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3/2007 16. Jg. Stefan Mückl Lebensschutz und Meinungsfreiheit, S. 62 Bernward Büchner Zum Inhalt der Beobachtungspflicht des Gesetzgebers als Schutzpflicht für das Leben Ungeborener, S. 72 Johann-Christoph Student Warum wir kein Patientenverfügungs-Gesetz brauchen, S. 90 Juristen-Vereinigung- Stellungnahme zur Frage einer Änderung des Lebensrecht e. V. Stammzellgesetzes, S. 96

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3/2007 16. Jg.

Stefan Mückl Lebensschutz und Meinungsfreiheit, S. 62

Bernward Büchner Zum Inhalt der Beobachtungspflicht des Gesetzgebers als Schutzpflicht für das Leben Ungeborener, S. 72

Johann-Christoph Student Warum wir kein Patientenverfügungs-Gesetz brauchen, S. 90

Juristen-Vereinigung- Stellungnahme zur Frage einer Änderung desLebensrecht e. V. Stammzellgesetzes, S. 96

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inhalt

Editorial61 Sonderbehandlung

ThemaPrivatdozent Dr. iur. Stefan Mückl

62 Lebensschutz und Meinungsfreiheit

VRiVG a. D. Bernward Büchner

72 Zum Inhalt der Beobachtungspflicht des Gesetzge-

bers als Schutzpflicht für das Leben Ungeborener

BeitragAssessor jur. Thomas Zimmermanns

80 BVerfG schränkt Meinungsfreiheit für Abtreibungs-

gegner ein

Ltd. Ministerialrat a.D. Dieter Ellwanger

86 Schwangerschaftsabbrüche – Verfahrenswege zur

Erfüllung der verfassungsrechtlichen Beobach-

tungspflicht

Prof. Dr. med. Dr. h.c. Johann-Christoph Student

90 Warum wir kein Patientenverfügungs-Gesetz brau-

chen – Fünf Argumente

Rezension95 Totensorge

95 Leben mit Behinderung

Aus der JVL96 Stellungnahme zur Frage einer Änderung des

Stammzellgesetzes

III Trends

impressum

ZfL 3/2007, II

Zeitschrift für Lebensrecht (ZfL)ISSN 0944-4521

RedaktionRainer Beckmann (verantwortlich), Richter amAG, Würzburg (rb), Dr. Ruth Reimann, Richterinam Landgericht, Leichlingen (rei), Knut Wiebe,Richter am Landgericht, Köln (kw)

Anschrift der RedaktionWeißdornweg 197084 WürzburgeMail: [email protected]: 09 31 / 35 99 490

HerausgeberJuristen-Vereinigung Lebensrecht e.V.Postfach 50 13 30, D-50973 KölnTelefon: 0221/13 44 78Telefax: 0221/2 22 59 57

www.juristen-vereinigung-lebensrecht.deeMail: [email protected]

Vorstand der Juristen-VereinigungLebensrecht e.V.Bernward Büchner, Vors. Richter am VG a. D.,Freiburg i. Br.; Prof. Dr. Christian Hillgruber, Bonn;Rainer Beckmann, Richter am AG, Würzburg; Dr. Werner Esser, Notar a.D., Köln; Erika Nagel,Richterin am AG, Brühl

Satz & LayoutRehder & Partner Medienagentur, Aachen

DruckLuthe Druck und Medienservice, Köln

AbonnementDie ZfL erscheint viermal jährlich. Das Jahresabon-nement beträgt 18 Euro inkl. Versand (Studentenzahlen 12 Euro).

Zahlungen erfolgen über die Dresdner Bank Köln,BLZ 370 800 40, Konto-Nr. 4 769 600.IBAN-Code: DE 38 3708 0040 0476 9600 00BIC: DRESDEFF370Bestellungen an den Herausgeber erbeten.

HinweisDie ZfL ist urheberrechtlich geschützt. Namentlichgezeichnete Beiträge geben nicht unbedingt dieAnsicht des Herausgebers wieder.Die Juristen-Vereinigung Lebensrecht e.V. ist inter-disziplinär und nur dem Recht verpflichtet. Sie istals gemeinnützig anerkannt.

Leserbriefe und Manuskripte ...sind jederzeit willkommen und werden an dieAnschrift der Redaktion erbeten.

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Zeitschrift für Lebensrecht 16. Jg. / S. 61-96 / Heft 3 2007

Herausgeber: Juristen-Vereinigung Lebensrecht e.V. (Köln)

burtliche Kindestötungen so weit, dass auch bei der Mei-nungsfreiheit mit zweierlei Maß gemessen wird? Eine genaueAnalyse dieses Themenkreises (s. die Beiträge von StefanMückl, S. 62 ff., und Thomas Zimmermanns, S. 80 ff.) gibt An-lass zu erheblichen Bedenken.

Nicht weniger beunruhigend sollte sein, dass sich auf po-litischer Ebene niemand so recht berufen fühlt, die exzeptio-nelle Stellung des „Abtreibungsrechts“ zu überprüfen undggf. in Frage zu stellen. Die vom Bundesverfassungsgerichtangeordnete Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht desGesetzgebers läuft offenbar leer (s. Beiträge von BernwardBüchner, S. 72 ff., und Dieter Ellwanger, S. 86 ff.). Nicht, weil eskeinen Anlass für eine Überprüfung der Schutztauglichkeitder „Beratungsregelung“ für ungeborene Kinder gäbe, son-dern weil der Wille fehlt.

Ein schlechtes Gesetz zu korrigieren, ist eine Sache. Eineandere ist es, erst gar kein schlechtes Gesetz zustande kom-men zu lassen. Beim Thema Patientenverfügung steht derGesetzgeber vor diesem Problem. Es gibt bislang drei Ent-würfe, die sicherlich mit Vor- und Nachteilen behaftet sind.Deshalb lohnt es sich darüber nachzudenken, ob es über-haupt sinnvoll ist, ein Gesetz zur Regelung von Patientenver-fügungen zu erlassen. Gründe gegen ein neues Gesetz nenntder langjährige Leiter eines Hospizes und PalliativmedizinerJohann-Christoph Student (S. 90 ff.).

Rainer Beckmann

Das so genannte „Abtreibungsrecht“ ist ein besonderesRecht. Es gibt nichts Vergleichbares. Handlungen, die nachAnsicht des Bundesverfassungsgerichts „Tötungshandlun-gen“ und im Strafgesetzbuch dem Abschnitt „Straftaten ge-gen das Leben“ zugeordnet sind, bleiben dennoch – abgese-hen von wenigen Ausnahmefällen – straflos. Denn „der Tat-bestand des § 218 ist nicht verwirklicht“ (vgl. § 218 a Abs. 1StGB), wenn einige Formalien eingehalten werden (Bera-tungsnachweis, ärztliche Durchführung, 12-Wochen-Frist).Dieser „Tatbestandsausschluss“ – im Grunde nichts anderesals eine schriftliche Lüge – sucht eine Vorgabe des Verfas-sungsgerichts zu erfüllen, nach der indikationslose Abtrei-bungen nicht als rechtmäßig anerkannt werden dürfen. Die-se Abtreibungen sollen, da sie keinen rechtfertigendenGrund für sich in Anspruch nehmen können, „Unrecht“sein. Nennenswerte Auswirkungen dieser Qualifizierung las-sen sich in der Rechtsordnung jedoch nicht finden. Einmerkwürdiges Recht, dieses „Abtreibungsrecht“.

Kein Wunder, dass sich manche Menschen mit diesem„Recht“ nicht abfinden wollen. Sie empfinden es als Skandal,dass jährlich hunderttausende ungeborene Kinder in einemausgeklügelten System von Rechtsvorschriften, Beratungs-stellen und Abtreibungskliniken getötet werden. Da das The-ma von der Politik „abgehakt“ ist, ist es eher eine kleineSchar von „Rufern in der Wüste“, die das Schicksal der un-geborenen Kinder beklagt. Um die Aufmerksamkeit der Öf-fentlichkeit auf sich und ihr Anliegen zu lenken, wählen eini-ge von ihnen recht drastische Formulierungen.

In einem Land mit garantierter Meinungsfreiheit ist daseigentlich kein Problem. Doch die neueste Rechtsprechungdes Bundesverfassungsgerichts gibt zu denken. Der Vorwurfein Arzt nehme „rechtswidrige Abtreibungen“ vor, soll eine„unwahre“ Tatsachenbehauptung sein und eine unzulässigePrangerwirkung entfalten. Droht auch im Bereich der Mei-nungsfreiheit eine Sonderbehandlung für Abtreibungsgeg-ner? Reichen die Wirkungen des Sonderrechts für vorge-

Sonderbehandlung

HerausgeberbeiratProf. Dr. iur. Gunnar Duttge, GöttingenProf. Dr. med. Hermann Hepp, MünchenProf. Dr. iur. Christian Hillgruber, BonnProf. Dr. iur. Eike von Hippel, HamburgProf. Dr. phil. Rupert Hofmann, RegensburgProf. Dr. iur. Winfried Kluth, HalleProf. Dr. iur. Karl Lackner, HeidelbergProf. Dr. iur. Winrich Langer, MarburgProf. Dr. iur. Joseph Listl, Bonn

Prof. Dr. iur. Dr. h.c. Harro Otto, BayreuthProf. Dr. med. Johannes Pechstein, MainzProf. Dr. theol. Anton Rauscher, AugsburgProf. Dr. iur. Wolfgang Rüfner, KölnProf. Dr. phil. Manfred Spieker, OsnabrückProf. Dr. iur. Herbert Tröndle, Waldshut-TiengenProf. Dr. iur. Dr. h. c. Wolfgang Waldstein, SalzburgProf. Dr. iur. Ralph Weber, RostockProf. Dr. phil. Paul-Ludwig Weinacht, WürzburgProf. Dr. med. Hans-Bernhard Wuermeling, Erlangen

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thema62 ZfL 3/2007

I. Das Tabu „Lebensschutz“

Es gibt „Nicht“-Themen in Deutschland: Themen, überdie „man“ nicht spricht, geschweige denn streitet. Zudiesen Themen gehört weithin der Schutz des ungebo-renen Lebens: Das kontroverse Ringen um die Sachpro-bleme findet in der politischen Sphäre nahezu nichtmehr statt1. Die 1995 getroffene gesetzliche Regelungeigne sich nicht für die (partei)politische Auseinander-setzung. Man habe nach zwei Jahrzehnten der Ausein-andersetzung einen „tragfähigen Kompromiss“ erreicht,der nicht mehr in Frage zu stellen sei. Diese Einstellung der bewussten und gewollten Nichtbe-handlung eines veritablen rechtlichen (wie auch morali-schen) Problems wird, obgleich den Vorgaben der zwei-ten Abtreibungsentscheidung des BVerfG von 19932 wi-dersprechend, nur selten und allenfalls in vagen Ab-sichtsbekundungen verlassen. Ein Paradebeispiel dafürist die rechtliche Behandlung von Spätabtreibungen:Bereits im März 1999 hatte sie die damalige Justizmini-sterin Däubler-Gmelin (SPD) als „grauenvoll“ bezeichnetund verlangt, man müsse sie „unterbinden, schlichtwegunterbinden“. Wiederholte Versuche von Abgeordne-ten des 14. und 15. Deutschen Bundestags, diese Positi-on eines hochrangigen Regierungsmitglieds auch in dieRechtswirklichkeit zu übertragen3, scheiterten. Der Ko-alitionsvertrag der gegenwärtigen Bundesregierung ent-hält – immerhin – die Formulierung, man wolle „prü-fen, ob und gegebenenfalls wie die Situation bei Spätab-treibungen verbessert werden kann“4. Konkrete Schritteist der Gesetzgeber seitdem nicht gegangen, was in er-ster Linie an der Befürchtung liegen dürfte, das Ge-samtthema „Abtreibung“ wieder in das Forum der öf-fentlichen Diskussion zurückzuholen.Diese Motivation scheint nicht auf den Bereich der na-tionalen Politik beschränkt zu sein: Presseberichten zu-folge hat die deutsche Diplomatin Tina Moll – als Ver-handlungsführerin der Europäischen Union – AnfangMärz 2007 einen von den USA und Südkorea vorlegtenEntschließungsantrag der UN-„Kommission für den Sta-tus der Frau“ torpediert. Dessen Ziel war die Verurtei-lung der in zahlreichen Entwicklungsstaaten verbreite-ten Praxis einer gezielten Abtreibung weiblicher Em-bryonen. Begründung der Ablehnung: „Dieser Ent-schließungsantrag ist vor allem ein heimlicher Angriffder USA gegen Abtreibung. Das wollen wir nicht mittra-gen.“5 Nicht mittragen möchte die deutsche Entwick-lungshilfepolitik auch nicht, dass andere souveräneStaaten zu anderen Wertungen gelangen als der deut-sche Gesetzgeber: Nachdem Nicaragua Ende 2006 imWege einer Volksabstimmung ein neues, restriktiveresAbtreibungsgesetz erlassen hatte, intervenierte die deut-

sche Entwicklungshilfeministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul: Das Gesetz verletze „die elementaren Rechte vonFrauen in Nicaragua“. Daher sei der gewählte Staatsprä-sident auf diplomatischem Weg „gemahnt“ worden, „dasneue nicaraguanische Abtreibungsgesetz zu ändern“.„Die internationale Gebergemeinschaft“ habe „unmiss-verständlich deutlich gemacht, dass es zu Konsequenzenin der weiteren Zusammenarbeit … kommen wird,wenn das Gesetz nicht geändert wird“6.Bündelt man diese Beobachtungen zu einer allgemei-nen Positionsbeschreibung, genügt dafür ein einzigesWort: Tabu7. Die gegenwärtige Gesetzeslage hinsichtlichder Abtreibung in Deutschland gilt wesentlichen Akteu-ren (jedenfalls im politischen Raum) als nicht hinterfra-genswert, ja mehr noch: als nicht hinterfragbar. Hinterden 1995 „errungenen“ Stand dürfe es kein „Zurück“mehr geben. Zu diesem (angeblichen) „Rückschrittsver-bot“ gelangt, wer (1.) die tatsächlichen Abläufe einerAbtreibung8 und ihrer Folgen für die betroffene Frau9

verschleiert, (2.) die rechtliche Bewertung der Abtrei-bung in ein „Menschen-“ bzw. „Frauenrecht“ uminter-pretiert und (3.) die Einhaltung der ersten zwei Bedin-gungen mit den Mechanismen der political correctness ab-zusichern versteht.

Lebensschutz und Meinungsfreiheit

Privatdozent Dr. iur. Stefan Mückl, Freiburg

1 Seltene Ausnahme: Im Herbst 2006 unterbreitete der Landesver-band Hessen der Jungen Union dem Deutschlandtag der JU ei-nen Antrag, demzufolge eine grundlegende Überarbeitung dergeltenden gesetzlichen Bestimmungen (namentlich des § 218StGB) erfolgen solle. Vgl. hierzu aus der (spärlichen) Berichter-stattung in der Presse: „Die Tagespost“, Nr. 126 v. 21. Oktober2006, S. 2; ZfL 4/2006, S. III.

2 BVerfGE 88, 203 (309): Beobachtungs- sowie „Korrektur- oderNachbesserungspflicht“.

3 BT-Drs. 14/749, 14/1045, 14/6635, 14/9030 und 14/9494; BT-Drs. 15/3948, 15/4148. – Aus dem Schrifttum Weiß, Menschen-rechtsmagazin 2002, 136; Spieker, Die neue Ordnung 59 (2005),15; aus der Rechtsprechung BGH, ZfL 2003, 83 m. Anm. Wiebe(Vorinstanz: LG Görlitz, ZfL 2003, 87); AG Oldenburg, ZfL 2004,117 m. Anm. Wiebe.

4 Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD vom 11. Novem-ber 2005, Gliederungspunkt B. VI. 5.4, S. 103.

5 Zitiert nach: „Europäer geben Schutz von Frauen preis“, in: „DieTagepost“, Nr. 31 v. 13. März 2007, S. 3.

6 Pressemitteilung des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zu-sammenarbeit und Entwicklung v. 17. November 2006, zugäng-lich unter www.bmz.de/de/presse/pm/pm_20061117_1.html(Zugriff: 28. April 2007).

7 Grundsätzliche Entfaltung der Kategorie für das Staatsrecht: Isen-see, Tabu im freiheitlichen Staat, 2003.

8 Dies offenbart sich bereits auf der terminologischen Ebene: Ab-treibung gilt als Teil von Programmen zugunsten einer „sexuel-len“ oder „reproduktiven“ Gesundheit, ist Ausfluss „geplanter“ o-der „verantworteter Elternschaft“, für ihre Zulässigkeit streitenund ihre Durchführung ermöglichen Organisationen wie „Profamilia“. - Die politische Semantik ist mit der fortwährendenKreation scheinbar positiv belegter Formeln weit über das Ni-veau früherer Kampfbegriffe wie „Schwangerschaftsunterbre-chung“ (deren logische Unhaltbarkeit mittlerweile wohl auchdie Verwender erkannt haben) hinausgelangt.

9 Stichwort: Post-Abortion-Syndrom.

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themaZfL 3/2007 63

Dass die politische Klasse ein Thema trotz seiner politi-schen und gesellschaftlichen Brisanz (die spätestens seitder Diskussion über die demographische Entwicklungfür jedermann offen zutage liegt) beharrlich ignoriert,muss nicht zwingend schaden. Im freiheitlichen Verfas-sungsstaat, zu dessen Lebenselixier der Pluralismus ver-schiedener politischer, religiöser, sozialer und kulturel-ler Überzeugungen zählt, liegt es (auch) an den gesell-schaftlichen Kräften wie an den einzelnen Bürgern, zuverschiedenen Sachthemen Positionen zu entwickeln,zu artikulieren und in freier öffentlicher Debatte werbe-nd für sie zu streiten. Dies zu tun, gewährleistet dieRechtsordnung vor allem durch ihre Grundrechte, spe-ziell die so gen. Kommunikationsfreiheiten wie die Mei-nungs- und die Pressefreiheit.Der durch sie vermittelte Schutz ist, so mag es auf denersten Blick scheinen, stark: Meinungen genießen nachder gemeinhin als „liberal“ geltenden Rechtsprechungdes BVerfG grundrechtlichen Schutz unabhängig vonWertungen und Qualifikationen. Die „wertvolle“ Mei-nung gilt vor der Verfassung ebenso wie die „unbedarf-te“, die „rationale“ ebenso wie die „emotionale“, die all-gemein konsentierte ebenso wie die exzentrische10. Da-mit scheint das Recht, zumal über den Hebel der Grund-rechte, eine Hilfe zu sein, das aufgezeigte Tabu aufzu-brechen. Was in der politischen Arena nicht gesagt wirdoder gesagt werden darf, ohne nicht sogleich vom poli-tischen Gegner oder den Medien skandalisiert zu wer-den, wird kompensiert durch die grundrechtliche Frei-heit gesellschaftlicher Kräfte und engagierter Bürger.Wie wirksam entfaltet sich aber diese Freiheit in derRechtspraxis? Seit etwa zehn Jahren lassen immer wie-der gerichtliche Verfahren aufhorchen, welche – zumTeil scharf formulierte – Äußerungen zum Lebensschutzzum Gegenstand haben11. Regelmäßig ging es um Kon-stellationen, in denen dezidierte Abtreibungsgegner inunmittelbarer räumlicher Nähe zu Abtreibungsklinikenbzw. -praxen unter namentlicher Nennung des verant-wortlichen Arztes ihrer Einstellung mittels Flugblättern,Transparenten oder Sandwich-Plakaten Ausdruck verlie-hen. Hiergegen leiteten die betroffenen Ärzte und Kli-niken (bzw. deren Träger) zivil- und/oder strafrechtli-che Schritte ein. Die rechtliche Bewertung durch die an-gerufenen Gerichte ergab ein wenig einheitliches Bild.Im Mai 2006 hat das BVerfG in zwei Kammerbeschlüs-sen zu ebenfalls Stellung bezogen12, so dass nunmehr ei-ne Bestandsaufnahme angebracht erscheint.

II. Die überkommene Rechtsprechung des BVerfGzur Meinungsfreiheit

Die Judikatur des BVerfG zur Meinungsfreiheit ist seitgeraumer Zeit Gegenstand lebhafter juristischer wie all-gemein-politischer Diskussionen. Speziell Anfang undMitte der 1990er Jahre hat sie durch mehrere (auch in-nerhalb des Gerichts), überaus umstrittene Entschei-

dungen – kulminierend im Verfahren „Soldaten sindMörder“13 – heftige Kontroversen ausgelöst. Galt dieseRechtsprechung ihren Urhebern wie Befürwortern als„liberal“, hielten deren Kritiker ihr entgegen, sie über-schreite die Grenzen von der Liberalität zur Libertina-ge14 und führe mittels einer „Liquidierung des Eh-renschutzes“15 zur „verlorenen Ehre der Bundesbür-ger“16. Einen Hauch der angespannten Atmosphäre je-ner Jahre vermittelt auch heute noch ein Erläuterungs-aufsatz des seinerzeit im 1. Senat des BVerfG für dasDezernat „Meinungsfreiheit“ zuständigen Berichterstat-ters Dieter Grimm17: Er selbst zog in Zweifel, dass die ver-breitet artikulierte Kritik „auf zuverlässiger Kenntnis oder unvoreingenommenen Verständnis der Entschei-dungen“ beruhe18 und musste sich umgekehrt beschei-nigen lassen, „die kanonischen Formeln des Gerichtsunbeirrt und unmodifiziert reproduziert“ zu haben undin seinem Beitrag weniger die rechtswissenschaftlicheDiskussion befruchtet denn ein Dokument mit „Auf-klärungscharakter“ verfasst zu haben19.Die seinerzeitigen Diskussionen mögen hier auf sich be-ruhen. Für das heute relevante Thema ist es aber hilf-reich, die wesentlichen Linien der Rechtsprechung des1. Senats des BVerfG (in der authentischen Interpretati-on durch Grimm) in Erinnerung zu rufen und sie an ei-nigen ausgewählten Beispielen zu verdeutlichen.

1. Allgemeine Kriterien des BVerfGMaßgeblich als Leitentscheidung ist das Lüth-Urteil ausdem Jahr 195820. Darin hat das BVerfG wesentliche Aus-sagen zur Bedeutung des Grundrechts der Meinungs-freiheit entwickelt, auf deren Grundlage die nachfol-gende Judikatur eine höchst ausdifferenzierte Systema-tik errichtet hat. Das BVerfG hatte die Meinungsfreiheitals „für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung... schlechthin konstituierend“21 bezeichnet und darauseine weitreichende Folgerung abgeleitet: Sofern die inRede stehende Äußerung einen Beitrag zur öffentli-chen Meinungsbildung darstelle, es dem sich Äußern-den also nicht um eigene (zumal wirtschaftliche) Ziel-

10 BVerfGE 30, 336 (347) – Jugendgefährdende Schriften; Grimm, NJW1995, 1697 (1698).

11 Erste Zwischenbilanz bei Zimmermanns, ZfL 2005, 80; ders., Mei-nungs- und Pressefreiheit, 2006, S. 43 ff.

12 BVerfG, NJW 2006, 3769 = ZfL 2006, 124 – „Babycaust“; BVerfG,AfP 2006, 550 = ZfL 2006, 135 – „Rechtswidrige Abtreibungen“.

13 BVerfGE 93, 266 – „Soldaten sind Mörder“.14 Sendler, NJW 1993, 2157.15 Kiesel, NVwZ 1992, 1129. 16 Stürner, JZ 1994, 865.17 Von den nachfolgend zitierten Entscheidungen hat Grimm fol-

gende als Berichterstatter vorbereitet: BVerfGE 82, 43 – Strauß-Plakat; 82, 272 - „Zwangsdemokrat Strauß“; 85, 1 – „Kritische Bayer-Aktionäre“; 90, 241 – Auschwitz-Lüge; 93, 266 - „Soldaten sind Mör-der“.

18 Grimm, NJW 1995, 1697.19 So Stürner, JZ 2004, 1018 (1020).20 BVerfGE 7, 198 – Lüth.21 BVerfGE 7, 198 (208); später BVerfGE 93, 266 (292 f.).

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thema64 ZfL 3/2007

setzungen, sondern altruistisch um das Gemeinwohl ge-he, streite eine Vermutung für die Zulässigkeit der frei-en Rede22. Da eine offene Kommunikation essentiell fürden demokratischen Prozess sei, müsse der Gefahr einer„einschüchternden Wirkung“ durch überhöhte Anfor-derungen an die Zulässigkeit einer bestimmten Mei-nungsäußerung begegnet werden23. Eben deshalb seiendie allgemeinen Gesetze „in ihrer das Grundrecht be-schränkenden Wirkung ihrerseits im Lichte der Bedeu-tung dieses Grundrechts“ zu sehen und auszulegen24.Der Rechtsanwender, insbesondere der Instanzrichter,müsse die „Ausstrahlungswirkung“ des Grundrechts aufdas einfache Recht beachten25.In ständiger Rechtsprechung unterscheidet das BVerfGzwischen Tatsachenbehauptungen und Werturteilen.Von ersteren sind einzig erwiesen oder bewusst unwahreTatsachenbehauptungen von vornherein nicht ge-schützt26. Dieser Ausschluss greift allerdings nur dannein, wenn der sich Äußernde die Unwahrheit seinerÄußerung kennt, oder diese evident ist; nicht hingegen,wenn die Unwahrheit erst „das Ergebnis späterer Er-kenntnis, etwa einer gerichtlichen Beweisaufnahmeist“27. In den übrigen Fällen findet eine Abwägung zwi-schen den kollidierenden Belangen – Meinungsfreiheitauf der einen, zumeist Ehrschutz auf der anderen Seite– statt. Einer solchen Abwägung bedarf es nur in zweiFällen nicht, in denen sich der Ehrschutz stets durch-setzt: Zum einen, wenn die Äußerung die Menschen-würde eines anderen antastet, zum anderen, wenn siesich als Schmähkritik darstellt28. Auch diese beiden Aus-schlüsse sind wiederum sehr eng auszulegen; nament-lich soll nach der Rechtsprechung des BVerfG eineSchmähkritik – eine Äußerung, bei der nicht mehr dieAuseinandersetzung in der Sache, sondern die Diffa-mierung der Person im Vordergrund steht29 – in einerdie Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage „nurausnahmsweise“ vorliegen30.Eine nach der Rechtsprechung des BVerfG vorgelagerteFrage ist es, ob die in Rede stehende Äußerung zutref-fend erfasst worden ist. Auf dieser „Deutungsebene“ ver-langt das BVerfG, dass die Gerichte bei mehrdeutigenÄußerungen eine zu einer rechtlichen Sanktion führen-de Deutung nur dann zugrunde legen dürfen, wenn siezuvor andere, den sich Äußernden nicht oder wenigerbeeinträchtigende Deutungsvarianten mit schlüssigenGründen ausgeschlossen haben31. Maßgeblich sei, sodie Praxis wie ihre Begründung, nicht notwendigerwei-se der Text der getroffenen Äußerung, sondern auch ihrKontext. Entscheidend komme es auf ihren Sinn an,„den sie nach dem Verständnis eines unvoreingenom-menen und verständigen Publikums hat“32. Dabei seiinsbesondere auch der jeweilige Kommunikationszu-sammenhang zu berücksichtigen. Da manche Worte o-der Begriffe je nach Kontext verschiedene Bedeutungenhaben könnten, sei stets sorgfältig zu ermitteln, welcherAussagegehalt einer Äußerung tatsächlich zugrunde ge-

legen habe. Besonders strenge Anforderungen stellt dasBVerfG an Begriffe der juristischen Fachterminologie.Da diese in umgangssprachlichen Verwendungszusam-menhängen einen anderen Sinn haben könnten, dürfeder fachspezifische Sinn nicht ohne weiteres zugrundegelegt werden. Geschehe dies gleichwohl, liege bereitsdarin ein „verfassungsrechtlich erheblicher Fehler“33.Das BVerfG betont freilich stets, es gebe selbst das „rich-tige“ Textverständnis keineswegs vor, es schließe viel-mehr allein „objektiv unmögliche Deutungen“ aus undhalte die Instanzgerichte dazu an, alternative Deutungs-möglichkeiten jedenfalls zu erwägen34. Ob sich diestatsächlich so verhält, lässt sich mit Blick auf diverse Ent-scheidungen bezweifeln35.

2. Anwendung der allgemeinen Kriterien in der PraxisAufgrund der allgemeinen Kriterien des BVerfG gibt es,worauf auch dieses selbst immer wieder hinweist, keinegenerelle Präferenz zugunsten des einen oder des ande-res verfassungsrechtlichen Belangs. Die erforderlicheAbwägung erfolgt jeweils fallbezogen und führt notwen-digerweise zu differenzierten Ergebnissen. Da es somitein „System“ einigermaßen berechenbarer und verlässli-cher Kautelen nicht gibt, ist bereits die Rechtsprechungdes BVerfG – erst recht diejenige der Instanzgerichte –alles andere als einheitlich. Dieser Befund rechtfertigtes, einige Blicke in das Fallrecht zu werfen, und die An-wendung der allgemeinen Kriterien kasuistisch nachzu-zeichnen.

a) Lüth (1958)Der leading case des BVerfG zur Meinungsfreiheit hatteein zivilrechtliches Unterlassungsurteil zum Gegen-

22 BVerfGE 7, 198 (212); später BVerfGE 54, 129 (137) – Kunstkritik;85, 1 (16); 93, 266 (294 f.).

23 Eindringlich vor allem Grimm, NJW 1995, 1697 (1703) mit Ver-weis auf BVerfGE 43, 130 (136) – Flugblatt sowie auf die Figur des„chilling effect“ der US-Grundrechtstheorie; abermals BVerfGE 93,366 (292).

24 BVerfGE 7, 198 (208).25 BVerfGE 7, 198 (207).26 BVerfGE 61, 1 (8) – „NPD Europas“; 85, 1 (15); 90, 241 (249, 254).27 Besonders betont von Grimm, NJW 1995, 1697 (1699); aus der

Praxis etwa BVerfGE 99, 185 (197 f.).28 BVerfGE 85, 1 (16); 93, 266 (293 f.).29 BVerfGE 61, 1 (12); 82, 272 (283 f.) – „Zwangsdemokrat Strauß“;

Grimm, NJW 1995, 1697 (1703).30 So BVerfGE 93, 266 (294).31 BVerfGE 43, 130 (136 f.); 82, 43 (52 f.); 82, 272 (280 f.); 85, 1 (14

– zivilrechtliches Unterlassungsurteil); 93, 266 (295 f.); 94, 1 (9)– DGHS; noch jüngst BVerfG, NJW 2006, 3266 (3267) – Mengele-Vergleich. – Erläuternd wie verteidigend Grimm, NJW 1995, 1697(1700 f.), der aber verstärkend „überzeugende“ Gründe verlangt.

32 BVerfGE 93, 266 (295).33 BVerfGE 93, 266 (296), unter Hinweis auf BVerfGE 7, 198 (227);

85, 1 (19); bekräftigend Grimm, NJW 1995, 1697 (1700).34 Grimm, NJW 1995, 1697 (1700).35 S. nur LG Mainz, NStZ-RR 1996, 330; zu einer weiteren Fallge-

staltung im hier interessierenden sachlichen Kontext noch un-ten IV. 2. – Eingehende Kritik bei Isensee, in: FS Kriele, 1997, S. 5(42 ff.).

