43
III Martianus Capella, De nuptiis Philologiae et Mercurii Martianus Capellas Schrift De nuptiis Philologiae et Mercurii ist eine Bildungs- schrift par excellence. Aufgrund der ausführlichen Darstellung der Künste Grammatik, Dialektik, Rhetorik, Geometrie, Arithmetik, Astronomie und Har- monie wurde die Schrift im Mittelalter zum Lehrbuch schlechthin, und auch die Schilderung der Vergöttlichung Philologias, des Inbegriffs des Wissens und der Schule, unterstreicht diesen Aspekt. Dieses Kapitel widmet sich der literarischen Gestalt dieser für die abend- ländische Bildungstradition grundlegenden Schrift und versucht, nach einer knappen Skizze der Vita des Martianus Capella, ausgehend von Auffälligkeiten einen Beitrag zum Gesamtverständnis der Schrift zu leisten. Gerade auf diese Weise kann ein Verständnis von MartianusBildungskonzeption erreicht werden, da nicht Einzelfragen (wie die Quellenfrage) im Vordergrund stehen. Es wird sich zeigen, dass Martianus durch den bewussten Umgang mit literarischen Tradi- tionen und ihre geschickte Verbindung eine eigene Position zur Bedeutung von traditioneller Bildung zum Ausdruck bringt. 1 Vita Über Martianus Capella sind trotz intensiver, früh einsetzender Forschung nur wenige Details bekannt. Die meisten Informationen müssen aus dem Werk geschöpft werden; doch sind sie sehr spärlich und bedürfen immer der Deutung. Einige wenige An- haltspunkte zur Datierung können textexterne Überlegungen bieten. Der Name Martianus Minneius Felix Capella ist durch die Handschriften (bei wenigen orthographischen Varianten) gesichert, die heutige Benennung als Martianus Capella ist hingegen wohl nicht ursprünglich.²³ Der Titel seines Werkes De nuptiis Philologiae et Mercurii ist nicht original belegt.²⁵⁴ In De nuptiis spricht Satura den Erzähler mit Felix meus (6, 576) oder Felix Capella (8, 806; 9, 999) an. Ebenso bezeichnen ihn Fulgentius (serm. ant. 45) und Cassiodor (inst. 2, 2, 17; 2, 3, 20). Gregor von Tours nennt ihn Martianus noster (Franc. 10, 31), ohne dass damit eine religiöse, räumliche oder zeitliche Nähe ausgedrückt sein muss. Der Titel findet sich das erste Mal bei Fulgentius: [Quid sit celibatum.] Celibatum dici voluerunt virginitatis abstinentiam, unde et Felix Capella in libro De nuptiis Philologiae et Mercurii ait: Placuit Minervae pellere celibatum. (serm. ant. 45) Brought to you by | St. Petersburg State University Authenticated | 134.99.128.41 Download Date | 12/7/13 2:59 PM

Bildungsvorstellungen im 5. Jahrhundert n. Chr. (Macrobius, Martianus Capella und Sidonius Apollinaris) || III Martianus Capella, De nuptiis Philologiae et Mercurii

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Bildungsvorstellungen im 5. Jahrhundert n. Chr. (Macrobius, Martianus Capella und Sidonius Apollinaris) || III Martianus Capella, De nuptiis Philologiae et Mercurii

III Martianus Capella De nuptiis Philologiaeet Mercurii

Martianus Capellas Schrift De nuptiis Philologiae et Mercurii ist eine Bildungs-schrift par excellence Aufgrund der ausfuumlhrlichen Darstellung der KuumlnsteGrammatik Dialektik Rhetorik Geometrie Arithmetik Astronomie und Har-monie wurde die Schrift im Mittelalter zum Lehrbuch schlechthin und auch dieSchilderung der Vergoumlttlichung Philologias des Inbegriffs des Wissens und derSchule unterstreicht diesen Aspekt

Dieses Kapitel widmet sich der literarischen Gestalt dieser fuumlr die abend-laumlndische Bildungstradition grundlegenden Schrift und versucht nach einerknappen Skizze der Vita des Martianus Capella ausgehend von Auffaumllligkeiteneinen Beitrag zum Gesamtverstaumlndnis der Schrift zu leisten Gerade auf dieseWeise kann ein Verstaumlndnis von Martianusrsquo Bildungskonzeption erreicht werdenda nicht Einzelfragen (wie die Quellenfrage) im Vordergrund stehen Es wird sichzeigen dass Martianus durch den bewussten Umgang mit literarischen Tradi-tionen und ihre geschickte Verbindung eine eigene Position zur Bedeutung vontraditioneller Bildung zum Ausdruck bringt

1 Vita

Uumlber Martianus Capella sind trotz intensiver fruumlh einsetzender Forschung nur wenigeDetails bekannt Diemeisten Informationenmuumlssen aus demWerkgeschoumlpft werdendoch sind sie sehr spaumlrlich und beduumlrfen immer der Deutung Einige wenige An-haltspunkte zur Datierung koumlnnen textexterne Uumlberlegungen bieten

Der Name Martianus Minneius Felix Capella ist durch die Handschriften (beiwenigen orthographischen Varianten) gesichert die heutige Benennung alsMartianus Capella ist hingegenwohl nicht urspruumlnglichsup2⁵sup3 Der Titel seinesWerkesDe nuptiis Philologiae et Mercurii ist nicht original belegtsup2⁵⁴

In De nuptiis spricht Satura den Erzaumlhler mit Felix meus (6 576) oder Felix Capella (8 8069 999) an Ebenso bezeichnen ihn Fulgentius (serm ant 45) und Cassiodor (inst 2 2 17 2 3 20)Gregor von Tours nennt ihn Martianus noster (Franc 10 31) ohne dass damit eine religioumlseraumlumliche oder zeitliche Naumlhe ausgedruumlckt sein muss Der Titel findet sich das erste Mal bei Fulgentius

[Quid sit celibatum] Celibatum dici voluerunt virginitatis abstinentiam unde et Felix Capellain libro De nuptiis Philologiae et Mercurii ait sbquoPlacuit Minervae pellere celibatumlsquo (sermant 45)

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Zur Zeit der Abfassung von De nuptiis ist Martianus Capella bereits im fort-geschrittenen Altersup2⁵⁵ Uumlber die familiaumlren Verhaumlltnisse die Abstammung undAumlmter Martianusrsquo sind wir bis auf ein einziges Faktum nicht weiter informiertDurch eine direkte Anrede zu Beginn und am Ende des Werkes ergibt sich dassMartianus Capella einen Sohn hatte Dieser Sohn hieszlig ebenfalls Martianus (1 2 9997)

Keine gesicherten Aussagen koumlnnen jedoch uumlber den Beruf des Martianusgetroffen werden Auch wenn Martianus sich selbst mit dem einfachen Landlebenin Verbindung bringt (iugariorum murcidam viciniam ndash sbquodie traumlge Naumlhe der Och-senknechtelsquo 9 999) muss er nicht zwangslaumlufig Bauer gewesen seinsup2⁵⁶ Es ist eherdavon auszugehen dass er sich zur Zeit der Abfassung von De nuptiis als Pri-vatmann auf dem Land aufhieltwo in seiner Nachbarschaft Viehhirten unterwegswarensup2⁵⁷ Ebenso wenig muss der spaumlrliche Ertrag (parvo lucro 9 999) der imfolgenden Vers erwaumlhnt wird auf Armut oder gar auf Abhaumlngigkeit von laumlndlichenErtraumlgen hindeuten Er kann auch das Bild eines Privatiers unterstuumltzen der nichtauf die Einkommen aus der Landwirtschaft angewiesen ist bzw nicht vom Ertragseines Anwesens lebtsup2⁵⁸ Hinweise auf eine fruumlhere anwaltliche Taumltigkeit sindebenfalls umstrittensup2⁵⁹

[Was die Ehelosigkeit sei] Man bezeichnete die Ehelosigkeit als Enthaltsamkeit im Sinne derKeuschheit weshalb auch Felix Capella in seinem Werk De nuptiis Philologiae et Mercurii[1 5] sagt sbquoEs gefiel Minerva die Ehelosigkeit zu beendenlsquo

In zwei auktorialen Passagen bietet Martianus beilaumlufig Informationen uumlber sein Altercapillis albiscentibus (sbquomit weiszligen Haarenlsquo 1 2) und anilem oder senilem hellip fabulam (sbquodieGeschichte eines alten Manneslsquo 9 997) Ein genaues Alter laumlsst sich jedoch nicht ausmachenauch wenn versucht worden ist aus der Wendung incrementis lustralibus decuriatum (1 2) dasAlter des Martianus bei der Abfassung zu bestimmen StahlJohnson erklaumlren die Stelle in ihrerUumlbersetzung woumlrtlich als bdquomultiplied by ten with fivefold increasesldquo doch erkennen sie darinkeine genaue Altersangabe (z B 50 Jahre wie Zekl in seiner Uumlbersetzung formuliert) IhreErklaumlrung der Stelle zielt darauf dass die Wuumlrde des Alters markiert werden solle (decuriatumkann auch den Ruhestand bezeichnen) der genaue Gedanke lasse sich nicht rekonstruierendaher bdquoThe translation given is deliberately vagueldquo Dies nimmt Parker an bdquoThe author was a poor farmer (vix respersus lucro) who could findtime for his literary labours in winter but not in summerldquo (Parker 1890 443) Als verarmt siehtauch Stahl Martianus an (Stahl 1971 9) erkennt aber an dass er gebildet gewesen sei (ibid 19) Vorausgesetzt ist dabei immer dass die Lesart iugariorum zutrifft die die meistenHandschriften bieten Bei der Lesart iurgariorum ndash die zwar ein Hapax legomenon in der la-teinischen Literatur waumlre was bei Martianus aber wiederum nicht ausgeschlossen werdenkann ndash befaumlnde sich Martianus in der Naumlhe von Zankenden und das koumlnnte eher auf denAufenthalt in einer (groumlszligeren) Stadt hindeuten Vgl zu parvum bes Hor serm 2 2 1 und Tib 1 1 25 wo keineswegs an bittere Armutgedacht ist

1 Vita 115

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Heimatort zumindest aber Geburtsort des Martianus ist Karthago wie sichzweifelsfrei aus 9 999 einem Teil der das Werk beschlieszligenden Sphragis ergibt

beata alumnum urbs Elissae quem videt

auf den das gluumlckliche Karthago als Sohn blickt

Zu dieser Aussage passt auch die in der Forschung haumlufig wiederholte Feststel-lung Martianusrsquo Stil weise eindeutig nordafrikanische Elemente auf dies wird anParallelen zum Werk unter anderem des Apuleius aufgezeigtsup2⁶⁰ Dies wird auchdurch den Namenszusatz afer Carthaginiensis in einer Handschrift gestuumltztsup2⁶sup1

Quae virtus et quanta boni sit vivere parvo (discite) ndash sbquo(Erfahrt) ihr guten Menschenwelch eine Tugend es ist und eine wie groszlige mit nur bescheidenen Mitteln auszukom-menlsquo

Iam modo iam possim contentus vivere parvo ndash sbquoBald schon moumlchte ich zufrieden mitmeinen bescheidenen Mitteln leben koumlnnenlsquo

Die Diskussion geht von wenigen Versen aus die schwer verstaumlndlich bis korrupt sind Imdas Werk beschlieszligenden Gedicht sagt Satura uumlber Martianus

bdquoFelicisldquo inquit bdquosed Capellae flamineindocta rabidum quem videre saeculaiurgis caninos blateratus pendereproconsulari verba dantem culmini hellipldquo (9 999)

bdquoAber von der heiszligen Luft des Felix Capella (inspiriert)ldquo sagte sie bdquoden ungebildeteZeiten sahen wie er vernichtend in Zankereien huumlndisches Geklaumlff beurteilte indem erder prokonsularischen Hoheit Worte (zu houmlren) gab hellipldquo

So deutlich die Anspielungen auf eine oumlffentliche Taumltigkeit sind so vage und unverstaumlndlichbleiben sie auch Die Mehrheit der Forscher ist allerdings der Auffassung dass hier von eineranwaltlichen Taumltigkeit des Martianus die Rede ist oder zumindest eine Taumltigkeit beschriebenwird die oumlffentliches Reden nutzte (also z B als Rhetor) Dazu passt auch die Erwaumlhnung desAmtes des Prokonsuls (9 999) ohne dass deutlich wird ob Martianus das Amt selbst bekleidethat oder vor dem Amtstraumlger gesprochen hat

Eine weitere Stelle macht die Verbindung mit oumlffentlichen Auftritten plausibler In einemInterludium wirft Satura Martianus vor er habe vor lauter Haarspaltereien auf dem Forum diewahre Beschaumlftigung aus den Augen verloren so dass er nun nicht einmal mehr Philosophiaerkenne (6 575) Wird auch hier wiederum nicht deutlich welchen Beruf genau Martianusausgeuumlbt hat so impliziert dies doch er habe oumlffentliche Reden gehalten Eine mehr alsgrundlegende literarische Bildung ergibt sich aus der Menge und Diversitaumlt der literarischenVorlagen und philosophischen Kenntnisse vgl v a Shanzer 1986c und Bovey 2003 Vgl Shanzer 1986c 2 Stahl 1971 29 und 32 Pabst 1994 124 Stahl 1971 12 Grebe 1999 12 Der Namenszusatz findet sich in der Handschrift G in derSubskription zum ersten Buch

116 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Die Unsicherheiten in Bezug auf Martianus umfassen auch die Datierung Dersichere Zeitrahmen ist durch die letzte zu ermittelnde verwendete Quelle AristidesQuintilianus und die erste explizite Bezugnahme durch Fulgentius gegebensup2⁶sup2bleibt mit den Eckdaten 34 Jahrhundert und Mitte 6 Jahrhundert allerdings sehrweit

Die Bezeichnung der Heimatstadt Karthago als beata (sbquogluumlcklichlsquo 9 999) bzwinclita pridem armis (sbquoeinst durch seine Waffen beruumlhmtlsquo 6 669) hat daher auchgenaueren Datierungsversuchen einen Ausgangspunkt geboten Jedoch lassensich aus diesen Attributen Karthagos ebenso wenig Indizien fuumlr eine Datierungableiten wie aus der Verwendung des Namens Byzanz fuumlr Konstantinopel (6 670)oder der Erwaumlhnung des Prokonsulamtes in Karthago (9 999)sup2⁶sup3

Aus einer Stelle im Buch uumlber die Geographie laumlsst sich jedoch einigermaszligensicher ein terminus post quem ableiten

Umbri mox Latiumque atque ostia Tiberina dehincque ipsa caput gentium Roma armisvirissacrisque quamdiu viguit caeliferis laudibus conferenda (6 637)

Dann schlieszligen sich an die Umbrer und Latium und die Tibermuumlndung sodann Rom selbstHauptstadt aller Voumllker das Ruhm bis zu den Sternen verdiente solange es noch durchWaffen Maumlnner und Heiligtuumlmer erstrahlte

Die knappe Einschraumlnkung quamdiu viguit verweist auf eine bereits vergangeneZeit der Groumlszlige Roms und wird von den meisten Interpreten mit der Eroberungdurch die Westgoten 410 gleichgesetzt Andere Ereignisse namentlich die Pluumln-derung der Stadt durch die Vandalen im Jahre 455 kommen nicht in Betrachtsup2⁶⁴

Die Abfassung von De nuptiis nun unmittelbar auf die Jahre nach 410 anzu-setzenwie Cameron es tutsup2⁶⁵ ist dabei nicht zwingend Zum einen kannMartianusdie Eroberung als Epochenbruch aufgefasst haben und auch Jahrzehnte spaumlternoch von der fruumlheren d h ungebrochenen Macht Roms sprechen zum anderen

So LeMoine 1972a 8 Die Diskussion fassen Grebe 1999 11ndash21 und Shanzer 1986c 1ndash28 zusammen ZumProkonsulamt vgl auch Schievenin 2009d und Cristante 1978 699f Cameron 1986 326 Cameron begruumlndet dies mit Hinblick auf die angefuumlhrte Stelle da dieVandalen die Stadt nicht entvoumllkerten also die Einschraumlnkung Roma armis viris sacrisquequamdiu viguit nicht auf den Vandalenuumlberfall zutrifft Grebe haumllt in quamdiu viguit eine Be-zugnahme auf 455 oder 468 (Niederlage der byzantinischen Flotte vor Karthago) dagegen fuumlrmoumlglich (Grebe 2000 355) Cameron 1986 326 datiert De nuptiis auf die Zeit unmittelbar nach 410 da Rom nur dannentvoumllkert gewesen sei die Bewohnerzahl habe wenige Jahre darauf wieder ein aumlhnliches Ni-veau wie vor 410 erreicht

1 Vita 117

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

koumlnnen im Trikolon armis viris sacrisque auch verschiedene Arten des Nieder-gangs (Eroberung sowie allmaumlhlicher Verfall) verbunden seinsup2⁶⁶

Ein textexterner Faktor fuumlr die Bestimmung des terminus ante quem ist eineSubskription zum ersten Buch von De nuptiis die sich in einer Reihe von Hand-schriften findetsup2⁶⁷ Sie lautet

Securus Melior Felix v(ir) sp(ectabilis) com(es) consist(orianus) rhetor Urbis R(omae) exmendosissimis exemplaribus emendabam contra legente Deuterio scolastico discipulomeo Romae ad portam Capenam cons(ulatu) Paulini v(iri) c(larissimi) sub V nonarumMartiarum Christo adiuvante (Subskription zu Buch 1 in den Handschriften ABDGR)

Ich Securus Melior Felix vir spectabilis comes consistorianus Rhetor der Stadt Rom habe(das Buch) aus aumluszligerst fehlerhaften Exemplaren verbessert wobei Deuterius Student derRhetorik ein Schuumller von mir gegenlas Rom bei der Porta Capena unter dem KonsulPaulinus vir clarissimus am 5 Maumlrz mit Christi Hilfe

Trotz der vielen genauen Angaben laumlsst sich das Jahr der Abschrift durch SecurusMelior Felix nicht genau bestimmen In der fraglichen Zeitspanne gab es zweiKonsuln mit dem Namen Paulinus (498 und 534 n Chr) Klassischerweise wurdebei Datierungen der Zusatz senior hinzugefuumlgtwenn es zwei Konsuln des gleichenNamens gab so dass die Datierung ohne einen Zusatz auf den fruumlheren Konsulund damit das Jahr 498 fallen musssup2⁶⁸

Fuumlr die Datierung der Abfassung von De nuptiis sind nun noch einige Jahreabzuziehenum die Verbreitung der Schrift von Afrika nach Rom und einen Verfallder Manuskripte zu ermoumlglichen Beides muss jedoch keinesfalls lange gedauerthaben

Eine sichere und genaue Datierung des Werks und des Autors ergibt sich ausden vorgestellten Argumenten zwar nicht Sie bieten aber einige Anhaltspunktedafuumlr dass De nuptiis nach 410 und einige Zeit vor 498 abgefasst wurdesup2⁶⁹

Ebenso Stahl 1971 14 und Shanzer 1986c 5 Zur Diskussion um diese Subskription vgl bes Preacuteaux 1975 Cameron 1986 Shanzer 1986c9 Voumlssing 2008 389f Voumlssing 2008 390 ndash Solch formalistische Regeln an Subskriptionen anzulegen erscheintzunaumlchst schwierig doch in diesem Fall angesichts der weiteren exakten Angaben als durchauszulaumlssig Zu spaumltantiken Subskriptionen und ihrem Aussagewert vgl Cameron 2011 Kap 12ndash 13 Eine Datierung in die Zeit der bdquorenaissance vandaleldquo (der Begriff wurde von Pierre Richeacutegepraumlgt vgl auch Hays 2004) wie Grebe es anhand von kulturgeschichtlichen Uumlberlegungenversucht ist nur moumlglich wenn die Identifizierung des Konsuls Paulinus mit dem erstenAmtstraumlger dieses Namens infrage gestellt wird Grebes Argumentation setzt bei der unsicherenIdentifikation des Paulinus an Sie erwaumlgt sodann eine Abfassung unter den vandalischenHerrschern Gunthamund und v a Thrasamund die die Kultur gefoumlrdert haumltten (Grebe 1999 20 f)

118 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

2 De nuptiis als literarisches Werk

Bereits eine erste unbefangene Lektuumlre von De nuptiis hinterlaumlsst den Eindruckdass Martianus ein anspruchsvolles und komplexes Werk hinterlassen hat Nacheiner kurzen Szene zu Beginn in der sich der Erzaumlhler Martianus mit seinem Sohnunterhaumllt und die am Ende als Rahmen wieder aufgegriffen wird beginnt einemythische Schilderung der Hochzeitsvorbereitungen von Merkur und PhilologiaMerkur macht sich mit Hilfe von Virtus auf die Suche nach einer Braut sucht undfindet Apoll der ihm die sterbliche Philologia als Braut vorschlaumlgt bittet denGoumltterrat um die Genehmigung zur Hochzeit und erhaumllt sie (Buch 1) Als Philologiavon dem Plan erfaumlhrt uumlberlegt sie mit kabbalistisch anmutenden Berechnungenob die Ehe guumlnstig sei bereitet sich auf die Hochzeit durch eine Reinigung vor beider sie ihr bisher gesammeltes Wissen erbricht und steigt in einer Saumlnfte uumlber dieHimmelssphaumlren auf zur Milchstraszlige wo die Hochzeit stattfindet (Buch 2)Waumlhrend der Hochzeitsfeierlichkeiten laumlsst der Ehemann zu Ehren der Brautsieben Brautjungfern auftreten die ihr dienen sollen Diese stellen in langenReden ihr Wissen vor Es sind die spaumlteren sieben freien Kuumlnste (Buumlcher 3 bis 9)Eingelegt in diese Berichte sind kurze Szenen von der Hochzeitsfeier und Wort-wechsel zwischen dem Erzaumlhler Martianus und einer weiteren Erzaumlhlerfigur Sa-tura

Leser von De nuptiis besonders moderne sehen sich vor vielfaumlltige Fragenund Probleme gestelltwenn sie versuchen die Schrift mit ihren unterschiedlichenAspekten zu verstehen Eine umfassende Interpretation ist aber gerade bei diesemWerk Voraussetzung fuumlr eine Beantwortung nachrangiger Fragen Daher soll indiesem Teil ein Beitrag zum Gesamtverstaumlndnis von De nuptiis versucht werdenDer Zugang soll rein literarisch erfolgen woran sich einige weitere Uumlberlegungenanschlieszligen

Eine Analyse der literarischen Form von De nuptiis muss folgende beidenAspekte beruumlcksichtigen einerseits die Anknuumlpfung an Gattungstraditionenund ndash damit verbunden ndash die Frage nach der literarischen Form von De nuptiis alsGanzem andererseits die narrative Gestaltung des Werkes

Die FormvonMartianusrsquoDe nuptiis zu bestimmen ist keine einfache AufgabeDies liegt an der Vielzahl von Bezuumlgen und kompositorischen Ideen die eineeindeutige Identifizierung erschweren Ausdruck findet dieser Umstand darindass in dermodernen Forschung verschiedene Elemente benanntwerden die eineGattungszuordnung ermoumlglichen Das Ergebnis ist jedoch meist eine Aufzaumlhlung

und engt den Zeitraum der Abfassung auf die Herrschaft Thrasamunds (496ndash523) ein (Grebe2000 363ndash365 bes 368)

2 De nuptiis als literarisches Werk 119

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

vonmoumlglichen Zuordnungen die eine Festlegung vermeidetsup2⁷⁰Die Untersuchungwird besonders vier Traditionsstraumlnge fokussieren das Lehrbuch bzw die Enzy-klopaumldie die Symposionliteratur die mythisch-allegorische Erzaumlhlung und diemenippeische Satiresup2⁷sup1 Es wird nach dem Zweck der Anknuumlpfung an diese Tra-ditionen zu fragen sein um dann zu pruumlfen welche Wirkung die Verbindungdieser Formen hervorruft

Einen besonderen Schwerpunkt wird die Herausarbeitung der satirischenElemente in De nuptiis darstellen Trotz ihrer relativen Prominenz sind bislangnicht alle Elemente beachtet wordensup2⁷sup2 Und da aus diesen Beobachtungenwichtige Folgerungen fuumlr das Gesamtverstaumlndnis vonDe nuptiis abgeleitet werdenmuumlssen diese zunaumlchst ausfuumlhrlich erhoben werden

Eingelagert in die Analyse der satirischen Elemente von De nuptiis wird dieFrage nach der narrativen Gestaltung unter dem Blickwinkel der Erzaumlhlinstanzenthematisiert In der Schrift konkurrieren zwei Erzaumlhlerfiguren Martianus undSatura um die Verantwortung fuumlr das Erzaumlhlte wie um das richtige Vorgehen beimErzaumlhlen Es ist zu bestimmen in welchem Verhaumlltnis beide Erzaumlhlerfiguren zu-einander stehen und welchem Zweck diese Doppelung dient

21 Die literarische Form

EnzyklopaumldieIm Gegensatz zu Macrobiusrsquo Saturnalia ist De nuptiis dem Sohn nicht als Werk derBelehrung gewidmetVielmehr spricht Martianus von der fabella (1 2) bzw fabula

Paradigmatisch ist die Konstatierung der Aporie bei LeMoine die nach der Aufzaumlhlungvon Vorbildern das Kapitel zur literarischen Form ohne weitere Uumlberlegungen so abschlieszligtbdquobut the De nuptiis in the diversity of its content language and form is truly unlike anythingwritten either before or sinceldquo (LeMoine 1972a 8) Vgl auch Relihan bdquoit is a mixture thatfrustrates senseldquo (Relihan 1993 15) Bisherige Interpretationen haben jeweils unterschiedliche Traditionen benannt und derVermischung der Formen wenig Beachtung geschenkt EnzyklopaumldieLehrbuch (Marinone 197018 Lommatzsch 1904 190) Lehrbuch mit menippeischen Momenten (Dronke 1994 36)menippeische Satire (LeMoine 1972a 7) menippeische Satire und Symposionform (Petrovićovaacute2004 85) Mischung aus Enzyklopaumldie menippeischer Satire und platonischem Mythos (Barnish1986 98) menippeische Satire und Epithalamium (Cristante im Vorwort seiner Ausgabe 3 und21 Bovey 2003 10) Mischung aus philosophischem und allegorischem Roman (Boumlttger 1947590) Allegorie mit Fachschriftstellerei (Guillaumin 2008 168) Roman mit Elementen desSymposions (Stahl 1971 26) Mischung aus menippeischer Satire Allegorie fabula und Sym-posiondialog (LeMoine 1972b 214) Gelegentlich wird das satirische Element in De nuptiis sogar deutlich heruntergespielt oderumgedeutet vgl u a Grebe 1999 855 f Petrovićovaacute 2010b

120 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

(2 219) die das Buch ausmacht und die der Sohn houmlren bzw der Leser lesen sollsup2⁷sup3Erscheint es zunaumlchst so als ob die Erzaumlhlungmit dem zweiten Buch endet und abdem dritten nur ernste Abhandlungen folgen sollen (2 219 f) korrigiert Martianusdiesen Eindruck jedoch gleich zu Beginn des dritten Buches Dort laumlsst er sich voneiner nicht benannten Muse (Camena) das Versprechen abnehmen auch weiter-hin fiktionale Elemente zu nutzen

Der anfaumlnglich ins Auge gefasste Verzicht auf Fiktion (fictum) fuumlr die fol-genden wissenschaftlichen Partien (disciplinae sobriae)sup2⁷⁴ betont jedoch derenRelevanz und das Interesse an zuverlaumlssiger Belehrung Waumlhrend sich fuumlr denInhalt der Buumlcher 1 und 2 eine Erzaumlhlung als gut geeignet erwies widersprachdiese fuumlr Martianus dem Wesen der anschlieszligenden Vortraumlge welchen dadurchgroumlszligeres Gewicht zufaumlllt

Der scheinbare Konflikt wird dadurch geloumlst dass die Vortraumlge an sich in dergeplanten trockenen Form gehalten werden Sie sind jedoch in die uumlber alle neunBuumlcher fortgesetzte Erzaumlhlung der Hochzeit Merkurs mit der Philologie einge-bettet Der Handlungsfortschritt zwischen den Vortraumlgen ist nicht groszlig sondernbeschraumlnkt sich meist auf das Evozieren von Eindruumlcken und die Bezugnahme auftraditionelle gattungsspezifische Elemente (vgl z B die Elemente des Symposi-ondialogs)

Dass Martianus schlieszliglich das ganze Werk mit seinen erzaumlhlenden und be-lehrenden Teilen als fabula betrachtet wird in der abschlieszligenden Sphragisdeutlich Dort heiszligt es

Habes anilem Martiane fabulammiscillo lusit quam lucernis flamineSatura Pelasgos dum docere nititurartes daggercagris vix amicas Atticis (9 997)

Da hast du Martianus eine Altweibergeschichte welche bei Kerzenschein Satura mit ge-mischtem Liede [d h in Prosa und Vers] spielend hervorbrachtewaumlhrend sie sich bemuumlhtedie Pelasger zu lehren die Kuumlnste die den Griechen kaum freundlich [d h neu] sind

Der Begriff des mythos der dreimal in De nuptiis auftritt ist eng auf den allegorischenInhalt der Buumlcher 1 und 2 beschraumlnkt und entspricht in etwa dem was Macrobius unter narratiofabulosa versteht (Bovey 2003 38ndash42) Beide Wendungen 2 220 ndash Zur Frage der Bezeichnungen als artes bzw disciplinae in-klusive der Begriffsentwicklung vgl Bovey 2003 64ndash87

2 De nuptiis als literarisches Werk 121

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

So unklar der Inhalt der Wendung Pelasgos docere istsup2⁷⁵ wird doch deutlich dassMartianusmit den vorausgegangenen 9 Buumlchern belehrenwolltewas allein schondie systematische Anlage (sieben Kuumlnste Reflexion uumlber weitere Wissenschaftenin 9 891) und die Fuumllle des Stoffes nahelegen

Der enzyklopaumldische Teil umfasst die Buumlcher 3 bis 9 von De nuptiis Zunaumlchsttreten die Kuumlnste Grammatik Dialektik und Rhetorik auf und stellen ihre Disziplinvor (Buumlcher 3 bis 5) Davon deutlich abgesetzt durch einen Hymnus auf PallasAthene zu Beginn von Buch 6sup2⁷⁶ folgen die Wissenschaften des spaumlteren Qua-driviums Geometrie Arithmetik Astronomie und Harmonie (Buumlcher 6 bis 9)Diese werden wiederum in zwei Zweiergruppen unterteilt Eine unmittelbareVorlage dafuumlr laumlsst sich nicht erkennen aber auch bei Boethius findet sich eineZusammenfassung der vier mathematischen Faumlcher die von der Forschung aufNikomachos von Gerasa zuruumlckgefuumlhrt wirdsup2⁷⁷ Eine Anordnung nach steigendemAnsehen der Kuumlnste ist auch durch Groumlszlige und Zusammensetzung des Gefolgesund die Reaktionen der Goumltter erkennbarsup2⁷⁸

Die Vortraumlge der Kuumlnste selbst entsprechen dem Charakter von Fachschriftenwas vor allem auf der streckenweise woumlrtlichen Wiedergabe der zugrunde lie-genden Quellen beruht Durch den Umfang den kleinschrittigen Aufbau und diesprachliche Sproumldigkeit wirken diese Reden wie ein Fremdkoumlrper in der Ge-schichte der Hochzeitsfeierlichkeiten und lassen manchen anwesenden Gottmuumlde werden oder gereizt reagierensup2⁷⁹

In der Regel sind die Vortraumlge aus einer odermehrerenVorlagen uumlbernommenwobei Martianusrsquo Eigenbeitrag vor allem in der Auswahl und Zusammenstellungder Quellen liegt Ein prominentes Beispiel fuumlr Martianusrsquo Vorgehen ist die Be-zeichnung Konstantinopels als Byzanz (6 670) Die Stelle kann nicht ndash wie haumlufiggeschehen ndash zur Datierung herangezogen werden sondern offenbart Martianusrsquo

Cristante versteht die Stelle woumlrtlich wenn er formuliert Martianus wolle das baumlurischeItalien belehren (Cristante 1978 679) waumlhrend Parker die Bedeutung des Wortes Pelasgi garnicht genau bestimmen moumlchte (Parker 1890 454) Zu dieser Passage und der Bedeutung dieses zweiten sbquoBinnenprooumlmslsquo vgl Bovey 2003227ndash237 sowie Zaffagno 1998 Rechenauer 1994 Sp 1177 Waumlhrend Grammatik allein eintritt (3 223) wird Harmonia von vielen auch beruumlhmtenBegleitern eingefuumlhrt und ihr Einzug wird von Musik begleitet (9 905ndash909) Ihr Vortrag ruft beiden Goumlttern Freude hervor (9 996) waumlhrend der Vortrag von Grammatik neutral zur Kenntnisgenommen wird (3 326) und der Vortrag von Dialektik aufgrund des Unwillens der Zuhoumlrersogar abgebrochen werden muss (4 423) Vgl Relihan 1987 64 und Bovey 2003 10 die voneinem bdquoparcours ascendant et cycliqueldquo spricht 4 423 5 565 6 723

