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BESPRECHUNGEN Politische Theorie und Ideengeschichte Hirsch, Michael und Rüdiger Voigt (Hrsg.). Der Staat in der Postdemokratie. Staat, Politik, Demokratie und Recht im neueren französischen Denken. Stuttgart. Franz Steiner Verlag 2009. 229 Seiten. 37 €. Birgit Hofmann Der Begriff „Postdemokratie“ wurde in die politikwissenschaftliche Debatte eingeführt, um regressive Tendenzen innerhalb etablierter Demokratien zu konzeptualisieren. Kon‑ statiert wird dabei das bloß noch institutionelle Funktionieren von Demokratie, bei dem den Bürgern tendenziell eine passive Rolle zukommt. Während Colin Crouch als post‑ demokratisch im Wesentlichen westliche Demokratien im Zeitalter des fortgeschrittenen Neoliberalismus begreift und diesem Zustand das fordistische Kapitalismusmodell mit seinen scheinbar stabilen demokratischen Verhältnissen entgegensetzt, gestaltet sich bei Jacques Rancière der Zweifel an der „konsensuellen“ oder „Expertendemokratie“ grund‑ legender: Er diagnostiziert eine Abwesenheit des Politischen per se, das für ihn lediglich als Unterbrechung der institutionellen Herrschaftslogik denkbar ist. Absolut zu Recht heben die Herausgeber des Sammelbands Der Staat in der Postde- mokratie. Staat, Politik, Demokratie und Recht im neueren französischen Denken in ihrer Einleitung die Problematik des Begriffs hervor: Dieser „schillert […] zwischen einer kul‑ turkritischen und einer demokratietheoretischen Bedeutung“ (12). Michael Hirsch und Rüdiger Voigt verstehen ihren Band, der unterschiedliche Aspekte des Begriffs sowohl in ideengeschichtlicher als auch in zeitdiagnostischer Hinsicht behandelt, daher als Beitrag zur Eröffnung der wissenschaftlichen Debatte. Glücklicherweise haben sich die Heraus‑ geber thematisch nicht auf eine reine Diskussion des Begriffs „Postdemokratie“ einengen lassen, sondern umkreisen diesen gleichsam in einer kritischen Untersuchung neuerer, im weitesten Sinne radikaldemokratischer, postmarxistischer – hier als „französisch“ klassifizierter – Staats- und Politiktheorien. Hierzu zählen neben den Theorien Jacques Derridas, Jacques Rancières und Claude Leforts u. a. auch die der Nicht‑Franzosen Erne‑ sto Laclau, Giorgio Agamben und Chantal Mouffe. Der Band ist in vier Teile geglie‑ dert, „Staat, Herrschaft und Souveränität“ (19–67), „Demokratie, Politik und Subjekt“ (71–130); „Politik, Staat und Geschlecht“ (133–168) und „Staat, Politik, Demokratie und Recht“ (171–226). Polit Vierteljahresschr (2010) 51:751–776 DOI 10.1007/s11615‑010‑0037‑5 Online publiziert: 01.12.2010 © VS Verlag für Sozialwissenschaften 2010

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Politische Theorie und Ideengeschichte

hirsch, Michael und rüdiger Voigt (hrsg.). Der Staat in der Postdemokratie. Staat, Politik, Demokratie und Recht im neueren französischen Denken. stuttgart. Franz steiner Verlag 2009. 229 Seiten. 37 €.

Birgit Hofmann

Der Begriff „postdemokratie“ wurde in die politikwissenschaftliche Debatte eingeführt, um regressive Tendenzen innerhalb etablierter Demokratien zu konzeptualisieren. Kon‑ statiert wird dabei das bloß noch institutionelle Funktionieren von Demokratie, bei dem den Bürgern tendenziell eine passive rolle zukommt. Während colin crouch als post‑demokratisch im Wesentlichen westliche Demokratien im Zeitalter des fortgeschrittenen neoliberalismus begreift und diesem Zustand das fordistische Kapitalismusmodell mit seinen scheinbar stabilen demokratischen Verhältnissen entgegensetzt, gestaltet sich bei Jacques rancière der Zweifel an der „konsensuellen“ oder „expertendemokratie“ grund‑legender: er diagnostiziert eine Abwesenheit des politischen per se, das für ihn lediglich als unterbrechung der institutionellen herrschaftslogik denkbar ist.

Absolut zu recht heben die herausgeber des sammelbands Der Staat in der Postde-mokratie. Staat, Politik, Demokratie und Recht im neueren französischen Denken in ihrer einleitung die problematik des Begriffs hervor: Dieser „schillert […] zwischen einer kul‑turkritischen und einer demokratietheoretischen Bedeutung“ (12). Michael Hirsch und Rüdiger Voigt verstehen ihren Band, der unterschiedliche Aspekte des Begriffs sowohl in ideengeschichtlicher als auch in zeitdiagnostischer hinsicht behandelt, daher als Beitrag zur eröffnung der wissenschaftlichen Debatte. glücklicherweise haben sich die heraus‑geber thematisch nicht auf eine reine Diskussion des Begriffs „postdemokratie“ einengen lassen, sondern umkreisen diesen gleichsam in einer kritischen untersuchung neuerer, im weitesten sinne radikaldemokratischer, postmarxistischer – hier als „französisch“ klassifizierter – Staats- und Politiktheorien. Hierzu zählen neben den Theorien Jacques Derridas, Jacques rancières und claude Leforts u. a. auch die der nicht‑Franzosen erne‑sto Laclau, giorgio Agamben und chantal Mouffe. Der Band ist in vier Teile geglie‑dert, „staat, herrschaft und souveränität“ (19–67), „Demokratie, politik und subjekt“ (71–130); „politik, staat und geschlecht“ (133–168) und „staat, politik, Demokratie und recht“ (171–226).

polit Vierteljahresschr (2010) 51:751–776DOI 10.1007/s11615‑010‑0037‑5

Online publiziert: 01.12.2010© Vs Verlag für sozialwissenschaften 2010

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eröffnet wird der Band mit der glänzend geschriebenen studie von Loïc Wacquant, der sich mit der „Ausdehnung […] des strafstaates“ (21) und dessen „Verbindung von sozial‑ und strafpolitik“ (37) auseinandersetzt. er beschreibt diese entwicklung pointiert als Transformation des staats in dreifacher hinsicht, als „die Amputation des ökonomischen Arms, den entzug der sozialen Brust und die Intensivierung der strafenden hand des staates“ (23). Mit staatlicher souveränität auf dem gebiet der sicherheitspolitik befasst sich auch der Beitrag Rüdiger Voigts, der vor der Folie der schmittschen Theorie des Aus‑nahmezustands und dessen Weiterentwicklung den rechtsstaat der post‑9/11‑Ära in den Blick nimmt. er diskutiert in diesem Kontext u. a. Agambens Diagnose eines Übergangs von der parlamentarischen zur „gouvernmentalen“ Demokratie (63, 64) und fragt nach den – nicht‑restaurativen – Möglichkeiten, „dass der ‚Ausnahmezustand‘ beendet und der demokratische rechts‑ und sozialstaat wieder hergestellt wird“ (65).

Dezidiert um die Theoriedebatte geht es dann im zweiten Teil des Bandes in den Beiträgen von Oliver Flügel-Martinsen, Andreas Niederberger und Marcus Steinweg. sowohl Flügel‑Martinsen, der sich auf Derrida und Agamben bezieht, als auch steinweg, der Maurice Blanchot untersucht, setzen sich mit dem gehalt der Dekonstruktion für die politische Theorie auseinander. Während Flügel-Martinsen auf Derridas hoffnung auf eine „démocratie à venir und der justice à venir, der kommenden und im Kommen blei‑benden Demokratie“ (89) verweist, entwirft Marcus Steinweg eine „politik des subjekts“, eine „konfliktuöse Allianz“ (126), in der sich die Dimension des (politisch) Möglichen und unmöglichen verbindet, voraussetzung einer „der Kompossibilität von philosophie und politik“ (129). Andreas Niederberger arbeitet die gemeinsamen grundzüge des neuen republikanismus heraus, der prozessen der Verrechtlichung und Institutionalisie‑rung kritisch bis ablehnend gegenüberstehe und politik in erster Linie als (symbolische) Integration einer prinzipiell konflikthaft geprägten Gesellschaft begreife.

Der problematik des Verhältnisses von gesellschaft bzw. dem sozialen und dem politischen widmet sich der Beitrag von Oliver Marchat im dritten Teil des Bandes, der dieses anhand des unternehmens von u. a. Laclau und Mouffe untersucht, „das priori‑ täre Verhältnis des sozialen gegenüber dem politischen umzukehren“ (133). Birgit Sauer zeigt in ihrem Beitrag zu Judith Butler auf, dass feministische staatskritik den Modus symbolischer Ausschließung und repräsentation, das die Theoretiker der „post‑“ oder der „radikalen Demokratie“ kritisieren, lange vor diesen zentral setzte. sie würdigt den Beitrag Butlers in diesem rahmen, kritisiert aber auch überzeugend deren einseitigen Machtbegriff, ihre Tendenz zur enthistorisierung von geschlecht, Identität und damit Machtkonstellationen, und ihren starren und „verkürzten staatsbegriff“ (163); gesell‑schaftliche Demokratisierung erfordere heute vielmehr die „paradoxe Intervention […] politik mit dem staatsapparat gegen den staatsapparat zu machen“ (166).

es ist jedoch gerade die zentrale Bindung des politischen an den staat, die im Diskurs der radikalen Demokratie zur Debatte steht, wie Andreas Hetzel aufzeigt, der konstatiert: „parallel zur realen Krise des staates stellt ihm auch die politische Theorie einen Toten‑schein aus.“ (172) Hetzel nimmt das radikaldemokratische Denken vor seinen Kritikern in schutz, die dessen Indifferenz gegenüber dem staat angreifen, um es schließlich in einen „neukantischen Theorierahmen“ zu integrieren (180). eben jene Kritik vollzieht der den Band abschließende, hervorragende Beitrag Michael Hirschs. Hirsch sieht einen grundzug des radikaldemokratischen Denkens in seiner bereits in den 1970er Jahren

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beginnenden (vermeintlichen) Abgrenzung gegenüber jeglicher normativität. stattdessen eine alle jene im Band als „französisch“ klassifizierten Theorien eine „zentrale Grundfi‑gur der Theorie“, die „Subversion des Normativen […] und die ersetzung durch ein onto‑logisches, positivistisches, symbolisches oder vitalistisches Theoriedispositiv“ (192). so sei den Theorien der Vorrang des epistemologischen gegenüber „allen politischen und normativen (Begriffs‑)entscheidungen der Theorie“ (195) immanent, und es dominie‑ re eine „libertäre Konzeption von Politik, Staat, Recht und Demokratie“, welche unter anderem mit den Begriffen „Konflikt, Protest, Widerstand“ operiere und der „Kantischen Form der republik, die durch Volkssouveränität, gesetzgebung, gewaltenteilung und staatliches gewaltmonopol charakterisiert ist, entgegensteht“ (194). Diesen Anti‑etatis‑mus habe die „libertäre Linke“ mit der „libertären rechten“ im neoliberalismus gemein (195). Der Affekt gegen den staat beruhe auf einem gesellschaftsbegriff, der für hirsch einem „gegenaufklärerische[n] Axiom“ folgt (196) und letztlich zu einer „resignative[n] politischen Lehre“ (210) führe.

Immer wieder werden so im vorliegenden sammelband die theoretischen pole deutlich, zwischen denen sich insbesondere postmarxistische Theorie bewegt, und die ein span‑nungsverhältnis erzeugen zwischen einer empirisch‑materialistischen und einer symbo‑lisch‑diskursorientierten Analyse; zwischen normativität und Dekonstruktion; zwischen einer Hypostasierung des Staats und einer Glorifizierung der (Zivil-)gesellschaft. Es scheint dabei, als befinde sich nicht nur der Staat, sondern auch die radikaldemokratische Theorie, die mit dem gespenst des allgegenwärtigen neoliberalismus hadert, in einer Krise. hinter einer Diskussion des Begriffs „postdemokratie“, so zeigt dieser Band über‑zeugend, verbirgt sich eine spannende, vielschichtige Theoriedebatte. Den herausgebern ist zu dieser gewichtigen problematik ein glänzender, sich auf höchstem theoretischem niveau bewegender Band gelungen.

Historische Politikforschung

grober, ulrich. Die Entdeckung der Nachhaltigkeit. Kulturgeschichte eines Begriffs. München. Antje Kunstmann Verlag 2010. 299 Seiten. 19,90 €.

