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in: Widerspruch Nr. 24 Gewalt und Zivilisation (1993), S. 114- 133 Neuerscheinungen Rezensionen Besprechungen Neuerscheinungen Zygmunt Bauman Dialektik der Ordnung. Die Mo- derne und der Holocaust (aus dem Englischen übersetzt von Uwe Ahrens), Hamburg 1992 (EVA), 253 S., geb., 48.- DM. Zygmunt Bauman: Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit (aus dem Englischen übersetzt von Martin Suhr), Hamburg 1992 (Junius- Verlag), 383 S., geb., 58.- DM. Zygmunt Bauman: Intimations of Postmodernity, London und New York 1992 (Routledge), 232 S., brosch., ca. 30.- DM. Diese drei Bücher verbindet eines: ihr Autor ist derselbe, nmlich der in Leeds/Grobritannien lehrende So- ziologie Zygmunt Bauman, der, ob- wohl Jahrgang 1925, im deutschspra- chigen Raum noch fast unbekannt ist. Eine Werkübersicht bieten diese drei Bnde nicht, und das liegt am Materi- al. Natürlich gibt es systematische Fragestellungen und grundstzliche Probleme, die in allen drei Büchern verfolgt werden. Doch sind es die un- terschiedlichen, zum Teil diametral- entgegengesetzten, zum Teil einfach verwirrenden Antworten, die den Eindruck erwecken, als htte Bauman seine Frage nach der Postmoderne in der Soziologie selbst postmodern be- antwortet. Er produziert theoretische Beliebigkeit und diese Beliebigkeit lt eine ganze Bandbreite der Beur- teilung seiner Schriften zu. Einerseits liefert die Dialektik der Ordnung zwar einen Beitrag zur Totalitarismusfor- schung und schliet mit seiner Analy- se des Verhltnisses von Moderne und Nationalsozialismus gerade in der Soziologie eine Lücke. Andererseits verlieren die genauen und scharfen Analysen in Moderne und Ambiva- lenz aber insofern an Konsistenz, als in einem diffusen Modell postmoder- ner Toleranz Zuflucht gesucht wird. Dessen Mglichkeit, die eben noch

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in: Widerspruch Nr. 24 Gewalt und Zivilisation (1993), S. 114-133 Neuerscheinungen Rezensionen

Besprechungen Neuerscheinungen

Zygmunt Bauman Dialektik der Ordnung. Die Mo-derne und der Holocaust (aus dem Englischen übersetzt von Uwe Ahrens), Hamburg 1992 (EVA), 253 S., geb., 48.- DM. Zygmunt Bauman: Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit (aus dem Englischen übersetzt von Martin Suhr), Hamburg 1992 (Junius-Verlag), 383 S., geb., 58.- DM. Zygmunt Bauman: Intimations of Postmodernity, London und New York 1992 (Routledge), 232 S., brosch., ca. 30.- DM. Diese drei Bücher verbindet eines: ihr Autor ist derselbe, nämlich der in Leeds/Großbritannien lehrende So-ziologie Zygmunt Bauman, der, ob-wohl Jahrgang 1925, im deutschspra-chigen Raum noch fast unbekannt ist. Eine Werkübersicht bieten diese drei

Bände nicht, und das liegt am Materi-al. Natürlich gibt es systematische Fragestellungen und grundsätzliche Probleme, die in allen drei Büchern verfolgt werden. Doch sind es die un-terschiedlichen, zum Teil diametral-entgegengesetzten, zum Teil einfach verwirrenden Antworten, die den Eindruck erwecken, als hätte Bauman seine Frage nach der Postmoderne in der Soziologie selbst postmodern be-antwortet. Er produziert theoretische Beliebigkeit und diese Beliebigkeit läßt eine ganze Bandbreite der Beur-teilung seiner Schriften zu. Einerseits liefert die Dialektik der Ordnung zwar einen Beitrag zur Totalitarismusfor-schung und schließt mit seiner Analy-se des Verhältnisses von Moderne und Nationalsozialismus gerade in der Soziologie eine Lücke. Andererseits verlieren die genauen und scharfen Analysen in Moderne und Ambiva-lenz aber insofern an Konsistenz, als in einem diffusen Modell postmoder-ner Toleranz Zuflucht gesucht wird. Dessen Möglichkeit, die eben noch

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durch die Analyse bündig widerlegt wurde, stellt sich beim genaueren Be-trachten selbst als Bestandteil der von Bauman verdammten Moderne her-aus. Intimations of Postmodernity läßt sich als eine Art Biografie entschlüsseln, die die Widersprüchlichkeit und Zerris-senheit in Baumans Büchern erklärbar macht. In einem Interview wird er ge-fragt, ob er mit der Zuordnung zu ei-nem humanistischen Marxismus ein-verstanden wäre. Seine Antwort: �I would rather look for subjective cate-gories ... which provide the frame-work for my own research, but which do not necessarily overlap theory, humanistic Marxism, and so forth� (205). Die Entwicklungsgeschichte seiner theoretischen Grundlagen wür-den mit Hegel beginnen, über Gramsci, bis hin zu Simmel führen. Simmel sei für ihn der Ausgangs-punkt des postmodernen Toleranz- und Vielfältigkeitsmodells, gleichzeitig aber auch Initial für eine Abkehr vom Marxismus. Mit dem Zusammen-bruch des realen Sozialismus in Ost-europa wurde diese Abkehr noch ver-stärkt. �I think that people who cele-brate the collapse of communism, as I do, ... celebrate the end of modernity actually, because what collapsed was the most decisive attempt to make modernity work� (222). Es entsteht damit ein Weltbild, welches die Mo-derne und den Kommunismus auf der einen Seite und die Postmoderne auf der anderen Seite verortet. Öko-nomie, im Marxismus einst die Basis, wird zum nebensächlichen Problem, das aber auch in Zeiten der Postmo-

derne noch nicht aus der Welt ist. Den gesellschaftlichen Wandel von der Moderne zur Postmoderne be-rühren die Produktionsverhältnisse schon deshalb bloß peripher, weil der Wandel selbst nicht wirklich materiell und eigentlich auch nicht historisch ist. Zumindest scheint es bisweilen so, als messe Bauman seine soziologi-schen Diagnosen nur am Stand des Bewußtseins, statt an der gesellschaft-lichen Totalität. Für sein eigenes Fach formuliert er: �If postmodernity means what the current concepts im-ply: a reform of culture, of world-perception, of the intellectual stance - then sociology faces the task of an es-sentially strategial adjustment� (26). Und er bemüht sich mit dieser Auf-satzsammlung um eine postmoderne Soziologie wie auch um eine Soziolo-gie der Postmoderne, um das Denken an der postmodernen Kultur auszu-richten, obwohl schon im ersten Auf-satz des Buches gezeigt wird, wie �culture as the ideology of intellectu-als� funktioniert. Die Stellung des Intellektuellen im Wandel zwischen Moderne und Post-moderne ist auch Thema von Moder-ne und Ambivalenz. Hier heißt es: �Die freien Intellektuellen von früher verwandelten sich in Universi-tätslehrer, Regierungsberater, Exper-ten und Funktionäre der Kriegs- und Wohlfahrtsbürokratien� (119). Der Geist der Moderne ist die gärtneri-sche Ambition, das Unkraut zu ver-nichten, Unordnung durch Ordnung zu ersetzen und mit einer gesetzge-benden, planenden Vernunft die Welt noch einmal zu bauen. Dieser Geist