122 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

unkritischen Umgangmit seinen Quellensup2⁸⁰Meist liegt der Darstellungder Kuumlnstenicht jeweils eine Fachschrift zugrunde sondern sind mehrere Werke heran-gezogen und zusammengestelltsup2⁸sup1

Die Auswahl der Faumlcher erfolgt nicht willkuumlrlich Die Tradition der um-fassenden Bildung die sich hinter dem Begriff der ἐγκύκλιος παιδεία verbirgtsup2⁸sup2der von Martianus auch in lateinischer Uumlbersetzung verwendet wirdsup2⁸sup3 umfassteim Laufe der Jahrhunderte einen wechselnden Faumlcherkanon Im Kern waren je-doch immer sowohl sprachliche Faumlcher als auch im weiteren Sinne mathemati-sche Faumlcher darin vertretensup2⁸⁴ Die Siebenzahl war dabei nicht kanonisch eskonnten auch neun Faumlcher (Varro) dazugehoumlren oder ein nicht genau umrissenerFaumlcherkanon (Boethius)sup2⁸⁵

Gegenuumlber der Tradition stellt Martianusrsquo Faumlcherauswahl keine grundlegendeNeuerung dar Grammatik Rhetorik und Dialektik waren meist Bestandteil derumfassenden Bildung und auch Geometrie Arithmetik Astronomie und Musikgehoumlrten haumlufig dazusup2⁸⁶ Der Ausschluss weiterer Kuumlnste wie der Medizin und der

Vorlage ist an dieser Stelle Plinius (Plin nat 5 24f) Vgl Grebe 2000 354 Typisch ist dieEinschaumltzung Krapingers der De nuptiis ein niedriges fachliches Niveau bescheinigt (bdquoevidentesachliche Defiziteldquo Krapinger 1999 962) Vgl auch die Anrufung Minervas zu Beginn desQuadriviums 6 574 in der Martianus explizit um Inspiration in Bezug auf die griechischenKuumlnste bittet Ein Blick in den Similienapparat zeigt dass Martianus fuumlr das sechste Buch uumlber dieGeometrie hauptsaumlchlich auf drei Autoren zuruumlckgegriffen hat Solinus Plinius und Euklid Vglauch Willisrsquo Anmerkung in seiner Ausgabe non moris fuisse Martiano ut per integrum librumunum sequeretur auctorem (309) Sehr aufschlussreich ist beispielsweise die Untersuchung vonBarbara Ferreacute in der Einleitung zur Ausgabe (xxiv-xxvii) Vgl auch die Beitraumlge von Schievenin(2009a und 2009b) die neben der unmittelbaren Fragestellung auch eine weitere Einordnungbieten Einen konzisen und modernen Uumlberblick uumlber die Entwicklung des Konzeptes bietetRechenauer 1994 Die Monographie von Hadot (Hadot 2005) ist immer noch das Standardwerk 9 998 (disciplinae cyclicae) Hadot 2005 265ndash267 Marrou 1958a 2 Teil bes die Uumlbersicht 216ndash217 Rechenauer 1994Grebe 1999 37ndash50 Uumlber die Siebenzahl ihren Ursprung ihre Festlegung sowie ihre endguumlltige inhaltlicheFuumlllung ist bislang kein Konsens erzielt worden deutlich ist aber dass Martianus Capella undAugustin bei ihrer Kanonisierung und Ausgestaltung eine entscheidende Rolle gespielt habenbdquoLa question de lrsquoorigine du cycle des sept arts libeacuteraux est irreacutesolue et en partie insoluble maisles deux auteurs drsquoorigine africaine [Martianus Capella und Augustin] jouegraverent un rocircle con-sideacuterable dans le triomphe de ce programme drsquoeacutetude au moyen acircgeldquo (Zelzer 2003 249) ndash ZurNeunzahl der Faumlcher bei Varro als Anlehnung an die Musen vgl Huumlbner 2004 S die in Anm 284 genannte Literatur

2 De nuptiis als literarisches Werk 123

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Architektur wirdmit Verweis auf den fortgeschrittenenAbendund diemenschlich-praktische Seite der Faumlcher erklaumlrtsup2⁸⁷

Im Detail nimmt Martianus aber durchaus Aumlnderungen vor So geht es imneunten Buch von De nuptiis nicht um die Musik im Allgemeinen sondern um dieHarmonie Diese Umgewichtung steht sicher in Zusammenhang mit der verbin-denden und vereinigenden Grundkonzeption von De nuptiis die zu Beginn desersten Buches (1 1) durch den Hymnus auf Hymenaeus den verbindendenHochzeitsgott ausgedruumlckt wurdesup2⁸⁸ Unterstuumltzt wird diese Eigenwilligkeit durchdie praktische Darbietung von harmonischem Gesang der die theoretischenAusfuumlhrungen ergaumlnzt und steigert (9 911ndash919 9 996)

Auch bei der Behandlung der Geometrie in Buch 6 greift Martianus in dietraditionelle Darstellung des Wissens ein Anstatt die Ausfuumlhrungen auf geome-trische Fragen und Lehrsaumltze zu beschraumlnken erweitert Martianus sie um einenausfuumlhrlichen geographischen Teil der um einiges laumlnger ist als der geometrische(Geographie 6 586ndash703 Geometrie 6 705ndash723) Ferreacute erkennt dahinter vor al-lem ein literarisches Ziel Die vorhandene Stoffmenge zur Geometrie sei zu kleingewesen so dass Martianus sie habe erweitern muumlssen damit das sechste Buchnicht bedeutend kuumlrzer werde als die uumlbrigen Buumlchersup2⁸⁹

Veraumlndert Martianus also gelegentlich aus kompositorischen Gruumlnden dietraditionelle Darstellung der Kuumlnste so kann man dies auch in der Zusammen-fuumlhrung der vielen Spezialschriften in einemWerk erkennenUmfasst das Konzeptder ἐγκύκλιος παιδεία zwar einen breiten Faumlcherkanon an den sich Martianusauch weitgehend haumllt so ist die Darstellung aller Faumlcher in nur einem Werk un-gewoumlhnlich

Uumlblich war die Form der Abhandlung der die Beschaumlftigung mit einer Dis-ziplin zugrunde lag Als Beispiele kann auf nahezu alle antiken fachwissen-schaftlichen Schriften verwiesen werden Ausnahmen sind allein die Sammel-schriften die aber explizit andere Ziele verfolgen und keinen Fachbereichgruumlndlich bearbeiten

Diese Feststellung gilt auch fuumlr die anderen Autoren mit teilweise sbquoenzyklo-paumldischemlsquo Programm z B Augustin oder Boethius Augustins bdquoBildungspro-grammldquosup2⁹⁰ umfasste aumlhnliche Faumlcher wie Martianus sie versammelte doch ver-

9 890ndash891 Hadot nimmt an dass diese Disziplinen nicht per se als unwichtig angesehenoder in bewusster Abgrenzung von Varro ausgeschlossen worden seien sondern weil sie nichtzur bdquoSchau der goumlttlichen Weisheitenldquo fuumlhren wuumlrden (Hadot 2009 16) Zu dieser Stelle und zu dem im Hymnus ausgedruumlckten philosophisch-poetischen Pro-gramm vgl LeMoine 1972a 14 Stahl 1971 86 Relihan 1993 61 Schievenin 2009c So Ferreacute im Vorwort ihrer Ausgabe xlvi Den Begriff verwendet Studer 2007 522

124 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

fasste Augustin zu den einzelnen Disziplinen jeweils eine eigene Schrift (mit derFolge dass er nicht alle Faumlcher behandelt hatte als er das Projekt aufgab wohlaber einige Themen abgearbeitet und die Buumlcher erschienen waren)sup2⁹sup1 Aumlhnlichverhaumllt es sich mit Boethius der sich etwa einhundert Jahre spaumlter ebenfalls mitverschiedenen Wissensbereichen beschaumlftigte Trotz der Leistung des Martianussetzte Boethius sein Vorhaben aber so um dass er den verschiedenen Disziplineneinzelne Abhandlungen widmetesup2⁹sup2

Allein Varro hat seinem breiten Œuvre an Spezialschriften auch noch ein imengeren Sinne enzyklopaumldisches Werk zugefuumlgt die Disciplinae Darin beschaumlftigtsich Varro mit dem gleichen Faumlcherkanon wie Martianus (unter zusaumltzlicherAufnahme der Medizin und Architektur) Da das Werk aber verloren ist und auchnur spaumlrliche Testimonien vorhanden sind laumlsst sich nicht abschaumltzen inwieferntatsaumlchlich eine einheitliche Schrift vorgelegen hat und welches Ziel Varro mit ihrverfolgtesup2⁹sup3

MartianusrsquoWerkDe nuptiis ist die erste erhaltene Enzyklopaumldie der Antike undduumlrfte somit maszliggeblich zum heutigen Verstaumlndnis des Begriffs der Enzyklopaumldieals eines einzigenWerkes das alles Wissen enthaumllt beigetragen haben Der Grundfuumlr Martianusrsquo ungewoumlhnliches Vorgehen duumlrfte in dem augenscheinlichen Plander Verbindung aller Disziplinen liegen der auch zu Beginn des Werkes durch diePreisung des Hymenaeus ausgedruumlckt wirdsup2⁹⁴

Zu Augustins Plan vgl retract 1 6 (Per idem tempus quo Mediolani fui baptismum per-cepturus etiam disciplinarum libros conatus sum scribere ndash sbquoZu der Zeit als ich in Mailand balddie Taufe empfangen sollte habe ich versucht auch Buumlcher uumlber die Faumlcher zu schreibenlsquo)begonnen und teilweise erhalten sind gramm mus und evtl dialect Neben den Schriften zur Theologie und zur Logik sind die Schriften zur Arithmetik(arithm) zur Musik (mus) und zur Rhetorik (in top divis) zumindest teilweise erhalten Hinzukommen Uumlbersetzungen astronomicher und geometrischer Fachschriften Zu Boethiusrsquo Fach-schriften und seinem Programm vgl Chadwick 1981 69ndash107 Das spaumlrliche Wissen spiegelt auch die knappe Einfuumlhrung von Cardauns 2001 Sie um-fasst fuumlr die Disciplinae inklusive Literaturverweisen knapp zwei Seiten (77ndash78) und bietet wenigsichere Informationen Eine interessante gleichwohl stark negative Antwort auf die Zusammenstellung derKuumlnste in einem Werk bietet Voumlssing der damit gleichzeitig aber auch die Einzigartigkeit desVorgehens herausstellt bdquoWas in den mittelalterlichen Kloumlstern als Summe antiker Bildung galtwar wohl nur das Resultat der Selbstdarstellung eines ehemaligen Advokaten der dem gebil-deten Publikum seiner Stadt demonstrieren wollte dass er mehr konnte als plaumldieren und mehrwusste als der normale scholasticus den uumlberlieferten prestigetraumlchtigen Bildungsstoff allersieben artes ndash der uumlblicherweise nur in einzelnen Fachbuumlchern (und bezogen auf einzelneDisziplinen) praumlsentiert wurde ndash in einem Werk zusammenzufassen und einzubetten in einironisches literarisches Spiel So hoffte er beides zu haben den Ruhm der Bildung und den derparodistischen Distanzierung An eine spezifische Programmatik dachte er bei seiner Enzyklo-

2 De nuptiis als literarisches Werk 125

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Welches (philosophische oder literarische) Konzept dahinterstand und in-wieweit Martianus sein Vorhaben uumlberzeugend umsetzen konnte wird unter-schiedlich bewertetsup2⁹⁵Wie das Urteil auch ausfaumlllt gilt es doch zu beachten dassneben den enzyklopaumldischen Teilen mit ihrem traditionellen Inhalt in teils tra-ditioneller teils neuer Form auch andere narrative Strategien zum Einsatz kom-men die fuumlr eine umfassende Deutung und Bewertung ebenfalls beruumlcksichtigtwerden muumlssen

Literarisches SymposionEine andere Gattungstradition die fuumlr die Anlage von De nuptiis genannt werdenmuss ist die Form des literarischen Symposions In diesem Punkt besteht eineVerbindung zu Macrobiusrsquo Saturnalia deren Symposionform im entsprechendenKapitel untersucht worden istsup2⁹⁶

Auch inDe nuptiis lassen sich einige konstitutiveMerkmale eines literarischenSymposions aufzeigen Das Geschehen in den Buumlchern 3ndash9 spielt anlaumlsslich einerFeierlichkeit (der Hochzeit) an einem besonderen Ort (auf der Milchstraszlige)sup2⁹⁷ andem sich geladene Gaumlste (Goumltter Heroen etc) versammeln Den Vorsitz der Fei-erlichkeiten hat (gewissermaszligen als Symposiarch) Jupiter inne Es gibt zwar keineungeladenen Gaumlste doch Silen erfuumlllt die Rolle des Zechers und er verlaumlsst dieFeier vorzeitig (8 805) Auch die Liebe kommt nicht zu kurz indem Venus ihreReize spielen laumlsst (6 704) Voluptas mit Merkur flirtet (7 725ndash727) und Hymen-aeus mit seinem anzuumlglichen Gesang das Geschehen der Hochzeitsnacht zu-

paumldie ebenso wenig wie er seinen Platz im sbquoLehrplan des Abendlandeslsquo vorhersehen konnteldquo(Voumlssing 2008 404) Weit verbreitet ist die Ansicht Martianus habe eine Art Summe der antiken Gelehrsamkeiterstellt (Cristante im Vorwort seiner Ausgabe 27 Ferrarino 1969 2 Bovey 2003 20 Cristante2009 [3] Schievenin 2009a 77) Die gegensaumltzliche Position formuliert bereits Parker bdquo[I]t isclear that the seven arts were never supposed to include the whole circuit of human knowledgeMartianus Capellarsquos list was a reduction of Varrorsquos and Varrorsquos was not supposed to include allknowledgeldquo (Parker 1890 459) S o Kap II4 Dort werden auch die typischen Merkmale dieser literarischen Form vor-gestellt Die Milchstraszlige in der Darstellung bei Martianus greift zwei Aspekte auf die allerdingsschon lange vor ihm verbunden worden sind Einerseits ist die Milchstraszlige der Ort an den dieauszligergewoumlhnlichen Menschen nach ihrem Tod gelangen (Cic rep 6 16 Manil 1 758ndash800)andererseits ist auch die Vorstellung nicht ungewoumlhnlich dass dort der Wohnsitz der Goumltter zufinden sei (Ov met 1 170ndash 176 Manil 1 801ndash804) Bei Martianus versammeln sich dort dieGoumltter doch ist dies auch der Ort an den die vergoumlttlichte Philologia gelangt ndash abgesehen vonden uumlbrigen herausragenden Menschen die sich im Gefolge sbquoihrerlsquo Brautjungfer dort versam-meln

126 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mindest andeutet (9 902 f) wenn die Ausfuumlhrung auch nicht beschrieben wird(9 996)

Das auffaumllligsteMerkmal sind aber die Reden die gehaltenwerden Sie aumlhnelnzwar nicht dem Inhalt wohl aber der Form nach der monologischen Anlage derSymposiongespraumlche bei Platon oder (stellenweise) Macrobius Ebenso passt derInhalt Bildungswissen an sich zu einem Symposion auch wenn er hier sehrausfuumlhrlich und ohne Ruumlcksicht auf die primaumlren Adressaten die Goumltter prauml-sentiert wird Bei Platon sowie bei Martianus scheint der Inhalt der Gespraumlche imVorfeld noch nicht festzustehen wie die Auswahl der jeweils naumlchsten RednerindurchApoll (3 223 4 328 8 8109 891) bzw Paidia (7 728) oder die Diskussion umden Fortgang der Feier bzw die noch folgenden und auszuschlieszligenden Reden(= Kuumlnste) zu Beginn von Buch 9 zeigtsup2⁹⁸

Die Anordnung der Redebeitraumlge nach steigender Relevanz und die unter-brechungsfreie Praumlsentation der Reden erinnert ebenfalls ans platonische Sym-posion Schlieszliglich nimmt das Spiel mit der Erzaumlhlinstanz (Satura oder Martianus)die verschachtelte Erzaumlhlsituation bei Platon oder Macrobius mit ihren verschie-denen Berichtsebenen auf und formt sie umsup2⁹⁹

Mythisch-allegorische ErzaumlhlungZu den bereits genannten literarischen Vorlagen von De nuptiis tritt ein weiteresElement hinzu dessen Bedeutung und dessen eigene Vorlagen nur schwer zubestimmen sind

Besonders Shanzer weist in ihremKommentar zum ersten Buch vonDe nuptiiswiederholt auf die orphischen gnostischen und philosophisch-religioumlsen Ele-mente in den sehr bildhaften aber streckenweise schwer verstaumlndlichen erstenbeiden Buumlchern hinsup3⁰⁰ Eine umfassende Interpretation des Mythos bietet sie je-doch nicht Vielmehr beschraumlnkt sie sich auf Verweise zur Herkunft einzelnerMotive und auf die Deutung kuumlrzerer Passagen

Kupke kommt bei einer Musterung der verschiedenen mythischen Reminis-zenzen im zweiten Buch von De nuptiis zu der Feststellung dass eine eindeutige

Ein zentraler Unterschied besteht jedoch darin dass die Vortraumlge nicht von den Gaumlstengehalten werden sondern dass die Gaumlste also die Goumltter nur Zuhoumlrer sind waumlhrend die Kuumlnstereden Hierin erinnert De nuptiis eher an Julians Caesares in denen die versammelten Goumltter jaauch wenig sprechen wohl aber die roumlmischen Kaiser die ndash wenn auch um einiges knapper ndashihre Leistungen darstellen Ausfuumlhrlicher dazu im weiter unten folgenden Abschnitt uumlber die Erzaumlhlinstanzen Shanzer 1986c passim

2 De nuptiis als literarisches Werk 127

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

und kohaumlrente Decodierung aller Verweise undAnspielungen nichtmoumlglich seisup3⁰sup1Ihrer Ansicht nach ist es dem modernen Leser nurmehr moumlglich einzelnen Ver-weisen nachzugehen und sie aufzuzeigensup3⁰sup2

Trotz der benannten Schwierigkeiten darf bei allen Fragen nach literarischenVorlagen nicht vergessen werden dass De nuptiis vor allem (aber nicht aus-schlieszliglich) auch ein allegorisches Werk ist Die imposante Schilderung der vierFluumlsse in Buch 1 Apoll auf demParnass-Huumlgel die allegorischen Figuren undvieleweitere Elemente sind nicht nur kreative literarische Erfindungen sondern for-dern zu einer uumlbertragenen Lesart des Werkes auf Besonders die ersten beidenBuumlcher die den Mythos enthalten muumlssen aus diesem Blickwinkel gelesen undverstanden werden

Zu verweisen ist auszligerdem auf die Bezeichnung der Erzaumlhlung als fabula oderfabella Neben der naheliegenden Bedeutung von sbquoErzaumlhlung Geschichtelsquo imallgemeinen Sinn ist sicher auch an die Diskussion um die Berechtigung von fa-bulae in Macrobiusrsquo Somnium-Kommentar zu denken Dort verteidigt Macrobiussowohl Platon als auch Cicero gegen den Vorwurf fiktive Geschichten zu benut-zen um philosophische Wahrheiten zu verkuumlnden In bestimmten Faumlllen seidieses Vorgehen gerechtfertigt solange es sich um wahrhaftige und belehrendeErzaumlhlungen handlesup3⁰sup3 Diese Voraussetzung kann man auch fuumlr De nuptiis alserfuumlllt ansehen Da Martianus zudem dem Neuplatonismus aumlhnlich nahesteht wieMacrobiussup3⁰⁴ ist von einer bewussten Entscheidung zugunsten einer literarischenDarstellung auszugehen

Den einzigen Versuch einer umfassenden Deutung verschiedener Elementedes Mythos und der allegorischen Darstellung hat ndash unter Vernachlaumlssigung ei-niger Details ndash bislang Lenaz unternommen In der ausfuumlhrlichen Einleitungseines Kommentars zum zweiten Buch von De nuptiis untersucht er die philoso-phisch-religioumlsen Motive in diesem Buch und kann Verbindungen zur Myste-

Kupke 1998 154 Kupke 1998 159 Fuumlr den spaumltantiken und den mittelalterlichen Leser glaubt sie jedoch andie Moumlglichkeit der problemlosen Dekodierung Macr somn 1 2 21 vgl oben Anm 45 Gerade die neuplatonischen Elemente von De nuptiis sind verschiedentlich benannt wor-den auch wenn nicht immer eine einheitliche Deutung geboten wird Haumlufig genannt wird derAufstieg Philologias in den Himmel uumlber die Sphaumlrenstufen der mit einer bdquoRuumlckkehr der Seeleldquogleichgesetzt wird (z B Bovey 2003 11 Lenaz 1975 113 vgl auch Guillaumin 2008) Hinge-wiesen wird auch auf die drei Frauen die Merkur nicht heiraten wollen (Sophia Mantike undPsyche 1 6ndash7) und die drei Seelenteile darstellen sollen deren Summe aber letztlich Philologiaist (Lenaz 1975 107ndash 110) Dagegen vertritt Kupke die These die neuplatonischen Elementetruumlgen keine zusaumltzliche Sinnebene bei (Kupke 1998 153) kritisch aumluszligern sich BednařiacutekovaacutePetrovićovaacute 2010 7

128 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

rieninitiation zu platonischen Mysterien chaldaumlischen Orakeln magischenPraktiken und zur Theurgie nachweisen Im Deutungsteil verwirft er die ThesenNuchelmansrsquo und Mathonssup3⁰⁵ als zu kurz greifend Nuchelmans hatte in derHochzeit Philologias und Merkurs (mittelalterlicher Kommentar-Tradition fol-gend) eine Forderung von Martianus nach der Vereinigung von Wissen (Philo-logia) und Rhetorik (Merkur) gesehen Mathons Ansatz fuumlhrte den Verweis auf dieneuplatonische Wieder-Erinnerung und die Ruumlckkehr der Seele in dieses Modellein Ebenso wie bei Nuchelmans werden auch hier nur wenige Elemente desMythos interpretiertsup3⁰⁶

Lenazrsquo eigener Ansatzsup3⁰⁷ folgt den Uumlberlegungen Ferrarinossup3⁰⁸ und ergaumlnzt siemit einigen Hypothesen Im Kern kreise der Mythos des zweiten Buches um einedoppelte Vereinigung die (horizontale) Vereinigung allen irdischen Wissens inPhilologia mit Hilfe von Hymenaeus und die (vertikale) Vereinigung der goumlttlichenund menschlichen Sphaumlre mit Hilfe von Eros Hinzu treten Uumlberlegungen ob essich bei Philologia und Merkur eventuell um nur eine Entitaumlt handle die Seelewelche getrennt worden sei und nun wieder zusammenfinde

Diese Lesart integriert die meisten der mythischen und allegorischen Ele-mente und verbindet sie weitgehend schluumlssig zu einem umfassenden KonzeptAllerdings vernachlaumlssigt sie auch bestimmte EinzelbeobachtungenWieso steigtPhilologia vom Sphaumlrenrand wieder auf die Milchstraszlige hinab (2 200 2 206)Wieso werden ihr auf der Milchstraszlige die irdischen Kuumlnste vorgefuumlhrt die sieerbrechenmusste damit sie in den Himmel aufsteigen konnte (2 135 f)sup3⁰⁹ Bereitsdiese Fragen zeigen deutlich dass eine kohaumlrente plausible Aufloumlsung des Mythosnicht leicht moumlglich ist

Nuchelmans 1950 Mathon 1969 Lenaz 1975 105 Aumlhnliches gilt auch fuumlr Hadots Deutung Sie identifiziert Merkur mit demaumlgyptischen Gott Theuth auf den in De nuptiis 2 102 f angespielt wird und nennt ihn diebdquoPersonifizierung der goumlttlichen Vernunftldquo waumlhrend Philologia die Personifizierung dermenschlichen Vernunftseele in deren idealem Zustand darstelle Die sieben Wissenschaften unddie sieben mantischen Kuumlnste ermoumlglichten es der Seele bdquozu ihrem Ursprung dem intelligiblenBereich oder zu Gottldquo zuruumlckzukehren (Hadot 2009 21 f) Lenaz 1975 106ndash 119 Ferrarino 1969 Dieses Problem entfiele wenn man annaumlhme dass Martianus die Erzaumlhlung nur auf dieersten zwei Buumlcher angelegt habe und erst danach die Moumlglichkeit einer Verbindung mit der inden Buumlchern 3 bis 9 folgenden Enzyklopaumldie erkannt habe Dafuumlr gibt es zwar Hinweise (bes dieDiskussion um die FiktionalitaumltUnterhaltung) am Ende von Buch 2 und zu Beginn von Buch 3doch duumlrfte man annehmen dass Martianus den Grundkonflikt von zuruumlckgelassenem Wissenund erneut geschenktem Wissen erkannt und behoben haumltte

2 De nuptiis als literarisches Werk 129

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Weiterhin uumlberbetont der Versuch den Mythos allein aus sich heraus zu er-klaumlren den Stellenwert des zweiten Buches im Gesamtwerk Als Interpretations-rahmen zwar wichtig tritt er bei fortschreitender Lektuumlre hinter die praktischeDarstellung der sieben Kuumlnste zuruumlck Diese nehmen nicht nur mehr Raum einsondern uumlberlagern die Darstellung im zweiten Buch und reduzieren somit auchderen Bedeutung Der Mythos ist also einwichtiger keineswegs jedoch der einzigeBestandteil von De nuptiis

Menippeische SatireDas auffaumllligste literarische Kompositionselement von De nuptiis ist jedochzweifellos die Wahl des Prosimetrums die Mischung von Prosapartien mit me-trischen Einheiten Der uumlberwiegende Teil des Werks ist in Prosa gehalten inwelchen 33sup3sup1⁰ metrische Partien eingelegt sind Dabei sind die Gedichte nichtregelmaumlszligig uumlber das gesamte Werk verteilt sie finden sich uumlberwiegend an ex-ponierten Stellen besonders an den Buchanfaumlngen und Buchenden Bei denmetrischen Partien innerhalb eines Buches handelt es sich fast ausschlieszliglich umGoumltterreden

Die beobachtete unregelmaumlszligige Verteilung der metrischen Partien unter-scheidet sich deutlich von der Gestaltung wie sie Boethius wenige Jahrzehntespaumlter inDe consolatione Philosophiae einsetzt Dort sind diemetrischen Partien inHinblick auf die Gesamttextmenge haumlufiger und zudem gleichmaumlszligiger verteiltsup3sup1sup1

Damit haumlngt zusammen dass auch die literarisch-argumentative Funktion dermetrischen Teile z T von derjenigen bei Boethius abweicht Bei Boethius stehendie Gedichte im Argumentationszusammenhang und fuumlhren Gedanken fort oderbuumlndeln sie in praumlgnanter Ausdrucksweisesup3sup1sup2 Ein gutes Beispiel dafuumlr ist eine

Die Zaumlhlung umfasst die zusammenhaumlngenden metrischen Partien und zaumlhlt auch Ge-dichte mit unterschiedlichem Versmaszlig (z B die Gedichte der Musen) als eine Partie Vgl dazu besonders OrsquoDaly 1991 Kap 1 (bdquoThe poetics of the Consolationldquo) darin 19ndash22 zuMartianus Sprachliche Parallelen sind zusammengestellt im Index der Boethius-Ausgabe vonBieler (CCSL 94 116) diskutiert werden sie bei Pabst 1994 163ndash 168 Da Boethius das Werk desMartianus kannte kann man von einer gelungeneren Ausdifferenzierung der Ansaumltze des Mar-tianus sprechen Der Vergleich des Einsatzes der prosimetrischen Form bei Boethius gewinntdadurch an Gewicht Eine Mischung von Prosa und Poesie findet sich weiterhin bei Fulgentius inden Mythologiae ndash Zu Parallelen in den Werkanfaumlngen bei Martianus Fulgentius und Boethiusvgl Klingner 1921 114 Pabst 1994 der Fulgentiusrsquo Vorgehen durchaus als bdquoimitatio Martianaldquoversteht (162 134ndash 137) fuumlr Boethius in Martianus allerdings nur eine Quelle sieht bdquoThey contribute to the argument as it proceeds yet take a wider view with an authorityoutside and above the adjacent prose They possess their own thematic design which spans theentire workldquo (Crabbe 1981 260) bdquoDie Metra bilden Ruhe- und Houmlhepunkte im Werk haumlufig

130 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Stelle zu Beginn des vierten Buches Nachdem zunaumlchst allgemein erlaumlutert wirddass die Weisen vermoumlgen was sie wollen die Schlechten jedoch nicht(cons 4 1 131ndash140) folgt in Versen eine Reihe plastischer Beispiele fuumlr die These(cons 4 carm 2) bevor der Gedanke fortgesponnen wird (cons 4 3 1ndash4)

An anderen Stellen uumlbernehmen die metrischen Partien eine Gliederungs-funktion indem sie Gedanken abschlieszligen und durch die Unterbrechung Zeit zurErholung bieten So sagt Philosophia zu ihrem Schuumller Boethius

bdquosed uideo te iam dudum et pondere quaestionis oneratum et rationis prolixitate fatigatumaliquam carminis exspectare dulcedinem accipe igitur haustum quo refectus firmior inulteriora contendasldquo (Boeth cons 4 6 200‐203)

bdquoAber ich sehe dass du bereits vom Gewicht der Untersuchung belastet und von der Breiteder Beweisfuumlhrung erschoumlpft auf die suumlszlige Erholung eines Liedes wartest nimm also denTrank damit du solchermaszligen erfrischt kraumlftiger zu den weiteren Themen eilen kannstldquo

In dieser zweiten Funktion setzt auch Martianus die metrischen Partien ein Dabeisind sie nicht in die Prosadarstellung eingeschoben sondern markieren fastausschlieszliglich die Buchanfaumlnge und Buchenden Explizites Ziel ist die Belebungdes Werkes um eine angenehme Lektuumlre zu erleichternsup3sup1sup3 Dies widersprichtMartianusrsquoAnkuumlndigung nach der hinleitenden Erzaumlhlung in denBuumlchern 1 und 2keine fiktionalen Erzaumlhlungen mehr einfuumlgen zu wollen die Darstellung solleernst und dem Gegenstand angemessen sein

nunc ergo mythos terminatur infiuntartes libelli qui sequentes asserentnam fruge vera omne fictum dimoventet disciplinas annotabunt sobriaspro parte multa nec vetabunt ludicra (2 220)

Nun also hat der Mythos sein Ende erreicht es beginnen die Buumlcher die die nun anschlie-szligenden Kuumlnste darbieten Denn mit wahrhaftiger Ernte entfernen sie alles Erdichtete undzeichnen die Kuumlnste nuumlchtern auf verbieten jedoch nicht gelegentliche Unterhaltung

stehen sie am Ende von Einzelabschnitten wo sie diese dann rekapitulieren und fuumlr densbquoSchuumllerlsquo zusammenfassen Bisweilen kommt ihnen auch eine Uumlberleitungsfunktion zuldquo (Kin-dermann 1969 63) ndash Zur Gattung allgemein allerdings mit besonderem Fokus auf die mittel-alterliche Literatur vgl Pabst 1994 bes 105ndash 133 zum Prosimetrum bei Martianus und 158ndash 195bei Boethius sowie Dronke 1994 bes Kap 2 (bdquoAllegory and the mixed formldquo) So auch McDonough der im Kapitel bdquoThe function of the poetryldquo zu Recht (aber zu kurzgreifend) formuliert bdquoIn undertaking the compilation of his encyclopedia the main challenge toMartianus lay in maintaining the interest of his readers (and himself) in making palatable thearid factual account of the various disciplinesldquo (McDonough 1968 37)

2 De nuptiis als literarisches Werk 131

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Scheint es an dieser Stelle so als ob Mythos und Heiteres getrennte Dinge waumlrenzeigt der unmittelbare Fortgang zu Beginn von Buch 3 dass beide Begriffe letztlichAumlhnliches bezeichnen Hier am Beginn der Schilderung der freien Kuumlnste(3 221 f) erlaumlutert Martianus in einem weiteren Gedicht das als Dialog gestaltetist warum er von seinem Plan abweicht

Camena bringt Schmuck fuumlr das Werk mit (amicta fictis commenta ferre) AufMartianusrsquo Einwand keine Mythen mehr vorbringen zu wollen (mythi pulsi) er-widert sie es gehe nicht um Luumlge (nil mentiamur) sondern um Einkleidung(vestiantur Artes) ndash man koumlnne die Brautjungfern also die Allegorien der freienKuumlnste doch nicht nackt vorfuumlhren Daraufhin gibt sich Martianus geschlagenund die Handlung von Buch 3 beginnt

Abgesehen von der unterhaltenden Funktion die besonders durch die Ge-dichte an den Buchenden gewaumlhrleistet wird scheinen die metrischen Passagenfuumlr viele Forscher wahllos in das Werk eingestreut Typisch ist eine Aussage wieCrabbe sie trifft bdquoMartianus uses verse frequently at the beginning sometimes atthe end of books and erratically throughoutldquosup3sup1⁴

Natuumlrlich kann von einer systematischen Verteilung und einer argumenta-tionslogischen Anordnung wie bei Boethius nicht gesprochen werden Bei ge-nauerem Hinsehen wird jedoch deutlich dass die metrischen Abschnitte nichtwillkuumlrlich uumlber das Werk verstreut sindsup3sup1⁵