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stand36: Der Hamburger Senatsdirektor Erich Lüth hatte– als Vorsitzender eines Presseclubs – in einem OffenenBrief zum Boykott des Films „Die unsterbliche Geliebte“des Regisseurs Veit Harlan aufgerufen. Harlan hatte 1940den antisemitischen Propagandafilm „Jud Süß“ gedreht,war aber nach 1945 in einem Strafverfahren freigespro-chen worden. Lüth bezeichnete es als „Recht“ und„Pflicht ... anständiger Deutscher“, „sich im Kampf ge-gen diesen unwürdigen Repräsentanten des deutschenFilms ... auch zum Boykott bereitzuhalten“. Sein Frei-spruch sei „nur ein formeller“, aus der Urteilsbegrün-dung ergebe sich hingegen eine „moralische Verdam-mung“. Die Zivilgerichte gaben der auf § 826 BGB gestützten Unterlassungsklage gegen Lüth statt. Das BVerfG hob diese Urteile wegen Verstoßes gegen dieMeinungsfreiheit auf.

b) „Kritische Bayer-Aktionäre“ (1991)Ein Verein, der sich betont kritisch mit der Tätigkeit desBayer-Konzerns auseinandersetzte, hatte ein Flugblattverteilt, in dem es u. a. hieß: „Gefahren für die Demo-kratie. In seiner grenzenlosen Sucht nach Gewinn undProfiten verletzt BAYER demokratische Prinzipien,Menschenrechte und politische Fairness. MissliebigeKritiker werden bespitzelt und unter Druck gesetzt,rechte und willfährige Politiker werden unterstützt undfinanziert“37. Die von Bayer vor den Zivilgerichten ange-strengten Klagen auf Unterlassung und Widerruf hattenteilweise Erfolg. Das BVerfG beanstandete auch dieseEntscheidungen als den verfassungsrechtlichen Anfor-derungen nicht Rechnung tragend. Die Zivilgerichtehätten den Wertgehalt der Meinungsfreiheit schon aufder Deutungsebene nicht ausreichend berücksichtigt.Das BVerfG, das den Instanzgerichten recht wohlwollen-de Alternativdeutungen der Wendungen „bespitzeln“und „unter Druck setzen“ ansann38, stellte für die erneu-te fachgerichtliche Prüfung detaillierte Vorgaben auf39.

c) „Soldaten sind Mörder“ (1992-95)Wesentlichen Anteil an der heftigen Kritik der fachli-chen wie der allgemeinen Öffentlichkeit am Verständ-nis der Meinungsfreiheit durch das BVerfG hatte dessenJudikatur zu Einlassungen wie „Soldaten sind (potentiel-le) Mörder“40. Nahezu alle Verfassungsbeschwerden ge-gen die (regelmäßig mäßigen) strafgerichtlich verhäng-ten Geldstrafen hatten unter Berufung auf die Mei-nungsfreiheit Erfolg. Das BVerfG beteuerte stets, sichweder zur Erlaubtheit der Aussage geäußert noch derenInhalt gebilligt zu haben41. Doch gelangte es stets zumErgebnis, die Strafgerichte hätten den Ausdruck „Mör-der“ zu Lasten der sich Äußernden interpretiert: Sie hät-ten verkannt, dass damit „nicht notwendig der Vorwurfeiner schwerkriminellen Haltung oder Gesinnung“ ver-bunden sei. Alternative Deutungen seien unberücksich-tigt geblieben. Eine solche könnte nach Ansicht des BVerfG wie folgt lauten: „Vielmehr kann der sich Äu-

ßernde auch in besonders herausfordernder Form darauf aufmerksam machen, dass Töten im Krieg keinunpersönlicher Vorgang ist, sondern von Menschen-hand erfolgt. Es ist daher nicht von vornherein auszu-schließen, dass die Formulierung bei den ... im Solda-tenberuf Stehenden das Bewusstsein der persönlichenVerantwortlichkeit für das insgesamt verurteilte Gesche-hen wecken und so die Bereitschaft zur Kriegsdienstver-weigerung fördern sollte.“42

d) Greenpeace (1999)Greenpeace führte unter dem Motto „Alle reden vomKlima – wir ruinieren es“ eine bundesweite Plakatseriegegen FCKW-produzierende Unternehmen durch. DiePlakate zeigten Porträtfotos von zahlreichen Managernund Unternehmern, u. a. des Vorstandsvorsitzendenvon Hoechst. Dieser wurde namentlich genannt, unterseinem Foto stand der Text: „Absolute Spitze bei Ozon-zerstörung und Treibhauseffekt: Verantwortlich für diedeutsche Produktion des Ozon- und Klimakillers FCKW.Rufen Sie an“. Die vom Hoechst-Manager angerufenenZivilgerichte wiesen die auf die Verletzung des allgemei-nen Persönlichkeitsrechts gestützte Unterlassungsklageab. Die hiergegen erhobene Verfassungsbeschwerdenahm das BVerfG nicht zur Entscheidung an43: Das all-gemeine Persönlichkeitsrecht verleihe „seinem Trägerkeinen Anspruch, nur so in der Öffentlichkeit darge-stellt zu werden, wie er sich selbst sieht oder von ande-ren gesehen werden möchte“44. In der Plakataktion lie-ge keine unzulässige Prangerwirkung45. Das Vorgehenvon Greenpeace wird als „Personalisierung eines Sach-anliegens in anklagender Weise“46 in mildes Licht ge-setzt. Auf der anderen Seite hält es das BVerfG für legi-tim, „in dieser die Öffentlichkeit wesentlich berühren-den Frage Druck auf Unternehmen auszuüben“. DieAnnahme der Zivilgerichte, derzufolge sich „eine Per-son, die ... kraft ihrer Stellung Entscheidungen von sol-cher Tragweite“ zu verantworten habe, „in besondererWeise der Kritik zu stellen“ habe, bestehe „zu Recht“47.

36 Eingehend zum Verfahren wie zum Hintergrund Henne/Riedlin-ger (Hrsg.), Das Lüth-Urteil aus (rechts-)historischer Sicht, 2005.

37 Sachverhaltsschilderung in BVerfGE 85, 1 (3).38 BVerfGE 85, 1 (18 ff.).39 Näher BVerfGE 85, 1 (21 ff.).40 BVerfG, NJW 1992, 2073 – „geb. Mörder“ (Senat); NJW 1992, 2750

– „Soldaten sind potentielle Mörder“ (Kammer); NJW 1994, 2943 –„Soldaten sind Mörder“ (Kammer); BVerfGE 93, 266 – „Soldatensind Mörder“ (Senat).

41 Grimm, NJW 1995, 1697 (1700).42 BVerfGE 93, 266 (298); ähnlich zuvor bereits BVerfG, NJW 1994,

2943 f.43 BVerfG, NJW 1999, 2358 – Greenpeace-Plakat.44 BVerfG, NJW 1999, 2358 (2359).45 Zur Kategorie der „Prangerwirkung“ BGH, NJW 1994, 124; in

der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung rezipiert etwa in BVerfGE 97, 391 (406).

46 So BVerfG, NJW 1999, 2358 (2359).47 Ebd.

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III. Die Verschiebung der Maßstäbe in neueren Ent-scheidungen des BVerfG

Neuerdings hat das BVerfG seine Rechtsprechung in ei-nem wesentlichen Punkt geändert; im Hinblick auf sei-ne bisherigen Maßstäbe überraschend – und ohne einWort der Begründung:

1. Stolpe-Beschluss (2005)Im Rahmen der politischen Diskussion über eine Fusionder Bundesländer Berlin und Brandenburg hatte einRepräsentant des politischen Gegners in einer Fernseh-sendung über den damaligen brandenburgischen Mi-nisterpräsidenten geäußert: „Die Tatsache, dass HerrStolpe, wie wir alle wissen, IM-Sekretär, über 20 Jahre imDienste des Staatssicherheitsdienstes tätig, dass der dieChance erhält, hier in Berlin (...) Ministerpräsident zuwerden, ... das verursacht mir doch erhebliche Kopf-schmerzen“. Die Unterlassungsklage von Stolpe hatte derBGH in letzter Instanz abgewiesen48, seine hiergegen er-hobene Verfassungsbeschwerde hatte unter Berufungauf das allgemeine Persönlichkeitsrecht Erfolg49.Da der BGH – wenn auch mit gewissem Widerstreben50

– auf der Basis der ständigen Rechtsprechung des BVerfG operiert hatte, ist die inhaltlich gegenläufigeEntscheidung des BVerfG nur mit einer Änderung derrechtlichen Maßstäbe erklärbar. In der Tat hat hier dasBVerfG einen „Kurswechsel“51 vorgenommen. Die Äu-ßerung, Stolpe sei „über 20 Jahre im Dienste des Staats-sicherheitsdienstes tätig“ gewesen, sei zwar mehrdeutig.Der vom BGH zugrunde gelegte, vom BVerfG in jahre-langer, mühevoller erzieherischer Arbeit den Fachge-richten aufgegebene Maßstab, die den sich Äußerndenbelastende Deutungsvariante nur dann zugrunde zu le-gen, wenn zuvor andere – den sich Äußernden wenigerbelastende – Varianten mit schlüssigen Gründen ausge-schlossen worden sind, dürfe hier nicht angewendetwerden52. Dieser Maßstab gelte nur für die Überprüfungnachträglicher Sanktionen von mehrdeutigen Äußerun-gen. Gehe es aber um die Frage der zukünftigen Unter-lassung derartiger Äußerungen, verhalte es sich tenden-ziell umgekehrt. Der sich Äußernde könne ja klarstel-len, wie er seine Äußerung eigentlich meine. Wenn undsolange er dazu nicht bereit sei, müssten die Gerichtebei der Würdigung mehrdeutiger Äußerungen nun ge-rade „die das Persönlichkeitsrecht stärker verletzendeDeutungsvariante zu Grunde“ legen53. Diese nun kreier-te „Privilegierung des zivilrechtlichen Unterlassungsan-spruchs“54 wird vom BVerfG bezeichnenderweise wederin eine auch nur scheinbare Kontinuität zu seiner bishe-rigen Rechtsprechung gestellt noch im Ansatz begrün-det. Es findet sich allein die apodiktische Feststellung,bei gerichtlichen Entscheidungen über die Unterlas-sung zukünftiger Äußerungen bestehe nicht „ein glei-cher Schutzbedarf für die individuelle Grundrechts-ausübung“ wie bei der nachträglichen Sanktion vonÄußerungen55. Diese – folgenreiche – Veränderung der

verfassungsgerichtlichen Parameter ist im wissenschaft-lichen Schrifttum überwiegend auf Kritik gestoßen56.

2. „Babycaust“-Beschluss (2006)Die im Stolpe-Beschluss begonnene Neujustierung desVerhältnisses von Meinungsfreiheit und kollidierendenGrundrechtsbelangen findet nun – erstmals erprobt anabtreibungskritischen Äußerungen – ihre FortsetzungundWeiterführung. Bezog das BVerfG die von ihm pos-tulierte Klarstellungsobliegenheit in der Entscheidungin Sachen Stolpe auf Tatsachenbehauptungen, erstreckt esdiese nun auch auf Werturteile.Ein Abtreibungsgegner hatte vor einem Nürnberger Kli-nikum, auf welchem „Dr. F., ein Arzt für Frauenheilkun-de und Geburtshilfe“57, seine auf Schwangerschaftsab-brüche spezialisierte Praxis als rechtlich selbständigenBetrieb führt, eine Flugblattaktion durchgeführt. Insehr dezidierten Worten hatte der Abtreibungsgegnerden Abtreibungsarzt als „Tötungsspezialist für ungebo-rene Kinder“ bezeichnet und an die Adressaten derFlugblätter den Appell gerichtet: „Stoppen Sie den Kin-der-Mord im Mutterschoß auf dem Gelände des Klini-kum N. Damals: Holocaust – heute: Babycaust. Wer hier-zu schweigt, wird mitschuldig!“ Der Abtreibungsarzt lei-tete gegen den Abtreibungsgegner sowohl straf- alsauch zivilrechtliche Schritte ein – mit durchaus unter-schiedlichem Erfolg: Wegen der Äußerung „damals Ho-locaust, heute: Babycaust“ wurde der Abtreibungsgeg-ner wegen Beleidigung (des Arztes sowie der StadtNürnberg als Trägerin der Klinik, die gleichfalls Strafan-trag gestellt hatte) verurteilt. Hingegen hatte die Unter-lassungsklage des Abtreibungsarztes unter Hinweis auf

48 BGHZ 139, 95.49 BVerfGE 114, 339 – Stolpe.50 Nachw. bei Hochhuth, NJW 2006, 189, Fn. 4.51 Zutreffend Hochhuth, NJW 2006, 189.52 BVerfGE 114, 339 (349).53 BVerfGE 114, 339 (350, 352).54 Treffende Charakterisierung von Hochhuth, NJW 2006, 189 (190).55 BVerfGE 114, 339 (350).56 Pieroth/Schlink, Grundrechte Staatsrecht II, 22. Aufl. 2006, Rn.

596; Teubel, AfP 2006, 20; Gas, ZfL 2006, 131 (132); Seelmann-Egge-bert, AfP 2007, 86; affirmativ dagegen Hochhuth, NJW 2006, 189(191): das BVerfG sei „zu beglückwünschen“.

57 Bei „Dr. F.“ handelt es sich um Dr. Andreas Freudemann – einendem BVerfG bekannter Beschwerdeführer: 1998 hatte er – mitanderen auf Abtreibungen spezialisierten Ärzten – gegen dasBayerische Schwangerenhilfeergänzungsgesetz Verfassungsbe-schwerde erhoben, welches BVerfGE 98, 265 in seinen wesentli-chen Teilen mit 5:3 Stimmen für nichtig erklärte. Nach den sei-nerzeitigen Feststellungen (BVerfGE 98, 265 [286]) nimmt erjährlich zwischen 3.000 und 4.000 Abtreibungen vor (täglich biszu 16); hieraus erzielte er zwischen 1994 und 1997 zwischen 77%und 87% seiner Einnahmen). Freudemann beteiligt sich medien-wirksam und dezidiert an der Debatte um Abtreibungen: Für ihnist „(E)in Embryo ... kein Mensch“. Sein Beruf „erfüllt (ihn) aufjeden Fall mit Befriedigung“, „vor allem dann, wenn ich einer ge-schundenen Frau ein Stück ihrer verloren gegangenen Würdewieder zurückgeben kann“. Abtreibungsgegner sind ihm hinge-gen „verbohrte Menschen, die vernünftigen Argumenten ge-genüber nicht aufgeschlossen sind“. Sämtliche Zitate: „Abendzei-tung Nürnberg“ v. 24./25.8.2002, S. 1 und 7.

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eine Entscheidung des BGH aus dem Jahr 200058 keinenErfolg. Gegen die fachgerichtlichen Entscheidungenlegten beide Beteiligten Verfassungsbeschwerde ein, diedas BVerfG zu gemeinsamer Entscheidung verband59.Auch hier war der Erfolg unterschiedlich: Während dieVerfassungsbeschwerde des Abtreibungsgegners bis aufeine Marginalie60 zurückgewiesen wurde, hatte diejeni-ge des Abtreibungsarztes überwiegend Erfolg.Dabei bildet die inkriminierte Aussage „Kindermord imMutterschoß“ den Schwerpunkt der Verfassungsbe-schwerde. Die Vorinstanz hatte darin noch ein „zulässi-ges Werturteil“ gesehen, was nun das BVerfG als Außer-achtlassen der verfassungsrechtlichen Anforderungenbeanstandet. Zu dieser Einschätzung gelangt das Ge-richt, indem es seine – begründungsfreien – Ausführun-gen aus dem Stolpe-Beschluss zitiert, um dann – gleich-falls ohne jegliche Begründung – mit einem einzigenSatz fortzufahren: „Diese Aussagen (scil.: des Stolpe-Be-schlusses) sind nicht auf Tatsachenaussagen begrenzt,sondern ebenso maßgeblich, wenn wie vorliegend eindas Persönlichkeitsrecht beeinträchtigendes Werturteilin Frage steht“.61

Diese Ausweitung der einem sich Äußernden abverlang-ten Obliegenheit zur Klarstellung auch auf Werturteilehat in der Literatur nahezu einhellige und überaus hef-tige Kritik ausgelöst. Unter der Überschrift „Schatten ü-ber der Meinungsfreiheit“ wurde dem BVerfG vorgehal-ten, es breche mit der „Vermutung für die Zulässigkeitder freien Rede“. Mehr noch: das BVerfG falle „um 24Jahre (und 50 Entscheidungsbände) zurück“, was letzt-lich dazu führe, dass die Meinungsfreiheit „verabschie-det“ werde62. Doch auch eine im Tonfall moderatereKritik konstatierte, das BVerfG „rüttelt ... an Grundfes-ten der Meinungsfreiheit“63.Soweit die Kritik die Hoffnung aussprach, die Instanzge-richte mögen die Grundsätze der – in der Tat – neuenRechtsprechung „nicht unreflektiert umsetzen“64, hatsie in casu jedenfalls getrogen: Mittlerweile hat das OLGNürnberg, dessen klagabweisendes Urteil das BVerfGauf Verfassungsbeschwerde des Abtreibungsarztes hin überwiegend aufgehoben hat, ganz im Sinne des BVerfG entschieden65. Das OLG betonte, das BVerfGhabe „im konkreten Fall ... festgestellt, wie die ... Äuße-rungen zu deuten sind“66, weshalb ihm „kein Spielraumfür eine anderweitige Deutung des Flugblattes“ verblei-be“67. Daher müsse die Unterlassungsklage insoweit Er-folg haben. Nur am Rande: Die vom OLG angenomme-nen Prämissen sind unzutreffend. Das BVerfG pflegtselbst immer wieder zu betonen, es treffe keine ab-schließende Festlegung in der Sache selbst68. Legt mannun diese Aussage zugrunde, zwingt die Argumentationdes OLG Nürnberg zur Schlussfolgerung, dass das OLGeine Bindung an die Entscheidung des BVerfG ange-nommen hat, wo eine solche weder bestand (§ 31 Abs. 1BVerfGG) noch überhaupt beabsichtigt war. Dann aberläge in der bloßen Bezugnahme des OLG auf die Aus-

führungen des BVerfG unter Verzicht auf eigenständigeWertungen ein neuerlicher Verfassungsverstoß – diesesMal zu Lasten des Abtreibungsgegners.

3. „Rechtswidrige Abtreibungen“Gleichzeitig mit der „Babycaust“-Entscheidung ergingein weiterer Beschluss des BVerfG, der gleichfalls eineFlugblattaktion vor einer (Heilbronner) Abtreibungs-praxis betraf. Dort hatte ein Abtreibungsgegner an Pas-santen Handzettel verteilt, auf denen - unter Angabe desvollen Namens des Abtreibungsarztes sowie seiner Pra-xisadresse - folgende Formulierungen verwendet wur-den: „Stoppt rechtswidrige Abtreibungen in der PraxisDr. K“ sowie „Wussten Sie, dass in der Praxis von Dr. Krechtswidrige Abtreibungen durchgeführt werden?“ AufKlage des Abtreibungsarztes wurde der Abtreibungsgeg-ner von den Zivilgerichten zur Unterlassung verurteilt69.Dessen Verfassungsbeschwerde nahm das BVerfG nichtzur Entscheidung an70.Die Zivilgerichte hatten bei ihren Entscheidungen alsProblem thematisiert, ob die Wendung von den „rechts-widrigen Abtreibungen“ als unwahre Tatsachenbehaup-tungen zu werten sei – mit der erwähnten Folge, dassdann die Äußerung schon gar nicht in den Schutzbe-reich der Meinungsfreiheit fallen würde. In der Tat hatdas LG in diesem Sinn entschieden. Das OLG operiertevorsichtiger, nämlich alternativ: Die Frage, ob die Äuße-rung Tatsachenbehauptung oder Werturteil sei, könnedahinstehen. Denn in beiden Fällen greife der Unterlas-sungsanspruch des Abtreibungsarztes durch.In diesem Vorgehen vermochte das BVerfG keinen Ver-fassungsverstoß zu erkennen. Die Argumentation der Zi-vilgerichte, die Äußerung des Abtreibungsgegners müs-se „in ihrem umgangssprachlichen Sinn verstanden wer-den“ – nämlich: Identifikation einer „rechtswidrigen“mit einer „verbotenen“ und daher „strafbaren“ Abtrei-bung, da die gesetzliche Regelung der §§ 218, 218aStGB nur „dem juristischen Experten“ zugänglich sei –akzeptiert das BVerfG. Zwar konzediert es unter knap-pem Hinweis auf eine exakt gegenteilige Bewertung

58 BGH, NJW 2000, 3421.59 BVerfG, NJW 2006, 3769 = ZfL 2006, 124 – „Babycaust“.60 Für nicht tragfähig erachtete das BVerfG allein die Verurteilung

des Abtreibungsgegners wegen Beleidigung zum Nachteil derStadt Nürnberg: BVerfG, NJW 2006, 3769 (3771) = ZfL 2006, 124(128). - Mittlerweile hat der Abtreibungsgegner gegen den Be-schluss des BVerfG Menschenrechtsbeschwerde zum EGMR ein-gelegt (Beschwerde-Nummer: 2322/07).

61 BVerfG, NJW 2006, 3769 (3773) = ZfL 2006, 124 (130).62 Sämtliche Zitate: Hochhuth, NJW 2007, 192.63 Seelmann-Eggebert, AfP 2007, 86 (91).64 Ebd.65 OLG Nürnberg, Urt. v. 27.11.2006 - 8 U 977/99 -.66 Ebd., UA S. 10.67 Ebd., UA S. 11.68 Statt aller Grimm, NJW 1995, 1697 (1707).69 Zuletzt – in einem überaus ökonomisch begründeten Nichtan-

nahmebeschluss - BGH, NJW 2003, 2011.70 BVerfG, AfP 2006, 550 (553) = ZfL 2006, 135 – „Rechtswidrige Ab-

treibungen“.

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durch das OLG Karlruhe71, die hier von den Zivilgerich-ten vorgenommene Deutung sei nicht die einzig mögli-che. Doch da auch hier ein Unterlassungsbegehren inRede stehe, habe bei der Auslegung diejenige Deu-tungsvariante Berücksichtigung zu finden, welche zu einer schwereren Persönlichkeitsverletzung führt.Schließlich könne der sich Äußernde ja klarstellen,durch eine eindeutige Wortwahl zum Ausdruck zu brin-gen, dass er dem Abtreibungsarzt jedenfalls kein strafba-res Handeln vorwerfe72. Einmal mehr wiederholt sichhier die seit dem Stolpe-Beschluss neu eingeführte Klar-stellungsobliegenheit. Mit der interpretativ vorgenom-menen Gleichsetzung von „rechtswidrigen“ mit „verbo-tenen“ Abtreibungen bahnt sich das BVerfG mühelosdie in einem Satz vornehmbare wie vorgenommeneSubsumtion: „Die Äußerung ... ist unwahr.“73 Vor allemaber erspart sich das Gericht eine Auseinandersetzungmit dem vom BVerfG – freilich dem Zweiten Senat – imzweiten Abtreibungsurteil aufgestellten Postulat, vonVerfassungs wegen müssten Abtreibungen grundsätzlichals rechtswidrig eingestuft werden74.Auch für den Fall, dass die streitbefangene Äußerung alsWerturteil einzustufen wäre, muss nach Ansicht des BVerfG die Meinungsfreiheit des Abtreibungsgegnershinter das Persönlichkeitsrecht des Abtreibungsarzteszurücktreten. In der Begründung stützt das Gericht dieAusführungen der Zivilgerichte zu der vom Abtrei-bungsgegner beabsichtigten und erzielten „Prangerwir-kung“: „Der Beschwerdeführer hat den Kläger mit voll-em Namen und unter Benennung seiner Praxisanschriftsowie durch Verteilung des Flugblatts in der Nähe derPraxis in einer Weise herausgestellt, die der BGH innachvollziehbarer Weise als Anprangerung umschrie-ben hat“75. In der Sache lässt sich das gewiss hören. Nur:Dann wäre eine Auseinandersetzung mit der inhaltlichgegenläufigen Greenpeace-Entscheidung erwartbar ge-wesen – sie wird vom BVerfG allein im Zitat gestreift76,in der Sache aber unerörtert gelassen.Ergänzend meint das BVerfG, der Abtreibungsarzt habedem Abtreibungsgegner „keinen Anlass gegeben, ausder Gruppe der Ärzte, die Schwangerschaftsabbrüchevornehmen, gerade ihn herauszustellen und ihn gezieltbei Dritten anzuprangern“. Ein solcher Anlass besteheauch nicht in dem Umstand, dass der Abtreibungsarzt„seine Bereitschaft zur Durchführung von Schwanger-schaftsabbrüchen öffentlich hatte erkennen lassen“,denn: damit bewege sich der Abtreibungsarzt innerhalbder Rechtsordnung77.

IV. Bewertung und Kritik

1. Fehlende Tragfähigkeit der Unterscheidung zwischenSanktionierung vergangener und Unterlassung zukünfti-ger ÄußerungenAuf erhebliche Bedenken im Grundsätzlichen muss be-reits die jüngst eingeführte Unterscheidung stoßen, mit

der das BVerfG die Sanktionierung einer vergangenenÄußerung gänzlich anderen rechtlichen Bewertungs-mustern unterwerfen möchte als deren zukunftsgerich-tete Unterlassung. Diese Differenzierung ist nicht trag-fähig. Denn entgegen der (nicht gerade unbedingt überzeugt klingenden) Darlegungen des BVerfG ist die Funktionsfähigkeit des Meinungsbildungsprozessesauch dann – und zwar in vergleichbarer Weise – berührt,wenn es um einen „bloß“ zukunftsgerichteten Unterlas-sungsanspruch geht. Wird dem sich Äußernden ange-sonnen, „sich in Zukunft eindeutig zu äußern“78, „denInhalt seiner mehrdeutigen Aussage ... klarzustellen“79,können damit sehr wohl Einschüchterungseffekte (chil-ling effects) verbunden sein80, die das BVerfG seit Anbe-ginn seiner Judikatur zur Meinungsfreiheit zu unterbin-den bestrebt ist. Von der Warte des sich Äußernden be-trachtet, ist im Zeitpunkt seiner Äußerung vollkommen of-fen, ob der von dieser Äußerung Betroffene „nur“ fürdie Zukunft Unterlassung verlangt oder aber zum schär-feren Schwert zivilrechtlicher Schadenersatzansprücheund/oder strafrechtlicher Verfolgung greift. Sollen nunaber für das Verständnis ein- und derselben Äußerungunterschiedliche Maßstäbe gelten, wird ein „vorsichti-ger“ Grundrechtsträger in jedem Fall die zurückhalten-dere Formulierung wählen – obgleich sie im Falle ihrerrepressiven zivil- oder strafrechtlichen Sanktionierunggar nicht veranlasst gewesen wäre.Eben dieser Mechanismus führt zu einer Beeinträchti-gung des Prozesses der freien Meinungsbildung. Letzt-lich wird dem sich Äußernden abverlangt, seine Aussageso zu fassen, dass ihr die „Spitze“ genommen wird, dasssie nicht mehr trifft, dass der von ihr Betroffene von ihrnicht mehr berührt wird. Diesem wird es in die Handgegeben, sich mittels zivilrechtlicher Unterlassungskla-gen (die im übrigen infolge der anwaltlichen Praxis, siemit einer Kostennote sowie einer Strafbewehrung zuversehen, gleichfalls Sanktionscharakter trägt) gegenKritik zu immunisieren, wenn es ihm nur gelingt, dasGericht von einer „nicht fernliegenden“, seine Persön-lichkeitsrechte beeinträchtigen Deutungsvariante zu ü-berzeugen. Was dann allerdings das BVerfG gerade imhier interessierenden Zusammenhang als „nicht fernlie-gend“ durchgehen lässt, liegt – zurückhaltend formu-liert – alles andere als nahe: Dass die Polemik des „Baby-caust“ eine „unmittelbare Gleichsetzung (mit dem) na-

71 OLG Karlsruhe, NJW 2003, 2029.72 BVerfG, AfP 2006, 550 (552) = ZfL 2006, 135 (137).73 Ebd.74 BVerfGE 88, 203 (255, 273, 279). - Näher dazu unten IV. 4. a).75 BVerfG, AfP 2006, 550 (553) = ZfL 2006, 135 (138).76 Ebd., zumal in wenig aussagekräftiger Diktion („vgl.“) und Be-

zugsgröße (Menschenwürde, Schmähkritik).77 Ebd.78 So BVerfGE 114, 339 (350).79 BVerfG, NJW 2006, 3769 (3773) = ZfL 2006, 124 (130).80 Ebenso Teubel, AfP 2006, 20 (21 f.); Seelmann-Eggebert, AfP 2007,

86 (88).

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tionalsozialistischen Holocaust“ sein sollte oder könn-te81, drängt sich – ebenfalls zurückhaltend formuliert –nicht gerade auf82.Mehr als derartige fallbezogene Gewagtheiten muss esBesorgnis für den Prozess der freien Meinungsbildungauslösen, wenn das BVerfG dem Grundrechtsträger sub-kutane Anleitungen für den „richtigen“ Grundrechtsge-brauch zu vermitteln versucht: „Bei der Gewichtung desPersönlichkeitsrechts durfte berücksichtigt werden, dassder Beschwerdeführer sich nicht auf eine allgemeineKritik an Abtreibungen oder auf die Behauptung derVornahme ‚rechtswidriger‘ Abtreibungen begrenzt hat,sondern aus der Gruppe von Ärzten, die Schwanger-schaftsabbrüche vornehmen, den Kläger exemplarischherausgegriffen und ihn persönlich angegriffen hat.“83

Diese Passage illustriert die erwähnte Gefahr, vom sichÄußernden zu verlangen, einen von ihm erkannten kri-tikwürdigen Zustand so zu „kritisieren“, dass die Kritikohne Zuspitzung, Konkretisierung und öffentlicheWahrnehmung bleibt. Dient es wirklich der öffentlichenDebatte und der „freien Rede“, zwar „allgemein“ Abtrei-bung kritisieren zu dürfen84, aber einen maßgeblichenAkteur – ohne den dieser Vorgang, welchen er nicht sel-ten in hohem Maße gewerbstätig betreibt85, schlechter-dings nicht denkbar ist – aussparen zu sollen?

2. Interpretation von mehrdeutigen ÄußerungenEinmal mehr erweist sich die vom BVerfG vorgenomme-ne Interpretation von mehrdeutigen Äußerungen alsproblematisch. Neu ist dieser Befund nicht. Gerade die„meinungsfreundliche“ Judikatur der 1990er Jahre warauf teilweise heftige Kritik gestoßen, die vor allem dievom BVerfG praktizierte benigna interpretatio bestimmterÄußerungen betraf. Nun scheinen sich die Perspektivenzu verschieben. Unternahm das BVerfG, zumal sein Er-ster Senat, seinerzeit aufwendige exegetische Bemühun-gen, Äußerungen über ihren wörtlichen Gehalt hinauszu „kontextualisieren“ , scheint gegenwärtig mehr dasBestreben vorzuherrschen, den sich Äußernden an e-ben jenem Wortlaut festzuhalten. Noch vor einem Jahr-zehnt zeigte sich das BVerfG überaus kreativ, bestimm-ten Äußerungen Deutungsmöglichkeiten zu entneh-men (und sie den Instanzgerichten als „naheliegend“ o-der zumindest „denkbar“ anzusinnen), auf die der gernin Anspruch genommene „Durchschnittsrezipient“ (ver-mutlich auch der sich Äußernde) so schnell nicht ge-kommen wäre87. Demgegenüber zeigt sich das BVerfGneuerdings eher phantasiearm, wenn alternative Deu-tungsmöglichkeiten eher knapp und unwillig als „fern-liegend“ abgeschnitten werden. Die Gefahr ist in beidenFällen die gleiche – mittels richterlicher Dezision alleindem subjektiven Verständnis des Rechtsanwenders zumDurchbruch zu verhelfen88.Es wäre gewiss zu vordergründig, die unterschiedlicheHerangehensweise einfach an den jeweils in Rede ste-henden Sachaussagen festmachen zu wollen89. Gleich-

wohl ist auffällig, wie die ehedem überaus wohlwollendeInterpretation „gesellschaftskritischer“ Positionen (parspro toto: „Soldaten sind Mörder“) mit der stringentenAuslegung von abtreibungskritischen Positionen kon-trastiert. Vergleicht man die jeweiligen Entscheidungs-passagen, wird auf der einen Seite das Bemühen gerade-zu handgreiflich, den sich Äußernden zu „verstehen“und zu ergründen, wie er seine Äußerung „eigentlich“gemeint hat (oder gemeint haben könnte)90. DerartigeAnstrengungen werden in den hier relevanten Konstel-lationen erst gar nicht unternommen; Duktus, Formu-lierung und Argumentation sprechen hier ihre eigeneSprache.

3. Annahme von unwahren TatsachenbehauptungenWenig einleuchtend ist ferner, wenn das BVerfG diejeni-gen zivilgerichtlichen Unterlassungsurteile aufrechter-hält, in denen die Aussage von Abtreibungsgegnern, einAbtreibungsarzt führe „rechtswidrige Abtreibungen“durch, als unwahre Tatsachenbehauptungen einstuft. Eben diese Bewertung hatte das BVerfG – allerdings derZweite Senat – in seinem zweiten Abtreibungsurteil von1993 als „von der Verfassung geboten“ eingestuft91. Zwarhat der (Straf-)Gesetzgeber die gemeinhin als „rechts-widrig, aber straffrei“-Formel des BVerfG92 nicht mit dergebotenen Klarheit zum Ausdruck gebracht93, indem erfür bestimmte Abtreibungen die Technik des so gen.Tatbestandsausschlusses gewählt hat (§ 218a Abs. 1StGB). Doch umgekehrt hat das BVerfG nicht verlangt,das Unwerturteil der Rechtsordnung über Abtreibun-gen müsse gerade und ausschließlich im Strafrecht zurGeltung kommen, vielmehr hat es dem Gesetzgeber in-soweit seinen weiten Gestaltungsspielraum belassen. Inkeinem Fall aber vermag eine unzureichende gesetzge-

81 So BVerfG, NJW 2006, 3769 (3774) = ZfL 2006, 124 (131).82 Zutreffende Kritik bei Gas, ZfL 2006, 131 (133): BVerfG geht

„von einem völlig unmündigen Rezipienten“ aus; Seelmann-Egge-bert, AfP 2007, 86 (88): BVerfG stellt „den Urheber der Äußerung... gegenüber dem subjektiven Empfinden des instanzgerichtli-chen Richters schutzlos“.