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der Moderne findet seinen Ausdruck schließlich in der planvollen Massen-vernichtung, an der sich die deut-schen Forscher als Wissenschaftler, nicht als Unmenschen beteiligten. Der Intellektuelle wurde in der Mo-derne zum Handlanger der Angst vor dem Ambivalenten und dem Frem-den. Die Dialektik der Ordnung liest sich dazu wie die soziologische Fun-dierung dieser These, etwa wenn an der �Einzigartigkeit und Normalität des Holocaust� (98ff.) die �Züge ei-nes Paradigmas moderner bürokrati-scher Rationalität� (164) herausgear-beitet werden. Solange die Moderne weiterhin mit dem Maßstab fort-schreitender Rationalisierung operiert, dessen Ergebnis eben auch Ausch-witz war, erfährt die Banalität des Bö-sen keinen Bruch. Immer wieder un-terzieht Bauman sein eigenes Fach ei-ner Selbstkritik: �Man kan sich in unserem beruflichen Alltag recht gut ohne die Herausforderung Holocaust einrichten. Der soziologische Berufs-stand hat den Holocaust nahezu ver-gessen oder an �Spezialgebiete� dele-giert, von wo aus kein Einbrechen in die laufende wissenschaftliche Dis-kussion droht� (25). Nach solcher grundlegenden, radika-len Kritik der Moderne, erstaunt es, wie Bauman sich einen Ausweg frei-legt. Dieselben gesellschaftlichen Ver-hältnisse werden einfach unter ein anderes Vorzeichen gestellt. Was e-ben noch unter den Bedingungen moderner Ordnungs- und Planungs-rationalität ausweglos schien, ist nun durch postmoderne Ambivalenz und Toleranz rettbar. �Die Postmoderne

ist die Moderne, die mit ihrer eigenen Unmöglichkeit versöhnt ist - und um jeden Preis entschlossen ist, damit zu leben� (127), heißt es in Moderne und Ambivalenz. Diese Versöhnung ist aber erschlichen, wenn sie mehr be-deuten soll, als ein Sich-Abfinden mit den Zuständen. Und Bauman ver-steht es, den Leser noch einmal gehö-rig zu verwirren, wenn wider Erwar-ten die Postmoderne doch von den Hinterlassenschaften der Moderne eingeholt wird. �Toleranz, die von der vom Markt gelenkten Postmoderne praktiziert wird, degeneriert zu Entfremdung� (336). Nehmen wir Bauman vielleicht ein-fach beim Wort, daß die �Postmo-derne das Zeitalter der Kontingenz für sich� (301) sei. Für die Theorie heißt das wohl, daß sie sich auch dem Prinzip des Zufalls überläßt, mal ex-plizite Gegenwartsdiagnose ist, dann wieder gehaltlose Plänkelei um Worte. �Wie alles andere ist sie zu einer der Stützen in dem Postmoderne genann-ten Spiel geworden� (343), wie - zu-gegeben: aus dem Zusammenhang gerissen - kommentiert werden könn-te. Und dennoch bleibt nach dem Le-sen der knapp neunhundert Seiten der rezensierten Texte das Unbeha-gen, Bauman mit diesem Urteil nicht gerecht geworden zu sein.

Roger Behrens Gilles Deleuze Differenz und Wiederholung München 1992 (Wilhelm Fink), kart., 408 S., 58.- DM.

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Gleich in der Einleitung des 1969 im französischen Original erschienenen Buchs �Differenz und Wiederho-lung� betont Gilles Deleuze die Wichtigkeit des Singulären für die Wiederholung. Wenig später wieder-holt er dasselbe für die Differenz. Beide Begriffe drücken für Deleuze vor allem etwas Nicht-Allgemeines aus, und damit ist etwas angespro-chen, was der 1925 geborene Philo-soph in seinem späteren Werk (zu ei-nem Großteil zusammen mit F�lix Guattari geschrieben) immer wieder behandelt. Denn auch dort stehen Begriffe wie Immanenz oder Ereignis im Vordergrund und damit Begriffe, die das Singuläre hervorheben und sich gegen Abstraktionen, Repräsen-tationen, Pläne usw. sperren. Allerdings ist dieses spätere Werk viel peppiger geschrieben. Nicht von un-gefähr liebäugelte Deleuze vor allem in den 70er Jahren mit Pop. Jedoch finden sich auch in �Differenz und Wiederholung�, z.B. mit dem Ver-gleich von philosophischen Büchern mit Krimis und Science Fictions (13), erste Ansätze dazu. In seinen Anfängen, von 1952 bis 1969, dagegen schrieb er vor allem kompakte Abhandlungen über ein-zelne Philosophen wie Hume, Kant, Nietzsche, Bergson usw. Diese Bü-cher zeichnen sich hauptsächlich durch neuartige Interpretationen die-ser Philosophen aus. Sein Nietzsche-Buch von 1962 erregte auch großes Aufsehen. Trotzdem betrieb er damit nur Philosophiegeschichte, auch sind diese Bücher in einem dezidiert wissenschaftlichen Stil geschriebe

1969 kam dann die Wende, und diese wurde eingeleitet von �Differenz und Wiederholung� (dem ersten Teil sei-ner Habilitation), im selben Jahr ge-folgt vom Spinoza-Buch (dem zwei-ten Teil seiner Habilitation) und dem noch nicht übersetzten Werk �Logi-que du sense�. Damit machte Deleu-ze erstmals eine eigenständige Philo-sophie, allerdings vorerst nur thema-tisch, stilistisch blieb er in diesen Schriften seinen Anfängen treu. Je-doch pfropfte er ab dieser Zeit - was er laut einem 1985 geführten Inter-view als einzige Alternative zur Philo-sophiegeschichte sieht - Platons Phi-losophie auf nicht platonische Prob-leme. Das heißt für �Differenz und Wie-derholung� z.B., daß er die �ganze platonische Theorie des Lernprozes-ses als Bußübung� entlarvt, die er-drückt wird �durch das entstehende dogmatische Bild [des Denkens], und [die gleichzeitig] einen Ungrund he-raufbeschwört, den sie auch weiterhin nicht zu erforschen vermag� (214). Mit solchen Analysen produziert De-leuze natürlich nicht gerade leicht verdauliche Kost. Eine Zusammen-fassung von �Differenz und Wieder-holung� ist darum - wie sollte es bei einem zeitgenössischen französischen Philosophen anders sein - ein Ding der Unmöglichkeit. Hier aber trotzdem ein Versuch: �Am Ursprung dieses Buchs stehen zwei Untersuchungsrichtungen: Die eine betrifft einen Begriff negations-loser Differenz, gerade weil die Diffe-renz, insofern sie nicht dem Identi-schen untergeordnet ist, nicht bis zum n.

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Gegensatz und zum Widerspruch rei-chen würde oder 'dürfte'; die andere betrifft einen Begriff von Wiederho-lung der Art, wie etwa die physischen, mechanischen oder nackten Wieder-holungen (Wiederholung des Selben) ihren Grund in den tieferliegenden Strukturen einer verborgenen Wie-derholung finden würden, in der sich ein 'Differentielles' verkleidet und ver-schiebt� (12). Damit verschränken sich beide Untersuchungsrichtungen, da die Wiederholung mit Differenz untrennbar verbunden ist. Beiden, Differenz und Wiederholung, ist auch gemeinsam, daß sie Trugbil-der bzw. den Widerstand von Trug-bildern in sich tragen. Dadurch wird jedes eindeutige Denken unterlaufen und jedes herkömmliche feststehende Bild des Denkens gestürzt. Aber was bleibt dann? Das bildlose Denken? Deleuze schwebt so etwas vor. Eine Beschreibung davon lautet: �Das Denken, das im Denken ent-steht, der in seiner Genialität erzeugte Denkakt, der weder im Angeboren-sein gegeben noch in der Wiedererin-nerung vorausgesetzt ist - das ist das bildlose Denken� (215). Doch bleibt Deleuze dabei nicht ste-hen, sondern er fragt selbst daran unmittelbar anschließend: �Was aber ist ein derartiges Denken und sein Verlauf in der Welt?� In Kapitel 4, 5 und im Schlußkapitel ver-sucht er darauf eine Antwort zu ge-ben, indem er z.B. der �Aktualisie-rung der Idee� und der �Intensität� im Zusammenhang mit Differenz und Wiederholung nachspürt.

Und damit wäre ich wieder bei mei-ner einleitenden Feststellung: Deleuze betont mit solchen Analysen die Wichtigkeit des Singulären. Das Sin-guläre, das mit Differenz und Wie-derholung untrennbar verbunden ist, stemmt sich nämlich immer wieder gegen ein bildhaftes Denken. Es zer-stört dieses Denken schon im Ansatz. Das Singuläre ist nicht einzuordnen und von keiner Abstraktion zu ver-einnahmen. Es ist kurz gesagt: paradox. Was ist davon nun zu halten? Nimmt man Sartres Ausspruch �das Böse ist die systematische Ersetzung des Konkreten durch das Abstrakte� ernst, so deckt Deleuze in �Differenz und Wiederholung� das Böse in viel-fältiger Hinsicht auf. Man kann dieses Buch deshalb gar nicht genug loben. Aber man braucht gar nicht so dick aufzutragen, auch im Kleinen, etwa in seiner Platon-Interpretation, kann man von Deleuze hier wichtige Anre-gungen erhalten. Dabei wird dieses Lob auch dadurch nicht geschmälert, daß zu gleicher Zeit andere Philoso-phen, z.B. Derrida, Werke mit ähnli-cher Stoßrichtung veröffentlichten. Denn daß �Differenz und Wiederho-lung� einen originären Charakter in sich trägt, bezweifelt nicht einmal Manfred Frank, der Deleuzes Werk sonst nicht gerade aufgeschlossen ge-genübersteht (siehe M. Frank: Was ist Neostrukturalismus?). PS: Ein Redakteur des �Wider-spruch� forderte mich auf, ich müsse unbedingt ein Statement zur Überset-zerleistung von Joseph Vogl in diese Rezension miteinfließen lassen.