Birger P. Priddat

Ich mag das Buch, um es vorab zu sagen, eigentlich empfehlen: es ist eine kluge Geschichte der Begrifflichkeit, die wir heute „Nachhaltigkeit“ nennen, obschon klar wird, dass geschichtlich natürlich je unterschiedliches damit gemeint war. Man kann lediglich sagen, dass es eine quasi kohärente Idee ist, abgebildet aber in verschiedenen mentalen Modellen. so ist der sonnengesang des Franziskus von Assisi so sehr christlich veran‑kert, dass er mit der modernen ökologischen nachhaltigkeitsdebatte kaum kompariert werden kann. Aber darum geht es nicht. Grober arbeitet diverse historische schichten heraus: In Kap. 4 geht es um Franziskus von Assisi, in Kap. 5 findet eine kleine Kepler-, Descartes‑, spinoza‑exegese statt, dann steht das Forstmanagement Venedigs im Mittel‑punkt (Kap. 6), gefolgt vom sächsischen ursprung des deutschen Forstes, bis auf goethe (Kap. 7). Es folgt die Auseinandersetzung mit der Erfindung der „oecologie“ bei Linne als

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„oeconomia naturae“ (Kap. 8 und das Kapitel zur Weimarer Klassik und Frühromantik); das Wort kommt von haeckel. Kapitel 9 bringt die Forstwirtschaft des 19. Jahrhunderts in den Fokus: ihre experimente und frühen Achtsamkeiten. Danach kommen modernere geschichten zu Fossilien, nuklearität, solarenergie etc., bis hin zu den Kapiteln erdpoli‑tik I und II (Kap. 12 und 13).

Ab seite 49 ff. wird die Variante der Bewahrung der schöpfung in ihren jeweiligen Ausprägungen elegant zusammengefasst. Dem folgt die Reflexion des Silberabbaus im erzgebirge. Die holzwirtschaftlichen Konzeptionen – von Venedig bis sachsen –, die dann entfaltet werden, sind der ideengeschichtliche Kern des Buches. natürlich wird das Buch von einem gewissen normativen Impetus getragen, aber es ist eine Kette von begriffsgeschichtlichen etappen zur Klärung eines Themas, das Grober als durchtragend durch die Jahrhunderte vorstellt. Das narrative Moment überwiegt das analytische, und zum schluss überwiegt der normative Anspruch.

Auffallend ist vielmehr, dass die reanimation des nachhaltigkeitsgedankens seit der Brundlandt‑Kommission (und zuvor im club of rome‑report 1972) zwar universalis‑tische Ansprüche geltend macht, aber wenig von der durchdachten pragmatik z. B. der forstwirtschaftlichen Bewegung der letzten Jahrhunderte bewahrt. Wir bewegen uns seitdem eher in den semantischen Kautelen von großen und kleinen Kommissionen im Bereich der „political negotiations“, z. B. der Weltnaturschutzstrategie (der Brandt‑Kom‑mission). Das Verhandlungsthema wird im Buch bis zur rio‑Konferenz durchdekliniert, und wir erleben das nachhaltigkeitsthema als einen prozess politischer semantik, in dem die komplexen ökologischen und klimatologischen Forschungen, die wir inzwischen ken‑nen, nicht vorkommen. hier erweist sich die begriffsgeschichtliche Darstellungsform als leicht unterkomplex. Man will ja nicht allein wissen, welche Vorstellungen Menschen (hier in der gestalt von politikern) darüber haben, was getan werden müsste („erdpo‑litik“), sondern was angesichts der systemkomplexität getan werden kann. Das Buch ist – in den letzten Kapiteln – begrenzt auf die politische Interpretation eines weitaus komplexeren Zusammenhanges. Das ist sein Limit: dass die Komplexionen des Klimato‑Ökologischen durch eine Formel griffig gemacht werden soll, die einerseits erdpolitische Machbarkeit suggeriert, andererseits aber allein schon deswegen, weil sie den charme des gross‑einfachen hat, verfehlt. Im letzen Teil pocht Grober auf Konsens, Kooperation und – weltweite – gemeinschaftlichkeit als entscheidende politische Instanzen. Das ist zwar eine conditio sine qua non für eine erdpolitik (in der Form einer politik für die ganze erde), aber diese bewusstseinspolitische Volte wird der Komplexität der Ange‑legenheit kaum gerecht. es wird ein erdpolitischer nexus des allgemein Menschlichen entfaltet, dem ein politikbegriff des großen gremiums entspringt. Fast im Duktus des kantischen Kosmopolitismus wird eine erdpolitische einigung imaginiert.

Insofern ist das Buch ein gelungener Bericht über die nachhaltigkeit als abendlän‑dische Metapher, deren ideale Wegweisung gerade deren unterkomplexität anzeigt. nachhaltig ist keine politik, die vorhandene ressourcen schützt bzw. langsamer nutzen lässt (eine regenerierung von Öl‑ und Kohlevorkommen ist ja fast undenkbar), sondern vornehmlich eine, die substitute generiert (die wiederum einen eingriff in andere nach‑haltige prozesse bedeuten, z. B. in die produktion von nahrungsmitteln in der Agrarindus‑trie). Was der staat (bzw. seine politik) schützt, wird anderswo umso stärker in Anspruch genommen. nachhaltig hieße hierfür, ressourcen zu nutzen (Luft, Wasserstoff), die wir

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reichlich noch haben. Die Kosten dieser umstellung lassen sich im laufenden politik/Wohlfahrtsnexus aber nicht aufwenden, so dass erst die preise der vernutzten ressourcen steigen müssen, um die Transformation in die substitution über die Märkte zu erreichen. Denn die politik kann keine ressourcen erschließen und produzieren. Wohl kann sie pro‑hibitiv besteuern, aber je nur national, was die eigene Wettbewerbssituation lädiert (und also politisch konfliktär ist). Ich will lediglich andeuten, dass das Telos der Erdpolitik abstrakt bleibt, da es eine einigungsillusion belebt, die selbst dann, wenn sie erfolgreich sein könnte, das problem des Verbrauchs von ressourcen nicht lösen kann (es sei denn auf Kosten hoher Wohlfahrtsverluste, was politisch durchzusetzen illusionär wäre). son‑nenenergie ist ideal, aber die ertragsraten sind bescheiden. Alle anderen ressourcen sind limitiert, so dass wir nur die nutzungsdauer etwas verlängern können bei reduziertem Aktualverbrauch. Das gilt selbst für die Kernenergie (nicht allerdings für die Fusions‑energie). so wäre zu überlegen, ob nicht die einzige pragmatische nachhaltigkeitspolitik darin bestünde, neue ressourcen der nutzung zuzuführen, die wir noch reichlich haben. D. h. in Technologien zu investieren, die über ihre extension eine „economy of scale“ entfalten, die die Kosten ihrer generierung senkt.

Ich entfalte diese Dimension, um dem heimlichen Telos des Buches etwas gegenüber zu stellen: als ob wir nachhaltig den nachfolgenden generationen dieselben ressourcen erhalten könnten, die wir extensiv nutzen. Oder als ob eine reduktion von nutzungen eine reelle politische und vor allem nachhaltige Option wäre. Das Buch offeriert die nachhal‑tigkeit als einen verborgenen Begriff der geschichte, den wir nur mehr wiederentdecken müssten, um seine Wahrheit zu erkennen. Ich halte dagegen, dass die Wahrheit der nach‑haltigkeit in den verschiedenen geschichtlichen etappen je eigen und nicht universal ist. In diesem sinne konstruiert das Buch eine durchgehende Wahrheit, die so nicht haltbar ist, vor allem nicht für unsere aktuellen problemlagen. Die Welt ist kein Acker mehr, den wir, pfleglich behandelnd, immer wieder für neue Früchte nutzen könnten. Wir holen die ressourcen unter dem Acker hervor, dessen Fläche immer kleiner wird. Wir benötigen „neue Äcker“, um in der semantik des usus fructus zu bleiben, um neue Fruchtbarkeiten zu generieren.

Ich wollte lediglich andeuten, dass die nachhaltigkeit ein komplexes problem darstellt, dass nicht aus geschichtlicher geltung bereits Lösungen bietet. Der nachhaltigkeitsbe‑griff ist bisher zu eng mit dem cultura‑Begriff der nachwachsenden rohstoffe verknüpft. Insofern erzählt das Buch Begriffsgeschichten, die nur partiell noch heute von Belang sind.

Politisches System Der Bundesrepublik Deutschland

Brodocz, André. Die Macht der Judikative. Wiesbaden. Vs Verlag 2009. 280 seiten. 29,90 €.

Niels Hegewisch

Die Macht der Judikative ist eine „black box“ (16) der politischen Theorie. Obwohl sie weithin verwendet wird, um phänomene des politischen prozesses zu erklären, ist sie

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selbst bislang kaum näher untersucht worden. Diesen Mangel will André Brodocz durch die entwicklung einer politischen Theorie verfassungsgerichtlicher „Deutungsmacht“ (20) beheben.

Ausgehend von einem ideengeschichtlichen rückgriff auf die gewaltenteilungslehre Montesquieus und der Federalist papers arbeitet Brodocz zunächst die wachsende Bedeu‑tung des Rechts als Mittel sozialer Koordination heraus. Das Recht bedarf im Konfliktfall der Interpretation, die im gewaltenteiligen Institutionenarrangement einer unabhängigen Judikative zukommt. Da die Judikative jedoch über keinerlei eigene sanktionsmittel verfügt, ist sie auf den Vollzug ihrer entscheidungen durch die exekutive angewiesen. Als einziges Druckmittel gegenüber den politischen Institutionen und Akteuren steht der Judikative ihre Wertschätzung durch den Volkssouverän zur Verfügung. Widersetzen sich die politischen Akteure judikativen entscheidungen, ist es in demokratischen systemen wahrscheinlich, dass sie hierfür bei den nächsten Wahlen verantwortlich gemacht werden. Brodocz konstatiert somit eine ideengeschichtliche „doppelte Weichenstellung“ (49), die die Konkurrenz zwischen politik und Judikative sowie die öffentliche Wertschätzung der Judikative als entscheidende Aspekte judikativer Macht etabliert. heutzutage wird die Macht der Judikative vor allem von der systemtheorie (Luhmann, Bora) und rational choice Ansätzen (elster, Vanberg) in den Blick genommen. Diesen gelinge es zwar, so Brodocz, die Ausdifferenzierung von politik und recht sowie die existenz judikativer Macht zu beschreiben, doch die Frage, wie und in welchen historischen Formen judika‑tive Macht generiert und ausgeübt wird, könnten sie nicht beantworten.

An dieser stelle setzt eine Theorie judikativer Deutungsmacht an. Brodocz nähert sich dieser zunächst analytisch. Verfassungsgerichtliche Deutungsmacht beruht dem‑nach auf dem Vorrang der Verfassung vor dem übrigen recht sowie einer exklusiven Deutungshoheit des Verfassungsgerichts über die Verfassung. sie kann sich normativ in einzelnen entscheidungen äußern und manifestiert sich faktisch durch die Bestätigung oder Zurückweisung von Machtansprüchen. Judikative Deutungsmacht ist jedoch, und hierauf legt Brodocz besonderes gewicht, kein starres theoretisches gebilde, sondern ein komplexer „sozialer prozess, der auf sich selber zurückwirkt“ (231). er ist abhän‑gig von den symbolischen Voraussetzungen einer mehr oder weniger stark innerhalb einer politischen gemeinschaft einheitsstiftend wirkenden Verfassung und von der Anerkennung des Verfassungsgerichts als legitimem Deuter eben dieser Verfassung. Für die judikative Macht sind ferner die Mittel, die einem Verfassungsgericht zur Durchset‑zung seiner entscheidungen zur Verfügung stehen, und die praxis, wie ein Verfassungs‑gericht seine Deutungsmacht ausübt, von Bedeutung. Die zentrale These des Buches ist der interne Zusammenhang dieser drei Bestandteile judikativer Macht, „weil der output der verfassungsgerichtlichen Deutungsmacht […] zugleich als konditionaler input auf die symbolischen Voraussetzungen und instrumentellen gelegenheitsstrukturen der Deu‑tungsmachtpraxis wirkt“ (231). Am Beispiel der rechtsprechungspraxis des Bundesver‑fassungsgerichts in den fünfziger und siebziger Jahren wird diese These illustriert.

