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ASIA, Vortrag am 11.01.2005 Dr. Nina Sonntag, MDK Hamburg 1 Beurteilung des Leistungsvermögens nach Aktenlage möglich? Wenn ja, wann ? Wenn nein, warum nicht ? oder Feststellung der beruflichen Belastbarkeit oder Darstellung des positiven und negativen Leistungsbildes

Beurteilung des Leistungsvermögens

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Page 1: Beurteilung des Leistungsvermögens

ASIA, Vortrag am 11.01.2005 Dr. Nina Sonntag, MDK Hamburg 1

Beurteilung des Leistungsvermögens

nach Aktenlage möglich?

Wenn ja, wann ?

Wenn nein, warum nicht ?

oder Feststellung der beruflichen Belastbarkeit

oder Darstellung des positiven und negativen Leistungsbildes

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Einführung in die Problematik

1. Beurteilung der Leistungsfähigkeit

Die sozialmedizinische bzw. arbeitsmediznische Einschätzung der Leistungsfähigkeit erfolgt in Form eines positiven und eines negativen Leistungsbildes. Das Leitungsbild (LB) ist personenbezogen, bedient sich aber eines standardisierten und Träger übergreifenden Vokabulars.

Die Einschätzung der Leistungsfähigkeit bedeutet Feststellung aller Fähigkeiten, die die versicherte Person in eine berufliche Tätigkeit einbringen könnte. Berücksichtigt werden auch die wesentlichenEinschränkungen durch Krankheit oder Behinderung.

Diese Erkenntnisse im Gutachten bilden für die Verwaltung

die Basis ihrer Entscheidung, z. B.

– ob der Versicherte in den Arbeitsprozess eingegliedert werden kann, – welche Tätigkeiten dem Versicherten zumutbar zugewiesen werden können

(bei der konkreten Betrachtung des allg. Arbeitsmarktes), – ob Leistungen zur Teilhabe (Partizipation) erforderlich werden,– ob wegen der ermittelten Einschränkungen im Leistungsbild eine Rente wegen

teilweiser oder voller Erwerbsminderung anzustreben bzw. zu gewähren ist,– ob keins von dem genannten zutrifft.

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Die arbeitsmedizinischen Begriffe wurden u. a. durch die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, das DIN und die REFA bestimmt.

Die sozialmedizinischen Begriffe werden in der Regel durch das BSG (Bundessozialgericht) geprägt und durch die gesetzlichen Bestimmungen in den SGB (Sozialgesetzbüchern), im Lohnfortzahlungsgesetz, im Jugendarbeitsschutzgesetz, im Mutterschutzgesetz, in den Unfallverhütungsvorschriften u. a. festgelegt.

Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin und der von dort aus geleiteten Fachausschüsse, z. B. AGS= Ausschuss für Gefahrstoffe, ABS= Ausschuss für Betriebssicherheit, ABAS= Ausschuss für Biologische Arbeitsstoffe und DIN (Deutsches Institut für Normung, NAMed= Normenausschuss Medizin)REFA (früher: Reichsausschuss für Arbeitsstudien, heute: Verband für Arbeitsgestaltung, Betriebsorganisation und Unternehmensentwicklung e.V.)

2. Anwendung leistungsrelevanter Begriffeaus der Arbeits- bzw. Sozialmedizin unddem Sozial- bzw. Leistungsrecht

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Die Begriffe„auf Dauer“, „länger als 6 Monate“, „bis zu 6 Monaten“, „unter 3 Stunden“, „erheblich gefährdete Erwerbsfähigkeit“, „geminderte Erwerbsfähigkeit“, „wesentliche Besserung“, „dieselbe Krankheit“, „hinzugetretene Krankheit“,„durchgehende Arbeitsunfähigkeit“, „innerer Zusammenhang“ etc.

haben nicht nur eine leistungsrechtliche Konsequenzfür die zu begutachtende Person, sondern sie bestimmen auch die Zuständigkeiteines Leistungsträgers (Versicherung) / Arbeitgebers etc..

Obwohl die Gesetze, Richtlinien und juristische Vereinbarungen im Leistungsrecht der Versicherer für die Ärzteschaft, auch für dieSozialmediziner, schwer durchschaubar sind, ist zu fordern, dass die beratenden Ärztinnen und Ärzte, d. h. alle medizinischen Sachverständigen von Versicherungen / Gerichten die gängigen Fragen in ihrer Bedeutung verstehen und die von ihnen im Gutachten benutzten Begriffe nur entsprechend ihrer Definition verwenden.