83 BVerfG, AfP 2006, 550 (552) = ZfL 2006, 135 (137 f.).84 Zur verfassungsrechtlichen Bewertung der Abtreibung in frühe-

ren Judikaten des BVerfG s. sogleich 4. a).85 S. oben die Angaben in Fn 57; ferner unten Fn 101.86 Explizit Grimm, NJW 1995, 1697 (1700).87 Paradebeispiel: BVerfGE 81, 298 (300, 307) – allerdings hinsicht-

lich der Kunstfreiheit.88 Seelmann-Eggebert, AfP 2007, 86 (88 f.).89 Gas/Körner, AfP 2007, 17 (18), nehmen das BVerfG vor dem Vor-

wurf in Schutz, dieses messe Meinungsäußerungen mit zweierleiMaß.

90 BVerfGE 93, 266 (305 f., 309 f., 310 f.); BVerfG, NJW 1992, 2073(2074); 1994, 2943 f. – hinsichtlich der Meinungsfreiheit; ähn-lich BVerfGE 81, 278 (294 ff.); 298 (306 ff.). - hinsichtlich derKunstfreiheit.

91 Nachw. oben Fn 74.92 Freilich hält schon BVerfGE 88, 203 das eigene Konzept nicht

konsequent durch; auf die nicht wenigen logischen Brüche derEntscheidung weist Rüfner, ZfL 1993, 21, hin.

93 Berechtigte Kritik insoweit jüngst bei Tröndle, in: FS Otto, 2007, S.821 (824, 830)

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berische Umsetzung des bundesverfassungsgerichtli-chen Postulats dieses selbst aufzuheben – so man denTopoi „Vorrang der Verfassung“ und „Einheit derRechtsordnung“ mehr als nur rhetorische Bedeutungzumisst.Was hinsichtlich der Rede von den „rechtswidrigen Ab-treibungen“ die Zivilgerichte, vom BVerfG unbeanstan-det, judiziert haben, ist eine unzulässige Vereinfachung:„Rechtswidrigkeit“ wird mit „Strafrechtswidrigkeit“gleichgesetzt, sodann einer mehr als knappen einfach-gesetzlichen Würdigung unterzogen, um anschließendunter pauschalem Verweis auf die (angebliche) Gleich-setzung von „rechtswidrig“ mit „strafbar“ in „der“ Um-gangssprache als unwahr klassifiziert zu werden. Dieserargumentative Kurzschluss verfehlt auf der einen Seitedie Aussagen des Zweiten Senats von 1993 (die bezeich-nenderweise noch nicht einmal zitiert werden). Umge-kehrt legt er in aller – unfreiwilligen – Deutlichkeit dieaktuellen Begründungsdefizite offen.

4. Spannungsverhältnis zu früheren Entscheidun-gen des BVerfG

a) Normative Wertung: Rechtswidrigkeit der AbtreibungDer letztgenannte Punkt weist noch eine die inhaltlicheFragwürdigkeit übersteigende, grundsätzliche Proble-matik auf. Nicht zum ersten Mal seit 1993 werden zen-trale Aussagen des zweiten Abtreibungsurteils des Zwei-ten Senats durch gegenläufige Entscheidungen des Er-sten Senats konterkariert – ohne jeweils den nach derVerfahrensordnung vorgesehenen Weg der Anrufungdes Plenums (§ 16 Abs. 1 BVerfGG) zu gehen. Bisherprominentester Fall war 1997 die offene Nichtbeach-tung des Verdikts der „Kind als Schaden“-Judikatur desBGH, den der Zweite Senat als mit Art. 1 Abs. 1 GG un-vereinbar eingestuft hatte94. Auch die 1998 ergangeneEntscheidung zum Bayerischen Schwangerenhilfeer-gänzungsgesetz nahm Teile des Urteils des Zweiten Se-nats zurück95. Nunmehr ist ein weiterer zentraler Be-gründungsstrang jener Entscheidung – die von Verfas-sungs wegen gebotene (!) grundsätzliche Rechtswidrig-keit von Abtreibungen – noch nicht einmal einer Erwäh-nung wert96. Dass in einer für das Gemeinwesen derartfundamentalen Frage das höchste deutsche Gericht zu-nehmend mit mehreren Zungen spricht (überdies – wiehier - Kammern Senatsentscheidungen unerwähnt wieunbeachtet lassen), ist eine mehr als bedenkliche Ent-wicklung. 1993 hatte der Zweite Senat die Erwartunggeäußert, im Rechtsbewusstsein der Bevölkerung werdesich auch bei einer Straflosstellung bestimmter Abtrei-bungen die Überzeugung von deren Rechtswidrigkeiterhalten97. Nun meint der Erste Senat, die Bezeichnung„rechtswidrige Abtreibungen“ – die doch dem ZweitenSenat zufolge von Verfassungs wegen geboten ist – sei ei-ne unwahre Tatsachenbehauptung. Darf konsequenter-weise jene Passage von 1993 nicht mehr zitiert werden?

b) Fallbezogene WertungenDie Entscheidung in Sachen „rechtswidrige Abtreibun-gen“ offenbart schließlich das kaum mehr nachvollzieh-bare Anlegen unterschiedlicher Maßstäbe hinsichtlichder Annahme einer „Prangerwirkung“ in einer struktu-rell vergleichbaren Situation. Der gleiche Spruchkörper(1. Kammer des Ersten Senats) hatte, freilich in andererZusammensetzung, noch 1999 an die Bejahung einer„Prangerwirkung“ strenge Maßstäbe angelegt. Sie wer-den nun zwar verbal aufrechterhalten, in der prakti-schen Anwendung aber erheblich zurückgenommen.Dabei wären die seinerzeitigen Parameter auf die hier inRede stehende Konstellation ohne weiteres übertrag-bar: Der Zweck des Plakats als „Personalisierung desSachanliegens“, der Inhalt des Plakats als „Frage vonherausragender … Bedeutung“, das Fernziel des Pla-kats, „in dieser die Öffentlichkeit wesentlich berühren-den Frage Druck ... auszuüben“98. In beiden Fällen wirdder Betroffene als Person individualisiert herausgestellt(bei den Managern hatte Greenpeace über die Namens-nennung hinaus noch Fotos und Telefonnummern an-gegeben, um die Öffentlichkeit zu persönlichen Inter-ventionen zu bewegen) – schon das genügt nun dem BVerfG für die Annahme einer „Prangerwirkung“. Auchdie feinsinnige Unterscheidung aus dem Greenpeace-Beschluss, die Kritisierten seien nicht als Privatperso-nen, sondern in ihrer beruflichen Tätigkeit angegangenworden, findet nun keine Erwähnung mehr.Denkbar wäre freilich auch, dass das BVerfG generellsein Verständnis einer „Prangerwirkung“ modifizierenmöchte. Dagegen wäre im Grunde nichts einzuwenden.Was jetzt aber augenscheinlich als Kriterium dienen soll,vermag kaum zu überzeugen. Die Kammer meint nun,ein Abtreibungsarzt dürfe nicht persönlich „herausge-griffen“ und kritisiert werden, da er sich ja „legal“ verhal-te und nicht an der öffentlichen Diskussion beteilige99 –pointiert: er gehe als gesetzestreuer Bürger nur seinerArbeit nach. Mit Verlaub: Schon diese Prämisse ist kaumhaltbar. Die Legalität des Verhaltens ist im RechtsstaatGrundbedingung für das gedeihliche Zusammenlebender Bürger, aber doch kein Argument für Immunisie-rung gegen Kritik. Und die These, Abtreibungsärzte wür-

94 BVerfGE 96, 375 (1. Senat) gegen BVerfGE 88, 203 (296). Kri-tisch zum „Kurswechsel“ Stürner, JZ 1998, 317. – Allgemein zumProblem E. Picker, Schadenshaftung für unerwünschte Nachkom-menschaft („Wrongful birth“), 1997.

95 BVerfGE 98, 265; fundierte und berechtigte Kritik bei Büchner, NJW 1999, 833 (834 f.).

96 Hinzu kommt, dass sich die hier erkennende 1. Kammer des Er-sten Senats zusätzlich noch zur Rechtsprechung des eigenen Se-nats in Widerspruch setzt: Auch dieser hatte in seiner soeben ge-nannten Entscheidung von 1998 die grundsätzliche Rechtswid-rigkeit von Abtreibungen gleichfalls betont: „Schwangerschafts-abbrüche, die von der Rechtsordnung missbilligt werden“ (BVerfGE 98, 265 [297]).

97 BVerfGE 88, 203 (273 ff.).98 Alle Zitate: BVerfG, NJW 1999, 2358 (2359).99 BVerfG, NJW 2006, 3769 (3771) = ZfL 2006, 124 (128); AfP 2006,

550 (553) = ZfL 2006, 135 (138).

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den sich ihrerseits nicht an der öffentlichen Debatte zumThema Abtreibung beteiligen, trifft schlicht nicht zu100.

5. Vermutung für die Zulässigkeit der freien Rede?Seit dem bahnbrechenden Lüth-Urteil weiß sich die ver-fassungs- wie fachgerichtliche Rechtsprechung dem Pos-tulat von der „Vermutung für die Zulässigkeit der freienRede“ verpflichtet, jedenfalls dann, wenn die fraglicheÄußerung einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbil-dung liefern soll. Dass das Thema „Abtreibung“ diesemKriterium genügt, ist evident. Zwar spielt es (mittlerwei-le) im staatlich-politischen Bereich keine oder eine nurnoch unzureichende Rolle. Doch dies berührt nicht dieöffentliche Relevanz der Materie. Im Gegenteil: Es istkennzeichnend für einen freien und offenen Diskurswie für die demokratische Reife einer Gesellschaft,wenn von „offizieller“ Seite eher ausgeblendete The-men in der und durch die Gesellschaft argumentativ be-handelt werden.Vor diesem Hintergrund ist die neuere Linie des BVerfG, welche jene Vermutungsregel deutlich relati-viert, bedenklich. Noch mehr gilt dies für den verfas-sungsrichterlichen Ratschlag, Abtreibungsgegnerbräuchten ihre Kritik ja nur „nicht so“ vorbringen, esginge doch auch ohne Polemik, begriffliche und persön-liche Zuspitzung. Im Ergebnis hieße das freilich, denProzess der öffentlichen Meinungsbildung schon vorabnach den unsicheren, weil subjektiven, Empfindungeneines „richtigen“ Grundrechtsgebrauchs steuern zu wol-len – wohl deshalb hat das BVerfG vergleichbare Ansin-nen in den 1980er und 1990er Jahren stets verworfen.Gerade auf dem Sektor des Lebensschutzes bedarf es –schon aus Gründen der „Waffengleichheit“ – des kraft-vollen Schutzes durch die Meinungsfreiheit. In Deutsch-land wie in zahlreichen anderen europäischen Ländernoffenbaren sich deutliche Tendenzen von Abtreibungs-ärzten bzw. den entsprechenden pressure groups, Abtrei-bungsgegner durch die Einleitung rechtlicher Schritteeinzuschüchtern und – im Extremfall – „mundtot“ zumachen. Beredtes Zeugnis dafür legen der (einstweilengescheiterte) Versuch des Münchener AbtreibungsarztesFriedrich Stapf101, „Gehsteigberatungen“ im räumlichenUmkreis seiner Praxis verbieten zu lassen102 ebenso abwie das gleichfalls gescheitere Bestreben einer nord-rhein-westfälischen Kommune, die straßenrechtlicheSondernutzungserlaubnis für einen Lebensschutz-Infor-mationsstand nur mit der Maßgabe zu erteilen, bestimm-te „schockierende“ Materialien nicht zu verwenden103.Vergleichbare Tendenzen bestehen in Österreich, wosich einerseits Abtreibungsgegner einer Klageflut ausge-setzt sehen104, andererseits staatliche Stellen zugunstender Abtreibung werbende Aktivitäten entfalten105. Gewiss: Das Thema „Abtreibung“ war und ist gesell-schaftlich kontrovers. Doch das ist kein Argument ge-gen, sondern für einen freien, offenen und kontrover-sen Meinungsbildungsprozess – gerade weil es sich da-

bei um eine (im Wortsinn) vitale Materie handelt. Eineklare Benennung dessen, was bei der Abtreibung ge-schieht bzw. wie die entsprechenden gesellschaftlichenund rechtlichen Mechanismen organisiert sind, ist ange-sichts verbreiteter Euphemismen106 ein schützenswerterverfassungsrechtlicher Belang.Dieter Grimm hat die Gefährdungslage bei der gerichtli-chen Würdigung von Äußerungen so skizziert: „Bei ho-hen Anforderungen an die Zulässigkeit von Äußerun-gen wird er (der Kommunikationsprozess, S.M.) nichtnur um die einzelne unverträgliche Äußerung verrin-gert, sondern im Ganzen eingeschnürt. Es kann dannschnell zu Verhältnissen kommen, in denen auch zuläs-sige Kritik unterbleibt. Jede Aussageunterdrückungwirkt sich aber auf das Diskussionsergebnis aus. Es ent-steht ein affirmatives Meinungsklima, das nicht im Sinnder verfassungsrechtlichen Garantie freier Meinungs-äußerung liegt.“107

Die hier vorgestellten und analysierten jüngeren Ent-scheidungen des BVerfG zeigen, wie bedenkenswertund aktuell jene Worte unverändert sind. Die Mei-nungsfreiheit stellt ein hohes Gut einer freien Gesell-schaft dar. Die Vergewisserung ihrer Grundlagen unddas Einstehen für ihre Ausnützung sind immer wiedernotwendig.

100 Zu den Hintergründen der Babycaust-Entscheidung s. Nachw. oben Fn 57 (der dort zitierte Text ist im Internet mühelos übereine Suchmaschinen-Recherche verfügbar). Bemerkenswerter-weise hatte im dortigen Verfahren der beschwerdeführende Arztfür sich „keineswegs in Anspruch“ nehmen wollen, „von der Dis-kussion über das Für und Wider von Schwangerschaftsab-brüchen ausgenommen werden zu können“. – Auch im Fall„rechtswidrige Abtreibungen“ hat der Abtreibungsarzt, wie dasBVerfG vermerkt, öffentlich auf seine Bereitschaft, Abtreibungenvorzunehmen, hingewiesen. Es meint aber, dies müsse ihm „oh-ne negative Folgen ... möglich sein“ (BVerfG, AfP 2006, 550[553]) – eine nähere Erläuterung oder gar Begründung liefertdie Kammer nicht.

101 Auch er rechnete zu den Beschwerdeführern im Verfahren ge-gen das Bayerische Schwangerenhilfeergänzungsgesetz (BVerf-GE 98, 265). Auch er nimmt jährlich etwa 3.000 Abtreibungenvor, woraus er (jedenfalls zwischen 1995 und 1997) etwa 77% sei-ner Gesamteinnahmen bezieht (BVerfGE 98, 265 [286]).

102 LG München I, NJW 2006, 3791 = ZfL 2006, 96 (rkr.) m. Anm.Büchner. Aus der Presseberichterstattung: FAZ, Nr. 169 v. 24. Juli2006, S. 10; „Die Tagespost“, Nr. 126. v. 21. Oktober 2006, S. 9.

103 OVG NRW, NWVBl 2007, 64.104 Die Dimension scheint das aus Deutschland Berichtete zu über-

steigen: Inzwischen sehen sich auch kirchliche Amtsträger mitUnterlassungsklagen wie -urteilen konfrontiert. Einer der Fällebetrifft den Salzburger Weihbischof Andreas Laun. Sein Verfah-ren liegt inzwischen im Wege einer Menschenrechtsbeschwerdedem EGMR vor.

105 Beträchtliches Aufsehen erregte im Jahr 2002 der (vom WienerStadtschulrat jedenfalls gebilligte) „Lehrausgang“ einer WienerHauptschule in eine Abtreibungsklinik. Die österreichischeVolksanwaltschaft (zu ihrer Funktion in der österreichischenRechtsordnung A. Beckmann, Die Verwaltung 31 [1998], 167) hatdas Unternehmen in einer umfassend begründeten Entschei-dung vom 9. April 2005 für rechtswidrig erklärt. Vollständige Do-kumentation: Institut für medizinische Anthropologie undBioethik (Hrsg.), Sexualaufklärung von Hauptschülern in Ab-treibungskliniken, 2005; knappe Information ferner bei Cornides,JBl. 2007, 137 (146 m. Fn. 39).

106 Nachw. oben Fn 8.107 Grimm, NJW 1995, 1697 (1704).

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I. Einleitung

In seinem zweiten Abtreibungsurteil von 1993 hat dasBundesverfassungsgericht (BVerfG) den Wechsel desGesetzgebers zum Beratungskonzept als vertretbargrundsätzlich gebilligt.1 „Wissenschaftlich und rechtspo-litisch umstritten“ sei allerdings nach wie vor, ob eineBeratungsregelung eine bessere Schutzwirkung für dasungeborene Leben entfalten könne. Im Hinblick aufsolche Ungewissheiten sei der Gesetzgeber „gehalten,die Auswirkungen seines neuen Schutzkonzepts im Au-ge zu behalten“.2 Der Gesetzgeber erfülle seine Pflicht,das ungeborene menschliche Leben zu schützen, nichtein für allemal durch Erlass eines Gesetzes, welches die-sen Schutz bezweckt. Aufgrund seiner Schutzpflicht seier vielmehr weiterhin dafür verantwortlich, dass das Ge-setz tatsächlich einen angemessenen und als solchenwirksamen Schutz vor Schwangerschaftsabbrüchen be-wirkt.3 Die Schutzpflicht für das Leben sei „eine dauern-de Verpflichtung für alle Staatsorgane“. Der hohe Rangdes geschützten Rechtsguts, die Art der Gefährdung desungeborenen Lebens und der in diesem Bereich festzu-stellende Wandel der gesellschaftlichen Verhältnisseund Anschauungen erforderten es, „dass der Gesetzge-ber beobachtet, wie sich sein gesetzliches Schutzkonzeptin der gesellschaftlichen Wirklichkeit auswirkt (Beob-achtungspflicht). Er muss sich in angemessenen zeitli-chen Abständen in geeigneter Weise – etwa durch peri-odisch zu erstattende Berichte der Regierung – verge-wissern, ob das Gesetz die erwarteten Schutzwirkungentatsächlich entfaltet oder ob sich Mängel des Konzeptsoder seiner praktischen Durchführung offenbaren, dieeine Verletzung des Untermaßverbots begründen (…).“Diese Beobachtungspflicht bestehe auch und geradenach einem Wechsel des Schutzkonzepts, der „einenVersuch des Gesetzgebers“ darstelle. Sie schließe ein,dass der Gesetzgeber für verlässliche Statistiken mit hin-reichender Aussagekraft sorge.4 Die Beobachtungs-pflicht ist danach eine solche des Gesetzgebers als Teilseiner Schutzpflicht für das Leben Ungeborener.

II. Die Beobachtungspflicht – seit 12 Jahren uner-füllt

Die durch das Schwangeren- und Familienhilfeände-rungsgesetz vom 21.08.19955 erfolgte Neuregelung des„Abtreibungsrechts“ ist nunmehr seit 12 Jahren in Kraft.Obwohl insbesondere von den Kirchen und den Le-bensrechtsorganisationen vielfach angemahnt, ist derGesetzgeber seiner Beobachtungspflicht bisher nicht

nachgekommen. Allein von bzw. aus der CDU/CSU-Bundestagsfraktion wurden einzelne Anfragen an dieBundesregierung gerichtet6, die von dieser im Wesentli-chen unter Verweis auf die Bundesstatistik über Schwan-gerschaftsabbrüche, welche keinen gesetzgeberischenHandlungsbedarf begründe, beantwortet wurden.7 Bis-her erfolglos gebliebene Initiativen der CDU/CSU-Bun-destagsfraktion hatten die Vermeidung von Spätabtrei-bungen zum Ziel.8 In diesem Zusammenhang erwähntedie Unionsabgeordnete Dr. Böhmer im Bundestag die Be-obachtungs- und Nachbesserungspflicht, der „wir end-lich nachkommen“ müssten. Gleichzeitig stellte sie klar,„dass niemand bei uns Interesse an einer erneuten Dis-kussion über den § 218 StGB insgesamt hat.“9 Peri-odisch zu erstattende Berichte entsprechend der Anre-gung des BVerfG hat die Bundesregierung bisher nievorgelegt. In einem Zeitungsinterview hat die Bundes-ministerin Dr. von der Leyen erklärt: „Bundesregierungund Parlament werden dieser Beobachtungspflichtnachkommen.“10 Auf Anfrage, wie und mit welchem Er-gebnis dies geschehen sei,11 antwortete das Bundesmini-sterium, die Bundesregierung nutze alle ihr zur Verfü-gung stehenden Erkenntnisquellen, wobei jedoch alseinzige Erkenntnisquelle die Abtreibungsstatistik desBundesamts erwähnt wurde.12 Der Petitionsausschussdes Bundestages immerhin hat das Beobachtungsdefiziteingeräumt. Einem Petenten teilte er mit, er halte es„für angezeigt, nach solch langer Zeit die Wirksamkeitdes gesetzlichen Konzepts zum Schutz des ungeborenenLebens einmal grundlegend und umfassend zu prüfen,um daraufhin gegebenenfalls Überlegungen zu gesetzli-chen Korrekturen anzustellen. Es ist daher beabsichtigt,die Bundesregierung – das Bundesministerium der Ju-stiz – auf die Thematik noch einmal besonders aufmerk-

Zum Inhalt der Beobachtungspflicht des Gesetzgebers alsSchutzpflicht für das Leben Ungeborener

VRiVG a. D. Bernward Büchner, Freiburg

1 Urteil v. 28.05.1993, BVerfGE 88, 203 ff.2 BVerfGE 88, 203, 269.3 BVerfGE 88, 203, 309.4 BVerfGE 88, 203, 310 f.5 BGBl. I S. 1050.6 Z. B. die Kleinen Anfragen, BT-Drs. 13/5248, 14/9974 und

15/3029.7 Antworten der Bundesregierung v. 19.07.1996, v. 27.09.2002, BT-

Drs. 14/9985, u. v. 18.05.2004, BT-Drs. 15/3155.8 Anträge v. 03.07.2001, BT-Drs. 14/6635, u. v. 19.19.2004, BT-

Drs.15/3948.9 Deutscher Bundestag, 15. Wahlperiode, 138. Sitzung v.

11.11.2004, Stenografischer Bericht 15/138, Seite 12610 C.10 Die Tagespost v. 25.02.2006.11 Schreiben der Juristen-Vereinigung Lebensrecht an die Bundes-

ministerin Dr. von der Leyen v. 15.08.2006 u. v. 16.02.2007.12 Schreiben des Bundesministeriums für Familien, Senioren, Frau-

en und Jugend an die Juristen Vereinigung Lebensrecht v.26.03.2007, GZ 404-2729-1/10.

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sam zu machen.“13 Eine grundlegende und umfassendePrüfung ist jedoch anscheinend nie erfolgt.

III. Die statistische Betrachtungsweise – offenbarunzureichend

Von der Bundesregierung werden entsprechende An-fragen regelmäßig dahin beantwortet, nach der Statistikdes Bundesamts sei die absolute Zahl der Schwanger-schaftsabbrüche seit der Gesetzesänderung von 1995 imWesentlichen gleich geblieben. Dabei wird meist ver-schwiegen, dass die relative Abtreibungshäufigkeit, be-zogen auf die Zahl der Frauen im gebärfähigen Alterund der Geburten, von 1996 zumindest bis 2005 stetiggestiegen ist. Der Statistik wird zudem unkritisch begeg-net, obwohl sich die Annahme einer unvollständigen Er-füllung der Meldepflicht aufdrängt14 und seriöse Schät-zungen vermuten lassen, dass die tatsächliche Zahl derAbtreibungen wesentlich höher liegt als die der gemel-deten.15

Vor allem aber wird gänzlich verkannt, dass sich die Er-füllung der staatlichen Schutzpflicht für das Leben Un-geborener mit der Statistik gar nicht belegen lässt.Schließlich gibt es keine von der Verfassung tolerierteGesamtzahl vorgeburtlicher Tötungen, so dass der Staatseiner Schutzpflicht genügt hätte, solange sich die statis-tisch erfasste Zahl solcher Tötungen innerhalb einer To-leranzgrenze hält. Auch ist die staatliche Schutzpflicht,zumal sie sich auf jedes einzelne Leben bezieht,16 nichtetwa schon dann erfüllt, wenn diese Zahl abnimmt odergar nur in etwa gleich bleibt. Eine seriöse Abtreibungsstatistik, die den tatsächlichenVerhältnissen entspricht, vermag nur bezüglich des Le-bensschutzes Ungeborener allgemein eine Tendenzzum Besseren oder Schlechteren aufzuzeigen. Insofernist das BVerfG zu Recht davon ausgegangen, die Beob-achtungspflicht schließe ein (!), dass der Gesetzgeberfür verlässliche Statistiken mit hinreichender Aussage-kraft sorgt. Keineswegs jedoch lässt sich seinem Urteilentnehmen, dass sich die Beobachtungspflicht in derSorge für eine solche Statistik und in deren Auswertungerschöpft. Vielmehr geht es bei der Erfüllung dieserPflicht um die Frage, „ob sich Mängel des Konzepts oderseiner praktischen Durchführung offenbaren, die eineVerletzung des Untermaßverbots begründen“, und umdie sorgfältige „Beobachtung der tatsächlichen Auswir-kungen des neuen Rechts“.17

IV. Die Beachtung des Untermaßverbots als Prü-fungskriterium

Art und Umfang des Schutzes im Einzelnen zu bestim-men, so das BVerfG, sei Aufgabe des Gesetzgebers. „DieVerfassung gibt den Schutz als Ziel vor, nicht aber seineAusgestaltung im Einzelnen. Allerdings hat der Gesetz-

geber das Untermaßverbot zu beachten (…).“ Damitdieses Verbot nicht verletzt werde, müsse die Ausgestal-tung des Schutzes durch die Rechtsordnung Mindestan-forderungen entsprechen.18 Diese das Untermaßverbotkonkretisierenden Mindestanforderungen waren derMaßstab, an dem sich der Gesetzgeber bei Erlass desSchwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetzes zuorientieren hatte. An demselben Maßstab hat er sichauch bei Erfüllung seiner Beobachtungspflicht auszu-richten.Ergebnis der Beobachtung kann sein, dass sich das ge-wählte Schutzkonzept als solches bei erneuter Prüfungals schutzuntauglich erweist – mit der Folge einer Kor-rekturpflicht des Gesetzgebers – oder dass es an beheb-baren Mängeln leidet - mit der Folge einer Nachbesse-rungspflicht.

V. Zur Prüfung von Gesetz und Praxis anhand ein-zelner Mindestanforderungen

Im Folgenden sollen ohne Anspruch auf Vollständigkeiteinzelne besonders wichtige Mindestanforderungen inErinnerung gerufen werden, bezüglich deren dieSchutztauglichkeit des Beratungskonzepts, seine gesetz-liche Ausgestaltung oder seine Praxis zumindest zweifel-haft erscheint.19

1. Die Pflicht zum Schutz des einzelnen menschli-chen Lebens

„Die Schutzpflicht für das ungeborene Leben ist bezo-gen auf das einzelne Leben, nicht nur auf menschlichesLeben allgemein. Ihre Erfüllung ist eine Grundbedin-gung geordneten Zusammenlebens im Staat.“20 Indemdas Beratungskonzept jedoch der Schwangeren die„Letztverantwortung“ für den Schwangerschaftsabbruchüberlässt21 und diesen damit in ihre unkontrollierteLetztentscheidung stellt, gibt der Staat den Schutz des

13 Schreiben des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestagesan KALEB e. V. v. 21.12.2005 - Pet 4-16-07-45130-002546.

14 Bernward Büchner, Abtreibung – auch eine Frage des Glaubens,in: Die Tagespost v. 22.03.2007.

15 Hierzu z. B. Manfred Spieker, Kirche und Abtreibung in Deutsch-land, 2001, S. 52 ff.; ders., Der verleugnete Rechtsstaat, 2005, S.13 ff., 19 ff.

16 BVerfGE 88, 203, Leitsatz 2 u. S. 252.17 BVerfGE 88, 203, 310 f.18 BVerfGE 88, 203, 254 f.19 Am eingehendsten und gründlichsten hat sich Herbert Tröndle mit

dem Beratungskonzept, seiner gesetzlichen Ausgestaltung undPraxis auseinandergesetzt, insbesondere in seiner exemplari-schen Kommentierung der Abtreibungsparagrafen, zuletzt in:Tröndle/Fischer, StGB, 49. Aufl. 1999; dort insbes. Rn. 11 ff. vor §218 mit zahlreichen Nachweisen; ders. zuletzt in: Festschrift fürHarro Otto, 2007, S. 821 ff. Herbert Tröndle ganz überwiegend zu-stimmend meint Reinhard Merkel, die Konzeption der Beratungs-regelung sei „gänzlich misslungen“, inkonsistent und das Ziel desverbesserten Lebensschutzes „gewiss verfehlt worden“ (in: No-mos-Kommentar zum StGB, Rn. 50 ff. zu § 218a).

20 BVerfGE 88, 203, 252.21 BVerfGE 88, 203, 268 ff.

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22 Herbert Tröndle, in: Festschrift für Harro Otto, 2007, S. 829 f.; Chri-stian Hillgruber, ZfL 2003, 41 f.; ders. in: Büchner/Kaminski (Hg.),Lebensschutz oder kollektiver Selbstbetrug?, 2006, S. 18 ff.; Nor-bert Hoerster, JUS 1995, 193; Rudolphi, SK StGB II, 6. Aufl. (April2000), Rn. 40 vor § 218; Rainer Beckmann, Der Streit um den Be-ratungsschein, 2000, S. 16 ff.

23 Günther Jakobs, JVL-Schriftenreihe Nr. 17 (2000), S. 17 ff., 26.24 Reinhard Merkel, Forschungsobjekt Embryo, 2002, S. 110 ff.; hier-

gegen Bernward Büchner, ZfL 2003, 12 ff.; Christian Hillgruber, ZfL2003, 48.

25 BVerfGE 88, 203, 255.26 BVerfGE 88, 203, 255, 262, 273.27 Anordnung II.2., Satz 2; BVerfGE 88, 203, 210.28 Hierzu Bernward Büchner in: Büchner/Kaminski, aaO. (Fn. 22), S.

85; ders., ZfL 2004, S. 51 f. Zur fehlenden Unrechtskennzeich-nung vgl. Herbert Tröndle, aaO. (Fn. 22), S. 824, 833; Christian Hill-gruber in: Büchner/Kaminski, aaO. (Fn. 22), S. 21 ff.; Lackner/Kühl,StGB, 26. Aufl. 2007, Rn. 21 vor § 218.

29 Winfried Hassemer, Prozedurale Rechtfertigungen, in: Festschriftfür Ernst Gottfried Mahrenholz, 1994, S. 731 ff.; Walter Gropp,GA 1994, S. 147 ff., 157 ff.; Hermes/Walther, NJW 1993, 2337.

30 Herbert Tröndle, aaO. (Fn. 22), S. 833; Christian Hillgruber, aaO.(Fn. 22), S. 21 ff.

31 BVerfGE 88, 203, 268, 273, 278, 320.32 So Rainer Beckmann, ZfL 2003, 37; ders., ZfL 2005, 69. Für Horst

Dreier ist die Rede von der grundsätzlichen Rechtswidrigkeit desSchwangerschaftsabbruchs ein „Etikettenschwindel“ (JZ 2007,268). Reinhard Merkel, aaO. (Fn. 19), Rn. 63 zu § 218a, geht voneiner Rechtmäßigkeit de lege lata aus.

33 Vgl. z. B. die Emnid-Umfrage vom April 2005, ZfL 2/2005, S. III.34 BVerfG, Beschl. v. 24.05.2006, NJW 2006, 3769 = ZfL 2006, 135,

137: Die Äußerung, ein Arzt nehme rechtswidrige und damit ver-botene Abtreibungen vor, sei (in ihrer umgangssprachlichen Be-deutung) „unwahr“. Hierzu kritisch Bernward Büchner, Wider-sprüchliches aus Karlsruhe, Die Tagespost v. 18.07.2006, ders.,Verheerende Wirkung, Junge Freiheit v. 28.07.2006. Vgl. auchLG Heilbronn, Urt. v. 27.11.2001, ZfL 2002, 20, 21.