Die meisten metrischen Passagen finden sich in den Buumlchern 1 und 2 von Denuptiis Diese Buumlcher enthalten die einleitende Handlung die als fiktionale Er-zaumlhlung dargeboten wird Im Bericht von der Suche Merkurs nach der richtigenEhefrau und von Philologias Aufstieg in den Himmel finden sich neun metrischePassagen Es handelt sich dabei bis auf die drei Faumllle der an den Buchanfaumlngen(Buch 1) und Buchenden (Buch 1 und 2) stehenden Gedichte um Reden vonGoumlttern Diese fuumlhren die Handlung fort und dienen also nicht der Buumlndelung derGedanken oder der Erholung des Lesers Stattdessen scheint es Martianus darumzu gehen das Sprechen der Goumltter durch die metrische Gebundenheit als be-

Crabbe 1981 264 Eine Typisierung die z T von der Position der metrischen Passagenlosgeloumlst ist bietet McDonough seiner Ansicht nach sind die metrischen Partien hauptsaumlchlichfunktional bdquoThe poetry thus is primarily functional although this function varies from book tobookldquo (McDonough 1968 38) Als Funktionen benennt er fuumlr Buch 1 Handlungsfortfuumlhrung fuumlrBuch 2 Schmuck fuumlr Buch 3 Belehrung fuumlr den Rest Einfuumlhrung oder Entlassung derBrautjungfern oder Unmut uumlber Verzoumlgerung der Hochzeit Der Rest seien bdquooccasional piecesldquo(ibid 40) ndash Verspartien finden sich am Anfang der Buumlcher 1 2 3 4 5 6 7 und 9 sowie am Endeder Buumlcher 2 4 5 7 und 9 Die ungleiche Verwendung der Metra bei Boethius und Martianus laumlsst sich am besten alsEntwicklung verstehen wie es beispielsweise Kindermann (1969 60) tut Zur Kenntnis desMartianus bei Boethius vgl oben Anm 311

132 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

sonders zu markieren Dies gilt vor allem fuumlr markante Szenen zum Beispiel dieRede Jupiters in der Goumltterversammlung gegen Ende des ersten Buches (1 91ndash93)oder die orakelartige Auskunft Apolls (1 21 f)

Diese Beobachtung gilt daruumlber hinaus ebenso fuumlr die genannten Stellen inBuch 9 auch wenn es sich dort nicht um die Vorgeschichte oder einen weiterenliterarischen Rahmen handelt Jedoch ist eine Szene mit Goumlttergespraumlchen ein-geschoben in der die Goumltter unter anderem auch Verse verwenden Durch dieseReden in metrisch gebundener Form soll den entsprechenden Buumlchern also einehoumlhere Wuumlrde verliehen werden

Einen zweiten Fall stellen die Gedichte zu Beginn oder zu Ende eines Buchesin den Buumlchern 3 bis 9 dar In diesen Buumlchern praumlsentieren die Freien Kuumlnste ingeschlossenem Vortrag die Inhalte ihrer Wissenschaft Die Gedichte in einigenFaumlllen in auktorialer Erzaumlhlhaltung gestaltet uumlberbruumlcken die Fuge zwischen denBuumlchern und bieten eine Pause zwischen den langen Vortragspartien der Leserkann sich erholen Die Inhalte der Verspartien sind unterschiedlich es handeltsich zumeist um den Ein- oder Auszug einer Brautjungfer (4 327 4 423 f 8 8028 808 9 911ndash919) um die Fortfuumlhrung der Hochzeitshandlung (5 425 8 8059 888) um die Anrufung eines Gottes (6 567ndash574) oder um eine Wendung desAutors an den Leser (5 566 9 997ndash 1000)

Dieser Einsatz der Verspartien ist jedoch noch keine hinreichende Erklaumlrungfuumlr die Wahl des Prosimetrums Sie erklaumlrt sich besonders dadurch dass Marti-anus auf diese Weise sein Werk in die Traditionslinie von Texten einreiht die alsmenippeische Satiren bezeichnet werdensup3sup1⁶

Charakteristisch fuumlr diese spezielle Form der roumlmischen Satire ist der Wechselvon metrischen und prosaischen Partiensup3sup1⁷ Klassische lateinischsprachige Ver-treter der menippeischen Satire sind Varro (Saturae Menippeae) Seneca (Apo-colocyntosis) und Petron (Satyrikon) in der griechischen Literatur nutzen Lukianund Julian (Caesares) diese Form Inhaltlich lassen sich nur wenige Verbindungenzwischen den Werken ziehen und auch die Umsetzung der formalen Elemente istunterschiedlich Dies fuumlhrt sogar so weit dass sich moderne Forscher trotz derbereits antik bezeugten Bezeichnungder Gattung teilweise auszligerstande sehen dieGattung genauer zu definieren oder dass sie ihre Fragestellung losgeloumlst von derGattungstradition verfolgensup3sup1⁸ Dies macht die Verortung von De nuptiis in diesemGenre nicht leichter

Zur menippeischen Satire vgl Relihan 1993 Coffey 1996 Im Gegensatz dazu beschraumlnkt sich die Verssatire seit Horaz auf die Verwendung desHexameters So betont Scheible im Vorwort ihrer Studie zu den Gedichten in Boethiusrsquo de consolationedass sie Vorgaben der Tradition in Hinblick auf die Gedichte nicht beruumlcksichtige ndash sie lieszligen

2 De nuptiis als literarisches Werk 133

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Gelegentlich wird sogar die These vertreten dass sich das satirische ElementinDe nuptiis in dieser formalen Verbindung von Prosaund Poesie erschoumlpfesup3sup1⁹DerGattungsbegriff sbquomenippeische Satirelsquo waumlre dann identisch mit der BezeichnungsbquoProsimetrumlsquo Dem widersprechen jedoch verschiedene Beobachtungen derRuumlckgriff auf die Etymologie des Wortes satura die Bezugnahme auf Vertreter derGattung und das Auftreten einer Figur namens Satura sowie deren Agieren dasuumlber die rein formale aumluszligerliche Satireform hinausweist schlieszliglich die beson-dere Gestaltung der Erzaumlhlsituation Diese vier Elemente sollen im Folgendenherausgearbeitet werden

Etymologie ndash Dass Martianus sein Werk sehr wohl als Satire verstanden wissenwill wird an verschiedenen Stellen deutlich Dies geschieht zum Beispiel durchgelehrte Anspielungen auf die Terminologie der antiken Satire an prominenterStelle So heiszligt es in 9 998

[Satura] haec quippe loquax docta doctis aggeransfandis tacenda farcinat immiscuitMusas deosque disciplinas cyclicasgarrire agresti cruda finxit plasmate

So haumluft sie plappernd Gelehrtes auf Gelehrtes und stopft geheimes und bekanntes Wissenzusammen hatMusenundGoumltter vermischt undhat sich erdacht dass die enzyklopaumldischenDisziplinen in einem baumlurischen Machwerk unreifes Zeug daherplappern

Die Woumlrter farcinat und immiscuit verweisen auf das Zusammenstopfen undVermischen verschiedener Zutaten z B in einer Wurst oder Pastete Gleiches giltfuumlr die Woumlrtermiscillo und aggeranssup3sup2⁰ Ausgangspunkt fuumlr diese Terminologie istdie Etymologie desWortes sbquoSatirelsquo an sich bedeutet urspruumlnglich etwaswie sbquobunteMischunglsquosup3sup2sup1 Traditionell sind Anspielungen auf diese Etymologie in der satiri-

sich nicht feststellen (Scheible 1972 8) Vorhandene Untersuchungen beschreiben in der Regeldie Konstituenten der einzelnen Werke Aufgrund der geringen Zahl uumlberlieferter Werke und dergroszligen Unterschiede zwischen ihnen ist es jedoch schwierig die typischen Elemente der Gat-tung zu benennen Auch diese Arbeit schlieszligt sich dem beschreibenden Vorgehen an undvergleicht an einschlaumlgigen Stellen inwieweit die Beobachtungen auch fuumlr die Gattung typischsind So z B Coffey der die Mischung aus Prosa und Poesie bei Martianus als bdquomiscellanyldquobezeichnet und vor einer Verbindung von De nuptiis mit der Satire als problematisch warnt(Coffey 1996 959) Vgl Relihan 1993 14 ErnoutMeillet s v satur -ra -rum (2001 596) WaldeHofmann s v satura (2007 II482f) Der zentrale Hinweis auf eine Ableitung des Wortes aus dem kulinarischen Bereich findet

134 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

schen Literatur selten Allein in Juvenal findet sich ein Hinweis darauf gleichwohlmit leicht anderem Verstaumlndnis Er betrachtet die Zusammenstellung der Satirenals farrago also als Mischgericht nicht die einzelne Satiresup3sup2sup2

In diesen sehr bildlichen Wendungen trifft Martianus gleichzeitig eine Aus-sage uumlber sein Verstaumlndnis der Darstellung von Bildungswissen Bei ihm gibt eskeine vorverdauten und mundgerecht aufbereiteten Wissenspaumlckchen (wie Ma-crobius sie bietet)sup3sup2sup3 sondern rohe Kost (cruda) die ihre Zutaten d h die lite-rarischen oder inhaltlichen Urspruumlnge nicht leugnet LeMoine formuliert prauml-gnant bdquoBy calling attention to the literary functions these metaphors fulfillMartianus hellip raises questions about the principles of seamless synthesis andverbal regurgitation which Macrobius so effectively demonstratesldquosup3sup2⁴

Dass Martianus durch diese Art der Darstellung seine Autoritaumlt infrage stelle(bdquohellip reveal doubts about the competence of the cook and the quality of the edu-cational feastldquo)sup3sup2⁵ laumlsst sich jedoch nicht erkennen Schlieszliglich benennt er seinVorgehen explizit (scheitert also nicht an einem gesteckten Plan) und bietetgleichzeitig mit der Kritik an der klassischen Form der Wissensvermittlung eineMoumlglichkeit an wie nicht-vereinheitlichte Wissensvermittlung aussehen kannBeeintraumlchtigungen des Vertrauens zum Erzaumlhler und zu den Inhalten gibt esallerdings ndash jedoch aufgrund anderer Faktorensup3sup2⁶

Bezug auf andere Satiriker ndash Neben den Anspielungen auf die Etymologie derGattung Satire treten explizite Bezuumlge auf andere Autoren menippeischer Satirenauf Namentlich wird jedoch keiner der Vorgaumlnger genannt die Nennung Varroserfolgt ausschlieszliglich in den Vortraumlgen der Brautjungfern und bezieht sichuumlberwiegend auf Varros fachschriftstellerische Werke oder seinen Ruf als Enzy-klopaumldistsup3sup2⁷

sich beim Grammatiker Diomedes (Grammatici Latini 1 485) Ausgehend von dieser Passageeroumlrtert Petersmann die Etymologie mit besonderer Beruumlcksichtigung des Ursprungs des Wortessatura aus dem Kuumlchenbereich (Petersmann 1986) Iuv 1 86 nostri farrago libelli Vgl die Kommentare Morton Braund 1996 95 f undCourtney 1980 103 Vgl die Gleichnisse in der praefatio zu den Saturnalia (Sat praef 5ndash9) und die Ausfuumlh-rungen in Kap II1 sowie die dort aufgefuumlhrte Literatur LeMoine 1991 360 ibid S u die Abschnitte bdquoErzaumlhlinstanzenldquo und bdquoDeutungen der komplexen literarischen Formldquo 4 335 (die Gelehrsamkeit Varros vgl Cic ac 1 9 Aug civ 6 2) 5 517 (Nennung in einemZitat) 6 639 und 6 662 (Fragen der Geographie die Varro-Vorlage ist nicht bekannt) 9 928 (cfVarro rust 3 17 4) Vgl zum Verhaumlltnis von Martianus und Varro bes Bovey 2003 Kap 2 (bdquoLaquestion varronienneldquo) und Schievenin 2009f

2 De nuptiis als literarisches Werk 135

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Allerdings zitiert die Wendung ὄνος λύρας in 8 807 den Titel einer menip-peischen Satire Varrossup3sup2⁸ Die Wendung ist in der lateinischen Literatur ander-weitig nicht belegt weshalb davon auszugehen ist dass Martianus hier auf denrepublikanischen Satiriker direkt zuruumlckgriff Da die Wendung zudem im Streit-gespraumlch zwischenMartianus und Satura uumlber die angemessene Art des Erzaumlhlensder Geschichte faumlllt kommt ihrer Verwendung eine programmatische Aussage zuMartianus stellt sich und sein Werk also in die Nachfolge Varros und seiner Sa-tiren

Ein Bezug auf Lukian ist weniger sicher nachzuweisensup3sup2⁹ Allerdings gibt eseine motivische Uumlbernahme im zweiten Buch von De nuptiis Philologias Erbre-chen des Wissens das der Hochzeit vorausgeht hat eine Parallele in LukiansDialog Lexiphanes Der allzu (ein)gebildete Lexiphanes nimmt auf Draumlngen vonLycinus ein Brechmittel ein das ihm der Arzt Sopolis gibt Daraufhin erbricht eralle Woumlrter die er gelernt hat dies ist die Voraussetzung dafuumlr dass er nun an-gemessen belehrt werden kannsup3sup3⁰

Es handelt sich um die Fragmente Varro Men 348ndash369 In Fragment 349 findet sich dieWendung auch im Vers (si quis μελωδεῖν est ὄνος λύρας praesepibus se retineat forensibus ndashsbquower beim Gesang wiersquon Esel an der Harfe bloumld der bleib getrost im Stallmief seines Forumsdortlsquo [Uumlbs Krenkel]) Die Bezugnahme auf Varro ist umso wahrscheinlicher da Satura unmit-telbar zuvor sowohl Martianusrsquo berufliche Aufenthalte auf dem Forum erwaumlhnt und ein Wort-spiel mit seinem Namen Capella angestellt hat ndash der zwar nicht sbquoEsellsquo bedeutet wohl aber einHaustier (sbquoZiegelsquo)Vgl dazu Shanzer 1968c 38ndash40 Shanzer 1986a kritisch dazu Pabst 1994 168(m Lit) Folgt man Bovey handelt es sich bei der unmittelbar folgenden Wendung καιρὸν γνῶθιum einen weiteren Verweis auf den Titel einer Varro-Satire γνῶθι σεαυτόν (= Varr Men 199ndash210 vgl Bovey 2003 282ndash284) Naumlher liegt wohl dass Martianus Capella diese eigenstaumlndigeSentenz (vgl Diogenes Laertios I 79 der sie als Sentenz des Pittakos ausweist) aus einer anderenQuelle uumlbernommen hat Kindermann 1969 60 Shanzer geht davon aus dass Martianus Lukian kannte (Shanzer1986c 36) Zur Diskussion um Martianusrsquo Griechischkenntnisse vgl Cristante 2009 [5] undShanzer 1986c 4 die beide annehmen dass Martianus durchaus Griechisch beherrschteShanzer weist einige Stellen auf an denen Martianus woumlrtlich uumlbersetzt und schlieszligt aus derBeherrschung des Griechischen zu Recht auf einen gebildeten moumlglicherweise sogar akade-mischen Hintergrund von Martianus Lucian Lex 20f Andere antike Texte die das Erbrechen von Wissen als Teil des Reini-gungsprozesses beschreiben oder als Bild tradieren sind mir nicht bekannt Daher ist eswahrscheinlicher dass Martianus auf Lukian im Original zuruumlckgegriffen hat Zur vor-byzantinischen Rezeption Lukians vgl Nesselrath 1994 der spaumltantike Bezuumlge auf Lukian u abei Julian und Claudian aufzeigt ndash Einen Bezug auf Lukians Concilium deorum fuumlr moumlglich haumlltKrapinger 1999 962 ndash Anders gelagert sind Lucian cont 7 und Aug in Joh ev tract 36 1 Dortgeht es darum dass durch das Ausspeien Wissen weitergegeben wird was zum Bild der daserbrochene Wissen aufsammelnden Artes passt nicht jedoch zum Motiv der Reinigung

136 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Bezuumlge auszligerhalb der Uumlbernahme uumlblicher Gattungselemente lassen sich fuumlrSenecas Apocolocyntosis Petrons Satyricon oder Julians Caesares nicht konsta-tierensup3sup3sup1

Die Figur der Satura und ihr Handeln ndash Einer der deutlichsten Hinweise auf dieForm der Satire liegt im Auftreten einer Figur namens Satura Diese Figur wirdzunaumlchst von Martianus als Erzaumlhlinstanz eingefuumlhrt (1 2) von der er den Inhaltvon De nuptiis erfahren haben will Im Laufe des Werks gewinnt Satura aber anProfil und agiert zunehmend autonom

Aussagen uumlber Satura beruhen letztlich auf drei Stellen in De nuptiis (6 576ndash5798 806ndash8109997ndash999) und koumlnnen fast ausschlieszliglich aus der Formund derBotschaft ihrer eigenen Aumluszligerungen gewonnen werden An allen drei Stellendiskutiert Satura mit Martianus Ansonsten ist Satura zwar als praumlsent zu denkenwird aber nicht weiter thematisiert

Nach Martianusrsquo Anrufung Minervas zu Beginn des sechsten Buches mischtsich Satura in seine Uumlberlegungen ein welche Frauen er vor sich sehe Die Ein-mischung wird von Martianus als scherzend bezeichnet (iocabunda 6 576) dieEinmischung an sich als typisch fuumlr das Scherzen Saturas (ut lepidula est 6 576)Die Aumluszligerung Saturas beginnt mit Spott uumlber Martianusrsquo nur scheinbare KlugheitDurch falsche naumlchtliche Studien und besonders seine Anwaltstaumltigkeit habe erden Blick auf das Wichtige verloren und erkenne nun nicht einmal mehr Philo-sophia und Paideia Der Scherz wird jedoch alsbald von einem belehrendenTonfall abgeloumlst in dem Satura Martianus uumlber das Wesen der beiden Frauenaufklaumlrt

Satura tritt als Naumlchstes zu Beginn des achten Buches auf in der Folge derSilen-Szene Der angetrunkene Silen war eingeschlafen und durch Amor aufge-schreckt worden was die uumlbrigen Goumltter laut lachen lieszlig (8 803ndash805) DieseSchilderung provoziert bei SaturaWiderspruch da sie das Erzaumlhlte als unpassendfuumlr die Goumltterversammlung empfindet Ihre Kritik beginnt wieder bei der Persondes Martianus dessen Namen sie als passend zu seinem Wesen deutet (Capella ~sbquoZiegelsquo 8 806) Sodann fordert sie Martianus auf seine Possen zu unterlassenMartianus fuumlhlt sich gehoumlrig von Satura gemaszligregelt und gibt klein bei bemerktaber dass sie ansonsten mehr von Scherzen halte (alioquin lepidula 8 807) AlsSatura dann die Einfuumlhrungder eintretenden Brautjungfer in Versenvorbringt undMartianus wiederum seine Scherze (ludicra 8 808) vorhaumllt kann dieser nicht

Mit Julian verbindet Martianus immerhin die Ansiedlung der Goumltterversammlung auf derMilchstraszlige ndash Zur Rolle der Saturnalien vgl den Abschnitt bdquoDeutungen der komplexen litera-rischen Formldquo

2 De nuptiis als literarisches Werk 137

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mehr an sich halten und zahlt Satura ihre Kritik in gleicher Muumlnze heim Nacheinigem Spott uumlber Saturas Verse verteidigt nun Martianus das Recht auf Scherzgegen sie die an sich ndash nicht aber in De nuptiiswie es scheint ndash eigentlich fuumlr denScherz zustaumlndig waumlre und gibt ihr mit Martial (2 41 1) den Rat auch einmal zulachensup3sup3sup2

Ein letzter Schlagabtausch von Satura und Martianus erfolgt schlieszliglich amEnde des Werkes Wiederum streiten beide Figuren miteinander und halten sichmit Spott uumlber das Wesen des anderen nicht zuruumlck

Die Einfuumlhrung Saturas die ja nur in Verbindung ndash und das heiszligt Ausein-andersetzung ndash mit Martianus erscheint dient vornehmlich der deutlichenBenennung der Gattung und der Verstaumlndigung daruumlberwas den Charakter einessatirischen bzw des vorliegenden Werkes ausmache Erstaunlich ist dabei Mar-tianusrsquo Entwicklung der sich zunaumlchst gegen Unterhaltung im artes-Teil ausge-sprochen hatte diese spaumlter aber gegen den censorischen Eingriff Saturas imachten Buch verteidigt Noch erstaunlicher ist aber dass es gerade Satura ist diezur Beachtung des Decorums auffordert und Martianusrsquo vergleichsweise mildenScherz scharf tadelt

Erzaumlhlinstanzen ndash Die Frage nach der Erzaumlhlsituation bzw der Erzaumlhlerfigurgehoumlrt zu den grundlegenden Analysekriterien eines literarischenWerkes ebensowie die Konzipierung von Raumund Zeit Lassen sich die letzten beiden Punkte imHinblick auf De nuptiis hinreichend klaumlrensup3sup3sup3 so bietet die Erzaumlhlerfigur groumlszligereSchwierigkeiten

DassDe nuptiis zwei Erzaumlhlinstanzen hat scheint zu Beginn desWerkeswenigdramatisch In 1 2 verweist der Erzaumlhler Martianus gegenuumlber seinem Sohn dar-auf dass die folgende Geschichte (also der uumlberwiegende Teil von De nuptiis) ihm

Ride si sapis o puella ride Schievenin bietet eine gruumlndliche Analyse dieser Stelle auchmit Blick auf die inverse Vorlage Martials (plora si sapis o puella plora Mart 2 41) derwiederum auf Ovid (Ov ars 3 281 f) zuruumlckgreift (Schievenin 1984 bes 136 ausfuumlhrlich auchBovey 2003 275ndash288) Die Rahmenhandlung spielt in der erzaumlhlerischen Gegenwart und in einem unbestimmtenRaum der jedoch nicht auszligergewoumlhnlich ist es liegt nahe an Karthago und das Haus desMartianus Capella zu denken Die eigentliche Handlung spielt an z T unwirklichen Orten aufder Erde die zumeist nicht naumlher bestimmt sind (z B Philologias Herkunft) und auf derMilchstraszlige wobei die absolute Zeit nicht genannt wird aber aufeinanderfolgende Tage inihrem Ablauf erkannt werden koumlnnen Die Phantastik einzelner Szenen die meist auf alle-gorische Darstellungsweisen zuruumlckgeht verletzt jedoch nicht die raumlumliche oder zeitlichePlausibilitaumlt des Dargestellten Vgl dazu auch die Ausfuumlhrungen und grafischen Veranschau-lichungen LeMoines (1972a)

138 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

waumlhrend langer Winternaumlchte (eine Anspielung auf Gellius)sup3sup3⁴ von Satura be-richtet wurde Der antike wie moderne Leser duumlrfte sich wohl kaum daran stoszligensondernwird darin vor allem eine Inspiration des Autors durch Satura (auchwennes das zuvor noch nicht gab) erkennen Bei der Erwaumlhnung von Satura koumlnnte erHeiteres erwarten oder bunt gemischte Geschichten

Vollkommen verwirrt wird der Leser hingegen spaumltestens dann wenn er amEnde des Werkes in der Sphragis angekommen ist (9 997ndash 1000) Dort reflektiertMartianus sein literarisches Vorgehen in den vorausgegangenen neun Buumlcherngenauer gesagt distanziert er sich von der Form der Darstellung (Umfang Bunt-heit) und verweist auf die Verantwortung Saturas die die Geschichte erzaumlhlt habe

Habes anilem Martiane fabulam 997Miscillo lusit quam lucernis flamineSatura Pelasgos dum docere nititurArtes daggercagris vix amicas AtticisSic in novena decidit voluminahaec quippe loquax docta doctis aggerans 998fandis tacenda farcinat immiscuitMusas deosque disciplinas cyclicasgarrire agresti cruda finxit plasmate (9 997 f)

Da hast du Martianus eine Altweibergeschichte sie verfertigte im Spiel mit vermischterInspiration [d h in Prosa und Vers] bei Kerzenschein Saturawaumlhrend sie sich bemuumlhte diePelasger zu lehren die Kuumlnste die den Griechen kaum freundlich [d h neu] sindSo gelangte sie hinab bis zum neunten Buch haumluft plappernd Gelehrtes auf Gelehrtes undstopft geheimes und bekanntes Wissen zusammen hat Musen und Goumltter vermischt und hatsich erdacht dass die enzyklopaumldischen Disziplinen in einembaumlurischenMachwerk unreifesZeug daherplappern

So ungewoumlhnlich dieses Vorgehen auch ist ndash Martianus haumltte ja den Bericht Sa-turas als Grundlage nehmen und dann nach eigenem Geschmack umgestaltenkoumlnnen ndash wird es uumlbertroffen durch die Verteidigung Saturas Sie weist die Ver-antwortung fuumlr die Art der Erzaumlhlung von sich und verteidigt sichmit demHinweisauf Martianusrsquo intellektuelle Schwaumlche der sie die Ausfuumlhrungen habe anpassenmuumlssen

Vgl Gell praef 4 zur Erklaumlrung der Wahl des Titels Noctes Atticae fuumlr sein Werk

Sed quoniam longinquis per hiemem noctibus in agro sicuti dixi terrae Atticae commentationeshasce ludere ac facere exorsi sumus idcirco eas inscripsimus noctium esse Atticarum hellip

Aber weil wir in langen Naumlchten den Winter uumlber in Attika auf dem Landwie schon gesagtdiese Anmerkungen im Spiel und dann ernsthaft begonnen haben daher haben wir ihnenden Namen Attische Naumlchte gegeben hellip

2 De nuptiis als literarisches Werk 139

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

haec ipsa nauci rupta conscientia 999turgensque felle ac bili bdquomulta chlamydeprodire doctis approbanda cultibuspossemque comis utque e Martis curia[hellip]ab hoc creatum Pegaseum gurgitem 1000decente quando possem haurire poculoldquo (9 999 f)

Sie sagte aufgrund ihres Wissens um die Nichtigkeit (dieser Ausfuumlhrungen) verletztschwellend vor Bitterkeit und Zorn bdquoIch koumlnnte hier freundlich auftreten mit einem Gewandbekleidet lobenswert durchgelehrtes Verhaltenwie aus der VersammlungdesMars [Es folgtdie Schilderung der unguumlnstigen Anlagen von Martianus] ndash Wann koumlnnte ich mit ange-messenem Becher aus einem pegasischen Strom von ihm erschaffen schoumlpfenldquo

Somit hat das Werk das zu Beginn zwei hierarchisch geschiedene Erzaumlhler zuhaben scheint am Ende zwei Erzaumlhler die sich gleichberechtigt uumlber die Form dererzaumlhlten Geschichte streitensup3sup3⁵

Die Inkonsistenzen auf der Erzaumlhlebene setzen sich daruumlber hinaus fort HatteMartianus zu Beginn des Werks gesagt Satura habe ihm die Geschichte waumlhrendlangerWinternaumlchte erzaumlhlt so treten Satura undMartianus amEnde desWerks inder erzaumlhlerischen Gegenwart gemeinsam auf und sprechen beide nacheinanderzu Martianusrsquo Sohn

Weiterhin erscheinen Satura und Martianus innerhalb der Geschichte dieMartianus angeblichvon Satura gehoumlrt hatWaumlhrend die Goumltter denverschiedenenBrautjungfern lauschenwohnen auch SaturaundMartianus der Versammlungbeiund betrachten sie als unbeteiligte ZuschauerWie aus einer Theaterloge herauskommentieren und diskutieren sie das Geschehen das auf der bdquoGoumltterbuumlhneldquostattfindetsup3sup3⁶

Noch einen weitergehenden Schritt stellt die Silen-Szene zu Beginn des achtenBuches dar Im Anschluss an diese Szene beschwert sich Satura bei Martianus erkoumlnne die Goumltter nicht auf dieseWeise agieren lassen In der Folge entspinnt sich einGespraumlch in demMartianus seine Art des Erzaumlhlens gegen Satura verteidigt die fuumlreine zuruumlckhaltendere Darstellung plaumldiert (s o)Von der Fiktion dass Martianusseinem Sohn bloszligwiedergibtwas Satura ihm erzaumlhlt hat bleibt nichtmehr viel dieganze Szenerie ist ein Produkt der ErfindungdesMartianus gleichzeitigwohnt er ihraber gemeinsam mit Satura bei ist also Teil der Handlung

So bereits Pabst 1994 120 Anm 119 der allerdings auf eine Diskussion der Beobachtungverzichtet Es handelt sich um die Stellen zu Beginn des sechsten und des achten Buches die imvorigen Abschnitt bereits paraphrasiert wurden

140 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Diese Art der Spiels mit der Erzaumlhlerrolle wird von manchen modernen For-schern als ein wichtiges Merkmal der menippeischen Satire angesehen Hinzu-treten kann die Selbstherabsetzung des Erzaumlhlers die sich an seinemmangelndenWissen Stilbewusstsein Traditionsempfinden o auml entzuumlndetsup3sup3⁷ Folglich kanndie zunaumlchst befremdliche Brechung und Verzerrung als weiteres Merkmal derGattung menippeische Satire bestimmt werden

Aufgrund dieser Beobachtungen ist es zwingend in De nuptiis vor allem eineSatire zu sehen Auch der heiter-spoumlttische Charakter einiger Passagen zwischenden Vortraumlgen der Brautjungfern passt zum satirischen Anspruch Gelegentlicherscheint es jedoch fraglich ob es sich wirklich um satirische und nicht eher umkomische oder derbe Spaumlszlige handelt Die Szene in der Silen betrunken einschlaumlftund von den anderen Goumlttern verspottet wird (8 803ndash805) erinnert mit ihremSlapstick eher an den derben Spott der Komoumldie als an die Satire eines Varrosup3sup3⁸

22 Deutungen der komplexen literarischen Form

Wie laumlsst sich das Werk De nuptiis nun also formal beschreiben oder andersgefasstWie lassen sich die vier literarischen Traditionsstraumlnge zusammenfuumlhrenDass eine einheitliche Lesung zumindest versucht werden muss zeigt bereits dasLeitmotiv der Hochzeit ansup3sup3⁹

Im Kern handelt es sich bei MartianusrsquoWerk um eine Sammlung bedeutenderWissensschaumltze in einem einzigen Werk die darin systematisch ausgebreitetwerden Dies zeigt die Einteilung in verschiedene Disziplinen die ein ver-

Zur Erzaumlhlerrolle in der menippeischen Satire vgl u a Relihan 1993 und darin bes S 35 Mit der Aufnahme unterhaltsamer Elemente ginge Martianus sogar noch uumlber dieErwartungen an ein sbquosatirischeslsquo Werk hinaus Auch Boethius wird bescheinigt er erzaumlhle seineConsolatio bdquoper satiramldquo auch wenn bei ihm weder eine Figur Satura auftritt noch allzu vielHeiterkeit herrscht (Peiper zitiert in der Einleitung zu seiner Ausgabe S xxxi eine mittelalter-liche Boethius-Vita vgl Kindermann 1969 61)

hos libros [scil de consolatione Philosophiae] per satiram edidit imitatus videlicet mar-cianum felicem capellam qui prius libros De nuptiis philologiae et mercurii eadem speciepoematis conscripserathellip

Diese Buumlcher schrieb er als Satire freilich in Nachahmung des Marcianus Felix Capellader zuvor die Buumlcher uumlber die Hochzeit der Philologie mit Merkur in der gleichen Art vonGedicht verfasst hatte

Zum Motiv der Hochzeit das bereits programmatisch im eroumlffnenden Hymnus anHymenaeus erscheint vgl Schievenin 2009c und Cristante in der Einleitung seiner Ausgabe1987 3ndash 10

2 De nuptiis als literarisches Werk 141

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

gleichsweise leichtes Auffinden der Informationen erlaubtsup3⁴⁰ die Bedeutung wirdangesichts der Praumlsentation vor den Goumlttern auf der Milchstraszlige deutlich Alleinder Umfang dieser Vortraumlge die in sich auch nicht gestoumlrt oder gebrochenwerdenmarkiert dass es sich hier um das zentrale Charakteristikum des Werkes handelt

Den erzaumlhlerischen Anlass fuumlr diese Praumlsentation bietet eine Hochzeitsfeieralso ein Symposion hier ist die Gelegenheit fuumlr die groszligen Redebeitraumlge gegebenZudem bietet die SymposionformAnknuumlpfungspunkte fuumlr eine Rahmenhandlungdie zur Auflockerung der ebenso ausfuumlhrlichenwie trockenen Einzelreden genutztwird

Doch bleibt es ndash im Gegensatz z B zu Macrobius ndash nicht bei der bloszligenDarstellung der Wissensinhalte Hinzu tritt die allegorische Darstellung der Be-deutung von Wissen und von Fleiszlig beim Wissenserwerb in den ersten beidenBuumlchern Die praumlsentierten Inhalte der Buumlcher 3ndash9 (die Philologia ja bereits aufder Erde in Buch 2 besitzt) sindwichtig Sie sind nicht nur wichtig fuumlr das irdischeLeben (das wird nicht weiter thematisiert die explizit irdischen Wissenschaftenwie Architektur und Medizin werden sogar ausgeschlossen) ndash die Inhalte sindauch wichtig fuumlr die menschliche Vervollkommnung