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Beispiele für die Komplexität der Begriffe:

Die Arbeitsunfähigkeit hat immer eine berufliche und eine medizinische Komponente. Hier gilt als Maßstab ausschließlich die letzte (aktuelle) Tätigkeit (nicht z. B. der Beruf) und zur Feststellung von Leistungs-minderung ist die aktuelle (Arbeitsunfähigkeit begründende) Krankheitheranzuziehen (und nicht alle bekannten Beeinträchtigungen mit denen der Patient seit Jahren arbeiten konnte).

Das Rentenrecht wurde durch das Richterrecht des BSG (Bundessozialgerichts) fortlaufend gestaltet, so dass die versicherte Person im größeren Umfang auf andere Tätigkeit, auch außerhalb des erlernten Berufsfeldes, verwiesen werden kann (auf die sog. Verweisungsberufe), die in objektiver und subjektiverHinsicht für den Versicherten als zumutbar gelten.

Bei Arbeitlosen spielt neben der beruflichen und medizinischen Komponente zusätzlich noch die Dauer der Arbeitslosigkeit eine entscheidende Rolle für die Gewährung von Leistungen.

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Die „Nötigung“ der Ärzteschaft ohne ausreichende sozial-medizinische Schulung in Formularen leistungsrelevante Einschätzungen abzugeben, ist gegenüber dem Versicherten (Patienten) unverantwortlich.

Der Patient weißt oft gar nicht, dass Informationen über ihn eingeholt wurden auf deren Basis seine beantragte Leistung entschieden wurde.

Zu fordern wäre, dass entweder die leistungsrelevanten Aussagen nach Absprache mit dem Patienten abgegeben werden oder diese Informationen auch dem Betroffenen zukommen, damit er sie ggf. richtig stellen kann.

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Die Nennung der Leistungsträger wie Krankenkasse, LVA, Agentur für Arbeit und der zugehörigen Ärztlichen Dienste ist rein zufällig und soll der Fehler-

Prävention dienen. Die Fälle haben sich nicht in HH zugetragen. Ob sie auch hier vorkommen könnten, muss jeder für sich selbst entscheiden.

Kasuistik: Herr Adam

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Kasuistik: Herr Adam, AU seit 8.1.2003

MDK- Unterlagen

1. Auftrag an den MDK (09.3.2003): Dauer der Arbeitsunfähigkeit (AU) ?

Angaben der Krankenkasse:Herr Adam ist 53 Jahre alt, seit 2 Jahren verheiratet, keine Kinder. GdB 30 wegen Bandscheibenschaden, Kein MdE, bisher keine Anträge für Reha bzw. Rente.

AU- Vorgeschichte (in Klammern Angabe von Monaten):1995 (2- 6) - 125 Tage AU: Bronchitis und Bandscheibenschaden,1996 (8) - 16 Tage AU: Nierensteine 1997 (8-12) - 128 Tage AU: Nierensteine, Nephritis, Urethritis, 1998 (2-3) - 57 Tage AU: Nierensteine, Nephritis, Urethritis1999 (6) - 24Tage AU: Knieprellung rechts 1999 (11) - 12 Tage AU: Sinusitis maxillaris2000 (11) - 4 Tage AU: Diarrhoe2001 (3) - 8 Tage AU: akute Bronchitis2002 (2) - 17 Tage AU: Analabszess2002 (6) - 29 Tage AU: Kreuzschmerz

Seit 8.1.2003 arbeitsunfähig, Krankengeld ab 19.02.2003,Diagnosen: Instabile Angina pectoris, alter Myokardinfarkt, Bypass-Op. Erlernter und zuletzt ausgeübter Beruf: Zimmerer, angestellt seit 16.08.1993 vollschichtig, ungekündigt.

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Aktenlage, sozialmedizinische Fallberatung (SFB):

AU auf Dauer für die letzte Tätigkeit als Zimmerer. Herr Adam darf nur noch leichte bis mittelschwere Tätigkeiten ausüben. Die Erwerbsfähigkeit ist erheblich gefährdet, die Voraussetzungen zur Anwendung des § 51 SGB V sind erfüllt, Antrag auf Teilhabe (Berufliche Reha) soll gestellt werden.