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Also: Bravo, Vogl Sepp! Georg Kastenbauer

Anthony Giddens Kritische Theorie der Spätmo-derne Wien 1992 (Passagen-Verlag), 55 S., 14.80 DM. Ohne Zweifel, die kritische Theorie steckt in der Krise. Der englische So-ziologe Anthony Giddens registriert auf drei Ebenen emstzunehmende Einwände. Gegen die Behauptung ei-nes rational rechtfertigbaren wissen-schaftlichen Wissens hat in der Tradi-tion Nietzsches Foucault die Er-kenntnis auf ihre Machteffekte zurückbezogen. Auf normativer Ebe-ne wird die Möglichkeit verallgemeinerbarer Wer-te durch einen Relativismus, Dezisio-nismus und Kontextualismus in Zweifel gezogen. Und so wenig der reale Sozialismus mit den Vorstel-lungen eines kritischen Marxismus von der klassenlosen Gesellschaft zu tun hatte: In institutioneller Hinsicht hat der Zusammenbruch des real existieren-den Sozialismus nachhaltig die Vor-stellungen über eine höhere Rationa-lität gesamtgesellschaftlicher Planung und Steuerung zerstört. Was übrig zu bleiben scheint, ist Fukuyamas These vom Ende der Geschichte, das nur noch ein Patchwork unzusam-menhängender Arbeit an Details zu-läßt. Wohlfahrtskapitalismus und libe-raler demokratischer Parlamentaris-

mus scheinen sowohl empirisch wie normativ den möglichen Erwartungs-raum zu umgrenzen. Siegen also Friedrich Nietzsche und Adam Smith über die Anschauungen von Marx? Der Autor stellt aber nicht nur Frag-mentierung und Auflösung fest, son-dern auch die gegenläufigen Tenden-zen eines zunehmenden individuellen und kollektiven Engagements. �Ein dramatisches Eindringen zielgerichte-ten Handelns in die Geschichte� (14) fügt sich nach Giddens nicht den I-deen der Postmoderne ein. Giddens kritisiert das Konzept der Postmo-deme als logisch widersprüchlich, denn in der von ihr behaupteten Pe-riodisierung ist selbst eine totalisie-rende Darstellung impliziert, der doch die entschlossene Kritik gilt. Wir können aber nicht nur Fragmentie-rung und Pluralisierung beobachten, sondern ebenso die Tendenzen zu-nehmender Vereinheitlichung und Globalisierung des sozialen Lebens. Schließlich kehren über die lebens-praktischen Probleme auch die Fra-gen der Ethik zurück. Giddens setzt der Kategorie der Postmoderne pro-grammatisch sein eigenes Konzept der Spätmoderne entgegen. Gewinnt er mit diesem Konzept klarere Kon-turen für eine soziologische Ge-genwartsanalyse als die Zeitdiagnosen im Zeichen der Postmoderne? Diese Frage kann uneingeschränkt bejaht werden, da Giddens im Gegensatz zu den meisten Vertretern der Postmo-derne eine differenzierte Analyse der institutionellen Ordnung moderner Gesellschaften zugrundelegt. Es ist

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jedoch zu berücksichtigen, daß seine Ausführungen zum großen Teil the-tisch bleiben und nicht den ausführli-chen Begründungserwartungen ge-nügen können, die seine anspruchs-vollen Annahmen beim Leser wecken. Das vorliegende Bändchen geht auf einen Vortrag zurück, den Giddens auf Einladung des Renner-Instituts und des Instituts für Sozio-logie im Dezember 1990 in Wien gehalten hat. Inhaltlich greift er vor allem auf die Ergebnisse zweier Stu-dien zurück: �The Consequences of Modemity� (1990) und �Modernity and Self-Identity� (1991). Giddens nähert sich der selbstgesteckten Auf-gabe einer kritischen Theorie der Spätmoderne in drei Schritten. Zu-nächst rechtfertigt er auf der kogni-tiven Ebene den Anspruch wissen-schaftlicher Erkenntnis (19-25). In einem weiteren Schritt entwirft er die institutionellen Züge der Spätmoder-ne (25-39). Schließlich widmet er sich dem Verhältnis von Theorie und Pra-xis, wobei er sein Konzept eines �u-topischen Realismus� in den Mittel-punkt stellt (39-55). Giddens bestreitet in seinem Entwurf entschieden ein Ende der Moderne und ein Ende der Geschichte. Hin-sichtlich der Gewinnung erfah-rungswissenschaftlichen Wissens legt er dar, daß sich Formen des rationa-len wissenschaftlichen Argumentie-rens, die sich auf den methodischen Zweifel bezieht, nicht auf Machtstra-tegien reduzieren lassen. Dies schließt für ihn die Möglichkeit und Notwendigkeit einer �totalisierenden

digkeit einer �totalisierenden Theorie� mit ein. Mit kritischer Theorie meint Giddens nicht eine dogmatische Einengung auf das, was der interessierte Leser im deutschsprachigen Kontext damit verbindet: die Arbeiten der Kriti-schen Theorie der Frankfurter Schule, sondern die ganze Bandbreite kri-tisch-sozialwissenschaftlicher Arbei-ten von Marx bis C.W. Mills. �Kri-tisch� ist für Giddens eine Qualifizie-rung von Erkenntnisansprüchen, die entgegen den Vorstellungen quasi na-turgesetzlicher sozialer Mechanismen gesellschaftliche Strukturen als das Resultat menschlicher Handlungen transparent machen und damit dem menschlichen Zugriff unter dem Kri-terium der Autonomiegewinnung öff-nen wollen. Mit begrüßenswerter Klarheit stellt der Autor heraus, daß eine so verstandene kritische Theorie gegenüber der �normalen Sozialwis-senschaft� keinen epistemologischen Sonderstatus beansprucht und inso-fern keinen �Zweig� der Sozialwis-senschaft darstellt. Sie ist als soziolo-gische Theorie Bestandteil der �kon-ventionellen� Erfahrungswissenschaft und unterscheidet sich lediglich durch eine spezifische Reflexivität der Er-kenntniskriterien von anderen Er-kenntnisanstrengungen. Giddens Absichten gingen von An-fang an auf eine Erneuerung der so-ziologischen Grundlagentheorie aus. Ein Kommentator hat die Giddenss-che Theorie der Strukturierung zu-treffend als eine soziologische Trans-

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formation der Praxisphilosophie bezeichnet. Aber Giddens bleibt nicht, wie hierzulande Habermas, bei einem allgemeinen theoretischen Entwurf stehen, sondern hat sich ste-te auch in seinen Arbeiten zur Klassenstruktur moderner Gesellschaften beschäftigt. Dies kommt vor allem dem zweiten Teil der vorliegenden Arbeit zugute. Giddens sieht die Moderne durch drei abstrakte Momente gekennzeichnet: Transformation von Raum und Zeit in einem radikalen Sinn, der die Moderne von allen vorhergehenden Gesellschaften tiefgreifend unterscheidet; Entflechtung als ein Herauslösen sozialer Beziehungen aus konkreten räumlichzeitlichen Be-dingungen und institutionelle Reflexi-vität als Wirkung von Interpretatio-nen auf die Aktivitäten in Praxisfel-dern. Die Spätmoderne unterscheidet sich in seiner Sicht von der Moderne dadurch, daß diese abstrakten Ele-mente radikalisiert und globalisiert

erden. w Die konkrete institutionelle Differen-zierung der Moderne faßt Giddens in vier Dimensionen. Moderne Gesell-schaften sind für ihn gekennzeichnet durch Kapitalismus, Industrialismus, Überwachung (surveillance) in der Kontrolle von Informationen und mi-litärische Macht (Kontrolle der Ge-waltmittel). Dem entsprechen in der Spätmoderne vier Tendenzen der Globalisierung: kapitalistische Weltwirtschaft, internationale Ar-beitsteilung, ein System von National-staaten und militärische Weltordnung. Schließlich korrespondieren ihnen

vier Arenen des Protests und der Kontestation: Arbeiterbewegungen, ökologische Bewegungen, Bewegun-gen für die Ausdehnung demokrati-scher Partizipation und Friedensbe-wegungen. Damit sind wir beim dritten und letz-ten Teil seiner Analyse angelangt, der sich mit dem Theorie-Praxis-Verhältnis beschäftigt. Giddens be-trachtet die Signatur der Zeit als apo-kalyptisch im Sinn der Gegenwart globaler Risiken. Zu diesen zählt er den Zusammenbruch ökonomischer Wachstumsmechanismen, die ökolo-gische Katastrophe, das Anwachset totalitärer Macht und Kriege im gro-ßen Maßstab. Er fordert einen radika-len Bruch mit allen Formen einer ge-schichtlichen Zielgewißheit. Gleich-wohl hält er utopische Entwürfe für geboten. Er nennt diesen Ansatz �u-topischen Realismus�. Giddens ist unerwartet optimistisch, was Zielent-würfe in Richtung verändernder Pra-xis betrifft. Gewiß ist es zutreffend, daß das westlich kapitalistische Wachstumsmodell in heute bestehen-der Gestalt nicht ohne weiteres im Weltmaßstab generalisiert werden kann. Aber ob aus der Diagnose die-ses Dilemmas gleich der Schluß auf ein sich andeutendes �System jenseits der Knappheit� gerechtfertigt ist, darf doch bezweifelt werden. Es macht, da es gleichweit von Kapita-lismus und Sozialismus liegen soll, eher den Eindruck einer Neuauflage der Verlegenheitsvorstellungen vom �dritten Weg�.

