12
Literatur Bernward Gesang/Julius Schälike (Hg.): Die großen Kontroversen der Rechtsphilosophie (Detlef Horster) 428 Nico Krisch: Beyond Constitutionalism: The Pluralist Structure of Postnational Law (Felix Ekardt) 429 Ioannis Gkountis: Autonomie und strafrechtlicher Paternalismus (Michael Kubiciel) 431 Scott Shapiro: Legality (Michel de Araujo Kurth) 433

Bernward Gesang/Julius Schälike Nico Krisch Ioannis ...€¦ · diesmal Martin Kriele, der meint, dass das Recht mit Moral angereichert werden müs-se. Und nun ist Hoerster in seinem

  • Upload
    others

  • View
    0

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Bernward Gesang/Julius Schälike Nico Krisch Ioannis ...€¦ · diesmal Martin Kriele, der meint, dass das Recht mit Moral angereichert werden müs-se. Und nun ist Hoerster in seinem

Literatur

Bernward Gesang/Julius Schälike (Hg.): Die großen Kontroversen der Rechtsphilosophie (Detlef Horster) 428

Nico Krisch: Beyond Constitutionalism: The Pluralist Structure of Postnational Law (Felix Ekardt) 429

Ioannis Gkountis: Autonomie und strafrechtlicher Paternalismus (Michael Kubiciel) 431

Scott Shapiro: Legality (Michel de Araujo Kurth) 433

Page 2: Bernward Gesang/Julius Schälike Nico Krisch Ioannis ...€¦ · diesmal Martin Kriele, der meint, dass das Recht mit Moral angereichert werden müs-se. Und nun ist Hoerster in seinem

ARSP (Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie), Band 98/2 (2012)© Franz Steiner Verlag, Stuttgart

BERNWARD GESANG/JULIUS SCHÄLIKE (Hg.). Die großen Kontroversen der Rechtsphilo-sophie, Paderborn, Verlag 2011, 200 S.

gerecht, d. h. konkret, dass die Gerechtigkeit des Rechts in seinen Verfahrensstandards liegt. Die Gleichheit der Chance, befriedigende Entscheidungen zu erhalten, tritt für Hart an die Stelle einer Gerechtigkeitsidee. „In der bloßen Vorstellung von der Anwendung einer generellen Regel liegt der Keim der Gerechtig-keit“, sagt Hart. Englische und amerikanische Juristen nennen die Verfahrensstandards „natürliche Gerechtigkeit“. In den Verfahrens-standards liegt nach Hart die innere Sittlichkeit des Rechts. Wichtig dabei ist, dass auch die Rechtssetzung mittels Standards, denen Ge-rechtigkeit inhärent ist, verfährt. Demnach ist für Hart das Recht der Nazis kein Recht, weil das parlamentarische Verfahren nur Fassade war. Das Recht wurde de facto verfügt und der Maßstab, ob es sich um Recht handelte, war bei den Nazis der üblicherweise willkür-lich auszulegende Führerwillen. Das Recht wurde so zum Mittel der Durchsetzung des Führerwillens. Demgegenüber ließ Kelsen sich auf folgende Weise ein: „Vom Standpunkt der Rechtswissenschaft ist das Recht unter der Naziherrschaft ein Recht. Wir können es bedauern, aber wir können nicht leugnen, daß das Recht war.“

Statt nun die Kontroverse durch diese bedeutenden Rechtsphilosophen vertreten zu lassen, geben die Herausgeber Norbert Hoerster Raum, sich seiner Lieblingsbeschäf-tigung, der Fehde mit der Religion, zu widmen. Der personifi zierte Gegner von Hoerster ist diesmal Martin Kriele, der meint, dass das Recht mit Moral angereichert werden müs-se. Und nun ist Hoerster in seinem Element. Sein Zynismus kennt kein Halten mehr, wenn er rhetorisch fragt, woher man denn wisse, was die richtige Moral sei. Kriele wisse das und „es spricht […] für die Unangepasstheit und Originalität von Martin Kriele, dass er in den letzten Jahren eine ebenso neue wie faszinierende Sichtweise der Moralbegrün-dung vorgelegt hat. Kriele stützt nämlich sein

Es ist äußerst verdienstvoll, sich dieser Thematik zu widmen, die dem Buch den Titel gibt. Die von den Herausgebern ausge-wählten Kontroversen sind: 1. Naturrecht und Rechtspositivismus, 2. Menschenwürde und Menschenrechte, 3. Gesetze und Einzelfälle, 4. Rechtfertigung staatlichen Strafens. Der Überblick über diese vier Themenfelder, den die Herausgeber in ihrer Einleitung geben, be-steht aus Zusammenfassungen der Beiträge in dem Buch. Diese Resümees sind allerdings so komprimiert, dass sie für den Leser nur mit Mühe zu verstehen sind. Da hat er es mit den Beiträgen selbst schon wesentlich leichter. Man fragt sich deshalb, warum das, was im Buch sowieso steht, auch noch in der Einlei-tung zusammengefasst werden muss. Besser wäre es sicher gewesen, wenn beispielsweise das Spektrum der disparaten Theorien des Rechtspositivismus systematisch entfaltet worden wäre, denn nicht allein die Position von Norbert Hoerster, die den Rechtspositivismus in diesem Buch präsentiert, gibt es. Schon eine Darstellung der Unterschiede zwischen den Positionen von Hans Kelsen und von Herbert Lionel Adolphus Hart hätte zeigen können, wie unterschiedlich die Theorien sind, die unter dem Rubrum des Rechtspositivismus fi rmieren.

Auch fragt man sich, nach welchen Krite-rien die Repräsentanten der verschiedenen Positionen ausgewählt worden sind. Bleiben wir beim Rechtspositivismus. Sicher ist Norbert Hoerster einer ihrer Vertreter. Doch wären hier wiederum die beiden oben Genannten repräsentativer für den Rechtspositivismus gewesen, zumal, wenn es um die Frage geht, ob das Recht nur dann Recht ist, wenn es mit einer Gerechtigkeitsidee unterfüttert wird. Gerade in dieser Hinsicht vertritt der Rechtspo-sitivist Hart eine bemerkenswerte Auffassung: Dem Recht müsse nicht erst eine Gerechtig-keitsidee hinzugefügt oder unterlegt werden, sondern es sei seiner Struktur nach bereits

Literatur

Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012

Page 3: Bernward Gesang/Julius Schälike Nico Krisch Ioannis ...€¦ · diesmal Martin Kriele, der meint, dass das Recht mit Moral angereichert werden müs-se. Und nun ist Hoerster in seinem

429Rezensionen

ARSP (Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie), Band 98/2 (2012)© Franz Steiner Verlag, Stuttgart

NICO KRISCH. Beyond Constitutionalism: The Pluralist Structure of Postnational Law, Oxford University Press, Oxford 2010, 358 S., 100 $

Die Forschungstätigkeit deutscher Rechtsphi-losophen, sofern sie in der Jurisprudenz ihren berufl ichen Sitz haben, konzentriert sich seit längerer Zeit vor allem auf historisch imprä-gnierte Themen. Aristoteles, Kant, Hobbes, Kelsen, Radbruch oder Hart werden immer wieder analysiert, und wenn eine eigene Positionierung gewagt wird, so häufi g in Aus-einandersetzung bzw. in Ableitung bezogen auf jene wahrgenommenen Klassiker. Verloren geht dabei teilweise der Bezug zu zentralen aktuellen Fragen der Rechtsphilosophie/ po-litischen Philosophie/ Gerechtigkeitstheorie, wie sie aufgrund des Sprachvorteils internati-onal vor allem unter starker angelsächsischer Mitwirkung geführt werden. Viele dieser Kontroversen beziehen sich dabei auf das transnationale Recht und seine theoretischen Grundlagen.1 Dem widmet sich auch das hier

anzuzeigende Werk von Nico Krisch, der zwar aus Deutschland stammt, aber lange Jahre im angelsächsischen Ausland tätig gewesen ist.