Hinweis: § 51 SGB V = Wegfall des Krankengeldes, Antrag auf Leistungen zur Teilhabe

(Teilhabe = Leistungen zur medizinischen und beruflichen Rehabilitation)

2. Auftrag an den MDK (24.04.2003): Medizin. Reha (§ 51 SGB V) zu empfehlen ?

Aktenlage, sozialmedizinische Fallberatung (SFB):

Antrag auf eine medizinische Rehabilitation (§ 51 SGB V) wird bejaht.

3. Auftrag an den MDK (22.05.2003): Med. Reha nach § 51 SGB V abgelehnt (LVA).

Aktenlage, sozialmedizinische Fallberatung (SFB):

Widerspruch gegen Ablehnung des § 51 SGB V soll eingeleitet werden.Empfohlen wird eine innerbetriebliche Umsetzung auf einen leidensgerechten Arbeitsplatz. AU auf Dauer, ggf. bis Leistungsende der Krankenkasse (78 Wochen).

Kasuistik Nr. 1: Herr Adam, AU seit 8.1.2003

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4. Auftrag an den MDK (01.08.2003): Siehe Schreiben des Arbeitgebers, Weitere Maßnahmen?

Schreiben des Arbeitgebers an die Krankenkasse vom 23.07.2003:„..uns liegt ein Gutachten vom 22.05.2003 vor, aus dem hervorgeht, dass Herr Adam für diese Tätigkeit dauerhaft arbeitsunfähig bleibt. Eine Tätigkeit als Zimmerer mit ausschließlich leichten bis mittelschweren Arbeiten ist auf unseren Baustellen nicht möglich. Auch eine innerbetriebliche Arbeitsplatz-umsetzung können wir leider nicht realisieren, da keine Arbeitsplätze mit körperlich leichten Tätigkeiten, die der Qualifikation von Herrn Adam entsprechen, vorhanden ist...“

Gutachten nach Aktenlage (18.8.2003): Herr Adam ist auf Dauer für die zuletzt ausgeübte Tätigkeit nicht mehr einsetzbar. Aufgrund des Schreibens des Arbeitgebers vom 23.07.2003 ist eine Umsetzung auf einen leidensgerechten Arbeitsplatz nicht realisierbar. Es besteht Arbeitsunfähigkeit auf Dauer, ggf. bis Leistungsunterbrechung der Krankenkasse nach 78 Wochen.

Kasuistik Nr. 1: Herr Adam, AU seit 8.1.2003

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Seit 8.1.2003 arbeitsunfähig

Diagnosen: Instabile Angina pectoris, alter Myokardinfarkt, Bypass-Op.

Erlernter und zuletzt ausgeübter Beruf: Zimmerer, angestellt seit 16.08.1993

Datum: 18.8.2003 Arbeitsunfähigkeit: 7,5 Monate

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LVA- Unterlagen

Antrag auf Teilhabe wurde nie gestellt, weil Herr Adam von der Krankenkasse (KK) über die MDK- Empfehlung (09.03.2003) nicht informiert wurde. Der Antrag auf medizin. Reha nach § 51 SGB V wurde per Aktenlage 05/2003 abgelehnt, weil keine Aussicht auf Erfolg bestand. Es hieß: „…die Erwerbsfähigkeit ließe sich durch eine medizinische Rehabilitation nicht wieder herstellen….“ Grundlage dieser Entscheidung waren die Aussagen der Krankenkasse und des MDK.Der Widerspruch der KK gegen die Ablehnung der Reha (§ 51 SGB V) war erfolgreich. Die LVA bewilligte Leistungen zur Teilhabe.

Nach Angabe von Herrn Adam am 20.07.2004 wurde das LB per Aktenlage erhoben„er habe nie einen Gutachter zu Gesicht bekommen“. Es wurde ihm von der LVA schriftlich mitgeteilt, dass er sich mit dieser sozialmedizinischen Leistungsbeurteilung vom 5.10.2003 beim Arbeitsamt melden bzw. sich einen anderen Job suchen soll.