35 BVerfGE 88, 203, Leitsatz 10 und S. 261.36 AaO. (Fn. 7).

einzelnen Ungeborenen preis,22 dem lediglich eine Überlebenschance bleibt. Günther Jakobs meint gar, dassdas gesetzliche Beratungskonzept zum Schwanger-schaftsabbruch auf eine Exklusion der Leibesfrucht ausdem Recht hinauslaufe.23 Ähnlich sieht Reinhard Merkelden Embryo durch die Entscheidung des BVerfG ausdem Bereich der Grundrechte exkludiert.24

2. Das grundsätzliche Verbot des Schwanger-schaftsabbruchs

Zu den Mindestanforderungen an den LebensschutzUngeborener zählt für das BVerfG als erste, „dass derSchwangerschaftsabbruch für die ganze Dauer derSchwangerschaft grundsätzlich als Unrecht angesehenwird und demgemäß rechtlich verboten ist (…).“25 DieVerfassungsrichter gehen also von einem „verfassungs-rechtlichen Verbot des Schwangerschaftsabbruchs“ aus,das im Gesetz bestätigt und verdeutlicht werden müs-se.26

Dementsprechend hat das BVerfG in einer mit seinemUrteil als Übergangsregelung getroffenen Anordnungder Darlegung der Voraussetzungen, unter denen „§218 des Strafgesetzbuches …(scil. in den Fällen der Be-ratungsregelung) keine Anwendung“ findet, den Satzhinzugefügt: „Das grundsätzliche Verbot des Schwanger-schaftsabbruchs bleibt auch in diesen Fällen un-berührt.“27 Ansonsten jedoch hat das BVerfG für dieseFälle nahezu alle aus dem Verbot resultierenden Un-rechtsfolgen – angeblich durch das Schutzkonzept be-dingt – ausgeschlossen.Das Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetzkennzeichnet den Schwangerschaftsabbruch nach derBeratungsregelung (§ 218a Absatz 1 StGB) an keinerStelle in einer Laien verständlichen Weise als Unrecht.Es behandelt ihn vielmehr noch weitergehend als das BVerfG wie Recht, indem es vorsieht, dass die Kranken-kassen die Kosten des tötenden Eingriffs in Fällen einerweit verstandenen Bedürftigkeit mit nachfolgender Er-stattung durch die Bundesländer übernehmen. Als Fol-ge dieser Regelung tragen die Krankenkassen für rund90 Prozent aller nach Beratung erfolgenden Abtreibun-gen die Kosten, welche ihnen in Höhe von jährlich rund42 Millionen Euro aus den Länderhaushalten erstattetwerden.28 Eine Regelung wie in § 218a Absatz 1 StGB,wonach § 218 (unter den Voraussetzungen der Bera-tungsregelung) „nicht verwirklicht“ ist (Tatbestandsaus-schluss), wird in der Rechtswissenschaft teilweise sogarals eine besondere Form der Rechtfertigung verstan-den.29

Aufgrund der fehlenden Kennzeichnung und Behand-lung „beratener“ Abtreibungen als Unrecht und ihrerstaatlichen Förderung ist das Rechtsbewusstsein in derÖffentlichkeit inzwischen weitgehend verloren gegan-gen,30 in dessen Erhaltung und Stärkung das BVerfG je-doch eine Grundbedingung für den Schutzeffekt eines

Beratungskonzepts gesehen hat.31 Für den Formelkom-promiss „rechtswidrig, aber straffrei“, lassen sich zwar ju-ristische Begründungen anführen, die für das allgemei-ne Bewusstsein jedoch nicht prägend sind. In der sozia-len Wirklichkeit gelten Abtreibungen nicht als rechts-widrig, sondern als erlaubt.32 Diese leicht erkennbareTatsache, die durch Meinungsumfragen belegt wird33

und von der selbst die Rechtsprechung zunehmend aus-geht,34 müsste Konsequenzen haben, falls der Gesetzge-ber an einem wirksamen Lebensschutz Ungeborenerernsthaft interessiert ist.Zur Wiederherstellung des Rechtsbewusstseins bedarf esnicht nur gesetzlicher Korrekturen. Auch andere Orga-ne des Staates sind verpflichtet, „den rechtlichenSchutzanspruch des ungeborenen Lebens im allgemei-nen Bewusstsein zu erhalten und zu beleben“, weshalbsie in Bund und Ländern „erkennbar für den Schutz desLebens eintreten“ müssen. In ihrer Antwort vom18.05.2004 auf die Kleine Anfrage der CDU/CSU-Bun-destagsfraktion hat die Bundesregierung zur Frage 14,welche Schritte sie diesbezüglich unternehmen wird,auf Konzepte der Bundeszentrale für gesundheitlicheAufklärung zur Sexualaufklärung und Familienpla-nung, um ungewollte Schwangerschaften zu vermeidenund gewollte zu fördern, verwiesen. Dies lässt zweifeln,ob der Bundesregierung bewusst ist, dass es bei der an-

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37 Hierzu auch Bernward Büchner, Der Schutzanspruch Ungebore-ner im Bewusstsein staatlicher Organe und der Schulen, ZfL2003, 49 f.

38 BVerfGE 88, 203, 281 f.39 § 219 Abs. 1 Satz 1 StGB und § 5 Abs. 1 Satz 4 SchKG.40 Rainer Beckmann, ZfL 1995, 25.41 BVerfGE 88, 203, 282.42 Ebenso Rainer Beckmann, aaO. (Fn. 22), S. 24 f.; ders., ZfL 1995,

24.43 BVerfGE 88, 203, 283 f., 306.44 Anordnung 3. (1), BVerfGE 88, 203, 210.45 Christian Starck, Festschrift für Hartmut Schiedermair, 2001, S.

382; Rainer Beckmann, ZfL 1995, 25.46 BVerfGE 88, 203, 284 f., 307.47 Herbert Tröndle, zuletzt aaO. (Fn. 22), S. 824; Bernward Büchner,

Deutsche Tagespost v. 14.09.1995; Rainer Beckmann, aaO. (Fn.22), S. 28; ders., ZfL 1995, 25.

gesprochenen Verpflichtung um den Schutzansprucheines bereits gezeugten ungeborenen Kindes geht.37

3. Anforderungen bezüglich der Beratung

Im Hinblick auf die zentrale Bedeutung der Beratungfür den Lebensschutz muss der Gesetzgeber Regelun-gen treffen, die wirksam und ausreichend sind, „um ei-ne Frau, die den Schwangerschaftsabbruch erwägt, fürdas Austragen des Kindes gewinnen zu können.“ Nurdann sei die Einschätzung des Gesetzgebers, mit einerBeratung könne wirksamer Lebensschutz erzielt wer-den, vertretbar.38 Im Gesetz steht: „Die Beratung dientdem Schutz den ungeborenen Lebens.“39 Das ist eineBehauptung, die aus der Sicht des einzelnen ungebore-nen Kindes in aller Regel falsch ist.40 Davon abgesehenbedarf diese Behauptung des Beweises. Dafür müssendie unverzichtbaren Anforderungen gesetzlich geregeltund erfüllt sein. Diese betreffen den Inhalt und dieDurchführung der Beratung (a) sowie deren Organisati-on (b).

a) Anforderungen an Inhalt und Durchführung der Be-ratung

(1) Nach den Vorgaben des BVerfG muss die Beratung„ergebnisoffen geführt“ werden, zugleich aber auf denSchutz des ungeborenen Lebens hin zielorientiertsein.41 Aufgrund dessen heißt es im Gesetz einerseits,die Beratung habe sich von dem Bemühen leiten zu las-sen, die Frau zur Fortsetzung der Schwangerschaft zu er-mutigen und ihr Perspektiven für ein Leben mit demKind zu eröffnen (§ 219 Abs. 1 Satz 2 StGB). Anderer-seits ist diese Beratung „ergebnisoffen zu führen“ (§ 5Abs. 1 Satz 1 SchKG). Wenn aber die Beratung nicht nur(selbstverständlich) im Ergebnis offen, sondern ergeb-nisoffen „zu führen“ ist, kann das von Anhängern einernondirektiven Beratung leicht dahin verstanden wer-den, dass mit der Beratung kein bestimmtes „Ergebnis“verfolgt und deshalb auch nicht die Fortsetzung derSchwangerschaft als Ziel angestrebt werden soll.42 Des-halb ist keineswegs gesichert, dass die Beratung in derPraxis zielorientiert erfolgt.

(2) Für eine gewissenhafte Entscheidung müsse dieschwangere Frau auch wissen, dass das Ungeborene ins-besondere auch ihr gegenüber ein eigenes Recht aufLeben hat. Ihr müsse bewusst sein, dass nur in Ausnah-mesituationen nach der Rechtsordnung ein Schwanger-schaftsabbruch in Betracht gezogen werden darf, näm-lich nur, wenn der Frau eine Belastung erwächst, die soschwer und außergewöhnlich ist, dass sie die zumutbareOpfergrenze übersteigt. „Dessen muss sich die beraten-de Person vergewissern und etwa vorhandene Fehlvor-stellungen in für die Ratsuchende verständlicher Weisekorrigieren.“43 In der Anordnung des BVerfG wird die

Schwere einer unzumutbaren Belastung durch den Zu-satz „vergleichbar den Fällen des § 218a Absatz 2 und 3des Strafgesetzbuches“ noch konkretisiert.44

Im den geltenden Gesetzen fehlt jedoch sowohl dieserZusatz als auch jeglicher Hinweis auf die vom BVerfGbetonte Pflicht der Beratenden zur Vergewisserung undgegebenenfalls zur Korrektur von Fehlvorstellungen.Deshalb ist nicht sichergestellt, dass das Lebensrecht desungeborenen Kindes auch der Schwangeren gegenüberund die Schwere der Ausnahmesituation, in welcher„nach der Rechtsordnung ein Schwangerschaftsabbruchnur … in Betracht kommen kann“ (§ 219 Abs. 1 Satz 3StGB), in der Beratung überhaupt zur Sprache kom-men.45 In der Praxis wird dies vielfach nicht der Fallsein, insbesondere dort, wo man von dem Lebensrechtdes Ungeborenen nichts wissen möchte.

(3) Die Aufnahme einer Konfliktberatung, so das BVerfG, sei von vornherein nur möglich, wenn dieSchwangere der beratenden Person die wesentlichenGründe mitteilt, die sie dazu bewegen, einen Abbruchder Schwangerschaft in Erwägung zu ziehen. Wenn esauch der Charakter einer Beratung ausschließe, eine Ge-sprächs- und Mitwirkungsbereitschaft der schwangerenFrau zu erzwingen, sei doch für eine Konfliktberatung,die zugleich die Aufgabe des Lebensschutzes erfüllen sol-le, die Mitteilung dieser Gründe „unerlässlich“. Es sei er-forderlich, „dass die Beraterin oder der Berater von derFrau die Mitteilung der Gründe zu erreichen sucht“.46

Eine entsprechende Verpflichtung der Beratenden fehltim Gesetz. In § 5 Abs.2 Satz 1 Nr. 1 SchKG heißt es le-diglich, zum Eintreten in eine Konfliktberatung werde„erwartet, dass die schwangere Frau der sie beratendenPerson die Gründe mitteilt, ...“. Der Beratungscharakterschließe aus, dass die Gesprächs- und Mitwirkungsbe-reitschaft der schwangeren Frau erzwungen werde.Wenn aber die Mitteilung der Gründe, obwohl für eineKonfliktberatung „unerlässlich“, gar nicht gesichert ist,kann auch von einer „Pflichtberatung“ keine Rede sein.Dann handelt es sich bei der „Beratungsregelung“ inWirklichkeit um eine Fristenregelung nicht mit Bera-tungspflicht, sondern mit Beratungsangebot.47

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(4) Das BVerfG hat ferner bemerkt, es müsse vorgese-hen werden, dass die Beratungsstelle die Bescheinigungder Beratung erst ausstellt, wenn sie die Beratung als ab-geschlossen ansieht. Allerdings dürfe eine Vorenthal-tung der Beratungsbescheinigung nicht dazu dienen,die zur Abtreibung entschlossene Frau zu veranlassen,den Abbruch bis zum Ende der Zwölf-Wochen-Frist hin-auszuschieben.48

Dagegen heißt es in § 7 Abs. 3 SchKG, die Ausstellungeiner Beratungsbescheinigung dürfe nicht verweigertwerden, wenn durch eine Fortsetzung des Beratungsge-sprächs die Beachtung der in § 218a Abs. 1 des Strafge-setzbuches vorgesehenen Fristen unmöglich werdenkönnte. Der Erste Senat des BVerfG hat daraus gefol-gert: „Die Schwangere soll wissen, dass sie nach Bundes-recht die Beratungsbescheinigung nach § 7 SchKG er-halten kann, obwohl sie die Gründe, die sie zumSchwangerschaftsabbruch bewegen, nicht genannthat.“49 Die Schwangere hat danach einen Anspruch aufBescheinigung einer Konfliktberatung, die mangels ih-rer Mitwirkungsbereitschaft gar nicht stattfinden konn-te. Die Bescheinigung für den straffreien Schwanger-schaftsabbruch ist also unverzichtbar, eine dem Lebens-schutz wirklich dienende Beratung dagegen entbehrlich.

b) Anforderungen an die Organisation der Beratung

(1) Für die Durchführung des Beratungsverfahrensträgt der Staat die volle Verantwortung. Er darf sich die-ser nicht etwa dadurch entziehen, dass er die Beratungprivaten Organisationen zu unkontrollierter und nachje eigenen religiösen, weltanschaulichen oder politi-schen Zielvorstellungen ausgerichteter Ausführung überlässt. Auch dann bleibt die Beratung eine Aufgabedes Staates. Deren Handhabung darf er um der Wirk-samkeit des Lebensschutzes willen seiner Aufsicht nichtentgleiten lassen.50

Welche „Möglichkeiten zur wirksamen Überwachung“ aber hat der Staat bezüglich einer Beratung, die vertrau-lich ist und sich deshalb einer Kontrolle nahezu völligentzieht? Auf Empfehlung des BVerfG51 sieht § 10SchKG die Verpflichtung der Beratungsstellen vor, dieihrer Beratungstätigkeit zugrunde liegenden Maßstäbeund die dabei gesammelten Erfahrungen jährlich in ei-nem schriftlichen Bericht niederzulegen (Abs. 1). Alsdessen Grundlage hat die beratende Person über jedesBeratungsgespräch eine Aufzeichnung zu fertigen, dieden wesentlichen Inhalt der Beratung und angeboteneHilfsmaßnahmen festhält (Abs.2). Dass die Aufzeich-nungen und schriftlichen Berichte den zuständigenBehörden eine „wirksame Überwachung“ der Bera-tungsstellen ermöglichen, erscheint wirklichkeits-fremd.52 Solche Aufzeichnungen und Berichte lassensich so abfassen, dass sie sichere Rückschlüsse auf Män-gel der Beratung nicht zulassen. Das Papier, auf dem siegeschrieben sind, ist sehr geduldig.

(2) Unter diesen Umständen hängt die Durchführungeiner seriösen Beratung maßgeblich davon ab, wem derStaat diese Aufgabe überlässt. Das BVerfG hat ihm vor-gegeben, er dürfe sie „nur solchen Einrichtungen ... an-vertrauen, die nach ihrer Organisation, nach ihrerGrundeinstellung zum Schutz des ungeborenen Le-bens, wie sie in ihren verbindlichen Handlungsmaßstä-ben und öffentlichen Verlautbarungen zum Ausdruckkommt, sowie durch das bei ihnen tätige Personal dieGewähr dafür bieten, dass die Beratung im Sinne derverfassungsrechtlichen und gesetzlichen Vorgaben er-folgt.“53 In § 9 SchKG kommen diese Anforderungen andie Anerkennung einer Beratungsstelle nicht vollstän-dig zum Ausdruck. Insbesondere ist von der erforderli-chen Grundeinstellung zum Schutz des ungeborenenLebens keine Rede. Anerkennungsvoraussetzung ist da-nach, dass die Beratungsstelle „die Gewähr für einefachgerechte Schwangerschaftskonfliktberatung nach §5 bietet“ und zur Durchführung dieser Beratung nach §6 in der Lage ist.Was das Gewährbieten betrifft, begnügen sich die Aner-kennungsbehörden aus einem sehr großzügigen Be-griffsverständnis heraus nach wie vor mit einer schriftli-chen Versicherung, die Beratung den geltenden Vor-schriften entsprechend durchzuführen,54 was immerdas angesichts der Zweideutigkeit mancher Vorschriftenbesagt. Die Grundeinstellung zum Lebensschutz Unge-borener spielt offenbar praktisch keine Rolle. Anfragenbei den zuständigen Anerkennungsbehörden haben je-denfalls ergeben, dass bisher in keinem einzigen Fall dieAnerkennung einer Beratungsstelle wegen des Bera-tungsverständnisses des Trägers oder der beratendenPersonen versagt oder widerrufen worden ist.55 Selbstkonkrete Hinweise auf Verlautbarungen, welche die er-forderliche Grundeinstellung eines Beratungsträgerszum Schutz des ungeborenen Lebens überdeutlich inFrage stellen, sind wirkungslos geblieben.56

(3) Eine wie immer geartete organisatorische, institutio-nelle oder wirtschaftliche Integration von Beratungsstel-len in Einrichtungen zur Vornahme von Schwanger-schaftsabbrüchen ist unzulässig, wenn hiernach nichtauszuschließen ist, dass die Beratungseinrichtung mate-

48 BVerfGE 88, 203, 286, 307.49 BVerfG, Urt. v. 27.10.1998, BVerfGE 98, 265, 324 f.50 BVerfGE 88, 203, 286 f.51 BVerfGE 88, 203, 288.52 Zu diesbezüglichen Erfahrungen vgl. Dieter Ellwanger, ZfL 2005,

76 ff., ders. in: Büchner/Kaminski, aaO. (Fn. 22), S. 124 ff.53 BVerfGE 88, 203, 287.54 Hierzu Bernward Büchner, ZfL 1995, 2 ff.; ders., ZfL 2005, 70 ff., 74

sowie in: Büchner/Kaminski, aaO., (Fn. 22), S. 113 ff., 122 f.55 Bernward Büchner, ZfL 2005, 71 f.; ders. in: Büchner/Kaminski,

aaO. (Fn. 22), S. 117 f.56 Vgl. das Schreiben des Vorsitzenden der Juristen-Vereinigung Le-

bensrecht e. V. an die zuständigen Landesbehörden vom Okto-ber 2005 zur Anerkennungsfähigkeit der Beratungsstellen von„Pro familia“, veröffentlicht in ZfL 2005, 130 f. Zu den AntwortenBernward Büchner, ZfL 2006, 67 f.

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riell an der Durchführung von Schwangerschaftsab-brüchen interessiert ist. Das würde sie für die Beratunguntauglich machen.57

Die danach gebotene Trennung ist nicht strikt genugdurchgeführt, da der die Abtreibung durchführendeArzt der Beratungsstelle angehören darf.58 Als Bera-tungsstellen sind ferner auch Ärztinnen und Ärzte aner-kannt, die zudem noch Schwangerschaftsabbrüchedurchführen, so wenigstens in Berlin, Bremen undHamburg. Eine solche Tätigkeit in Doppelfunktion istwegen der Gefahr einer „Gespannbildung“ bedenklich.Zumindest in Fällen, in denen es sich um Arzt-Ehepaarehandelt, die unter derselben Anschrift praktizieren, oder um in Praxisgemeinschaft miteinander verbunde-ne Ärztinnen oder Ärzte, ist das Trennungsgebot ver-letzt.59

c) Zwölf-Wochen-Frist und Abtreibung mit Mifegyne

Die Wirkungschancen der Schwangerschaftskonfliktbe-ratung werden zusätzlich entscheidend vermindert, seitaufgrund der Zulassung durch das Bundesinstitut fürArzneimittel und Medizinprodukte das Abtreibungsmit-tel Mifegyne (früher RU 486) ab Ende 1999 auf demMarkt ist.60 Dieses Mittel kann erst ab dem sicherenNachweis der Schwangerschaft vom 42.Tag p. m. (postmenstruationem) bis zum Ende der 7. Schwanger-schaftswoche (49. Tag p. m.) angewendet werden, alsonur innerhalb einer Woche, während bis zum Ablaufder gesetzlichen Zwölf-Wochen-Frist (§ 218a Abs. 1 Nr. 3StGB) bei Anwendung anderer Methoden acht Wochen- von der sicheren Feststellung der Schwangerschaft angerechnet - zur Verfügung stehen. Im Hinblick auf diedreitägige Bedenkzeit (§ 218a Abs. 1 Nr. 1 StGB) blei-ben für eine Beratung der Schwangeren vor einer Ab-treibung mit Mifegyne nur wenige Tage; dies in einemStadium, in welchem die Gefahr einer übereilten oderunter dem Druck des sozialen und familiären Umfeldeserfolgenden Entscheidung gegen das Austragen derSchwangerschaft besonders groß ist, zumal die Anwen-dung von Mifegyne als die „schonendste Methode“ pro-pagiert wird. Es liegt auf der Hand, dass unter diesenUmständen eine Beratung, die den Vorgaben des BVerfG auch nur annäherungsweise gerecht wird, un-möglich ist und deshalb vollends zur Farce gerät.Die Novellierung des Arzneimittelgesetzes im Sommer1999, um das Abtreibungsmittel Mifegyne zulassen zukönnen, zeigt überdeutlich, dass der Deutsche Bundes-tag sein eigenes „Schutzkonzept“ und das Abtreibungs-urteil des BVerfG von 1993 nicht ernst nimmt. Indemder Gesetzgeber die Voraussetzungen für die Zulassungvon Mifegyne geschaffen hat, hat er dieses Konzeptselbst seiner möglichen Schutzwirkung beraubt.61 Chri-stian Starck folgert hieraus, dass die deutsche Abtrei-bungsgesetzgebung als Ganze verfassungswidrig gewor-den sei.62

4. Verhaltensgebote und -verbote für das familiäreund soziale Umfeld

Abtreibungen sind erfahrungsgemäß häufig auf das Ver-halten Dritter zurückzuführen, insbesondere von Perso-nen aus dem familiären oder dem weiteren sozialenUmfeld der Schwangeren. In Erkenntnis dieser Gefahrhat das BVerfG festgestellt, die Wirksamkeit eines aufBeratung setzenden Schutzkonzepts erfordere „in be-sonderem Maß, die Frau vor Zumutungen zu schützen,die sie wegen der Schwangerschaft in Bedrängnis brin-gen oder einen Druck auf sie ausüben, die Schwanger-schaft abzubrechen. Solche Einwirkungen sind auch ge-eignet, den Erfolg der Beratung zunichte zu machen,wenn die Personen ihres Umfeldes einer Frau … zuset-zen, um sie unter Hinweis auf die Straflosigkeit und ihreLetztverantwortung zum Schwangerschaftsabbruch zubringen und sich damit zugleich der eigenen (Mit-)Ver-antwortung zu entziehen.“ Dem müsse die Rechtsord-nung entgegentreten; sie müsse „der Frau um der Wir-kungschancen der Beratung willen einen Raum eigener,nicht durch Druck von außen determinierter Verant-wortung sichern.“ Daher seien Personen des familiärenUmfeldes in das Schutzkonzept einzubeziehen, die füreine Schwangerschaft ebenfalls Verantwortung tragen,wie die Väter, oder für die durch die Schwangerschaft ei-ne besondere Verantwortung entsteht, wie bei den El-tern noch minderjähriger Schwangerer. In Betracht kä-men aber auch Personen des weiteren sozialen Umfel-des, wie etwa Vermieter oder Arbeitgeber. Lediglich andas Verantwortungsbewusstsein dieser Personen zu ap-pellieren sei „nicht zureichend“. Für Personen des fami-liären Umfeldes seien „strafbewehrte Verhaltensgeboteund -verbote unerlässlich.“63

Solche vom BVerfG für unverzichtbar gehaltenen Straf-normen hat der Gesetzgeber nicht erlassen. Dieses Ver-säumnis und der Umstand, dass die beratenden Perso-nen unter Strafdrohung schweigepflichtig sind64, füh-

57 BVerfGE 88. 203, 287.58 Christian Starck, aaO. (Fn. 45), S. 383.59 Bernward Büchner, ZfL 2005, 72; ders. in: Büchner/Kaminski,

aaO. (Fn. 22), S. 116 f.60 Mifegyne wird seither in Deutschland zunehmend verwendet. Im

ersten Quartal 2007 wurden fast 10 % der gemeldeten Schwan-gerschaftsabbrüche mit diesem Mittel durchgeführt (Statisti-sches Bundesamt, Pressemitteilung v. 12.06.2007 - 239/07).

61 Wenigstens der Freistaat Bayern hat in einem Antrag im Bundes-rat ausgeführt: Die verkürzte Bedenkzeit führe zu einer starkenReduzierung der Wirkungsmöglichkeiten und Chancen einerSchwangerschaftskonfliktberatung und zu einer Verstärkung derauf Abtreibung drängenden Kräfte im Umfeld der Schwangeren(BR-Drucks. 356/1/99). Ähnlich die Begründung A. des Ent-wurfs der Abgeordneten Monika Brudlewsky u. a. eines Gesetzeszur Änderung des Arzneimittelgesetzes, BT-Drs. 14/1184.

62 Christian Starck, aaO. (Fn. 45), S. 384 ff.; ders., NJW 2000, 2714 ff.;zu RU 486/Mifegyne auch Bernward Büchner, JVL-SchriftenreiheNr. 16 (1999), S. 10 ff.

63 BVerfGE 88, 203, 296 ff.64 Vgl. § 203 Abs. 1 Nr. 4a StGB, § 53 Abs. 1 Nr. 3a StPO.

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ren dazu, dass die Schwangere bis hin zur strafbarenNötigung dem Druck seitens ihres familiären Umfeldesschutzlos ausgeliefert ist. Insbesondere Herbert Tröndlehat hierauf wiederholt hingewiesen. Das „Beratungs-schutzkonzept“ lasse nicht nur das Kind schutzlos, son-dern ebne sogar den Weg zu seiner Tötung. Außerdemwerde auch die Mutter des Schutzes ihres persönlichenRechts beraubt, ihr Kind auszutragen, so dass sie gewis-sermaßen „zur Fremdbestimmung fremdbestimmt“ wer-de.65

5. Anforderungen an die Mitwirkung des Arztes

Von der im Interesse der Frau notwendigen Beteiligungdes Arztes erhofft sich das BVerfG zugleich eine Schutz-wirkung für das Leben des Ungeborenen. Der Arzt dür-fe einen verlangten Schwangerschaftsabbruch nicht le-diglich vollziehen, sondern habe sein ärztliches Han-deln zu verantworten. Er sei Gesundheit und Lebens-schutz verpflichtet und dürfe deshalb nicht unbesehenan einem Schwangerschaftsabbruch mitwirken. Er seischon durch Berufsethos und Berufsrecht darauf ver-pflichtet, sich grundsätzlich für die Erhaltung menschli-chen Lebens, auch des ungeborenen, einzusetzen.66

(1) Dem Arzt obliege es, „den Schwangerschaftskonflikt,in dem die Frau steht, im Rahmen ärztlicher Erkennt-nismöglichkeiten zu erheben. Dazu hat er sich dieGründe, aus denen die Frau den Schwangerschaftsab-bruch verlangt, darlegen zu lassen.“ „StrafrechtlicherSanktion zugänglich und im Rahmen eines Beratungs-konzepts bedürftig“ sei es, „dass der Arzt sich die Grün-de der Frau für ihr Abbruchverlangen darlegen lässt“.67

Die gesetzliche Regelung sieht demgegenüber nichteinmal eine Verpflichtung des Arztes vor, sich dieseGründe der Frau darlegen zu lassen, geschweige dennderen Strafbewehrung. Nach § 218c Abs. 1 Nr. 1 StGBmacht sich der Arzt vielmehr nur strafbar, wenn er derFrau keine Gelegenheit gegeben hat, ihm die Gründefür ihr Verlangen nach Abbruch der Schwangerschaftdarzulegen. Aufgrund dessen ist eine verantwortlicheEntscheidung des Arztes über seine Mitwirkung nichtgewährleistet.68

(2) Das BVerfG hat dem Gesetzgeber auch aufgegeben,zu prüfen, in welcher Weise Gefahren wirksam entge-gengetreten werden kann, die bei der Durchführungvon Schwangerschaftsabbrüchen in spezialisierten Ein-richtungen auf der Hand lägen. Die verfassungsrechtli-che Schutzpflicht gebiete es ihm auch, insoweit „geeig-nete Regelungen zu treffen.“69 Dieser Verpflichtung istder Gesetzgeber nicht nachgekommen mit der Folge,dass auch in Deutschland derartige Spezialeinrichtun-gen entstanden sind, in denen ein Lebensschutz Unge-borener durch ärztliches Handeln schon gar nicht zu er-warten ist.

(3) Nach § 218a Abs. 2 StGB ist ein Schwangerschaftsab-bruch unter den dort geregelten Voraussetzungen der(weit gefassten) sozial-medizinischen Indikation „nichtrechtswidrig“. Insbesondere muss er „nach ärztlicher Er-kenntnis“ angezeigt sein. Entgegen diesem Indikations-erfordernis hat sich in Fällen eines pränataldiagnostischfestgestellten embryopathischen Befundes die Praxis ei-ner Abtreibung auf Wunsch der Schwangeren ent-wickelt, auch noch in einem Stadium der Schwanger-schaft, in dem das ungeborene Kind bereits außerhalbdes Mutterleibes lebensfähig ist. Obwohl seit Jahren viel-fach gefordert, ist der Gesetzgeber dieser skandalösenPraxis der Spätabtreibungen bisher nicht begegnet, ins-besondere nicht durch die gebotene Einschränkung derweit gefassten sozial-medizinischen Indikation auf einerein medizinische.70

6. Fazit

Die gesetzliche Abtreibungsregelung und deren Praxisweisen gravierende Defizite auf, die ihre Eignung fürden Schutz des Lebens Ungeborener grundsätzlich inFrage stellen. Von dem gebotenen Schutz des einzelnenLebens kann keine Rede sein. Das Bewusstsein für dasUnrecht der Abtreibung ist weitgehend verloren gegan-gen. In der sozialen Wirklichkeit gelten Abtreibungenals erlaubt. Die Pflicht staatlicher Organe, den rechtli-chen Schutzanspruch des ungeborenen Lebens im all-gemeinen Bewusstsein zu erhalten und zu beleben,bleibt unerfüllt.Den Mindestanforderungen an eine dem Lebensschutztatsächlich dienende Beratung wird in mehrfacher Hin-sicht nicht entsprochen. Die Praxis einer Pflichtbera-tung ist nicht gewährleistet. Genau besehen handelt essich bei dem „Beratungskonzept“ um eine Fristenrege-lung mit Beratungsangebot sowie Scheinberatungs- undBescheinigungspflicht. Unter dem Dach des gesetzli-chen Konzepts finden sich unterschiedliche Beratungs-tendenzen. Die Beratung ist vielfach zu einem routi-nemäßigen Vorgang verkommen. Die Aufsicht über die

65 Herbert Tröndle, aaO. (Fn. 22), S. 824, 831; ders., NJW 1995, 3013,ZfL 1997, 54 sowie in: Festschrift für Günther Kaiser, 1998, S.1399; vgl. auch Lackner/Kühl, aaO. (Fn. 28), Rn. 24 vor § 218;Christian Starck, aaO. (Fn. 45), S. 384.

66 BVerfGE 88, 203, 289. Inwieweit ein solches Verantwortungsbe-wusstsein in der Ärzteschaft heute noch vorhanden ist, ist eineandere Frage. Vgl. hierzu Bernward Büchner, Zur Verantwortbar-keit einer Tötung Ungeborener nach der Lehre der Medizin, ZfL 2000, 2 ff. sowie in: Schmid-Tannwald/Overdick-Gulden, Vorge-burtliche Medizin zwischen Heilungsauftrag und Selektion,2001, S. 93 ff.

67 BVerfGE 88, 203, 290, 293.68 Lackner/Kühl, aaO. (Fn. 28), Rn. 23 vor § 218; Harro Otto, Jura

1996, 135, 143; Christian Starck, aaO, (Fn. 45), S. 383.69 BVerfGE 88, 203, 294 f.70 Hierzu z. B. Manfred Spieker, Der verleugnete Rechtsstaat, 2005, S.

31 ff.; Bernward Büchner, Behinderte blieben diskriminiert, DieTagespost v. 9.01.2007; Berliner Manifest des BundesverbandesLebensrecht v. 23.09.2006, LebensForum Nr. 80, 4/2006, S. 28.

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Beratungsstellen ist unzureichend.71 Durch die Zulas-sung des Abtreibungsmittels Mifegyne sind die Erfolgs-chancen einer Konfliktberatung zusätzlich entschei-dend vermindert. An einer Erfolgskontrolle der Bera-tung fehlt es. Anhand bekannter Zahlen der Schwanger-schaftskonfliktberatungen und derjenigen der gemelde-ten Schwangerschaftabbrüche lässt sich eine Misser-folgsquote von ca. 70 Prozent errechnen.72

Strafbewehrte Verhaltensgebote und -verbote für das fa-miliäre Umfeld fehlen. Nicht gesichert ist ferner, dassvon der Mitwirkung des Arztes eine Schutzwirkung fürdas Ungeborene ausgehen kann.73

Es ist Aufgabe des Bundesgesetzgebers, die Mindestan-forderungen an eine gesetzliche Regelung, die der staat-lichen Schutzpflicht gerecht wird, zu erfüllen und ihreAuswirkungen in der Praxis zu beobachten. Der Gesetz-geber kann sich seiner Beobachtungspflicht nicht durchVerweis auf die Zuständigkeit der Länder entziehen, einausreichendes Angebot wohnortnaher Beratungsstellensicherzustellen.74 Für die Erteilung der erforderlichenAuskünfte hat der Bundesgesetzgeber zu sorgen.75 Sei-ner Beobachtungspflicht kann er z. B. mittels einer einzusetzenden Enquete-Kommission des Bundestagesnachkommen.