Krisch widmet sich der Frage, inwieweit rechtsinterpretativ (Krisch sagt „analytisch“) und auch rechtsphilosophisch (Krisch sagt „normativ“) ein konstitutionelles oder eher ein pluralistisches Verständnis des transnati-onalen Rechts zutreffend erscheint. Damit ist nicht direkt die Frage nach dem Univer-salismus gemeint; denn Freiheit und ausba-lancierte Demokratie setzt Krisch rechtlich und rechtstheoretisch als richtigen Maßstab voraus. Seine Fragestellung lautet jedoch, ob das aus Aufklärung und Nationalstaatlichkeit herrührende Verfassungsdenken auf die trans-nationalen Beziehungen übertragen werden dürfe – oder ob hierzu eine „pluralistische“ Alternative gesucht werden müsse. Damit

1 Vgl. zu einigen Fragen – auch zum Nachstehenden – Ekardt, Theorie der Nachhaltigkeit: Rechtliche, ethische und politische Zugänge, 2011.

Konzept der ‚Menschenwürde’ nun nicht mehr [wie früher] auf die ‚lebendige Sittlichkeit’, son-dern auf ‚Gott oder jedenfalls eine himmlische Instanz’. Den notwendigen Zugang zu dieser ‚himmlischen Instanz’ verschafft ihm dabei ein durch seine Gattin Alexa Kriele vermittelter, re-gelmäßiger Kontakt zu Engeln, insbesondere zu dem Engel ‚Hohelehrer, einem himmlischen Meister, der im Dienst des Christus wirkt’.“ (44)

Auch bei den weiteren Themen, muss man nach den Auswahlkriterien der Herausgeber für die Beiträge fragen. Beispielsweise wird bei der Kontroverse, ob die Menschenrechte auf der Menschenwürde basieren, dem hoch differenzierten und lesenswerten Beitrag von Dieter Birnbacher der vergleichsweise schwache von Jörn Müller gegenübergestellt. Ebenso beim Thema „Gesetze und Einzelfälle“ steht dem zwar klassischen, aber schwachen Beitrag von Ernst Fuchs, einem Vertreter der Freirechtsschule, der starke und Übersicht schaffende Beitrag eines der Herausgeber, Bernward Gesang, gegenüber.

Beim Thema „Rechtfertigung des staatli-chen Strafens“ werden die Präventionstheo-

rien mit den Retributionstheorien konfrontiert. Diese Frontstellung bleibt in dem Buch unauf-gelöst, und es wird nicht auf die Vereinigungs-theorie des Bundesverfassungsgerichts einge-gangen, in dessen Entscheidung vom 21. Juni 1977 es heißt: „Sämtliche Strafzwecke sind in ein ausgewogenes Verhältnis zueinander zu bringen: Schuldausgleich, Prävention, Reso-zialisierung des Täters, Sühne und Vergeltung begangenen Unrechts.“ (BVerfGE 45, 253)

Auch vermisst man andere wichtige Kontroversen, wie die zwischen Natur- und Vernunftrecht oder die zwischen Handlungs- und Systemtheorie, also die zwischen der Habermasschen und der Luhmannschen Rechtstheorie, die mit Sicherheit eine bedeu-tende zeitgemäße Kontroverse darstellt. Man kann sich ein Buch mit dieser Thematik auch anders vorstellen.

Detlef Horster

Prof. Dr. D.H., Philosophische Fakultät der Leibniz Universität Hannover, Schloßwender Str. 1, Raum 331, 30159 Hannover

Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012

Page 4: Bernward Gesang/Julius Schälike Nico Krisch Ioannis ...€¦ · diesmal Martin Kriele, der meint, dass das Recht mit Moral angereichert werden müs-se. Und nun ist Hoerster in seinem

430 Literatur

ARSP (Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie), Band 98/2 (2012)© Franz Steiner Verlag, Stuttgart

geht es sowohl um das Rangverhältnis der Rechtsordnungen als auch um die Rangfra-ge innerhalb jeder Rechtsordnung; ebenso aufgerufen ist aber die Frage nach einem monistischen Rechtsverständnis, in welchem Rechtsfragen (zumindest im Grundsatz) ein-heitlich entschieden werden können; zuletzt geht es auch darum, inwieweit einheitliche und konstitutionelle Verhältnisse der einzige bzw. der beste Ausdruck von Freiheit oder Demokratie sind – oder eben nicht.

Nico Krischs Buch gliedert sich in drei Teile. Im ersten Teil werden gängige Positi-onen im Konstitutionalismus-Pluralismus-Streit referiert und die grundlegenden eigenen Argumente entwickelt. Die Betrachtung ist dabei ausgewogen, aber weist doch bereits deutlich in Richtung Pluralismus. Im zweiten Teil wird dies durch Betrachtung dreier spezi-eller Felder näher unterlegt; und zwar anhand des Streits der verschiedenen europäischen Verfassungsgerichte (EGMR, EuGH, BVerfG usw.); anhand des Streits um Antiterrorlisten des UN-Sicherheitsrats und ihrer Rezeption im EU-Recht und nationalen Recht; und anhand der Kontroverse um die grüne Gentechnik auf den verschiedenen Rechtsebenen und insbe-sondere im WTO-Recht. Im dritten Teil werden dann bestimmte Probleme und Einwände gegen den Pluralismus weiter vertieft, letztlich aber im Kern als unzutreffend identifi ziert. Als zentrale These wird letztlich für ein plurali-stisches transnationales Rechtsverständnis votiert, welches Konfl ikte über Rangverhält-nisse gerade nicht aufl öst, sondern dem poli-tischen Verhandlungsprozess überlässt, und statt utopischer Weltstaatstendenzen eher in der Heterarchie höchst unterschiedlicher Ak-teure den besten Schutz von Freiheit und ge-waltenteiliger Demokratie sowie einer für diese Prinzipien förderlichen Offenheit zu erblicken.