Kasuistik: Herr Adam, AU seit 8.1.2003

Auszug aus dem Schreiben der LVA vom 05.10.2003

„…für die Tätigkeit als Zimmerer / Einschaler im Betonbau sind Sie unter 3 Stunden belastbar. Es besteht folgendes Leistungsbild:

Positives Leistungsbild: leichte bis mittelschwere Tätigkeit zeitweise im Stehen, überwiegend im Gehen und Sitzen. Zugestanden wird eine Tagesschicht bzw. Früh-/ Spätschicht. Negatives Leistungsbild: ohne häufiges Bücken, ohne Zwangshaltung, ohne Nachtschicht, ohne besonderen Zeitdruck. Für das positive Leistungsbild sind Sie für mehr als 6 Stunden täglich belastbar….“

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Herr Adam meldet sich 10/2003 beim Arbeitsamt, sagt dort, dass er keine Umschulung braucht.Herr Adam meldet sich auch im 10/2003 bei seiner Firma, will dieArbeit aufnehmen. Die Firma beruft sich auf die Angaben der KK (nur leichte bis mittelschwere Arbeit zumutbar) bzw. benötigt eine amtsärztliche Bescheinigung, dass er als Zimmerer belastbar ist.

Im 11/ 2003 stellt Herr Adam erneut einen Antrag auf med. Reha bei der LVA, weil er hofft, danach wieder in seinem Beruf arbeiten zu können.

02 /2004 wird Herr Adam von der Arbeitsagentur aufgefordert Leistungen zur Teilhabe anzutreten, sonst verliere er Ansprüche auf Arbeitslosengeld. (Herr Adam bezog nie Leistungen des Arbeitsamtes bzw. der Arbeitsagentur und wurde dort nie begutachtet.)

03 /2004 wird von der LVA der Antrag auf med. Reha mit dem Vermerk bewilligt, dass erst das Ergebnis der med. Reha abzuwarten sei, bevor die Leistung zur Teilhabe beginnt. Entsprechende Information erhält auch die Arbeitsagentur.

Kasuistik: Herr Adam, AU seit 8.1.2003

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ASIA, Vortrag am 11.01.2005 Dr. Nina Sonntag, MDK Hamburg 14

Seit 8.1.2003 arbeitsunfähig

Diagnosen: Instabile Angina pectoris, alter Myokardinfarkt, Bypass-Op.

Erlernter und zuletzt ausgeübter Beruf: Zimmerer, angestellt seit 16.08.1993

Datum: März 2004 Arbeitsunfähigkeit: 15 Monate

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Die Aufnahme in die kardiologische Reha- Klinik erfolgt am 23.6.2004.

Am 7.7.2004 ist Herr Adam von der Krankenkasse nach 78 Wochen Krankengeld (maximaler gesetzlicher Anspruch) „ausgesteuert“.

Am 14.7.2004 erfolgt die Entlassung aus der Reha als arbeitsfähig für leichte bis mittelschwere Tätigkeiten * zum 15.7.2004.

* Das LB der Klinik entsprach dem des LVA Schreibens vom 5.10.03.,einschl. der Empfehlung für Leistungen zur Teilhabe.

Der Kurzbericht mit dem LB wird an die Hausärztin am 14.7.2004 gefaxt. Die Hausärztin erbittet in der Klinik noch am 15.7.04 Erläuterung des LB, weil sie Herrn Adam aufgrund dieser Aussage weiterhin Arbeitsunfähigkeit attestieren müsste.

Kasuistik: Herr Adam, AU seit 8.1.2003

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ASIA, Vortrag am 11.01.2005 Dr. Nina Sonntag, MDK Hamburg 16

Die Reha- Klinik will sich mit dem MDK hinsichtlich der AU- Beurteilung abstimmen. Am 15.7.2004 wird telefonisch der Sachverhalt wie folgt geschildert: • Herr Adam wolle das Sozialsystem ausnutzen und nicht arbeiten. • Die durchgeführte Diagnostik in der Reha-Klinik ergab keineleistungseinschränkenden Befunde des Herz-Kreislaufsystems.

• Der Verschleiß der Wirbelsäule ist seit Jahren bekannt und bedingtedort keinen Handlungsbedarf.

In der Reha habe er sich zweimal sonntags unerlaubt entfernt, weil er Fußballspielen wollte. Er sei nicht gekündigt, arbeite als Zimmerer im Tiefbau und es spräche nichts dagegen, warum er dies nicht weiter machen könnte. Das erheblich eingeschränkte LB und die Empfehlung von Leistungen zur Teilhabe konnte medizinisch nicht begründet werden. „Man habe wohl die sozialmedizinische Einschätzung der LVA und des MDK übernommen, weil man sich im Leistungsrecht nicht auskenne“.