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Auch sein Plädoyer für eine �viel-schichtige demokratische Partizipa-tion� jenseits der liberal-repräsentativen Demokratie bleibt für mich institutionell körperlos und abs-trakt. Am ehesten noch können Hu-manisierung von Technologie und Entmilitarisierung bzw. friedliches System globaler internationaler Bezie-hungen als Ziele eine faßbare Gestalt gewinnen. Leider widersteht der Au-tor hier nicht der gerade bei einem Vortrag verlockenden Versuchung, zukünftige politische Veränderungs-trends zu entwerfen, ohne dafür noch auf benennbare institutionelle Ein-griffschancen verweisen zu können. Den interessantesten Hinweis läßt er am Ende ungenutzt. Nicht die Unter-privilegierten und Unterdrückten werden nach Giddens die wichtigen Akteure sein, sondern solche, die in entscheidungsmächtigen politischen, ökonomischen und kulturellen Orga-nisationen sitzen. Zu denen ist aber, so schließt er skeptisch, die Distanz der kritischen Theorie naturgemäß recht groß. Dabei hätte in der Per-spektive seiner Argumentation doch ein Modell gelegen, das die Ein-griffsmacht von reformorientierten progressiven Eliten mit der Verände-rungskraft von sozialen Bewegungen in Verbindung bringt. Das Heftchen des Passagenverlags ist in jedem Falle geeignet als eine Ein-führung in die soziologische Gegen-wartsdiagnose Giddens' und könnte dazu beitragen, die im deutschspra-chigen Kontext noch kaum in Gang

gekommene Rezeption seiner kriti-schen Sozialtheorie zu befördern.

Heinrich Haferkamp Martin Jay Force Fields. Between Intellectual History and Culture Critique New York und London (Routledge), 236 S., brosch., ca. 30.- DM. In Force Fields sind Aufsätze aus den letzten zehn Jahren versammelt, die zum Teil auch schon in Deutschland erschienen sind. �The Debate over Performative Contradiction: Haber-mas versus the Poststructuralists� ist Jays Beitrag in der Habermas-Festschrift; �Scopic Regimes of Mo-dernity� publizierte der Leviathan (2/92) in deutscher Übersetzung. Was Jay unter dem Benjaminschen Begriff �Kraftfelder� vereint, sind Untersu-chungen zur europäischen Geistesge-schichte dieses Jahrhunderts. Es geht um die Aktualisierung verschiedener Strömungen, vor allem aber um neue Perspektiven auf bestimmte Denker und ungewöhnliche Konstellationen, in die unterschiedliche Theorien ge-bracht werden, um Gemeinsamkeiten und Kontinuitäten herauszuarbeiten. Hauptaugenmerk gilt dabei einerseits der deutsch-jüdischen Tradition des Neomarxismus, der Kritischen Theo-rie und der liberalen Sozialphiloso-phie, andererseits den französischen Strömungen, die ihre Wurzeln im Strukturalismus und in der Phänome-nologie haben. �I would argue for a productive exchange between these two impulses rather than an either/or choice. The dialectical imagination, it

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might be said, has something to learn from what can be called the diacritical imagination, and vice versa� (3). Jay plädiert für diesen Austausch nicht nur aus der Erwägung, daß beide Theoriestränge an einer ähnlichen ge-sellschaftlichen Problematik gearbei-tet haben, sondern, was entscheidend ist, aus den jeweiligen Defiziten dieser Theorien heraus. Grob ließe sich die Aufsatzsammlung in zwei Bereiche teilen. Zunächst wä-ren da die theoriegeschichtlich orien-tierten Beiträge, denen mit �The Tex-tual Approach to Intellectual History� der methodische Rahmen, gewonnen aus textuellen, kontextuellen und her-meneutischen Ansätzen, gegeben wird. Jay fragt etwa nach den Grün-den, weshalb das von Frankfurt nach New York emigrierte Institut für So-zialforschung innerhalb der amerika-nischen Soziologie und Philosophie im Abseits blieb. Eine selbstverschul-dete Isolation, so Jay, die zum Teil schon in Frankfurt ihren Ursprung hat: sozialphilosophische Fragestel-lungen, die am Alltagsleben der Großstädte orientiert sind, wie seiner-zeit in den Vereinigten Staaten entwi-ckelt, waren der Kritischen Theorie fremd - sieht man von Benjamins Passagen-Werk einmal ab. Jay stellt fest, daß die Frankfurter �never direc-ted their attention to the important role of the city in modern society� (11); so blieb selbst Frankfurt - im-merhin �the first twentieth-century ci-ty� (21) - der Theorie außen vor. Nicht mitzumachen, so schließt Jay, hieß eben auch, sich dem neuen ur-banen Leben zu entziehen.

Um die theoriegeschichtlichen Um-stände geht es auch in vergleichenden Studien zu Carl Schmitt und Georges Bataille, oder zu Agnes Heller und Hannah Arendt. Auffällig ist Jays Zu-rückhaltung mit parteinehmenden Ur-teilen; ob das nun auf persönliche Be-scheidenheit oder auf die fachliche Herkunft des Autors zurückzuführen ist, bleibt offen. Nur wünscht man sich die bündige, sich verhaltende Kritik mehr, als die außergewöhnliche Textkenntnis, mit der Jay den Leser immer wieder überrascht, wenn es um beispielsweise die äußerst umstrittenenen Theorien eines Carl Schmitt, Paul de Man oder Martin Heidegger geht. Als zweite Abteilung wären drei Auf-sätze des Bandes zu nennen, die in ei-nem phänomenologischen Kontext stehen und die These vom Okular-zentrismus überprüfen. In �Scopic Regimes of Modernity� schlägt Jay gegen die Hierarchisierung ein plura-les Modell skopischer Ordnungen vor. Gegen die oftmals behauptete Vorherrschaft des �Cartesianischen Perspektivismus� wäre ebenso eine durch die niederländische Land-schaftsmalerei repräsentierte �Kunst des Beschreibens� oder eine aus dem Barock stammende �Verrücktheit des Sehens� (Buci-Glucksmann) zu un-terscheiden. Jay arbeitet heraus, daß eine aktuelle, postmoderne skopische Ordnung des Erhabenen keineswegs von der �abstract coldness of the per-spectival gaze� (117) geprägt ist, son-dern vielmehr das barocke Modell das bestimmende zu sein scheint. Bleibt natürlich als Frage offen, ob diese

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postmoderne Ordnung des Blicks nicht bloß einen herrschenden Oku-larzentrismus überlagert. Die Frage stellt Jay selbst im folgenden Beitrag �Ideology and Ocularcentrism: Is There Anything Behind the Mirror's Tain?�. Zwar seien die postmoderne und poststrukturalistische Kritik an der skopischen Ordnung der Moder-ne gerechtfertigt, sagt Jay resümie-rend, doch für eine Kritik an der sozi-alen Ordnung der Moderne nicht tauglich. �The deconstructive position tends to an ahistorical preoccupation with language and textuality per se... This type of hostility to historical change is, needless to say, fatal for any critical theory of ideology that wants to go beyond the crippling as-sumption that mystification is a uni-versal constant to the human condi-tion� (144f). Mit diesen Vorarbeiten zu einer, sagen wir, kritischen Phä-nomenologie des Sehens gibt uns Jay schon einen Ausblick auf sein dem-nächst erscheinendes Buch Downcast Eyes: The Denigration of Vision in Twentieth-Century French Thought.