Zutreffend erscheint an Krischs Argumen-tation zunächst einmal, dass die Globalisie-rung für die nationalstaatliche Demokratie ein Problem darstellt. Ebenso treffend erscheint, dass die globale Konstitutionalisierung mit einem Weltparlament, Weltverfassungsgericht usw., sofern man jene Instanzen wiederum auf wenige Zuständigkeiten beschränkt, einen z.Zt. nur theoretisch gangbaren Ausweg weist – allein schon wegen der vielen undemokra-tischen Nationalstaaten weltweit. Dennoch

wird das konsequente Aufrechterhalten der aktuell von der herrschenden Rechtsmei-nung und der politischen Praxis propagier-ten pluralistischen Heterarchie weiterhin zu erheblichen Problemen führen. Die für das Recht im Gegensatz zur Ethik gerade cha-rakteristische hinreichende Konkretisierung und Sanktionierung im Falle der Nichtbefol-gung wird dem Pluralismus letztlich ebenso geopfert wie die klare Scheidung Recht/ Nichtrecht. Auch ist unklar, ob ein solches System wirklich dynamisch und demokratisch wirken kann – oder ob es nicht einfach, wie heute bei vielen globalen Politikfragen, zu völliger gegenseitiger Blockade führt. Ferner führt der Hinweis, eine ernstzunehmende globale Konstitutionalisierung sei letztlich uto-pisch, nicht wirklich weiter; denn auch wenn etwas schwer umzusetzen ist, könnte sich rechtsphilosophisch (und auch rechtlich in Interpretation zentraler Rechtsnormen wie der Menschenrechte) eine Verpfl ichtung ergeben, global wirksame freiheitlich-demokratische Institutionen zu schaffen. Des Weiteren liegt der Kritik am Konstitutionalismus und an der Idee der darin versinnbildlichten „einen“ Ver-nunft vielleicht eine gewisse Ausblendung der großen Abwägungsspielräume und nationalen Gestaltungsspielräume zugrunde, die auch ein globaler Konstitutionalismus selbstver-ständlich belassen müsste. Vor allem aber erscheint Folgendes wichtig: Die wichtigen lösungsbedürftigen globalen Fragen (gerade auch im Zeichen der Menschenrechte) sind ja nicht die vom juristischen Diskurs so überaus intensiv diskutierten UN-Antiterrorlisten o. ä., sondern eher Fragen wie die, wie weltweit sozial annehmbare Bedingungen hergestellt werden können, wie ein globaler Klimawan-del abgewendet werden kann, wie der glo-bale Wettlauf um schwindende Ressourcen beendet werden kann usw. Und in diesen Bereichen führt der herrschende Pluralismus aktuell zur wechselseitigen Blockade aller und zu einem Dumpingwettlauf der Staaten z. B. um die billigste, am Ende für die Menschheit aber teuerste, nämlich existenzbedrohende Klimapolitik.2

Trotz dieser – wichtigen – Kritikpunkte darf die Befassung mit dem rezensierten Werk als in jeder Hinsicht gewinnbringend bezeichnet werden. Und dies ist nicht leicht-

2 Näher zu alledem der Nachweis in Fn. 1.

Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012

Page 5: Bernward Gesang/Julius Schälike Nico Krisch Ioannis ...€¦ · diesmal Martin Kriele, der meint, dass das Recht mit Moral angereichert werden müs-se. Und nun ist Hoerster in seinem

431Rezensionen

ARSP (Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie), Band 98/2 (2012)© Franz Steiner Verlag, Stuttgart

hin gesagt in einer Zeit, wo ein infl ationäres Monographienwesen in deutlich wachsender Zahl Arbeiten hervorbringt, bei denen sich füglich bezweifeln lässt, ob man aus ihnen nennenswerten Gewinn ziehen kann. Dagegen ist das rezensierte Werk schon als Zusammen-stellung international diskutierter Positionen und Ansätze zu Grundlagen und Kritik des Verfassungsdenkens wertvoll. Vor allem aber

erscheint es in vielerlei Hinsicht originell und regt zum Weiterdenken an. Darüber hinaus ist zu bemerken, dass das Werk gut strukturiert und gut lesbar ist.

Felix Ekardt

Prof. Dr. F.E., LL.M., M.A., Leipzig

IOANNIS GKOUNTIS. Autonomie und strafrechtlicher Paternalismus, Schriften zum Strafrecht, Heft 217, Berlin 2011, 238 Seiten

Der Paternalismus hat Konjunktur. Ob beim Wertpapierkauf, im Internethandel, beim Lot-teriespiel oder bei medizinischen Fragen – in vielfältigen Situationen verlangen die Bürger nach Schutz vor unbedachten und riskanten Entscheidungen. Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie stehen dem Paternalismus hingegen skeptisch bis ablehnend gegenüber,1 scheint diese Legitimationsfi gur doch kaum vereinbar mit einer für unsere Gesellschaft und Rechtsordnung schlechthin zentralen Idee: dem Selbstbestimmungsrecht des Einzel-nen.2 Ioannis Gkountis sucht denn auch nicht nach einer Erklärung für die spannungsvolle Gleichzeitigkeit von Autonomie- und Schutz-ansprüchen, sondern setzt sich zum Ziel, die Unvereinbarkeit hart-paternalistischer Rege-lungen mit einem freiheitlichen, die Würde des Einzelnen achtenden Staatswesen nach-weisen (19 f., 46 f.). Als hart-paternalistisch bezeichnet er Regelungen, welche die Freiheit der Entscheidung über eigene Angelegen-heiten zum Wohl der entscheidenden Person einschränken (22). Kritisch betrachtet der Verf. u. a. das Verbot der Tötung auf Verlangen, das Verbot des Besitzes von Betäubungsmitteln und die strafbewehrte Überprüfung der Einwil-ligung von Probanden in die klinische Prüfung

von Arzneimitteln. Derartige Tatbestände be-zweckten weniger den Schutz als vielmehr die Vervollkommnung des Einzelnen oder dienten der Durchsetzung dubioser überindividueller Ziele (19, 45 f.).

Der Verf. möchte die These von der Unver-einbarkeit solcher Paternalismusformen mit der freiheitlichen Gesellschaft durch eine breit angelegte dogmengeschichtliche Erzählung belegen, an deren Anfang der Paternalismus als ein Instrument absolutistischer Wohlfahrts-staaten steht und die mit den paternalismuskri-tischen Positionen Mills und Kants endet (49–98). Doch ist die Entwicklung nicht so stringent, wie sie der Verf. zeichnet. So kommen weder Locke noch Pufendorf ohne Rückgriff auf Gott als Geltungsgrund natürlicher Rechte aus (s. aber S. 53, 55 f.), und beide Denker schränken das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen – insbesondere im Hinblick auf das eigene Leben – erheblich ein.3 Schließlich kann auch das 19. Jahrhundert nicht als Wendepunkt gelten, in dem das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen den Paternalismus als Legiti-mationsfi gur verdrängte. Vielmehr schlugen Gesetzgebung und Strafrechtswissenschaft das „antipaternalistische Erbe“ Kants zu groß-en Teilen aus.4 Auch der Verf. rezipiert Kant nur

1 Dieter Birnbacher, Paternalismus im Strafrecht – ethisch vertretbar?, in: von Hirsch u. a. (Hg.), Pa-ternalismus im Strafrecht, Baden-Baden 2010, S. 11. Eine „Paternalismusfeindlichkeit“ konstatiert Günther Jakobs, Paternalismus im Strafrecht, RW 2 (2011) 102

2 Zu dieser Bedeutung mit Nachweisen aus der neueren Literatur Stephan Kirste, Literaturbericht. Autonomie und Selbstbestimmung in der Bioethik, ARSP 96 (2010) 578–585; ders., ARSP 97 (2011) 130–137