Durch das angesammelte Wissen erreicht der Mensch zwar nicht die voll-kommene Erkenntnis (die erhaumllt auch Philologia nur ohne eigenes Zutun als sieauf der houmlchsten Himmelssphaumlre angekommen zum Vatergott in der jenseitigenGluumlckseligkeit betet) wohl aber ein goumlttergleiches Wissensup3⁴sup1 Der Wissenserwerbist gewissermaszligen die Voraussetzung dafuumlr dass der Mensch mit Hilfe einesgoumlttlichen Begleiters in den Himmel aufsteigen kann unsterblich wird und voll-kommene Einsicht erlangt

Die so weit kohaumlrente Verbindung der literarischen Traditionen laumlsst aller-dings den explizit satirischen Anspruch von De nuptiis auszliger Betracht durch denMartianus selbst das Werk primaumlr in die Gattung der Satire einordnet waumlhrendvergleichbare Bezuumlge zu anderen Gattungen fehlen Natuumlrlich lieszlige sich dieserprogrammatische Anspruch mit einem Verweis auf die Verwendung des Begriffszur Bezeichnung einer inhaltlich wie literarisch gemischten Form erklaumlren Dochgreift diese Erklaumlrung zu kurz da das Agieren Saturas die literarischen Passagendes Werks beinahe als Travestie erscheinen laumlsst (vgl oben zur Erzaumlhlerfigur) Einbildend-enzyklopaumldisches Werk kann sich allerdings nicht gefahrlos als Satire

So auch Englisch 1994 56 Die bdquoSystematik bei der Praumlsentationldquo erlaube einen leichtenZugriff auf die Informationen Mart Cap 2 201ndash205

142 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

praumlsentieren ohne Zweifel an der Glaubwuumlrdigkeit und Zuverlaumlssigkeit desWerkes und der praumlsentierten Inhalte zu weckensup3⁴sup2

Wenn Martianus auch die Konventionen der Gattung menippeische Satireaufnimmt und sein Werk also nur folgerichtig unter anderem eine unzuverlaumlssigeErzaumlhlsituation aufweist ist dies noch keine Erklaumlrung an sich Die regelkonformeUmsetzung gattungstypischer Anspruumlche erklaumlrt noch nicht die Wahl der Gattungan sich ndash einer Gattung die trotz ihrer Benennung als solche nicht zu denStandardformen und akzeptierten Gattungen zaumlhlte insbesondere nicht fuumlrLehrwerkesup3⁴sup3

Auch Martianusrsquo Verweis auf etwas bislang noch nicht Unternommenes(nescioquid inopinum intactumque 1 2) vermag den Widerspruch nicht zu loumlsenDie Wendung zeigt zwar dass Martianus die Ungewoumlhnlichkeit seines Ansatzesbewusst war (sofern sich die Phrase uumlberhaupt auf die Komposition des Werkesbezieht)sup3⁴⁴ beseitigt aber nicht das interpretatorische Problem ZuwelchemZweckverbindet Martianus also zwei so widerspruumlchliche Gattungen wie Enzyklopaumldieund Satiresup3⁴⁵

Drei Antwortansaumltze lassen sich grob umreiszligen 1 Die Verbindung ist nuraumluszligerlich bzw oberflaumlchlich 2 durch die Verbindung soll ein bestimmter Aspektparodiert und somit Spott und Kritik ausgesetzt werden 3 die Verbindung erfuumlllt

Dieses Problem hat bereits Westra in seinem Aufsatz bdquoThe juxtaposition of the ridiculousand the sublime in Martianus Capellaldquo benannt (Westra 1981) Allerdings beschraumlnkt sich auchdieser Aufsatz auf die Darstellung des Problems und die Zusammenstellung der Belege EineLoumlsung hat Westra nicht anzubieten ndash sein Aufsatz endet mit der eher apologetischen Bemer-kung das Eingestaumlndnis der Unvereinbarkeit von Satire und Lehrwerk durch Martianus in 9 997sei prima facie ein Spiel dahinter stecke jedoch die Absicht Problembewusstsein zu demon-strieren und Verantwortung fuumlr die unterlassene Loumlsung zu negieren bdquoEven though I would claim that prose and verse must be present in an ancient Menippeansatire it must be seen as one of a number of shocking juxtapositions of oppositesldquo (Relihan 198760) ndash In der Folge kann die prosimetrische Form durchaus auch Mittel belehrender Werkewerden vgl Pabst 1994 133 Denkbar (und wohl wahrscheinlich) waumlre auch dass damit die Inhalte besonders desMythos gemeint sind Der Verweis auf Unterhaltung fuumlhrt nicht zum Kern der Frage denn die satirische Formstellt mehr dar als reine Unterhaltung Auch das horazische Diktum ridentem dicere verum quidvetat ndashsbquolachend das Wahre zu sagen ndash was spricht dagegenlsquo (Hor serm 1 1 23) als Kern vonMartianusrsquo Satireverstaumlndnisses greift zu kurz ebenso wie vergleichbare Konzeptionen in derLiteratur Dort geht es bei Belehrung immer um einzelne philosophische Saumltze (nie beispiels-weise um die Vermittlung von Philosophie an sich) Folglich bezeichnet das bdquoverumldquo nichtkognitives Lernen sondern moralisches Der grundlegende Unterschied zur Konzeption desMartianus liegt somit auf der Hand Vgl zu diesem Aspekt im Allgemeinen z B Shanzer 1986c42 und im Speziellen u a Woytek 1986 339ndash345 Keulen 2009 bes Kap 2 und 3

2 De nuptiis als literarisches Werk 143

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

einen literarischen und belehrenden Zweck zugleich Aufgrund der komplexenSachlage und der unmittelbaren Bedeutung der Beantwortung der Frage nachdieser Verbindung fuumlr das Gesamtverstaumlndnis von De nuptiis werden alle Alter-nativen vorgestellt und bewertet

Rein formale Verbindung von Satire und EnzyklopaumldieEventuell laumlsst sich die Mischung aus enzyklopaumldischen und satirischen Ele-menten (mit den zur Satire gehoumlrigen Verspartien) als Sonderform der Varro-Re-zeption bei Martianus auffassenVarro von Reate verfasste sowohl umfangreicheFachliteratur als auch menippeische Satiren Fuumlr beides war er in der Antikebekannt und beruumlhmt ndash doch ist es wahrscheinlich dass Martianus die Werkebereits nicht mehr ndash oder allenfalls nur in Auszuumlgen ndash vorliegen hattesup3⁴⁶ Aus demWissen um die beiden Schaffensbereiche des republikanischen Autors die beideder Unterweisung dienen solltensup3⁴⁷ koumlnnte Martianus auf den Gedanken verfallensein die literarischen Formen und Inhalte in seinem Werk zu verbindensup3⁴⁸Vielleicht saszlig er auch einemMissverstaumlndnis auf indem ermeinte dass Varro seinsatirisches wie enzyklopaumldisches Koumlnnen in nur einem Werk demonstriert habeDies hieszlige jedoch dass Martianus sich der Problematik dieser Verbindung nicht

So aumluszligert sich beispielsweise Kindermann in den Vorstudien seiner Ausgabe der Conso-latio des Laurentius von Durham Er billigt Martianus nur eine sekundaumlre Varro-Kenntnis zu(Kindermann 1969 60) Entschieden verneint wird die Frage von Schievenin (2009f) und Hadotdie vor allem neuplatonische Quellen vermutet (Hadot 2005 149) Schneider jedoch nimmt andass sowohl Augustin als auch Martianus die Disciplinae noch vorliegen hatten (Schneider 1999109 f) und dass die Satiren-Exzerpte des Nonius Marcellus (fl um 400 in Afrika) ebenfalls ausdem Originaltext Varros angefertigt wurden (ibid 96 Anm 12) Abwaumlgend aumluszligert sich Huumlbner2004 passim Vgl Cic ac 1 8 (es spricht Varro)

et tamen in illis veteribus nostris quae Menippum imitati non interpretati quadam hilaritateconspersimus multa admixta ex intima philosophia multa dicta dialectice quae quo faciliusminus docti intellegerent iucunditate quadam ad legendum invitati

Jedoch findet sich in meinen fruumlhen Schriften die ich in kreativer Nachfolge (und nicht nurUumlbersetzung) Menipps mit einer gewissen Heiterkeit benetzt habe vieles aus den Kernbe-reichen der Philosophie beigemengt und vieles das nach Art der Dialektiker gesagt istdamit die weniger Gelehrten es leichter verstuumlnden nachdem sie durch eine Art von Scherzzur Lektuumlre ermuntert worden sind

Vielleicht hatte Martianus diese Stelle sogar im Kopf als er die Anlage von De nuptiis plante So z BWeinreich in der Einleitung zu seiner Uumlbersetzung roumlmischer Satiren bdquoMartianusCapella glaubte gewiszlig ein Varro redivivus zu sein sozusagen die Quintessenz des Gelehrten unddes Satirikersldquo (Weinreich 1962 XCIII) Ebenso Shanzer 1986c 42

144 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

bewusst gewesen sei ndash was ihm sicher nicht gerecht wird Auszligerdem wird so dieBezugnahme auf weitere formale Elemente der menippeischen Tradition und dieuumlbrigen Vorlaumlufer der Gattung mit anderer Konzeption (Lukian Julian) nichtausreichend beruumlcksichtigt

Ebenfalls beim Autor koumlnnte eine zweite Erklaumlrung ansetzen Im Zuge derAbfassung seiner Enzyklopaumldie hat sichMartianus nach horazischer Vorgabe (unddem Beispiel Varros)sup3⁴⁹ um Auflockerung und heitere Elemente bemuumlht Diespontanen Einfaumllle wurden ins Werk integriert und die sich daraus ergebendenInkonsistenzen entweder uumlbersehen oder billigend in Kauf genommen Beideswuumlrde gut zum klassisch negativen Martian-Bild in der Forschung passensup3⁵⁰Abgesehen davon dass Annahmen uumlber das Vorgehen beim Schreiben weitge-hend auf Spekulation beruhensup3⁵sup1 widersprechen drei Beobachtungen dieser Er-klaumlrung Erstens gelingt es Martianus De nuptiis uumlber neun Buumlcher vorauszu-planen so dass am Ende ein ndash zunaumlchst abgesehen von der Satire-Problematik ndashkohaumlrentes Werk entsteht Die Fuumllle der behandelten Themen Motive und lite-rarischen Elemente weist eher auf ein planvolles Arbeiten hin und macht es un-wahrscheinlich dass Martianus Probleme an dieser Stelle nicht wahrgenommenbzw nicht korrigiert haumltte Zweitens ist die Verbindungvon Satire und den anderenElementen nicht nur oberflaumlchlich so dass sie nachtraumlglich eingefuumlgt sein koumlnnteoder sich im Schreibprozess so ergeben haben koumlnnte Da bereits im zweitenKapitel des ersten Buches Satura eingefuumlhrt wirdwar sie von vornherein Teil des

Gemeint ist das beruumlhmte zunaumlchst nur fuumlr die Dichtung relevante prodesse aut delectare(Hor ars 333 f) zu Varro vgl die schon angefuumlhrte Stelle aus Cic ac Vgl z B die sehr bildliche Beschreibung von C S Lewis bdquo[hellip] this universe which hasproduced the bee-orchid and the giraffe has produced nothing stranger than Martianus Capella[hellip] the curiosity shop of his mind [hellip] a chaos beside which the work of Rabelais has unity andthat of Mandeville probabilityldquo (Lewis 1936 78 f) Gleiches gilt fuumlr Spekulationen uumlber eine andere Auffassung von Literatur und ihrenRegeln in Martianusrsquo Zeit oder Umfeld Einerseits kennen wir keine Texte die sich mit De nuptiisvergleichen lieszligen (was per se nichts beweist aber doch Indiziencharakter hat) andererseitshielten sich auch die spaumltantiken Autoren uumlblicherweise an die klassischen Vorgaben Ich teiledaher auch Schneiders Ansicht nicht der die Skepsis an dieser Verbindung allein der modernenLeseerfahrung zuschreibt bdquoWenn den Heutigen diese Kombination der forcierten Gelehrsamkeiteines Curriculums und der spielerisch-saloppen Causerie seltsam beruumlhren mag so waumlre dazuimmerhin schon an ein ciceronisches Dictum zu erinnern non est enim seiunctus iocus a phi-lologia (ad fam 16214) ndash sbquoSpieltrieb und Pedanterie diktieren und widersprechen sich nichtlsquo(sbquoErste Fruumlhschichtlsquo aus Grassrsquo sbquoHundejahrelsquo)ldquo (Schneider 1999 94 Anm 2) Der Verweis aufCicero traumlgt nichts zum Verstaumlndnis von Martianus bei Cicero geht es an der zitierten Stelle umden Ablauf des Tages mit seinem Schuumller der aus ernsteren und heitereren Abschnitten bestehtDaraus folgt nicht dass das Lernen mit Scherz verbunden ist ndash auszligerdem duumlrfte Cicero unteriocus (sbquo[urbaner] Scherzlsquo) anderes verstanden haben als Martianus in seiner Satura bietet

2 De nuptiis als literarisches Werk 145

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Kompositionsplans Drittens hat Schievenin gezeigt dass Martianus keineswegsoberflaumlchlich und eigenwillig arbeitet Durch eine gruumlndliche Untersuchung derSilen-Passage (8 803ndash805) kann er nachweisen dass Martianus ndash wie vieleAutoren vor ihm ndash uumlber ein umfangreiches literarisches Wissen verfuumlgte daraufbei der Abfassung seines Werkes zugreifen konnte und durch gezielte Anspie-lungen neue Bezuumlge herstelltesup3⁵sup2

Satire als Mittel der KritikWaumlhrend die antike Satire (im Gegensatz zur modernen) nicht zwangslaumlufig Kritikan Missstaumlnden uumlben wollte ist diese Moumlglichkeit umgekehrt auch nicht auszu-schlieszligen Martianus koumlnnte also bewusst eine solide Darstellung der Kuumlnste inliterarischem Gewandmit der Gattung der Satire verbunden haben um Zweifel ander Ernsthaftigkeit der uumlbrigen Teile des Werkes zu wecken Er wuumlrde somit einaufklaumlrerisches Interesse verfolgen das zugleich auch unterhaltsame Zuumlge traumlgt

Eine erste Schwierigkeit dieser Lesart von De nuptiis ergibt sich bereits bei derFrage nach dem Objekt der SatireWerden die Wissensinhalte in Zweifel gezogenoder nur die Art ihrer Vermittlung in langen Reden bzwTraktaten Soll der Glaubean die umfassende Einheit des Wissens kritisiert werden oder die Vorstellungsaumlmtliches Wissen lasse sich vermitteln gar kohaumlrent in einem Werksup3⁵sup3 Ist dieVorstellung dass Wissen goumlttlich mache parodiert oder nur die abwegige Vor-stellung dass auf einer Hochzeit solche Reden gehalten werden Oder richtet sichdie Kritik letztlich gegen die Auffassung Philologia als Vorbild zu sehen oder garals Mittlerin alles Wissens ja sogar als Mittlerin zwischen Menschen und Goumlttern

Aus der Tatsache dass das Objekt der Satire keineswegs leicht zu bestimmenist kann nicht gefolgert werden dass in De nuptiis keine Satire vorliege die be-stimmte Sachverhalte kritisiere Aber es kann durchaus gefolgert werden dass eskeine expliziten textinternen Merkmale gibt die das Lesen steuern und den Ge-genstand der Kritik deutlich hervortreten lassen Die Deutungen gehen also vonmodernen Annahmen uumlber das Umfeld bzw die Gedankenwelt von Martianus aus

Im Kern handle es sich um bdquouna narrazione tersa e brillanteldquo verbunden mit einemDickicht an Verweisen Die Silen-Szene habe einen bdquocarattere colto e della dottrina e dellalingualdquo (Schievenin 1984 132) Das Fazit seiner Untersuchung formuliert Schievenin folgen-dermaszligen bdquoIl De nuptiis si rivela dunque opera di vasti orizzonti non solo per lrsquointento dida-scalico che la pervade e che ne determineragrave la fortuna ma anche per la costante presenza nellafabula della tradizione classica e dei suoi echildquo (ibid 136) Vgl zu dieser Stelle auch Bovey2003 275ndash288 ndash Den geschickten Umgang mit mehreren Quellen ndash erzaumlhlerisch wie seman-tisch ndash kann Schievenin auch fuumlr 7 725ndash727 nachweisen (Schievenin 2009e) So z B Relihan 1993 138 bdquoMartianus writes not an encyclopedia but a Menippean satirethat parodies encyclopedic knowledgeldquo

146 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

und weisen zudem meist nicht kleinschrittig auf wie der Interpret zu seiner (oftapodiktisch dargelegten) Ansicht gelangt

Nun folgt daraus noch nicht dass Martianus De nuptiis nicht als kritisierendeSatire konzipiert haumltte die Vielzahl der (wenn auch differierenden) modernenDeutungenweist ja darauf hin Zwei Uumlberlegungenwenn auch keine schlagendenBeweise lassen die Hypothese der parodierenden Satire unwahrscheinlich wer-den der Umfang von De nuptiis und seine Rezeption Eine Satire die beispiels-weise die Verbindung von Weltwissen und menschlicher Vervollkommnung in-frage stellt benoumltigt nicht noch eine umfassende Darlegung eben diesenWissensDies gilt besonders da diese Darlegung den Hauptteil des Werks ausmacht und ndashzumindest dem Umfang nach ndash die uumlbrigen Partien weit uumlberragt Eine Deutungvon De nuptiis als kritischer Satire muumlsste also besonders die Frage beantwortenzu welchem Zweck die umfangreichen Darstellungen der Freien Kuumlnste aufge-nommen sind (und nicht nur angedeutet werden)

Die Rezeption eignet sich zwar ebenfalls nicht zu sicheren Ruumlckschluumlssen aufdie originale Intention eines Werkes haumlufig bietet sie aber interessante EinblickeDie Martianus-Rezeption stellt sich bald ein Cassiodor beruft sich in seinen In-stitutiones auf ihn Dort erscheint Martianus nicht als Satiriker oder Zeitkritikersondern als Gelehrtersup3⁵⁴ In dieser Tradition wird Martianus auch im Mittelaltergelesen und rezipiertsup3⁵⁵

Aumlhnliches laumlsst sich fuumlr Boethiusrsquo Anknuumlpfen an die prosimetrische Form inder Ausgestaltung von Martianus sagen Boethius verfasst zweifelsfrei keine kri-tische Satire kann aber trotzdem an die Form und den Inhalt von De nuptiisproblemlos anknuumlpfen Sowohl der Form nach wie auch durch einzelne Zitatemacht er deutlich dass erDe nuptiis kennt und als eine seiner Vorlagen benutzt Esist zu bezweifeln dass Boethius in seinem Bemuumlhen um eine adaumlquatewerbendeDarstellung der Philosophie auf Form und Zitate des Martianus zuruumlckgegriffenhaumltte haumltte er nicht die Moumlglichkeit der gefahrlosen Uumlbernahme gesehen

Satirische Elemente als Mittel der BelehrungDer dritte Erklaumlrungsansatz fuumlr die Verbindung von Satire und Belehrung be-trachtet die Wahl Saturas als Figur und die Bezugnahme auf die Gattung zunaumlchst

Cassiod inst 2 2 17 Zur mittelalterlichen Martianus-Rezeption vgl bes Nuchelmans 1950 Lutz 1971 und 1976Willis 1973 sowie die Ausgaben und Literatur u a zu folgenden Werken Konrad von MureFabularius Hugo von Sankt Victor Didascalicon de studio legendi Johannes von SalisburyMetalogicon Kindermann kann weiterhin nachweisen dass De nuptiis auch durch seine Forminspirierend gewirkt hat (Kindermann 1969 61 f)

2 De nuptiis als literarisches Werk 147

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

als reine Fortsetzungder literarischen Form Fuumlr diese spezielle Formder Literaturdie menippeische Satire hat der russische Literaturwissenschaftler MichailBachtin Beobachtungen aufgestellt die auch fuumlr De nuptiis zutreffen Durch denRuumlckgriff auf zwei zentrale Konzepte Bachtins das Karnevaleske und die Dialo-gizitaumlt wird ein Verstaumlndnis von De nuptiis ermoumlglicht

Auf der Suche nach Vorlagen und Urformen der Gattung des Romans ins-besondere in der Form von Dostojewskis Romanen stieszlig Bachtin unter anderemauch auf die menippeische Satire die er bis in die Antike zuruumlckverfolgtesup3⁵⁶ Zuihren Vertretern zaumlhlt er unter anderem Varro Apuleius Petron Seneca oderLukiansup3⁵⁷ Martianus Capella wird nicht erwaumlhnt was aber nicht verwundernmuss da Bachtin keine Literaturgeschichte der menippeischen Satire schriebsup3⁵⁸

Kern der Uumlberlegungen Bachtins zurmenippeischen Satire ist das Konzept desKarnevals Unter Karneval versteht er folkloristische Feste waumlhrend deren diebestehende Ordnung verkehrt wird uumlbliche Regeln nicht mehr gelten Herr-schende gestuumlrzt und Machtlose maumlchtig werden ndash auf Zeit Die Karnevalisierungalso die Uumlbernahme der Kennzeichen dieses Festes in neue oder bestehende li-terarische Formen institutionalisiert diese Ausnahmesituation und loumlst sie vomkonkreten Fest Der so entstandene Text wird bdquozum karnevalesken Spiel an demder Autor und sein Publikum einverstaumlndlich teilhaben und das keines kalen-darisch oder institutionell abgesicherten Karnevalsrahmens mehr bedarfldquosup3⁵⁹

Diese Karnevalisierung fuumlhrt unter anderem zu einer Vielstimmigkeit vonMeinungen und Positionen im Text z B durch mehrere Figurenvon denen keinebevorzugt oder gar als autoritativ gekennzeichnet wird In dieser Dialogizitaumlt wirdkein allgemein guumlltiger Sinnmehr vermittelt sondern dieWahrheit suspendiertsup3⁶⁰

Dass der Bezug auf karnevalsartige Feste der Gattung menippeische Satire (inTeilen auch der Verssatire) eignet zeigt ein kurzer Blick auf wichtige Vertreter derTradition

Julians Symposion Caesares spielt zur Zeit der Saturnalien Die Bedeutungdieses Festes fuumlr das Werk wird dadurch verdeutlicht dass es den Handlungs-

Bachtin 1971 126ndash 135 Bachtin 1971 126 128 132f Kritik an den z T pauschalisierenden und verfaumllschenden Aussagen Bachtins uumlber antikeLiteratur oder an der ununterbrochenen Traditionslinie von der Antike bis in die Moderne (z BRelihan 1987 59 Lachmann 2006 23ndash25) muumlsste auch auf manche moderne Literaturwissen-schaftler in der Nachfolge Bachtins angewandt werden (vgl Branham 2005 6 wo es uumlberSenecas Apocolocyntosis heiszligt bdquoour only extant Menippean satire in Latinldquo) Teuber 1993 182 Eine gut verstaumlndliche Einfuumlhrung in das Konzept der Dialogizitaumlt im Sinne der bach-tinschen Terminologie bietet Sharland 2010 Einfuumlhrung (1ndash51)

148 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

rahmen fuumlr den in der Folge erzaumlhlten Mythos bildet Bereits im ersten Satz wirdauf das Fest und die Tradition Heiteres frei zu erzaumlhlen Bezug genommensup3⁶sup1

Auch Senecas Apocolocyntosis stellt einen engen Bezug zum Saturnalienfesther Das Werk spielt zwar nicht an den Saturnalien sondern am Todestag desClaudius im Oktober doch wird an zwei Stellen eine Verbindung zwischen derHerrschaft des verstorbenen Kaisers und den dargestellten Sitten waumlhrend derRegierungszeit mit dem Saturnalienfest gezogensup3⁶sup2 Manche Interpreten gehensogar davon aus dass die Apocolocyntosis an den Saturnalien des Jahres 54vorgetragen wurdesup3⁶sup3 Auch bei Petron und Horaz finden sich Bezugnahmen aufdie Saturnaliensup3⁶⁴

Ein zentrales Element des Saturnalienfestes liegt in der Suspension der uumlb-licherweise geltenden Normen und Wertesup3⁶⁵ Neben den anderen Elementen desFestes wie sie z B in Macrobiusrsquo Saturnalia (1 7ndash 10 1 24 22 f) beschriebenwerden (traditionelle Geschenke Festmahl fuumlr die Sklaven etc) hat gerade dieUmkehrung der Herrschaftsverhaumlltnisse im Haus Niederschlag in der Literaturgefunden

Gerade durch diese Rolleninversion treten einige wichtige gesellschaftlicheNormvorstellungen und Grundannahmen prominent hervor Dazu zaumlhlt das Be-wusstsein dass es eine befehlende und eine ausfuumlhrende Gruppe von Menschengibt oder dass im Prinzip ein Rollenwechsel moumlglich sein kann Alle Beteiligten

Ἐπειδὴ δίδωσιν ὁ θεὸς παίζειν ndash ἔστι γὰρ Κρόνια ndash hellip (sbquoDa der Gott das Scherzen erlaubt ndashes sind ja die Kronia helliplsquo Caes 1 = 306a Spanheim) Zur Frage ob es sich bei Caesares auch umdas Werk handle auf das zu Ende der Rede auf Koumlnig Helios verwiesen wird (Or in Sol reg 44 =157c Spanheim) vgl Muumlller in seiner Uumlbersetzung (39 ablehnend) und Lacombrade im Vorwortseiner Budeacute-Ausgabe (3 und 18 Anm 3) der aufgrund des Handschriftenbefundes Kronia auchals Titelbestandteil fuumlr die Caesares uumlbernimmt Es handelt sich um Sen apocol 8 1 (Claudius als Saturnalienprinz) und 12 2 (Herrschaftdes Claudius als andauerndes Saturnalienfest) ndash Dass Lukian nicht auf die Saturnalien alsRahmen fuumlr seine Werke zuruumlckgreift entwertet die Beobachtungen nicht Lukian musste auf-grund seines Selbstbewusstseins als satirischer Schriftsteller und aufgrund der Menge seinersatirischen Schriften nicht jedes Mal einen eigenen literarischen Rahmen herstellen in demeinzelne Dialoge stattfinden konnten Das Saturnalienfest selbst erscheint bei Lukian als Ge-genstand der Satire nicht als deren literarische Rahmung (Τὰ πρὸς Κρόνον) Zuerst bei Furneaux 1896 23 Anm 11 In der neueren Forschung vgl bes Nauta 1987Kritisch dazu u a Doumlpp 1993 159 f Petron 44 3 58 2 69 9 zu Horaz vgl z B serm 2 7 (libertas Decembris) Ein gelungenesBeispiel der Anpassung und Anwendung der bachtinschen Konzepte mit Ertrag fuumlr die Inter-pretation unter Einbezug von serm 2 7 bietet Sharland 2010 Distelrath 1999 114 Vgl weiterhin Versnel 1993 136ndash227 und Doumlpp 1993 Eine plastischeSchilderung der Rollenvertauschung bei der der Sklave dem Herrn die Leviten liest bietet Horserm 2 7

2 De nuptiis als literarisches Werk 149

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Herren wie Sklaven spielen also mit den Moumlglichkeiten einer alternativen Wirk-lichkeit

Das Besondere im Spiel mit den Moumlglichkeiten liegt aber in seiner zeitlichenBegrenzung Nach der Zeit des Ausnahmezustands gelten wieder die normalenimmer guumlltigen Regeln Die Rolleninversion erlaubt also ndash oder erzwingt gera-dezu ndash das Nachdenken uumlber bestimmte gesellschaftliche Normen und Wertvor-stellungen Durch die Ritualisierung und enge zeitliche Begrenzung ist darausjedoch keineswegs die Notwendigkeit entstanden die Verhaumlltnisse tatsaumlchlich zuhinterfragen oder gar zu aumlndern Daher lassen sich die Saturnalien auch als ein dieKonventionen bestaumlrkendes Fest verstehen Das Spiel mit der Moumlglichkeit eineranderen Gesellschaftsordnung hat durch seine Ritualisierung letztlich eine dieTradition legitimierende Funktion bekommen

In De nuptiis finden sich jedoch houmlchstens spaumlrliche Hinweise auf das Sa-turnalienfest Am ehesten weist das grob scherzende Agieren Saturas in diesenBereich Die bdquolangen Winternaumlchteldquo (1 2) koumlnnten (statt als Bezug auf Gellius) alsAnspielung auf das Saturnalienfest verstandenwerden ndash die Saturnalien finden inden laumlngsten Naumlchten uumlberhaupt statt seit der Kaiserzeit vom 17 bis 23 DezemberDies ndash wie die Spekulation uumlber eine spielerische etymologische Verbindung vonSatura und Saturnaliensup3⁶⁶ ndash ist aber insofern nicht von Belang da die Gattung alsGanze karnevaleske Zuumlge traumlgt und als gewissermaszligen institutionalisierter Kar-neval vom eigentlichen Fest losgeloumlst istsup3⁶⁷

Die Aufhebung der uumlblichen Ordnung (was Teuber im Ruumlckgriff auf Limina-litaumltskonzepte als praumlliminale Phase bezeichnet)sup3⁶⁸ beginnt mit der VorbereitungPhilologias zum Aufstieg in den Himmel Bereits das Erbrechen stellt eine mar-kante Umkehrung der alltaumlglichen Welt dar Statt sich Wissen anzueignen er-bricht Philologia es nun In der Goumltterversammlung auf der Milchstraszlige ist dieOrdnung sodann voumlllig verkehrt Philologia als Meisterin aller Disziplinen und

Zwar sind die einschlaumlgigen etymologischen Woumlrterbuumlcher skeptisch (v a WaldeHof-mann 2007 II 482 neutral ErnoutMeillet 2001 596) jedoch gibt es dahin gehende moderneDeutungen (aufgefuumlhrt bei WaldeHofmann 2007 II 482) und auch antike ParallelisierungenCic nat deor 2 64 Saturnus hellip est appellatus quod saturaretur annis (sbquoSaturn hellip wurde ergenannt weil er an Jahren gesaumlttigt istlsquo) Fulg myth 1 2 (p 17 16) a saturando Saturnus dictusest (sbquoDa er (die Menschen) saumlttigt wurde er Saturn genanntlsquo) Aug cons euang 1 23 35 Sa-turnus tamquam satur hellip νοῦς (sbquoSaturn gleichsam der gesaumlttigte hellip νοῦςlsquo) Vgl auch Gowers diedie etymologischen Verbindungen von satura Satyrspiel und Saturnalien untersucht (Gowers1993 109ndash 117) Sie kommt zu dem Befund dass keine Verbindung bestehe wohl aber verbin-dende Elemente identifiziert werden koumlnnten bdquocarnival licence parody uninhibited mockeryand excessive consumptionldquo (ibid 117) Vgl z B Teuber 1993 183 f Teuber 1993 183

150 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

bedeutende Lehrinstanz muss sich ihrerseits belehren lassen ndash mit dem Wissendas urspruumlnglich ihres war

Durch die Inversion wird die (vielleicht uumlblicherweise nicht prominente)Philologia in den Mittelpunkt geruumlckt und ihre zentrale Rolle im Wissenssystemtritt markant vor Augen Gleichzeitig kann darin eine leise Anfrage an ihre Lehr-autoritaumlt und eventuell auch ihre Eignung zur Lehre gesehen werden

Aufgrund des zeitlich begrenzten Rahmens der Verkehrung (diemit dem Endeder Vortraumlge voruumlber ist aber nicht explizit zuruumlckverwandelt wird) dessen Be-grenztheit durch Bezug auf die Form der menippeischen Satire ergaumlnzt werdenkann wird das System der Bildung und der Bildungsvermittlung jedoch nichtgrundsaumltzlich infrage gestellt Die Suspendierung Philologias ist temporaumlr

Dem Konzept der Dialogizitaumlt oder Mehrstimmigkeit folgend erklaumlrt sich auchdie Doppelung und Verunklarung der Erzaumlhlinstanz In den drei Dialogen indenen Satura und Martianus aufeinandertreffen behandeln sie die Frage desrichtigen Erzaumlhlens Dies beschraumlnkt sich nicht nur auf die Satire sondern umfasstalle auftretenden literarischen Formen Martianus und Satura sind sich uneinswie weit der Mythos reichen soll und ob eine Enzyklopaumldie trocken oder auchunterhaltsam erzaumlhlt werden soll (2 219ndash3 222) ob ein Symposion auch Zechenund Spaszlig vertraumlgt (8 803ndash810) oder ob und wie stark Satire Dinge vermischendarf (9 997ndash 1000)

Die unterschiedlichen Meinungen zu den Fragen werden zwar diskutiert undfuumlhren zu einem Ergebnis ndash der Erzaumlhlfluss versiegt ja an keiner Stelle oder setztneu an Allerdings entsteht in der Folge kein homogenes Werk und am Schlussmag keiner der beiden Erzaumlhler dafuumlr die Verantwortung uumlbernehmen Der Wi-derwillen sich zu dem Werk zu bekennen bedeutet aber gleichzeitig auch dassMartianus sich nicht festlegt welche Position er fuumlr die richtige haumllt Die Fragenach der rechten Art der Wissensvermittlung die auch in der Ent- und Inthroni-sierung Philologias anklang bleibt unbeantwortet