Kasuistik: Herr Adam, AU seit 8.1.2003

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Anamnese:Herr Adam hatte weder einen Herzinfarkt noch einen Bypass erhalten. Im 01/2003 wurde innerhalb von 2- 3 Tagen die richtige Diagnose KHK gestellt, er wurde sofort koronarographiert und erhielt nach einer erfolgreichen PTCA einen Stent. Die Kontrollkoronarographie drei Monate später ergab normale Verhältnisse, auch das Herzecho war und ist völlig unauffällig.

Ich empfahl sofortige Korrektur der Fehleinschätzung im LB und dieses umgehend an die Hausärztin zu faxen. Außerdem musste der Patient (bereits zu Hause) sofort über die Fehlbe-urteilung seiner Leistungsfähigkeit informiert werden.

Kasuistik: Herr Adam, AU seit 8.1.2003

Herr Adam wünschte eine sozialmedizinische Beratung mit Klärung. Der Beratung im MDK Hamburg musste zuvor die Hausärztin, die Krankenkasse und der örtliche MDK zustimmen.

Es folgten unzählige Telefonate und reger Schriftverkehr mit der Krankenkasse, dem Patienten, der Hausärztin, dem Oberarzt der Reha-Klinik, der LVA, dem MDK, der Arbeits-agentur, den beteiligten Vertragsärzten, der Personalabteilung der Firma. (Mein Aufwand: ca. 4 Arbeitstage! Und die Gesamtkosten? )

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ASIA, Vortrag am 11.01.2005 Dr. Nina Sonntag, MDK Hamburg 18

Die Krankenkasse hatte zunächst kein Interesse dem MDK einen Auftrag zu erteilen, weil der Patient inzwischen „ausgesteuert“ war. Nach Darstellung des Problems, hat die Krankenkasse innerhalb von wenigen Minuten alle Formalitäten erledigt.Der Auftrag erfolgte gem. § 275 SGB V „Beratung auf Wunsch des Versicherten“, weil der MDK Arbeitsfähige im Rahmen der Beratung bei Arbeitsunfähigkeit nicht begutachten darf.

Kasuistik: Herr Adam, AU seit 8.1.2003

Am 20.07.2004 kam Herr Adam nach Hamburg zur Beratung und Begutachtung.

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Angaben von Herr Adam im Rahmen der persönlichen Begutachtung:

Beruf / Anforderungsprofil der BezugstätigkeitHerr Adam ist ein gelernter Zimmerer, hat immer im Tiefbau gearbeitet und ist seit 1989 bei einer Hoch- und Tiefbau-Firma beschäftigt. Zu seinen Aufgaben gehören: • Betonieren, d. h. Halten des Schnorchels der Betonmaschinen,

Bedienung der Rüttelmaschine, Abziehen vom Beton,• Großraumschalungen, d. h. die Eisenplatten werden mit Hilfe eines

Krans positioniert und mit großen Klemmen manuell festgemacht, Holz bzw. Balken zusägen, Nägel einschlagen,

• Sommerarbeitszeit beträgt ca. 10-11 Stunden täglich (weil für den Winter vorgearbeitet wird), die Schicht ist durchgehend, zwei halbstündige Pausen (Frühstück und Mittag), gearbeitet wir überwiegend im Akkord

Er schätzt seine Arbeit als schwer ein, wobei er sich dieser Tätigkeit gewachsen fühlt. Den Beruf übt er sehr gerne aus, genießt hohes Ansehen durch den Arbeitgeber und ist auf die Bau-Projekte der Firma stolz.

1985-1987 (34/35 Jahre alt) wurde er wegen degenerativen WS- Veränderungen auf Kosten der LVA vom Arbeitsamt zum Feinmechaniker umgeschult. Da ihm vor Abschluss der Ausbildung vom Arbeitsamt keine Hoffnung auf eine erfolgreiche Vermittlung im neuen Beruf gemacht wurde, nahm er die alte Berufstätigkeit als Zimmerer wieder auf.

Kasuistik: Herr Adam, AU seit 8.1.2003

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Angaben von Herr Adam im Rahmen der persönlichen Begutachtung

Die Ergometrie wurde in der Reha-Klinik „abgebrochen“, weil er nicht weiter treten „musste“. Herr Adam habe dem Untersucher gesagt, dass er „stundenlang so weiter fahren könnte, wenn man ihn nur ließe.“ Er empfand die Ergometrie bis 125 Watt nicht sonderlich anstrengend und die Anwendungen (Trainingseinheiten) für sich zu leicht.