3 Dazu Michael Kubiciel, Gott, Vernunft, Paternalismus – Die Grundlagen des Sterbehilfeverbots, JA 2011, 87 f.

4 Ausführlich dazu Thomas Gutmann, Paternalismus – eine Tradition deutschsprachigen Rechtsden-kens?, ZRG GA 122 (2005), 150–194

Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012

Page 6: Bernward Gesang/Julius Schälike Nico Krisch Ioannis ...€¦ · diesmal Martin Kriele, der meint, dass das Recht mit Moral angereichert werden müs-se. Und nun ist Hoerster in seinem

432 Literatur

ARSP (Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie), Band 98/2 (2012)© Franz Steiner Verlag, Stuttgart

ausschnittsweise. Er schließt sich zwar dessen antipaternalistischen Haltung an, übernimmt aber nicht deren rechtsphilosophischen Prä-missen (101, 103). Letzteres freilich zu Recht: Kants Kritik am Paternalismus gründet nämlich auf der höchst voraussetzungsvollen Annah-me, dass der Mensch als Vernunftwesen selbstschädigende Handlungen als unsittlich erkennen und aus diesem Grund von ihnen Abstand nehmen kann.5 Weiter verbreitet als Kants Autonomiekonzeption ist heute das vorderhand anspruchsarme Selbstbestim-mungsverständnis John Stuart Mills, dem der Verf. zustimmt: Autonom ist, wer zwischen Alternativen wählen kann (101 ff.). Nicht nä-her untersucht Gkountis indes, ob sich Mills utilitaristische Ausgangsposition mit seiner Paternalismuskritik verträgt. Dabei lässt sich an der Kompatibilität beider Lehrstücke mit guten Gründen zweifeln.6 Denn vorteilhaft für die Gesellschaft als Ganze (wie auch für den Einzelnen) ist nicht die Gewährung vollkom-mener Selbstbestimmung unter Verzicht auf paternalistische Eingriffe; vorteilhaft ist viel-mehr ein Rechtssystem, das sich grundsätz-lich zur Autonomie bekennt und den Einzelnen (und damit mittelbar: die Solidargemeinschaft) vor den Folgen riskanter Entscheidungen be-wahrt. Blickte Mills auf das geltende Recht, so sähe er in paternalistischen Verboten wie das des Motorradfahrens ohne Helm oder das des Besitzes harter Betäubungsmittel eine gelungene Verbindung von Utilitarismus und Paternalismus.

Wenn aber Kants anspruchsvoller Au-tonomiebegriff abgelehnt wird, während die rechtsphilosophische Konzeption Mills den Paternalismus eher untermauert anstatt ihn zu unterminieren, fehlt der entscheidenden These des Verf. die Grundlage. Diese lautet: Der Staat ist grundsätzlich nur zur Abgrenzung äußerer Freiheitssphären, nicht aber zu pater-nalistischen Interventionen berechtigt (82 f., 97 f.). Auch mit dem vom Verf. verwendeten Au-tonomiebegriff ist die These schwerlich zu ver-einbaren. Ein Autonomieverständnis, wonach frei ist, wer zwischen A und B wählen kann, ist nämlich alles andere als paternalismusre-sisent. Vielmehr zeigen die Arbeiten Joseph Razs deutlich, dass autonomes Handeln nicht

nur von günstigen äußeren Bedingungen wie die Existenz von Handlungsalternativen, die Abwesenheit von Zwang und ausreichenden Informationen über den Handlungskontext und Handlungswirkungen abhängt. Autonomie lebt auch von personalen Voraussetzungen, namentlich Orientierungsfähigkeit und Ent-scheidungstreue gegenüber langfristigen Zielen (103 ff.). Weil aber die äußeren Bedin-gungen und die personalen Voraussetzungen einer Handlung selten optimal sind, kann Autonomie in einem naturalistischen Sinne nur ein Näherungswert sein, der unzählige Abstufungen einschließt – und nicht wenige Personen ausschließt.

Um Personen nicht in weitem Ausmaß die Autonomie absprechen zu müssen, verstehen Autoren wie Richard Fallon diesen Begriff denn auch nicht als eine tatsächliche Fähigkeit, sondern als angeborene Eigenschaft. Diese Eigenschaft wird der Person zugeschrieben, so dass faktische Einschränkungen der Selbstbestimmungsfähigkeit nicht auf den Autonomiestatus der Person durchschlagen. Für Paternalismuskritiker hat dies die an-genehme Folge, dass sich mit einer derart abstrakt verstandenen Autonomie die Not-wendigkeit und Berechtigung paternalistischer Schutzmaßnahmen kurzerhand bestreiten lassen. Jedoch liegen gerade dem Autonomie-verständnis Fallons metaphysische Annahmen über die Natur des Menschen zugrunde, wie der Verf. zutreffend herausstellt (113 f.). Gk-ountis, der zuvor das Autonomieverständnis Kants verworfen hat, spricht sich konsequent auch gegen diese Form der Metaphysik aus. Stattdessen schließt er sich der Position Joel Feinbergs an, die ebenfalls darauf hinausläuft, jeder Person ab einer Mindestschwelle von Fähigkeiten Autonomie normativ zuzuschrei-ben. Allerdings ist Feinbergs Position nicht weniger metaphysisch begründet wie die Fallons. Feinberg geht nämlich davon aus, dass die Vorstellung von der Autonomie des Einzelnen derart tief in den fundamentalen moralischen Empfi ndungen jedes Einzelnen verankert ist, dass das Selbstbestimmungs-recht keiner weiteren normativen Begründung bedarf (126). Ob ein derartiger Intuitionismus tatsächlich normative Sätze zu begründen

5 Näher Michael Kubiciel, Tötung auf Verlangen und assistierter Suizid als selbstbestimmtes Sterben?, JZ 2009, 604

6 Zweifelnd auch Stephan Kirste, Harter und weicher Paternalismus, JZ 2011, 808

Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012

Page 7: Bernward Gesang/Julius Schälike Nico Krisch Ioannis ...€¦ · diesmal Martin Kriele, der meint, dass das Recht mit Moral angereichert werden müs-se. Und nun ist Hoerster in seinem

433Rezensionen

ARSP (Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie), Band 98/2 (2012)© Franz Steiner Verlag, Stuttgart

vermag, soll hier dahinstehen, kann doch schon bezweifelt werden, dass die Intuition so eindeutig ist, wie Feinberg unterstellt: Sind uns nicht die vielfältigen Einschränkungen der Autonomie ebenso bewusst wie unser Wunsch nach Selbstbestimmung? Und verlangen wir nicht gerade deshalb nach Regeln, die uns in bestimmten Situationen eingeschränkter Autonomie vor unbedachten und riskanten Handlungen schützen sollen?