Roger Behrens Ludwig Siep Praktische Philosophie im Deut-schen Idealismus Frankfurt/Main (Suhrkamp-Verlag), 340 S., 26.- DM. Der Band enthält fünfzehn Aufsätze, die der Autor zwischen 1975 und 1992 in diversen Zeitschriften und Sammelbänden veröffentlicht hat, und einen Originalbeitrag mit dem Ti-

tel �Personbegriff und praktische Philosophie bei Locke, Kant und Hegel�. Die Sammlung ist thematisch in drei Teile gegliedert: Im ersten werden Aspekte der Begründungsmethode der prakti-schen Philosophie bei Kant, Fichte und Hegel erörtert; im zweiten werden entwicklungsgeschichtliche Aspekte der praktischen Philosophie Hegels mit vergleichendem Blick auf Fichtes und Schellings Denkentwick-lung entfaltet; der dritte Teil gehört ausschließlich Hegel, in ihm geht es vornehmlich um Interpretationen und aktualisierende Fragen zu dessen Rechtsphilosophie. Die nachkantischen Systeme Rein-holds, Fichtes, Schellings und Hegels, d.h. die Systeme des sogenannten Deutschen Idealismus, teilen mit dem Kantischen Systemansatz die Auffas-sung, daß das selbstbewußte mora-lisch-rechtliche Subjekt (d.h. die �Per-son�) das neue Fundament für eine Begründung der praktischen Philoso-phie darstellt. In der Methode der Be-gründung gehen die Nachkantianer aber andere Wege. Kants Verfahren einer transzendentalen Deduktion wird maßgeblich bei Reinhold und Fichte durch ein Ableitungs- oder Deduktionsverfahren ersetzt, das Fichte etwa auch als �transzendentale Methode� umschrieben hat. Es han-delt sich näher besehen um ein Fort-schreiten von einem Gegebenen, Be-dingten zu dessen Bedingungen, ein Fortschreiten, das analytisch-regressive, synthetisch-progressive und zirkuläre Schlußformen vereinigt. Hegel hat unter veränderten Voraus-setzungen an den Gedanken eines

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zirkulären Fortschreitens angeschlos-sen, ihn jedoch akzentuierter als Fich-te als eine Begriffsbewegung darge-stellt, in der das Verhältnis von Totali-tät und relativ autonomen Teilen dominant ist. In den Aufsätzen des ersten Teils weist Siep zum einen auf ein weiteres Spezifikum dieser nachkantischen Begründungsmethode hin, das sich bei Fichte aus dem Verhältnis von Wissenschaftslehre und deren An-wendung in der Naturrechts-Schrift von 1796 ergeben und das beim �phänomenologischen� Hegel seine Fortsetzung finden soll. Der Autor macht die These stark, Fichte sehe sich gezwungen, aufgrund der Appli-kation des obersten Prinzips der Wis-senschaftslehre auf den Bereich des Naturrechts das Verhältnis von philo-sophischem und individuellem Be-wußtsein in sein Ableitungs- oder Deduktionsverfahren einzubeziehen. Ähnlich wie später Hegel in der �Phänomenologie des Geistes� stelle damit Fichte auch Bewußtwer-dungsprozesse des individuellen oder natürlichen Bewußtseins dar. Fraglich an Sieps These bleibt allerdings, wes-halb er nicht auch der Tatsache Rechnung trägt, daß sich Darstellun-gen von Bewußtwerdungsprozessen und entsprechende Korrekturen des Deduktionsverständnisses bereits im theoretischen Teil der �Grundlage� (bes. in der �Deduktion der Vorstel-lung�) von 1794 finden. Zum anderen arbeitet Siep in den Aufsätzen des ersten Teils heraus, daß Fichte mit der besagten Applikation auch das Begründungsfundament

modifiziert, indem er nämlich das personale Subjekt mit einer intersub-jektiven Dimension versieht, aus wel-cher sodann speziell die praktischen Begriffe der Anerkennung und des Rechts abgeleitet werden. Entgegen der gängigen Ansicht, Fichte kon-struiere mit der Wissenschaftslehre lediglich das System eines - das Nicht-Ich aufzehrenden - praktischen Ichs, macht der Autor in überzeugender Manier deutlich, daß Fichte in der Naturrechts-Schrift das praktische Ich grundlegend intersubjektiv anlegt. Fichte versteht unter Intersubjektivi-tät, wie der Autor minutiös wieder-gibt, ein wechselseitiges Sich-Auffordern der interagierenden Sub-jekte zur Freiheit. Dieser Vorgang ist aus Fichtes Sicht nur dann möglich, wenn das eine Subjekt, welches das andere zur Freiheit auffordert, sich instantan einschränkt und mithin dem anderen einen Handlungsspielraum zum Freiwerden gewährt. Ist diese Selbsteinschränkung und Freiheits-gewährung wechselseitig, so kann man von einem Idealzustand der An-erkennung und von einem kommuni-kativen Recht sprechen. Trotz dieser grundlegenden Intersubjektivitäts-struktur erweist sich, wie Siep in ei-nem weiteren Schritt exemplifiziert, Fichtes Intersubjektivitätskonzept insgesamt als problematisch. Dies deshalb, weil Fichte gleichzeitig ein angewandtes Recht unterstellt, dem die Aufgabe zukommen soll, einen empirisch bestehenden �allgemeinen Egoismus� der Menschen präventiv unschädlich zu machen. Für Fichte ist das angewandte Recht mit anderen

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Worten nicht eine Manifestations-form des kommunikativen Rechtes, sondern die permanente conditio da-für, daß Anerkennung nicht verletzt wird. Aus diesem Konstrukt spricht eine Fichtesche Rigorosität, die an Rousseau erinnert: Wer den unsicht-baren heiligen Anerkennungsvertrag bricht, muß mit einer höllischen Stra-fe rechnen. Er ist sozusagen dazu ver-dammt, hors de sociétè zu stehen. Diese Funktionszuweisung des ange-wandten Rechts, die Fichte bekannt-lich den Hegelschen Vorwurf einge-tragen hat, er errichte damit faktisch einen Polizeistaat der Moralität, führt, wie Siep hervorhebt, in der Tat zu gewissen Absurditäten. So muß Fich-te beispielsweise auf die staatspragma-tische Maxime über die Erhaltung der Bevölkerungsmenge rekurrieren, um den Rechtsschutz von noch nicht zum Rechtsbewußtsein gelangten Kindern garantieren zu können. Wie ist Hegels in der Jenaer Zeit ent-wickeltes Anerkennungskonzept im Vergleich dazu zu beurteilen? Siep zeigt hierzu mit gutem Grund auf, daß mit Hegels Konzept der Fichte-schen Absurdität entgangen werden kann. Im Unterschied zu Fichte be-greift Hegel Anerkennung nicht nur als einen normsetzenden Idealzustand symmetrischer reziproker Subjektver-hältnisse, sondern auch als ein histo-risch umkämpftes und gewachsenes Rechtsverhältnis. Das angewandte Recht tritt aus dieser Optik weniger als ein Mittel gegen eine enttäu-schungsanfällige Anerkennung denn als ein Ausdruck einer resistenten An-erkennung auf. Gerade dies hat posi-

tiv zur Folge, daß, wer den unsichtba-ren Anerkennungsvertrag verletzt o-der diesen aus Mangel an Rechtsbewußtsein nicht zu erfüllen vermag, nicht gleich in einen rechtlo-sen Zustand fällt. Im Vergleich zum Fichteschen hat Hegels Anerken-nungskonzept, wie Siep in sorgfältiger Abwägung beider Entwürfe heraus-arbeitet, in anderer Hinsicht aber auch eindeutige Nachteile. Die Frei-heit des Einzelnen, das Gewähren von Handlungsspielräumen ist bei-spielsweise bei Hegel rechtlich unge-nügend garantiert. Um die Entwicklung der Hegelschen Philosophie von ihren Anfängen bis zur Zeit der �Phänomenologie des Geistes� begreifen zu können, muß man eine Art Selbstanwendung der Hegelschen Philosophie betreiben: Der von Hegel beschriebene Erfah-rungsprozeß des Bewußtseins muß auf seine eigene philosophische Ent-wicklung angewandt werden; es gilt, diese als Prozeß mit bestimmten Grundkonstellationen, Kontinuitäten, Brüchen, Verlagerungen, Aufhebun-gen usw. aufzufassen. Zu beachten gilt es sodann, daß der Systemgedan-ke in Hegels Philosophie nicht nur durch eine kritische Anknüpfung an das Vernunftkonzept, das Kant mit seinen drei Kritiken vorgelegt hat, zu-stande kommt, sondern wesentlich auch durch ein eigenwilliges prak-tisch-politisches Philosophieren. Und schließlich: Hegels philosophische Entwicklung ist nicht denkbar ohne seine permanenten Abgrenzungsver-suche von den Systemen Fichtes und Schellings.