Für die fünfziger Jahre konstatiert Brodocz die sukzessive etablierung judikativer Deu‑tungsmacht trotz unsicherer symbolischer Voraussetzungen (neue und nur wenig akzep‑tierte Ordnung des grundgesetzes). Die empirische Analyse zeigt hierfür zwei zentrale gründe auf: 1) seine sanktionsunfähigkeit hat das Bundesverfassungsgericht durch eine praktische Koalition mit den politischen Institutionen kompensiert. Durch das abschlägige

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Bescheiden der meisten Anträge, die materielle Veränderungen im politischen system zur Folge gehabt hätten, stärkte das Bundesverfassungsgericht seine normative Deutungs‑macht, ohne in Konkurrenz zu den politischen Akteuren und Institutionen zu treten. 2) Der rege Input an Verfassungsbeschwerden von seiten der Bürger demonstrierte den poli‑tischen Akteuren zugleich die Wertschätzung des Volkssouveräns für die Verfassungsge‑richtsbarkeit und stärkte die symbolischen Voraussetzungen judikativer Deutungsmacht.

gelang es dem Bundesverfassungsgericht somit in den fünfziger Jahren behutsam Deutungsmacht zu etablieren, beobachtet Brodocz für die siebziger Jahre deren Desta‑bilisierung. Angesichts starker symbolischer Voraussetzungen – breite Akzeptanz des grundgesetzes und öffentliche Wertschätzung des Bundesverfassungsgerichts – setzte das Bundesverfassungsgericht seine Deutungsmacht in höherem Maße auch faktisch wirksam ein. Insbesondere die neu ins Amt gekommene sozial‑liberale Bundesregierung fühlte sich angesichts der entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts über wich‑tige politische Projekte wie den Schwangerschaftsabbruch oder die Wehrpflichtnovelle durch die judikative Deutungsmacht bedroht. Infolgedessen kam es zu einer öffentlichen problematisierung verfassungsgerichtlicher Deutungsmacht, was sich destabilisierend auf deren symbolische Voraussetzungen auswirkte. „Indem die Bundesregierung sowie andere Akteure und Institutionen öffentlich die Frage nach der Macht des Bundesverfas‑sungsgerichts stellten, politisierten sie das Bundesverfassungsgericht und warfen so […] die Frage nach seiner legitimen Anwendung der Deutungsmacht [auf].“ (215)

Judikative Macht, so Brodocz, äußert sich demnach in verschiedenen historischen situation unterschiedlich, obwohl die formalen Kompetenzen eines Verfassungsgerichts unverändert bleiben. Verfassungsgerichtliche Deutungsmacht kann unter unsicheren symbolischen Voraussetzungen etabliert, unter starken symbolischen Voraussetzungen destabilisiert und auch wieder restabilisiert werden. Durch seine eigene praxis hat ein Verfassungsgericht maßgeblichen Einfluss auf den Umfang und die Stabilität seiner Deu‑tungsmacht – hierin liegt die bedeutsame Konsequenz des internen Zusammenhanges von symbolischen Voraussetzungen, instrumentellen strukturen und institutioneller praxis judikativer Deutungsmacht. es ist eine pointe der untersuchung, dass ein Ver‑fassungsgericht gerade dann besonders mächtig ist, wenn es eine institutionelle praxis an den Tag legt, die seine Deutungsmacht erfolgreich verleugnet. Durch den Anschein sanktionsunfähiger neutralität stärkt ein Verfassungsgericht die symbolischen Vorausset‑zungen seiner Deutungsmacht.

Brodocz legt mit seiner studie eine gelungene synthese politischer Theoriebildung und empirischer Forschung vor. er entwickelt ein dynamisches Modell verfassungsge‑richtlicher Deutungsmacht als sozialer praxis. Kritisch hervorzuheben ist, dass Brodocz allen an der praxis judikativer Deutungsmacht Beteiligten ein hohes Maß an strategischer Intentionalität im sinne seines Modells unterstellt. es ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass verfassungsgerichtliche entscheidungen lediglich auf grund geltenden rechts bzw. aus tagespolitischen oder weltanschaulichen erwägungen heraus zustande kommen und von politikern wie Öffentlichkeit ebenso bewertet werden. gegenüber diesen konkur‑rierenden Deutungsmustern verfassungsgerichtlicher entscheidungspraxis grenzt sich Brodocz nur unzureichend ab. sein Fokus liegt auf den symbolischen Dimensionen judi‑kativer Deutungsmacht, doch gerade hier stellt sich die Frage, inwieweit eine quantitative untersuchung, die sich darauf beschränkt, wer wann mit welchem ergebnis einen Antrag

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vor dem Verfassungsgericht gestellt hat, aussagekräftig ist. Trotz des Bedarfs an präzisie‑rung des theoretischen Modells und seiner Anwendung in empirischen untersuchungen stellt Brodocz‘ studie einen wertvollen Beitrag zur Öffnung einer „black box“ des poli‑tischen prozesses dar.

Jesse, eckhard. Demokratie in Deutschland. Diagnosen und Analysen. hrsg. von uwe Backes und Alexander Gallus. Köln, Weimar, Wien. Böhlau 2008. 432 Seiten. 49,90 €.

Andreas Heyer

einer breiteren Öffentlichkeit ist Eckhard Jesse durch seine Arbeiten zur Totalitarismus‑theorie bekannt – ein Forschungsfeld, auf dem er seit Jahren publizistisch und organisato‑risch aktiv ist. Zu Jesses 60. geburtstag edierten Uwe Backes und Alexander Gallus nun einen Band, der auch die anderen Facetten seiner akademischen Tätigkeit berücksich‑tigt. unter dem Titel „Demokratie in Deutschland“ sind 20 Aufsätze versammelt, deren Bandbreite von zeitgeschichtlichen Abhandlungen über die einflussreichen Studien zum deutschen Wahlsystem bis hin zu kulturhistorischen Überlegungen reicht. Die heraus‑geber weisen zu recht darauf hin, dass sich Jesses Denken immer im grenzbereich von geschichte, Zeitgeschichte, den politischen Wissenschaften und der Tagespolitik bewegt (1–11). Die damit verbundenen philosophischen und ideengeschichtlichen Dimensionen wären als weitere Felder von seinen schriften zu ergänzen.

Da es immer relativ schwer ist, bei rezensionen von Aufsatzsammlungen allen The‑men in der gebotenen Kürze gerecht zu werden, folgt zunächst eine Aufzählung der gesetzten schwerpunkte. gedruckt werden Aufsätze zur Zeitgeschichte (12–53), zur Auf‑arbeitung der Vergangenheit (54–98), über die DDr (99–165), zur politischen und kultu‑rellen Identität der Bundesrepublik (166–203) sowie deren Wahlsystem (204–262), über die parteienlandschaft (263–316) sowie zu den verschiedenen politisch‑ideologischen extremismen (377–422) und den grundlagen und schutzmechanismen der Demokratie (317–376). Die Lektüre der durchaus unterschiedlichen Aufsätze zeigt, dass sie trotz aller thematischen grenzen miteinander verzahnt sind. es wird deutlich, dass sich Jesse seinen Themen auf unterschiedliche Weise näherte: Ansätze der Diskursanalyse und der rekons‑truktion von Forschungstraditionen stehen gleichberechtigt neben empirisch verfahren‑den Vermessungen oder der eher historischen Aufarbeitung.

genauer betrachtet werden hier die Arbeiten Jesses zur DDr. Dabei geht er von fol‑gender Betrachtung zur Wiedervereinigung aus: „Der einheit folgte die Freiheit. Wer diese reihenfolge in Zweifel zieht, steht nicht auf dem Boden der so viel beschworenen westlichen Demokratie.“ (118) Das ist ein Diktum, das zu diskutieren bleibt. Behauptet wird ja nicht nur, dass die Freiheit ein ergebnis der einheit und nicht der umbrüche in der DDr ist. Darüber hinaus ist zum Beispiel auch inkludiert, dass die Vereinigung nur in ihrer tatsächlichen Form realisierbar gewesen ist. eine neue Verfassung wäre nicht denkbar gewesen, da die potentiellen Diskutanten der DDr erst durch die Annahme des grundgesetzes freie Bürger wurden. und drittens wird die westliche Demokratie nach‑träglich zum Bewertungsmaßstab der geschichte erhoben. Die entscheidende Frage ist nun, warum Jesse in dieser Art argumentierte. Die DDr‑Opposition hat er ernst genom‑

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men und kritisch, aber auch würdigend durchleuchtet. Das zeigt sein Aufsatz „DDr. Die intellektuelle Formierung der Opposition in den 1970er Jahren“. (150–164) Außerdem erbringt „Die politikwissenschaftliche DDr‑Forschung in der Bundesrepublik Deutsch‑land“ (117–149) den nachweis von Jesses profunden Kenntnissen der entsprechenden sozialwissenschaftlichen Diskurse. Fehler bei der Bewertung und Analyse der diffe‑renzierten prozesse in der DDr gab es ihm zu Folge auch in der Bundesrepublik. eine Betrachtung, die ein stück weit die Idee einer Aufwertung verschiedener Leistungen der DDr enthält: etwa im Bereich der Kultur. Außerdem kann Jesse zeigen, dass gerade die „anti‑kommunistische richtung der DDr‑Forschung von der unantastbarkeit des kom‑munistischen Machtmonopols“ (141) überzeugt war. Anders formuliert: Der ideologische Blick auf die ideologiegeprägte DDr führte zu ideologisch gesättigter Forschung. eine bemerkenswerte These, die Jesse allerdings nicht verabsolutiert, sondern in die zeithisto‑rischen Kontexte einbindet.

Doch zurück zur Ausgangsfrage. Warum setzt Jesse die einheit vor die Freiheit? sowohl für weite Teile der Opposition in der DDr als auch für bestimmte Teile der west‑deutschen Forschung stellte die DDr „bei allen schwächen eine ‚sozialistische Alter‑native‘ dar“ (153). ein „dritter Weg“ schien immer greifbar zu sein. eine entwicklung, die zwischen den polen parlamentarische Demokratie und staatssozialismus verlaufen könne. Doch genau gegen diese Möglichkeit eines „dritten Weges“ hat Jesse immer argu‑mentiert. In diesem sinne forderte er, dass die Aufarbeitung der DDr nur im rahmen einer „Diktaturforschung“ (149) erfolgen könne. Auch wenn diese These eine Verengung des Forschungsblickwinkels bedeutet und daher zu überprüfen ist, wird doch klar, dass sich hier eines der grundmotive des Denkens Jesses zeigt. seine permanente Kritik am, sein Argumentieren gegen einen „dritten Weg“ ist eine der Konstanten seiner Arbeiten. Von hier bezieht noch die Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus ihre Legitimation und Motivation. und diese ist in einem weiteren schritt vor allem ein plädoyer für die bundesrepublikanische spielart der Demokratie, die permanent überprüft und verbessert werden müsse, aber nicht sinnvoll zu ersetzen und damit alternativlos sei. Das deutli‑che „nein“ zu einem „dritten Weg“ ist also ein Bekenntnis zur Demokratie. es zeigt die positionierung Jesses in der Forschungslandschaft an. sie macht einerseits angreifbar, stimuliert andererseits aber auch Diskussionen. und auf diese sind die Wissenschaften angewiesen.

Politikfelder und Politikimplementationen

Braun, stephan, Alexander geisler und Martin gerster (hrsg.). Strategien der extremen Rechten. Hintergründe – Analysen – Antworten. Wiesbaden. Vs Verlag 2009. 667 seiten. 39,90 €.

Richard Gebhardt

In zahlreichen Medienberichten oder politikerstatements wird rechtsextremismus immer noch auf ein problem von Wahlprozenten oder auf das vermeintliche randphänomen depravierter Jugendlicher reduziert. Jüngere sozialwissenschaftliche Arbeiten betrach‑

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ten rechtsextremismus jedoch als vielschichtiges syndrom aus parteien, netzwerken, subkulturen, militanten und metapolitischen strategien sowie antidemokratischen ein‑stellungen auch in der sogenannten „Mitte der gesellschaft“. Der von den sozialdemo‑kratischen Landtags‑ bzw. Bundestagsabgeordneten Stephan Braun und Martin Gerster sowie dem politikwissenschaftler Alexander Geisler herausgegebene voluminöse sam‑melband zu den „strategien der extremen rechten“ bildet diese Vielfalt auf der höhe des Forschungsstandes ab und überzeugt insgesamt als fundierte handreichung für die poli‑tische Bildungsarbeit. Die unterschiedlichen perspektiven der Autorinnen und Autoren des Bandes (darunter prominente Wissenschaftler wie Wolfgang Benz und Micha Brumlik sowie Fachjournalisten wie Andreas Speit und Patrick Gensing) umfassen diskursanaly‑tische Texte ebenso wie Darstellungen, die auf grundlage des konventionellen extremis‑musparadigmas argumentieren.