Dass der Staat nur dort zu paterna-listischen Eingriffen berechtigt sei, wo an der Freiwilligkeit ernsthaft gezweifelt werden kön-ne (135), ist mithin eine These, die auf einer unsicheren vorpositiven Grundlage ruht. Wohl aus diesem Grund versucht der Verf., sie durch eine Verfassungsinterpretation zu untermau-ern. Dabei gelangt er jedoch zu Aussagen, die dem Paternalismus nur weitgezogene Grenzen setzen. So schließt die Annahme, der Mensch stehe im Zentrum der Verfassungsord-nung (208), die Möglichkeit eines fürsorglichen Schutzes des Einzelnen nicht aus, sondern ein. Immerhin kann das Recht des Staates verneint werden, seine Bürger mit paterna-listischen Regelungen sittlich-moralisch zu vervollkommnen (215). Doch werden die Befürworter eines modernen strafrechtlichen Paternalismus Gkountis in diesem Ergebnis zustimmen können. Denn viele der von ihm kritisierten Tatbestände – wie das mittlerweile stark eingeschränkte Verbot der Tötung auf Verlangen – dienen nicht der Vervollkomm-nung des Einzelnen oder der Durchsetzung moralischer Normen um ihrer selbst willen, sondern lassen sich als Tatbestände deuten, die Personen vor schwerwiegenden Folgen in Situationen schützen, in denen die Fähig-

keit zur Selbstbestimmung typischerweise eingeschränkt ist. Gerade wenn man mit dem Verf. die Besonderheiten der Entscheidungs-situation bei der Prüfung der Freiwilligkeit berücksichtigt (145) und die Anforderungen an den Freiwilligkeitsnachweis vom Risiko der Entscheidung und der Tragweite der Folgen abhängig macht (152 f.), reicht der von den gängigen strafrechtlichen Einwilligungsstan-dards gewährleistete Schutz in diesen Fällen nicht aus (s. aber S. 219). Dem gesteigerten Schutzbedürfnis lässt sich vielmehr nur mit (paternalistisch rekonstruierten) Tatbeständen wie § 216 StGB Rechnung tragen.

Eine solche Rekonstruktion mag nicht bei allen umstrittenen Tatbeständen möglich sein, so wie sie bei anderen zu einer einschränken-den Interpretation Anlass geben wird. Doch schießt die weit verbreitete und auch in der vorliegenden Dissertation spürbare Pater-nalismusfeindlichkeit über das Ziel hinaus. Paternalistische Tatbestände wie § 216 StGB sind kein Skandal. Sie folgen vielmehr einem Mittelweg zwischen einem (überwundenen) Staat, der Sittlichkeit erzwingt, und einem (glücklicherweise noch nicht erreichten) Mi-nimalstaat, der sich mit der „Absonderung des Menschen vom Menschen“ (Karl Marx) begnügt. In einer Gesellschaft, die sich zur Selbstbestimmung und zur Solidarität bekennt, ist dieser Mittelweg der einzig angemessene.

Michael Kubiciel

PD Dr. M.K., Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozess-recht und Rechtsphilosophie, Universität Regens-burg, Universitätsstraße 31, 93040 Regensburg, email: [email protected]

SCOTT SHAPIRO. Legality, Havard University Press 2010, 472 S., E 33,99 (gebunden) In seinem jetzt schon viel beachteten Buch „Legality“ hat sich Scott Shapiro ein sehr am-bitioniertes Ziel gesetzt. Es soll nichts weniger enthalten, als eine theoretisch umfassend aus-gearbeitete Lösung zu zentralen Problemen der Rechtsphilosophie. Die vom Autor behan-delten Fragen reichen von der allgemeinen Bestimmung des Rechtsbegriffs und der damit verbundenen Analyse rechtlicher Normativi-tät über den Streit zwischen exklusiven und

inklusiven Rechtspositivisten, der Diskussion um das Ausmaß an Unbestimmtheit im Recht (Dezisionismus vs. Entscheidungsdeterminis-mus), bis hin zum Problem der richtigen Me-thodenwahl in der juristischer Interpretation, dessen Behandlung sogar US-amerikanische Verfassungsgeschichte berücksichtigt. Die mit diesem Fragenkreis abgesteckten Probleme möchte der an der Yale Universität lehrende Rechtsphilosoph und Schüler des amerika-

Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012

Page 8: Bernward Gesang/Julius Schälike Nico Krisch Ioannis ...€¦ · diesmal Martin Kriele, der meint, dass das Recht mit Moral angereichert werden müs-se. Und nun ist Hoerster in seinem

434 Literatur

ARSP (Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie), Band 98/2 (2012)© Franz Steiner Verlag, Stuttgart

nischen Rechtspositivisten Jules Coleman mithilfe seiner Plantheorie (Planning Theory of Law) aufklären. Der Autor versteht die Plantheorie als Weiterentwicklung handlungs-theoretischer Überlegungen des Philosophen Michael Bratman. Die zentralen Grundgedan-ken von Bratmans Handlungstheorie werden in Legality zu einer rechtspositivistischen Theorie ausgearbeitet, die rechtliche Aktivität als eine spezifische Form des kollektiven Planens versteht. Shapiro stellt sich mit seiner Untersuchung in die Tradition der „analytical jurisprudence“. Somit bildet die Bestimmung der Natur des Rechts (als alternative Ausdrucksweise für „Natur des Rechts“ fi ndet sich gerade auch in der deutschsprachigen Literatur die nicht weniger geläufi ge Bezeichnung „Begriff des Rechts“) den Hauptuntersuchungsgegenstand dieser Arbeit. Eine Antwort auf die Frage nach der Natur des Rechts ist gleichbedeutend mit der Bestimmung von Eigenschaften, die die Identität des Rechts konstituieren. Die Plantheorie ist demnach in erster Linie durch die metaphysische Frage: „Was ist Recht?“ motiviert. Dies erklärt auch, warum das erste Kapitel diese Frage mit in seinem Titel aufführt. „Legality“ ist mit seinem beträchtlichen Seitenumfang, die wohl der Fülle der be-handelten Fragestellungen geschuldet ist und wegen seiner voraussetzungsvollen Thematik trotz der unprätentiös einfachen und gut verständlichen Sprache des Autors ein anspruchsvolles Werk. Zwar werden viele entscheidende Entwicklungen im Anschluss an die Hart-Dworkin-Debatte gut nachgezeich-net. Dem Leser wird sich aber der Sinn vieler Fragestellungen vollkommen nur erschließen, wenn er mit der Literatur bereits vertraut ist, die ihnen zugrunde liegt. Das Buch ist daher nur bedingt als Einführung zu empfehlen, obwohl es sich nach den Vorstellungen des Autors auch zu diesem Zweck eignen sein sollte. Die Monographie umfasst 14 Kapitel und ist in drei größere Blöcke aufgeteilt. Im ersten Block expliziert Shapiro die methodologischen Annahmen, auf die Untersuchungen zur Natur des Rechts festgelegt sind und erklärt damit, was er unter der philosophischen Frage nach der Natur des Rechts eigentlich versteht, auf welche Weise sie behandelt werden kann, und weshalb sie auch Implikationen für die Recht-spraxis haben soll. Diese methodologischen Erörterungen können als Zugeständnis an

neuere (meist naturalistische) Tendenzen in der analytischen Philosophie gesehen werden, die klassische Formen der Begriffsanalyse vor die Herausforderung stellen, ihre häufi g unausgesprochen gebliebenen Annahmen offenzulegen und zu rechtfertigen. Leider fällt es nicht immer einfach, die im ersten Kapi-tel beschriebene Form der Begriffsanalyse auch in den späteren Teilen der Arbeit wie-derzuerkennen. Der zweite Block diskutiert die rechtspositivistischen Theorien von Hart und Austin, die (vor allem in der angloame-rikanischen Rechtsphilosophie) besonders wirkungsmächtig gewesen sind und zeigt die Probleme auf, zu denen diese Konzeptionen führen. Im dritten Block, der den restlichen und damit größten Teil des Buches ausmacht, präsentiert Shapiro seinen eigenen Lösungs-ansatz in Form der „Planning Theory of Law“, die den klassischen Spielarten des Rechtspo-sitivismus überlegen sein soll. Die zentrale These der Plantheorie ist, dass rechtliche Aktivität am besten als eine spezifi sche Form des sozialen Planens be-greifl ich zu machen ist. Sie baut auf einer allgemeineren Theorie auf, die Planaktivitäten einzelner Akteure erklärt. Diese wird in einem nächsten Schritt zu einer Theorie kollektiven Planens weiterentwickelt und schließlich auf Massenkollektive übertragen.