VI. Zur prozessualen Durchsetzung der Beobach-tungspflicht

Bei der Beobachtungspflicht handelt es sich nicht umeine einklagbare Verpflichtung des Gesetzgebers. Un-terlässt er die gebotene Beobachtung mit der Folge,dass auch eine gebotene Korrektur oder Nachbesserungder Gesetze unterbleibt, kann im Wege eines Antragsbeim BVerfG auf abstrakte Normenkontrolle geltendgemacht werden, die betreffenden Gesetze seien verfas-sungswidrig (geworden).76

VII. Schlussbemerkungen

Die Erinnerung an die Beobachtungspflicht des Gesetz-gebers rührt an ein Tabu. Es wird mit der Behauptungbegründet, die geltenden Abtreibungsgesetze seien dasErgebnis eines hart umkämpften parteiübergreifendenKompromisses.77 Dabei wird ignoriert, dass sich auchKompromisse an verfassungsrechtlichen Anforderun-gen messen lassen müssen und sich die Linie des be-haupteten Kompromisses zudem längst gleich einerWanderdüne zulasten des Lebensschutzes verschobenhat. Die Formel „rechtswidrig, aber straffrei“, welche dieAusgangslinie beschreibt, ist ein Schwindel angesichtsder durchgängigen Behandlung „beratener“ Abtreibun-gen als rechtmäßig bis hin zur fast ausnahmslosen Fi-nanzierung aus den Länderhaushalten. Andere meinen, mit der Neuregelung des Paragrafen218 sei es gelungen, Rechtsfrieden zu schaffen,78 alskönne es im Rechtsstaat Rechtsfrieden geben durch ein

„Schutzkonzept“, das die zu Schützenden praktischschutzlos lässt und das Unrecht ihrer Tötung akzeptiert,ja sogar fördert.Auch innerhalb der katholischen Kirche möchten man-che die „Beratungsregelung“ und ihre Praxis nichtmehr hinterfragen, aus Sorge, dass es „doch noch zurFristenregelung kommt.“ Beispielsweise forderten nam-hafte Protagonisten des Beratungsvereins „Donum vi-tae“ in einem „Zwischenruf“ vom 20.07.2006 dazu auf,durch „Eintreten für die Beratungsregelung im staatli-chen Recht die Alternative der Fristenregelung unmög-lich zu machen“, was durch Förderung und Unterstüt-zung von „Donum vitae“ geschehen könne. Dass die„Beratungsregelung“ einer Fristenregelung gleich-kommt, will man nicht sehen. Eine Alternative zu ihr wä-re eine Regelung, die mit der Formel „rechtswidrig, aber straffrei“ ernst macht, Beratung anbietet, jedochnicht als Instrument der Rechtfertigung missbrauchtund deshalb Abtreibungen, auch wenn sie nach Bera-tung erfolgen, als Unrecht kennzeichnet, als solches be-handelt und deshalb nicht länger staatlich fördert.79

Die Erfüllung der Schutzpflicht für jedes einzelne Men-schenleben ist „eine Grundbedingung geordneten Zu-sammenlebens im Staat.“80 Ein Rechtsstaat, der nicht be-reit ist, sich Rechenschaft über die Erfüllung dieserPflicht abzulegen, verleugnet sich selbst.

71 Herbert Tröndle, aaO. (Fn. 22), S. 827; Christian Hillgruber, aaO.(Fn. 22), S. 14, 25 f.; Lackner/Kühl, aaO. (Fn. 28), Rn. 12 vor §218.

72 Bernward Büchner, ZfL 22005, 73 f.; ders. In Büchner/Kaminski,aaO. (Fn. 22), S. 120, 184 f. Da jedoch die Zahl der gemeldetenAbtreibungen zu niedrig ist, dürfte die Misserfolgsquote wesent-lich höher sein.

73 Vgl. auch die Bilanz der Juristen-Vereinigung Lebensrecht e. V.„Zehn Jahre Fristenregelung im vereinigten Deutschland“ (Mai2003), ZfL 2/2003, 71 ff.

74 Mit einem unzulässigen Verweis auf die Länderzuständigkeit fürdie Schwangerschaftskonfliktberatung (§ 8 SchKG) begnügt sichdie Antwort der Bundesregierung v. 18.05.2004, aaO. (Fn. 7), zuden Fragen 15 und 16.

75 Eine Berichtspflicht der Länder besteht bisher nicht.76 Vgl. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG. Antragsberechtigt sind nur die Bun-

desregierung, eine Landesregierung oder ein Drittel der Mitglie-der des Bundestages.

77 So kürzlich Reinhard Müller, F.A.Z. v. 13.07.2007. Stefan Hustermeint, man könne sich ja fragen, ob dem Gemeinwesen gedientwäre, wenn sich der Gesetzgeber in regelmäßigen Abständen im-mer wieder mit diesem politisch und weltanschaulich hoch be-setzten Problem beschäftigen müsste (Die Beobachtungspflichtdes Gesetzgebers, Zeitschrift für Rechtssoziologie 24/2003, S. 23,Fn. 80).

78 So z. B. Kröger, in: Leipziger Kommentar zum StGB, 11. Aufl., Rn.42 vor § 218.

79 Vgl. die Bilanz der Juristen-Vereinigung Lebensrecht e. V., aaO.(Fn. 71), S. III.

80 BVerfGE 88, 203, 252.

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beitrag80 ZfL 3/2007

Assessor jur. Thomas Zimmermanns, Köln

BVerfG schränkt Meinungsfreiheitfür Abtreibungsgegner ein

- Anmerkung zu BVerfG ZfL 2006, 135 ff. -

Mit Kammerbeschluss des 1. Senats vom 24.05.20061 hatdas BVerfG zwei Verfassungsbeschwerden eines Abtrei-bungsgegners gegen Urteile und Beschlüsse von Zivilge-richten zurückgewiesen, in denen er zur Unterlassungvon Flugblattäußerungen verurteilt worden war. In die-sen Flugblättern hatte er die Öffentlichkeit darüber in-formiert, dass ein namentlich benannter Frauenarzt inseiner Praxis rechtswidrige Abtreibungen vornehme.2

Die erstgenannte der beiden Verfassungsbeschwerdenrichtete sich gegen Gerichtsentscheidungen im Verfah-ren der einstweiligen Verfügung sowie gegen das erstin-stanzliche Urteil im Hauptsacheverfahren. Sie wurdenmit der Begründung als unzulässig zurückgewiesen, dasses dem Beschwerdeführer zumutbar gewesen sei, denRechtsweg im Hauptsacheverfahren auszuschöpfen.Die zweite Verfassungsbeschwerde wurde als unbegrün-det zurückgewiesen. Als Ausgangspunkt der rechtlichenBewertung deutete das BVerfG diese Äußerung als Vor-wurf strafbaren Handelns gegenüber dem Frauenarzt.Es ließ dabei offen, ob diese Äußerung als Tatsachenbe-hauptung oder als Meinungsäußerung anzusehen sei.Als Tatsachenbehauptung sei sie unwahr, da der ange-griffene Frauenarzt seine Abtreibungstätigkeit nicht instrafbarer Weise, sondern im Rahmen des geltendenRechts ausübe. Aber auch als Meinungsäußerung sei sieunzulässig, da sie eine Anprangerung des angegriffenenFrauenarztes darstelle, bei der in Abwägung aller Um-stände des konkreten Falles dem Persönlichkeitsrechtdes Frauenarztes der Vorrang gegenüber der Meinungs-freiheit des Beschwerdeführers einzuräumen sei.

1. Zulässigkeit der Beschwerde 1 BvR 1046/02

Schon gegen die Zurückweisung der ersten Verfassungs-beschwerde als unzulässig bestehen erhebliche rechtli-che Bedenken:Entgegen der Ansicht des BVerfG stand § 90 Abs. 2 S.1BVerfGG ihrer Zulässigkeit nicht entgegen. Zwar warhier der Rechtsweg lediglich im Verfahren der einstwei-ligen Verfügung erschöpft und noch nicht der Rechts-weg im Hauptsacheverfahren. Nach der Rechtspre-chung des BVerfG kann dies in solchen Fällen jedochnicht stets verlangt werden. Hängt die Entscheidungvon keiner weiteren tatsächlichen Aufklärung ab undliegen die Voraussetzungen des § 90 Abs. 2 S.2 BVerfGGvor, so ist die Verfassungsbeschwerde auch ohne Er-schöpfung des Rechtsweges in der Hauptsache zulässig.3

So liegt es hier: Der Sachverhalt als solcher ist unstreitig;es ging lediglich um dessen (verfassungs-)rechtliche Be-

wertung. Ferner wäre dem Beschwerdeführer ein schwe-rer und unabwendbarer Nachteil entstanden, wenn erzunächst auf den weiteren Rechtsweg im Hauptsache-verfahren verwiesen worden wäre. Schwere Nachteilesind z.B. besonders intensive Grundrechtseingriffe.4 Einsolcher Eingriff lag hier vor, da dem Beschwerdeführerunter Androhung eines hohen Zwangsgeldes untersagtwurde, Abtreibungen in personenbezogener Form als„rechtswidrig“ zu bezeichnen. Es handelt sich hier umeine Äußerung in einer politisch und gesellschaftlichäußerst umstrittenen Frage, in der es um den Schutz deshöchsten verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgutes,nämlich des menschlichen Lebens, geht. Würde der Be-schwerdeführer insoweit auf die Erschöpfung desRechtswegs im Hauptsacheverfahren verwiesen, so wäreer für den erheblichen Zeitraum bis zu einer Entschei-dung des BGH an der Geltendmachung seiner Rechteund an dieser für die öffentliche Meinungsbildung be-deutsamen Meinungsäußerung gehindert.5

2. Ungünstigste Deutungsvariante als Maßstab

Ausgangspunkt der Begründung der Zurückweisungder zweiten Verfassungsbeschwerde ist die erstmals im„Stolpe-Beschluss“6 vertretene Auffassung des BVerfG,wonach bei mehrdeutigen Äußerungen die dem Äu-ßernden ungünstigste Deutungsalternative zugrunde zulegen sei, sofern lediglich Unterlassung der Äußerungbegehrt wird; bei Klagen auf Widerruf oder Geldent-schädigung sowie in einem Strafverfahren sei hingegenweiterhin von der für den Äußernden günstigsten Ausle-gung der Äußerung auszugehen.7 Die „ungünstigste“Deutungsvariante sei diejenige, die eine Persönlichkeits-

1 BvR 1046/02 und 1 BvR 1139/03; veröffentlicht in ZfL 4/06,S.135 ff.

2 Die Handzettel enthielten auf dem Deckblatt die Aufforderung:„Stoppt rechtswidrige Abtreibungen in der Praxis Dr. K.“ Nachdem ausgeschriebenen Namen folgte die Praxisadresse des be-treffenden Arztes. Des Weiteren hieß es in dem Flugblatt: „Wuss-ten Sie, dass in der Praxis von Dr. K. rechtswidrige Abtreibungendurchgeführt werden?“.

3 BVerfGE 86,15 ff., 22; 95,220 ff., 233.4 BVerfGE 34,205 ff., 208; 69,233 ff., 241; Pieroth in: Jarass/

Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 8.Aufl. 2006, Rn 62 f. zu Art. 93 GG.

5 Der Nichtzulassungsbeschluss des BGH erging über ein Jahrnach dem erstinstanzlichen Urteil im Hauptsacheverfahren. Invergleichbaren Fällen hat das BVerfG Verfassungsbeschwerdenauch ohne Erschöpfung des Rechtsweges für zulässig erklärt, vgl.BVerfGE 42,163 ff., 167; 61,1 ff., 5.

6 BVerfG NJW 2006,207 ff. Zuvor hatte das BVerfG lange Zeit dieAuffassung vertreten, wonach ein Gericht, wenn es sich untermehreren möglichen Deutungen einer Äußerung für die zurVerurteilung führende entscheiden will, besondere, überzeugen-de und nachvollziehbare Gründe angeben müsse (vergl. z.B. BVerfG NJW 1990,1980 ff.; NJW 1991,95 ff.; NJW 1996,1529 ff.;NJW 2001,3613 ff.). In all diesen Entscheidungen wurde das Vor-liegen solcher Gründe verneint.

7 Offen bleibt insoweit, was in den Fällen eines Vereins- oder Par-teiausschlusses oder bei arbeitsrechtlichen Maßregelungen gel-ten soll.

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verletzung bewirkt oder, wenn dies bei mehreren Deu-tungsvarianten der Fall ist, zu der schwereren Persön-lichkeitsverletzung führt.8 Im „Stolpe-Beschluss“ bezogdas BVerfG diesen Rechtsgrundsatz auf Tatsachenbe-hauptungen; inzwischen erstreckt es ihn auch auf Mei-nungsäußerungen.9

Ob und inwieweit diesem neuen Rechtsgrundsatz des BVerfG zuzustimmen ist, mag zweifelhaft erscheinen. Esist offensichtlich, dass mit der Feststellung des Inhalts ei-ner Äußerung die Weichen für deren rechtliche Beur-teilung gestellt werden. Auf der einen Seite wird man si-cherlich im Interesse des Ehren- und Persönlichkeits-schutzes argumentieren können, dass es der Äußerndein der Hand habe, seine Ausdrucksweise so eindeutig zugestalten, dass keine Deutung möglich ist, aus denensich die Behauptung einer ehrverletzenden unwahrenTatsache oder die Äußerung eines ehrverletzenden Werturteils ergibt. Auf der anderen Seite kann dieserGrundsatz zu einer erheblichen Verkürzung der Mei-nungsfreiheit führen, besonders dann, wenn die Ge-richte in einem unangemessen weitreichenden Umfangvon einer „mehrdeutigen Aussage“ ausgehen oder wenndie „für den Äußernden ungünstigste Deutung“ einenInhalt gewinnt, die vom Äußernden weder beabsichtigtwar noch in seiner Äußerung objektiv zum Ausdruck ge-bracht wurde. So wie das BVerfG und die Obergerichtein der Vergangenheit zahlreiche ehrverletzende Äuße-rungen verharmlosend interpretiert haben,10 so bestehtnun die Gefahr, dass sie Äußerungen einen verschärftenund ehrverletzenden Sinn beilegen und mit dieser Be-gründung untersagen.Auf jeden Fall hat diese neue Rechtsprechung des BVerfG zur Konsequenz, dass sämtliche Äußerungen,die deshalb mit Unterlassungsurteil untersagt wurden,weil das Gericht die für den Äußernden ungünstigteDeutungsmöglichkeit zugrunde gelegt hat, insgesamtverboten sind. Denn auch wenn eine strafrechtliche Ver-urteilung des Äußernden oder eine zivilrechtliche Ver-urteilung zum Widerruf oder zur Zahlung einer Geld-entschädigung in diesen Fällen nicht möglich ist, weilinsoweit die dem Äußernden günstigste Deutungsmög-lichkeit seiner Äußerung zugrunde zu legen ist, so be-wirken doch die mit einem Unterlassungsurteil verbun-denen Sanktionen (regelmäßig bis zu 250.000 Ord-nungsgeld für den Fall der Zuwiderhandlung) eine ge-nerelle Unterlassung der Wiederholung der inkrimi-nierten Äußerung. Ein Unterlassungsprozess kann demVerurteilten in Anbetracht der in solchen Fällen häufigfestgesetzten hohen Streitwerte auch finanziell wesent-lich teurer zu stehen kommen als eine strafrechtlicheVerurteilung!Das BVerfG ging im vorliegenden Fall davon aus, dassdie Äußerung, wonach die in der Praxis des namentlichgenannten Frauenarztes vorgenommenen Abtreibun-gen „rechtswidrig“ seien, mehrdeutig sei. Abzustellensei für die Ermittlung des Inhalts einer Äußerung auf

das Verständnis eines unvoreingenommenen und ver-ständigen Publikums.11 Dieses könne den Vorwurf derRechtswidrigkeit hier im rechtstechnischen Sinne ver-stehen, aber auch als Vorwurf gesetzeswidrigen und da-mit strafbaren Handelns. Wenn also die dem Äußern-den ungünstigste Deutungsmöglichkeit zugrunde zu le-gen sei, so sei dies folglich der Vorwurf strafbaren Han-delns.

3. Eindeutige Äußerung

Diese Auslegung der hier in Rede stehenden Äußerungist jedoch entschieden abzulehnen. Die Äußerung desBeschwerdeführers war nicht mehrdeutig. Denn bei derErmittlung des Inhalts einer Äußerung ist nach ständi-ger Rechtsprechung des BVerfG zwar von ihrem Wort-laut auszugehen, doch müsse auch der sprachliche Kon-text der Äußerung und deren Begleitumstände in dieAuslegung einbezogen werden.12 Hieraus folgt, dass sichaus dem Kontext des gesamten Flugblatttextes eindeu-tig ergibt, dass der Beschwerdeführer gerade nicht er-klären will, dass die in der betreffenden Arztpraxis vor-genommenen Abtreibungen strafbar sind. Vielmehrbringt er darin seine Kritik und seinen Protest darüberzum Ausdruck, dass sie nach geltender Gesetzeslagenicht strafbar sind, obwohl sie aus ethischen und recht-lichen Gründen strafwürdig seien. Außerdem nimmt erin dem Text des Flugblattes ausdrücklich Bezug auf dieRechtsprechung des BVerfG, das in seinem Grundsatz-urteil vom 28.05.1993 alle Abtreibungen, bei denen kei-ne Indikation oder nur die (nach damaligem Recht gel-tende) soziale Indikation vorliegt, „rechtswidrig“ (wennauch straflos) seien, da sie von der Rechtsordnung nichtanerkannt werden können und dass der Gesetzgeberdies bei der Neufassung der §§ 218 ff. StGB ausdrück-lich zum Ausdruck bringen müsse, sei es im StGB, sei es

8 BVerfG 1 BvR 1139/03 unter Bezugnahme auf BVerfG NJW2006,207 ff., 208 f.

9 In dem hier rezensierten Beschluss 1 BvR 1139/03 sowie in BVerfG NJW 2006,3769 ff., 3772 f., wo ebenfalls über die Zuläs-sigkeit von Äußerungen von Abtreibungsgegnern entschiedenwurde.

10 So sollte z.B. die Äußerung „Soldaten sind Mörder“ so zu verste-hen sein, dass der Äußernde damit in besonders herausfordern-der Weise darauf aufmerksam machen wolle, dass Töten imKrieg kein unpersönlicher Vorgang sei, sondern von Men-schenhand erfolge (BVerfG NJW 1995,3303 ff., 3305 f.). DieÄußerung, Franz Josef Strauß sei ein „Zwangsdemokrat“, solle inerster Linie bedeuten, dass der Äußernde auf die Gefährdungder freiheitlich-demokratischen Ordnung durch Personen hin-weisen wolle, die diese Staatsform nur äußerlich akzeptieren, in-nerlich aber ablehnen (BVerfG NJW 1991,95 ff., 96). Die Be-zeichnung eines Bundeswehrsoldaten, der trotz seiner Behinde-rung an einer Wehrübung teilnehmen wollte, als „geb. Mörder“wurde als Satire bewertet, die sich nicht nur gegen den Klägerrichte, sondern auch andere Personen aufs Korn nehme (BVerf-GE 86,1 ff., 12).

11 Im Anschluss an BVerfG NJW 1995,3303 ff., 3305.12 BVerfG aaO.

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in anderen Gesetzen.13 Der Beschwerdeführer bringtauch deutlich zum Ausdruck, dass er den Vorwurfrechtswidrigen Handelns in diesem Sinne versteht. So-mit ergibt sich aus dem Kontext der Äußerung eindeu-tig, dass der Vorwurf der Rechtswidrigkeit ausschließlichin diesem Sinne gemeint ist und auch von einem „ver-ständigen und unvoreingenommenen“ Publikum nichtanders verstanden werden kann.14 Eine Heranziehungdieses Kontextes bei der Auslegung dieser Äußerungfehlt in der Entscheidung des BVerfG jedoch völlig; dasGericht geht lediglich von den mehreren isoliert be-trachtet möglichen Bedeutungen des Begriffes „rechts-widrig“ aus und wählt dann aus diesen als Grundlage fürdie Abwägung zwischen Persönlichkeitsrecht und Mei-nungsfreiheit die für den Beschwerdeführer ungünstig-ste aus. Damit wird der Inhalt der Äußerung in unge-rechtfertigter Weise zulasten des Äußernden verschärftund die Anforderungen an den Gebrauch des Grund-rechts der Meinungsfreiheit werden in einer Weise überspannt, dass eine einschüchternde Wirkung ent-steht15, die doch nach bisheriger ständiger Rechtspre-chung des BVerfG in der politischen und gesellschaftli-chen Auseinandersetzung unbedingt vermieden werdensolle,16 da anderenfalls die Gefahr einer Lähmung undVerengung des Meinungsbildungsprozesses drohe.17

Somit wäre als Ausgangspunkt der rechtlichen Würdi-gung festzuhalten, dass hier in Wahrheit gar keinemehrdeutige, sondern eine eindeutige Äußerung vor-liegt, und zwar eine Bewertung der Abtreibungen als„rechtswidrig“ im Sinne des Urteils des BVerfG vom28.05.1993. Unter diesen Voraussetzungen handelt essich um ein sachlich zutreffendes Werturteil (keine Tat-sachenbehauptung, s.u.), das zweifelsfrei durch Art. 5Abs. 1 GG gerechtfertigt ist und auch unter dem Ge-sichtspunkt der „Prangerwirkung“ oder der „Anprange-rung“ nicht untersagt werden kann.18

4. Tatsachenbehauptung oder Werturteil?

Der nächste Einwand muss sich dagegen richten, dassdas BVerfG es offenließ, ob es sich bei der Bewertungder Abtreibungen als „rechtswidrig“ um eine Tatsachen-behauptung oder um eine wertende Meinungsäuße-rung handelt.19

a) Das Gericht begründete dies damit, dass dieses Vor-gehen zulässig sei, wenn eine Äußerung sowohl werten-de Elemente als auch Tatsachenaussagen enthält undnicht eindeutig sei, ob der Tatsachengehalt oder dasWerturteil überwiegt und wenn die rechtliche Beurtei-lung bei beiden Annahmen gleich ausfiele.20

b) Als Tatsachenbehauptung sei diese unwahr, da dieTätigkeit des angegriffenen Frauenarztes nicht strafbarsei, sondern erlaubt, da sie unter Einhaltung der gesetz-lichen Bestimmungen durchgeführt werde. Unwahre

Tatsachenbehauptungen wiederum seien nicht durchArt. 5 Abs. 1 GG geschützt.

c) Bei der Bewertung eines Verhaltens als „rechtswid-rig“, „strafbar“ o.ä. handelt es sich jedoch in den mei-sten Fällen um ein Werturteil und nicht um eine Tatsa-chenbehauptung. Denn hiermit wird in der Regel nureine ganz überwiegend auf Wertung beruhende subjek-tive Beurteilung zum Ausdruck gebracht.21 So hat derBeschwerdeführer auch hier lediglich seine persönlicheAuffassung hinsichtlich der rechtlichen Bewertung derin der betreffenden Arztpraxis vorgenommenen Abtrei-bungen zum Ausdruck gebracht und sich zur Rechtferti-gung und Begründung der Richtigkeit und Angemes-senheit dieser Bewertung auf die identische Beurteilungdurch das BVerfG gestützt. Die Einstufung derartigerBewertungen als Tatsachenbehauptung kommt nurdann in Betracht, wenn diese Bewertung nicht alsRechtsauffassung kenntlich gemacht wird, sondern beidem Adressaten zugleich die Vorstellung von konkretenin die Wertung eingekleideten Vorgängen hervorruft,die als solche einer Überprüfung mit den Mitteln desBeweises zugänglich sind.22 Dies ist hier jedoch nicht ge-schehen. Der Beschwerdeführer hat nicht auf bestimm-te Tatsachen Bezug genommen, aus denen sich dieRechtswidrigkeit der Abtreibungen ergebe, sondern le-diglich auf die Rechtsprechung des BVerfG als einerweiteren, die eigene Bewertung stützende Rechtsauffas-sung.Im Übrigen waren nach bisheriger Rechtsprechung desBVerfG Äußerungen im Zweifel als bloße Meinungs-äußerungen anzusehen, da diese in stärkerem Maßedurch Art. 5 Abs. 1 GG geschützt sind als Tatsachenbe-hauptungen.23

13 BVerfGE 88,203 ff. Darin heißt es in Leitsatz 4.: Der Schwanger-schaftsabbruch muss für die ganze Dauer der Schwangerschaftgrundsätzlich als Unrecht angesehen und demgemäß rechtlichverboten sein...“. In Leitsatz 15. heißt es: „Schwangerschaftsab-brüche, die ohne Feststellung einer Indikation nach der Bera-tungsregelung vorgenommen werden, dürfen nicht für gerecht-fertigt (nicht rechtswidrig) erklärt werden“.

14 So mit Recht auch OLG Karlsruhe NJW 2003,2029 ff., 2031 f. undLG Heidelberg 3 O 366/01 als Vorinstanz.

15 So zutreffend Hochhuth NJW 2007, 192 ff., 194.16 Vergl. z.B. BVerfGE 43,130 ff., 136; BVerfG NJW 1991,95 ff., 96;

NJW 1995,3003 ff., 3304.17 So ausdrücklich BVerfG NJW 1991,95 ff., 96.18 Für Unzulässigkeit dieser Äußerung selbst bei einer Auslegung in

diesem Sinne und deren Einstufung als wahre Tatsachenbehaup-tung jedoch LG Karlsruhe 4 O 208/05, S. 9 ff. v. 04.11.2005 we-gen angeblicher Prangerwirkung.

19 Wie die weitere Untersuchung zeigen wird, richtet sich meineKritik allerdings letztlich nicht hiergegen, sondern dagegen, dassdas BVerfG zu dem Ergebnis gelangt, dass die Äußerung unterbeiden Voraussetzungen zu untersagen sei.

20 ZfL 4/06, S.135 ff., 137.21 Seitz/Schmidt/Schoener, Der Gegendarstellungsanspruch, 3.

Aufl. 1998, Rn 389 f. mit Nachweisen der Rspr.; zuletzt BGH NJW2005,279 ff., 282.

22 Vergl. z.B. BGH NJW 1982,2246; BGH NJW 1993,930.23 BVerfGE 85,1 ff., 15 f.

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Aber selbst wenn man die in Rede stehende Äußerungals Tatsachenbehauptung ansähe, so wäre diese bei rich-tiger Auslegung nicht unwahr, sondern wahr. Denn sieist nach dem zuvor Gesagten eben nicht als Vorwurf derStrafbarkeit auszulegen, sondern im rechtstechnischenSinne entsprechend dem Verständnis des BVerfG in sei-nem Urteil vom 28.05.1993.

d) Nach Ansicht des BVerfG sei die Äußerung jedochselbst dann unzulässig, wenn man sie (richtigerweise)als Meinungsäußerung ansieht. Dies muss bereits des-halb erstaunen, da das BVerfG in ständiger Rechtspre-chung seit 1958 im Hinblick auf die Bedeutung des für eine freiheitlich-demokratische Grundordnungschlechthin konstitutiven Grundrechts der Meinungs-freiheit von einer Vermutung der Zulässigkeit der Äuße-rung ausgeht.24 Das Grundrecht der Meinungsfreiheitwolle auch gewährleisten, dass jeder frei sagen kann, waser denkt, auch wenn er für sein Urteil keine nachprüf-baren Gründe angibt oder angeben kann.25 Ebenso we-nig komme es darauf an, ob die Äußerung als wertvoll oder als wertlos, als richtig oder als falsch, als begründetoder als grundlos, als gerecht oder als ungerecht bewer-tet wird.26 Auch Zeit, Ort und sonstige Umstände derMeinungsäußerung sind von Art. 5 Abs. 1 GG ge-schützt.27 Von vornherein unzulässig sind nur Äußerun-gen, die eine Verletzung der Menschenwürde, Schmäh-kritik oder Formalbeleidigung bedeuten (was das BVerfG hier mit Recht gar nicht erst in Erwägung zieht).Ist dies nicht der Fall, so müsse zwar eine Abwägung zwi-schen den widerstreitenden Rechten der Meinungsfrei-heit auf der einen und dem Persönlichkeitsrecht auf deranderen Seite stattfinden. Jedoch gilt im Rahmen dieserAbwägung der Grundsatz der Vermutung für die Zuläs-sigkeit der Meinungsäußerung (s.o.). Eine Abweichungvon der Vermutung der Zulässigkeit der freien Rede be-dürfe einer Begründung, die der konstitutiven Bedeu-tung der Meinungsfreiheit für die Demokratie, in derdie Vermutungsregel wurzelt, Rechnung trägt.28 An ei-ner solchen Begründung fehlt es hier und eine solchewäre auch schwer denkbar, denn wenn man von dieserkonstitutiven Bedeutung der Meinungsfreiheit ausgeht,noch dazu in einer gesellschaftspolitischen Auseinan-dersetzung, in der es um den Schutz des höchstenRechtsguts, das menschliche Leben, geht, so sind kein-erlei Umstände ersichtlich, die es im vorliegenden Fallgebieten könnten, die Meinungsfreiheit hinter demPersönlichkeitsrecht des Angegriffenen zurücktreten zulassen, selbst dann, wenn man die Äußerung zu Unrechtals Vorwurf strafbaren Verhaltens interpretiert.29 Die oben dargestellten Grundsätze der Rechtsprechung desBVerfG führen im vorliegenden Fall nämlich zu dem Er-gebnis, dass es hiernach für die Zulässigkeit der – alsVorwurf strafbaren Verhaltens verstandenen – Äuße-rung weder darauf ankommt, ob sie sich für den Betrof-fenen ehrmindernd auswirkt noch darauf, ob dieser

Vorwurf sachlich (etwa anhand der Gesetzeslage) be-rechtigt und begründet ist oder nicht.30 Ebenso wenigkonnte es hiernach darauf ankommen, dass ein einzel-ner namentlich benannter Frauenarzt angegriffen wur-de und dass die Flugblätter in der Nähe seiner Praxisverteilt wurden.

5. Erweiterung des Begriffs der „Prangerwirkung“

Nach bisheriger Rechtsprechung konnte eine Äuße-rung – und zwar selbst eine wahre Tatsachenbehaup-tung – allerdings dann unzulässig sein, wenn sie nachForm oder Inhalt eine Prangerwirkung entfaltete. Einesolche Prangerwirkung wurde dann angenommen,wenn eine Einzelperson angegriffen wurde und dieÄußerung zu einer Stigmatisierung des Betroffenen unddamit zu einer nachhaltigen Beeinträchtigung seinerPersönlichkeitsentfaltung führen kann, wenn die Aussa-ge zum Anknüpfungspunkt sozialer Ausgrenzung und I-solierung wird bzw. wenn die Folgen für den Betroffe-nen in keinem Verhältnis zu dem mit der Äußerung an-gestrebten Zweck stehen.31 Eine solche Prangerwirkunghatte der BGH hinsichtlich der hier in Rede stehendenÄußerung angenommen.32 Es ist nun aber in keinerWeise ersichtlich, inwiefern der Frauenarzt durch dieÄußerung, er nehme in seiner Praxis rechtswidrige Ab-treibungen vor, mit „Stigmatisierung“ oder „sozialerAusgrenzung“ rechnen müsste oder sonstige Folgen ein-treten, die in keinem Verhältnis zu dem mit der Äuße-rung angestrebten Zweck ständen. Auch der BGH be-gründete in seinen Entscheidungen nicht näher, inwie-fern dies der Fall sei.Das BVerfG stellt nun in seiner Begründung auch nichtauf solche Folgen ab, sondern erweitert den Begriff derPrangerwirkung dadurch, dass es bereits dann einePrangerwirkung oder eine „Anprangerung“ annimmt,wenn ein allgemeines Sachanliegen durch identifizie-

24 Std. Rspr. seit BVerfGE 7,198 ff.25 BVerfGE 42,163 ff., 171.26 Std. Rspr., vergl. z.B. BVerfG NJW 1995,3303 ff., 3304; BGH NJW

1994,124 ff., 126; BGH NJW 2000,1036 ff., 1040.27 BVerfG NJW 1995,3303 ff., 3303.28 BVerfG aaO, S.3305.29 Eine solche von den Zivilgerichten angenommene Abweichung

von dieser Vermutung wurde vom BVerfG erst vor Kurzem bei ei-ner Meinungsäußerung mit NS-Bezug (der Angegriffene wurdedarin als „der Mengele des DDR-Doping-Systems“ bezeichnet)gebilligt (BVerfG NJW 2006,3266 f.). Auch dieser Beschluss stehtm. E. im Gegensatz zu der bisherigen Rechtsprechung des BVerfG, zumal es in jenem Verfahren nicht um einen Unterlas-sungsanspruch, sondern um Zahlung einer Geldentschädigungging.