Die 37 wissenschaftlichen sowie journalistischen Beiträge sind innerhalb drei großer Abschnitte zu „strukturen und strategische grundlagen“, „strategieanalysen“ sowie „Antworten und gegenwehr“ plausibel in jeweils einzelne Kapitel zu „politik und par‑teien“, „Kultur und Medien“, „recht und Verfassung“ und „International“ aufgeglie‑dert. Der Anhang mit einem personen‑ und sachregister erhöht den gebrauchswert als nachschlagewerk, um z. B. den politischen Kontext von neo‑nazistischen Aktivisten oder solitären der „neuen“ rechten prüfen zu können. Übersichtsdarstellungen wie die von Andrea Röpke zu „Immobilienkäufe durch rechtsextremisten“ sind nicht nur für ein aka‑demisches publikum interessant, sondern gerade für Mitglieder demokratischer Bürger‑initiativen gegen entsprechende spekulationsstrategien geeignet.

Der sammelband eignet sich vorzüglich, um auch jenseits der seminare einer inter‑essierten Öffentlichkeit grundlagenwissen zu vermitteln. Beiträge exponierter Forscher wie der von Gunter A. Pilz zu „rassismus und Fremdenfeindlichkeit im Fußballumfeld“ bieten Kennern zwar inhaltlich wenig neues, liefern aber konzise und anschauliche Zusammenfassungen des Forschungsstandes. Die unterwanderung des Fußballs als stra‑tegieelement der extremen rechten wird wiederum von den herausgebern Geißler und Gerster prägnant aufgezeigt. Lesenswert – und eine stärke des Bandes – sind die Beiträge zu bislang wenig beachteten Fraktionen der extremen rechten. Helmut Kellershohn vom Duisburger Institut für sprach‑ und sozialforschung (DIss) liefert beispielsweise eine ausführliche Darstellung des „neu“‑rechten „Instituts für staatspolitik“ und sowie der „Konservativ‑subversiven Aktion“ (KsA), die auf den ersten Blick überraschende Anlei‑hen am Agit‑prop der studentenrevolte von 1968 nimmt. Kellershohn zeigt, dass ad‑hoc‑gruppen wie die KsA qua herausbildung eines „jungkonservativen“ provokationsstils medial effektvoll in die ideenpolitischen Debatten eingreifen wollen. Das „Institut für staatspolitik“ dient dabei als „reemtsma‑Institut von rechts“ der Verbreitung „neu“‑rech‑ter Ideologie. Kellershohn verortet diese (bislang nur eingeschränkt wirkungsmächtigen) projekte im umfeld der Wochenzeitung „Junge Freiheit“ und zeigt entlang dieser schar‑nierstelle zwischen nationalkonservatismus und neofaschismus materialreich Traditi‑onslinien und unterschiede im Lager der „neuen“ rechten auf.

Thomas Grumke analysiert unter der Überschrift „sozialismus ist braun“ die sozi‑aldemagogische Agitation und globalisierungskritik im rechtsextremismus und bilan‑ziert, „dass klassische, vergangenheitsbezogene Themen“ nicht mehr die alte Dominanz haben. Stattdessen werden immer häufiger aktuelle Probleme wie „Arbeitslosigkeit,

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prekäre Arbeitsverhältnisse, Kürzungen im sozialbereich oder die Internationalisie‑rung von Märkten in den Vordergrund gestellt.“ (159) Jan Schedler beschreibt kennt‑nisreich die „Übernahme von Ästhetik und Aktionsformen der radikalen Linken“ durch die relativ neue subkultur der „Autonomen nationalisten“ (An), deren selbstverständnis sich erheblich vom alten habitus der nazi‑skins mit glatze, Bomberjacke und sprin‑gerstiefel unterscheidet. Schedler zeigt, dass sich der „vermeintliche Antikapitalismus“ der An auf die aus der ns‑Ideologie tradierte „unterscheidung von schaffendem und raffendem Kapital“ (344) reduziert. eine „Modernisierung“ des rechten Lagers sei dies nicht: schon ernst Bloch habe früh auf die nationalsozialistischen „entwendungen aus der Kommune“ (d. h. Übernahme linker symboliken etc.) hingewiesen. Bei diesen infor‑mativen Vergleichen der antagonistischen Akteure hätte die Betonung der inhaltlichen Differenzen zwischen der extremen rechten und ihrem (vermeintlichen) linksradikalen pendant noch schärfer ausfallen können. schließlich übernehmen npD, An und „Freie Kameradschaften“ jenseits phänomenologischer Ähnlichkeiten in Ästhetik und Aktions‑form nicht bloß die linke phraseologie gegen die multinationalen Konzerne des high‑Tech‑Kapitalismus. Die globalisierungskritik von rechts richtet sich gegen Migranten, speist sich – wie gezeigt wird – aus antisemitischen Quellen und formuliert wider die globale One World eine anti‑modernistische Kritik, welche die Zersetzung der kulturellen reinheit beklagt. „universalismus“ gilt als Kategorie des Feindes. Dies kennzeichnet als pointe des Vergleichs aber auch (zumindest idealtypisch) klar die zentralen unterschiede zwischen den politischen Lagern: Die extreme rechte übernimmt nicht bloß taktisch und unvermittelt linke politiken und Aktionsformen – sie wandelt diese um und gibt ihnen autoritär‑völkische Inhalte, die gleichzeitig konstitutiv für die Weltanschauung sind. so wäre es gemäß dem Weltbild der extremen rechten nicht möglich, dass linke postulat eines universalistischen humanismus zu okkupieren. eine Analyse der Aneignungsstra‑tegien von Form und Inhalt ermöglicht so eine scharfe begriffliche Trennung zwischen links und rechts.

Mager fällt dagegen die theoretische einleitung der ansonsten verdienstvollen heraus‑geber aus. hier werden in Bezug auf Terminologie, Konzept und Methodik Ansprüche formuliert, die später nicht eingelöst werden. schon angesichts der in diesem Band ver‑sammelten Vielzahl der phänomene und Zugänge zum Thema scheint eine kohärente einigung auf eine Begriffsbestimmung wie „extreme rechte“ kaum möglich. Zu wenig ausgearbeitet wird die „problematik des extremismusbegriffs“ (14). Auch der nicht nur für die Titelwahl zentrale „analytische[n] Mehrwert des Konzepts ‚extreme rechte‘“ (15) wird eher deklariert als argumentativ begründet. Da in dieser publikation jedoch vom unionsnahen studienzentrum Weikersheim bis zur npD ein breites Tableau an parteien, personen und positionen verhandelt wird, wäre eine separate und vertiefende Klärung des Kontextes sinnvoll gewesen. ein einziges schaubild zu den „Differenzierungen des rechten spektrums“ (ebd.) wird den offenen Fragen kaum gerecht. Die Vorzüge der Inter‑pretation dieses spektrums „im sinne der Bewegungsforschung“ (ebd.) werden unter Verweis auf die entsprechenden referenzautoren denn auch zu knapp benannt. Außerdem berücksichtigen zahlreiche Autorinnen und Autoren die grundlegung der herausgeber gar nicht oder verwenden Begriffe eher beliebig. Da doch gerade das hier gewählte Konzept „extreme rechte“ unterschiedliche und eben auch nicht explizit verfassungsfeindliche gruppierungen umfasst, herrscht im umkämpften Feld der Begriffspolitik weiterhin ein

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verstärkter Klärungsbedarf. Auch deshalb, weil die aktuelle Bundesregierung im rahmen ihrer programme zur „extremismusbekämpfung“ rechts‑ und Linksextremismus sowie Islamismus unter derselben Rubrik subsumiert, die Spezifika extrem rechter Inhalte und gewalttaten derart jedoch nivelliert werden.

Faas, Thorsten, Kai Arzheimer und sigrid roßteutscher (hrsg.). Information – Wahrnehmung – Emotion. Politische Psychologie in der Wahl- und Einstellungsforschung. Wiesbaden. VS Verlag 2010. 377 Seiten. 49,95 €.

Alexander Glantz

Die politische psychologie kann in der angelsächsischen politikwissenschaft auf eine vergleichsweise lange Tradition zurückblicken. In den vergangenen Jahren haben psy‑chologische erklärungsansätze auch in der deutschsprachigen Forschung – insbesondere in der Wahl‑ und einstellungsforschung – wieder vermehrt Aufmerksamkeit gefunden. gleichzeitig ist damit auch eine erfreuliche erweiterung der methodischen perspektive verbunden. experimentelle Forschungsdesigns und innovative Ansätze der Datenerhe‑bung (z. B. real‑Time‑response‑Messungen) sind inzwischen weit weniger exotisch, als sie es noch vor einigen Jahren waren. Ausdruck dieser entwicklung ist der vorliegende von Thorsten Faas, Kai Arzheimer und Sigrid Roßteutscher herausgegebene sammel‑band, der sich mit dem Einfluss kognitiver und affektiver Prozesse auf die Einstellungen und entscheidungen von Wählern befasst. Das Buch basiert auf den Beiträgen der Jahres‑tagungen, die 2007 und 2008 vom Arbeitskreis „Wahlen und politische einstellungen“ der Deutschen Vereinigung für politische Wissenschaft (DVpW) durchgeführt wurden.

nach einer knappen einleitung der herausgeber gibt Marco R. Steenbergen in seinem englischsprachigen eröffnungsbeitrag einen hervorragenden Überblick über die rolle kognitiver und affektiver Faktoren bei Wahlentscheidungen. Die weiteren Beiträge sind in drei thematische Bereiche gegliedert, die allerdings eher eine grobe Orientierungs‑hilfe liefern, da sich die einzelnen Kapitel nicht unbedingt trennscharf den Themengebie‑ten zuordnen lassen. Der erste Teil befasst sich damit, wie Medien, Meinungsumfragen, Wahlkampagnen und politische eliten die Informationsaufnahme und ‑verarbeitung beeinflussen können. Astrid Jansen, Gary Bente und Nicole C. Krämer untersuchen anhand von Inhaltsanalysen, inwiefern die Berichterstattung von ArD und rTL während der Bundestagswahl 2005 durch geschlechtsspezifische Stereotype geprägt war. Wie sich herausstellt, finden sich bei der Darstellung der Kanzlerkandidaten jedoch nur vereinzelt unterschiede, die im sinne einer geschlechterstereotypen Darstellungsweise interpretiert werden können. David Hopmann befasst sich mit der umstrittenen Frage, ob Meinungs‑umfragen die Parteipräferenzen von Wählern beeinflussen. Nach einem gut strukturierten Überblick über den theoretischen und empirischen Forschungsstand kommt er zu dem schluss, dass die oft geäußerten Befürchtungen, Wähler seien durch umfragen beliebig zu manipulieren, wissenschaftlich gesehen kaum begründet werden können. In methodischer hinsicht sehr innovativ ist der Beitrag von Stephanie Geise und Frank Brettschneider. um die Wahrnehmung und unmittelbare Bewertung von Wahlplakaten zu untersuchen, verwenden sie sogenannte eye‑Tracking‑Verfahren, die es ermöglichen, den Blickverlauf von rezipienten exakt aufzuzeichnen. Die ergebnisse belegen die überragende kognitive

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Wirkung von Bildern in der Wahlwerbung, was nicht nur für praktiker auf diesem gebiet interessant sein dürfte. Jan Kercher widmet sich in seinem Beitrag der Verständlichkeit von spitzenpolitikern und liefert Belege dafür, dass sich das Verständnis von politiker‑reden mit hilfe quantitativer Indikatoren valide erfassen lässt.

Der zweite Teil des Buches beschäftigt sich mit der Frage, wie Wähler mit der Flut politisch relevanter Informationen umgehen. Im Vordergrund stehen hierbei einerseits personenbezogene Variablen, wie die politische Involviertheit, und anderseits vereinfa‑chende Verarbeitungsmechanismen, die sich unter dem stichwort information shortcuts oder heuristiken einer andauernden Beliebtheit in der Wahlforschung erfreuen. Thorsten Faas und Harald Schoen demonstrieren am Beispiel von Mehrwertsteuer und staats‑verschuldung, dass sich politisch Interessierte durch die Art und Weise, wie politische Themen dargestellt werden ( framing), weniger beeinflussen lassen als politisch Desinter‑essierte. Auf der Basis eines experimentellen Designs geht Sascha Huber der Frage nach, ob Wähler tatsächlich auf das Links‑rechts‑schema zurückgreifen, um die positionen von Parteien zu spezifischen Sachfragen abzuschätzen, während Tatjana Rudi anhand von umfragedaten untersucht, in welchem Ausmaß die ideologische Links‑rechts‑Dimension in Mittel‑ und Osteuropa verwendet wird, um individuelle einstellungssystem zu struk‑turieren. Sascha Huber wie Tatjana Rudi belegen mit ihren Analysen, dass politische Ideologien von Bürgern in unterschiedlichen Kontexten als einfache urteilsheuristiken angewendet werden. Florian Bader und Joachim Behnke zeigen, dass sich eine geringe Übereinstimmung zwischen den wahrgenommenen Werten von politikern und den Werten der Wähler negativ auf die unterstützung des politischen systems auswirkt. In dem Bei‑trag von Bettina Wagner wird deutlich, dass die demokratische und ökonomische Leis‑tungsfähigkeit der nationalstaaten für die Bürger Mittel‑ und Osteuropas eine wichtige hilfestellung ist, um abstrakte Institutionen wie die europäische union zu bewerten. Im gegensatz zu Thorsten Faas und Harald Schoen finden Carsten Reinemann und Marcus Maurer am Beispiel des TV‑Duells im Bundestagswahlkampf 2005 keine Belege dafür, dass sich die Informationsverarbeitung politisch stärker und schwächer Involvierter sig‑nifikant unterscheidet.