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Sieps Aufsätze im zweiten Teil ver-mitteln insgesamt einen wichtigen Ausschnitt zu dieser Thematik. Be-sonders beachtenswert ist meines Er-achtens sein Versuch, die praktische Philosophie Hegels in der Entwick-lung von der Berner über die Frank-furter bis zur frühen und späten Jena-er Periode mithilfe des jeweils unter-schiedlich akzentuierten Begriffsensembles �Autonomie�, �Vereinigung�, �Selbstüberwindung�, �Freigabe� zu beschreiben. Beeindru-ckend ist ebenfalls sein detaillierter Vergleich der praktischen Philosophie Schellings und Hegels in der frühen Jenaer Zeit. Nicht ganz überzeugend scheinen mir demgegenüber seine Pa-rallelisierungen der Religionsphiloso-phien Hegels und Fichtes bis 1800 sowie die Darstellung zu Hegels Fest-halten am griechischen Polisideal während der Jenaer Zeit. Was den ersten Punkt betrifft, darf man die Gemeinsamkeiten zwischen Hegel und Fichte nicht überforcieren. Ob-schon, wie Siep betont, sowohl Hegel wie Fichte Partei für eine der auto-nomen Moralität angemessene Religi-on ergreifen, sind die Differenzen unübersehbar. Hegel legt die Kanti-sche Ethikotheologie weit autonomis-tischer aus als Fichte, was sich daran zeigt, daß er Fichtes Rettung des Of-fenbarungsglaubens nicht akzeptieren kann. Und die von Siep erwähnte Tatsache, daß auch in Fichtes Religi-onsphilosophie ab Mitte der 90er Jah-re die für den Hegel der Frankfurter Zeit typischen Begriffe �Liebe� und �Leben� ins Zentrum rücken, sagt noch wenig über eine Gemeinsamkeit

in der Sache aus. Was den zweiten Punkt anlangt, scheint mir Sieps Nachweis, Hegel habe während der ganzen Jenaer Zeit die griechische Po-lis zum �Muster� genommen, seine zunächst von ihm kommentierten Thesen von Habermas und Riedel über Hegels Verabschiedung vom Polisideal zu Anfang bzw. in der Mit-te der Jenaer Zeit etwas zu überspie-len. Es ist sicher richtig, daß Hegel sich in bezug auf die Ausarbeitung seines Staatskonzepts (konkret auf die Gliederung der Sphären des Staats) durchgängig an platonische und aris-totelische Denkelemente hält. Wenn man die geschichtsphilosophische Perspektive berücksichtigt, die Hegel mit seinem Staatskonzept verbindet, kann man aber nicht nur nicht be-haupten, daß Hegel nicht mehr an ei-ne wirkliche �Renaissance� der Polis denkt. Vielmehr wird man auch nicht behaupten können, daß für Hegel die Polis während der ganzen Jenaer Zeit ein �Muster� bleibt. In bezug auf die geschichtsphilosophische Perspektive ergibt sich bei Hegel während der Je-naer Zeit erstens eine deutliche Zu-rücknahme der Kritikdimension zu-gunsten der Darstellungsdimension in der Auffassung von historischer Ent-wicklung und zweitens eine allmähli-che Angleichung dessen, was Hegel zunächst mit antikisierendem Ein-schlag als die �neue Religion� oder �neue Mythologie� bezeichnet, an ei-ne Vernunftreligion. Das führt am Ende (so beispielsweise in den �Vor-lesungen zur Religionsphilosophie�) dazu, daß Hegel das antikisierende Sittlichkeitsideal in seinem Staatsauf-

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bau in geschichtsphilosophischer Hinsicht aus dem Gemeinschaftsgeist des Christentums reinterpretieren muß. Hegels Rechtsphilosophie von 1817 ff. ist stets wieder Gegenstand hefti-ger Diskussionen. Immer noch strei-tet man darüber, ob Hegel sie nach den Karlsbader Beschlüssen in we-sentlichen Punkten der restaurativen preußischen Verfassungsrealität akkommodiert hat. Aber auch zentrale systematische Fragen führen immer noch zu kontroversen Standpunkten: Ist die berühmte, auch im Zusammenhang der heutigen Diskursethik thematisierte, Hegelsche Aufhebung der Moralität in die Sphäre der Sittlichkeit nicht Zeichen eines letztlich doch autoritären Staatsdenkens? Geht Hegel, indem er seinem modernen Verfassungsstaat die Regierungsform einer konstitutionellen Monarchie aufsetzt, nicht offenkundig einen Kompromiß mit der vorbürgerlichen Welt ein? Oder ist Hegel - wie heute aufs neue behauptet wird - damit nicht vielmehr gerade der kluge Apologet des ökonomischen und politischen Liberalismus? Im dritten Teil greift Siep direkt in solche und ähnliche Fragestellungen zu Hegels Rechtsphilosophie ein, wo-bei es wiederum seine ausgewogene Argumentationsweise hervorzuheben gilt. Der Autor antwortet auf einseiti-ge Auslegungen und Urteile über He-gels Rechtsphilosophie dergestalt, daß er die Hegelschen Texte in ihrer Ent-wicklung und Systematik sehr diffe-renziert behandelt hat. Dabei geht es aber nicht um eine Hegel-Rettung,

entspringt die Darstellung doch selbst auch dem Versuch, die Schwächen der Hegelschen Konstruktionen bloßzulegen. So wird einerseits gegen simplifizierende Urteile über Hegels These der Aufhebung der Moralität in die Sittlichkeit aufgewiesen, daß es Hegel mit der Aufhebung zentral um das Problem der Entsprechung einer Vielfalt moralischer Instanzen und Ansprüche geht und nicht um eine Unterordnung individueller Moralität unter die Staatssittlichkeit. Andrerseits zeigt der Autor aber sehr wohl auch auf, daß es bei Hegel, wenn man die Sache auf dem Hintergrund seines Personenbegriffs rekonstruiert, in der Tat ein Defizit in Sachen rechtlicher Verankerung der Ansprüche der ein-zelnen Person gegenüber dem Staat gibt. Ähnlich wird der bekannte Vor-wurf, Hegel habe die klassische Ge-waltenteilung abgelehnt, beantwortet: Siep verdeutlicht, daß Hegel die Ge-walten sehr wohl in ihre autonomen Bereiche ausdifferenziert sein läßt, daß Hegels �Fehler� vielmehr in be-stimmten willkürlichen hierarchisier-enden Gewichtsverlagerungen inner-halb des komplexen Gesamts der Gewalten liegt. Aufschlußreich und nachgerade von großer Brisanz ist Sieps Aufsatz zum Verhältnis von Recht, Verfassung und sozialem Wohl in Hegels Rechtsphi-losophie. Wie man weiß, hatte Hegel das Problem der explosiven sozialen und ökonomischen Widersprüche nicht in der Weise erkannt und zum Gegenstand einer historisch-progressiven Dynamik erhoben wie nach ihm die Junghegelianer und

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Marx. Aber er hatte zumindest ein klares Bewußtsein darüber, daß eine intakte Rechtssphäre unbedingt das Bestehen sozialer Gerechtigkeit und sozialen Wohls voraussetzt, daß an-dernfalls das Rechtsbewußtsein der blinden Empörung der Unterdrück-ten und Verarmten und der Arroganz jener, die sich alles kaufen können, weicht. Hegels Rechtsphilosophie ist - so darf man nach der Lektüre des dritten Teils resümieren - weder thematisch noch methodologisch pass�. Auch Versuche, eine zeitgemäße Ethik auf-zustellen, können von ihr lernen. He-gels Rechtsphilosophie zeigt uns heu-te, daß Reflexionen über ein postkon-ventionelles moralisches Bewußtsein nicht um die Frage umhin können, wie Anerkennung zwischen Personen herausgebildet werden kann und wie die gegebenen unterschiedlichen, zum Teil widersprüchlichen moralischen Instanzen im Staate in Entsprechung zu bringen sind.