Schlieszliglich bringt der Blick auf die Aurelian-Vita aus der Historia Augustanoch einen weiteren Aspekt ein Parallel zur Aufteilung der Erzaumlhlinstanzen in Denuptiiswird der Erzaumlhlprozess in derHistoria Augusta aufmehrere AutorenverteiltWie zuerst Hermann Dessau und in der Folge Ronald Syme nachdruumlcklich gezeigthaben handelt es sich allerdings um nur einen Verfasser der uumlberdies auch inBezug auf die Abfassungszeit falsche Angaben gemacht hat und Quellen erfundenhatsup3⁶⁹ Insofern laumlsst sich der in der Historia Augusta gepraumlgte Begriff der

Auf den Charakter der Sammlung die Syme u a als bdquohoaxldquo bezeichnet (1983a 11 1983b13 1983c 219) die fingierten Autoren die manipulierten Quellen etc soll an dieser Stelle nurhingewiesen werden Vgl auch Cameron 2011 Kap 20 mit ausfuumlhrlicher Diskussion relevanterFragen

2 De nuptiis als literarisches Werk 151

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mythistoria der Vermischung von Mythischem und Historischem auch auf dieSammlung selbst anwendensup3⁷⁰

Als Menippee im engeren Sinne laumlsst sich weiterhin die Aurelian-Vita die 26Vita der Sammlung fassen und bezeichnenderweise spielt die Rahmenhandlungan denHilariasup3⁷sup1Wie zu den Saturnalien gehoumlren zu diesem Fest Scherze und ndash imRahmen von Maskierungen ndash Rollenwechselsup3⁷sup2

Noch in der rahmenden Einleitung zur Vita spielt sich folgender Dialog ab

1 et quoniam sermo nobis de Trebltellgtio Pollione qui a duobus Philippis usque ad divumClaudium et eius fratrem Quintillum imperatores tam claros quam obscuros memoriaeprodidit in eodem vehiculo fuit adserente Tiberiano quod Pollio multa incuriose multabreviter prodidisset me contra dicente neminem scriptorum quantum ad historiam pertinetnon aliquid esse mentitum prodente quin etiam in quo Livius in quo Sallustius in quoCornelius Tacitus in quo denique Trogus manifestis testibus convincerentur pedibus insententiam transitum faciens ac manum porrigens iocando[m] praeterea sbquoscribelsquo inquit sbquout

quae ille [scil Iunius Cordus] omnia exsequendo libros mythistoriis replevit talia scribendocum omnino rerum vilium aut nulla scribenda sint aut nimis pauca si tamen ex his morespossint animadverti qui re vera sciendi sunt hellip sed ex parte ut ex ea cetera colligantur(SHA Opil 1 5)

Bei der Anfuumlhrung von all diesen Informationen hat er die Buumlcher mit fabuloumlsen Ge-schichten angefuumlllt indem er Dinge von dieser Art schrieb wo doch uumlberhaupt keinenutzlosen Dinge geschrieben werden duumlrfen oder nur sehr wenige sofern daraus Verhal-tensweisen erkannt werden koumlnnen die wirklich wissenswert sind hellip aber zum Teil(schreibe ich) damit daraus das Andere gefolgert werden kann

quid Marius Maximus homo omnium verbosissimus qui et mythist[h]oricis se voluminibusinplicavit num ad istam descriptionem curamque descendit (SHA Quadr tyr 1 2)

Wie Hat sich Marius Maximus der groumlszligte Schwaumltzer vor dem Herrn der sich in seinenmythistorischen Werken verfangen hat etwa zu dieser Art der Darstellung und des sorg-faumlltigen Arbeitens herabgelassen

Hilaribus quibus omnia festa et fieri debere scimus et dici impletis sollemnibus vehiculo suome hellip Iunius Tiberianus accepit (SHA Aurelian 1 1)

An den Hilaria an denen alles zum Fest Gehoumlrende getan und gesagt werden muss wieman weiszlig empfing mich nach Erledigung der Zeremonien Iunius Tiberianus in seinemGefaumlhrt

Pausch bemerkt dieses besondere Datum zwar und erwaumlgt ob es sich um ein bdquoweitergehendesLesesignalldquo beispielsweise im Sinne karnevalesker Literatur handeln koumlnne verfolgt diese Spuraber nicht weiter (Pausch 2011 130 Anm 1) Herodian 1 10 5 ndash Einige Hinweise auf die Hilaria die im Kontext des Magna Mater-Festesam 25 Maumlrz gefeiert wurden bietet Fraser in seinem Kommentar zu Ovids Fasti (Fraser 1929244ndash248)

152 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

libet 2 securus quod velis dices habiturus mendaciorum comites quos historicae elo-quentiae miramur auctoreslsquo (SHA Aurelian 2 1ndash2)

1 Und weil unser Gespraumlch uumlber Trebellius Pollio der von den beiden Philippi bis zumvergoumlttlichten Claudius und dessen Bruder Quintillus gleichermaszligen uumlber beruumlhmte wieunbekannte Kaiser fuumlr die Nachwelt schrieb in derselben Saumlnfte stattfand behauptete erdass Pollio vieles ohne Sorgfalt und nur kurz dargelegt habe Ich erwiderte dass keinSchriftsteller sofern es um die Geschichte gehe nicht irgendwo gelogen habe und legtesodann dar worin sogar Livius Sallust Tacitus schlieszliglich sogar Trogus mit eindeutigenBelegen uumlberfuumlhrt werden koumlnnten Darauf sagte Tiberianus schlieszliglich scherzend indem ermeiner Meinung beipflichtete und mir seine Hand darbot bdquoSchreibe sowie du es fuumlr richtighaumlltst 2 Sage unbesorgt was du willst du wirst diejenigen als Gefaumlhrten fuumlr deine Taumlu-schungen haben die wir als Schoumlpfer historiographischer Beredsamkeit bewundernldquo

So sympathisch dieser Anspruch auch erscheinen mag ist er doch fuumlr das Ver-trauen in die Gattung der Geschichtsschreibung fatal Gerade in der Einleitungeiner Vita jedoch ndash zumal es der Fiktion nach die erste des Flavius Vopiscus Sy-racusius im Corpus der Historia Augusta ist ndash kann eine solche Anekdote ei-gentlich keinen Platz haben Sie erweckt beim Leser den Eindruck dass er dennachfolgend dargebotenen Informationen kein Vertrauen schenken duumlrfesup3⁷sup3

Die Parallelen zwischen der Historia Augusta insbesondere dem Vorgehen inder Vita Aureliani und De nuptiis liegen auf der Hand Verunklarung der Autor-schaft bzw der Erzaumlhlhaltung einerseits Erwecken von Zweifeln an der Glaub-wuumlrdigkeit des Dargebotenen andererseits

In der Historia Augusta sind die Inkongruenzen mit der Freude des Autors amliterarischen Spiel erklaumlrt worden Der Autor habe aus Freude am Fabulieren(vielleicht auchumein dafuumlr empfaumlngliches Publikum zu befriedigen) die Viten indieser Form verfasstsup3⁷⁴ Mag man dies fuumlr die Historia Augusta noch zugestehenderen Text uumlber einen laumlngeren Zeitraum vielleicht zunaumlchst ohne eine Gesamt-konzeption entstanden ist und auch sprachlich nicht herausragt stellt sich derSachverhalt fuumlr Martianusrsquo De nuptiis anders dar Das Werk hat durchaus einenliterarischen Anspruch und es folgt eindeutig einer vorab geplanten Gesamtan-lage Die Freude am Spiel mag vielleicht manches Detail beigesteuert haben fuumlrdie verschraumlnkte Anlage des Textes ist sie aber keine Erklaumlrung

Ganz anders ist der Anspruch zum Ende der Darstellung der Viten der bdquoDreiszligig Tyrannenldquoin dem der Autor beteuert seinem Werk mangele es zwar an literarischer Ausgefeiltheit nichtjedoch an Faktentreue da nunc cuivis libellum non tam diserte quam fideliter scriptum ndash sbquoGibnun dieses Buumlchleinwem du magst es ist nicht so sehr kunstvoll geschrieben wie es sachgetreuistlsquo (SHA Quadr tyr 33 8) Syme nennt dies bdquodeceit for its own sweet sakeldquo (1983c 217) Im gleichen Aufsatz spe-kuliert er auch uumlber das Interesse des Publikums an einer solchen Art von geistigem Spiel(ibid 221)

2 De nuptiis als literarisches Werk 153

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Es lohnt sich jedoch auch fuumlr die Historia Augusta einen Schritt weiter zugehen Ausgangspunkt dafuumlr ist die obige Beobachtungdass das literarische Spielder Historia Augusta nur durchschaut wer die Werke der historischen Literaturkennt Durch die Lektuumlre historiographischer Biographien bringt der Leser einebestimmte Leseerwartung also implizite Vorstellungen mit wie das Werk aus-sehen soll und wird Diese Erwartungen werden aber nicht oder nur teilweisebedient Formal gesehen weisen die Viten in der Historia Augusta zwar die Cha-rakteristika der Gattung auf ndash doch indem sie sie inhaltlich nicht adaumlquat aus-fuumlllen treten deren Konventionen vor Augen

Durch die uumlbermaumlszligige Verwendung falscher Verweise und erfundener Quel-len geraumlt zudem das Beglaubigungsverfahren historischer Texte in den Blick-punkt Der Leser erkennt anwelchen Stellenwelche Beglaubigungsmechanismenansetzen und auf welche Weise sie unterlaufen werden koumlnnen Uumlberspitzt lieszligesich behaupten DieHistoria Augusta verfolgt ein aufklaumlrerisches Interesse indemsie (spielerisch) aufzeigt welche Beglaubigungsverfahren die Geschichtsschrei-bung nutzt und wie sie manipuliert werden koumlnnen dadurch wird auch die Ma-nipulierbarkeit von Geschichte und Leser deutlich

In De nuptiis werden ebenfalls die Konventionen der Einzelgattungen ndash zu-mindest ansatzweise ndash hervorgehoben Dass kein perfektes Musterbeispiel derjeweiligen Einzelgattung entstehen kann liegt darin begruumlndet dass durch dieVerbindung der vier literarischen Genres keine oberflaumlchliche Konsistenz derFiktion entstehen kannVielmehr entstehen Bruumlche die ndash ebenso wie die Bruumlchein der Erzaumlhlhaltung ndash auch die Gattungskonventionen und ihre Annahmendeutlich werden lassen Dies gilt besonders fuumlr die Satire deren Vorgehen imKontrast zur eigentlichen Hochzeitshandlung aus dem Rahmen faumlllt und somitbesonderes Augenmerk erhaumllt Hinzu tritt mit der Figur Satura auch eine Perso-nifikation der Gattung die in theoretischen Diskussionen Annahmen und Vor-gehen mit Martianus eroumlrtert Grunduumlberlegungen der Gattung Satire werden sotheoretisch eroumlrtert und praktisch erprobt Gleiches giltwenn auch zT inwenigerdeutlicher Form auch fuumlr die anderen Formen Die Enzyklopaumldie in ihren langenMonologen wird durch Spott markiert die trockenen Kuumlnste werden probeweisedurch Allegorien zugaumlnglicher gemacht im Symposiondialog wird uumlberlegt in-wieweit uumlbliche Rollenmuster (der Zecher) einen Platz haben oder wie weit mandie fuumlr die Feier typischen Reden fuumlhren kann und immythischen Teil wird durchdie Gegenuumlberstellung mit dem handfesten Wissensbetrieb die Andersartigkeitdes Erzaumlhlens deutlich

So werden neben den Inhalten der Wissenschaften auch verschiedene lite-rarische Formen bewahrt Neben der reinen Anwendung und somit Tradierungwerden gleichzeitig auch die Mechanismen verdeutlicht deren sich die jeweilige

154 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Gattung bedient Somit wird ihr Funktionieren nachvollziehbar und in der Folgeauch nachahmbar

3 Zusammenfassung

Martianus weckt also durch die Wahl mehrerer gleichberechtigter Erzaumlhler diesomit das Erzaumlhlen unzuverlaumlssig werden lassen besonders aber durch dieUumlbernahme satirischer Gattungselemente ein Bewusstsein fuumlr die traditionellenGrundlagen desWissens- und Lehrsystems seiner Zeit ImGegensatz zur Satire diediese Fragen kategorisch stellt handelt es sich in De nuptiis um ein Spiel damitDer Satirebezug dient als Anknuumlpfung an die traditionellen Gattungsmerkmaleder menippeischen Satire Karnevaleske und Dialogizitaumlt

Durch die (temporaumlre) Rolleninversion richtet sich das Augenmerk aufPhilologia als Wissenszentrum und Wissensmittlerin und fordert zum Nach-denken daruumlber heraus Im Kern hinterfragt das Werk alle Bereiche die mit Bil-dung und Bildungsvermittlung zu tun haben Was sind die Inhalte wahrer Bil-dung Gibt es eine Einheit von Bildung Wie kann sie vermittelt werden

Allerdings zielt die Kritik nicht auf eine Aufloumlsung klassischer Bildungsinhalteund Vermittlungsformen Sie regt vielmehr durch Scherz und Bruumlche zumNachdenken uumlber diese Fragen an Dabei verzichtet Martianus auf eigene Vor-schlaumlge und Konzepte und festigt so gleichsam den traditionellen Bildungs-betrieb Das von ihm dargestellte Wissen wird kanonisiert und die Darstel-lungsform in langen Reden wird es auch Die mittelalterliche Rezeption von Denuptiis zeigt dies eindrucksvoll

Wissen umfasst dabei nicht nur das Faktenwissen der Vortraumlge sondern auchdas Wissen um bestimmte literarische Formen Durch die Verbindung von vierGattungen und die Doppelung der Erzaumlhlerfigur mit Reflexion uumlber angemessenesErzaumlhlen entstehen Inkonsistenzen die die Konventionen der einzelnen Gattun-gen hervortreten lassen Nicht alle Elementewerden auf dieseWeise deutlich aberMartianus bietet einen Ansatzpunkt die Fiktion auch unter der Fragestellung zulesen was einen Text der jeweiligen Gattung ausmacht ndash sowohl positiv wie ne-gativ formuliert

Mit seiner kreativen Konzeption und ihrer literarischen Umsetzung gelingt esMartianus eindrucksvoll Heiteres und Belehrendes zu verbindenwomit er an dieTradition Varros und die klassische antike Poetik anknuumlpft Es gelingt ihm daruumlberhinaus aber auchWissen zu vermitteln und die traditionellen Vorstellungen vonder Bedeutung dieses Wissens wie der Form seiner Vermittlung herauszustellenSpielerisch wird also gelehrt und hinterfragt nicht jedoch kategorisch kritisiertoder kuumlhn neu entworfen Gerade dadurch zeichnet sich Martianusrsquo De nuptiis

3 Zusammenfassung 155

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

tatsaumlchlich als nescioquid inopinum intactumque (sbquoetwas Ungewohntes und nochnie Gewagteslsquo 1 2) aus und macht es zu einem der bedeutendsten Buumlcher derSpaumltantike und zu einer interessanten Quelle fuumlr die Frage nach Bildungsvor-stellungen im fuumlnften Jahrhundert

156 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Page 2: Bildungsvorstellungen im 5. Jahrhundert n. Chr. (Macrobius, Martianus Capella und Sidonius Apollinaris) || III Martianus Capella, De nuptiis Philologiae et Mercurii

Zur Zeit der Abfassung von De nuptiis ist Martianus Capella bereits im fort-geschrittenen Altersup2⁵⁵ Uumlber die familiaumlren Verhaumlltnisse die Abstammung undAumlmter Martianusrsquo sind wir bis auf ein einziges Faktum nicht weiter informiertDurch eine direkte Anrede zu Beginn und am Ende des Werkes ergibt sich dassMartianus Capella einen Sohn hatte Dieser Sohn hieszlig ebenfalls Martianus (1 2 9997)

Keine gesicherten Aussagen koumlnnen jedoch uumlber den Beruf des Martianusgetroffen werden Auch wenn Martianus sich selbst mit dem einfachen Landlebenin Verbindung bringt (iugariorum murcidam viciniam ndash sbquodie traumlge Naumlhe der Och-senknechtelsquo 9 999) muss er nicht zwangslaumlufig Bauer gewesen seinsup2⁵⁶ Es ist eherdavon auszugehen dass er sich zur Zeit der Abfassung von De nuptiis als Pri-vatmann auf dem Land aufhieltwo in seiner Nachbarschaft Viehhirten unterwegswarensup2⁵⁷ Ebenso wenig muss der spaumlrliche Ertrag (parvo lucro 9 999) der imfolgenden Vers erwaumlhnt wird auf Armut oder gar auf Abhaumlngigkeit von laumlndlichenErtraumlgen hindeuten Er kann auch das Bild eines Privatiers unterstuumltzen der nichtauf die Einkommen aus der Landwirtschaft angewiesen ist bzw nicht vom Ertragseines Anwesens lebtsup2⁵⁸ Hinweise auf eine fruumlhere anwaltliche Taumltigkeit sindebenfalls umstrittensup2⁵⁹

[Was die Ehelosigkeit sei] Man bezeichnete die Ehelosigkeit als Enthaltsamkeit im Sinne derKeuschheit weshalb auch Felix Capella in seinem Werk De nuptiis Philologiae et Mercurii[1 5] sagt sbquoEs gefiel Minerva die Ehelosigkeit zu beendenlsquo

In zwei auktorialen Passagen bietet Martianus beilaumlufig Informationen uumlber sein Altercapillis albiscentibus (sbquomit weiszligen Haarenlsquo 1 2) und anilem oder senilem hellip fabulam (sbquodieGeschichte eines alten Manneslsquo 9 997) Ein genaues Alter laumlsst sich jedoch nicht ausmachenauch wenn versucht worden ist aus der Wendung incrementis lustralibus decuriatum (1 2) dasAlter des Martianus bei der Abfassung zu bestimmen StahlJohnson erklaumlren die Stelle in ihrerUumlbersetzung woumlrtlich als bdquomultiplied by ten with fivefold increasesldquo doch erkennen sie darinkeine genaue Altersangabe (z B 50 Jahre wie Zekl in seiner Uumlbersetzung formuliert) IhreErklaumlrung der Stelle zielt darauf dass die Wuumlrde des Alters markiert werden solle (decuriatumkann auch den Ruhestand bezeichnen) der genaue Gedanke lasse sich nicht rekonstruierendaher bdquoThe translation given is deliberately vagueldquo Dies nimmt Parker an bdquoThe author was a poor farmer (vix respersus lucro) who could findtime for his literary labours in winter but not in summerldquo (Parker 1890 443) Als verarmt siehtauch Stahl Martianus an (Stahl 1971 9) erkennt aber an dass er gebildet gewesen sei (ibid 19) Vorausgesetzt ist dabei immer dass die Lesart iugariorum zutrifft die die meistenHandschriften bieten Bei der Lesart iurgariorum ndash die zwar ein Hapax legomenon in der la-teinischen Literatur waumlre was bei Martianus aber wiederum nicht ausgeschlossen werdenkann ndash befaumlnde sich Martianus in der Naumlhe von Zankenden und das koumlnnte eher auf denAufenthalt in einer (groumlszligeren) Stadt hindeuten Vgl zu parvum bes Hor serm 2 2 1 und Tib 1 1 25 wo keineswegs an bittere Armutgedacht ist

1 Vita 115

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Heimatort zumindest aber Geburtsort des Martianus ist Karthago wie sichzweifelsfrei aus 9 999 einem Teil der das Werk beschlieszligenden Sphragis ergibt

beata alumnum urbs Elissae quem videt

auf den das gluumlckliche Karthago als Sohn blickt

Zu dieser Aussage passt auch die in der Forschung haumlufig wiederholte Feststel-lung Martianusrsquo Stil weise eindeutig nordafrikanische Elemente auf dies wird anParallelen zum Werk unter anderem des Apuleius aufgezeigtsup2⁶⁰ Dies wird auchdurch den Namenszusatz afer Carthaginiensis in einer Handschrift gestuumltztsup2⁶sup1

Quae virtus et quanta boni sit vivere parvo (discite) ndash sbquo(Erfahrt) ihr guten Menschenwelch eine Tugend es ist und eine wie groszlige mit nur bescheidenen Mitteln auszukom-menlsquo

Iam modo iam possim contentus vivere parvo ndash sbquoBald schon moumlchte ich zufrieden mitmeinen bescheidenen Mitteln leben koumlnnenlsquo

Die Diskussion geht von wenigen Versen aus die schwer verstaumlndlich bis korrupt sind Imdas Werk beschlieszligenden Gedicht sagt Satura uumlber Martianus

bdquoFelicisldquo inquit bdquosed Capellae flamineindocta rabidum quem videre saeculaiurgis caninos blateratus pendereproconsulari verba dantem culmini hellipldquo (9 999)

bdquoAber von der heiszligen Luft des Felix Capella (inspiriert)ldquo sagte sie bdquoden ungebildeteZeiten sahen wie er vernichtend in Zankereien huumlndisches Geklaumlff beurteilte indem erder prokonsularischen Hoheit Worte (zu houmlren) gab hellipldquo

So deutlich die Anspielungen auf eine oumlffentliche Taumltigkeit sind so vage und unverstaumlndlichbleiben sie auch Die Mehrheit der Forscher ist allerdings der Auffassung dass hier von eineranwaltlichen Taumltigkeit des Martianus die Rede ist oder zumindest eine Taumltigkeit beschriebenwird die oumlffentliches Reden nutzte (also z B als Rhetor) Dazu passt auch die Erwaumlhnung desAmtes des Prokonsuls (9 999) ohne dass deutlich wird ob Martianus das Amt selbst bekleidethat oder vor dem Amtstraumlger gesprochen hat

Eine weitere Stelle macht die Verbindung mit oumlffentlichen Auftritten plausibler In einemInterludium wirft Satura Martianus vor er habe vor lauter Haarspaltereien auf dem Forum diewahre Beschaumlftigung aus den Augen verloren so dass er nun nicht einmal mehr Philosophiaerkenne (6 575) Wird auch hier wiederum nicht deutlich welchen Beruf genau Martianusausgeuumlbt hat so impliziert dies doch er habe oumlffentliche Reden gehalten Eine mehr alsgrundlegende literarische Bildung ergibt sich aus der Menge und Diversitaumlt der literarischenVorlagen und philosophischen Kenntnisse vgl v a Shanzer 1986c und Bovey 2003 Vgl Shanzer 1986c 2 Stahl 1971 29 und 32 Pabst 1994 124 Stahl 1971 12 Grebe 1999 12 Der Namenszusatz findet sich in der Handschrift G in derSubskription zum ersten Buch

116 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Die Unsicherheiten in Bezug auf Martianus umfassen auch die Datierung Dersichere Zeitrahmen ist durch die letzte zu ermittelnde verwendete Quelle AristidesQuintilianus und die erste explizite Bezugnahme durch Fulgentius gegebensup2⁶sup2bleibt mit den Eckdaten 34 Jahrhundert und Mitte 6 Jahrhundert allerdings sehrweit

Die Bezeichnung der Heimatstadt Karthago als beata (sbquogluumlcklichlsquo 9 999) bzwinclita pridem armis (sbquoeinst durch seine Waffen beruumlhmtlsquo 6 669) hat daher auchgenaueren Datierungsversuchen einen Ausgangspunkt geboten Jedoch lassensich aus diesen Attributen Karthagos ebenso wenig Indizien fuumlr eine Datierungableiten wie aus der Verwendung des Namens Byzanz fuumlr Konstantinopel (6 670)oder der Erwaumlhnung des Prokonsulamtes in Karthago (9 999)sup2⁶sup3

Aus einer Stelle im Buch uumlber die Geographie laumlsst sich jedoch einigermaszligensicher ein terminus post quem ableiten

Umbri mox Latiumque atque ostia Tiberina dehincque ipsa caput gentium Roma armisvirissacrisque quamdiu viguit caeliferis laudibus conferenda (6 637)

Dann schlieszligen sich an die Umbrer und Latium und die Tibermuumlndung sodann Rom selbstHauptstadt aller Voumllker das Ruhm bis zu den Sternen verdiente solange es noch durchWaffen Maumlnner und Heiligtuumlmer erstrahlte

Die knappe Einschraumlnkung quamdiu viguit verweist auf eine bereits vergangeneZeit der Groumlszlige Roms und wird von den meisten Interpreten mit der Eroberungdurch die Westgoten 410 gleichgesetzt Andere Ereignisse namentlich die Pluumln-derung der Stadt durch die Vandalen im Jahre 455 kommen nicht in Betrachtsup2⁶⁴

Die Abfassung von De nuptiis nun unmittelbar auf die Jahre nach 410 anzu-setzenwie Cameron es tutsup2⁶⁵ ist dabei nicht zwingend Zum einen kannMartianusdie Eroberung als Epochenbruch aufgefasst haben und auch Jahrzehnte spaumlternoch von der fruumlheren d h ungebrochenen Macht Roms sprechen zum anderen

So LeMoine 1972a 8 Die Diskussion fassen Grebe 1999 11ndash21 und Shanzer 1986c 1ndash28 zusammen ZumProkonsulamt vgl auch Schievenin 2009d und Cristante 1978 699f Cameron 1986 326 Cameron begruumlndet dies mit Hinblick auf die angefuumlhrte Stelle da dieVandalen die Stadt nicht entvoumllkerten also die Einschraumlnkung Roma armis viris sacrisquequamdiu viguit nicht auf den Vandalenuumlberfall zutrifft Grebe haumllt in quamdiu viguit eine Be-zugnahme auf 455 oder 468 (Niederlage der byzantinischen Flotte vor Karthago) dagegen fuumlrmoumlglich (Grebe 2000 355) Cameron 1986 326 datiert De nuptiis auf die Zeit unmittelbar nach 410 da Rom nur dannentvoumllkert gewesen sei die Bewohnerzahl habe wenige Jahre darauf wieder ein aumlhnliches Ni-veau wie vor 410 erreicht

1 Vita 117

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

koumlnnen im Trikolon armis viris sacrisque auch verschiedene Arten des Nieder-gangs (Eroberung sowie allmaumlhlicher Verfall) verbunden seinsup2⁶⁶

Ein textexterner Faktor fuumlr die Bestimmung des terminus ante quem ist eineSubskription zum ersten Buch von De nuptiis die sich in einer Reihe von Hand-schriften findetsup2⁶⁷ Sie lautet

Securus Melior Felix v(ir) sp(ectabilis) com(es) consist(orianus) rhetor Urbis R(omae) exmendosissimis exemplaribus emendabam contra legente Deuterio scolastico discipulomeo Romae ad portam Capenam cons(ulatu) Paulini v(iri) c(larissimi) sub V nonarumMartiarum Christo adiuvante (Subskription zu Buch 1 in den Handschriften ABDGR)

Ich Securus Melior Felix vir spectabilis comes consistorianus Rhetor der Stadt Rom habe(das Buch) aus aumluszligerst fehlerhaften Exemplaren verbessert wobei Deuterius Student derRhetorik ein Schuumller von mir gegenlas Rom bei der Porta Capena unter dem KonsulPaulinus vir clarissimus am 5 Maumlrz mit Christi Hilfe

Trotz der vielen genauen Angaben laumlsst sich das Jahr der Abschrift durch SecurusMelior Felix nicht genau bestimmen In der fraglichen Zeitspanne gab es zweiKonsuln mit dem Namen Paulinus (498 und 534 n Chr) Klassischerweise wurdebei Datierungen der Zusatz senior hinzugefuumlgtwenn es zwei Konsuln des gleichenNamens gab so dass die Datierung ohne einen Zusatz auf den fruumlheren Konsulund damit das Jahr 498 fallen musssup2⁶⁸

Fuumlr die Datierung der Abfassung von De nuptiis sind nun noch einige Jahreabzuziehenum die Verbreitung der Schrift von Afrika nach Rom und einen Verfallder Manuskripte zu ermoumlglichen Beides muss jedoch keinesfalls lange gedauerthaben

Eine sichere und genaue Datierung des Werks und des Autors ergibt sich ausden vorgestellten Argumenten zwar nicht Sie bieten aber einige Anhaltspunktedafuumlr dass De nuptiis nach 410 und einige Zeit vor 498 abgefasst wurdesup2⁶⁹

Ebenso Stahl 1971 14 und Shanzer 1986c 5 Zur Diskussion um diese Subskription vgl bes Preacuteaux 1975 Cameron 1986 Shanzer 1986c9 Voumlssing 2008 389f Voumlssing 2008 390 ndash Solch formalistische Regeln an Subskriptionen anzulegen erscheintzunaumlchst schwierig doch in diesem Fall angesichts der weiteren exakten Angaben als durchauszulaumlssig Zu spaumltantiken Subskriptionen und ihrem Aussagewert vgl Cameron 2011 Kap 12ndash 13 Eine Datierung in die Zeit der bdquorenaissance vandaleldquo (der Begriff wurde von Pierre Richeacutegepraumlgt vgl auch Hays 2004) wie Grebe es anhand von kulturgeschichtlichen Uumlberlegungenversucht ist nur moumlglich wenn die Identifizierung des Konsuls Paulinus mit dem erstenAmtstraumlger dieses Namens infrage gestellt wird Grebes Argumentation setzt bei der unsicherenIdentifikation des Paulinus an Sie erwaumlgt sodann eine Abfassung unter den vandalischenHerrschern Gunthamund und v a Thrasamund die die Kultur gefoumlrdert haumltten (Grebe 1999 20 f)

118 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

2 De nuptiis als literarisches Werk

Bereits eine erste unbefangene Lektuumlre von De nuptiis hinterlaumlsst den Eindruckdass Martianus ein anspruchsvolles und komplexes Werk hinterlassen hat Nacheiner kurzen Szene zu Beginn in der sich der Erzaumlhler Martianus mit seinem Sohnunterhaumllt und die am Ende als Rahmen wieder aufgegriffen wird beginnt einemythische Schilderung der Hochzeitsvorbereitungen von Merkur und PhilologiaMerkur macht sich mit Hilfe von Virtus auf die Suche nach einer Braut sucht undfindet Apoll der ihm die sterbliche Philologia als Braut vorschlaumlgt bittet denGoumltterrat um die Genehmigung zur Hochzeit und erhaumllt sie (Buch 1) Als Philologiavon dem Plan erfaumlhrt uumlberlegt sie mit kabbalistisch anmutenden Berechnungenob die Ehe guumlnstig sei bereitet sich auf die Hochzeit durch eine Reinigung vor beider sie ihr bisher gesammeltes Wissen erbricht und steigt in einer Saumlnfte uumlber dieHimmelssphaumlren auf zur Milchstraszlige wo die Hochzeit stattfindet (Buch 2)Waumlhrend der Hochzeitsfeierlichkeiten laumlsst der Ehemann zu Ehren der Brautsieben Brautjungfern auftreten die ihr dienen sollen Diese stellen in langenReden ihr Wissen vor Es sind die spaumlteren sieben freien Kuumlnste (Buumlcher 3 bis 9)Eingelegt in diese Berichte sind kurze Szenen von der Hochzeitsfeier und Wort-wechsel zwischen dem Erzaumlhler Martianus und einer weiteren Erzaumlhlerfigur Sa-tura

Leser von De nuptiis besonders moderne sehen sich vor vielfaumlltige Fragenund Probleme gestelltwenn sie versuchen die Schrift mit ihren unterschiedlichenAspekten zu verstehen Eine umfassende Interpretation ist aber gerade bei diesemWerk Voraussetzung fuumlr eine Beantwortung nachrangiger Fragen Daher soll indiesem Teil ein Beitrag zum Gesamtverstaumlndnis von De nuptiis versucht werdenDer Zugang soll rein literarisch erfolgen woran sich einige weitere Uumlberlegungenanschlieszligen

Eine Analyse der literarischen Form von De nuptiis muss folgende beidenAspekte beruumlcksichtigen einerseits die Anknuumlpfung an Gattungstraditionenund ndash damit verbunden ndash die Frage nach der literarischen Form von De nuptiis alsGanzem andererseits die narrative Gestaltung des Werkes

Die FormvonMartianusrsquoDe nuptiis zu bestimmen ist keine einfache AufgabeDies liegt an der Vielzahl von Bezuumlgen und kompositorischen Ideen die eineeindeutige Identifizierung erschweren Ausdruck findet dieser Umstand darindass in dermodernen Forschung verschiedene Elemente benanntwerden die eineGattungszuordnung ermoumlglichen Das Ergebnis ist jedoch meist eine Aufzaumlhlung

und engt den Zeitraum der Abfassung auf die Herrschaft Thrasamunds (496ndash523) ein (Grebe2000 363ndash365 bes 368)

2 De nuptiis als literarisches Werk 119

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

vonmoumlglichen Zuordnungen die eine Festlegung vermeidetsup2⁷⁰Die Untersuchungwird besonders vier Traditionsstraumlnge fokussieren das Lehrbuch bzw die Enzy-klopaumldie die Symposionliteratur die mythisch-allegorische Erzaumlhlung und diemenippeische Satiresup2⁷sup1 Es wird nach dem Zweck der Anknuumlpfung an diese Tra-ditionen zu fragen sein um dann zu pruumlfen welche Wirkung die Verbindungdieser Formen hervorruft

Einen besonderen Schwerpunkt wird die Herausarbeitung der satirischenElemente in De nuptiis darstellen Trotz ihrer relativen Prominenz sind bislangnicht alle Elemente beachtet wordensup2⁷sup2 Und da aus diesen Beobachtungenwichtige Folgerungen fuumlr das Gesamtverstaumlndnis vonDe nuptiis abgeleitet werdenmuumlssen diese zunaumlchst ausfuumlhrlich erhoben werden