In der Reha-Klinik wurde ihm Rückenschwimmen verordnet. Da er Nichtschwimmer ist, sollte er um das Schwimmbecken herum laufen.Das war ihm zu albern. Joggen und Fahrradfahren wurden ihm nichterlaubt, weil dieses nicht im Programm der Reha- Klinik stand.

Er ist Leistungssporler gewesen und nebenberuflich seit vielen Jahren Fußballtrainer für 14jährige Jugendliche. Er muss alle Übungen vormachen, mitmachen, selten setzt er im Training selbst aus. In den letzten Monaten hat er sich nur etwas weniger belastet als sonst. Er will in wenigen Tagen einen zwei wöchigen Fahrrad- Urlaub antreten, um sich für den schweren Job aufzutrainieren. Als Sportler ist ihm die Form einer gestuften Konditionierung bekannt.

Kasuistik: Herr Adam, AU seit 8.1.2003

Page 21: Beurteilung des Leistungsvermögens

ASIA, Vortrag am 11.01.2005 Dr. Nina Sonntag, MDK Hamburg 21

Eine Darstellung des positiven und negativen Leistungsbildes sollte nach Aktenlage nicht erfolgen, weil die notwendigen personenbezogenenInformationen (Angaben des Patienten, Funktionsdiagnostik) in der Regel fehlen.

„Fremdbefunde“, Vorberichte bzw. Vorgutachten, sofern sie die Grundlage für eine leistungsrelevante Aussage bilden, sollten auf ihre Richtigkeit überprüft werden, z. B. durch Rücksprache mit dem (mündigen und in seinem Beruf erfahrenen) Patienten oder Hausarzt.

Im Rahmen der sozialmedizinischen Beratung / Begutachtung sollte der Patient vom Gutachter über die erhobenen qualitativen bzw. quantitativenEinschränkungen im LB informiert werden einschließlich der leistungsrelevanten Konsequenzen wie • AU auf Dauer oder

• wesentlichen Einschränkung im Leistungsbild.

Page 22: Beurteilung des Leistungsvermögens

ASIA, Vortrag am 11.01.2005 Dr. Nina Sonntag, MDK Hamburg 22

Frau Eva ist 49 Jahre alt, verheiratet, hat 4 Kinder, jüngstes 12 Jahre, Ehemann ist alkoholkrank und seit Jahren arbeitslos. • kein GdB, kein MdE, Beginn der AU 2000 keine Reha und keine Rente beantragt. • gelernte Modistin, arbeitet seit 24 Jahren als Verkäuferin in der Stoffabteilung

eines großen Kaufhauses, vollschichtig, ungekündigt.• AU- Vorgeschichte unauffällig• AU seit 14.09.2000: Erschöpfung, Varicosis bds. mit Op.-Indikation, Ulcus

cruris links, Unterschenkelödeme bds. massive und Adipositas mit BMI von44 (165 cm, 120kg), Bluthochdruck seit Jahren, kein Diabetes mellitus.

• Sie soll operiert werden, wenn sie ca. 40 kg abgenommen hat. Frau Eva beantragt im 09/2000 eine Reha, weil sie abnehmen möchte.

Kasuistik: Frau Eva, AU seit 14.09.2000

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Frau Eva beantragt im 09/2000 eine Reha, weil sie abnehmen möchte.Die Rentenversicherung gewährt ihr eine 12 wöchige Reha in einerpsychosomatischen Reha- Klinik.

Begründung im sozialmedizinischen Gutachten:

Frau Eva unterliegt einer Mehrfachbelastung seit Jahren. Im Haushalt leben 2 suchtkranke Personen (Frau Eva mit einer Ess-Störung und ihr alkoholkranker Ehemann). Eine ambulante Therapie im häuslichen Milieu ist nicht ausreichend, die Erwerbsfähigkeit ist erheblich gefährdet.

Kasuistik: Frau Eva, AU seit 14.09.2000

Frau Eva konnte mit Hilfe des Reha- Teams in der Klinik das Gewicht stark re-duzieren (über 20 kg in stationärer Obhut ). 6 Monate nach Reha (09/2001) erreichte sie eine Körpergewichtsreduktion von insgesamt 30 kg. Im Laufe der nächsten 2 Jahre um weitere 10 kg.

03/ 2002 erfolgte die Varizen- Operation, danach wurde die „Bauchschürze“ operativ entfernt. Das Gewicht lag 3 Jahre nach Reha bei ca. 80 kg.

Frau Eva arbeitet vollschichtig in ihrem Beruf.