Martin Bondeli Manfred Smuda (Hg.) Die Stadt als Text München 1992 (Fink) Der Titel ebenso wie das Vorwort sind abschreckend, die Stadt als 'Text', als Diskurs ohne Anfühnrngsstriche gar, das klingt in einer Zeit, in der 'Diskurs' zu einem Allerweltsbegriff verkommen ist, jedes Geplänkel gar sogleich in den Rang eines Diskurses erhoben wird, wenig originell, ja

langweilig. Hinter dem hochtraben-den Titel verbirgt sich jedoch be-scheideneres: eine ganz normale Auf-satzsammlung, die Dokumentation eines Kolloquiums des Bielefelder In-stituts für interdisziplinäre Forschung. Thema dieses Kongressbandes ist die Großstadterfahrung in der Kunst des frühen 20. Jahrhunderts, eine Zeit die gemeinhin - nur bei den Herausge-bern anscheinend nicht - Moderne heißt. Da diese aber anscheinend e-ben genauso out ist wie angemessene Titel, verlegte man sich auf postmoderne Effekthascherei. Insgesamt enthält der Band glückli-cherweise nicht das, was Titel und Vorwort versprechen, sondern 12 recht unterschiedliche Aufsätze zu recht unterschiedlichen Themen - von Germanistik, über Anglistik, Romanistik und Kunstgeschichte bis hin zur Geschichte der Medizin. He-terogen ist der Band nicht nur in sei-ner Thematik, sondern auch in der Qualität der Bei-träge. Eröffnet wird er mit einem Beitrag von Alexandre Métraux, Lichtbeses-senheit, Zur Archäologie der Wahr-nehmung im urbanen Milieu, in wel-chem der Autor der sinnlichen An-eignung der Großstadt nachgeht. Ihm folgt ein Beitrag von Ilja Srubar, Zur Formierung des soziologischen Bli-ckes durch die Großstadtwahrneh-mung. Hier geht es um die Soziologie als Produkt der Großstadt, die zum privilegierten Wahrnehmungsfeld für die Erforschung des modernen ge-

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sellschaftlichen Lebens wird. Wobei die Soziologie den Verhaltensweisen, die sie als typische herausarbeitet, kei-neswegs fremd gegenübersteht, im Gegenteil: �Die Attitüde des distanzierten Beob-achters, die Erfassung von Individuen nach ihren typischen Merkmalen un-ter Absehung von subjektiv willkürli-chen Besonderheiten, äie Aufmerk-samkeit auf die 'objektiven Faktorei', die die subjektiv als willkürlich erfah-rene Lebensführung doch zu typi-schen kollektiven Verhaltensweisen prägen dies sind die Charakteristika des soziologischen Blickes schlecht-hin� (S. 44). Schlüsseltexte sind für Srubar Kracauers Ornament der Mas-se und Simmels �Die Großstädte und das Geistesleben�. Sozialgeschichtliche Züge trägt der Beitrag Die Stadt als Rassengrab in dem die Autoren Rolf Peter Sieferle imd Clemens Zimmennann der Ge-schichte der Sozialhygiene nachgehen. Die Städte galten immer als Ort der Dekadenz, als verderbter und unge-sunder Ort. Trotz der Haltbarkeit die-ses antiurbanistischen Vorurteils wa-ren die Städte Anfang dieses Jahr-hunderts, verglichen mit dem Land, zu einem gesunden Ort geworden. Die beiden Autoren zeichnen sowohl die Entstehung der Stadthygiene wie auch den sozialhygienischen Diskurs nach. Den Perspektivwandel der Stadt, genauer der Stadt Paris, be-schreibt Jacques Leenhardts Eine Äs-thetik des Randgebietes: Nachdem die Städte jahrhundertelang Orte der

Freiheit und Bollwerke des selbstbe-wußten Bürgertums waren, hieß es im 19. Jahrhundert nicht mehr Stadtluft macht frei, sondern Stadtluft macht krank. Das Bürgertum, das von den Städten aus lange gegen den Adel op-poniert hatte, floh nachdem, dieser seine politische Macht an selbiges ab-gegeben hatte, vor dem Proletariat und der Industrialisierung selber aufs Land. Da mit erfindet das Bürgertum den Begriff des Landes neu. Das Zentrum verliert an Bedeutung, die Peripherie wird aufgewertet, auch in der Kunst. Dies äußert sich nicht nur in der Wertschätzung des Exotischen und Andersartigen, die die Modernen an den Tag legten, sondern auch dar-in, daß das Paris der Surrealisten eine dezentralisierte Stadt ist. Ähnlich interessant und originell ist der Bei-trag von Dagmar Buchwald 'Act so that there is no Use in a Center', Ger-trude Steins Komposition der Stadt, der sich ebenfalls mit der Dezentrali-tät der Moderne befaßt. Die Autorin arbeitet die bewußte Aufgabe des Zentrums und Auflösung von Hie-rarchien als Charakteristikum der Poesie Gertrude Steins heraus. Zu den herausragenden Arbeiten in die-sem Band gehört auch Rainer Hanks Topik und Topographie, Seelenland-schaft und Stadtlandschaft im Wien der Jahrhundertwende. Hank analy-siert Freuds Seelenlandschaften als Stadtlandschaften, den Wiener Streit der Jahrhundertwende um städtische Architektur und das Ornament hin-gegen als Streit um die 'Anwesenheit nicht regulierbarer Sexualität'. Der o-riginellste Beitrag des Bandes ist zwei-

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fellos Norbert Bolz' Versuch auf den Spuren so unterschiedlicher Autoren wie Spengler, Loos und Simmel eine Theologie der Großstadt zu inszenie-ren. Simmel und Rilkes Malte geben den theoretischen Hintergrund des auf 50 Seiten aufgeblasenen Aufsatzes des Herausgebers Manfred Smuda, Die Wahrnehmung der Großstadt als äs-thetisches Problem des Erzählens, Narrativität im Futurismus und im modernen Roman. Sein Versuch die Wahrnehmung der Großstadt in so verschiedenen Medien wie Film, Lite-ratur, Malerei und Photographie nachzuverfolgen und mit einer Dis-kussion der futuristischen Program-matik in Verbindung zu setzten, gerät zur wenig strukturiertet Material-schlacht, inder Piaget, Bergson, Mari-netti, Bragaglia, Boccioni, Döblin, Dos Passos und Joyce (um nur einige zu nennen) erwähnt und abgehan-delt werden. Großstadterfahrung und die Ästhetik des Strudeins heißt der etwas abstruse Titel des Beitrags von Eckard Lobsien, der sich an der englischen Moderne versucht. Lob-sien stellt Joyce' Großstadtwahrneh-mung die der Vorticists gegenüber, ohne Joyce allerdings viel Aufmerk-samkeit zu schenken. Das etwas kon-fuse Referat der Ideal von T.E. Hul-me und Ezra Pound läßt die Intenti-onen des Autors leeres Postulat bleiben: �Die Beitrage der englischen Diskus-sion zur modernistischen Kunsttheo-rie geben ihre Originalität erst zu er-

kennen, warn sie im Aspekt des Großstadtproblems gelesen werden. Und umgekehrt verleihen sie diesem jene ästhetische, erkenntniskritische und anthropologische Tiefenschärfe, die plausibel werden läßt, warum in Ulysses die vertextete Stadterfahrung identisch ist mit moderner Kunst ü-berhaupt� (S. 183). Der fast konsequent durchgeführte Vorsatz des Autors, keinen Satz unter vier Fremdwörtern - die englischen Wörter nicht mitgezählt - zu beenden, und der Umstand, daß bestimmte Fachbegriffe wie Vorticists nicht er-läutert werden, erschwert nicht nur den Aufschluß über die Stadt als Text, sondern setzt die Lesbarkeit des Aufsatzes, nicht nür für Nichtanglis-ten, stark herab. Einen ganz anderen Charakter haben die beiden Aufsätze von Jutta Hülse-wig-Johnen und Walter Grasskamp, die den Band abschließen. In beiden geht es um die Stadt in der Malerei des Expressionismus, in unprätentiö-sem und sachlichem Ton schildert Hülsewig-Johnen die Gesichter der Stadt. Im Zentrum ihres Aufsatzes steht die Menschendarstellung in den Großstadtbildern der Expressionis-ten. Die Stadt, soviel steht fest, ist ein Ort der Ambivalenz. Vor der Isolati-on und Einsamkeit des Einzelnen versagt das 'Oh Mensch '-Pathos der Expressionisten, verhallen ihre Ver-brüderungsaufrufe ungehört. Nicht um die Lesbarkeit, sondern um die Malbarkeit der Städte geht es im Auf-satz von Walter Grasskamp. Dessen

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Thema ist die Konkurrenz zwischen Malerei und Film, die Darstellbarkeit der Städte betreffend, die letzterer klar gewann. Angesichts der Breite der interdisziplinären Themenpalette, die dieser Band zu bieten hat, ver-wundert es doch, daß das Thema der Stadt als politisierter Raum gar nicht thematisiert wurde, zumal die politi-sierten Massen das Bild der moder-nen Städte nicht unwesentlich mitge-prägt haben. Eines jedoch ist überra-schend: Trotz der postmodernen Aufmachung des Bandes bezieht der hier vorgestellte Diskurs über die Stadt seine theoretischen Grundlagen von Georg Simmel, einem Klassiker der Moderne.