Eingelagert in die Analyse der satirischen Elemente von De nuptiis wird dieFrage nach der narrativen Gestaltung unter dem Blickwinkel der Erzaumlhlinstanzenthematisiert In der Schrift konkurrieren zwei Erzaumlhlerfiguren Martianus undSatura um die Verantwortung fuumlr das Erzaumlhlte wie um das richtige Vorgehen beimErzaumlhlen Es ist zu bestimmen in welchem Verhaumlltnis beide Erzaumlhlerfiguren zu-einander stehen und welchem Zweck diese Doppelung dient

21 Die literarische Form

EnzyklopaumldieIm Gegensatz zu Macrobiusrsquo Saturnalia ist De nuptiis dem Sohn nicht als Werk derBelehrung gewidmetVielmehr spricht Martianus von der fabella (1 2) bzw fabula

Paradigmatisch ist die Konstatierung der Aporie bei LeMoine die nach der Aufzaumlhlungvon Vorbildern das Kapitel zur literarischen Form ohne weitere Uumlberlegungen so abschlieszligtbdquobut the De nuptiis in the diversity of its content language and form is truly unlike anythingwritten either before or sinceldquo (LeMoine 1972a 8) Vgl auch Relihan bdquoit is a mixture thatfrustrates senseldquo (Relihan 1993 15) Bisherige Interpretationen haben jeweils unterschiedliche Traditionen benannt und derVermischung der Formen wenig Beachtung geschenkt EnzyklopaumldieLehrbuch (Marinone 197018 Lommatzsch 1904 190) Lehrbuch mit menippeischen Momenten (Dronke 1994 36)menippeische Satire (LeMoine 1972a 7) menippeische Satire und Symposionform (Petrovićovaacute2004 85) Mischung aus Enzyklopaumldie menippeischer Satire und platonischem Mythos (Barnish1986 98) menippeische Satire und Epithalamium (Cristante im Vorwort seiner Ausgabe 3 und21 Bovey 2003 10) Mischung aus philosophischem und allegorischem Roman (Boumlttger 1947590) Allegorie mit Fachschriftstellerei (Guillaumin 2008 168) Roman mit Elementen desSymposions (Stahl 1971 26) Mischung aus menippeischer Satire Allegorie fabula und Sym-posiondialog (LeMoine 1972b 214) Gelegentlich wird das satirische Element in De nuptiis sogar deutlich heruntergespielt oderumgedeutet vgl u a Grebe 1999 855 f Petrovićovaacute 2010b

120 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

(2 219) die das Buch ausmacht und die der Sohn houmlren bzw der Leser lesen sollsup2⁷sup3Erscheint es zunaumlchst so als ob die Erzaumlhlungmit dem zweiten Buch endet und abdem dritten nur ernste Abhandlungen folgen sollen (2 219 f) korrigiert Martianusdiesen Eindruck jedoch gleich zu Beginn des dritten Buches Dort laumlsst er sich voneiner nicht benannten Muse (Camena) das Versprechen abnehmen auch weiter-hin fiktionale Elemente zu nutzen

Der anfaumlnglich ins Auge gefasste Verzicht auf Fiktion (fictum) fuumlr die fol-genden wissenschaftlichen Partien (disciplinae sobriae)sup2⁷⁴ betont jedoch derenRelevanz und das Interesse an zuverlaumlssiger Belehrung Waumlhrend sich fuumlr denInhalt der Buumlcher 1 und 2 eine Erzaumlhlung als gut geeignet erwies widersprachdiese fuumlr Martianus dem Wesen der anschlieszligenden Vortraumlge welchen dadurchgroumlszligeres Gewicht zufaumlllt

Der scheinbare Konflikt wird dadurch geloumlst dass die Vortraumlge an sich in dergeplanten trockenen Form gehalten werden Sie sind jedoch in die uumlber alle neunBuumlcher fortgesetzte Erzaumlhlung der Hochzeit Merkurs mit der Philologie einge-bettet Der Handlungsfortschritt zwischen den Vortraumlgen ist nicht groszlig sondernbeschraumlnkt sich meist auf das Evozieren von Eindruumlcken und die Bezugnahme auftraditionelle gattungsspezifische Elemente (vgl z B die Elemente des Symposi-ondialogs)

Dass Martianus schlieszliglich das ganze Werk mit seinen erzaumlhlenden und be-lehrenden Teilen als fabula betrachtet wird in der abschlieszligenden Sphragisdeutlich Dort heiszligt es

Habes anilem Martiane fabulammiscillo lusit quam lucernis flamineSatura Pelasgos dum docere nititurartes daggercagris vix amicas Atticis (9 997)

Da hast du Martianus eine Altweibergeschichte welche bei Kerzenschein Satura mit ge-mischtem Liede [d h in Prosa und Vers] spielend hervorbrachtewaumlhrend sie sich bemuumlhtedie Pelasger zu lehren die Kuumlnste die den Griechen kaum freundlich [d h neu] sind

Der Begriff des mythos der dreimal in De nuptiis auftritt ist eng auf den allegorischenInhalt der Buumlcher 1 und 2 beschraumlnkt und entspricht in etwa dem was Macrobius unter narratiofabulosa versteht (Bovey 2003 38ndash42) Beide Wendungen 2 220 ndash Zur Frage der Bezeichnungen als artes bzw disciplinae in-klusive der Begriffsentwicklung vgl Bovey 2003 64ndash87

2 De nuptiis als literarisches Werk 121

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

So unklar der Inhalt der Wendung Pelasgos docere istsup2⁷⁵ wird doch deutlich dassMartianusmit den vorausgegangenen 9 Buumlchern belehrenwolltewas allein schondie systematische Anlage (sieben Kuumlnste Reflexion uumlber weitere Wissenschaftenin 9 891) und die Fuumllle des Stoffes nahelegen

Der enzyklopaumldische Teil umfasst die Buumlcher 3 bis 9 von De nuptiis Zunaumlchsttreten die Kuumlnste Grammatik Dialektik und Rhetorik auf und stellen ihre Disziplinvor (Buumlcher 3 bis 5) Davon deutlich abgesetzt durch einen Hymnus auf PallasAthene zu Beginn von Buch 6sup2⁷⁶ folgen die Wissenschaften des spaumlteren Qua-driviums Geometrie Arithmetik Astronomie und Harmonie (Buumlcher 6 bis 9)Diese werden wiederum in zwei Zweiergruppen unterteilt Eine unmittelbareVorlage dafuumlr laumlsst sich nicht erkennen aber auch bei Boethius findet sich eineZusammenfassung der vier mathematischen Faumlcher die von der Forschung aufNikomachos von Gerasa zuruumlckgefuumlhrt wirdsup2⁷⁷ Eine Anordnung nach steigendemAnsehen der Kuumlnste ist auch durch Groumlszlige und Zusammensetzung des Gefolgesund die Reaktionen der Goumltter erkennbarsup2⁷⁸

Die Vortraumlge der Kuumlnste selbst entsprechen dem Charakter von Fachschriftenwas vor allem auf der streckenweise woumlrtlichen Wiedergabe der zugrunde lie-genden Quellen beruht Durch den Umfang den kleinschrittigen Aufbau und diesprachliche Sproumldigkeit wirken diese Reden wie ein Fremdkoumlrper in der Ge-schichte der Hochzeitsfeierlichkeiten und lassen manchen anwesenden Gottmuumlde werden oder gereizt reagierensup2⁷⁹

In der Regel sind die Vortraumlge aus einer odermehrerenVorlagen uumlbernommenwobei Martianusrsquo Eigenbeitrag vor allem in der Auswahl und Zusammenstellungder Quellen liegt Ein prominentes Beispiel fuumlr Martianusrsquo Vorgehen ist die Be-zeichnung Konstantinopels als Byzanz (6 670) Die Stelle kann nicht ndash wie haumlufiggeschehen ndash zur Datierung herangezogen werden sondern offenbart Martianusrsquo

Cristante versteht die Stelle woumlrtlich wenn er formuliert Martianus wolle das baumlurischeItalien belehren (Cristante 1978 679) waumlhrend Parker die Bedeutung des Wortes Pelasgi garnicht genau bestimmen moumlchte (Parker 1890 454) Zu dieser Passage und der Bedeutung dieses zweiten sbquoBinnenprooumlmslsquo vgl Bovey 2003227ndash237 sowie Zaffagno 1998 Rechenauer 1994 Sp 1177 Waumlhrend Grammatik allein eintritt (3 223) wird Harmonia von vielen auch beruumlhmtenBegleitern eingefuumlhrt und ihr Einzug wird von Musik begleitet (9 905ndash909) Ihr Vortrag ruft beiden Goumlttern Freude hervor (9 996) waumlhrend der Vortrag von Grammatik neutral zur Kenntnisgenommen wird (3 326) und der Vortrag von Dialektik aufgrund des Unwillens der Zuhoumlrersogar abgebrochen werden muss (4 423) Vgl Relihan 1987 64 und Bovey 2003 10 die voneinem bdquoparcours ascendant et cycliqueldquo spricht 4 423 5 565 6 723

122 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

unkritischen Umgangmit seinen Quellensup2⁸⁰Meist liegt der Darstellungder Kuumlnstenicht jeweils eine Fachschrift zugrunde sondern sind mehrere Werke heran-gezogen und zusammengestelltsup2⁸sup1

Die Auswahl der Faumlcher erfolgt nicht willkuumlrlich Die Tradition der um-fassenden Bildung die sich hinter dem Begriff der ἐγκύκλιος παιδεία verbirgtsup2⁸sup2der von Martianus auch in lateinischer Uumlbersetzung verwendet wirdsup2⁸sup3 umfassteim Laufe der Jahrhunderte einen wechselnden Faumlcherkanon Im Kern waren je-doch immer sowohl sprachliche Faumlcher als auch im weiteren Sinne mathemati-sche Faumlcher darin vertretensup2⁸⁴ Die Siebenzahl war dabei nicht kanonisch eskonnten auch neun Faumlcher (Varro) dazugehoumlren oder ein nicht genau umrissenerFaumlcherkanon (Boethius)sup2⁸⁵

Gegenuumlber der Tradition stellt Martianusrsquo Faumlcherauswahl keine grundlegendeNeuerung dar Grammatik Rhetorik und Dialektik waren meist Bestandteil derumfassenden Bildung und auch Geometrie Arithmetik Astronomie und Musikgehoumlrten haumlufig dazusup2⁸⁶ Der Ausschluss weiterer Kuumlnste wie der Medizin und der

Vorlage ist an dieser Stelle Plinius (Plin nat 5 24f) Vgl Grebe 2000 354 Typisch ist dieEinschaumltzung Krapingers der De nuptiis ein niedriges fachliches Niveau bescheinigt (bdquoevidentesachliche Defiziteldquo Krapinger 1999 962) Vgl auch die Anrufung Minervas zu Beginn desQuadriviums 6 574 in der Martianus explizit um Inspiration in Bezug auf die griechischenKuumlnste bittet Ein Blick in den Similienapparat zeigt dass Martianus fuumlr das sechste Buch uumlber dieGeometrie hauptsaumlchlich auf drei Autoren zuruumlckgegriffen hat Solinus Plinius und Euklid Vglauch Willisrsquo Anmerkung in seiner Ausgabe non moris fuisse Martiano ut per integrum librumunum sequeretur auctorem (309) Sehr aufschlussreich ist beispielsweise die Untersuchung vonBarbara Ferreacute in der Einleitung zur Ausgabe (xxiv-xxvii) Vgl auch die Beitraumlge von Schievenin(2009a und 2009b) die neben der unmittelbaren Fragestellung auch eine weitere Einordnungbieten Einen konzisen und modernen Uumlberblick uumlber die Entwicklung des Konzeptes bietetRechenauer 1994 Die Monographie von Hadot (Hadot 2005) ist immer noch das Standardwerk 9 998 (disciplinae cyclicae) Hadot 2005 265ndash267 Marrou 1958a 2 Teil bes die Uumlbersicht 216ndash217 Rechenauer 1994Grebe 1999 37ndash50 Uumlber die Siebenzahl ihren Ursprung ihre Festlegung sowie ihre endguumlltige inhaltlicheFuumlllung ist bislang kein Konsens erzielt worden deutlich ist aber dass Martianus Capella undAugustin bei ihrer Kanonisierung und Ausgestaltung eine entscheidende Rolle gespielt habenbdquoLa question de lrsquoorigine du cycle des sept arts libeacuteraux est irreacutesolue et en partie insoluble maisles deux auteurs drsquoorigine africaine [Martianus Capella und Augustin] jouegraverent un rocircle con-sideacuterable dans le triomphe de ce programme drsquoeacutetude au moyen acircgeldquo (Zelzer 2003 249) ndash ZurNeunzahl der Faumlcher bei Varro als Anlehnung an die Musen vgl Huumlbner 2004 S die in Anm 284 genannte Literatur

2 De nuptiis als literarisches Werk 123

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Architektur wirdmit Verweis auf den fortgeschrittenenAbendund diemenschlich-praktische Seite der Faumlcher erklaumlrtsup2⁸⁷

Im Detail nimmt Martianus aber durchaus Aumlnderungen vor So geht es imneunten Buch von De nuptiis nicht um die Musik im Allgemeinen sondern um dieHarmonie Diese Umgewichtung steht sicher in Zusammenhang mit der verbin-denden und vereinigenden Grundkonzeption von De nuptiis die zu Beginn desersten Buches (1 1) durch den Hymnus auf Hymenaeus den verbindendenHochzeitsgott ausgedruumlckt wurdesup2⁸⁸ Unterstuumltzt wird diese Eigenwilligkeit durchdie praktische Darbietung von harmonischem Gesang der die theoretischenAusfuumlhrungen ergaumlnzt und steigert (9 911ndash919 9 996)

Auch bei der Behandlung der Geometrie in Buch 6 greift Martianus in dietraditionelle Darstellung des Wissens ein Anstatt die Ausfuumlhrungen auf geome-trische Fragen und Lehrsaumltze zu beschraumlnken erweitert Martianus sie um einenausfuumlhrlichen geographischen Teil der um einiges laumlnger ist als der geometrische(Geographie 6 586ndash703 Geometrie 6 705ndash723) Ferreacute erkennt dahinter vor al-lem ein literarisches Ziel Die vorhandene Stoffmenge zur Geometrie sei zu kleingewesen so dass Martianus sie habe erweitern muumlssen damit das sechste Buchnicht bedeutend kuumlrzer werde als die uumlbrigen Buumlchersup2⁸⁹

Veraumlndert Martianus also gelegentlich aus kompositorischen Gruumlnden dietraditionelle Darstellung der Kuumlnste so kann man dies auch in der Zusammen-fuumlhrung der vielen Spezialschriften in einemWerk erkennenUmfasst das Konzeptder ἐγκύκλιος παιδεία zwar einen breiten Faumlcherkanon an den sich Martianusauch weitgehend haumllt so ist die Darstellung aller Faumlcher in nur einem Werk un-gewoumlhnlich

Uumlblich war die Form der Abhandlung der die Beschaumlftigung mit einer Dis-ziplin zugrunde lag Als Beispiele kann auf nahezu alle antiken fachwissen-schaftlichen Schriften verwiesen werden Ausnahmen sind allein die Sammel-schriften die aber explizit andere Ziele verfolgen und keinen Fachbereichgruumlndlich bearbeiten

Diese Feststellung gilt auch fuumlr die anderen Autoren mit teilweise sbquoenzyklo-paumldischemlsquo Programm z B Augustin oder Boethius Augustins bdquoBildungspro-grammldquosup2⁹⁰ umfasste aumlhnliche Faumlcher wie Martianus sie versammelte doch ver-

9 890ndash891 Hadot nimmt an dass diese Disziplinen nicht per se als unwichtig angesehenoder in bewusster Abgrenzung von Varro ausgeschlossen worden seien sondern weil sie nichtzur bdquoSchau der goumlttlichen Weisheitenldquo fuumlhren wuumlrden (Hadot 2009 16) Zu dieser Stelle und zu dem im Hymnus ausgedruumlckten philosophisch-poetischen Pro-gramm vgl LeMoine 1972a 14 Stahl 1971 86 Relihan 1993 61 Schievenin 2009c So Ferreacute im Vorwort ihrer Ausgabe xlvi Den Begriff verwendet Studer 2007 522

124 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

fasste Augustin zu den einzelnen Disziplinen jeweils eine eigene Schrift (mit derFolge dass er nicht alle Faumlcher behandelt hatte als er das Projekt aufgab wohlaber einige Themen abgearbeitet und die Buumlcher erschienen waren)sup2⁹sup1 Aumlhnlichverhaumllt es sich mit Boethius der sich etwa einhundert Jahre spaumlter ebenfalls mitverschiedenen Wissensbereichen beschaumlftigte Trotz der Leistung des Martianussetzte Boethius sein Vorhaben aber so um dass er den verschiedenen Disziplineneinzelne Abhandlungen widmetesup2⁹sup2

Allein Varro hat seinem breiten Œuvre an Spezialschriften auch noch ein imengeren Sinne enzyklopaumldisches Werk zugefuumlgt die Disciplinae Darin beschaumlftigtsich Varro mit dem gleichen Faumlcherkanon wie Martianus (unter zusaumltzlicherAufnahme der Medizin und Architektur) Da das Werk aber verloren ist und auchnur spaumlrliche Testimonien vorhanden sind laumlsst sich nicht abschaumltzen inwieferntatsaumlchlich eine einheitliche Schrift vorgelegen hat und welches Ziel Varro mit ihrverfolgtesup2⁹sup3

MartianusrsquoWerkDe nuptiis ist die erste erhaltene Enzyklopaumldie der Antike undduumlrfte somit maszliggeblich zum heutigen Verstaumlndnis des Begriffs der Enzyklopaumldieals eines einzigenWerkes das alles Wissen enthaumllt beigetragen haben Der Grundfuumlr Martianusrsquo ungewoumlhnliches Vorgehen duumlrfte in dem augenscheinlichen Plander Verbindung aller Disziplinen liegen der auch zu Beginn des Werkes durch diePreisung des Hymenaeus ausgedruumlckt wirdsup2⁹⁴

Zu Augustins Plan vgl retract 1 6 (Per idem tempus quo Mediolani fui baptismum per-cepturus etiam disciplinarum libros conatus sum scribere ndash sbquoZu der Zeit als ich in Mailand balddie Taufe empfangen sollte habe ich versucht auch Buumlcher uumlber die Faumlcher zu schreibenlsquo)begonnen und teilweise erhalten sind gramm mus und evtl dialect Neben den Schriften zur Theologie und zur Logik sind die Schriften zur Arithmetik(arithm) zur Musik (mus) und zur Rhetorik (in top divis) zumindest teilweise erhalten Hinzukommen Uumlbersetzungen astronomicher und geometrischer Fachschriften Zu Boethiusrsquo Fach-schriften und seinem Programm vgl Chadwick 1981 69ndash107 Das spaumlrliche Wissen spiegelt auch die knappe Einfuumlhrung von Cardauns 2001 Sie um-fasst fuumlr die Disciplinae inklusive Literaturverweisen knapp zwei Seiten (77ndash78) und bietet wenigsichere Informationen Eine interessante gleichwohl stark negative Antwort auf die Zusammenstellung derKuumlnste in einem Werk bietet Voumlssing der damit gleichzeitig aber auch die Einzigartigkeit desVorgehens herausstellt bdquoWas in den mittelalterlichen Kloumlstern als Summe antiker Bildung galtwar wohl nur das Resultat der Selbstdarstellung eines ehemaligen Advokaten der dem gebil-deten Publikum seiner Stadt demonstrieren wollte dass er mehr konnte als plaumldieren und mehrwusste als der normale scholasticus den uumlberlieferten prestigetraumlchtigen Bildungsstoff allersieben artes ndash der uumlblicherweise nur in einzelnen Fachbuumlchern (und bezogen auf einzelneDisziplinen) praumlsentiert wurde ndash in einem Werk zusammenzufassen und einzubetten in einironisches literarisches Spiel So hoffte er beides zu haben den Ruhm der Bildung und den derparodistischen Distanzierung An eine spezifische Programmatik dachte er bei seiner Enzyklo-

2 De nuptiis als literarisches Werk 125

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Welches (philosophische oder literarische) Konzept dahinterstand und in-wieweit Martianus sein Vorhaben uumlberzeugend umsetzen konnte wird unter-schiedlich bewertetsup2⁹⁵Wie das Urteil auch ausfaumlllt gilt es doch zu beachten dassneben den enzyklopaumldischen Teilen mit ihrem traditionellen Inhalt in teils tra-ditioneller teils neuer Form auch andere narrative Strategien zum Einsatz kom-men die fuumlr eine umfassende Deutung und Bewertung ebenfalls beruumlcksichtigtwerden muumlssen

Literarisches SymposionEine andere Gattungstradition die fuumlr die Anlage von De nuptiis genannt werdenmuss ist die Form des literarischen Symposions In diesem Punkt besteht eineVerbindung zu Macrobiusrsquo Saturnalia deren Symposionform im entsprechendenKapitel untersucht worden istsup2⁹⁶

Auch inDe nuptiis lassen sich einige konstitutiveMerkmale eines literarischenSymposions aufzeigen Das Geschehen in den Buumlchern 3ndash9 spielt anlaumlsslich einerFeierlichkeit (der Hochzeit) an einem besonderen Ort (auf der Milchstraszlige)sup2⁹⁷ andem sich geladene Gaumlste (Goumltter Heroen etc) versammeln Den Vorsitz der Fei-erlichkeiten hat (gewissermaszligen als Symposiarch) Jupiter inne Es gibt zwar keineungeladenen Gaumlste doch Silen erfuumlllt die Rolle des Zechers und er verlaumlsst dieFeier vorzeitig (8 805) Auch die Liebe kommt nicht zu kurz indem Venus ihreReize spielen laumlsst (6 704) Voluptas mit Merkur flirtet (7 725ndash727) und Hymen-aeus mit seinem anzuumlglichen Gesang das Geschehen der Hochzeitsnacht zu-

paumldie ebenso wenig wie er seinen Platz im sbquoLehrplan des Abendlandeslsquo vorhersehen konnteldquo(Voumlssing 2008 404) Weit verbreitet ist die Ansicht Martianus habe eine Art Summe der antiken Gelehrsamkeiterstellt (Cristante im Vorwort seiner Ausgabe 27 Ferrarino 1969 2 Bovey 2003 20 Cristante2009 [3] Schievenin 2009a 77) Die gegensaumltzliche Position formuliert bereits Parker bdquo[I]t isclear that the seven arts were never supposed to include the whole circuit of human knowledgeMartianus Capellarsquos list was a reduction of Varrorsquos and Varrorsquos was not supposed to include allknowledgeldquo (Parker 1890 459) S o Kap II4 Dort werden auch die typischen Merkmale dieser literarischen Form vor-gestellt Die Milchstraszlige in der Darstellung bei Martianus greift zwei Aspekte auf die allerdingsschon lange vor ihm verbunden worden sind Einerseits ist die Milchstraszlige der Ort an den dieauszligergewoumlhnlichen Menschen nach ihrem Tod gelangen (Cic rep 6 16 Manil 1 758ndash800)andererseits ist auch die Vorstellung nicht ungewoumlhnlich dass dort der Wohnsitz der Goumltter zufinden sei (Ov met 1 170ndash 176 Manil 1 801ndash804) Bei Martianus versammeln sich dort dieGoumltter doch ist dies auch der Ort an den die vergoumlttlichte Philologia gelangt ndash abgesehen vonden uumlbrigen herausragenden Menschen die sich im Gefolge sbquoihrerlsquo Brautjungfer dort versam-meln

126 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mindest andeutet (9 902 f) wenn die Ausfuumlhrung auch nicht beschrieben wird(9 996)

Das auffaumllligsteMerkmal sind aber die Reden die gehaltenwerden Sie aumlhnelnzwar nicht dem Inhalt wohl aber der Form nach der monologischen Anlage derSymposiongespraumlche bei Platon oder (stellenweise) Macrobius Ebenso passt derInhalt Bildungswissen an sich zu einem Symposion auch wenn er hier sehrausfuumlhrlich und ohne Ruumlcksicht auf die primaumlren Adressaten die Goumltter prauml-sentiert wird Bei Platon sowie bei Martianus scheint der Inhalt der Gespraumlche imVorfeld noch nicht festzustehen wie die Auswahl der jeweils naumlchsten RednerindurchApoll (3 223 4 328 8 8109 891) bzw Paidia (7 728) oder die Diskussion umden Fortgang der Feier bzw die noch folgenden und auszuschlieszligenden Reden(= Kuumlnste) zu Beginn von Buch 9 zeigtsup2⁹⁸

Die Anordnung der Redebeitraumlge nach steigender Relevanz und die unter-brechungsfreie Praumlsentation der Reden erinnert ebenfalls ans platonische Sym-posion Schlieszliglich nimmt das Spiel mit der Erzaumlhlinstanz (Satura oder Martianus)die verschachtelte Erzaumlhlsituation bei Platon oder Macrobius mit ihren verschie-denen Berichtsebenen auf und formt sie umsup2⁹⁹

Mythisch-allegorische ErzaumlhlungZu den bereits genannten literarischen Vorlagen von De nuptiis tritt ein weiteresElement hinzu dessen Bedeutung und dessen eigene Vorlagen nur schwer zubestimmen sind

Besonders Shanzer weist in ihremKommentar zum ersten Buch vonDe nuptiiswiederholt auf die orphischen gnostischen und philosophisch-religioumlsen Ele-mente in den sehr bildhaften aber streckenweise schwer verstaumlndlichen erstenbeiden Buumlchern hinsup3⁰⁰ Eine umfassende Interpretation des Mythos bietet sie je-doch nicht Vielmehr beschraumlnkt sie sich auf Verweise zur Herkunft einzelnerMotive und auf die Deutung kuumlrzerer Passagen

Kupke kommt bei einer Musterung der verschiedenen mythischen Reminis-zenzen im zweiten Buch von De nuptiis zu der Feststellung dass eine eindeutige

Ein zentraler Unterschied besteht jedoch darin dass die Vortraumlge nicht von den Gaumlstengehalten werden sondern dass die Gaumlste also die Goumltter nur Zuhoumlrer sind waumlhrend die Kuumlnstereden Hierin erinnert De nuptiis eher an Julians Caesares in denen die versammelten Goumltter jaauch wenig sprechen wohl aber die roumlmischen Kaiser die ndash wenn auch um einiges knapper ndashihre Leistungen darstellen Ausfuumlhrlicher dazu im weiter unten folgenden Abschnitt uumlber die Erzaumlhlinstanzen Shanzer 1986c passim

2 De nuptiis als literarisches Werk 127

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

und kohaumlrente Decodierung aller Verweise undAnspielungen nichtmoumlglich seisup3⁰sup1Ihrer Ansicht nach ist es dem modernen Leser nurmehr moumlglich einzelnen Ver-weisen nachzugehen und sie aufzuzeigensup3⁰sup2

Trotz der benannten Schwierigkeiten darf bei allen Fragen nach literarischenVorlagen nicht vergessen werden dass De nuptiis vor allem (aber nicht aus-schlieszliglich) auch ein allegorisches Werk ist Die imposante Schilderung der vierFluumlsse in Buch 1 Apoll auf demParnass-Huumlgel die allegorischen Figuren undvieleweitere Elemente sind nicht nur kreative literarische Erfindungen sondern for-dern zu einer uumlbertragenen Lesart des Werkes auf Besonders die ersten beidenBuumlcher die den Mythos enthalten muumlssen aus diesem Blickwinkel gelesen undverstanden werden

Zu verweisen ist auszligerdem auf die Bezeichnung der Erzaumlhlung als fabula oderfabella Neben der naheliegenden Bedeutung von sbquoErzaumlhlung Geschichtelsquo imallgemeinen Sinn ist sicher auch an die Diskussion um die Berechtigung von fa-bulae in Macrobiusrsquo Somnium-Kommentar zu denken Dort verteidigt Macrobiussowohl Platon als auch Cicero gegen den Vorwurf fiktive Geschichten zu benut-zen um philosophische Wahrheiten zu verkuumlnden In bestimmten Faumlllen seidieses Vorgehen gerechtfertigt solange es sich um wahrhaftige und belehrendeErzaumlhlungen handlesup3⁰sup3 Diese Voraussetzung kann man auch fuumlr De nuptiis alserfuumlllt ansehen Da Martianus zudem dem Neuplatonismus aumlhnlich nahesteht wieMacrobiussup3⁰⁴ ist von einer bewussten Entscheidung zugunsten einer literarischenDarstellung auszugehen

Den einzigen Versuch einer umfassenden Deutung verschiedener Elementedes Mythos und der allegorischen Darstellung hat ndash unter Vernachlaumlssigung ei-niger Details ndash bislang Lenaz unternommen In der ausfuumlhrlichen Einleitungseines Kommentars zum zweiten Buch von De nuptiis untersucht er die philoso-phisch-religioumlsen Motive in diesem Buch und kann Verbindungen zur Myste-

Kupke 1998 154 Kupke 1998 159 Fuumlr den spaumltantiken und den mittelalterlichen Leser glaubt sie jedoch andie Moumlglichkeit der problemlosen Dekodierung Macr somn 1 2 21 vgl oben Anm 45 Gerade die neuplatonischen Elemente von De nuptiis sind verschiedentlich benannt wor-den auch wenn nicht immer eine einheitliche Deutung geboten wird Haumlufig genannt wird derAufstieg Philologias in den Himmel uumlber die Sphaumlrenstufen der mit einer bdquoRuumlckkehr der Seeleldquogleichgesetzt wird (z B Bovey 2003 11 Lenaz 1975 113 vgl auch Guillaumin 2008) Hinge-wiesen wird auch auf die drei Frauen die Merkur nicht heiraten wollen (Sophia Mantike undPsyche 1 6ndash7) und die drei Seelenteile darstellen sollen deren Summe aber letztlich Philologiaist (Lenaz 1975 107ndash 110) Dagegen vertritt Kupke die These die neuplatonischen Elementetruumlgen keine zusaumltzliche Sinnebene bei (Kupke 1998 153) kritisch aumluszligern sich BednařiacutekovaacutePetrovićovaacute 2010 7

128 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

rieninitiation zu platonischen Mysterien chaldaumlischen Orakeln magischenPraktiken und zur Theurgie nachweisen Im Deutungsteil verwirft er die ThesenNuchelmansrsquo und Mathonssup3⁰⁵ als zu kurz greifend Nuchelmans hatte in derHochzeit Philologias und Merkurs (mittelalterlicher Kommentar-Tradition fol-gend) eine Forderung von Martianus nach der Vereinigung von Wissen (Philo-logia) und Rhetorik (Merkur) gesehen Mathons Ansatz fuumlhrte den Verweis auf dieneuplatonische Wieder-Erinnerung und die Ruumlckkehr der Seele in dieses Modellein Ebenso wie bei Nuchelmans werden auch hier nur wenige Elemente desMythos interpretiertsup3⁰⁶

Lenazrsquo eigener Ansatzsup3⁰⁷ folgt den Uumlberlegungen Ferrarinossup3⁰⁸ und ergaumlnzt siemit einigen Hypothesen Im Kern kreise der Mythos des zweiten Buches um einedoppelte Vereinigung die (horizontale) Vereinigung allen irdischen Wissens inPhilologia mit Hilfe von Hymenaeus und die (vertikale) Vereinigung der goumlttlichenund menschlichen Sphaumlre mit Hilfe von Eros Hinzu treten Uumlberlegungen ob essich bei Philologia und Merkur eventuell um nur eine Entitaumlt handle die Seelewelche getrennt worden sei und nun wieder zusammenfinde

Diese Lesart integriert die meisten der mythischen und allegorischen Ele-mente und verbindet sie weitgehend schluumlssig zu einem umfassenden KonzeptAllerdings vernachlaumlssigt sie auch bestimmte EinzelbeobachtungenWieso steigtPhilologia vom Sphaumlrenrand wieder auf die Milchstraszlige hinab (2 200 2 206)Wieso werden ihr auf der Milchstraszlige die irdischen Kuumlnste vorgefuumlhrt die sieerbrechenmusste damit sie in den Himmel aufsteigen konnte (2 135 f)sup3⁰⁹ Bereitsdiese Fragen zeigen deutlich dass eine kohaumlrente plausible Aufloumlsung des Mythosnicht leicht moumlglich ist

Nuchelmans 1950 Mathon 1969 Lenaz 1975 105 Aumlhnliches gilt auch fuumlr Hadots Deutung Sie identifiziert Merkur mit demaumlgyptischen Gott Theuth auf den in De nuptiis 2 102 f angespielt wird und nennt ihn diebdquoPersonifizierung der goumlttlichen Vernunftldquo waumlhrend Philologia die Personifizierung dermenschlichen Vernunftseele in deren idealem Zustand darstelle Die sieben Wissenschaften unddie sieben mantischen Kuumlnste ermoumlglichten es der Seele bdquozu ihrem Ursprung dem intelligiblenBereich oder zu Gottldquo zuruumlckzukehren (Hadot 2009 21 f) Lenaz 1975 106ndash 119 Ferrarino 1969 Dieses Problem entfiele wenn man annaumlhme dass Martianus die Erzaumlhlung nur auf dieersten zwei Buumlcher angelegt habe und erst danach die Moumlglichkeit einer Verbindung mit der inden Buumlchern 3 bis 9 folgenden Enzyklopaumldie erkannt habe Dafuumlr gibt es zwar Hinweise (bes dieDiskussion um die FiktionalitaumltUnterhaltung) am Ende von Buch 2 und zu Beginn von Buch 3doch duumlrfte man annehmen dass Martianus den Grundkonflikt von zuruumlckgelassenem Wissenund erneut geschenktem Wissen erkannt und behoben haumltte