30 So ausdrücklich BVerfG NJW 1992,2815 f., 2816 hinsichtlich derRechtmäßigkeit einer Abschiebemaßnahme.

31 BVerfGE 97,391 ff., 406; BVerfG NJW 1999,2358 ff., 2359; NJW2000,2413 ff., 2414.

32 BGH NJW 2003,2011 f. sowie in einem weiteren Fall, in dem le-diglich wahrheitsgemäß auf die Tatsache hingewiesen wurde,dass in einer bestimmten Praxis Abtreibungen vorgenommenwerden (BGH NJW 2005,592 f.).

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beitrag84 ZfL 3/2007

33 ZfL 4/06, S.135 ff., 138 unter Bezugnahme auf BGH VersR1994,1116 ff., 1118.

34 Vergl. z.B. BVerfGE 7,198 ff.; 54,129 ff.; 82,43; ff. 82,272 ff.; 86,1ff.; NJW 2003,3760 ff.

35 BVerfG NJW 1999,2358 ff. und der Sache nach auch – trotzNichtannahme der Verfassungsbeschwerde – BVerfG NJW2000,2413 ff..

rende Herausstellung einer Einzelperson und damitdurch Personalisierung eines als negativ empfundenenGeschehens verdeutlicht werden soll.33 Die Äußerungsei in solchen Fällen zwar nicht stets unzulässig, jedochsei in solchen Fällen eine Abwägung zwischen dem Per-sönlichkeitsrecht des Angeprangerten und dem Grund-recht der Meinungsfreiheit des Äußernden vorzuneh-men. Diese Abwägung ergebe hier aus folgenden Grün-den einen Vorrang des Persönlichkeitsrechts:– Ein einzelner Frauenarzt wurde aus einer Vielzahl vonÄrzten herausgegriffen und gezielt angegriffen, wofürdieser dem Beschwerdeführer keinen Anlass gegebenhabe.– Die Flugblätter wurden in unmittelbarer Nähe seinerPraxis verteilt und darin sein voller Name und seine(Praxis-)Anschrift genannt.– Die Schwere des Angriffs, die in dem ungerechtfertig-ten Vorwurf strafbaren und nicht nur ethisch verwerfli-chen Verhaltens liegt. Dies könne gravierende Beein-trächtigungen für den Betroffenen mit sich bringen.

6. Voraussetzungen der „Prangerwirkung” nicht er-füllt

Auch diese Argumentation des BVerfG muss schwerwie-genden Bedenken begegnen:

a) Weder das Gesetz (Art. 5 Abs. 1 und 2 GG; §§ 823 Abs.1, 1004 BGB usw.) noch die (bisherige) Rechtsprechungdes BVerfG unterscheiden hinsichtlich der Vorausset-zungen der Zulässigkeit einer Äußerung, ob eine Einzel-person (sei es namentlich oder unter einer Kollektivbe-zeichnung), eine Gruppe von Personen oder ein sonsti-ges Kollektiv (Partei, Verein, Behörde usw.) angegriffenwird. Es gelten in allen Fällen die gleichen Vorausset-zungen für die Zulässigkeit von Tatsachenbehauptun-gen und Meinungsäußerungen wie unter 4.d) darge-stellt. Dementsprechend hat das BVerfG scharfe und indas Persönlichkeitsrecht eingreifende Äußerungen inzahlreichen Entscheidungen auch dann zugelassen,wenn sich diese gegen namentlich benannte Einzelper-sonen richteten.34 Zumeist wurde hierbei eine Pranger-wirkung oder Anprangerung gar nicht erst erörtert; ineinigen Fällen wurde sie zwar erörtert, ihr Vorliegen je-doch im Ergebnis verneint.35

Das Vorliegen einer Prangerwirkung stellte nach bishe-riger Rechtsprechung eine Ausnahme dar, deren Vor-aussetzungen (soziale Ausgrenzung und Stigmatisie-rung des Betroffenen oder schwerwiegende Auswirkun-gen auf seine persönliche Integrität) nur in sehr selte-nen Fällen gegeben waren. Eine enge Auslegung des Be-griffes „Prangerwirkung“ war und ist auch erforderlich,weil deren Vorliegen ja selbst bis hin zum Verbot wahrerTatsachenbehauptungen führen kann und damit ekla-tant in das Grundrecht der Meinungsfreiheit eingreift.Dementsprechend ist für eine Ausweitung der Voraus-

setzungen der Prangerwirkung oder für eine Rechtsfi-gur der „Anprangerung“ von Vornherein kein Raum, dadies bis hin zur Aushebelung des gesamten Grundrechtsder Meinungsfreiheit führen kann. Es kann auch nichtjede mögliche Beeinträchtigung des Ansehens, der öf-fentlichen Wirksamkeit oder des Geschäftsbetriebes desBetroffenen eine Prangerwirkung begründen, denndann wären nur noch solche kritischen Äußerungenzulässig, die im Wesentlichen wirkungslos bleiben. Mitder Konstruktion der „Anprangerung“, die im Falle ih-res Vorliegens eine gleichrangige Abwägung zwischenden widerstreitenden Rechtsgüter erforderlich mache,bricht das BVerfG auch mit der Vermutung für dieZulässigkeit der freien Rede in all den Fällen, in denensich eine scharfe Meinungsäußerung in der Öffentlich-keit gegen namentlich benannte Einzelpersonen rich-tet. Es entsteht aufgrund dieser neuen Rechtsprechungeine höchst unbefriedigende Rechtsunsicherheit, danun kaum noch vorauszusehen ist, in welchen Fällenund aufgrund welcher Gesichtspunkte die Gerichte derMeinungsfreiheit und in welchen sie dem Persönlich-keitsrecht den Vorrang geben. Eine solche Rechtsunsi-cherheit wird – nicht zuletzt im Hinblick auf die mit ei-ner Unterlassungsklage verbundenen erheblichen fi-nanziellen Risiken – dazu führen, dass die Bereitschaft,vom Grundrecht der Meinungsfreiheit Gebrauch zu ma-chen, in der Gesellschaft (oder womöglich nur bei be-stimmten Gruppen?) abnimmt. Selbst das Wissen desÄußernden, dass die von ihm behaupteten Tatsachenunstreitig oder erwiesermaßen wahr sind, vermag ihmdann nicht die Gewissheit zu geben, dass seine Äuße-rung nicht doch wegen einer angeblichen Prangerwir-kung untersagt wird. Diese Folgen aber stehen im Wi-derspruch zur konstitutiven Bedeutung dieses Grund-rechts, die ja gerade vom BVerfG stets hervorgehobenwurde.

b) Aber auch die Gesichtspunkte, aufgrund das BVerfGim vorliegenden Fall im Rahmen seiner konkreten Ab-wägung zu einem Vorrang des Persönlichkeitsrechts desFrauenarztes gelangt, überzeugen verfassungsrechtlichin keiner Weise:

– Die Tatsache, dass der Frauenarzt als Einzelperson an-gegriffen wurde und sein Name und seine Praxisan-schrift in den Flugblättern genannt wurden, begründetja gerade erst, dass überhaupt eine „Anprangerung“ vor-liegt und ist damit Voraussetzung, dass eine gleichrangi-ge Abwägung der widerstreitenden Interessen (also oh-

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beitragZfL 3/2007 85

ne eine Vermutung zugunsten der freien Rede) zu er-folgen hat. Die die Anprangerung begründenden Um-stände können somit im Rahmen dieser Abwägung alsonicht nochmals zu seinen Gunsten berücksichtigt wer-den.– Es trifft ferner nicht zu, dass sich der Beschwerdefüh-rer nur gegen den in diesem Fall betroffenen Frauen-arzt gewandt hat. Es ist bekannt, dass er mit entspre-chenden Meinungsäußerungen und Flugblattaktionenbundesweit gegen eine ganze Anzahl von Frauenärztenvorgegangen ist, die in ihren Praxen oder in KlinikenAbtreibungen vornehmen. Im Rahmen von Art. 5 Abs. 1GG sollte es hierauf allerdings in keiner Weise ankom-men, da jeder Bürger frei ist zu entscheiden, gegen wel-che oder wieviele von mehreren in einer bestimmtenAngelegenheit Verantwortlichen er sich äußern will.– Im Übrigen trifft es – jedenfalls unter Berücksichti-gung der bisherigen Rechtsprechung des BVerfG –nicht zu, dass der Frauenarzt dem Beschwerdeführerkeinen Anlass zu seiner Äußerung gegeben habe. Zu-nächst einmal ist festzustellen, dass das Thema „Abtrei-bung“ auch heute noch politisch und ethisch umstrittenist, sodass jeder, der Abtreibungen vornimmt, Abtrei-bungsgegnern bereits dadurch Anlass zu entsprechen-den Meinungsäußerungen gibt. Ferner ist der Frauen-arzt mit dem Angebot der Durchführung von Abtrei-bungen in die Öffentlichkeit getreten und muss gegensein Verhalten gerichtete Meinungsäußerungen auchaus diesem Grunde grundsätzlich hinnehmen.36

– Die Tatsache, dass der Frauenarzt nicht in seiner Pri-vatsphäre, sondern lediglich in seiner beruflichen Sphä-re angegriffen wurde, wurde – anders als in vergleichba-ren Fällen37 – in keiner Weise zugunsten des Äußerndenberücksichtigt.– Was nun die angebliche Schwere des Angriffs betrifft,so wird diese nach dem zuvor Dargelegten nur aus einerfehlgeleitenen und mit Art. 5 Abs. 1 GG nicht zu verein-barenden Interpretation der strittigen Äußerung herge-leitet. Aber selbst wenn man in ihr tatsächlich den Vor-wurf strafbaren Handelns sehen wollte, so würde es sichdabei nicht um einen so schwer wiegenden Vorwurfhandeln, dass dies für eine Unzulässigkeit der Äußerungsprechen würde. Inwiefern die Äußerung konkret geeig-net gewesen sei, „gravierende Beeinträchtigungen“ fürden Frauenarzt mit sich zu bringen, wird vom BVerfGnicht weiter begründet. Wenn das Gericht dabei aus-führt, dass die Tatsache (das die Strafbarkeit begrün-dende Verhalten), auf die das Werturteil (die Behaup-tung der Strafbarkeit) gestützt werde, unwahr sei unddass auch dies in die Abwägung einzubeziehen sei, sogeht dies fehl. Die Tatsache, dass der betreffende Frau-enarzt Abtreibungen vornimmt, ist unstreitig wahr undnur die daraus von dem Beschwerdeführer (angeblich)gezogene rechtliche Schlussfolgerung, dass dieses Ver-halten strafbar sei, ist unzutreffend. Sieht man dieserechtliche Schlussfolgerung zutreffend als Werturteil

an, so liegt eine unwahre Tatsachenbehauptung an kei-ner Stelle vor.– Die Gründe, die dafür sprechen, dass der Beschwerde-führer seine Meinung in der von ihm gewählten Weisekundgetan hat, wurden bei der Abwägung in keinerWeise berücksichtigt. Diese Gründe bestehen vor allemdarin, dass er sein Anliegen dadurch besonders wirksammachen wollte, dass er gleichsam „vor Ort“ auf das Un-recht der Abtreibung und darauf aufmerksam machenwollte, dass auch das BVerfG diese als „rechtswidrig“ an-sieht. Ferner wollte er durch die Personalisierung einesder für Abtreibungen verantwortlichen Ärzte diesen ausder Anonymität reißen, was nach unserer Rechtsord-nung nicht verboten ist.

7. Fazit

Der Schwerpunkt der Kritik an dem Beschluss des BVerfG muss sich zweifellos gegen die Interpretationdes Vorwurfs der Rechtswidrigkeit als Vorwurf der Straf-barkeit sowie gegen die Ausdehnung des Begriffs derPrangerwirkung und die daraus abgeleiteten Rechtsfol-gen richten. Diese Beschlüsse haben zur Folge, dass esAbtreibungsgegnern unmöglich gemacht wird, in derÖffentlichkeit gegenüber einzelnen namentlich be-nannten Ärzten, die Abtreibungen vornehmen, auf dieRechtsprechung des BVerfG hinzuweisen und Abtrei-bungen als „rechtswidrig“ zu bewerten. Das ist ein er-heblicher Eingriff in die Meinungsfreiheit, der um soschwerer wiegt, als es den Abtreibungsgegnern hierbeium den Schutz des nach unserer Verfassung höchstenRechtsgutes, nämlich des menschlichen Lebens, geht.Auch dies wurde in dem Beschluss in keiner Weise ge-würdigt. „Einen großen Teil der Rechtsprechung zurMeinungsäußerungsfreiheit von Abtreibungsgegnernkann und muss man ohne Polemik so kommentieren,dass deren Äußerungen nach anderen Grundsätzen be-urteilt werden als die Äußerungen anderer gesellschaft-licher Gruppen, wie z.B. Pazifisten, Gewerkschaften,Umwelt-, Natur- und Tierschützer“.39

Es bleibt den Lebensrechtlern in Deutschland nur nochdie Hoffnung, dass der Europäische Gerichtshof fürMenschenrechte diesen Beschluss wegen Verletzung derauch in der Europäischen Menschenrechtskonvention(EMRK) in Art. 10 Abs. 1 garantierten Meinungsfreiheitauf die bereits erhobene Beschwerde hin aufhebenwird.

36 Vergl. z.B. BVerfGE 54,129 ff., 136.37 Vergl. z.B. BVerfG NJW 1999,2358 ff.38 Vergl. BGH NJW 1994,124 ff.; BVerfG NJW 1999,2358 ff.39 Thomas Zimmermanns, Meinungs- und Pressefreiheit, Chancen

und Gefährdung, Hänssler-Verlag 2006, S.49.

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beitrag86 ZfL 3/2007

Ltd. Ministerialrat a.D. Dieter Ellwanger,Stuttgart

Schwangerschaftsabbrüche – Verfah-renswege zur Erfüllung der verfas-sungsrechtlichen Beobachtungspflicht

I. Die Beobachtungspflicht des Bundesgesetzgebers

In seinem Zweiten Urteil zum Schwangerschaftsab-bruch1 hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) demGesetzgeber aufgegeben, sich hinsichtlich des Schutzesungeborene Kinder nicht nur auf sein als „Beratungsre-gelung“ gekennzeichnetes Schutzkonzept zu verlassen,sondern die weitere Entwicklung zu beobachten und ge-gebenenfalls weitere Schritte zu unternehmen. „Stelltsich nach hinreichender Beobachtungszeit heraus, dassdas Gesetz das von der Verfassung geforderte Maß anSchutz nicht zu gewährleisten vermag, so ist der Gesetz-geber verpflichtet, durch Änderung oder Ergänzungder bestehenden Vorschriften auf die Beseitigung derMängel und Sicherstellung eines dem Untermaßverbotgenügenden Schutzes hinzuwirken (Korrektur- oderNachbesserungspflicht). ... Der hohe Rang des geschütz-ten Rechtsgutes, die Art der Gefährdung ungeborenenLebens und der in diesem Bereich festzustellende Wan-del der gesellschaftlichen Verhältnisse und Anschauun-gen erfordern es, dass der Gesetzgeber beobachtet, wiesich sein gesetzliches Schutzkonzept in der gesellschaft-lichen Wirklichkeit auswirkt (Beobachtungspflicht)“.Erlassene Gesetze müssten „in Übereinstimmung mitdem Grundgesetz bleiben“.2

II. Bisherige Entwicklung – Untätigkeit des Gesetz-gebers

1. Dieser Beobachtungspflicht ist der Gesetzgeber, derDeutsche Bundestag, bislang so gut wie nicht nachge-kommen. In diesem Zusammenhang kommt es zu-nächst nicht darauf an, ob §§ 218a, 219 StGB und dasSchwangerschaftskonfliktgesetz (SchKG) vom 21. Au-gust 19953 schon jetzt verfassungswidrig (geworden)sind und deshalb eine Korrektur- oder Nachbesserungs-pflicht besteht. Denn eine Erfüllung der Beobachtungs-pflicht ist - „als Vorstufe“4 – Voraussetzung für eine sol-che Feststellung und entsprechenden gesetzlichenHandlungsbedarf. Zwar hält das BVerfG „... nicht gene-rell eine fortlaufende Kontrolle der Gesetze durch denGesetzgeber für erforderlich.“5 Aber die herausgebilde-te praktische Anwendung des SchKG (Vornahme indi-kationsloser Schwangerschaftsabbrüche gemäß § 218aAbs. 1 StGB als Regel und - entgegen den Ausführungendes BVerfG – nicht als in der Beratung gemäß § 219StGB nachvollziehbar dargelegte und von der nach § 9 SchKG anerkannten Schwangerschaftskonfliktbera-

tungsstelle in einer Aufzeichnung gemäß § 10 SchKG zudokumentierenden Ausnahme in Opfersituationen)6

muss dem Gesetzgeber jedenfalls Anlass und Grund füreine Beobachtung der Gesetzespraxis „... in angemesse-nen zeitlichen Abständen in geeigneter Weise etwadurch periodisch zu erstattende Berichte der Regierung...“7 sein.

2. Demgegenüber hat sich der Deutsche Bundestag aufder Grundlage verschiedener parlamentarischer Initiati-ven8 bislang lediglich über die „Entwicklung derSchwangerschaftsabbrüche“ unterrichten lassen, ohneregelmäßig Beobachtungsergebnisse festgestellt zu ha-ben. Solche Feststellungen gehören aber zur Erfüllungder Beobachtungspflicht, weil nur dadurch der Gesetz-geber und die Gesetzesadressaten, insbesondere Ärzteund Beratungsstellen, erkennen können, ob das maß-gebliche Gesetz möglicherweise nachträglich dadurchverfassungswidrig geworden ist, dass „... sich die tatsäch-lichen Verhältnisse, auf die es einwirkt, grundlegend ge-wandelt haben oder sich die beim Erlass des Gesetzesverfassungsrechtlich unbedenkliche Einschätzung sei-ner künftigen Wirkungen später als ganz oder teilweisefalsch (Ergänz. d. Verf:: und damit als nicht mehr ver-fassungskonform) erweist ...“9

3. Hinsichtlich einer bislang unterlassenen wirksamenund wirkungsvollen Beobachtung kann nicht eingewen-det werden, das SchKG sei (nach wie vor) verfassungs-konform, es werde in der Praxis „nur falsch“ (miss-bräuchlich) angewendet, weshalb nicht der Gesetzge-ber verfassungsrechtlich (durch Beobachtung), son-dern allenfalls die für die Anerkennung von Schwan-gerschaftskonfliktberatungsstellen zuständigen Länderverwaltungsrechtlich (beispielsweise durch Widerrufder Anerkennung gemäß §§ 9,10 Abs. 3Satz 3 SchKG)handeln müssten. Dass durch tatsächliche Entwicklun-gen Gesetze verfassungswidrig werden (können) undder Gesetzgeber solche Entwicklungen beobachten undihnen ggf. gegensteuern muss, wurde dargelegt.10 Dassdaneben, gewissermaßen in „Realkonkurrenz“, auch ver-waltungsrechtliche Maßnahmen, gestützt auch auf dieVorlage von Aufzeichnungen über Beratungsgesprächeund die Erstattung von Jahresberichten der Beratungs-stelle über ihre Tätigkeit an das jeweils zuständige Landgemäß § 10 Abs. 1und 2 SchKG, in Betracht kommen

1 BVerfGE 88, 203, 309 ff.2 BVerfGE 88, 203, 309 f. Hervorh. d. d. Verf.3 BGBl I S. 1050.4 Mayer, Die Nachbesserungspflicht des Gesetzgebers, Baden-Ba-

den 1996, S.34 Fn 61.5 BVerfGE 88, 203, 310.6 BVerfGE 88, 203, 204 (Leitsatz Nr. 7) 255 f.7 BVerfGE 88, 203, 310.8 Nachweise bei Büchner, in diesem Heft S. 72. 9 BVerfGE 88, 203, 309 f.10 BVerfGE 88, 203, 309 f.

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beitragZfL 3/2007 87

(müssen), bleibt unberührt und folgt aus der „vollenVerantwortung des Staates für die Durchführung desBeratungsverfahrens“11. Demnach darf sich der Bundes-gesetzgeber seiner – originären – Beobachtungspflichtnicht etwa durch Verweis auf die für Verwaltungsmaß-nahmen zuständigen Anerkennungsbehörden der Län-der entziehen.

III. Handlungsbedarf – Geeignete Instrumente zurErfüllung der Beobachtungspflicht

1. Die Unterlassung eines wirksamen und wirkungsvol-len Beobachtungsverfahrens mag – neben tabuisieren-den gesellschaftlichen und politischen Umständen –12

ihre Ursache auch darin finden, dass einfachrechtlicheund/oder administrative Regeln zur Durchführung ent-weder fehlen oder nicht angewendet werden.

Die für jedes Gesetz geltende allgemeine Beobachtungs-pflicht ist materiell verfassungsrechtlicher Natur. Dasfolgt aus der Bindung des Gesetzgebers an die verfas-sungsmäßige Ordnung (Art. 20 Abs. 3 GG). Diese allge-meine Pflicht hat das BVerfG in seiner Entscheidung inbesonderer Weise verbindlich konkretisiert. Dieser Bin-dungswirkung verfassungsgerichtlicher Entscheidungengemäß § 31 Abs. 1 BVerfGG unterliegen – neben ande-ren – alle Verfassungsorgane des Bundes, also auch derGesetzgeber. Sie erstreckt sich auch nicht nur auf dieEntscheidungsformel, die im Falle des Urteils vom 28.Mai 1993 gemäß § 31 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG sogar Ge-setzeskraft hat, sondern auch auf die tragenden Gründeder Entscheidung13. Die Ausführungen des Gerichts zurBeobachtungs-, Korrektur- und Nachbesserungspflicht14

sind nämlich „tragend“ in dem Sinn, dass eine auf derBasis des Urteils und der Vollstreckungsanordnung vomGesetzgeber gefundene Regelung erst in der Praxis „getestet“ werden muss. Testergebnisse, „wie sich dasneue gesetzliche Schutzkonzept in der gesellschaftli-chen Wirklichkeit auswirkt“15, muss der Gesetzgeber inErfüllung seiner Beobachtungspflicht feststellen, die„auch und gerade nach einem Wechsel des Schutzkon-zepts“16 (vom Indikationenmodell des 15. Strafrechtsän-derungsgesetzes vom 18. Mai 197617 zur Fristenregelungdes SchKG) besteht. Für ein diesen Wechsel vollziehen-des „Erprobungsgesetz“18, also für das nach dem Urteilvom 28. Mai 1993 erlassene SchKG, hat das Gericht die-se besondere verfassungsrechtliche Beobachtungspflichtausdrücklich konstitutiv festgestellt, zumal das Gerichtselbst „Unsicherheiten über die künftigen Auswirkun-gen der neuen Regelung“ prognostiziert und den „Kon-zeptwechsel“ als ständig zu überprüfenden „Versuch desGesetzgebers“ definiert.19

2. Der Gesetzgeber hat es bislang nicht nur unterlassen,dieser Beobachtungspflicht Genüge zu tun, sondernauch ein zu einer wirksamen und wirkungsvollen Um-

setzung dieser Pflicht geeignetes einfachrechtliches In-strumentarium zu schaffen. Zwar ist richtig, dass es zurErfüllung der Beobachtungspflicht nicht zwingend ein-fachrechtlicher Regelungen bedarf, weil diese Pflichtden Gesetzgeber – wie erwähnt – unmittelbar aus Art. 20Abs. 3 GG trifft. Da das Verfassungsprozessrecht derBundesrepublik Deutschland aber eine gegen den Ge-setzgeber gerichtete „Verpflichtungsklage“ – aus Grün-den der Gewaltentrennung – nicht kennt, bleibt zur pro-zessrechtlichen Erzwingung der bislang unterlassenenErfüllung der Beobachtungspflicht lediglich der Wegder abstrakten Normenkontrolle gem. Art. 93 Abs. 1 Nr.2 GG, mit dem eine (inzwischen) möglicherweise einge-tretene Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Regelun-gen, insbesondere des SchKG, gegenüber denen die Be-obachtungspflicht besteht, geltend gemacht werdenkönnte.20 Nähme der Gesetzgeber seine Beobachtungs-pflicht indessen ernst, läge es nahe, dass er selbst eigen-verantwortlich geeignete einfachrechtliche Maßnahmenzur Umsetzung ergreift. Aufgrund der bisherigen Erfah-rungen dürfte aber weder ein Verfahren nach Artikel 93Abs. 1 Nr. 2 GG noch – trotz entsprechender, gelegent-lich imperativer Äußerungen aus der Mitte des Bundes-tages21 – gesetzgeberisches Handeln zu erwarten sein22.

IV. Konsequenzen – Vorschläge zur Erfüllung derBeobachtungspflicht

Gleichwohl (besser: gerade deswegen) erscheint es er-forderlich, legislative und administrative Wege zur Er-füllung der Beobachtungspflicht „als Schutzpflicht fürdas Leben Ungeborener“ aufzeigen.23

1. Legislative Möglichkeiten

a) Parlamentarische Initiativen haben sich in dieserRichtung als nicht geeignete Beobachtungsinstrumenteerwiesen.24 Denn ihren, auf die lediglich intern binden-

11 BVerfGE 88, 203, 204 (Leitsatz Nr. 12), 286 ff., 301 f.12 Skeptisch zur Erfüllung der Beobachtungs- (und Nachbesse-

rungs-)Pflicht: Tröndle, NJW 95, 3019.13 BVerfGE 96, 375, 404; Hillgruber, Verfassungsprozessrecht, 2. A.

Heidelberg 2006, Rdnr. 13; kritisch zur Bindungswirkung tragen-der Gründe: Schlaich-Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 7.A., München 2007, Rdnr. 488 ff.

14 BVerfGE 88, 203, 309 ff. 15 BVerfGE 88, 203, 310.16 BVerfGE 88, 203, 310.17 BGBl. I S. 1213.18 Lechner-Zuck, Kommentar zum Bundesverfassungsgerichtsge-

setz, 5. A. München 2006, Einleitung Rdnr. 37.19 BVerfGE 88, 203, 311.20 Büchner, a.a.O., S. 79. Eine Situation nach Artikel 100 Abs. 1 GG

– Einholung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen durchUntergerichte (so gen. konkrete Normenkontrollklage) – dürftein der Rechtsprechungswirklichkeit kaum eintreten.

21 Nachweise bei Büchner a.a.O., S. 72.22 Tröndle, a.a.O.23 Büchner, a.a.O., S. 72.24 Nachweise bei Büchner a.a.O., S. 72 f.

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aus der jvl88 ZfL 3/2007

de Geschäftsordnung des Bundestages25 gestützten Erle-digungen kommt - abgesehen von inhaltlichen Fragwür-digkeiten26 – gegenüber den Beobachtungsadressaten(insbesondere Ärzten, Beratungsstellen und Anerken-nungsbehörden der Länder) keine allgemein verbindli-che Außenwirkung zu. Eine solche aber ist erforderlich,damit der Gesetzgeber seine Beobachtungspflicht wirk-sam und wirkungsvoll wahrnehmen kann. Nur ein for-melles Gesetz kann ihn dazu instand setzen, weil er un-ter pflichtiger Mitwirkung der Beobachtungsadressatenbeispielsweise unmittelbar Erkenntnisse über die Tätig-keit der Beratungsstellen gewinnen kann. Büchner27

weist zutreffend darauf hin, dass die Berichtspflicht derBeratungsstellen gemäß § 10 Abs. 1 und 3 Satz 2 SchKGbei den Ländern endet, die ihrerseits nicht dem Bundgegenüber berichtspflichtig sind. In diesem Zusammen-hang ist bemerkenswert, dass die Bundesregierung inihrer Antwort vom 14. Mai 2004 auf eine Kleine Anfrageder CDU/CSU-Bundestagsfraktion28 zur Frage der Be-obachtungspflicht von einer den Ländern im SchKG ü-bertragenen Berichtspflicht an den Bund spricht. Das istnicht nur rechtlich unzutreffend, weil gemäß § 10 Abs. 1SchKG die Beratungsstellen den Ländern, nicht aber(auch) diese dem Bund zu berichten haben. Sie lässtauch ein politisch befremdliches Selbstverständnis desBundes erkennen, wie ernst er die ihm übertragene ver-fassungsrechtliche Beobachtungspflicht nimmt. Denndie genannte Äußerung wälzt eine eindeutige Bundes-pflicht auf die Länder ab29.

b) Inhalt eines künftigen, die verfassungsrechtliche Be-obachtungspflicht flankierenden Gesetzes könnte somitetwa – ohne Anspruch auf Vollständigkeit - sein:

aa) § 10 SchKG könnte dahin ergänzt werden, dass dieLänder dem Bund (der Bundesregierung) periodischeBerichte über die Tätigkeit der Beratungsstellen erstat-ten und die Bundesregierung ihrerseits den Bundestaghierüber mit eigener Einschätzung der Auswirkungendes SchKG unterrichtet.

bb) Weiterer Regelungsinhalt könnte die Ergänzungvon § 10 Abs. 2 SchKG in der Weise sein, dass die Bera-tungsstelle ausdrücklich verpflichtet wird, in jeder Bera-tung der Frau ausdrücklich bewusst zu machen, „dassdas Ungeborene in jedem Stadium der Schwangerschaftauch ihr gegenüber ein eigenes Recht auf Leben hat,dass deshalb nach der Rechtsordnung ein Schwanger-schaftsabbruch nur in Ausnahmesituationen in Betrachtkommen kann, wenn der Frau durch das Austragen desKindes eine Belastung erwächst, die so schwer undaußergewöhnlich ist, dass sie die zumutbare Opfergren-ze übersteigt“ (§ 219 Abs. 1 Satz 3 StGB)30. In die Auf-zeichnung nach § 10 Abs. 2 SchKG muss dieser – schonnach geltendem Recht zwingende – Beratungsinhalt be-zogen auf die in der Aufzeichnung konkret darzulegen-

de Beratungssituation aufgenommen und nachvollzieh-bar festgestellt werden, ob in dem vorliegenden Einzel-fall eine Ausnahmesituation im oben beschriebenenSinne gegeben ist. In diesem Zusammenhang wird inden Beratungsstellen weitestgehend (geflissentlich?) ü-bersehen, dass Anwendungsbereich des § 219 Abs. 1Satz 3 StGB der nach § 218 a Abs. 1 Nr. 1 StGB von derSchwangeren „verlangte“ Schwangerschaftsabbruch istund nicht etwa ein nach § 218 a Abs. 2 und 3 StGB indi-zierter Eingriff.

cc) Eine Neufassung des § 10 SchKG müsste auch si-cherstellen, dass die Länder sowohl Berichte wie Auf-zeichnungen dem Bund zumindest auf dessen Verlan-gen (durch die Bundesregierung) vorzulegen haben,die wiederum den Bundestag nach seiner zwischen ihmund der Bundesregierung verbindlichen Geschäftsord-nung zu unterrichten hat. Auf solcher Grundlage kanndann der Bundestag eigene Auswertungen (Beobach-tungen) vornehmen. Gegen diesen Vorschlag kann nicht eingewendet wer-den, durch ihn entstünde eine neue Verwaltung, dieden allgemeinen Zielen der Entbürokratisierung zuwi-derliefe. Abgesehen davon, dass nach der Geschäftsord-nung des Bundestages Unterrichtungspflichten durchdie Bundesregierung schon jetzt bestehen, kann derEinwand vor allem deshalb nicht greifen, weil der Vor-schlag der Umsetzung der verfassungsrechtlich angeordne-ten Beobachtungspflicht zu dienen bestimmt ist.

Diesen Vorschlägen steht nicht die Verteilung der Ge-setzgebungszuständigkeit zwischen Bund und Ländernentgegen, weil die hier angeregten gesetzgeberischenMaßnahmen durch Novellierung des SchKG verwirk-licht werden könnten, das – über die Annexzuständig-keit31 zu Strafrecht und öffentlicher Fürsorge (Bera-tung) – gemäß Art. 72, 74 Nrn. 1 und 7 GG erlassen wor-den ist und deshalb auch entsprechenden Änderungenin verfassungsrechtlich statthafter Weise zugänglich ist.