Christina Ujma Helmut Willke Ironie des Staates. Grundlinien ei-ner Staatstheorie polyzentrischer Gesellschaft Frankfurt/Main 1992 (Suhrkamp), 399 S., 44.- DM. �In der Form des Staates schafft sich die Politik eine Leitidee ihrer selbst�, so setzt Willke seinen Staatsbegriff an. Diesem systemtheoretischen, begriff-lichen Vorschlag entsprechend tritt der Staat im Gefolge der Ausdifferen-zierung des politischen Systems auf und übernimmt die Funktion, das in-terne Problem der Selbstbeschreibung der Politik und das externe Problem der Zurechnung politischer Entschei-dungen auf handelnde Akteure zu lö-sen. Denn �sobald unterschiedliche Identitäten des politischen Systems

möglich sind, z.B. als Monarchie, A-ristokratie oder Demokratie, muß die Politik ein Modell ihrer selbst entwi-ckeln, das der Kontingenz ihrer Ope-rationen halt gibt.� Zwar ist system-theoretisch gesehen dasjenige Kom-munikationsmedium, über das sich das politische System codiert, seine Einheit gewinnt und seine Operatio-nen durchführt, das Medium 'Macht'; aber diese Macht ist in modernen Staaten nicht mehr gleichzusetzen mit der 'hierarchischen Spitze' einer Ge-sellschaft. Und genau an diesem Punkt kommt mit den Problemen des Staates auch die im Titel angespro-chene Ironie ins Spiel: Willke zufolge überfordert der Staat sich notwendi-gerweise selbst, denn er muß seine Selbstillusionierung ernst nehmen. Diese Selbstillusionierung besteht dar-in, so tun zu müssen, als könne der Staat die gesellschaftlichen Prozesse durch Einsatz seiner Macht gezielt steuern. Und ernst nehmen muß der Staat diese Illusion, weil �alle gesell-schaftlichen Akteure als Abnehmer von Politik das herkömmliche Bild regulativer Politik pflegen�. Zugleich muß er aber auch wissen, daß �die Möglichkeiten steuernder Interventi-onen in nicht-triviale gesellschaftliche Problembereiche so voraussetzungs-voll sind, daß sie kaum realisierbar sind.� Die Ironie des Staates besteht dann darin, daß sie �das politische Spiel der Organisationen und Korpo-rationen darin ernst nimmt, daß es ein Spiel ist, in dem alle es besser wissen, als sie es zugeben.� Die Gesellschaft aber hat mit ihrer Spitze auch ihr Zentrum verloren,

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und so stellt sich für Willke die weite-re Frage, wie ein Staat aussehen kann oder sollte, der seine Aufgabe in einer heterarchischen, polyzentrischen Ordnung zu erfüllen sucht. Willke - der ebenso wie Luhmann nicht nur Soziologe, sondern auch Jurist ist - sieht die entscheidende Weichenstel-lung zur Lösung des Problems bereits mit der �in ihrer soziologischen Be-deutung kaum zu überschätzenden Positivierung des Rechts� als gegeben an. Es gelte nun, so Willke, einen der Situation moderner, demokratischer Gesellschaften angemessenen Begriff des Staates jenseits der Reduktion auf den Leviathan beziehungsweise den minimalen Staat (Nozick) zu entwi-ckeln und damit den Gedanken auf-zugeben, die Hauptaufgabe des Staa-tes liege in der Verhinderung physi-scher Gewalt durch staatliche Monopolisierung derselben. Willke sieht die Chance, einen neuen, elaborierten Staatsbegriff zu entwi-ckeln, darin, den Staat als einen Su-pervisionsstaat zu begreifen. Unter einem Supervisionsstaat versteht er wiederum einen solchen, der nicht mehr plump glaubt, alle Probleme durch den Einsatz von Zwang lösen zu müssen oder zu können, und der stattdessen weitgehend unterstützend, aber auch - dabei die Autonomie an-derer sozialer Systeme achtend - mit Bedacht eingrenzend operiert. Um einen solchen Staat zu verwirklichen, bedarf es laut Willke vor allem des Auf- resp. Ausbaus einer wissensba-sierten Infrastruktur des Staates: War der klassische Rechtsstaat auf eine machtbasierte, der Sozial- oder Wohl-

fahrtstaat auf eine geldbasierte, so ist der Supervisionsstaat im Zeitalter der Informationsgesellschaft auf eine wis-sensbasierte Infrastruktur angewiesen. Wie sollte man den Gefahren geneti-scher Forschung, denen des Einsatzes von Kernenergie oder den Gefahren einer Verselbständigung computerge-steuerter militärischer Abschirmsys-teme etc. angemessen entgegenwirken können, wenn nicht mit Hilfe eines ungewöhnlich weitgehenden Exper-tenwissens? Vor allem aber gelingt es Willke, deutlich zu machen, daß die individualisierenden, immer nur auf interagierende Personen als Hand-lungsträger zurechnenden �Gerech-tigkeits- und Staatstheorien, ein-schließlich der Sozialphilosophie von Habermas, die sich immer antiquier-ter ausnimmt�, dringend einer Revisi-on bedürfen. Es gelte endlich zu be-greifen, daß sich unsere Gesellschaft funktional über die systemspezifische Codierung der Kommunikation in operational geschlossene, selbstrefe-rentielle Systeme differenziert habe, die eben darum systemisch operieren und nicht entsprechend (der Summe) willkürlicher, (un)vernünftiger Ent-scheidungen und Handlungen von Einzelpersonen. Willke, der der Rechts- und Sozialphilosophie von Hegel und Marx eine enorme Bedeu-tung zumißt, sieht in dem größten Teil aktueller Theorien eher rück-schrittliche Tendenzen, denn schon Marx habe �die unerhörte intellektuelle Leistung vollbracht, eine völlig neue Sprache der Analyse spezifisch ökonomischer Prozesse zu schaffen�, in der es sich nicht mehr um die Aktionen von Personen

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tionen von Personen handele, �son-dern um die Operationsweise eines sich (zu seiner Zeit) dramatisch zu operativer Autonomie entwickelnden Teilsystems.� Bezeichnenderweise, so Willke weiter, heiße Marxens Haupt-werk, �das muß man heute ausdrück-lich sagen, nicht 'Die Kapitalisten', sondern 'Das Kapital'�. Insgesamt ist Willkes Arbeit sicherlich anregend. Andererseits geht ihr (ab-sichtsvoll?) die Strenge und Kom-paktheit des für Luhmann typischen systemtheoretischen Duktus ab, wo-durch der Text zwar viel leichter auch dem mit der Systemtheorie weniger Vertrauten verständlich werden dürf-te, aber mit seinen vielen Wiederho-lungen zugleich etwas �gestreckt� wirkt. Außerdem geht Willke in seiner Analyse aus systemtheoretischer Sicht vielleicht auch ein wenig zu arglos vor: So etwa, wenn es um Willkes ge-genüber Luhmann modifizierten Re-flexionsbegriff geht, oder um die Möglichkeit, daß soziale Systeme, die sich doch über ihre Medien bzw. Co-des gegeneinander abschließen, die Codes anderer Systeme berücksichti-gen sollen; aber auch dann, wenn Willke lakonisch von der Möglichkeit eines �Überschreitens reiner Selbstre-ferenz und reiner Autopoiesis� spricht, ohne näher auf Möglichkeiten der Abstimmung dieser Gedanken mit systemtheoretischen Grundlagen einzugehen... Dennoch sind Arbeiten wie diejenige Willkes mittlerweile De-siderat, denn der von ihm konstatierte �Stillstand der Staatstheorie� und die Feststellung, daß selbst den juristi-schen Fakultäten offensichtlich �die

Theorie der Form wie die Empirie des Staates abhanden gekommen ist�, wirken beinahe bedrohlich, wenn man bedenkt, daß sich inzwischen die Notwendigkeit abzeichnet, neben dem ohnehin eher den Eindruck ei-nes Provisoriums erweckenden EG-Recht ein 'Weltrecht' zu kodifizieren, das den offensichtlich immer häufiger werdenden Entsendungen von Blau-helmen und zukünftigen, wegen der ökologischen Gefährdung jetzt schon des öfteren angesprochenen, Grün-helmaktionen einen rechtlichen Rah-men geben könnte, der unter ande-rem die Gefahr einer möglichen Instrumentalisierung derartiger Einsätze von seiten der �starken� Industrienationen ausschlösse.

Harald Wasser