Im dritten und letzten Teil des Bandes werden schließlich die Auswirkungen der Infor‑mationsverarbeitung auf politische einstellungen und das (Wahl‑) Verhalten behandelt. Thorsten Faas und Jochen Mayerl beschäftigen sich mit der Bedeutung der einstellungs‑stärke für die individuelle Wahlentscheidung. Dabei stützen sie sich auf die Messung von Antwortgeschwindigkeiten bei Fragen zur parteineigung und Wahlabsicht, die im rah‑men der Bundestagswahl 2005 durchgeführt wurden. Thorsten Faas und Jochen May-erl legen überzeugend dar, dass die Berücksichtigung der kognitiven Verfügbarkeit von einstellungen zum einen die erklärungskraft klassischer Modell des Wählerverhaltens substantiell erhöht, und zum anderen, dass Antwortreaktionszeiten auch in umfragen mit vertretbaren Aufwand erfasst werden können. Dem Anspruch des Bandes, die Auswir‑kungen emotionaler Faktoren zu berücksichtigen, kommt der Beitrag von Christian Sche-mer, Werner Wirth und Jörg Matthes am nächsten. sie zeigen am Beispiel der schweizer Asylgesetzgebung, dass politische einstellungen nicht nur durch inhaltliche Argumente und politische Ideologien, sondern auch durch positive und negative emotionen gegen‑über einstellungsobjekten bestimmt werden. Daran anschließend weist Marc Debus nach, dass affektive sympathien gegenüber parteien und Kandidaten eigenständige effekte auf

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die Wahlentscheidung haben. Evelyn Bytzek beleuchtet den erfolg der FDp bei der Bun‑destagswahl 2005 und kommt zu dem ergebnis, dass dieser nicht durch die strategische Vergabe von Leihstimmen erklärt werden kann, sondern durch gezielte Koalitionsprä‑ferenzen. Paul W. Thurner beschäftigt sich am Beispiel Kernenergie mit der Frage, was passiert, wenn Wähler politische sachpräferenzen haben, die im Widerspruch zur posi‑tion der Partei stehen, mit der sie sich identifizieren. Er findet Hinweise darauf, dass Wähler mit inkonsistenten einstellungssystemen ihre positionen auf die präferierte partei projizieren und es unter bestimmten Bedingungen sogar zu einem Wechsel der parteiprä‑ferenz kommen kann. Den Abschluss bildet der Beitrag von David Johann und Bettina Westle, die das Wissen der europäer über die europäische union untersuchen. Demnach ist das Wissen über die eu im Durchschnitt recht niedrig ausgeprägt. hinzu kommt, dass individuelle unterschiede im Wissensniveau nur unzureichend erklärt werden können.

Insgesamt ist es den herausgebern gelungen, eine wichtige Lücke in der empirischen Wahlforschung zu schließen, denn trotz der Bedeutung kognitiver und emotionaler Fak‑toren für die Wahlentscheidung gab es bisher keine vergleichbare Darstellung über die aktuelle Forschung im deutschsprachigen raum. Besonders bemerkenswert ist auch die innovative methodische herangehensweise vieler Beiträge, die sich besonders im ver‑stärkten einsatz experimenteller Designs niederschlägt. Allerdings ist das spektrum der behandelten Themen sehr breit, wodurch es dem Leser nicht immer leicht fällt, die in den einzelnen Beiträgen dargestellten empirischen Befunde in einen gesamtzusam‑menhang zu sehen. Zwar versucht Marco Steenbergen in seinem einführungskapitel, die einzelnen Beiträge in ein übergreifendes Forschungsprogramm zu integrieren, aber letztendlich werden die Kapitel eher locker durch die im Titel genannten schlagworte zusammengehalten. Das tut der Qualität der einzelbeiträge jedoch keinen Abbruch. Lei‑der kommt aber auch das im Titel angesprochene Thema „emotion“ deutlich zu kurz. explizit werden affektive prozesse nur in den Beiträgen von Marco Steenbergen, David Hopmann, Christian Schemer und seinen Kollegen sowie von Marc Debus berücksichtigt, die daher für Leser, die sich speziell mit dieser Thematik befassen möchten, am interes‑santesten sein dürften. In der gesamtschau handelt es sich aber dennoch um einen gelun‑genen sammelband, dessen Beiträge neue theoretische und methodische perspektiven für die Wahl‑ und einstellungsforschung aufzeigen.

shaffer, Brenda. Energy Politics. philadelphia. university of pennsylvania press 2009. 189 Seiten. 25,99 €.

Lutz Mez

Wenn politikwissenschaftler das puzzle der energiepolitik aufs Korn nehmen, fallen einige Besonderheiten auf, die anders sind als in anderen politikfeldern. Anders als bei‑spielsweise die umweltpolitik, die erst in den 60er und 70er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts entstanden ist, erweist sich energiepolitik als eine „alte“ politik, die seit Mitte des neunzehnten Jahrhunderts untrennbar mit der entwicklung von Industriestaaten verbunden ist.

energie und politik sind „intrinsically interlinked“ (1) lautet dementsprechend die Aus‑gangsthese dieses Textbuches zur energiepolitik, das von Brenda Shaffer als einführung

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in die internationale energiepolitik geschrieben hat. sie hat als Forschungsdirektorin von 2000 bis 2006 das „caspian studies program“ der harvard universität geleitet. Derzeit lehrt sie politikwissenschaft an der universität haifa.

Wie der nexus zwischen energie und politik den „hydrocarbon man“ geformt hat und immer noch gestaltet, skizziert die Autorin in der einleitung. In achtzehn Thesen beschreibt sie, wieso energie und politik untrennbar verbunden sind und wie die nutzung von Energie die Struktur des internationalen Systems beeinflusst. Die Nutzung von Öl schaffe „ein element von Interdependenz im internationalen system“ (3). seitdem Öl eine globale Ware sei, würde die nachfrage nach Öl den Ölpreis und das Öl‑Angebot für alle Verbraucher beeinflussen. „Tight oil market conditions“ führten wiederum zur weiteren Internationalisierung von nationalen politischen entwicklungen bei den Ölpro‑duzenten und den haupt‑Transitländern und könnten dort Instabilitäten hervorrufen und internationale rückwirkungen haben.

Zudem schaffe energie eine zusätzliche Verbindung zwischen der Innen‑ und der Außenpolitik von Staaten. Der Einfluss der Nutzung von Kohlenwasserstoffen auf den Klimawandel, die energiepreise und die Versorgungsmöglichkeiten habe die energie‑ verbrauchsmuster und ‑politiken zu einem Thema von internationalem politischen Inte‑resse werden lassen. Finanzpolitische Aspekte werden allerdings nicht berücksichtigt. Ölexportierende staaten tendierten in perioden mit „tight oil market conditions“ zu res‑sourcennationalismus. Das führe zur ökonomischen Logik und zur steigerung der Ölför‑derung. Wenn in der Vergangenheit von Versorgungssicherheit gesprochen wurde, war die Ölversorgung gemeint.

Gegenwärtig stehe jedoch das Erdgas, das noch stärker politischen Einflüssen aus‑gesetzt sei, im Zentrum der politischen Aufmerksamkeit. Die Autorin vertritt die These, dass mit der weltweit erweiterten nutzung von gas und dem grenzüberschreitenden gas‑handel mehr Möglichkeiten für die Politik entstehen, die Energieversorgung zu beeinflus‑sen (4). „Frieden‑pipelines“ gäbe es weder bei Öl noch bei gas – und dass mit pipelines Frieden geschaffen würde, sei eine schimäre. Die Ölproduzenten könnten das Angebot kaum beeinflussen. Dagegen würden die effektiven Ölembargos von Verbraucherstaaten wie den usA oder von der un verhängt.

Wenn Versorger und Verbraucher beim Angebot in einer interdependenten Beziehung stünden, sei die gasversorgung grundsätzlich stabil und kaum politischen Wandlungen ausgesetzt. Allerdings würden Transitländer dazu tendieren, die energiewaffe einzu‑setzen. Als Belege dafür zitiert die Autorin die ukraine und Belarus, die Westeuropas Versorgung über pipelines mehrfach unterbrochen haben. Deswegen seien multistaat‑liche, langfristige und teure energieexportprojekte heute die üblichen Vertragsformen. Dies sei zugleich ein direktes ergebnis der Lage von einigen exportländern wie Kasachs‑tan, Aserbaidschan und Tschad.

Die Verbindung zwischen dem Drang nach Kontrolle der Öl‑ und energielieferun‑ gen als Ursache für Bürgerkriegs-ähnliche Zustände und zwischenstaatliche Konflikte sei nicht belegt. Vielmehr würde der Drang nach der nutzung zusätzlicher energiequellen zu Grenzkonflikten führen. Die physische Sicherheit des Energiehandels sei verletzlich. Diese These bezieht sich auf Transportwege, vor allem auf die wichtigsten seewege wie die straße von hormus, die straße von Malakka und den Bosporus. Die energieinfra‑struktur sei ferner ein attraktives Ziel für Terroristen geworden. In den wichtigsten ener‑

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gieverbraucher-Märkten seien „Privatisierung und Entflechtung von Energieproduktion, ‑transport und ‑versorgung“ festzustellen, während die energieproduktion in staatshand immer mehr zunähme (5). Dadurch sei ein unebenes spielfeld zwischen produzenten und Verbrauchern entstanden, das es Akteuren wie der russischen gazprom ermögliche, über große Teile der Infrastruktur Kontrolle auszuüben. um die energiesicherheit zu vergrö‑ßern, müssten staaten ihre Importabhängigkeit und ihre strategischen Lager für Öl und gas vergrößern. Allerdings seien dazu nur einige staaten wie die usA oder Deutschland in der Lage.

Die hauptenergieexporteure hätten ein bestimmtes Muster der wirtschaftlichen und politischen entwicklung. Ölexporteure seien staaten mit der höchsten Auslandsverschul‑dung, der geringsten rate an Demokratisierung und dem niedrigsten „level of human development“. Deswegen seien politikinstrumente von westlichen Demokratien für die hauptenergieexporteure nicht anwendbar. Auf die Ausnahme von der regel – norwegen – geht sie jedoch nicht ein. Die Volksrepublik china als größter energieverbraucher und Wettbewerber bei der sicherung von energiequellen im einundzwanzigsten Jahrhundert habe die gleichen Interessen wie die usA. Vielleicht könnte der drohende Klimawandel als Katalysator für den langfristigen Wandel bei der weltweiten Abhängigkeit von fos‑silen energieträgern wirken. Der Klimawandel würde nicht länger als ein Thema von Lebensqualität und umweltschutz betrachtet werden, sondern als ein Thema, das direkt die globale und menschliche Sicherheit beeinflusst.

In einer aktualisierten, zweiten Auflage sollten Standardanforderungen an ein Text‑buch bedacht und ergänzt werden. Dazu zählt ein Tabellen‑ und Abbildungsverzeichnis, das in dieser Ausgabe gänzlich fehlt. Auch wenn Energy Politics insgesamt nur elf Abbil‑dungen enthält, neun Landkarten und zwei Tortengrafiken – und diese auch noch ohne Jahreszahl –, hätten die wichtigsten aktuellen energiedaten für jedes analysierte Land sowie für die Welt bzw. europa aufgenommen werden sollen. eine Zeitreihe, die es dem Leser ermöglichte, entwicklungspfade und Trends sowie ihre nationalstaatlichen Beson‑derheit zu erkennen, würde den gebrauchswert des Buches erheblich steigern, auch wenn es dann vielleicht den doppelten umfang hätte.

Vergleichende Politikforschung

Archer, robin. Why Is There No Labor Party in the United States? princeton und Oxford. Princeton University Press 2007. XVII plus 348 Seiten. 32,99 €.