2 De nuptiis als literarisches Werk 129

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Weiterhin uumlberbetont der Versuch den Mythos allein aus sich heraus zu er-klaumlren den Stellenwert des zweiten Buches im Gesamtwerk Als Interpretations-rahmen zwar wichtig tritt er bei fortschreitender Lektuumlre hinter die praktischeDarstellung der sieben Kuumlnste zuruumlck Diese nehmen nicht nur mehr Raum einsondern uumlberlagern die Darstellung im zweiten Buch und reduzieren somit auchderen Bedeutung Der Mythos ist also einwichtiger keineswegs jedoch der einzigeBestandteil von De nuptiis

Menippeische SatireDas auffaumllligste literarische Kompositionselement von De nuptiis ist jedochzweifellos die Wahl des Prosimetrums die Mischung von Prosapartien mit me-trischen Einheiten Der uumlberwiegende Teil des Werks ist in Prosa gehalten inwelchen 33sup3sup1⁰ metrische Partien eingelegt sind Dabei sind die Gedichte nichtregelmaumlszligig uumlber das gesamte Werk verteilt sie finden sich uumlberwiegend an ex-ponierten Stellen besonders an den Buchanfaumlngen und Buchenden Bei denmetrischen Partien innerhalb eines Buches handelt es sich fast ausschlieszliglich umGoumltterreden

Die beobachtete unregelmaumlszligige Verteilung der metrischen Partien unter-scheidet sich deutlich von der Gestaltung wie sie Boethius wenige Jahrzehntespaumlter inDe consolatione Philosophiae einsetzt Dort sind diemetrischen Partien inHinblick auf die Gesamttextmenge haumlufiger und zudem gleichmaumlszligiger verteiltsup3sup1sup1

Damit haumlngt zusammen dass auch die literarisch-argumentative Funktion dermetrischen Teile z T von derjenigen bei Boethius abweicht Bei Boethius stehendie Gedichte im Argumentationszusammenhang und fuumlhren Gedanken fort oderbuumlndeln sie in praumlgnanter Ausdrucksweisesup3sup1sup2 Ein gutes Beispiel dafuumlr ist eine

Die Zaumlhlung umfasst die zusammenhaumlngenden metrischen Partien und zaumlhlt auch Ge-dichte mit unterschiedlichem Versmaszlig (z B die Gedichte der Musen) als eine Partie Vgl dazu besonders OrsquoDaly 1991 Kap 1 (bdquoThe poetics of the Consolationldquo) darin 19ndash22 zuMartianus Sprachliche Parallelen sind zusammengestellt im Index der Boethius-Ausgabe vonBieler (CCSL 94 116) diskutiert werden sie bei Pabst 1994 163ndash 168 Da Boethius das Werk desMartianus kannte kann man von einer gelungeneren Ausdifferenzierung der Ansaumltze des Mar-tianus sprechen Der Vergleich des Einsatzes der prosimetrischen Form bei Boethius gewinntdadurch an Gewicht Eine Mischung von Prosa und Poesie findet sich weiterhin bei Fulgentius inden Mythologiae ndash Zu Parallelen in den Werkanfaumlngen bei Martianus Fulgentius und Boethiusvgl Klingner 1921 114 Pabst 1994 der Fulgentiusrsquo Vorgehen durchaus als bdquoimitatio Martianaldquoversteht (162 134ndash 137) fuumlr Boethius in Martianus allerdings nur eine Quelle sieht bdquoThey contribute to the argument as it proceeds yet take a wider view with an authorityoutside and above the adjacent prose They possess their own thematic design which spans theentire workldquo (Crabbe 1981 260) bdquoDie Metra bilden Ruhe- und Houmlhepunkte im Werk haumlufig

130 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Stelle zu Beginn des vierten Buches Nachdem zunaumlchst allgemein erlaumlutert wirddass die Weisen vermoumlgen was sie wollen die Schlechten jedoch nicht(cons 4 1 131ndash140) folgt in Versen eine Reihe plastischer Beispiele fuumlr die These(cons 4 carm 2) bevor der Gedanke fortgesponnen wird (cons 4 3 1ndash4)

An anderen Stellen uumlbernehmen die metrischen Partien eine Gliederungs-funktion indem sie Gedanken abschlieszligen und durch die Unterbrechung Zeit zurErholung bieten So sagt Philosophia zu ihrem Schuumller Boethius

bdquosed uideo te iam dudum et pondere quaestionis oneratum et rationis prolixitate fatigatumaliquam carminis exspectare dulcedinem accipe igitur haustum quo refectus firmior inulteriora contendasldquo (Boeth cons 4 6 200‐203)

bdquoAber ich sehe dass du bereits vom Gewicht der Untersuchung belastet und von der Breiteder Beweisfuumlhrung erschoumlpft auf die suumlszlige Erholung eines Liedes wartest nimm also denTrank damit du solchermaszligen erfrischt kraumlftiger zu den weiteren Themen eilen kannstldquo

In dieser zweiten Funktion setzt auch Martianus die metrischen Partien ein Dabeisind sie nicht in die Prosadarstellung eingeschoben sondern markieren fastausschlieszliglich die Buchanfaumlnge und Buchenden Explizites Ziel ist die Belebungdes Werkes um eine angenehme Lektuumlre zu erleichternsup3sup1sup3 Dies widersprichtMartianusrsquoAnkuumlndigung nach der hinleitenden Erzaumlhlung in denBuumlchern 1 und 2keine fiktionalen Erzaumlhlungen mehr einfuumlgen zu wollen die Darstellung solleernst und dem Gegenstand angemessen sein

nunc ergo mythos terminatur infiuntartes libelli qui sequentes asserentnam fruge vera omne fictum dimoventet disciplinas annotabunt sobriaspro parte multa nec vetabunt ludicra (2 220)

Nun also hat der Mythos sein Ende erreicht es beginnen die Buumlcher die die nun anschlie-szligenden Kuumlnste darbieten Denn mit wahrhaftiger Ernte entfernen sie alles Erdichtete undzeichnen die Kuumlnste nuumlchtern auf verbieten jedoch nicht gelegentliche Unterhaltung

stehen sie am Ende von Einzelabschnitten wo sie diese dann rekapitulieren und fuumlr densbquoSchuumllerlsquo zusammenfassen Bisweilen kommt ihnen auch eine Uumlberleitungsfunktion zuldquo (Kin-dermann 1969 63) ndash Zur Gattung allgemein allerdings mit besonderem Fokus auf die mittel-alterliche Literatur vgl Pabst 1994 bes 105ndash 133 zum Prosimetrum bei Martianus und 158ndash 195bei Boethius sowie Dronke 1994 bes Kap 2 (bdquoAllegory and the mixed formldquo) So auch McDonough der im Kapitel bdquoThe function of the poetryldquo zu Recht (aber zu kurzgreifend) formuliert bdquoIn undertaking the compilation of his encyclopedia the main challenge toMartianus lay in maintaining the interest of his readers (and himself) in making palatable thearid factual account of the various disciplinesldquo (McDonough 1968 37)

2 De nuptiis als literarisches Werk 131

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Scheint es an dieser Stelle so als ob Mythos und Heiteres getrennte Dinge waumlrenzeigt der unmittelbare Fortgang zu Beginn von Buch 3 dass beide Begriffe letztlichAumlhnliches bezeichnen Hier am Beginn der Schilderung der freien Kuumlnste(3 221 f) erlaumlutert Martianus in einem weiteren Gedicht das als Dialog gestaltetist warum er von seinem Plan abweicht

Camena bringt Schmuck fuumlr das Werk mit (amicta fictis commenta ferre) AufMartianusrsquo Einwand keine Mythen mehr vorbringen zu wollen (mythi pulsi) er-widert sie es gehe nicht um Luumlge (nil mentiamur) sondern um Einkleidung(vestiantur Artes) ndash man koumlnne die Brautjungfern also die Allegorien der freienKuumlnste doch nicht nackt vorfuumlhren Daraufhin gibt sich Martianus geschlagenund die Handlung von Buch 3 beginnt

Abgesehen von der unterhaltenden Funktion die besonders durch die Ge-dichte an den Buchenden gewaumlhrleistet wird scheinen die metrischen Passagenfuumlr viele Forscher wahllos in das Werk eingestreut Typisch ist eine Aussage wieCrabbe sie trifft bdquoMartianus uses verse frequently at the beginning sometimes atthe end of books and erratically throughoutldquosup3sup1⁴

Natuumlrlich kann von einer systematischen Verteilung und einer argumenta-tionslogischen Anordnung wie bei Boethius nicht gesprochen werden Bei ge-nauerem Hinsehen wird jedoch deutlich dass die metrischen Abschnitte nichtwillkuumlrlich uumlber das Werk verstreut sindsup3sup1⁵

Die meisten metrischen Passagen finden sich in den Buumlchern 1 und 2 von Denuptiis Diese Buumlcher enthalten die einleitende Handlung die als fiktionale Er-zaumlhlung dargeboten wird Im Bericht von der Suche Merkurs nach der richtigenEhefrau und von Philologias Aufstieg in den Himmel finden sich neun metrischePassagen Es handelt sich dabei bis auf die drei Faumllle der an den Buchanfaumlngen(Buch 1) und Buchenden (Buch 1 und 2) stehenden Gedichte um Reden vonGoumlttern Diese fuumlhren die Handlung fort und dienen also nicht der Buumlndelung derGedanken oder der Erholung des Lesers Stattdessen scheint es Martianus darumzu gehen das Sprechen der Goumltter durch die metrische Gebundenheit als be-

Crabbe 1981 264 Eine Typisierung die z T von der Position der metrischen Passagenlosgeloumlst ist bietet McDonough seiner Ansicht nach sind die metrischen Partien hauptsaumlchlichfunktional bdquoThe poetry thus is primarily functional although this function varies from book tobookldquo (McDonough 1968 38) Als Funktionen benennt er fuumlr Buch 1 Handlungsfortfuumlhrung fuumlrBuch 2 Schmuck fuumlr Buch 3 Belehrung fuumlr den Rest Einfuumlhrung oder Entlassung derBrautjungfern oder Unmut uumlber Verzoumlgerung der Hochzeit Der Rest seien bdquooccasional piecesldquo(ibid 40) ndash Verspartien finden sich am Anfang der Buumlcher 1 2 3 4 5 6 7 und 9 sowie am Endeder Buumlcher 2 4 5 7 und 9 Die ungleiche Verwendung der Metra bei Boethius und Martianus laumlsst sich am besten alsEntwicklung verstehen wie es beispielsweise Kindermann (1969 60) tut Zur Kenntnis desMartianus bei Boethius vgl oben Anm 311

132 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

sonders zu markieren Dies gilt vor allem fuumlr markante Szenen zum Beispiel dieRede Jupiters in der Goumltterversammlung gegen Ende des ersten Buches (1 91ndash93)oder die orakelartige Auskunft Apolls (1 21 f)

Diese Beobachtung gilt daruumlber hinaus ebenso fuumlr die genannten Stellen inBuch 9 auch wenn es sich dort nicht um die Vorgeschichte oder einen weiterenliterarischen Rahmen handelt Jedoch ist eine Szene mit Goumlttergespraumlchen ein-geschoben in der die Goumltter unter anderem auch Verse verwenden Durch dieseReden in metrisch gebundener Form soll den entsprechenden Buumlchern also einehoumlhere Wuumlrde verliehen werden

Einen zweiten Fall stellen die Gedichte zu Beginn oder zu Ende eines Buchesin den Buumlchern 3 bis 9 dar In diesen Buumlchern praumlsentieren die Freien Kuumlnste ingeschlossenem Vortrag die Inhalte ihrer Wissenschaft Die Gedichte in einigenFaumlllen in auktorialer Erzaumlhlhaltung gestaltet uumlberbruumlcken die Fuge zwischen denBuumlchern und bieten eine Pause zwischen den langen Vortragspartien der Leserkann sich erholen Die Inhalte der Verspartien sind unterschiedlich es handeltsich zumeist um den Ein- oder Auszug einer Brautjungfer (4 327 4 423 f 8 8028 808 9 911ndash919) um die Fortfuumlhrung der Hochzeitshandlung (5 425 8 8059 888) um die Anrufung eines Gottes (6 567ndash574) oder um eine Wendung desAutors an den Leser (5 566 9 997ndash 1000)

Dieser Einsatz der Verspartien ist jedoch noch keine hinreichende Erklaumlrungfuumlr die Wahl des Prosimetrums Sie erklaumlrt sich besonders dadurch dass Marti-anus auf diese Weise sein Werk in die Traditionslinie von Texten einreiht die alsmenippeische Satiren bezeichnet werdensup3sup1⁶

Charakteristisch fuumlr diese spezielle Form der roumlmischen Satire ist der Wechselvon metrischen und prosaischen Partiensup3sup1⁷ Klassische lateinischsprachige Ver-treter der menippeischen Satire sind Varro (Saturae Menippeae) Seneca (Apo-colocyntosis) und Petron (Satyrikon) in der griechischen Literatur nutzen Lukianund Julian (Caesares) diese Form Inhaltlich lassen sich nur wenige Verbindungenzwischen den Werken ziehen und auch die Umsetzung der formalen Elemente istunterschiedlich Dies fuumlhrt sogar so weit dass sich moderne Forscher trotz derbereits antik bezeugten Bezeichnungder Gattung teilweise auszligerstande sehen dieGattung genauer zu definieren oder dass sie ihre Fragestellung losgeloumlst von derGattungstradition verfolgensup3sup1⁸ Dies macht die Verortung von De nuptiis in diesemGenre nicht leichter

Zur menippeischen Satire vgl Relihan 1993 Coffey 1996 Im Gegensatz dazu beschraumlnkt sich die Verssatire seit Horaz auf die Verwendung desHexameters So betont Scheible im Vorwort ihrer Studie zu den Gedichten in Boethiusrsquo de consolationedass sie Vorgaben der Tradition in Hinblick auf die Gedichte nicht beruumlcksichtige ndash sie lieszligen

2 De nuptiis als literarisches Werk 133

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Gelegentlich wird sogar die These vertreten dass sich das satirische ElementinDe nuptiis in dieser formalen Verbindung von Prosaund Poesie erschoumlpfesup3sup1⁹DerGattungsbegriff sbquomenippeische Satirelsquo waumlre dann identisch mit der BezeichnungsbquoProsimetrumlsquo Dem widersprechen jedoch verschiedene Beobachtungen derRuumlckgriff auf die Etymologie des Wortes satura die Bezugnahme auf Vertreter derGattung und das Auftreten einer Figur namens Satura sowie deren Agieren dasuumlber die rein formale aumluszligerliche Satireform hinausweist schlieszliglich die beson-dere Gestaltung der Erzaumlhlsituation Diese vier Elemente sollen im Folgendenherausgearbeitet werden

Etymologie ndash Dass Martianus sein Werk sehr wohl als Satire verstanden wissenwill wird an verschiedenen Stellen deutlich Dies geschieht zum Beispiel durchgelehrte Anspielungen auf die Terminologie der antiken Satire an prominenterStelle So heiszligt es in 9 998

[Satura] haec quippe loquax docta doctis aggeransfandis tacenda farcinat immiscuitMusas deosque disciplinas cyclicasgarrire agresti cruda finxit plasmate

So haumluft sie plappernd Gelehrtes auf Gelehrtes und stopft geheimes und bekanntes Wissenzusammen hatMusenundGoumltter vermischt undhat sich erdacht dass die enzyklopaumldischenDisziplinen in einem baumlurischen Machwerk unreifes Zeug daherplappern

Die Woumlrter farcinat und immiscuit verweisen auf das Zusammenstopfen undVermischen verschiedener Zutaten z B in einer Wurst oder Pastete Gleiches giltfuumlr die Woumlrtermiscillo und aggeranssup3sup2⁰ Ausgangspunkt fuumlr diese Terminologie istdie Etymologie desWortes sbquoSatirelsquo an sich bedeutet urspruumlnglich etwaswie sbquobunteMischunglsquosup3sup2sup1 Traditionell sind Anspielungen auf diese Etymologie in der satiri-

sich nicht feststellen (Scheible 1972 8) Vorhandene Untersuchungen beschreiben in der Regeldie Konstituenten der einzelnen Werke Aufgrund der geringen Zahl uumlberlieferter Werke und dergroszligen Unterschiede zwischen ihnen ist es jedoch schwierig die typischen Elemente der Gat-tung zu benennen Auch diese Arbeit schlieszligt sich dem beschreibenden Vorgehen an undvergleicht an einschlaumlgigen Stellen inwieweit die Beobachtungen auch fuumlr die Gattung typischsind So z B Coffey der die Mischung aus Prosa und Poesie bei Martianus als bdquomiscellanyldquobezeichnet und vor einer Verbindung von De nuptiis mit der Satire als problematisch warnt(Coffey 1996 959) Vgl Relihan 1993 14 ErnoutMeillet s v satur -ra -rum (2001 596) WaldeHofmann s v satura (2007 II482f) Der zentrale Hinweis auf eine Ableitung des Wortes aus dem kulinarischen Bereich findet

134 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

schen Literatur selten Allein in Juvenal findet sich ein Hinweis darauf gleichwohlmit leicht anderem Verstaumlndnis Er betrachtet die Zusammenstellung der Satirenals farrago also als Mischgericht nicht die einzelne Satiresup3sup2sup2

In diesen sehr bildlichen Wendungen trifft Martianus gleichzeitig eine Aus-sage uumlber sein Verstaumlndnis der Darstellung von Bildungswissen Bei ihm gibt eskeine vorverdauten und mundgerecht aufbereiteten Wissenspaumlckchen (wie Ma-crobius sie bietet)sup3sup2sup3 sondern rohe Kost (cruda) die ihre Zutaten d h die lite-rarischen oder inhaltlichen Urspruumlnge nicht leugnet LeMoine formuliert prauml-gnant bdquoBy calling attention to the literary functions these metaphors fulfillMartianus hellip raises questions about the principles of seamless synthesis andverbal regurgitation which Macrobius so effectively demonstratesldquosup3sup2⁴

Dass Martianus durch diese Art der Darstellung seine Autoritaumlt infrage stelle(bdquohellip reveal doubts about the competence of the cook and the quality of the edu-cational feastldquo)sup3sup2⁵ laumlsst sich jedoch nicht erkennen Schlieszliglich benennt er seinVorgehen explizit (scheitert also nicht an einem gesteckten Plan) und bietetgleichzeitig mit der Kritik an der klassischen Form der Wissensvermittlung eineMoumlglichkeit an wie nicht-vereinheitlichte Wissensvermittlung aussehen kannBeeintraumlchtigungen des Vertrauens zum Erzaumlhler und zu den Inhalten gibt esallerdings ndash jedoch aufgrund anderer Faktorensup3sup2⁶

Bezug auf andere Satiriker ndash Neben den Anspielungen auf die Etymologie derGattung Satire treten explizite Bezuumlge auf andere Autoren menippeischer Satirenauf Namentlich wird jedoch keiner der Vorgaumlnger genannt die Nennung Varroserfolgt ausschlieszliglich in den Vortraumlgen der Brautjungfern und bezieht sichuumlberwiegend auf Varros fachschriftstellerische Werke oder seinen Ruf als Enzy-klopaumldistsup3sup2⁷

sich beim Grammatiker Diomedes (Grammatici Latini 1 485) Ausgehend von dieser Passageeroumlrtert Petersmann die Etymologie mit besonderer Beruumlcksichtigung des Ursprungs des Wortessatura aus dem Kuumlchenbereich (Petersmann 1986) Iuv 1 86 nostri farrago libelli Vgl die Kommentare Morton Braund 1996 95 f undCourtney 1980 103 Vgl die Gleichnisse in der praefatio zu den Saturnalia (Sat praef 5ndash9) und die Ausfuumlh-rungen in Kap II1 sowie die dort aufgefuumlhrte Literatur LeMoine 1991 360 ibid S u die Abschnitte bdquoErzaumlhlinstanzenldquo und bdquoDeutungen der komplexen literarischen Formldquo 4 335 (die Gelehrsamkeit Varros vgl Cic ac 1 9 Aug civ 6 2) 5 517 (Nennung in einemZitat) 6 639 und 6 662 (Fragen der Geographie die Varro-Vorlage ist nicht bekannt) 9 928 (cfVarro rust 3 17 4) Vgl zum Verhaumlltnis von Martianus und Varro bes Bovey 2003 Kap 2 (bdquoLaquestion varronienneldquo) und Schievenin 2009f

2 De nuptiis als literarisches Werk 135

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Allerdings zitiert die Wendung ὄνος λύρας in 8 807 den Titel einer menip-peischen Satire Varrossup3sup2⁸ Die Wendung ist in der lateinischen Literatur ander-weitig nicht belegt weshalb davon auszugehen ist dass Martianus hier auf denrepublikanischen Satiriker direkt zuruumlckgriff Da die Wendung zudem im Streit-gespraumlch zwischenMartianus und Satura uumlber die angemessene Art des Erzaumlhlensder Geschichte faumlllt kommt ihrer Verwendung eine programmatische Aussage zuMartianus stellt sich und sein Werk also in die Nachfolge Varros und seiner Sa-tiren

Ein Bezug auf Lukian ist weniger sicher nachzuweisensup3sup2⁹ Allerdings gibt eseine motivische Uumlbernahme im zweiten Buch von De nuptiis Philologias Erbre-chen des Wissens das der Hochzeit vorausgeht hat eine Parallele in LukiansDialog Lexiphanes Der allzu (ein)gebildete Lexiphanes nimmt auf Draumlngen vonLycinus ein Brechmittel ein das ihm der Arzt Sopolis gibt Daraufhin erbricht eralle Woumlrter die er gelernt hat dies ist die Voraussetzung dafuumlr dass er nun an-gemessen belehrt werden kannsup3sup3⁰

Es handelt sich um die Fragmente Varro Men 348ndash369 In Fragment 349 findet sich dieWendung auch im Vers (si quis μελωδεῖν est ὄνος λύρας praesepibus se retineat forensibus ndashsbquower beim Gesang wiersquon Esel an der Harfe bloumld der bleib getrost im Stallmief seines Forumsdortlsquo [Uumlbs Krenkel]) Die Bezugnahme auf Varro ist umso wahrscheinlicher da Satura unmit-telbar zuvor sowohl Martianusrsquo berufliche Aufenthalte auf dem Forum erwaumlhnt und ein Wort-spiel mit seinem Namen Capella angestellt hat ndash der zwar nicht sbquoEsellsquo bedeutet wohl aber einHaustier (sbquoZiegelsquo)Vgl dazu Shanzer 1968c 38ndash40 Shanzer 1986a kritisch dazu Pabst 1994 168(m Lit) Folgt man Bovey handelt es sich bei der unmittelbar folgenden Wendung καιρὸν γνῶθιum einen weiteren Verweis auf den Titel einer Varro-Satire γνῶθι σεαυτόν (= Varr Men 199ndash210 vgl Bovey 2003 282ndash284) Naumlher liegt wohl dass Martianus Capella diese eigenstaumlndigeSentenz (vgl Diogenes Laertios I 79 der sie als Sentenz des Pittakos ausweist) aus einer anderenQuelle uumlbernommen hat Kindermann 1969 60 Shanzer geht davon aus dass Martianus Lukian kannte (Shanzer1986c 36) Zur Diskussion um Martianusrsquo Griechischkenntnisse vgl Cristante 2009 [5] undShanzer 1986c 4 die beide annehmen dass Martianus durchaus Griechisch beherrschteShanzer weist einige Stellen auf an denen Martianus woumlrtlich uumlbersetzt und schlieszligt aus derBeherrschung des Griechischen zu Recht auf einen gebildeten moumlglicherweise sogar akade-mischen Hintergrund von Martianus Lucian Lex 20f Andere antike Texte die das Erbrechen von Wissen als Teil des Reini-gungsprozesses beschreiben oder als Bild tradieren sind mir nicht bekannt Daher ist eswahrscheinlicher dass Martianus auf Lukian im Original zuruumlckgegriffen hat Zur vor-byzantinischen Rezeption Lukians vgl Nesselrath 1994 der spaumltantike Bezuumlge auf Lukian u abei Julian und Claudian aufzeigt ndash Einen Bezug auf Lukians Concilium deorum fuumlr moumlglich haumlltKrapinger 1999 962 ndash Anders gelagert sind Lucian cont 7 und Aug in Joh ev tract 36 1 Dortgeht es darum dass durch das Ausspeien Wissen weitergegeben wird was zum Bild der daserbrochene Wissen aufsammelnden Artes passt nicht jedoch zum Motiv der Reinigung

136 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Bezuumlge auszligerhalb der Uumlbernahme uumlblicher Gattungselemente lassen sich fuumlrSenecas Apocolocyntosis Petrons Satyricon oder Julians Caesares nicht konsta-tierensup3sup3sup1

Die Figur der Satura und ihr Handeln ndash Einer der deutlichsten Hinweise auf dieForm der Satire liegt im Auftreten einer Figur namens Satura Diese Figur wirdzunaumlchst von Martianus als Erzaumlhlinstanz eingefuumlhrt (1 2) von der er den Inhaltvon De nuptiis erfahren haben will Im Laufe des Werks gewinnt Satura aber anProfil und agiert zunehmend autonom

Aussagen uumlber Satura beruhen letztlich auf drei Stellen in De nuptiis (6 576ndash5798 806ndash8109997ndash999) und koumlnnen fast ausschlieszliglich aus der Formund derBotschaft ihrer eigenen Aumluszligerungen gewonnen werden An allen drei Stellendiskutiert Satura mit Martianus Ansonsten ist Satura zwar als praumlsent zu denkenwird aber nicht weiter thematisiert

Nach Martianusrsquo Anrufung Minervas zu Beginn des sechsten Buches mischtsich Satura in seine Uumlberlegungen ein welche Frauen er vor sich sehe Die Ein-mischung wird von Martianus als scherzend bezeichnet (iocabunda 6 576) dieEinmischung an sich als typisch fuumlr das Scherzen Saturas (ut lepidula est 6 576)Die Aumluszligerung Saturas beginnt mit Spott uumlber Martianusrsquo nur scheinbare KlugheitDurch falsche naumlchtliche Studien und besonders seine Anwaltstaumltigkeit habe erden Blick auf das Wichtige verloren und erkenne nun nicht einmal mehr Philo-sophia und Paideia Der Scherz wird jedoch alsbald von einem belehrendenTonfall abgeloumlst in dem Satura Martianus uumlber das Wesen der beiden Frauenaufklaumlrt

Satura tritt als Naumlchstes zu Beginn des achten Buches auf in der Folge derSilen-Szene Der angetrunkene Silen war eingeschlafen und durch Amor aufge-schreckt worden was die uumlbrigen Goumltter laut lachen lieszlig (8 803ndash805) DieseSchilderung provoziert bei SaturaWiderspruch da sie das Erzaumlhlte als unpassendfuumlr die Goumltterversammlung empfindet Ihre Kritik beginnt wieder bei der Persondes Martianus dessen Namen sie als passend zu seinem Wesen deutet (Capella ~sbquoZiegelsquo 8 806) Sodann fordert sie Martianus auf seine Possen zu unterlassenMartianus fuumlhlt sich gehoumlrig von Satura gemaszligregelt und gibt klein bei bemerktaber dass sie ansonsten mehr von Scherzen halte (alioquin lepidula 8 807) AlsSatura dann die Einfuumlhrungder eintretenden Brautjungfer in Versenvorbringt undMartianus wiederum seine Scherze (ludicra 8 808) vorhaumllt kann dieser nicht

Mit Julian verbindet Martianus immerhin die Ansiedlung der Goumltterversammlung auf derMilchstraszlige ndash Zur Rolle der Saturnalien vgl den Abschnitt bdquoDeutungen der komplexen litera-rischen Formldquo

2 De nuptiis als literarisches Werk 137

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mehr an sich halten und zahlt Satura ihre Kritik in gleicher Muumlnze heim Nacheinigem Spott uumlber Saturas Verse verteidigt nun Martianus das Recht auf Scherzgegen sie die an sich ndash nicht aber in De nuptiiswie es scheint ndash eigentlich fuumlr denScherz zustaumlndig waumlre und gibt ihr mit Martial (2 41 1) den Rat auch einmal zulachensup3sup3sup2

Ein letzter Schlagabtausch von Satura und Martianus erfolgt schlieszliglich amEnde des Werkes Wiederum streiten beide Figuren miteinander und halten sichmit Spott uumlber das Wesen des anderen nicht zuruumlck

Die Einfuumlhrung Saturas die ja nur in Verbindung ndash und das heiszligt Ausein-andersetzung ndash mit Martianus erscheint dient vornehmlich der deutlichenBenennung der Gattung und der Verstaumlndigung daruumlberwas den Charakter einessatirischen bzw des vorliegenden Werkes ausmache Erstaunlich ist dabei Mar-tianusrsquo Entwicklung der sich zunaumlchst gegen Unterhaltung im artes-Teil ausge-sprochen hatte diese spaumlter aber gegen den censorischen Eingriff Saturas imachten Buch verteidigt Noch erstaunlicher ist aber dass es gerade Satura ist diezur Beachtung des Decorums auffordert und Martianusrsquo vergleichsweise mildenScherz scharf tadelt

Erzaumlhlinstanzen ndash Die Frage nach der Erzaumlhlsituation bzw der Erzaumlhlerfigurgehoumlrt zu den grundlegenden Analysekriterien eines literarischenWerkes ebensowie die Konzipierung von Raumund Zeit Lassen sich die letzten beiden Punkte imHinblick auf De nuptiis hinreichend klaumlrensup3sup3sup3 so bietet die Erzaumlhlerfigur groumlszligereSchwierigkeiten

DassDe nuptiis zwei Erzaumlhlinstanzen hat scheint zu Beginn desWerkeswenigdramatisch In 1 2 verweist der Erzaumlhler Martianus gegenuumlber seinem Sohn dar-auf dass die folgende Geschichte (also der uumlberwiegende Teil von De nuptiis) ihm

Ride si sapis o puella ride Schievenin bietet eine gruumlndliche Analyse dieser Stelle auchmit Blick auf die inverse Vorlage Martials (plora si sapis o puella plora Mart 2 41) derwiederum auf Ovid (Ov ars 3 281 f) zuruumlckgreift (Schievenin 1984 bes 136 ausfuumlhrlich auchBovey 2003 275ndash288) Die Rahmenhandlung spielt in der erzaumlhlerischen Gegenwart und in einem unbestimmtenRaum der jedoch nicht auszligergewoumlhnlich ist es liegt nahe an Karthago und das Haus desMartianus Capella zu denken Die eigentliche Handlung spielt an z T unwirklichen Orten aufder Erde die zumeist nicht naumlher bestimmt sind (z B Philologias Herkunft) und auf derMilchstraszlige wobei die absolute Zeit nicht genannt wird aber aufeinanderfolgende Tage inihrem Ablauf erkannt werden koumlnnen Die Phantastik einzelner Szenen die meist auf alle-gorische Darstellungsweisen zuruumlckgeht verletzt jedoch nicht die raumlumliche oder zeitlichePlausibilitaumlt des Dargestellten Vgl dazu auch die Ausfuumlhrungen und grafischen Veranschau-lichungen LeMoines (1972a)

138 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

waumlhrend langer Winternaumlchte (eine Anspielung auf Gellius)sup3sup3⁴ von Satura be-richtet wurde Der antike wie moderne Leser duumlrfte sich wohl kaum daran stoszligensondernwird darin vor allem eine Inspiration des Autors durch Satura (auchwennes das zuvor noch nicht gab) erkennen Bei der Erwaumlhnung von Satura koumlnnte erHeiteres erwarten oder bunt gemischte Geschichten

Vollkommen verwirrt wird der Leser hingegen spaumltestens dann wenn er amEnde des Werkes in der Sphragis angekommen ist (9 997ndash 1000) Dort reflektiertMartianus sein literarisches Vorgehen in den vorausgegangenen neun Buumlcherngenauer gesagt distanziert er sich von der Form der Darstellung (Umfang Bunt-heit) und verweist auf die Verantwortung Saturas die die Geschichte erzaumlhlt habe

Habes anilem Martiane fabulam 997Miscillo lusit quam lucernis flamineSatura Pelasgos dum docere nititurArtes daggercagris vix amicas AtticisSic in novena decidit voluminahaec quippe loquax docta doctis aggerans 998fandis tacenda farcinat immiscuitMusas deosque disciplinas cyclicasgarrire agresti cruda finxit plasmate (9 997 f)

Da hast du Martianus eine Altweibergeschichte sie verfertigte im Spiel mit vermischterInspiration [d h in Prosa und Vers] bei Kerzenschein Saturawaumlhrend sie sich bemuumlhte diePelasger zu lehren die Kuumlnste die den Griechen kaum freundlich [d h neu] sindSo gelangte sie hinab bis zum neunten Buch haumluft plappernd Gelehrtes auf Gelehrtes undstopft geheimes und bekanntes Wissen zusammen hat Musen und Goumltter vermischt und hatsich erdacht dass die enzyklopaumldischen Disziplinen in einembaumlurischenMachwerk unreifesZeug daherplappern