I.Charakteristischerweise haben Pläne eine geschachtelte Struktur. Sie differenzieren sich in einen Hauptplan aus, der ein übergeord-netes Ziel angibt und in mehrere sogenannte Unterpläne, die als Mittel zur Realisierung des Hauptplans ergriffen werden müssen. Über-legungen beginnen in der Regel mit einem relativ inhaltsarmen Hauptplan, der sich im weiteren Handlungsverlauf als ausfüllungs-bedürftig erweist und durch die Herausbildung von Unterplänen inhaltlich weiter ausgestaltet wird. Auf diese Weise gewinnt der Hauptplan schrittweise an Nutzen für die Handlungsori-entierung. Die geschachtelte Struktur erklärt, wie Unterpläne durch vergangene Entschei-dungen die Wahl zukünftiger Unterpläne einschränkt. Wenn ich plane, nach Madrid zu reisen und daraufhin den Entschluss fasse, mein Reiseziel mit dem Flugzeug zu erreichen, dann kommt es als Option nicht mehr in Frage, bei der Mitfahrzentrale nach einem Fahrer zu fragen, der mich nach Madrid mitnehmen

Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012

Page 9: Bernward Gesang/Julius Schälike Nico Krisch Ioannis ...€¦ · diesmal Martin Kriele, der meint, dass das Recht mit Moral angereichert werden müs-se. Und nun ist Hoerster in seinem

435Rezensionen

ARSP (Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie), Band 98/2 (2012)© Franz Steiner Verlag, Stuttgart

könnte. Rational wäre es stattdessen, bei einem Reisebüro anzurufen und einen Flug zu buchen. Indem sich im Zuge des weiteren Handlungsverlaufs neue Unterpläne auf natür-liche Weise zunächst aus dem Hauptplan und dann nach und aus relativ früheren Unterplä-nen auseinander ergeben, stellen sie sicher, dass alle notwendigen Handlungen in der richtigen Reihenfolge vollzogen werden und der Hauptplan letztlich realisiert wird. Die natürliche Herausbildung von Unter-plänen entlastet uns davon, schon weit im Vo-raus alle Einzelschritte gedanklich durchspie-len zu müssen, die für die Realisierung eines Hauptplans erforderlich wären. Damit erfüllen Pläne eine wichtige kognitive Entlastungs-funktion. Darin, dass wir in Einzelschritten planen müssen, manifestiert sich schließlich unsere begrenzte Fähigkeit, Einzelschritte vorherzusehen, die zur Verwirklichung eines übergeordneten Ziels durchlaufen werden müssen. Diese Beobachtungen führen Shapiro zu der wichtigen These, dass uns die Fähigkeit zu planen, die Realisierung von Zielen ermög-licht, die wir auf andere Weise nicht erreichen könnten. Eine weitere entscheidende These ist, dass Pläne uns nur dann Denkarbeit ab-nehmen können, wenn wir sie nicht ständig wieder infrage stellen, indem wir erwägen, ob es tatsächlich sinnvoll ist, sich an einen gegebenen Plan zuhalten: „Plans cannot do the thinking for us if, in order to discover their counsel, we are required to repeat the same sort of reasoning“ (127) Weil Pläne unsere Handlungen anleiten, sind sie zugleich Nor-men. Sie haben die Funktion, die praktische Frage für uns zu entscheiden, wie gehandelt werden soll. Die Normenqualität von Plänen erklärt auch Shapiros subtile Unterscheidung zwischen Plananwendung und Planumsetzung (126). Unter Plananwendung ist nur die Ver-wendung eines Plans zur Handlungsbewer-tung zu verstehen, die mit seiner Umsetzung nicht zwangsläufi g einhergehen muss und auch an andere delegiert werden kann.

II.Die allgemeine Plantheorie, die hier nur in gro-ben Zügen skizziert werden konnte, überträgt der Autor auf kollektives Handeln in kleineren Gruppen. Pläne, die von einer ganzen Gruppe geteilt werden, ermöglichen ihr kollektives

Handeln durch Verhaltenskoordinierung. Die nächste Stufe kollektiven Handelns bildet das gemeinsame Planen in Massenkollektiven. Den Übergang von einer kleineren Gruppe zum Massenkollektiv mit einem Rechtssystem veranschaulicht Shapiro auf sehr plastische Weise anhand eines Gedankenexperiments, das die Geschichte einer kleinen Gruppe erzählt, die sich auf einer unbewohnten Insel ansiedelt und dort unter Naturzustandsbedin-gungen leben muss. Die neuen Inselbewohner organisieren das Zusammenleben zunächst durch einfache Formen des sozialen Planens, die ihnen kollektives Handeln ermöglicht und die Entscheidung von Meinungsverschieden-heiten erleichtert. Als die Inselgemeinschaft schließlich zu einem Massenkollektiv an-wächst, steigt der Planbedarf, was komplexere Formen des sozialen Planens erfordert. Das Ergebnis ist die Einführung einer Planungsor-ganisation, die ausgefeiltere Techniken des so-zialen Planens erlaubt und alle Eigenschaften eines Rechtsystems besitzt. Die Bedingungen unter denen rechtliche Formen des sozialen Planens erforderlich werden, bezeichnet Shapiro als Umstände der Legalität (engl.: circumstances of legality). Sie sind dann gegeben, wenn eine Gemeinschaft eine kritische Zahl an ernsthaften moralischen Problemen bewältigen muss, denen nur mit neuartigen Lösungsstrategien begegnet werden kann. Der Einsatz nichtrechtlicher Ordnungsmechanismen wie Improvisation, ad hoc Regelungen, Privatvereinbarungen, Konsensfi ndung in Gemeinschaften usw., wäre unter diesen Bedingungen mit sehr hohen Kosten verbunden. Für Gemeinschaften, die ihr Zusammenleben unter solchen Umstän-den gestalten müssen, bestehen daher gute Gründe, diese Kosten mithilfe ausgefeilterer Plantechniken zu reduzieren, die nur rechtliche Institutionen bereit stellen können. Aus dem bisher Gesagten ergibt sich somit als weitere zentrale These der Plantheorie: […] legal systems are institutions of social planning and their fundamental aim is to compensate for the defi ciencies of alternative forms of planning in the circumstances of legality”1 (171). Dass mit der Einführung rechtlicher Plantechniken moralische Probleme gelöst werden sollen, die auf andere Weise nicht zu bewältigen wären, erklärt eine weitere