2. Administrative Möglichkeiten

a) Schon nach geltendem Verfassungsrecht (Art. 83, 84GG) muss die Bundesregierung die Aufsicht darüberausüben, „dass die Länder die Bundesgesetze dem gel-tenden Rechte gemäß ausführen“ (Art. 84 Abs. 3 Satz 1

25 H.M.; vgl. statt vieler: BVerfGE 1, 144, 148.26 Büchner a.a.O., S. 72.27 A.a.O., S. 79 Fn. 45. 28 Drucksache 15/3155.29 Ellwanger, Praktische Erfahrungen mit dem Schwangerschafts-

konfliktgesetz, ZfL. 2006 S. 76 f.30 Vgl. auch BVerfGE 88, 203, 204 (Leitsatz Nr. 7), 210 (Nr. 3 der

Anordnung gem. § 35 BVerfGG).31 Vgl. statt vieler: Mangold/Klein, Kommentar zum Grundgesetz,

5. A. München 2005, Rdnr. 48 zur Art. 70.32 BVerfGE 88, 203, passim.

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UmschauZfL 3/2007 89

GG). Das bedeutet, dass über diese Vorschrift auch dieBundesregierung in Form der Bundesaufsicht eine Be-obachtungspflicht hinsichtlich der Ausführung desSchKG durch die Länder, insbesondere als Anerken-nungs- und Überprüfungsbehörden gemäß §§ 9, 10SchKG, trifft.Prüfungsmaßstab der Bundesaufsicht müsste vorliegendsomit auch sein, ob die Länder das SchKG im Einklangmit dem Verfassungsrecht so ausführen, wie diesesdurch die Rechtsprechung des BVerfG ausgeformt wor-den ist.32 Denn zum „geltenden Rechte“ im Sinne desArt. 84 Abs. 3 Satz 1 GG zählt auch und vorrangig dasVerfassungsrecht.

b) Adressaten der Aufsicht sind die Länder.33 Das be-deutet, dass Aufsichtsmaßnahmen nicht auf die Bera-tungsstellen (und deren Träger) durchgreifen können.Da aber der Staat (Bund und Länder!) „für die Durch-führung des Beratungsverfahrens die volle Verantwor-tung trägt“34, ist die Bundesaufsicht verpflichtet, auf dieLänder dahin einzuwirken, dass sie nach §§ 9, 10 SchKG(Anerkennung der Beratungsstellen und Überprüfung,ob die Anerkennungsvoraussetzungen fortgesetzt vorlie-gen) unter Beachtung der Ausführungen des BVerfG verfah-ren. Dazu gehört schon nach geltendem Recht bei-spielsweise die Vorlage von Aufzeichnungen, die denSchwangerschaftskonflikt des Einzelfalls konkret undnachvollziehbar beschreiben und sich zum Vorhanden-sein oder Nichtvorhandensein einer Ausnahmelage imSinne des § 219 Abs. 1 Satz 3 StGB äußern35.

c) Wesentliches Aufsichtsmittel ist gemäß Art. 84 Abs. 4GG die Mängelrüge. Weigert sich das Land, seine Män-gel bei der Anwendung insbesondere des § 10 SchKG(für die Zukunft) zu beseitigen (durch entsprechendesEinwirken auf die Beratungsstellen, ggf. bis zum Wider-ruf der Anerkennung nach §§ 9,10 Abs. 3 Satz 3SchKG), kann die in Art. 84 Abs. 4 beschriebene Maß-nahme (Beschluss des Bundesrates; Rechtsverletzungdurch das Land; dagegen ggf. Anrufung des Bundesver-fassungsgerichts) in Betracht kommen.Einzelweisungen gegenüber den Ländern, etwa nach §10 Abs. 3 Satz 3 SchKG vorzugehen (Widerruf der Aner-kennung einer Beratungsstelle) sind der Bundesregie-rung allerdings verwehrt (Argument aus Art. 84 Abs. 5GG: Fehlen eines entsprechendes Gesetzes).Voraussetzung für das Mängelbeseitigungsverfahren istnaturgemäß eine zuvor vorgenommene Beobachtungdurch die Bundesregierung36. Auch an einer solchenfehlt es freilich bislang.

3. Beide Beobachtungspflichten schließen einandernicht aus, sondern stehen selbständig nebeneinander.Sie können sich deshalb ergänzen und dadurch Syner-gieeffekte bewirken. Im Interesse des LebensschutzesUngeborener und damit auch der Glaubwürdigkeit des

Rechtsstaats in diesem Bereich wäre freilich schon vielgewonnen, wenn einer der beobachtungspflichtigen Adressaten entsprechend initiativ werden würde.

V. Zusammenfassung – Kurzthesen

1. Weder der Bundestag noch die Bundesregierung sindbislang ihrer verfassungsrechtlichen Beobachtungs- bzw. Aufsichtspflicht insbesondere über die Auswirkun-gen des SchKG nachgekommen.

2. Insoweit besteht dringender Handlungsbedarf, weilin zunehmendem Maße das Unrechtsbewusstsein deseinzelnen und der Gesellschaft über die Vornahme „be-ratener“ Schwangerschaftsabbrüche schwindet und sichdadurch und durch die praktische Anwendung desSchKG für Gesetzgeber wie Regierung begründeter An-lass ergibt, durch Beobachtung dieses Gesetz auf denPrüfstand zu stellen, um sich – in einem ersten Schritt –Erkenntnisse darüber zu verschaffen, ob - in einem zwei-ten Schritt – dieses nachgebessert oder korrigiert wer-den muss.

3. Der Rechtsstaat könnte seine Glaubwürdigkeit im Be-reich des Lebensschutzes Ungeborener schon dadurchunter Beweis stellen (besser: wiederherstellen), dass erzumindest eine der zur Erfüllung der Beobachtungs-und Aufsichtspflicht in Betracht kommenden Maßnah-men ergreift. Antworten und Stellungnahmen der Bun-desregierung auf parlamentarische Initiativen reichendazu nicht aus.

4. Unmittelbare rechtliche Sanktionsmöglichkeiten ge-gen die Unterlassung der Beobachtungspflichten beste-hen nicht.

5. Das verfassungsrechtliche Selbstverständnis von Ge-setzgeber und Regierung (Art. 20 Abs. 3 GG) müsstediese aber veranlassen, den Schutz des ungeborenen Le-bens nicht länger mit einem Tabu zu belegen.

33 H.M.; vgl. statt vieler: Mangold/Klein, a.a.O., Rdnr. 53 zu Art. 84.34 BVerfGE 88, 203, 204 (Leitsatz Nr. 12), 286 ff.35 BVerfGE 88, 203, 204 (Leitsatz Nr. 7), 210 (Nr. 3 der Anorndung

gemäß § 35 BVerfGG).36 Mangold/Klein, a.a.O., Rdnr. 49 zu Art. 84.37 Zutreffend kritisiert Büchner a.a.O., S. 79 Fn. 77, die unzulässige

Argumentation von Huster (Die Beobachtungspflicht des Gesetz-gebers. Ein neues Instrument zur verfassungsrechtlichen Bewälti-gung des sozialen Wandels, Zeitschrift für Rechtssoziologie 2003S. 23, Fn 80) der meint, wegen des Kompromisscharakters desBeratungskonzepts könne es „nicht erstaunen, dass die Überprü-fungs- und Beobachtungspflichten keine durchschlagenden Wir-kungen zeitigen“. Abgesehen davon, dass bislang überhaupt kei-ne Wirkungen dieser Pflichten festzustellen sind, widersprichtsich Huster selbst, indem er (a.a.O., S. 17) einräumt, dass sich diehier maßgeblichen Kontrollpflichten aus den besonderen Anfor-derungen ableiten, „die sich aus der Schutzpflicht für das Lebenals besonders hochrangiges Rechtsgut ergeben“.

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beitrag90 ZfL 3/2007

Prof. Dr. med. Dr. h.c. Johann-ChristophStudent, Bad Krotzingen1

Warum wir kein Patientenverfügungs-Gesetz brauchen – Fünf Argumente2

Krankheit, Sterben und Tod gehören zu den verunsi-cherndsten Ereignissen im menschlichen Leben. Schwe-re Krankheit, das Sterben und schließlich der Tod be-schränken per definitionem Selbstbestimmung und Auto-nomie eines Menschen. Je kranker wir sind, umso mehrsind wir auf die Unterstützung anderer angewiesen, vonanderen abhängig und desto stärker sind wir also fremd-bestimmt.Es gibt verschiedene Strategien, um mit dieser verunsi-chernden Abhängigkeit und Fremdbestimmung umzu-gehen. Zu diesen Strategien zählt auch das rechtlicheInstrument der Patientenverfügung. In Patientenverfü-gungen legen Menschen (meist in gesunden Tagen)fest, was bei schwerer Krankheit getan bzw. unterlassenwerden soll, wenn die Betroffenen sich aufgrund einerBewusstseinsstörung nicht mehr deutlich äußern kön-nen. Dies erfordert von dem, der eine Patientenverfü-gung aufsetzt, eine intensive Auseinandersetzung mitdem eigenen Lebensende. Alleine schon diese Ausein-andersetzung – insbesondere, wenn sie von Gesprächenmit Angehörigen begleitet wird – erhöht die Chance,dass seine Wünsche und Bedürfnisse am Lebensendeberücksichtigt werden. Mit dem verstärkten Einsatz von Patientenverfügungenhat sich allerdings gezeigt, dass diese nicht die in sie ge-setzten hohen Erwartungen erfüllen. Es gelingt offen-bar nicht, durch eine Patientenverfügung das erhoffteMaß an Sicherheit und Klarheit in allen Situationen zubringen, in denen Entscheidungen bei bewusstlos ge-wordenen Menschen anstehen. Denn die komplexen Si-tuationen, die hier eintreten, lassen sich schwerlich ein-malig durch eine schriftliche Willensäußerung ange-messen bewältigen. Dem soll nun ein neues Gesetz (Patientenverfügungs-Gesetz) abhelfen. Aus palliativmedizinischer und psy-chologischer Sicht werden im Folgenden Zweifel daranangemeldet, dass ein solches gesetzgeberisches Vorha-ben weise ist und zum erwünschten Ziel führt. DieseZweifel sollen in Form von fünf Überlegungen und Ar-gumenten skizziert werden.

I. Die Unsicherheit im Umgang mit Patienten Verfü-gungen resultiert nicht aus mangelnder Rechtssi-cherheit, sondern liegt im Phänomen von Sterbenund Tod selbst begründet. Denn Leben und Sterbensind dynamische Prozesse, denen ein statisches In-strument wie die Patientenverfügung nicht ge-recht werden kann.

Patientenverfügungen gehen von einem Willens-Konti-nuum aus. Dies bedeutet: was ein Mensch in (relativ) ge-sunden Tagen angeordnet hat, soll auch im Zustand

krankheitsbedingter Bewusstlosigkeit weiterhin Gültig-keit haben. Es ist jedoch aus psychologischer Sicht zubestreiten, dass dies sinnvoll ist. Denn unser Leben, un-sere menschliche Existenz sind zu dynamisch, als dass ihrmit einem solchen statischen Verfahren Gerechtigkeit wi-derfahren könnte:– Schon angesichts relativ einfacher, kurzfristiger All-tagssituationen versagt unsere Fähigkeit, Planungenund Vorhaben im Voraus exakt anzugeben, wie die tägli-che Erfahrung uns lehrt.– Noch komplizierter ist es bei schweren Krankheiten:Denn Einstellungen von Menschen verändern sich imVerlauf einer Krankheit nicht unwesentlich. Zum Bei-spiel werden in Abhängigkeit vom Fortschreiten derKrankheit vom Betroffenen belastendere Therapiemaß-nahmen ertragen, als er dies im Vorfeld geplant hat-te3,4,5,6,7. Dies entspricht auch der täglichen Erfahrungin der Begleitung schwerstkranker und sterbender Men-schen8,9. Warum sollte dieser Veränderungsprozess aus-gerechnet bei veränderten Bewusstseinslagen, wie wirsie z. B. bei der Demenz finden, aufhören?– Bewusstlosigkeit, insbesondere wenn sie längere Zeitanhält, wie bei Wachkoma und Demenz, sind derart an-dersartige Seinszustände, dass wir sie uns als Gesunde ü-berhaupt nicht angemessen vorstellen können, ge-schweige denn vorhersagen könnten, was wir in dieserSituation empfinden, wollen oder wünschen10.– Hinzu kommt, dass viele unserer Einstellungsänderun-gen sich im Laufe unseres Lebens schleichend vollzie-hen und uns gar nicht bewusst werden11.

Die Starre, wie sie die Patientenverfügung vorgibt, unddie durch ein Patientenverfügungs-Gesetz noch ver-

1 Deutsches Institut für Palliative Care, St. Gallener Weg 2, 79189Bad Krozingen, [email protected], www.christoph-student.de.

2 Erweiterung eines Vortrags im Klinikum und Fachbereich Medi-zin der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a. M., 21.Juni 2007.

3 Sahm, S.: Sterbebegleitung und Patientenverfügung – ÄrztlichesHandeln an den Grenzen von Ethik und Recht. Frankfurt/NewYork 2006.

4 Slevin, M.L., Stubbs, L., Plant, H.J., Wilson, P., Gregory, W.M., Ar-mes, P.J. Downer, S.M.: Attitudes to Chemotherapy: ComparingViews of Patients With Cancer With Those of Doctors, Nurses,and General Public. British Medical Journal 300 (1990), S. 1458-1460.

5 Fagerlin, A. und Schneider, C.E.: Enough - The Failure of the Li-ving Will, Hastings Center Report 34, 2004, 2, S. 30-42.

6 Kübler, A., Winter, S., Ludolph, A.C., Hautzinger, M., Birbaumer,N.: Severity of depressive Symptoms and Quality of life in Patientswith amyotrophic lateral sclerosis. Neurorehabilitation and Neu-ral Repair 19 (2005) S. 182-193.

7 Danis, M. et al.: Stability of Choices about life-Sustaining Treat-ments. Annals of Internal Medicine 120 (1994) 7, S. 567-573.

8 Tonelli, M.R.: Pulling the Plug on Living Wills. A Critical Analysisof Advance Directives. Chest 110 (1996), S. 816-822.

9 Robertson, I.: Second Thoughts on Living Wills. Hastings CenterReport 21 (1991) 6, S. 6-9.

10 Student, J.-C.: Was nützen vorsorgliche Verfügungen für das Le-bensende? Betreuungsmanagement 2 (2006) 2, S. 68-71.

11 Gready, R. M. et al.: Actual and Perceived Stability of Preferencesfor Life-Sustaining Treatment. Journal of Clinical Ethics 11(2000) 4, S. 334-46.

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beitragZfL 3/2007 91

stärkt würde, würde also der Selbstbestimmung und Au-tonomie des Einzelnen einen Bärendienst erweisen.Was wir stattdessen brauchen, ist – das Wissen um die Unsicherheit dieser Lebensphase,– die Fähigkeit, damit angemessen umzugehen und ins-besondere– Methoden, den aktuellen Willen (sozusagen „in Echt-zeit“) zu erkunden.

Die Erkundung des aktuellen Willens eines Menschen imWachkoma oder der Demenz stellt eine besondere Her-ausforderung für die Helfenden dar und benötigt spezi-elle Methoden und Fertigkeiten. Diese stehen zwardurchaus zur Verfügung12,13, werden jedoch viel zu sel-ten auch genutzt. Das von manchen Juristen ersatzweisepropagierte Zurückgreifen auf frühere Willensbekun-dungen erklärt sich womöglich aus der Unerfahrenheitmit diesen Spezialmethoden, die aber ansatzweise sogarvon Laien praktiziert werden könnten14.Die Diskrepanz zwischen antizipiertem Willen und aktu-ellem Willen mag erklären, weshalb Menschen, die sichmit Patientenverfügungen intensiver befasst haben, eher skeptisch sind in Bezug auf die Verabsolutierungder darin getroffenen Verfügungen. Stattdessen wün-schen sie sich, dass dann, wenn sie bewusstlos werdensollten und ethische Entscheidungen über das weiterVorgehen anstehen, alle Beteiligten (Ärzte Pflegendeund vor allem die Angehörigen) intensiv miteinanderins Gespräch kommen, um gemeinsam darüber zu bera-ten, was der Betroffene sich jetzt vermutlich wünscht.Aus entsprechenden Befragungen spricht sogar ein er-hebliches Misstrauen gegenüber der Starre von Ent-scheidungsprozessen, die allein auf der „Verlängerung“eines einmal bekundeten Willens beruhen, der in einerPatientenverfügung festgehalten wurde15.

II. Eine Patientenverfügung überfordert alle Betei-ligten – diejenigen, die sie aufsetzen ebenso, wiediejenigen, die sie zu befolgen suchen.

Überforderungen auf Seiten der VerfügendenDas Aufsetzen einer wirksamen Patientenverfügung setztbei den Verfügenden erhebliche Formulierungsfähigkei-ten voraus, wie sie den meisten Menschen nicht zur Ver-fügung stehen dürften. Ein Beispiel für die bestehendenSchwierigkeiten stellenden die Bemühungen von Parla-mentariern dar, im Voraus durch Gesetze unser Lebenim Alltag zu regeln. In wie vielen Fällen müssen solche –von vielen klugen, juristisch intensiv geschulten Men-schen aufgesetzte – „Verfügungen“ (Gesetze) schon nachkurzer Zeit wieder revidiert werden, weil sich zeigt, dasssie der angestrebten Intention nicht entsprechen. Damitstimmt überein, was psychologische Untersuchungen zudiesen Fragen wiederholt zutage gefördert haben16.Vielleicht liegt hierin der Grund dafür, dass trotz einerbreiten Zustimmung in der Bevölkerung zu einer hohen

Verbindlichkeit von Patientenverfügung (eine Forsa-Umfrage ergab 2005 hierzu 91 Prozent Zustimmung inDeutschland) nur ein sehr geringer Teil der Menschenein solches Dokument besitzt: In den USA, wo es seitJahrzehnten Patientenverfügungen gibt und für diese inerheblichem Maße geworben wird, haben nur bis zu20% der Menschen ein solches Dokument formuliert.In Deutschland liegt die Zahl noch weit darunter: näm-lich bei 2,3% wie eine repräsentative Studie zeigt17.

Überforderungen auf Seiten der AdressatenAber auch auf Seiten der Adressaten (insbesondere derPflegekräfte und Ärzte) gibt es erhebliche Probleme beider Umsetzung des Inhalts von Patientenverfügungen.Die empirischen Untersuchungen von Wehkamp18,19

auf Intensivstationen haben hierzu Erschreckendes zumVorschein gebracht: Es wird nicht etwa der Inhalt derPatientenverfügung umgesetzt, sondern alleine das Fak-tum des Bestehens einer Patientenverfügung führt invielen Fällen zu Entscheidungsprozessen darüber, waszu geschehen hat. Das Ergebnis hängt in stärkeremMaße von dem Alter des Kranken, seinem sozialen Sta-tus und seinem Beziehungsgeflecht ab als vom Inhaltder Verfügung. Die Ursache hierfür liegt in erster Liniein Kommunikationsproblemen der Helfenden unter-einander. Die Helfenden reden nicht genügend mitein-ander über anstehende Entscheidungen, sondern han-deln aus der Vermutung heraus, „alles sei klar“. DieseBefunde konnten jüngst durch Klie und Mitarbeiterin-nen20,21 für Krankenhäuser und Pflegeheime bestätigtwerden. Dem kann auch ein Gesetz zur Patientenverfü-gung schwerlich abhelfen. Denn die bestehenden ge-setzlichen Regelungen sehen heute bereits einen ande-

12 Zieger, A.: Komastimulationstherapie - was wissen wir? Neurolo-gie & Neurologische Rehabilitation 9 (2003) 1, S. 42-45.

13 Becker, S., Kruse, A., Schröder, J., Seidl, U.: Heidelberger Instru-ment zur Erfassung von Lebensqualität bei demenzkrankenMenschen. Zeitschrift für Gerontologie & Geriatrie 38 (2005), S.108-121.

14 Zieger, A.: Informationen und Hinweise für Angehörige vonSchädel-Hirn-Verletzten und Menschen im Koma und Wachko-ma (sog. apallisches Syndrom). 10. Aufl., Eigenverlag, Olden-burg 2006.

15 Sahm 2006, a.a.O.16 Vgl. Übersicht bei Fagerlin und Schneider 2004 a. a. O.17 Schröder, C., Schmutzer, G., Brähler, E.: Repräsentativbefragung

der deutschen Bevölkerung zu Aufklärungswunsch und Patien-tenverfügung bei unheilbarer Krankheit. Psychotherapie, Psy-chosomatik, Medizinische Psychologie 52 (2002) S. 236-243.

18 Wehkamp, K.-H.: Sterben und Töten. Euthanasie aus der Sichtdeutscher Ärztinnen und Ärzte. Ergebnisse einer empirischenStudie, Berliner Medizinethische Schriften, (1998) Heft 23.

19 Wehkamp, K.-H.: Die Bedeutung der Ethik für die Unterneh-mensentwicklung und -beratung. In: Wolf G., Dörries A. (Hg.)Grundlagen guter Beratungspraxis im Krankenhaus. Verlag fürAngewandte Psychologie, Göttingen 2001, S. 202-214.

20 Klie, T., Lipp, J.: Autonomie am Lebensende. Die Wirklichkeitvon Behandlungsabbrüchen im klinischen Alltag. Betreuungs-management 1 (2005) 3, S. 132-135.

21 Klie, T., Spatz, J.: Autonomie am Lebensende? Die Wirklichkeitvon Behandlungsabbrüchen im klinischen Alltag. Dr. med. Ma-buse 155 (2005) Mai/Juni, S. 48-51.

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beitrag92 ZfL 3/2007

ren Umgang mit Patientenverfügungen vor. Dies wirdauch durch entsprechende Empfehlungen der Bundes-ärztekammer22,23 unterstützt. Aber manche Verantwort-lichen in Klinik und Pflegeheim orientieren sich offen-bar weder an den bestehenden Gesetzen noch an sol-chen Empfehlungen.Aber auch auf der Seite der Juristen muss hier offenbarmit nicht unerheblichen Defiziten gerechnet werden. Ineiner groß angelegten Befragung von Vormundschafts-richtern konnte jüngst der Kölner Staatsrechtler Höf-ling24 zeigen, dass die sachgerechte Umsetzung von Pati-entenverfügungen durch Vormundschaftsrichter innicht unerheblichem Maß davon abhängig ist, über wel-chen medizinischen Kenntnisstand die Betreffendenverfügten. Dieser aber lässt Lücken erkennen, wenn z.B. der Unterschied zwischen wachkomatösen und hirn-toten Menschen nicht ausreichend bekannt ist.Ob es um diesen Kenntnisstand bei Notaren und Anwäl-ten besser bestellt ist, harrt noch der Erkundung. Einnachdenklich stimmendes Beispiel findet sich z. B. inder Veröffentlichung einer Rechtsanwältin für Medizin-recht, die folgende Sätze formuliert: „Neurologischnachgewiesen hat der apallische Patient keinerlei Mög-lichkeiten mehr zu einem bewussten Empfinden, Wahr-nehmen, Bewegen oder gar Handeln. Eine Chance, je-mals wieder aufzuwachen und ins bewusste Lebenzurückzukehren, besteht nicht mehr“25. Richtig dage-gen ist, dass es sich beim Wachkoma in vielen Fällen nurum ein Durchgangsstadium handelt26. Nach 12 Mona-ten Wachkoma (Apallischem Syndrom) haben sich biszu 52% der Betroffenen mehr oder weniger stark erholt.Bis zu 7% erreichen sogar ein nahezu unbeeinträchtig-tes Leben27. Kürzlich konnte eine britische Arbeitsgrup-pe sogar zeigen, dass selbst bei manchen Menschen imtiefen Wachkoma mit Bewusstsein gerechnet werdenmuss28. Die Arbeitsgruppe um den Tübinger Neurowis-senschaftler Birbaumer konnte schon 2005 Hinweiseauf Sprachverarbeitung in einer nennenswerten Zahlvon Betroffenen finden . Die diagnostischen Unsicher-heiten beim Wachkoma sind offenbar bei Ärzten groß.Auf die erschreckend große Zahl von Fehldiagnosenwurde erst jüngst beim 17. Treffen der European Neu-rological Society (ENS) im Juni 2007 hingewiesen30.Durch ein Patientenverfügungs-Gesetz könnten dieseMängel sicherlich nicht behoben werden. Es besteht je-doch die Gefahr, dass ein solches Gesetz eine Sicherheitvorgaukelt, die im Alltag kein Gegenstück findet.

III. Patientenverfügungen lassen schon jetzt denBetroffenen nur die Wahl zwischen zwei Übeln an-stelle wünschenswerter positiver Alternativen.Dies bedeutet eine erhebliche Einschränkung desRechtes auf Selbstbestimmung.

Patientenverfügungen sind ursprünglich entwickeltworden, um damit dem Paternalismus von Ärzten und

einer unerwünschten Überversorgung durch die „Appa-ratemedizin“ im Falle von Bewusstlosigkeit Einhalt zugebieten31. Heute dagegen scheinen Patientenverfügun-gen vielfach eher einer Unterversorgung32 zuvorkom-men zu wollen, indem sie zu lebensverkürzenden Maß-nahmen auffordern. Dies jedenfalls muss man aus denzahlreichen Formulierungsvorschlägen zur Patienten-verfügung und aus der Lektüre von Verfügungen, wiesie Menschen im Alltag aufgesetzt haben, schließen. EinLeben im Wachkoma oder Demenz – beides Erkrankun-gen, für die sich oftmals keine angemessenen Versor-gungsstrukturen finden lassen – soll z. B. durch Ab-bruch der Ernährung oder Unterlassen einer antibioti-schen Therapie vorzeitig beendet werden. Das heißtnicht, dass diese Menschen nicht weiterleben möchten,sondern nur, dass sie sich eher ein beschleunigtes Le-bensende wünschen, als unter unwürdigen Bedingungenweiterleben zu müssen.Dies wird besonders deutlich, wenn man sozusagen dieGegenprobe macht: Alternativ-Wünsche wie z. B. dieAufnahme in den stationären Bereich eines Hospizes,die sich über viele Monate hin erstreckende Rehabilita-tion des wachkomatösen Menschen bzw. dessen heil-

22 Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebeglei-tung. Deutsches Ärzteblatt 101 (2004) 19, S. A 1298-1299.

23 Empfehlungen der Bundesärztekammer und der ZentralenEthikkommission bei der Bundesärztekammer zum Umgang mitVorsorgevollmacht und Patientenverfügung in der ärztlichenPraxis. Deutsches Ärzteblatt 104 (2007) 13, S. A 891-896.

24 Höfling, W., Schäfer, A.: Leben und Sterben in Richterhand. Tü-bingen 2007.

25 Vetter, Petra: Ernährung am Lebensende – was brauchen Men-schen im Wachkoma und in der Demenz? In: Napiwotzky, A., Stu-dent, J.-Ch. (Hrsg.): Was braucht der Mensch am Lebensende?Ethisches Handeln und medizinische Machbarkeit. Stuttgart2007, S. 100.

26 Ledoux, D., Piret, S., Damas, P., Moonen, G., Laureys, S.: Transi-tory Vegetative State at the Intensive Care Unit: Does it Exist? 17.Meeting of the European Neurological Society, Rhodos 2007, Ab-stract O186.

27 Hufschmidt, A., Lücking, C.H.: Neurologie compact. Leitlinienfür Klinik und Praxis. 4. Aufl., Stuttgart 2006, S. 4.

28 Owen, A.M., Coleman, M.R., Boly M., Davis, M.H., Laureys, S.,Pickard, J.D.: Detecting Awareness in the Vegetative State. Scien-ce 313 (2006), S. 1402.

29 Kotchoubey, B., Lang, S., Mezger, G., Schmalohr, D., Schneck,M., Semmler, A., Bostanov, V., Birbaumer, N.: Information Pro-cessing in Severe Disorders of Conciousness: Vegetative State andMinimally Conscious State. Clinical Neurophysiology 116 (2005),S. 2441 - 2453.

30 Schnakers, C., Vanhaudenhuyse, A., Ventura, M., Majerus, S., Pir-nay, L., Bartsch, V., Pirnay, S., Dioh, A., Ledoux, D., Damas, P.,Damas, F., Moonen, G., Laureys, S.: Misdiagnosis of the Vegetati-ve and Minimally Conscious State. 17. Meeting of the EuropeanNeurological Society, Rhodos 2007, Abstract P269.

31 Uhlenbruck, W.: Der Patientenbrief - die privatautonome Gestal-tung des Rechtes auf einen menschenwürdigen Tod. NJW (1978)S. 566-570.

32 Tolmein, O.: Sterbehilfe, Pflegenotstand und das Recht aufSelbstbestimmung. In: (Un)geregelter Tod. Dokumentation derTagung vom 22.-23.9.2006 veranstaltet von der Arbeitsstelle Neo-nazismus, FH Düsseldorf und Bioskop e.V. in Kooperation mit OMEGA e.V. und Bildungswerk der Humanistischen Union.

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beitragZfL 3/2007 93

pädagogische Betreuung33,34,35 oder die Aufnahme einesMenschen mit Demenz in einer Einrichtung die sowohlRespekt vor der Würde des Betroffenen als auch einHöchstmaß an Freiheit und Unabhängigkeit garan-tiert36, finden sich weder in den Formulierungsvorschlä-gen noch in der Alltagsrealität von Patientenverfügun-gen. Solche Formulierungen wären auch weitgehendwirkungslos. Denn die entsprechenden Institutionenstehen in der gewünschten Form gar nicht zur Verfü-gung oder werden nicht ausreichend finanziert. Auchdie vorliegenden Entwürfe zu einem Patientenverfü-gungs-Gesetz beschreiben ausdrücklich, dass ein solchesGesetz „kostenneutral“ sei.

IV. Ein Patientenverfügungs-Gesetz droht die beste-henden Mängel in der Versorgung von Menschen,die mit Bewusstseinseinschränkungen leben müs-sen, zu zementieren.

Wenn über Patientenverfügungen diskutiert wird, kom-men dabei oftmals ausgesprochen abwertende Vorstel-lungen zum Vorschein, zumindest wird rasch von Hoff-nungs- und Aussichtlosigkeit gesprochen, wenn von be-wusstseinsgestörtem Leben die Rede ist. So heißt es z. B.in einer Broschüre des BMJ37: „Wenn ich einmal so ver-wirrt bin, dass ich nicht mehr weiß, wer ich bin, wo ichbin und Familie und Freunde nicht mehr erkenne, sosoll es dann auch nicht mehr lange dauern, bis ich ster-be.“ Sie replizieren damit die Vorurteile, wie sie bei Ge-sunden bezogen auf diese Erkrankungen und Behinde-rungen bestehen. Positiven Bildern38,39 wird dagegenkein angemessener Raum gegeben. Gleichzeitig drohthier ein gefährlicher Rückfall in Denkmuster des begin-nenden 20. Jhds., die eigentlich als überwunden galten.Auch damals beherrschte die „Sicht von außen“ – d. h.die Wahrnehmung von behinderten Menschen aus derPerspektive der Gesunden - das Handeln. Diese Sicht-weise ließ gerade geistig behinderte Menschen als be-sonders abstoßend und schließlich sogar als nicht mehr„lebenswert“ erscheinen. Heute dagegen wissen wir, dasnur die Sicht aus der Perspektive der Betroffenen hand-lungsleitend sein sollte und uns die positiven wie schwie-rigen Seiten behinderten Erlebens angemessen wahr-nehmen lässt40.Die schon jetzt bestehende Tendenz von Patientenverfü-gungen, lebensverkürzende Maßnahmen in solchschwierigen Lebenssituationen zu fördern, könnte demWunsch entgegenkommen, solche Last auch aus finan-ziellen Gründen loszuwerden, indem es zu einer schlei-chenden Veränderung der Sozialmoral kommt. Ein Pati-entenverfügungs-Gesetz würde diese Tendenz mögli-cherweise noch fördern, indem es sie legitim erschei-nen ließe. Schließlich könnte hieraus sogar so etwas wieeine Pflicht zum „sozialverträglichen Frühableben“ ent-stehen41 und könnte es normal erscheinen, möglichePflegeoptionen am Lebensende aufzugeben42.

Wenn geistige Behinderungen, wie sie das Wachkomaund die Demenz darstellen, am Lebensende negativ be-wertet werden, ist es möglicherweise nur noch eine Fra-ge der Zeit, bis entsprechende Bewertungen auch amLebensanfang wirksam werden. Was dies für geistig be-hinderte Menschen, nicht zuletzt geistig behinderteNeugeborene bedeuten würde, muss an dieser Stellenicht näher erläutert werden.

V. Die Nachteile eines Patientenverfügungs-Geset-zes würden sich auch auf all jene auswirken, diekeine Patientenverfügung aufsetzen können oderwollen. Denn auch diese Menschengruppe würdeüber den Kunstgriff des „mutmaßlichen Willens“nach analogen Regeln behandelt.