Jörg Rössel

Im vorliegenden Buch beschäftigt Robin Archer sich mit der Frage, warum es in den usA als einzigem hoch entwickeltem Land keine Arbeiterpartei gibt. Damit knüpft er an klassische problemstellungen an, die spätestens seit Werner sombarts schrift „Warum gibt es in den Vereinigten staaten keinen sozialismus?“ zahlreiche sozialwissenschaftler zu international vergleichenden studien über die usA inspiriert haben. Dabei wurden die Vereinigten Staaten im Kontrast zu den europäischen Ländern häufig durch einen spezi‑fischen Exzeptionalismus charakterisiert, der die Schwäche der Arbeiterbewegung und

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von Arbeiterparteien erklären sollte. Zentrale ursachen, die in der Literatur immer wieder genannt wurden und mehr oder weniger zu Lehrbuchweisheiten geworden sind, sind die frühe einführung des allgemeinen Wahlrechts für weiße Männer, die starke Ausprägung von liberalen und egalitären Wertvorstellungen, die größeren chancen für soziale Mobi‑lität sowie der höhere ökonomische Wohlstand. Die studie von Archer prüft diese und zahlreiche andere Thesen zur erklärung der Abwesenheit einer Arbeiterpartei in den Ver‑einigten staaten systematisch mit einem neuartigen Design.

In einem zentralen, methodischen punkt grenzt die studie von Archer sich von den meisten anderen studien in der Diskussion ab. Bisher wurde diese Fragestellung zumeist in komparativen studien untersucht, die die situation in den usA mit der entwicklung in den europäischen Ländern verglichen haben. Dies ist aus methodologischen gründen höchst problematisch, da sich die Fälle in der regel in so vielen zentralen Merkmalen unterscheiden, dass ein kontrollierter Vergleich kaum möglich ist. Daher führt der Autor im sinne eines „most similar case designs“ in seinem Buch eine systematische kompa‑rative Analyse der usA und Australiens durch, da sich diese beiden angelsächsischen siedlergesellschaften in zahlreichen Merkmalen ähnlich waren. gegen den Vergleich zwischen den Vereinigten staaten und Kanada, wo seit den dreißiger Jahren mit der „cooperative commonwealth Federation“ eine Arbeiterpartei existierte, wendet Archer ein, dass der größte Teil der kanadischen gewerkschaften nur Ableger der us‑amerika‑nischen Arbeiterorganisationen sind, so dass es sich hier um einen Vergleich zwischen zwei stark miteinander verknüpften Fällen handeln würde. Dagegen weisen Australien und die usA zahlreiche gemeinsamkeiten auf und haben sich nur geringfügig gegensei‑tig beeinflusst. Während nun allerdings die australischen Gewerkschaften in den 1890er Jahren eine Arbeiterpartei gegründet haben, haben sich die amerikanischen gewerkschaf‑ten im gleichen Zeitraum nach erbitterten Diskussionen gegen ein solches unterfangen entschieden. In einem systematischen Vergleich prüft Archer nun, ob die in der Litera‑tur genannten Bedingungen für diese entwicklungen sich erstens zwischen den beiden Ländern unterschieden haben und zweitens, über welche kausalen Mechanismen diese ursachen zu den jeweiligen effekten geführt haben.

In seiner studie kann Archer die möglichen ursachen für die Abwesenheit einer Arbeiterpartei in den usA in drei gruppen einteilen: erstens kann er für eine reihe von Bedingungen feststellen, dass sich gar keine unterschiede zwischen den beiden Ländern finden lassen, so dass es sich nicht um kausale Ursachen handeln kann (Wohlstand, Män‑nerwahlrecht, liberale und egalitäre Werte, rassismus, Wahlsystem). Zweitens kann er für einige mögliche ursachen tatsächlich unterschiede zwischen den Vereinigten staa‑ten und Australien ausmachen (präsidentialismus, Föderalismus, unabhängigkeit und gewerkschaftsfeindlichkeit der gerichte in den usA), doch kann er in seinen histori‑schen rekonstruktionen der entscheidungssituationen der gewerkschaften und durch subnationale Vergleiche zeigen, dass diese Bedingungen für die untersuchte Frage nicht relevant waren. schließlich kann Archer auch ursachen festmachen, die die unterschiede zwischen den beiden Ländern erklären können. erstens nennt er die schwäche der Indus‑triegewerkschaften in den usA. Diese Organisationen hatten die stärksten Motive für die gründung von Arbeiterparteien und haben sich in beiden Ländern für eine solche entscheidung eingesetzt. eine zentrale ursache für die weitgehende Zerschlagung dieser Organisationen in den usA sieht der Autor in der sehr viel massiveren repression, die nicht zuletzt darauf zurückzuführen war, dass die eingesetzten Truppen und polizeikräfte

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dort von den Unternehmern zum Teil selbst organisiert und finanziert wurden. Zudem verweist Archer auf die extreme Furcht der amerikanischen gewerkschaftsführer vor internen spaltungen der gewerkschaften entlang religiöser, ideologischer und politischer Konfliktlinien. Diese Besorgnisse waren angesichts der historischen Konstellation in den Vereinigten staaten nachvollziehbar: Die amerikanische Bevölkerung wies schon damals eine besonders starke religiöse Ausrichtung auf, diese war auch für die parteiloyalitä‑ten gegen ende des 19. Jahrhunderts von großer relevanz, zudem waren diese partei‑identifikationen in den Vereinigten Staaten sehr stark ausgeprägt, so dass sie kurzfristig kaum veränderlich schienen. schließlich stellt der Autor als weiteren hintergrund für die Befürchtungen der amerikanischen gewerkschaftsführer das extrem ausgeprägte sozia‑listische und marxistische sektierertum in den Vereinigten staaten dar, das zu erbitterten und kaum überbrückbaren Auseinandersetzungen führte.

Die schwäche der Industriegewerkschaften, repression, religiosität und sozialisti‑sches sektierertum: Das sind die Determinanten für die Abwesenheit einer Arbeiterpartei in den Vereinigten staaten, die Archer in seinem Vergleich mit Australien ausmachen kann und die sicher in der zukünftigen Literatur kritisch diskutiert werden müssen. Der Autor hat eine sorgfältige studie vorgelegt, die ausgesprochen interessante einsichten zu einer wichtigen sozialwissenschaftlichen Fragestellung formuliert. Zumindest an drei stellen könnte man gewisse einwände erheben, die freilich den Wert des Buches in keiner Weise schmälern: erstens scheint mir Archer die Bedeutung der ethnischen heteroge‑nität in den usA zu unterschätzen. Zumindest für den Kohlenbergbau, der bis zu den dreißiger Jahren die einzige überlebensfähige Industriegewerkschaft hervorgebracht hat, kann gezeigt werden, dass gewerkschaftliche Organisationserfolge durch die ethnische heterogenität der Beschäftigten eher behindert wurden. Zweitens ist die alleinige per‑spektive auf die 1890er Jahre natürlich begrenzt, in zahlreichen Ländern wurden Arbei‑terparteien erst später gegründet, und hier könnte man für die usA weitergehend nach den ursachen für das dauerhafte Ausbleiben einer solchen parteigründung fragen. ganz in diesem sinne könnte drittens die Vergleichsperspektive räumlich erweitert werden, indem ein größeres set von ähnlichen siedlergesellschaften betrachtet würde (ergänzend: Kanada, neuseeland), in denen Arbeiterparteien in unterschiedlichen historischen phasen gegründet wurden.

sieberer, ulrich. Parlamente als Wahlorgane. Parlamentarische Wahlbefugnisse und ihre Nutzung in 25 europäischen Demokratien. Baden‑Baden. nomos Verlag 2010. 324 seiten. 39 €.

Annika Hennl und Saskia Pauline Ruth

Die Dissertationsschrift Ulrich Sieberers (universität Mannheim) widmet sich mit der Analyse parlamentarischer Wahlen einem in der Vergleichenden politikwissenschaft bisher stark vernachlässigten gegenstandsbereich und schließt eine Forschungslücke. sie leitet erwartbare effekte parlamentarischer Wahlbefugnisse schlüssig aus einer dele‑ gationstheoretischen Betrachtung ab (Teil I) und leistet über die konsequente Diffe‑renzierung von Institutionen und Akteurspräferenzen eine Integration der perspektiven

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klassischer gewaltenteilung und neoinstitutionalistischer Analyse. Die umfangreichen, gut dokumentierten empirischen Bestandteile der schrift betrachten entsprechend die ins‑titutionelle Ausgestaltung parlamentarischer Wahlbefugnisse in 25 west‑ und osteuropäi‑schen Demokratien (II) und Determinanten des Akteursverhaltens bei Wahlen zu sieben externen Ämtern (III). Insgesamt verbindet der untersuchungsgegenstand die Teile des Buches, nicht eine eingegrenzte Fragestellung. so erscheint die „Logik der Breite“ (85) als credo der gesamten Arbeit und nicht nur der Fallauswahl.

Die delegationstheoretische Auseinandersetzung (I) fokussiert auf das potential parlamentarischer Akteure, über die Besetzung externer Ämter die den parlamentari‑ schen Demokratien inhärente gefahr des Delegationsverlustes zwischen regierung und parlament zu mindern. Dabei dient das Konzept der regierungsbeschränkung der erfassung parlamentarischer Macht und besteht der theoretischen Argumentation ent‑sprechend aus zwei Teilen (74 f.): der parlamentarischen Wahlfreiheit als Maßeinheit institutioneller Machtressourcen (operationalisiert über das recht der Kandidatennomi‑nierung und die zulässige Kandidatenanzahl) sowie der durch die parlamentswahl indu‑zierten präferenz externer Amtsträger (operationalisiert über das Mehrheitserfordernis oder den Abstimmungsmodus). Die Interaktion beider Indizes bemisst das Ausmaß der regierungsbeschränkung.

Sieberers Analyse institutioneller Wahlbefugnisse (II) bringt dann zwei spannende erkenntnisse: Während regierungswahl und ‑abwahl gemäß der delegationstheore‑tischen Annahme substituierbare Facetten von parlamentsmacht darstellen (135), lassen sich insgesamt drei funktional äquivalente und damit voneinander unabhängige Dimen‑sionen parlamentarischer Macht unterscheiden (direkter Einfluss auf Politikinhalte, ex ante‑selektion und ex post‑Kontrolle).

Die Übertragung und erweiterung eines räumlichen Wahlmodells auf parlaments‑wahlen ermöglicht schließlich hypothesen zum Verhalten parlamentarischer Akteure (III). Die empirische Analyse zeigt, dass der Amtsinhaberstatus eines Kandidaten sys‑tematisch positive, und der Wettbewerbsgrad parlamentarischer Wahlen systematisch negative effekte auf den stimmenanteil des siegreichen Kandidaten haben (263). Die politics von parlamentswahlen ähneln in ihrer Dynamik folglich jener besser erforschten Bereiche der Wahlforschung.

Insgesamt bietet das Buch einen fundierten, übersichtlichen einblick in einen wenig beachteten Bereich parlamentarischer Machtbefugnisse. es stellt eine detailliert dokumen‑tierte, neue Datenbasis zum Vergleich europäischer parlamente vor und analysiert diese umfassend. eine notwendige Folge empirischer Breite ist jedoch eine gewisse Beschrän‑kung der analytischen Tiefe. so erscheint das potential der postulierten Anknüpfung an die empirische Demokratieforschung (52) nicht vollends ausgeschöpft. Wir möchten dies an zwei Beispielen verdeutlichen. erstens erfassen die entwickelten Indikatoren der regierungsbeschränkung das theoretische Konzept nicht vollends und sind mit Blick auf die Übertragbarkeit auf die Regierungswahl zumindest in begrifflicher Hinsicht proble- matisch. so ergibt sich eine Beschränkung der regierung laut Sieberer genau dann, wenn ressourcenstarke externe Amtsträger „mit von der regierung abweichenden präferenzen“ (53) existieren. Die erforderliche Betrachtung der Amtsträgerpräferenzen relativ zu denen der regierung wird in der Indikatorenbildung jedoch nicht explizit umgesetzt: Bei dem Indikator regierungsbeschränkung I interagiert die parlamentarische Wahlfreiheit

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(effektstärke) mit dem Mehrheitserfordernis der Amtsträgerwahl als Messgröße für die zur Wirkung gelangte parlamentspräferenz. Die richtung des effektes wird folglich abso‑lut und nicht relativ zur regierungspräferenz betrachtet, wenngleich der Autor implizit eine mit relativer Mehrheit gewählte regierung als Bezugspunkt setzt. Dieses Verfahren wird dem theoretischen Konzept angesichts der eindrucksvoll dokumentierten Varianz der Bestellverfahren von regierungen (118 f.) nicht hinreichend gerecht. Vielmehr hätte etwa die unterschiedlichkeit dieser Verfahren relativ zu jenen der Bestellung externer Amtsträger als Messgröße der Anreizdimension dienen können; ein Vorgehen, das auf grundlage der geschaffenen Datenbanken ohne größeren Aufwand umzusetzen gewesen wäre. Alternativ könnte die gefahr eines bias auch empirisch eingedämmt werden, etwa über die Kontrolle des Koalitionstypus.