1 Hervorhebung im Original

Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012

Page 10: Bernward Gesang/Julius Schälike Nico Krisch Ioannis ...€¦ · diesmal Martin Kriele, der meint, dass das Recht mit Moral angereichert werden müs-se. Und nun ist Hoerster in seinem

436 Literatur

ARSP (Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie), Band 98/2 (2012)© Franz Steiner Verlag, Stuttgart

bedeutsame These: Rechtsordnungen haben notwendigerweise ein moralisches Ziel (213-214). Allerdings soll nur die Zielsetzung zu ihren notwendigen Eigenschaften gehören, ihre Realsierung hingegen nicht.Das Gedankenexperiment soll auch vor Augen führen, dass Sanktionen kein wesentliches Element von Rechtsordnungen sind (174-175). Die Vermeidung von Kosten, die durch den Einsatz alternativer Plantechniken entstehen würden, gibt auch Gemeinschaften, in denen Menschen sich überwiegend auch ohne An-drohung von Sanktionen normkonform verhal-ten würden, guten Grund dazu, auf rechtliche Plantechniken umzusteigen.

III.Da die Plantheorie aber auch eine rechtsposi-tivtische Theorie sein will, muss sie plausibel machen, dass rechtliche Geltung letztlich von sozialen Tatsachen abhängt. Dies will der Autor mit folgender Überlegung leisten. Nach der Plantheorie werden die grundlegenden Regeln eines Rechtsystems durch einen gemeinsamen Plan, dem sogenannten Ma-sterplan, konstituiert. Dieser soll bereits dann existieren, wenn bestimmte soziale Tatsachen gegeben sind. Erstens: die Urheber (die verfas-sungsgebenden Subjekte) des Gesamtplans haben eine Gruppe (die Gemeinschaft, der die Urheber angehören) im Sinn, für den er bestimmt ist und dem sie kollektives Handeln ermöglichen wollen. Zweitens muss der Plan-inhalt öffentlich zugänglich sein und er muss drittens von allen akzeptiert werden, die ihn teilen sollen. Wer den Masterplan einer Ge-meinschaft bestimmen will, muss demnach nur herausfi nden, was der Rechtsstab denkt, beabsichtigt und tut (177). Er oder sie muss insbesondere nicht darüber nachdenken, ob die Normen nach denen eine Gemeinschaft ihr Zusammenleben regelt, moralisch sind oder nicht. Shapiro weist daraufhin, dass dieser Konstitutionszusammenhang sich unmittelbar aus der internen Logik des Planens ergibt. Pläne sollen unserem Handeln Orientierung geben, indem sie Zweifel ausräumen und Streitigkeiten entscheiden. Das können sie aber nur, wenn wir sie nicht wieder infrage stel-len, indem wir darüber nachdenken, ob sie mo-ralisch sind oder nicht. Das würde nur die Pro-bleme wieder aufwerfen, die Pläne eigentlich aus der Welt schaffen sollen. Der Autor stellt die starke These auf, dass die Existenz eines

Plans niemals von moralischen Tatsachen abhängt (178) (Planpositivismus). Für Pläne gelten prinzipiell keine moralischen Beschrän-kungen. Zusammen mit der Plantheorie, nach der die grundlegenden Regeln eines Recht-systems durch einen Masterplan konstituiert werden, ergibt dies eine rechtspositivistische Konzeption. Da alle Rechtsnormen, die der Masterplan autorisiert, entweder Pläne oder zumindest planartig sind, reiht sich Shapiro mit seiner Theorie in die Gruppe der exklusiven Rechtspositivisten ein, der zufolge die Geltung von Rechtsnormen niemals von moralischen Tatsachen (bzw. moralischen Überlegungen) abhängt (275). Nach Shapiro soll es ein Vorzug der Plantheorie sein, rechtliche Autorität zirkelfrei erklären zu können. Die Fähigkeit von Mit-gliedern des Rechtsstabs, den Masterplan anzuwenden, d.h. die Fähigkeit rechtliche Autorität auszuüben, soll Shapiro zufolge nicht auf rechtlichen Normen beruhen. Vielmehr soll sie bereits aus jenen Rationalitätsnormen he-raus verständlich sein, denen auch planendes Handeln unterliegt (182). Zwar wird durch die anschaulichen Aus-führungen Shapiros der Idee nach deutlich, wie die Bedingungen rationalen Planens eine rechtspositivistische Normenkonzeption motivieren sollen. Im Einzelnen wirkt die Ar-gumentation aber lückenhaft. Insbesondere ist schwer zu sehen, warum die Prinzipien, denen planenden Handeln unterliegt und die Shapiro zufolge dazu zwingen, einen Plan als gegeben hinzunehmen, über Normen der in-strumentellen Rationalität hinausgehen sollen. Durch die Ausführungen des Autors wird nicht verständlich, warum auch Subjekte, denen die Motivation zur Realisierung des Hauptplans fehlt, dem rationalen Zwang unterliegen, geeignete Unterpläne zu ergreifen. Damit scheint die Plantheorie vorauszusetzen, dass die Adressaten einer Rechtsordnung auch die Realisierung der moralischen Ziele wollen müssen, denen Rechtsordnungen notwendi-gerweise dienen. Für eine solche Prämisse fi nden sich in „Legality“ aber keine Argumente.

IV.Shapiro gesteht zu, dass die Plantheorie rechtliche Normativität nur dann angemessen erklären kann, wenn sie eine entscheidende Bewährungsprobe meistert, die insbesondere rechtspositivistische Konzeptionen vor beson-

Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012

Page 11: Bernward Gesang/Julius Schälike Nico Krisch Ioannis ...€¦ · diesmal Martin Kriele, der meint, dass das Recht mit Moral angereichert werden müs-se. Und nun ist Hoerster in seinem

437Rezensionen

ARSP (Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie), Band 98/2 (2012)© Franz Steiner Verlag, Stuttgart

