuchungen" er-scheint die Sprache als Sprachspiel".Walter Benjamin unterscheidet genau zwischen der mitteilendenSprache und dem geistigen Wesen, das sie mitteilt. Die Unter-scheidung zwischen dem geistigen Wesen und dem sprachlichen,in dem es mitteilt, ist die ursprnglichste in einer sprachtheo-retischen Untersuchung . . . " Die Sache verschrft sich in der For-mulierung: Es ist fundamental zu wissen, da dieses geistigeWesen sich in der Sprache mitteilt und nicht durch die Sprache."Bei Ludwig Wittgenstein heit das: Was sich in der Spracheausdrckt, knnen wir nicht durch sie ausdrcken . . . Was ge-zeigt werden kann, kann nicht gesagt werden." Aber bei beidenwerden die Klfte