Mit dem Koalitionstypus rückt, zweitens, die Frage nach der allgemeinen Konsens‑neigung einer Demokratie in den Vordergrund. Die empirische Demokratieforschung zeigt, dass sich demokratische systeme, deren institutionelles gesamtarrangement einen starken Verhandlungscharakter aufweist, hinsichtlich ihrer effekte systematisch von sol‑chen mit majoritär geprägten Arrangements unterscheiden. Wiederkehrende Verhandlungs‑situationen schaffen Vertrauen und ermöglichen paketlösungen, so dass sich auch bei stark divergierenden Akteurspräferenzen einigungen beobachten lassen. Berücksichtigt man, dass 84 (von 100) der in Teil III untersuchten Wahlen gemäß der ersten Lijphartschen Dimension in Konsensusdemokratien stattfanden, erscheint das „überraschendste ergeb‑nis“ (252) der untersuchung – der positive effekt ideologischer polarisierung des parla‑ments auf den stimmenanteil des siegers – weniger verwunderlich.

Alles in allem bietet das Buch vielfältige Anknüpfungspunkte zur weiteren entwick‑lung des Forschungsbereiches. so verweist Sieberer selbst auf die aus einer institutional design- Perspektive interessante Identifikation der Dimensionalität von Parlamentsmacht. hier wäre unseres erachtens eine eingehendere Betrachtung des Zusammenhangs von ex ante‑ und ex post‑Befugnissen wünschenswert. Die grundlage ist gelegt.

Europäische Union

Böttger, Katrin. Die Entstehung und Entwicklung der europäischen Nachbarschaftspolitik. Akteure und Koalitionen. europäische schriften 87. Baden‑Baden. nomos Verlag 2010. 200 Seiten. 29 €.

Eva-Maria Maggi

Katrin Böttger macht in ihrem Buch deutlich, dass nicht nur Koalitionen von intergou‑vernementalen Akteuren eine wichtige rolle in der politikformulierung der europäischen union (eu) spielen, sondern dass ein netzwerk unterschiedlicher Akteure die gestaltung der europäischen nachbarschaftspolitik (enp) gegenüber den osteuropäischen staaten beeinflusst hat.

Die Autorin analysiert, welche strategien die politischen und gesellschaftlichen Akteure im entstehungsprozess der enp gegenüber den osteuropäischen staaten ver‑folgten und welche Koalitionen sie bildeten, um ihre Ziele zu erreichen. Zur Analyse

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der strategien und Ziele der beteiligten Akteure sowie deren Koalitionsbildung wird der theoretische rahmen des „Advocacy coalition Framework“ (AcF, Jenkins‑smith/saba‑tier 1993) erstmalig auf einen Außenpolitikbereich der eu angewendet. Der AcF besagt, dass handlungsleitende Orientierungen (belief systems) rationales handeln von Akteuren beeinflussen. Mit diesem Ansatz wird der komplexe policy-making-Prozess im EU-Ent‑scheidungsgefüge in einem von verschiedenen Akteuren geprägten politikfeld präzise dar‑ gestellt und erklärt. Das hauptargument des Buches ist, dass die enp nicht in einem rein intergouvernementalen Aushandlungsprozess entstanden ist, sondern durch eine Vielzahl gesellschaftlicher Akteure mitgestaltet wurde, wobei die europäische Kommis‑ sion zwischen zwei Akteurskoalitionen, der mittelosteuropäischen (MOe) und der Mit‑telmeer‑Koalition, vermittelte und dadurch die entwicklung der enp maßgeblich geprägt hat. Die vorliegende Analyse bietet damit nicht nur neue erkenntnisse für die eu‑ Integrationsforschung, sondern leistet ebenso einen Beitrag zur konzeptionellen Weiter‑ entwicklung des AcF.

Der Beitrag des Buches für die eu‑Integrationsforschung lässt sich in zwei hauptas‑pekten zusammenfassen. erstens wirft die Analyse ein neues Licht auf den entstehungs‑prozess der enp. Demnach waren zwei Akteurskoalitionen und ein policy‑Vermittler maßgeblich für die Ausgestaltung der enp verantwortlich: die MOe‑Koalition, bestehend aus den 2004 der eu beigetretenen MOe‑Mitgliedstaaten sowie Österreich, schweden und Deutschland, der ukraine und Moldau als nachbarstaaten, den Abgeordneten des europäischen parlamentes aus den genannten staaten und zivilgesellschaftlichen Akteu‑ren aus den nachbarstaaten. Die MOe‑Koalition verfolgte das Ziel, die nachbarländer durch Anreize zu einem Demokratisierungs‑ und Transformationsprozess zu bewegen und favorisierte dabei die Mechanismen des Beitrittprozesses. Im Interesse der Mittel‑meer‑Koalition, bestehend aus den südeuropäischen Mitgliedstaaten, den Benelux‑staa‑ten und Abgeordneten des europäischen parlamentes dieser Länder, lag es hingegen, die eu‑nachbarstaaten in unterschiedlicher Intensität an die eu zu binden. Dabei handelten die Akteure überraschenderweise nicht ausschließlich nach ihren nationalen Interessen, sondern durchaus, wie im Falle Deutschlands, im sinne der eu‑Integration. Für die euro‑päische Kommission stand als policy‑Vermittler das gesamteuropäische Interesse im Vordergrund, das im Verlauf des entstehungsprozesses in die Ausgestaltung der enp ein‑geflossen ist. Zweitens wird in der Analyse deutlich, wie das Spannungsfeld zwischen Ver‑tiefung und erweiterung den entstehungsprozess eines neuen eu‑(Außen‑)politikfeldes maßgeblich prägt. Dabei sind sich die Akteure über die rolle der eu als Ordnungsmacht in der nachbarschaft einig, jedoch nicht über die anzuwendenden Mechanismen.

Inwieweit diese uneinigkeiten langfristiger natur sind, kann durch den AcF nicht ausreichend erklärt werden: Lernprozesse, die einen Kern des analytischen Konzeptes darstellen, sind nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb der Koalitionen empirisch schwer nachweisbar. Die beteiligten Akteure, so ein ergebnis der Analyse, gehen Alli‑anzen aufgrund strategischer Überlegungen ein, gemeinsame Werte und normen müssen bei der Koalitionsbildung nicht maßgeblich sein. Anstelle langwieriger Lernprozesse, so scheint es, sind kurzfristige strategische Kalkulationen bei der Koalitionsbildung ent‑scheidend. Insgesamt zeigt die untersuchung von Frau Böttger jedoch, dass der AcF ent‑wicklungsprozesse und Konfliktkonstellationen in der EU überzeugend erklären kann. So konnten zum Beispiel durch den breiten Akteurbegriffes des AcF sehr unterschiedliche

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politische wie gesellschaftliche Akteure in die Analyse einbezogen werden. ein Aspekt, durch den die vorliegende Analyse an erklärungskraft gewinnt.

Insgesamt handelt es sich bei dem hier diskutierten Buch um eine empfehlenswerte untersuchung des entstehungsprozesses der enp gegenüber den osteuropäischen staa‑ten. es werden nicht nur wichtige erkenntnisse über die Funktionsweise des eu‑ent‑scheidungsgefüge und für die europäische Integrationsforschung geliefert, sondern auch die Möglichkeiten und grenzen des AcF für die Analyse des eu policy‑making‑prozes‑ses aufgezeigt.

von Komorowski, Alexis. Demokratieprinzip und Europäische Union. Staatsverfassun- gsrechtliche Anforderungen an die demokratische Legitimation der EG-Normsetzung. Berlin. Duncker und Humblot 2010. 1371 Seiten. 168 €.

Daniel Göler

Alexis von Komorowski befasst sich mit einem seit dem Vertrag von Maastricht zuneh‑mend diskutierten Kernproblem der europäischen Integration, nämlich der demokratischen Legitimation europäischer rechtsetzung. Ausgehend von einem Zitat ralf Dahrendorfs, der in den 70er Jahren den eindruck gewann, dass unter den Kommissionsmitgliedern bei Diskussionen über Legitimationsfragen einer „an die union der europäischen Föderalis‑ten [dachte], ein anderer an seine eigene staatsregierung und ein dritter […] sich mit Leib und seele bestimmten streng rationalen normen […] also im besten sinne der Techno‑kratie“ verschrieben hatte (54), nähert sich von Komorowski den unterschiedlichen Legi‑timationsmodellen aus staatsverfassungsrechtlicher perspektive. Für seine untersuchung greift er auf einen Legitimationsbegriff zurück, der Legitimation als demokratische Lega‑lität sozialer Machtentfaltung versteht. entsprechend sieht er die Volkssouveränität als den ideellen Kern eines zu entwerfenden EU-spezifischen Legitimationsmodells (61).

Den analytischen rahmen seiner untersuchung bildet die rechts‑, Demokratie‑ und souveränitätskonzeption hermann hellers, mit deren hilfe er drei unterschiedliche Legi‑timationsmodelle herausarbeitet: Das erste führt die Legitimität von eu‑hoheitsakten auf den durch die regierungen vermittelten Willen der einzelnen staatsvölker zurück, das zweite postuliert eine technokratische Legitimation, welche eu‑rechtsakte als konkre‑tisierende Ausführung des von den staatsvölkern sanktionierten primärrechts betrachtet, und das dritte Modell legitimiert europäische rechtsakte durch rückbindung der poli‑tischen entscheidungen an einen europäischen Demos (168). Da von Komorowski als rechtsakte ausschließlich richtlinien und Verordnungen betrachtet, klammert er aller‑dings Formen wie die offene Methode der Koordinierung oder die – aufgrund entspre‑chender souveränitätsvorbehalte entwickelten – besonderen Beschlussfassungsverfahren im rahmen der gemeinsamen sicherheits‑ und Verteidigungspolitik aus, welche gerade für die Legitimations‑ und Demokratieproblematik in jüngster Zeit intensiv diskutiert wurden.

In seiner eigentlichen empirischen untersuchung setzt sich von Komorowski zunächst mit dem Konzept der Volkssouveränität in einem transnationalen politischen gebilde wie der eu auseinander, wobei er insbesondere die problematik des Verhältnisses zwi‑

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schen staats‑ und Volkssouveränität durchdringt. hiervon ausgehend wendet er sich den grundgesetzlichen Demokratievorgaben für die europäische rechtsetzung zu und arbeitet das in Art. 20.1 gg (in Verbindung mit der ewigkeitsklausel in Art. 79.3 gg) und Art. 23 gg grundgelegte gebotene niveau für die demokratische Legitimation euro‑päischer Normsetzung heraus, um auf dieser Basis die EU-spezifischen Legitimations‑modelle zu beleuchten. hierbei unterscheidet er zwischen dem Modell der mittelbaren demokratischen Legitimation, dem Modell des Zweckverbandes funktionaler Integration und dem Modell der doppelten Legitimationsbasis, die er sowohl ausführlich beschreibt als auch hinsichtlich ihrer demokratischen Defizite problematisiert. Abschließend gibt von Komorowski einen Ausblick auf die Beschränkungen, welche das grundgesetzlich verbürgte prinzip der Volkssouveränität der Bundesrepublik bei der weiteren Vertiefung des Integrationsprozesses auferlegt. gerade hier ist es bedauerlich, dass der Verfasser sein Manuskript im Juni 2009 abgeschlossen und damit das Lissabon‑urteil des Bundes‑verfassungsgerichts vom 30. Juni 2009, das viele der von ihm angesprochenen Aspekte thematisiert, nicht mehr in seine Arbeit einbezogen hat.