Den Risiken einer Patientenverfügung kann auch dernicht entgehen, der darauf verzichtet, eine Patienten-verfügung aufzusetzen – immerhin eine erdrückendeMehrheit der Bevölkerung. Es gilt auch jetzt schon: Ste-hen ethische Entscheidungen am Lebensende an, wirdnach analogen Regeln wie bei Vorliegen einer Patien-tenverfügung versucht, herauszufinden, ob sich in derVergangenheit (in relativ gesünderen Tagen also) Äuße-rungen des jetzt Bewusstlosen finden lassen, die Hinwei-se darauf geben, was er oder sie sich jetzt wünschen wür-de. Dem ist mit größter Skepsis zu begegnen. Dieses Vor-gehen muss sogar als methodisch fehlerhaft eingestuftwerden. Wir verfügen nämlich heute über fachlich fun-dierte Methoden, um die aktuellen Wünsche und Be-dürfnisse eines bewusstseinsgestörten Menschen festzu-stellen43. Diese Methoden finden aber (vermutlich weilsie als zu aufwändig empfunden werden) heute nur inwenigen Ausnahmefällen Anwendung. Sie sind vermut-lich einer Vielzahl derjenigen, die hier Entscheidungenfällen, nicht einmal bekannt.

33 Kief, M.: Wie wach ist ein Mensch im „Wachkoma“? Lebensalltagnach schweren Schädel-Hirn-Verletzungen. In: Napiwotzky, A.,Student, J.-C. (Hrsg.), Fn. 25, S. 117-121.

34 Steinbach, A., Donis, J.: Langzeitbetreuung Wachkoma. EineHerausforderung für Betreuende und Angehörige. Wien 2004.

35 Nydahl, P. (Hrsg.): Wachkoma. München/Jena 2004.36 Trilling, A., Bruce, E., Hodgson, S., Schweitzer, P.: Erinnerungen

pflegen. Unterstützung und Entlastung für Pflegende und Men-schen mit Demenz. Hannover 2001.

37 Bundesministerium der Justiz, Referat Presse- und Öffentlich-keitsarbeit (Hrsg.): Leiden, Krankheit, Sterben. Wie bestimmeich, was medizinisch unternommen werden soll, wenn ich ent-scheidungsunfähig bin? Berlin 2007.

38 Kitwood, T.: Demenz. Der person-zentrierte Ansatz im Umgangmit verwirrten Menschen. 4. Aufl., Bern 2005.

39 Marshall, M., Tibbs, M.-A.: Social Work and People with Demen-tia. Partnership, Practice and Persistence. 2. Aufl., Bristol 2006.

40 Student, J.-C., Student, K.: Fünf Thesen zum Umgang mit lebens-verkürzenden Maßnahmen bei Menschen im Wachkoma. In: Na-piwotzky, A., Student, J.-C. (Hrsg.), Fn. 25, S. 83-94.

41 Von dem 1999 der damalige Ärztekammerpräsident KarstenVilmar ironisch sprach.

42 Klie, T.: Entscheidungen am Lebensende - ethische und rechtli-che Dilemmata. In: Napiwotzky, A., Student, J.-C. (Hrsg.), Fn. 25,S. 31-44.

43 S. o. Becker et al. 2005 a.a.O.; Zieger 2003.

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beitrag94 ZfL 3/2007

Hierin zeigt sich auch, dass Argumente, die die Diskussi-on um eine Reichweitenbeschränkung44 von Patienten-verfügungen begleiten, meist zu kurz greifen. Wenn ge-gen eine Reichweitenbegrenzung angeführt wird, dasseinem Menschen stets das Recht zugebilligt werdenmüsse, über Behandlungsoptionen entscheiden zu dür-fen, könnte man dem vielleicht dann zustimmen, wennwirklich der aktuelle Wille des Kranken gelten würde.Nimmt man aber den vorausverfügten Willen als Richt-schnur, dann könnten Patientenverfügungen leicht zurSuizidverfügung werden: Es wird im Voraus festgelegt,dass unerwünschte Seinszustände wie Wachkoma oderDemenz möglichst vermieden werden sollten, indemdas Leben durch Unterlassen von Behandlungen ver-kürzt wird. Dies kann aber den aktuellen Wünschenund Bedürfnissen durchaus zuwiderlaufen.Da ein Patientenverfügungs-Gesetz auf diese Weise inerster Linie Menschen betrifft, die keine Patientenverfü-gung besitzen und bei denen es deshalb ausschließlichum den mutmaßlichen Willen geht, müsste eigentlichrichtiger von einem „Mutmaßlichen-Willens-Gesetz“ ge-sprochen werden, statt verschleiernd von einem Patien-tenverfügungs-Gesetz. Denn keiner der vorliegendenEntwürfe eines Patientenverfügungs-Gesetzes verzichtetauf Regelungen zum Umgang mit dem mutmaßlichenWillen bei jenen, die keine Patientenverfügung besitzenoder deren Patientenverfügung die aktuelle Situationnicht erfasst.Die Erläuterungen zu den entsprechenden Gesetzent-würfen lassen erkennen, dass hierbei an dem eben be-schriebenen, fehlerhaften Vorgehen der Willenserkun-dung festgehalten werden soll. Damit droht erneut dieGefahr, dass ein Patientenverfügungs-Gesetz schon jetztbestehende Missstände zementiert. Zugleich liegt in die-sem Vorgehen eine zusätzliche Einschränkung von Au-tonomie und Selbstbestimmung. Im Extremfall müsstenMenschen nun nämlich formulieren, dass sie bewusstkeine Patientenverfügung aufsetzen und nicht mit den ineinem entsprechenden Gesetz festgelegten, fragwürdi-gen Methoden traktiert werden wollen.Wenn wir also ein Patientenverfügungs-Gesetz brau-chen, dann höchstens dazu, dass künftig der aktuelle Wil-le der Betroffenen respektiert wird und nicht wie bisherein früher geäußerter Wille in unzulässiger Weise mitdem aktuellen Willen gleichgesetzt wird. Das würde be-deuten, dass die leidige Entscheidung des XII. Zivilsena-tes des Bundesgerichtshofs vom 17. März 2003 (XII ZB2/03) endlich korrigiert würde.

Was wir statt eines Patientenverfügungs-Gesetzes brau-chen:– Wir müssen ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass Pa-tientenverfügungen nur einen sehr begrenzten Wert ha-ben. Insbesondere müssen wir eine Wahrnehmungdafür schaffen, dass von der Verabsolutierung von Fest-legungen in Patientenverfügungen eine Tendenz der

Lebensfeindlichkeit und Lebensfremdheit ausgeht.– Es sollten stattdessen alle Tendenzen gefördert wer-den, die zu einer Dynamisierung von Patientenverfügun-gen beitragen. Diese könnte z.B. in einer Vorsorgevoll-macht45 liegen, die mit einer Patientenverfügung ge-koppelt ist, in der Bestellung von Ethikkomitees46,47

durch Erstellung eines Vorsorgeplans48 u.v.a.m. Wün-schenswert wäre es auch, wenn künftig Patientenverfü-gungen weniger das Was als dass Wie von Entscheidun-gen regelten. Das meint, dass Patientenverfügungen vorallem die von dem Einzelnen gewünschten Strategiender Entscheidungsfindung formulieren49.– Hieraus könnte sich eine neue Entscheidungskultur ent-wickeln, die ernsthaft darum ringt, die aktuellen Wün-sche bewusstseinsgestörter Menschen zu entdecken. Da-zu gehört insbesondere, dass die kommunikative Kom-petenz zwischen den Beteiligten gestärkt und ins Zen-trum gestellt wird. Hier liegen wichtige Aufgaben derAus- und Weiterbildung für die Gesundheitsberufe, umdie bestehende Defizite endlich auszugleichen. In einer solchen neuen Kultur besteht nicht nur eineOffenheit für Zweifel, sondern ist auch Raum dafür, an-zuerkennen, dass die ethischen Dilemmata am Lebens-ende nicht durch Gesetze auflösbar sind. Wir müssenstattdessen eine angemessene Umgangsform mit diesenDilemmata lernen – was vor allem heißt: sie auszuhal-ten. Wir müssen aushalten können, dass wir hier keineLösung für Probleme erzwingen können, die in der Na-tur von uns Menschen einerseits und in den Risiken mo-derner Medizin andererseits ihre Ursachen haben. Solange wir das darin liegende Unbehagen und die ver-bundene Unsicherheit noch spüren, ist für die uns an-vertrauten Menschen besser gesorgt als durch Gesetz,das nur eine Scheinsicherheit vermittelt.– Nicht zuletzt aber wird es darum gehen, glaubwürdigeAlternativen zu den jetzt häufig als problematisch unddefizitär erlebten Versorgungsstrukturen für schwerbe-hinderte Menschen mit Bewusstseinsstörungen zu ent-wickeln. Dies gilt insbesondere für die Versorgung vonMenschen im Wachkoma und der Demenz.All dies macht aber kein neues Patientenverfügungs-Ge-setz notwendig, denn die schon bestehenden gesetzli-

44 Reichweitenbeschränkung meint, dass eine Vorausverfügungsich nur auf die Fälle begrenzen sollte, in denen der Tod unmit-telbar bevorsteht. Gegen eine Reichweitenbegrenzung wird an-geführt, dass Behandlungsoptionen stets der freien Verfügbar-keit des Einzelnen unterliegen sollten.

45 Klie, T., Student, J.-C.: Die Patientenverfügung – was Sie tun kön-nen, um richtig vorzusorgen. 9. Auflage. Freiburg 2006.

46 Geisler, K.: Die Funktion der Patientenautonomie in klinischenEthikkomitees. Eine medizinsoziologische Studie. Saarbrücken2007.

47 Bauer, A.W.: Das Klinische Ethik-Komitee (KEK) im Spannungs-feld zwischen Krankenhaus-Zertifizierung, Moralpragmatik undwissenschaftlichem Anspruch. Wiener Medizinische Wochen-schrift 9-10 (2007) S. 201-209.

48 S. Sahm 2006 a.a.O, S. 187.49 Klie, pers. Mitteilung 2007.

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beitragZfL 3/2007 95

chen Regelungen reichen aus50. Die in ihnen enthalte-ne Unsicherheit erinnert uns mahnend daran, wie un-gewiss diese Lebenszeit schon an sich ist. Ein neues Ge-setz würde dagegen lediglich die schon bestehendenVersorgungsdefizite stabilisieren, neue schwierige recht-liche und ethische Fragen aufwerfen und die Selbstbe-stimmung und Autonomie von schwer kranken Men-schen am Lebensende zusätzlich einzuschränken dro-hen.

Andererseits würden die oben skizzierten Verbesserun-gen der Versorgung von Menschen mit Bewusstseins-störungen dazu beitragen, den Umgang mit schwerkranken und behinderten Menschen insgesamt zu ver-bessern und damit zu einem menschenwürdigeren Le-ben und Sterben beitragen – zu Hause ebenso wie imPflegheim oder Krankenhaus.

50 Klie, T., Student, J.-C.: Appell: Patientenverfügungen nicht ge-setzlich regeln! Forum Sozialstation 146 (2007) S. 8-9.

rezension

TotensorgeStephan SchenkDie Totensorge - ein Persönlichkeitsrecht Zivilrechtliche Untersuchung der Verfügungsbefugnis amtoten menschlichen Körper Studien zum Zivilrecht, Bd. 39 Verlag Dr. Kovac, Hamburg 2007ISBN 978-3-8300-2931-1304 Seiten, 48,– Euro

Die Arbeit befasst sich mit zivilrechtlichen Fragen,welche sich aus dem missbräuchlichen Umgang mit demtoten menschlichen Körper ergeben. Der Autor disku-tiert hierbei zunächst sowohl die juristisch durchaus bri-sante Frage wann ein Mensch lebt und ab wann er als totzu bezeichnen ist. Er kommt zu dem Ergebnis, dass einLebensrecht bereits zum Zeitpunkt der Konjugation, al-so der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle besteht.Als Todesbegriff wird der so gen. „gespaltene Todesbe-griff“ (für Orgenentnahme bzw. Bestattung) favorisiert.

Ebenso diskutiert wird die Frage nach der rechtlichenEinordnung des Leichnams. Der Autor vertritt hierbeidie Auffassung, dass der Leichnam nicht als Sache zuqualifizieren ist, sondern als Rückstand der Persönlich-keit des Verstorbenen. Im Weiteren wird das Rechtsinsti-tut der Totensorge zunächst umfassend dargestellt.Anschließend wird geprüft, ob einzelne Problemberei-che in den Schutzbereich der Totensorge mit einzube-ziehen sind und ob hierdurch ein umfassender Rechts-schutz gewährt werden kann.

Ein Schwerpunkt der Arbeit liegt bei der rechtlichenEinordnung des Totensorgerechts. Im Gegensatz zurherrschenden Meinung, welche von einer familien-rechtlichen Einordnung ausgeht, vertritt der Autor dieAuffassung, dass das Totensorgerecht personenrechtli-cher Natur sei. Es handele sich um ein allgemeines Per-sönlichkeitsrecht der Berechtigten, in der Regel der na-hen Angehörigen. Eingriffe in das Totensorgerecht sol-len, sofern es an einem Willen des Verstorbenen fehlt,nur mit ausdrücklicher Zustimmung der Berechtigtenzulässig sein.

Auf Grundlage dieses Ergebnisses vertritt der Autor dieAuffassung, dass den Berechtigten bei Verletzung desTotensorgerechts, etwa durch das ungenehmigte Foto-grafieren einer Leiche, eine billige Entschädigung inGeld zusteht. Als weitere Fallbeispiele werden u. a. dieOrgantransplantation, die Leichenschau, die Ausstel-lung „Körperwelten“, Crash-Tests mit Leichen und derFall des so gen. „Erlanger Babys“ auf Rechtsverletzun-gen der Totensorgeberechtigten untersucht.

Insgesamt stellt die Monographie eine umfassendeAufarbeitung des Rechtsinstitutes der Totensorge dar,die sich der aktuell gehäuft auftauchenden Probleme indiesem Bereich annimmt und eine adäquate Lösungaufzeigt. (red)

Leben mit Behinderung

Doris Stommel-HesselerIn mir ist FreudeDoris-Verlag, Mittelsaurenbach 353809 Ruppichteroth (02295/903658)ISBN 978-3-9810623-0-4286 Seiten, 80 Farbfotos, 16,90 Euro

Doris Stommel-Hesseler ist es gelungen, aus 50 Beiträ-gen von Eltern, Geschwistern und Großeltern behinder-ter Kinder aus Deutschland, Griechenland und derSchweiz ein Buch zu gestalten, das den Alltag mit behin-derten Angehörigen als lebenswert beschreibt. Sie lädtden Leser ein, an Erfahrungen, in denen die Freude ambesonderen Kind im Vordergrund steht, teilzuhaben.Die Texte wurden von den jeweiligen Autoren unverän-dert übernommen und zeigen eindrucksvolle Lebens-wege.

Teilweise wussten die Eltern dieser Kinder schonwährend der Schwangerschaft, dass sie ein behindertesKind erwarten. Sie haben sich ganz bewusst gegen eineAbtreibung und somit für das Leben dieses Kindes ent-schieden. Aus den Beschreibungen ihres familiären

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rezension96 ZfL 3/2007

Juristen-Vereinigung Lebensrecht e. V.

Stellungnahme zur Frage einer Änderung des Stammzellgesetzes

Das am 1. Juli 2002 in Kraft getretene Stammzellgesetzsoll – nach seiner vollständigen Bezeichnung – der „Si-cherstellung des Embryonenschutzes im Zusammen-hang mit Einfuhr und Verwendung menschlicher em-bryonaler Stammzellen“ dienen. Es wurde nach § 1 er-lassen „im Hinblick auf die staatliche Verpflichtung, dieMenschenwürde und das Recht auf Leben zu achtenund zu schützen“. Um dies zu gewährleisten, bezwecktes insbesondere, die Einfuhr und die Verwendung em-bryonaler Stammzellen grundsätzlich zu verbieten (Nr.1) und zu vermeiden, dass von Deutschland aus eine Ge-winnung embryonaler Stammzellen oder eine Erzeu-gung von Embryonen zur Gewinnung embryonalerStammzellen veranlasst wird (Nr. 2). Nur unter den imGesetz bestimmten Voraussetzungen sollen Einfuhr undVerwendung embryonaler Stammzellen ausnahmsweisezu Forschungszwecken zugelassen sein (Nr. 3).Erste Voraussetzung für die ausnahmsweise Genehmi-gung der Einfuhr und Verwendung zu Forschungs-zwecken ist, dass die embryonalen Stammzellen in Über-einstimmung mit der Rechtslage im Herkunftsland dortvor dem 1. Januar 2002 gewonnen wurden (§ 4 Absatz 2Nr. 1 Buchst. a). Durch diese Stichtagsregelung soll dasin § 1 Nr. 2 genannte Ziel erreicht werden. Die Ein-führung des Stichtags 1. Januar 2002, ohne die das Ge-setz keine Mehrheit gefunden hätte, sollte sicherstellen,dass, wie es u. a. die Abgeordnete Dr. Böhmer am 30. Ja-nuar 2002 im Bundestag formulierte, „auch künftig keinEmbryo für die deutsche Forschung sterben muss.“Unter dem Druck mancher Forscher wächst inzwischendie Bereitschaft, den gesetzlichen Stichtag in Frage zustellen. Nach einem Mehrheitsvotum des (früheren)Nationalen Ethikrats soll die Stichtagsregelung durcheine Einzelfallprüfung im Verfahren zur Genehmigungdes Imports und der Verwendung embryonaler Stamm-zellen ersetzt werden. Ein Gesetzentwurf der FDP siehtebenfalls eine Abschaffung des Stichtags vor. Fernerwird erwogen, den festen Stichtag durch einen „nach-laufenden“ zu ersetzen oder einmalig zu verschieben.Entsprechende weitere Gesetzentwürfe werden voraus-

sichtlich in Kürze in den Bundestag eingebracht werdenund zur Abstimmung stehen. Alle diese Vorschläge laufen darauf hinaus, im Auslanddie Erwartung einer verstärkten Nachfrage nach em-bryonalen Stammzellen aus Deutschland zu fördern. Dasmit dem Stammzellgesetz bisher angestrebte Ziel, dassfür deutsche Forschung kein Embryo getötet wird, wür-de aufgegeben und damit der Kern des Gesetzes aus-gehöhlt. Mit dem Schaffen des Anreizes, menschlicheEmbryonen im Ausland für die deutsche Forschung zutöten, würde der Vorwurf der „Doppelmoral“ begründet,weil das Embryonenschutzgesetz eine solche Tötung zurStammzellgewinnung verbietet. Die Einmaligkeit einerVerschiebung des Stichtags wäre nicht zu rechtfertigen,weil die für sie angeführte Begründung, es gebe jetztneue, für die Forschung besser geeignete Stammzellen,auch für weitere Verschiebungen gelten würde.Die Forschungsfreiheit vermag die Aufgabe des derzeitmaßgeblichen Stichtags nicht zu rechtfertigen. Sie fin-det ihre unüberwindliche Grenze in der Menschenwür-de und im Recht auf Leben des Embryos. Diese funda-mentalen Rechte schließen es aus, menschliche Em-bryonen dem Interesse der Forschung oder dem Ge-sundheitsinteresse anderer Menschen im Sinne einer„Ethik des Heilens“ zu opfern oder aufs Spiel zu setzen.Abgesehen davon ist die Wahrscheinlichkeit sehr ge-ring, mit menschlichen embryonalen Stammzellen inabsehbarer Zeit Heilungserfolge erzielen zu können.Deshalb hat z. B. die Firma „Embryonic Stem Cell Int.“(ESI) kürzlich ihren Rückzug aus der therapieorientier-ten Forschung mit embryonalen Stammzellen erklärt,die im Übrigen von einer Mehrheit der Deutschen ab-gelehnt wird. Die Forschung und Therapie mit adultenStammzellen ist demgegenüber viel versprechenderund förderungswürdig. Die Juristen-Vereinigung Lebensrecht appelliert des-halb mit Nachdruck an die Abgeordneten des Deut-schen Bundestages, allen Initiativen eine Absage zu er-teilen, das geltende Stammzellgesetz zu ändern und da-mit zwangsläufig den Schutz menschlicher Embryonenzu gefährden. Sie ruft dazu auf, gegen solche Bestre-bungen die Stimme zu erheben.

10. September 2007, Bernward Büchner, VRiVG a. D.,Vorsitzender der JVL

Umgangs sprechen Gelassenheit, Annehmen ohne Vor-behalt, Zusammenhalt und vor allem eine ansteckende,gelebte Freude. Es wird deutlich, dass ein Leben mit Be-hinderung zwar „anders“ ist, aber nicht weniger erfül-lend, als ein „normales“ Leben.

Ein Buch, das berührt, das Mut macht, das Hoffnunggibt und voreilige Entschlüsse während einer Schwan-gerschaft mit einem behinderten ungeborenen Kindverhindern kann. Ein Buch, das in keiner Schule und inkeiner Schwangerschaftsberatungsstelle fehlen sollte.

aus der jvl

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ZfL 3/2007 III

trends

Schwangerschaft istkeine Krankheit

Das Hessische Landessozialgericht(LSG) hat entschieden, dass die Bun-desagentur für Arbeit für schwange-re Arbeitslose mit einem ärztlichenBeschäftigungsverbot – z.B. aufgrundeiner Risikoschwangerschaft – zahlenmuss. Die Bundesagentur für Arbeitist als „Ersatzarbeitgeber“ zuständigund nach dem Mutterschutzgesetzverantwortlich. Die Schwangere darfnicht auf Krankengeld der Kranken-versicherung verwiesen und vom wei-teren Bezug von Arbeitslosengeldausgeschossen werden. Im vorliegen-den Fall hatte eine heute 32-jährigearbeitslose Frau aus Bad Nauheimkeine weiteren Leistungen von derArbeitsagentur erhalten, weil ihrArzt ein Beschäftigungsverbot nachdem Mutterschutzgesetz ausgespro-chen hatte. Die junge Frau hatte be-reits drei Fehlgeburten hinter sich,weshalb der behandelnde Gynäkolo-ge die Schwangerschaft als risikobe-haftet betrachtete. Die Arbeitsagen-tur lehnte die Weiterzahlung von Ar-beitslosengeld bzw. -hilfe mit demArgument ab, durch das Beschäfti-gungsverbot stehe die junge Frauihren Vermittlungsbemühungen aufdem Arbeitsmarkt nicht mehr zurVerfügung. Da auch die Krankenkas-se eine freiwillige Versicherung derSchwangeren aufgrund fehlenderVorversicherungszeiten ablehnte,war sie schließlich auf die Unterstüt-zung durch Sozialhilfe angewiesen.Mit seinem Urteil vom 20.8. verurteil-te das Hessische LSG die Arbeitsagen-tur, Arbeitslosengeld bzw. -hilfe fürden Zeitraum der Risikoschwanger-schaft und die Dauer des Beschäfti-gungsverbotes zu zahlen (Az. L 9 AL35/04).

Das LSG stellte klar, dass eineSchwangerschaft keine Krankheit seiund daher Beschäftigungsverbotenach dem Mutterschutzgesetz auch

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nicht gegenüber der Krankenversi-cherung, sondern gegenüber dem Ar-beitgeber ausgesprochen würden.Für Arbeitslose sei die Bundesagenturfür Arbeit eine Art Ersatzarbeitgeber,sie habe daher auch die Kosten vonBeschäftigungsverboten zu tragen.Gerade bei Fällen wie dem vorliegen-den, in denen jede Art der Beschäfti-gung als potentielle Gefahr für dasungeborene Kind eingestuft wordensei, würde das Schutzinstrument desBeschäftigungsverbotes ins Leere lau-fen, wenn die Schwangere sich wei-terhin dem Arbeitsmarkt zur Verfü-gung stellen müsste.

„Massiver Widerstand“ der Ka-tholischen Kirche angekündigt

Der Leiter des Katholischen Bürosin Berlin, Prälat Karl Jüsten, hat voreiner Liberalisierung des Stammzell-gesetzes gewarnt. Die Politik dürfeWirtschafts- und Forschungsinteres-sen nicht nachgeben, forderte Jüsten,der die deutsche Ortskirche bei derBundesregierung und dem Parlamentin Berlin vertritt, in einem Interviewmit der Katholischen Nachrichtena-gentur. Schon die geltenden Regelun-gen seien „ethisch höchst problema-tisch“. Jede Liberalisierung höhle denLebensschutz des Embryos weiter aus.Gegen eine Aufweichung der gelten-den Regelung kündigte Jüsten den„massiven Widerstand“ der Katholi-schen Kirche an.

Der Deutsche Bundestag will sichnach der Sommerpause mit demStammzellgesetz befassen. Dabeimehren sich inzwischen die Stimmen,die eine einmalige Verschiebung desStichtages erreichen wollen. Derzeitdürfen deutsche Wissenschaftler vordem 1. Januar 2002 im Ausland her-gestellte Stammzellen importieren.Die FDP fordert die generelle Aufhe-bung des Stichtags. Große Teile derSPD sollen laut einem Bericht desDeutschen Ärzteblatts dagegen miteiner einmaligen Verschiebung desStichtags sympathisieren. Bei der Uni-onsfraktion gebe es sowohl Zustim-

mung als auch Ablehnung. Laut demBlatt will sich die CDU/CSU-Bundes-tagsfraktion mit dem Thema am 18.September in einer Fraktionssitzungbefassen. Unterdessen bewertete Jüs-ten eine einmalige Verschiebung desStichtags als zukünftige „Wanderdü-ne“. Es sei damit zu rechnen, dass derStichtag dann immer wieder verscho-ben werde. Der Prälat nannte es be-denklich, wenn Politiker sich in Sonn-tagsreden „als Lebensschützer“ profi-lierten wollten, bei der konkretenGesetzgebung dann aber wankten oder Wirtschaftsinteressen nachgä-ben. Weiter beklagte Jüsten, dass dieErfolge der ethisch unbedenklichenadulten Stammzellforschung merk-würdig ausgeblendet würden. Beider kirchlichen Kritik an der embryo-nalen Stammzellforschung gehe esnicht um eine kirchliche Sonderde-batte, so Jüsten. Gefragt sei die ge-samte Gesellschaft.

Däubler-Gmelin gegen Ände-rung des Stammzellgesetzes

Die ehemalige Bundesjustizminis-terin Herta Däubler-Gmelin (SPD) hatsich gegen eine Liberalisierung desStammzellgesetzes ausgesprochen.Dazu gebe es nach wie vor keine Not-wendigkeit. Däubler-Gmelin mahnte,die Bundestagsabgeordneten solltenselbstbewusst bleiben gegenüber„bestimmten Wissenschaftsvertreternund nicht über jedes Stöckchen sprin-gen, das einem hingehalten wird“.Die SPD-Politikerin nannte die Fest-setzung eines neuen Stichtags sehrproblematisch. Sie sehe bei den der-zeit geltenden Regelungen keineNachteile für deutsche Wissenschaft-ler. Zugleich verwies sie darauf, For-schungen mit adulten Stammzellenhätten gerade deutschen Wissen-schaftlern bereits zahlreiche neue Er-kenntnisse gebracht. Auch angesichtsdessen wäre es klüger, sich auf dieFörderung adulter Stammzellfor-schung zu konzentrieren. Däubler-Gmelin, die bei der Verabschiedungdes Stammzellgesetzes Justizministe-

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rin war, wandte sich auch gegen dieForderung nach Wegfall der jetzt gel-tenden Strafandrohung für deutscheWissenschaftler, die sich im Auslandan in Deutschland verbotenen For-schungsarbeiten beteiligen. Die Strei-chung dieser Sanktion wäre letztlichZeichen dafür, dass man es mit demSchutz des individuellen menschli-chen Lebens „nicht so ernst meint“.Die Politik müsse alles verhindern,was den Eindruck erwecken könne,dass das Embryonenschutzgesetz tan-giert werde.

Investoren verlieren Interessean embryonalen Stammzellen

Eine der wenigen Firmen, die The-rapien mit embryonalen Stammzellenauf den Markt bringen wollte, die„Embryonic Stem Cell International“(ESI), hat entsprechende Pläne aufge-geben. Die Investoren, darunter derStaat Singapur, hätten das Interesseverloren, weil die Wahrscheinlichkeit„verschwindend gering“ sei, auf Basismenschlicher embryonaler Stammzel-len in absehbarer Zeit Therapien zuentwickeln. Dies teilte der CDU-Bun-destagsabgeordnete Hubert Hüppeunter Berufung auf einen Artikel imWissenschaftsmagazin „Science“ vom20. Juli mit. Demnach wolle sich ESIkünftig darauf beschränken, mensch-liche embryonale Stammzellen sowiedie daraus gezüchtete Zellen für dieGrundlagenforschung und Entwick-lung von Wirkstoffen zu produzieren.Der bisherige ESI-Chef Alan Colmanhabe sich enttäuscht darüber ge-äußert, dass die embryonale Stamm-zellforschung langsamer als erhofftvorankommt. „Dass die von ESI mitgroßem Pressewirbel angekündigtenTherapien mit menschlichen embryo-nalen Stammzellen nun endgültigaufgegeben wurden, ist bezeichnendfür das Missverhältnis zwischen ge-schürten Erwartungen und der Rea-lität in der Stammzelldebatte", er-

klärte Hüppe in einer Presseaussen-dung vom 26. Juli. Vor zwei Jahrenhabe es geheißen, die im Jahre 2000gegründete ESI wolle schon 2006 alserste Firma weltweit mit klinischenStudien am Menschen aufwarten. ImNovember 2006 habe Colman dieseStudie für Anfang 2008 versprochen.„Je länger Forschung mit menschli-chen embryonalen Stammzellen be-trieben wird, desto klarer werden na-turwissenschaftliche Fakten, die einerhypothetischen Therapie mit embryo-nalen Stammzellen entgegenstehen:darunter das horrende Tumorrisiko,die Immunabstoßung und die Instabi-lität der Differenzierung embryona-ler Stammzellen in bestimmte Kör-perzellen. Spätestens der Fall ESIzeigt, dass es an der Zeit ist, embryo-nale Stammzellen realistisch einzu-schätzen und knappe Forschungsmit-tel dort zu investieren, wo tatsächlichtherapeutische Anwendungen zu er-warten sind. Erst recht braucht dasStammzellgesetz nicht geändert zuwerden, um mehr Forschung mit em-bryonalen Stammzellen zu ermögli-chen“ so Hüppe weiter.

Juristen streiten: Was erlaubtdas Embryonenschutzgesetz?

Parallel zur Diskussion um eineNovellierung des Stammzellgesetzesdrängt nun offenbar auch eine De-batte um das Embryonenschutzge-setz in das Licht der Öffentlichkeit.Laut einem Bericht der „FrankfurterRundschau“ vom 31. Juli vertretenmehrere Juristen die Auffassung, das Embryonenschutzgesetz erlaubemehr, als bislang angenommen wur-de. Konkret geht es dabei um denWunsch von Reproduktionsmedizi-nern, unter mehreren künstlich be-fruchteten Embryonen diejenigenauswählen zu dürfen, welche nachAnsicht der Mediziner am ehestengeeignet erscheinen, sich nach demTransfer auch in der Gebärmutter einzunisten. Nach vorherrschenderRechtsauffassung verbietet das Em-bryonenschutzgesetz eine solche Se-lektion, müssen alle im Labor erzeug-

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ten Embryonen auch auf die Mutterübertragen werden (pro Zyklus max.drei). Dagegen zitiert die FrankfurterRundschau die Kieler Juristin MonikaFrommel mit den Worten: „Ziel einerkünstlichen Befruchtung ist laut Ge-setz ja eine Schwangerschaft. Dafürbraucht man ein bis zwei entwick-lungsfähige Embryonen. In vielen Fäl-len heißt das, dass man mehr als dreiEizellen befruchten muss.“ Denn ausvielen befruchteten Eizellen entwick-le sich kein überlebensfähiger Em-bryo. Daraus, dass das Gesetz im Satzfünf keine Zahl nennt, leitet sie ab,„es müssen so viele befruchtet wer-den, wie nötig ist. Das ist der Sinn desGesetzes.“ Entsprechend dürfe manentwicklungsfähige Embryonen aus-wählen.

Laut dem Blatt meldete auch derBerufsverband „Reproduktionsmedi-zin Bayern“ kürzlich: „Die Anzahl derbefruchteten Eizellen (…) muss indivi-duell festgelegt werden.“ Weil nichtmehr als ein oder zwei entwicklungs-fähige Embryonen entstehen sollen,entstünden „planmäßig keine über-zähligen entwicklungsfähigen Em-bryonen“. Ein Widerspruch zum Em-bryonenschutzgesetz existiere dahernicht. Beim Bundesgesundheitsminis-terium soll diese Interpretation dage-gen nicht auf Gegenliebe gestoßensein: „Diese Auslegung ist nicht ak-zeptabel. Der Gesetzestext ist eindeu-tig“, gibt die Zeitung die Auffassungdes Ministeriums wieder.

Indiens Präsidentingegen Abtreibung

Indiens neue Präsidentin PratibhaPatil hat sich in ihrer Antrittsrededeutlich gegen Abtreibungen ausge-sprochen. In Indien werden vor allemMädchen vor der Geburt getötet; Ex-pertenschätzungen zufolge mehr als500.000 pro Jahr. Indien zählt zu denärmsten Ländern der Welt. Mit denvorgeburtlichen Kindstötungen su-chen viele Eltern der Zahlung der tra-ditionellen Mitgift zu entgehen.

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