dere Probleme stellt. Wie kann es möglich sein, das rechtliche Autorität keine moralische Legitimität voraussetzt, wenn auch in recht-lichen Kontexten für Begriffe wie „Legitimität“, „Verpfl ichtung“, „Sollen“ und dgl. nur eine mo-ralische Semantik angemessen ist. Der Autor weist selbst darauf hin, dass auch die Planthe-orie dem Einwand ausgesetzt zu sein scheint, der moralischen Semantik juristischer Urteile nicht gerecht werden zu können. Schließlich behauptet sie, dass die Existenz von Plänen bzw. die Geltung von Rechtsnormen niemals von moralischen Tatsachen abhängt. Nach Shapiro unterstellt ein solcher Ein-wand jedoch, dass die Form von Autorität, die in rechtlichen Kontexten zugeschrieben wird, ein Sonderfall von moralischer Autorität ist. Er übersieht dabei die spezifi sche Logik recht-licher Autoritätsurteile, indem er den Begriff „rechtlich“ (engl.: „legal“) in „rechtliche Autori-tät“ adjektivisch liest. Nach der adjektivischen Interpretation wird „rechtlich“ dem Ausdruck „Autorität“ vorangestellt, um in juristischen Diskurskontexten einen spezifi schen Typ von moralischer Autorität herauszugreifen. Wenn demnach rechtliche Autorität behauptet wird, dann impliziert dies auch moralische Autorität. Damit wäre die Möglichkeit moralisch illegiti-mer Autorisierungen ausgeschlossen. Der adjektivischen Lesart stellt Shapiro nun die perspektivische Interpretation entge-gen. Zwar haben Begriffe wie „Autorität“, „Ver-pfl ichtung“, „Sollen“ und dgl. eine moralische Semantik, trotzdem beschreiben die Urteile, in denen sie eingebettet sind, nur die moralische Perspektive eines bestimmten Rechtssystems, sobald sie in einem rechtlichen Sinne verwen-det werden. Nach der perspektivischen Lesart modifi ziert „rechtlich“ in „rechtliche Autorität“ nämlich keine Nominalphrase, sondern qualifi -ziert Urteile, in denen das Satzglied „rechtliche Autorität“ eingebettet ist. Der Begriff „rechtlich“ zeigt dann an, dass der Sprecher selbst das Urteil nicht notwendigerweise akzeptiert, sondern mit seiner Behauptung nur die Per-spektive eines Rechtsystems wiedergeben möchte. Ein rechtliches Urteil der Form „X hat rechtliche Autorität über Y in S“ ist wahr, wenn es wahr ist, dass X aus der Perspektive von S rechtliche Autorität über Y hat. Mithilfe der perspektivischen Lesart von rechtlichen Urteilen soll die Plantheorie auch erklären können, wie juristische Begrün-dungen Humes Gesetz beachten können,

die aus der Grundnorm eines Rechtsystems weitere Rechtsnormen ableiten. Weil recht-liche Urteile, in denen normative Begriffe wie „Recht“, „Verpfl ichtung“ oder „Autorität“ und dgl. vorkommen, nur die Perspektive einer Rechtsordnung beschreiben, drücken Prämissen und Konklusion einer juristischen Begründung ausschließlich Deskriptivurteile aus. Aus Deskriptivurteilen über die Existenz eines geteilten Masterplans, die nur die Per-spektive eines Rechtsystems wiedergeben, lassen sich weitere perspektivisch zu lesende Deskriptivurteile über andere Rechtsnormen schließen. Obwohl es dem Autor gelingt, die Pointe der perspektivischen Lesart gut zu vermitteln und die hinter ihr liegende Motivation teilweise einsichtig zu machen, können andererseits die Gründe nicht immer überzeugen, die für die Zurückweisung der adjektivischen Interpreta-tion vorgebracht werden. Shapiro argumentiert gegen sie, dass die Existenz unmoralischer Rechtsordnungen historisch bestätigt sei (185) und beruft sich damit auf Intuitionen, die im er-sten Kapitel von ihm selbst noch als umstritten problematisiert wurden (16). Shapiro hätte es lieber bei der Feststellung belassen sollen, dass die adjektivische Interpretation recht-licher Urteile nicht alternativlos ist. Das hätte für eine stichhaltige Argumentation vielleicht ausgereicht und möglicherweise entgegen-stehenden Einwänden weniger Angriffsfl äche geboten. Auch ist nicht restlos klar geworden, was mit der perspektivischen Lesart alles bezweckt werden soll. Es wird nicht hinreichend deutlich, ob sie nur die Möglichkeit der Wiederbeschrei-bung rechtlichen Zwangs in normativem Voka-bular durch entfremdete Subjekte erklären soll oder viel weitgehender, auch die Möglichkeit moralisch illegitimer Autorisierungen. Für letzteres spricht folgendes Zitat: „Given this interpretation of claims of legal authority and legal obligation, we can easily see how morally illegitimate plans can confer legal authority” (187). Damit scheint der perspektivischen Lesart aber mehr aufgebürdet zu werden, als sie vernünftigerweise stemmen kann. Nach Shapiro wird mit perspektivisch gelesenen Urteilen nur die Behauptung aufgestellt, dass aus der Perspektive von Rechtsystem S ein Körper x moralisch autorisiert ist. Die Per-spektive, auf die damit Bezug genommen wird, soll diejenige einer normativen Theorie sein,

Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012

Page 12: Bernward Gesang/Julius Schälike Nico Krisch Ioannis ...€¦ · diesmal Martin Kriele, der meint, dass das Recht mit Moral angereichert werden müs-se. Und nun ist Hoerster in seinem

438 Literatur

ARSP (Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie), Band 98/2 (2012)© Franz Steiner Verlag, Stuttgart

die besagt, dass Körper, die durch Normen des jeweiligen Rechtsystems autorisiert sind, auch moralisch autorisiert sind. Wenn dem so ist, dann provozieren perspektivisch gelesene Urteile natürlicherweise die Frage, ob die je-weilige Moraltheorie tatsächlich wahr ist, die rechtliche Autorisierungen unterschreiben soll. Wenn diese Frage nun berechtigt ist, dann wird es schwer zu verstehen, warum moralische Autorität keine Voraussetzung für rechtliche Autorität sein soll. Nicht ganz überzeugend wirkt auch die Kritik an Harts expressivistischer Analyse rechtlicher Urteile. Hart führt die methodische Figur der internen Perspektive (oder Teilneh-merperspektive) gerade auch deshalb ein, um mit ihr die Möglichkeit neutraler Rechtsbe-schreibungen zu erklären. Sie soll also auch für jemanden zugänglich sein, der die Normen der Rechtsordnung, die er beschreiben will, selbst nicht akzeptiert. Wenn Shapiro gegen Hart also einwendet, dass entfremdete Akteure, die Rechtsnormen nur aus instrumentellen Gründen befolgen, keine interne Perspektive gegenüber rechtlichen Regeln einnehmen können (113), dann muss sich der Verdacht aufdrängen, dass Harts Position nicht hinrei-chend ernst genommen wird. Insbesondere

bleibt fragwürdig, ob Shapiros Diskussion tatsächlich die Ressourcen ausschöpft, die einem hartschen Ansatz zur Verfügung stehen, um die Wiederbeschreibarkeit rechtlichen Zwangs in normativem Vokabular durch ent-fremdete Akteure zu erklären. Trotz der angesprochenen Kritikpunkte kann insgesamt kein Zweifel daran bestehen, dass Shapiros „Legality“ eine enorme Berei-cherung für die Rechtsphilosophie darstellt. Tatsächlich eröffnet sie mit der Plantheorie eine innovative und interessante Perspektive auf viele rechtsphilosophische Probleme. Wem die Auseinandersetzung zwischen exklusi-ven und inklusiven Rechtspositivisten bisher wie ein scholastischer Kleinkrieg zwischen Hart-Apologeten vorgekommen ist, der wird spätestens nach der Lektüre von „Legality“ sein Urteil überdenken müssen.

Michel de Araujo Kurth

M.d.A.K.., M. A.,Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Philosophie der Neuzeit bei Prof. Dr. Marcus Willaschek, Institut für Philosophie, Grüne-burgplatz 1, Goethe Universität Frankfurt am Main, 60629 Frankfurt am Main.

Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012