Die konkrete Analyse der mit diesen Legitimationsmodellen zusammenhängenden probleme beschränkt sich praktisch ausschließlich auf den rechtswissenschaftlichen Dis‑kurs in Deutschland, was sowohl im hinblick auf den gesamteuropäischen erklärungs‑anspruch der von ihm herausgearbeiteten Legitimationsmodelle als auch hinsichtlich der durch den Titel des Buches geweckten erwartungen nicht unproblematisch ist. Aber auch für die engere deutsche Debatte und vor allem für die in der studie herausgearbeite‑ten rechtlichen schranken einer weiteren Integrationsvertiefung wäre ein Blick auf die rechts‑ und verfassungsdogmatischen Überlegungen in anderen Ländern gewinnbringend gewesen, zumal von Komorowski selbst darauf hinweist, dass „die nationale Verfassungs‑rechtsordnung nicht als gegenüber anderen rechtsordnungen abgeschottetes rechtssys‑tem begriffen werden kann“ (155). Zwar beinhaltet die studie ein eigenes Kapitel zu der „verfassungsrechtliche[n] Debatte in anderen eu‑Mitgliedstaaten“ (162–166), das allerdings zu verkürzend ist und zentrale rechtswissenschaftliche Diskurse in anderen Mitgliedstaaten ausklammert, insbesondere in den mittel‑ und osteuropäischen Ländern.

Für den deutschen rechtswissenschaftlichen Diskurs kann die studie als eine detail‑lierte und intensive Auseinandersetzung mit den staatsrechtlichen Anforderungen an die demokratische Legitimation europäischer normsetzung betrachtet werden. Vor allem die Zusammenführung und systematisierung unterschiedlicher Ansätze und Argumen‑tationsstränge stellen einen Mehrwert für die wissenschaftliche Debatte dar. Allerdings wäre gerade in der grundsätzlichen Auseinandersetzung mit Fragen von Legitimation, Volkssouveränität und Demokratie eine einbeziehung der in der politikwissenschaft und der politischen Theorie geführten demokratietheoretischen Diskussionen gewinn‑bringend gewesen. Diese klammert von Komorowski bewusst aus mit der Begründung, dass die „rekonstruktion der europäischen Demokratieanforderungen […] dem Juristen […] leichter fallen [dürfte] als dem politikwissenschaftler. Während dieser dazu nämlich im Trüben unzähliger Demokratietheorien fischen muss, kann und muss jener auf die relevanten positivrechtlichen Ausformungen der Demokratienorm zurückgreifen.“ (55 f.) Inwieweit die von Alexis von Komorowski analysierten positivrechtlichen Ausformun‑gen der Demokratienorm im deutschen grundgesetz für die Weiterentwicklung der euro‑päischen polity aber wirklich relevant sind, bleibt abzuwarten, zumal die Vergangenheit

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wiederholt gezeigt hat, dass europäische normen auch die deutsche rechtsordnung zu Anpassungen zwingen können.

Internationale Politik

grimm, sonja. Erzwungene Demokratie. Politische Neuordnung nach militärischer Intervention unter externer Aufsicht. Baden‑Baden. nomos Verlag 2010. 420 seiten. 69 €.

David Kühn

Lassen sich Demokratie und rechtsstaatlichkeit erzwingen? In ihrer nun veröffentlich‑ten promotionsschrift, die 2008 an der Berliner humboldt‑universität eingereicht wurde, geht Sonja Grimm dieser Frage nach. um sie zu beantworten, führt die Autorin drei bis‑lang unverbundene Forschungsstränge zusammen: Völkerrecht und Moralphilosophie zu Fragen der Legalität und Legitimität militärischer Intervention, politikwissenschaftliche Transformationsforschung zu den Bedingungen und prozessen demokratischer system‑wechsel, sowie die Forschung zu den erfolgsaussichten des staatsaufbaus in nachkriegs‑gesellschaften. Grimm kommt dabei zu einem ernüchternden Befund: Zwar sei eine extern induzierte Demokratisierung prinzipiell möglich; die der gewaltsamen Interven‑tion inhärenten Dilemmata seien jedoch so schwer wiegend, dass ein scheitern derartiger projekte sehr viel wahrscheinlicher sei als ihr erfolgreicher Abschluss. Dies führt die Autorin erstens auf die probleme der völkerrechtlichen Legalität und der moralischen Legitimation derartiger externer regimewechselversuche zurück. so gebe es im Völker‑recht keine allgemein akzeptierten standards eines „ius post bellum“, auf denen externe Demokratisierer ihre gewaltsam durchgesetzten politischen reformprojekte begründen könnten. Legal seien demokratische Interventionen also nach gegenwärtigem stand des Völkerrechts nicht. Allerdings leitet Grimm aus rechtlichen und moralphilosophischen Überlegungen die These ab, dass ein politischer regimeaufbau unter externer Aufsicht dann legitim sei, wenn er sich an eine humanitäre Intervention anschließe und mit hin‑länglich großer erfolgswahrscheinlichkeit zur „nachhaltige[n] etablierung rechtsstaat‑licher und demokratischer strukturen“ führe (69). gleichzeitig könnten ausbleibende entwicklungs‑ und Befriedungserfolge die Legitimität der Intervention jedoch schnell untergraben und zu Widerstand gegen die politischen reformbemühungen führen (57). Zweitens argumentiert Grimm auf grundlage der vergleichenden Transformationsfor‑schung, dass gerade extern induzierte Demokratisierungsversuche durch eine Vielzahl struktureller hindernisse erschwert würden, die sich etwa aus dem sozio‑ökonomischen entwicklungsstand, mangelnder staatlichkeit oder der einbettung in demokratiefeind‑liche regionale Kontexte ergeben (80–98). Aus diesen rechtlich‑moralischen und trans‑formationstheoretischen Überlegungen leitet die Autorin vier grundsätzliche Dilemmata ab, die sich für die erzwungene Demokratisierung ergeben: das „Dilemma der benevo‑lenten Intervention“, das sich aus dem Widerspruch von gewaltsamem einmarsch und demokratischer Zielstellung ergibt; das „Dilemma der ungleichzeitigen gleichzeitigkeit“, das die zeitliche und funktionale Mehrdimensionalität der restrukturierungs‑ und Ins‑

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titutionalisierungsanstrengungen beschreibt; das „Dilemma der sich radikalisierenden Demokratisierung“, durch welches die Öffnung des politischen Wettbewerbs zur pola‑risierung der politischen Akteure führt; sowie das „Dilemma der erzwungenen Koopera‑tion“, aufgrund dessen zahlreiche inner‑ und außerstaatliche Vetoakteure entstehen, was die Vertiefung und Konsolidierung der jungen Demokratie behindern könnte (118–126). Diese Dilemmata seien der demokratischen Intervention inhärent und stellten profunde herausforderungen für die neugestaltung des politischen systems dar, die sich nur durch lang andauerndes und mit immensen Kosten verbundenes internationales engagement bearbeiten ließen. Die Überzeugungskraft ihrer theoretischen Argumente belegt die Autorin anschließend mit einer umfassenden empirischen Analyse internationaler Inter‑ventionen. Dabei hält sie nach einer ersten quantitativen Bilanzierung fest, dass nur sie‑ben der insgesamt 27 „demokratischen Interventionen“ nach 1945 als „uneingeschränkt erfolgreich“ einzuschätzen seien (179). Anhand von fünf qualitativen einzelfallstudien (Bosnien‑herzegowina, Kosovo, Afghanistan, Irak und Deutschland nach 1945) bestätigt Grimm anschließend ihre theoretischen Überlegungen: Die mehrschichtigen herausfor‑derungen stellten in allen Fällen wirkungsmächtige hürden für gelungene und dauerhafte neuordnungen des politischen systems dar. einzig in Deutschland sei es – aufgrund der besonderen Bedingungen der demokratischen Intervention nach dem Zweiten Weltkrieg – gelungen, eine sich langfristig konsolidierende Demokratie zu etablieren.

Mit „erzwungene Demokratie“ hat die Autorin einen wichtigen Beitrag zur politik‑wissenschaftlichen untersuchung internationaler Interventionen vorgelegt. sie verknüpft systematisch das positiv‑sozialwissenschaftliche erkenntnisinteresse nach den struktu‑rellen und handlungsorientierten grenzen und Möglichkeiten erfolgreicher Demokrati‑sierung „von außen“ mit der normativen Frage, unter welchen Bedingungen derartige Interventionen gerechtfertigt sind. Dabei gelingt es der Autorin, die vielfältig miteinan‑der verknüpften problemfelder extern induzierter regimewechsel aufzubrechen und in ein kohärentes, theoretisch stringent hergeleitetes Analyseraster zu übersetzen. Auch der empirische Teil überzeugt: Grimm diskutiert auf beeindruckender Datenbasis die prozesse und ergebnisse jüngerer systemwechselversuche und belegt damit nicht nur die analy‑tische Brauchbarkeit ihres theoretisch‑konzeptionellen rahmens. Vielmehr entlarven die Vergleiche der „demokratischen Interventionen“ in Afghanistan 2001 und im Irak 2003 mit der neuordnung Deutschlands nach 1945 die unzulänglichkeit naiver, historischer Analogieschlüsse und implizieren den Aufruf zur stärkeren Berücksichtigung sozialwis‑senschaftlicher erkenntnisse in der praktischen politik. praktiker werden jedoch abge‑schreckt sein durch die für Qualifikationsarbeiten typische, umfangreiche theoretische Diskussion in den ersten beiden Kapiteln. Entsprechend detailliert fallen die Reflexion des Forschungsstandes und die Ableitung des analytischen rasters aus. Auch übersetzt die Autorin ihre ausgewiesene Fähigkeit zur analytischen strukturierung teilweise in Kategorisierungsbemühungen, deren Folgen für die weitere theoretische Argumentation und empirische Analyse nicht unmittelbar ersichtlich sind. so bleibt etwa die Bedeutung der an sich überzeugenden unterscheidung von Typen internationaler Interventionen und Formen externer Demokratisierungsbemühungen für die weitere Analyse unklar (35 f.). Damit verschwimmen aber auch die möglichen kausalen schlussfolgerungen, die sich aus den jeweiligen Interventions‑ und Beaufsichtigungsmodi für die erfolgswahrschein‑lichkeit einer Intervention ableiten lassen.

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Dessen ungeachtet: Mit ihrer Monographie hat Grimm einen innovativen Beitrag zur Transformationsforschung vorgelegt. Die detaillierte Darstellung des Forschungsstands, das Niveau der theoretischen Reflexion, die Dichte der empirischen Beschreibung und nicht zuletzt der politikpraktische erkenntniswert machen „erzwungene Demokratie“ zu einer unverzichtbaren Lektüre zu diesem Thema.

Autorenverzeichnis

Gebhardt, Richard, rWTh Aachen, Institut für politische Wissenschaft, Ahornstr.55, 52074 Aachen, [email protected]‑aachen.de.

Glantz, Alexander, Otto‑Friedrich‑universität Bamberg, Lehrstuhl für politische soziologie, Feld‑kirchenstraße 21, 96045 Bamberg, alexander.glantz@uni‑bamberg.de.

Göler, Daniel, Prof. Dr., Universität Passau, Professur für European Studies, Dr.-Hans-Kapfinger-straße 14 94032 passau, Daniel.goeler@uni‑passau.de.

Hegewisch, Niels, universität greifswald, historisches Institut, Bahnhofstr. 51, 17487 greifswald, niels.hegewisch@uni‑greifswald.de.

Hennl, Annika, universität zu Köln, Institut für politische Wissenschaft und europäische Fragen, gottfried‑Keller‑str. 6, 50931 Köln, annika.hennl@uni‑koeln.de.

Heyer, Andreas, Dr., Technische universiät Braunschweig, Institut für sozialwissenschaften, glies‑maroder str. 1, 38106, Braunschweig, [email protected].

Hofmann, Birgit, reiterstraße 26, 79100 Freiburg, [email protected]‑freiburg.de.Kühn, David, ruprecht‑Karls‑universität heidelberg, Institut für politische Wissenschaft, Berghei‑

mer str. 58, 69115 heidelberg, kuehn@uni‑heidelberg.de.Maggi, Eva-Maria, helmut‑schmidt universität hamburg, Institut für Internationale politik, hols‑

tenhofweg 85, 22043 hamburg, eva.maggi@hsu‑hh.de.Ruth, Saskia Pauline, universität zu Köln, Institut für politische Wissenschaft und europäische

Fragen, gottfried‑Keller‑str. 6, 50931 Köln, saskia.ruth@uni‑koeln.de.Mez, Lutz, pD Dr., Freie universität Berlin, Interdisziplinäres Zentrum „Berlin centre for caspian

region studies“, Ihnestr. 22, 14195 Berlin, lutz.mez@fu‑berlin.de.Priddat, Birger P., prof. Dr., universität Witten/herdecke, Lehrstuhl für politische Ökonomie, Alf‑

red‑herrhausen‑straße 50, 58448 Witten, Birger.priddat@uni‑wh.de.Rössel, Jörg, prof. Dr., universität Zürich, soziologisches Institut, Andreasstrasse 15, 8050 Zürich,

[email protected].