So ungewoumlhnlich dieses Vorgehen auch ist ndash Martianus haumltte ja den Bericht Sa-turas als Grundlage nehmen und dann nach eigenem Geschmack umgestaltenkoumlnnen ndash wird es uumlbertroffen durch die Verteidigung Saturas Sie weist die Ver-antwortung fuumlr die Art der Erzaumlhlung von sich und verteidigt sichmit demHinweisauf Martianusrsquo intellektuelle Schwaumlche der sie die Ausfuumlhrungen habe anpassenmuumlssen

Vgl Gell praef 4 zur Erklaumlrung der Wahl des Titels Noctes Atticae fuumlr sein Werk

Sed quoniam longinquis per hiemem noctibus in agro sicuti dixi terrae Atticae commentationeshasce ludere ac facere exorsi sumus idcirco eas inscripsimus noctium esse Atticarum hellip

Aber weil wir in langen Naumlchten den Winter uumlber in Attika auf dem Landwie schon gesagtdiese Anmerkungen im Spiel und dann ernsthaft begonnen haben daher haben wir ihnenden Namen Attische Naumlchte gegeben hellip

2 De nuptiis als literarisches Werk 139

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

haec ipsa nauci rupta conscientia 999turgensque felle ac bili bdquomulta chlamydeprodire doctis approbanda cultibuspossemque comis utque e Martis curia[hellip]ab hoc creatum Pegaseum gurgitem 1000decente quando possem haurire poculoldquo (9 999 f)

Sie sagte aufgrund ihres Wissens um die Nichtigkeit (dieser Ausfuumlhrungen) verletztschwellend vor Bitterkeit und Zorn bdquoIch koumlnnte hier freundlich auftreten mit einem Gewandbekleidet lobenswert durchgelehrtes Verhaltenwie aus der VersammlungdesMars [Es folgtdie Schilderung der unguumlnstigen Anlagen von Martianus] ndash Wann koumlnnte ich mit ange-messenem Becher aus einem pegasischen Strom von ihm erschaffen schoumlpfenldquo

Somit hat das Werk das zu Beginn zwei hierarchisch geschiedene Erzaumlhler zuhaben scheint am Ende zwei Erzaumlhler die sich gleichberechtigt uumlber die Form dererzaumlhlten Geschichte streitensup3sup3⁵

Die Inkonsistenzen auf der Erzaumlhlebene setzen sich daruumlber hinaus fort HatteMartianus zu Beginn des Werks gesagt Satura habe ihm die Geschichte waumlhrendlangerWinternaumlchte erzaumlhlt so treten Satura undMartianus amEnde desWerks inder erzaumlhlerischen Gegenwart gemeinsam auf und sprechen beide nacheinanderzu Martianusrsquo Sohn

Weiterhin erscheinen Satura und Martianus innerhalb der Geschichte dieMartianus angeblichvon Satura gehoumlrt hatWaumlhrend die Goumltter denverschiedenenBrautjungfern lauschenwohnen auch SaturaundMartianus der Versammlungbeiund betrachten sie als unbeteiligte ZuschauerWie aus einer Theaterloge herauskommentieren und diskutieren sie das Geschehen das auf der bdquoGoumltterbuumlhneldquostattfindetsup3sup3⁶

Noch einen weitergehenden Schritt stellt die Silen-Szene zu Beginn des achtenBuches dar Im Anschluss an diese Szene beschwert sich Satura bei Martianus erkoumlnne die Goumltter nicht auf dieseWeise agieren lassen In der Folge entspinnt sich einGespraumlch in demMartianus seine Art des Erzaumlhlens gegen Satura verteidigt die fuumlreine zuruumlckhaltendere Darstellung plaumldiert (s o)Von der Fiktion dass Martianusseinem Sohn bloszligwiedergibtwas Satura ihm erzaumlhlt hat bleibt nichtmehr viel dieganze Szenerie ist ein Produkt der ErfindungdesMartianus gleichzeitigwohnt er ihraber gemeinsam mit Satura bei ist also Teil der Handlung

So bereits Pabst 1994 120 Anm 119 der allerdings auf eine Diskussion der Beobachtungverzichtet Es handelt sich um die Stellen zu Beginn des sechsten und des achten Buches die imvorigen Abschnitt bereits paraphrasiert wurden

140 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Diese Art der Spiels mit der Erzaumlhlerrolle wird von manchen modernen For-schern als ein wichtiges Merkmal der menippeischen Satire angesehen Hinzu-treten kann die Selbstherabsetzung des Erzaumlhlers die sich an seinemmangelndenWissen Stilbewusstsein Traditionsempfinden o auml entzuumlndetsup3sup3⁷ Folglich kanndie zunaumlchst befremdliche Brechung und Verzerrung als weiteres Merkmal derGattung menippeische Satire bestimmt werden

Aufgrund dieser Beobachtungen ist es zwingend in De nuptiis vor allem eineSatire zu sehen Auch der heiter-spoumlttische Charakter einiger Passagen zwischenden Vortraumlgen der Brautjungfern passt zum satirischen Anspruch Gelegentlicherscheint es jedoch fraglich ob es sich wirklich um satirische und nicht eher umkomische oder derbe Spaumlszlige handelt Die Szene in der Silen betrunken einschlaumlftund von den anderen Goumlttern verspottet wird (8 803ndash805) erinnert mit ihremSlapstick eher an den derben Spott der Komoumldie als an die Satire eines Varrosup3sup3⁸

22 Deutungen der komplexen literarischen Form

Wie laumlsst sich das Werk De nuptiis nun also formal beschreiben oder andersgefasstWie lassen sich die vier literarischen Traditionsstraumlnge zusammenfuumlhrenDass eine einheitliche Lesung zumindest versucht werden muss zeigt bereits dasLeitmotiv der Hochzeit ansup3sup3⁹

Im Kern handelt es sich bei MartianusrsquoWerk um eine Sammlung bedeutenderWissensschaumltze in einem einzigen Werk die darin systematisch ausgebreitetwerden Dies zeigt die Einteilung in verschiedene Disziplinen die ein ver-

Zur Erzaumlhlerrolle in der menippeischen Satire vgl u a Relihan 1993 und darin bes S 35 Mit der Aufnahme unterhaltsamer Elemente ginge Martianus sogar noch uumlber dieErwartungen an ein sbquosatirischeslsquo Werk hinaus Auch Boethius wird bescheinigt er erzaumlhle seineConsolatio bdquoper satiramldquo auch wenn bei ihm weder eine Figur Satura auftritt noch allzu vielHeiterkeit herrscht (Peiper zitiert in der Einleitung zu seiner Ausgabe S xxxi eine mittelalter-liche Boethius-Vita vgl Kindermann 1969 61)

hos libros [scil de consolatione Philosophiae] per satiram edidit imitatus videlicet mar-cianum felicem capellam qui prius libros De nuptiis philologiae et mercurii eadem speciepoematis conscripserathellip

Diese Buumlcher schrieb er als Satire freilich in Nachahmung des Marcianus Felix Capellader zuvor die Buumlcher uumlber die Hochzeit der Philologie mit Merkur in der gleichen Art vonGedicht verfasst hatte

Zum Motiv der Hochzeit das bereits programmatisch im eroumlffnenden Hymnus anHymenaeus erscheint vgl Schievenin 2009c und Cristante in der Einleitung seiner Ausgabe1987 3ndash 10

2 De nuptiis als literarisches Werk 141

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

gleichsweise leichtes Auffinden der Informationen erlaubtsup3⁴⁰ die Bedeutung wirdangesichts der Praumlsentation vor den Goumlttern auf der Milchstraszlige deutlich Alleinder Umfang dieser Vortraumlge die in sich auch nicht gestoumlrt oder gebrochenwerdenmarkiert dass es sich hier um das zentrale Charakteristikum des Werkes handelt

Den erzaumlhlerischen Anlass fuumlr diese Praumlsentation bietet eine Hochzeitsfeieralso ein Symposion hier ist die Gelegenheit fuumlr die groszligen Redebeitraumlge gegebenZudem bietet die SymposionformAnknuumlpfungspunkte fuumlr eine Rahmenhandlungdie zur Auflockerung der ebenso ausfuumlhrlichenwie trockenen Einzelreden genutztwird

Doch bleibt es ndash im Gegensatz z B zu Macrobius ndash nicht bei der bloszligenDarstellung der Wissensinhalte Hinzu tritt die allegorische Darstellung der Be-deutung von Wissen und von Fleiszlig beim Wissenserwerb in den ersten beidenBuumlchern Die praumlsentierten Inhalte der Buumlcher 3ndash9 (die Philologia ja bereits aufder Erde in Buch 2 besitzt) sindwichtig Sie sind nicht nur wichtig fuumlr das irdischeLeben (das wird nicht weiter thematisiert die explizit irdischen Wissenschaftenwie Architektur und Medizin werden sogar ausgeschlossen) ndash die Inhalte sindauch wichtig fuumlr die menschliche Vervollkommnung

Durch das angesammelte Wissen erreicht der Mensch zwar nicht die voll-kommene Erkenntnis (die erhaumllt auch Philologia nur ohne eigenes Zutun als sieauf der houmlchsten Himmelssphaumlre angekommen zum Vatergott in der jenseitigenGluumlckseligkeit betet) wohl aber ein goumlttergleiches Wissensup3⁴sup1 Der Wissenserwerbist gewissermaszligen die Voraussetzung dafuumlr dass der Mensch mit Hilfe einesgoumlttlichen Begleiters in den Himmel aufsteigen kann unsterblich wird und voll-kommene Einsicht erlangt

Die so weit kohaumlrente Verbindung der literarischen Traditionen laumlsst aller-dings den explizit satirischen Anspruch von De nuptiis auszliger Betracht durch denMartianus selbst das Werk primaumlr in die Gattung der Satire einordnet waumlhrendvergleichbare Bezuumlge zu anderen Gattungen fehlen Natuumlrlich lieszlige sich dieserprogrammatische Anspruch mit einem Verweis auf die Verwendung des Begriffszur Bezeichnung einer inhaltlich wie literarisch gemischten Form erklaumlren Dochgreift diese Erklaumlrung zu kurz da das Agieren Saturas die literarischen Passagendes Werks beinahe als Travestie erscheinen laumlsst (vgl oben zur Erzaumlhlerfigur) Einbildend-enzyklopaumldisches Werk kann sich allerdings nicht gefahrlos als Satire

So auch Englisch 1994 56 Die bdquoSystematik bei der Praumlsentationldquo erlaube einen leichtenZugriff auf die Informationen Mart Cap 2 201ndash205

142 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

praumlsentieren ohne Zweifel an der Glaubwuumlrdigkeit und Zuverlaumlssigkeit desWerkes und der praumlsentierten Inhalte zu weckensup3⁴sup2

Wenn Martianus auch die Konventionen der Gattung menippeische Satireaufnimmt und sein Werk also nur folgerichtig unter anderem eine unzuverlaumlssigeErzaumlhlsituation aufweist ist dies noch keine Erklaumlrung an sich Die regelkonformeUmsetzung gattungstypischer Anspruumlche erklaumlrt noch nicht die Wahl der Gattungan sich ndash einer Gattung die trotz ihrer Benennung als solche nicht zu denStandardformen und akzeptierten Gattungen zaumlhlte insbesondere nicht fuumlrLehrwerkesup3⁴sup3

Auch Martianusrsquo Verweis auf etwas bislang noch nicht Unternommenes(nescioquid inopinum intactumque 1 2) vermag den Widerspruch nicht zu loumlsenDie Wendung zeigt zwar dass Martianus die Ungewoumlhnlichkeit seines Ansatzesbewusst war (sofern sich die Phrase uumlberhaupt auf die Komposition des Werkesbezieht)sup3⁴⁴ beseitigt aber nicht das interpretatorische Problem ZuwelchemZweckverbindet Martianus also zwei so widerspruumlchliche Gattungen wie Enzyklopaumldieund Satiresup3⁴⁵

Drei Antwortansaumltze lassen sich grob umreiszligen 1 Die Verbindung ist nuraumluszligerlich bzw oberflaumlchlich 2 durch die Verbindung soll ein bestimmter Aspektparodiert und somit Spott und Kritik ausgesetzt werden 3 die Verbindung erfuumlllt

Dieses Problem hat bereits Westra in seinem Aufsatz bdquoThe juxtaposition of the ridiculousand the sublime in Martianus Capellaldquo benannt (Westra 1981) Allerdings beschraumlnkt sich auchdieser Aufsatz auf die Darstellung des Problems und die Zusammenstellung der Belege EineLoumlsung hat Westra nicht anzubieten ndash sein Aufsatz endet mit der eher apologetischen Bemer-kung das Eingestaumlndnis der Unvereinbarkeit von Satire und Lehrwerk durch Martianus in 9 997sei prima facie ein Spiel dahinter stecke jedoch die Absicht Problembewusstsein zu demon-strieren und Verantwortung fuumlr die unterlassene Loumlsung zu negieren bdquoEven though I would claim that prose and verse must be present in an ancient Menippeansatire it must be seen as one of a number of shocking juxtapositions of oppositesldquo (Relihan 198760) ndash In der Folge kann die prosimetrische Form durchaus auch Mittel belehrender Werkewerden vgl Pabst 1994 133 Denkbar (und wohl wahrscheinlich) waumlre auch dass damit die Inhalte besonders desMythos gemeint sind Der Verweis auf Unterhaltung fuumlhrt nicht zum Kern der Frage denn die satirische Formstellt mehr dar als reine Unterhaltung Auch das horazische Diktum ridentem dicere verum quidvetat ndashsbquolachend das Wahre zu sagen ndash was spricht dagegenlsquo (Hor serm 1 1 23) als Kern vonMartianusrsquo Satireverstaumlndnisses greift zu kurz ebenso wie vergleichbare Konzeptionen in derLiteratur Dort geht es bei Belehrung immer um einzelne philosophische Saumltze (nie beispiels-weise um die Vermittlung von Philosophie an sich) Folglich bezeichnet das bdquoverumldquo nichtkognitives Lernen sondern moralisches Der grundlegende Unterschied zur Konzeption desMartianus liegt somit auf der Hand Vgl zu diesem Aspekt im Allgemeinen z B Shanzer 1986c42 und im Speziellen u a Woytek 1986 339ndash345 Keulen 2009 bes Kap 2 und 3

2 De nuptiis als literarisches Werk 143

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

einen literarischen und belehrenden Zweck zugleich Aufgrund der komplexenSachlage und der unmittelbaren Bedeutung der Beantwortung der Frage nachdieser Verbindung fuumlr das Gesamtverstaumlndnis von De nuptiis werden alle Alter-nativen vorgestellt und bewertet

Rein formale Verbindung von Satire und EnzyklopaumldieEventuell laumlsst sich die Mischung aus enzyklopaumldischen und satirischen Ele-menten (mit den zur Satire gehoumlrigen Verspartien) als Sonderform der Varro-Re-zeption bei Martianus auffassenVarro von Reate verfasste sowohl umfangreicheFachliteratur als auch menippeische Satiren Fuumlr beides war er in der Antikebekannt und beruumlhmt ndash doch ist es wahrscheinlich dass Martianus die Werkebereits nicht mehr ndash oder allenfalls nur in Auszuumlgen ndash vorliegen hattesup3⁴⁶ Aus demWissen um die beiden Schaffensbereiche des republikanischen Autors die beideder Unterweisung dienen solltensup3⁴⁷ koumlnnte Martianus auf den Gedanken verfallensein die literarischen Formen und Inhalte in seinem Werk zu verbindensup3⁴⁸Vielleicht saszlig er auch einemMissverstaumlndnis auf indem ermeinte dass Varro seinsatirisches wie enzyklopaumldisches Koumlnnen in nur einem Werk demonstriert habeDies hieszlige jedoch dass Martianus sich der Problematik dieser Verbindung nicht

So aumluszligert sich beispielsweise Kindermann in den Vorstudien seiner Ausgabe der Conso-latio des Laurentius von Durham Er billigt Martianus nur eine sekundaumlre Varro-Kenntnis zu(Kindermann 1969 60) Entschieden verneint wird die Frage von Schievenin (2009f) und Hadotdie vor allem neuplatonische Quellen vermutet (Hadot 2005 149) Schneider jedoch nimmt andass sowohl Augustin als auch Martianus die Disciplinae noch vorliegen hatten (Schneider 1999109 f) und dass die Satiren-Exzerpte des Nonius Marcellus (fl um 400 in Afrika) ebenfalls ausdem Originaltext Varros angefertigt wurden (ibid 96 Anm 12) Abwaumlgend aumluszligert sich Huumlbner2004 passim Vgl Cic ac 1 8 (es spricht Varro)

et tamen in illis veteribus nostris quae Menippum imitati non interpretati quadam hilaritateconspersimus multa admixta ex intima philosophia multa dicta dialectice quae quo faciliusminus docti intellegerent iucunditate quadam ad legendum invitati

Jedoch findet sich in meinen fruumlhen Schriften die ich in kreativer Nachfolge (und nicht nurUumlbersetzung) Menipps mit einer gewissen Heiterkeit benetzt habe vieles aus den Kernbe-reichen der Philosophie beigemengt und vieles das nach Art der Dialektiker gesagt istdamit die weniger Gelehrten es leichter verstuumlnden nachdem sie durch eine Art von Scherzzur Lektuumlre ermuntert worden sind

Vielleicht hatte Martianus diese Stelle sogar im Kopf als er die Anlage von De nuptiis plante So z BWeinreich in der Einleitung zu seiner Uumlbersetzung roumlmischer Satiren bdquoMartianusCapella glaubte gewiszlig ein Varro redivivus zu sein sozusagen die Quintessenz des Gelehrten unddes Satirikersldquo (Weinreich 1962 XCIII) Ebenso Shanzer 1986c 42

144 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

bewusst gewesen sei ndash was ihm sicher nicht gerecht wird Auszligerdem wird so dieBezugnahme auf weitere formale Elemente der menippeischen Tradition und dieuumlbrigen Vorlaumlufer der Gattung mit anderer Konzeption (Lukian Julian) nichtausreichend beruumlcksichtigt

Ebenfalls beim Autor koumlnnte eine zweite Erklaumlrung ansetzen Im Zuge derAbfassung seiner Enzyklopaumldie hat sichMartianus nach horazischer Vorgabe (unddem Beispiel Varros)sup3⁴⁹ um Auflockerung und heitere Elemente bemuumlht Diespontanen Einfaumllle wurden ins Werk integriert und die sich daraus ergebendenInkonsistenzen entweder uumlbersehen oder billigend in Kauf genommen Beideswuumlrde gut zum klassisch negativen Martian-Bild in der Forschung passensup3⁵⁰Abgesehen davon dass Annahmen uumlber das Vorgehen beim Schreiben weitge-hend auf Spekulation beruhensup3⁵sup1 widersprechen drei Beobachtungen dieser Er-klaumlrung Erstens gelingt es Martianus De nuptiis uumlber neun Buumlcher vorauszu-planen so dass am Ende ein ndash zunaumlchst abgesehen von der Satire-Problematik ndashkohaumlrentes Werk entsteht Die Fuumllle der behandelten Themen Motive und lite-rarischen Elemente weist eher auf ein planvolles Arbeiten hin und macht es un-wahrscheinlich dass Martianus Probleme an dieser Stelle nicht wahrgenommenbzw nicht korrigiert haumltte Zweitens ist die Verbindungvon Satire und den anderenElementen nicht nur oberflaumlchlich so dass sie nachtraumlglich eingefuumlgt sein koumlnnteoder sich im Schreibprozess so ergeben haben koumlnnte Da bereits im zweitenKapitel des ersten Buches Satura eingefuumlhrt wirdwar sie von vornherein Teil des

Gemeint ist das beruumlhmte zunaumlchst nur fuumlr die Dichtung relevante prodesse aut delectare(Hor ars 333 f) zu Varro vgl die schon angefuumlhrte Stelle aus Cic ac Vgl z B die sehr bildliche Beschreibung von C S Lewis bdquo[hellip] this universe which hasproduced the bee-orchid and the giraffe has produced nothing stranger than Martianus Capella[hellip] the curiosity shop of his mind [hellip] a chaos beside which the work of Rabelais has unity andthat of Mandeville probabilityldquo (Lewis 1936 78 f) Gleiches gilt fuumlr Spekulationen uumlber eine andere Auffassung von Literatur und ihrenRegeln in Martianusrsquo Zeit oder Umfeld Einerseits kennen wir keine Texte die sich mit De nuptiisvergleichen lieszligen (was per se nichts beweist aber doch Indiziencharakter hat) andererseitshielten sich auch die spaumltantiken Autoren uumlblicherweise an die klassischen Vorgaben Ich teiledaher auch Schneiders Ansicht nicht der die Skepsis an dieser Verbindung allein der modernenLeseerfahrung zuschreibt bdquoWenn den Heutigen diese Kombination der forcierten Gelehrsamkeiteines Curriculums und der spielerisch-saloppen Causerie seltsam beruumlhren mag so waumlre dazuimmerhin schon an ein ciceronisches Dictum zu erinnern non est enim seiunctus iocus a phi-lologia (ad fam 16214) ndash sbquoSpieltrieb und Pedanterie diktieren und widersprechen sich nichtlsquo(sbquoErste Fruumlhschichtlsquo aus Grassrsquo sbquoHundejahrelsquo)ldquo (Schneider 1999 94 Anm 2) Der Verweis aufCicero traumlgt nichts zum Verstaumlndnis von Martianus bei Cicero geht es an der zitierten Stelle umden Ablauf des Tages mit seinem Schuumller der aus ernsteren und heitereren Abschnitten bestehtDaraus folgt nicht dass das Lernen mit Scherz verbunden ist ndash auszligerdem duumlrfte Cicero unteriocus (sbquo[urbaner] Scherzlsquo) anderes verstanden haben als Martianus in seiner Satura bietet

2 De nuptiis als literarisches Werk 145

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Kompositionsplans Drittens hat Schievenin gezeigt dass Martianus keineswegsoberflaumlchlich und eigenwillig arbeitet Durch eine gruumlndliche Untersuchung derSilen-Passage (8 803ndash805) kann er nachweisen dass Martianus ndash wie vieleAutoren vor ihm ndash uumlber ein umfangreiches literarisches Wissen verfuumlgte daraufbei der Abfassung seines Werkes zugreifen konnte und durch gezielte Anspie-lungen neue Bezuumlge herstelltesup3⁵sup2

Satire als Mittel der KritikWaumlhrend die antike Satire (im Gegensatz zur modernen) nicht zwangslaumlufig Kritikan Missstaumlnden uumlben wollte ist diese Moumlglichkeit umgekehrt auch nicht auszu-schlieszligen Martianus koumlnnte also bewusst eine solide Darstellung der Kuumlnste inliterarischem Gewandmit der Gattung der Satire verbunden haben um Zweifel ander Ernsthaftigkeit der uumlbrigen Teile des Werkes zu wecken Er wuumlrde somit einaufklaumlrerisches Interesse verfolgen das zugleich auch unterhaltsame Zuumlge traumlgt

Eine erste Schwierigkeit dieser Lesart von De nuptiis ergibt sich bereits bei derFrage nach dem Objekt der SatireWerden die Wissensinhalte in Zweifel gezogenoder nur die Art ihrer Vermittlung in langen Reden bzwTraktaten Soll der Glaubean die umfassende Einheit des Wissens kritisiert werden oder die Vorstellungsaumlmtliches Wissen lasse sich vermitteln gar kohaumlrent in einem Werksup3⁵sup3 Ist dieVorstellung dass Wissen goumlttlich mache parodiert oder nur die abwegige Vor-stellung dass auf einer Hochzeit solche Reden gehalten werden Oder richtet sichdie Kritik letztlich gegen die Auffassung Philologia als Vorbild zu sehen oder garals Mittlerin alles Wissens ja sogar als Mittlerin zwischen Menschen und Goumlttern

Aus der Tatsache dass das Objekt der Satire keineswegs leicht zu bestimmenist kann nicht gefolgert werden dass in De nuptiis keine Satire vorliege die be-stimmte Sachverhalte kritisiere Aber es kann durchaus gefolgert werden dass eskeine expliziten textinternen Merkmale gibt die das Lesen steuern und den Ge-genstand der Kritik deutlich hervortreten lassen Die Deutungen gehen also vonmodernen Annahmen uumlber das Umfeld bzw die Gedankenwelt von Martianus aus

Im Kern handle es sich um bdquouna narrazione tersa e brillanteldquo verbunden mit einemDickicht an Verweisen Die Silen-Szene habe einen bdquocarattere colto e della dottrina e dellalingualdquo (Schievenin 1984 132) Das Fazit seiner Untersuchung formuliert Schievenin folgen-dermaszligen bdquoIl De nuptiis si rivela dunque opera di vasti orizzonti non solo per lrsquointento dida-scalico che la pervade e che ne determineragrave la fortuna ma anche per la costante presenza nellafabula della tradizione classica e dei suoi echildquo (ibid 136) Vgl zu dieser Stelle auch Bovey2003 275ndash288 ndash Den geschickten Umgang mit mehreren Quellen ndash erzaumlhlerisch wie seman-tisch ndash kann Schievenin auch fuumlr 7 725ndash727 nachweisen (Schievenin 2009e) So z B Relihan 1993 138 bdquoMartianus writes not an encyclopedia but a Menippean satirethat parodies encyclopedic knowledgeldquo

146 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

und weisen zudem meist nicht kleinschrittig auf wie der Interpret zu seiner (oftapodiktisch dargelegten) Ansicht gelangt

Nun folgt daraus noch nicht dass Martianus De nuptiis nicht als kritisierendeSatire konzipiert haumltte die Vielzahl der (wenn auch differierenden) modernenDeutungenweist ja darauf hin Zwei Uumlberlegungenwenn auch keine schlagendenBeweise lassen die Hypothese der parodierenden Satire unwahrscheinlich wer-den der Umfang von De nuptiis und seine Rezeption Eine Satire die beispiels-weise die Verbindung von Weltwissen und menschlicher Vervollkommnung in-frage stellt benoumltigt nicht noch eine umfassende Darlegung eben diesenWissensDies gilt besonders da diese Darlegung den Hauptteil des Werks ausmacht und ndashzumindest dem Umfang nach ndash die uumlbrigen Partien weit uumlberragt Eine Deutungvon De nuptiis als kritischer Satire muumlsste also besonders die Frage beantwortenzu welchem Zweck die umfangreichen Darstellungen der Freien Kuumlnste aufge-nommen sind (und nicht nur angedeutet werden)

Die Rezeption eignet sich zwar ebenfalls nicht zu sicheren Ruumlckschluumlssen aufdie originale Intention eines Werkes haumlufig bietet sie aber interessante EinblickeDie Martianus-Rezeption stellt sich bald ein Cassiodor beruft sich in seinen In-stitutiones auf ihn Dort erscheint Martianus nicht als Satiriker oder Zeitkritikersondern als Gelehrtersup3⁵⁴ In dieser Tradition wird Martianus auch im Mittelaltergelesen und rezipiertsup3⁵⁵

Aumlhnliches laumlsst sich fuumlr Boethiusrsquo Anknuumlpfen an die prosimetrische Form inder Ausgestaltung von Martianus sagen Boethius verfasst zweifelsfrei keine kri-tische Satire kann aber trotzdem an die Form und den Inhalt von De nuptiisproblemlos anknuumlpfen Sowohl der Form nach wie auch durch einzelne Zitatemacht er deutlich dass erDe nuptiis kennt und als eine seiner Vorlagen benutzt Esist zu bezweifeln dass Boethius in seinem Bemuumlhen um eine adaumlquatewerbendeDarstellung der Philosophie auf Form und Zitate des Martianus zuruumlckgegriffenhaumltte haumltte er nicht die Moumlglichkeit der gefahrlosen Uumlbernahme gesehen

Satirische Elemente als Mittel der BelehrungDer dritte Erklaumlrungsansatz fuumlr die Verbindung von Satire und Belehrung be-trachtet die Wahl Saturas als Figur und die Bezugnahme auf die Gattung zunaumlchst

Cassiod inst 2 2 17 Zur mittelalterlichen Martianus-Rezeption vgl bes Nuchelmans 1950 Lutz 1971 und 1976Willis 1973 sowie die Ausgaben und Literatur u a zu folgenden Werken Konrad von MureFabularius Hugo von Sankt Victor Didascalicon de studio legendi Johannes von SalisburyMetalogicon Kindermann kann weiterhin nachweisen dass De nuptiis auch durch seine Forminspirierend gewirkt hat (Kindermann 1969 61 f)

2 De nuptiis als literarisches Werk 147

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

als reine Fortsetzungder literarischen Form Fuumlr diese spezielle Formder Literaturdie menippeische Satire hat der russische Literaturwissenschaftler MichailBachtin Beobachtungen aufgestellt die auch fuumlr De nuptiis zutreffen Durch denRuumlckgriff auf zwei zentrale Konzepte Bachtins das Karnevaleske und die Dialo-gizitaumlt wird ein Verstaumlndnis von De nuptiis ermoumlglicht

Auf der Suche nach Vorlagen und Urformen der Gattung des Romans ins-besondere in der Form von Dostojewskis Romanen stieszlig Bachtin unter anderemauch auf die menippeische Satire die er bis in die Antike zuruumlckverfolgtesup3⁵⁶ Zuihren Vertretern zaumlhlt er unter anderem Varro Apuleius Petron Seneca oderLukiansup3⁵⁷ Martianus Capella wird nicht erwaumlhnt was aber nicht verwundernmuss da Bachtin keine Literaturgeschichte der menippeischen Satire schriebsup3⁵⁸

Kern der Uumlberlegungen Bachtins zurmenippeischen Satire ist das Konzept desKarnevals Unter Karneval versteht er folkloristische Feste waumlhrend deren diebestehende Ordnung verkehrt wird uumlbliche Regeln nicht mehr gelten Herr-schende gestuumlrzt und Machtlose maumlchtig werden ndash auf Zeit Die Karnevalisierungalso die Uumlbernahme der Kennzeichen dieses Festes in neue oder bestehende li-terarische Formen institutionalisiert diese Ausnahmesituation und loumlst sie vomkonkreten Fest Der so entstandene Text wird bdquozum karnevalesken Spiel an demder Autor und sein Publikum einverstaumlndlich teilhaben und das keines kalen-darisch oder institutionell abgesicherten Karnevalsrahmens mehr bedarfldquosup3⁵⁹

Diese Karnevalisierung fuumlhrt unter anderem zu einer Vielstimmigkeit vonMeinungen und Positionen im Text z B durch mehrere Figurenvon denen keinebevorzugt oder gar als autoritativ gekennzeichnet wird In dieser Dialogizitaumlt wirdkein allgemein guumlltiger Sinnmehr vermittelt sondern dieWahrheit suspendiertsup3⁶⁰

Dass der Bezug auf karnevalsartige Feste der Gattung menippeische Satire (inTeilen auch der Verssatire) eignet zeigt ein kurzer Blick auf wichtige Vertreter derTradition

Julians Symposion Caesares spielt zur Zeit der Saturnalien Die Bedeutungdieses Festes fuumlr das Werk wird dadurch verdeutlicht dass es den Handlungs-

Bachtin 1971 126ndash 135 Bachtin 1971 126 128 132f Kritik an den z T pauschalisierenden und verfaumllschenden Aussagen Bachtins uumlber antikeLiteratur oder an der ununterbrochenen Traditionslinie von der Antike bis in die Moderne (z BRelihan 1987 59 Lachmann 2006 23ndash25) muumlsste auch auf manche moderne Literaturwissen-schaftler in der Nachfolge Bachtins angewandt werden (vgl Branham 2005 6 wo es uumlberSenecas Apocolocyntosis heiszligt bdquoour only extant Menippean satire in Latinldquo) Teuber 1993 182 Eine gut verstaumlndliche Einfuumlhrung in das Konzept der Dialogizitaumlt im Sinne der bach-tinschen Terminologie bietet Sharland 2010 Einfuumlhrung (1ndash51)

148 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

rahmen fuumlr den in der Folge erzaumlhlten Mythos bildet Bereits im ersten Satz wirdauf das Fest und die Tradition Heiteres frei zu erzaumlhlen Bezug genommensup3⁶sup1

Auch Senecas Apocolocyntosis stellt einen engen Bezug zum Saturnalienfesther Das Werk spielt zwar nicht an den Saturnalien sondern am Todestag desClaudius im Oktober doch wird an zwei Stellen eine Verbindung zwischen derHerrschaft des verstorbenen Kaisers und den dargestellten Sitten waumlhrend derRegierungszeit mit dem Saturnalienfest gezogensup3⁶sup2 Manche Interpreten gehensogar davon aus dass die Apocolocyntosis an den Saturnalien des Jahres 54vorgetragen wurdesup3⁶sup3 Auch bei Petron und Horaz finden sich Bezugnahmen aufdie Saturnaliensup3⁶⁴

Ein zentrales Element des Saturnalienfestes liegt in der Suspension der uumlb-licherweise geltenden Normen und Wertesup3⁶⁵ Neben den anderen Elementen desFestes wie sie z B in Macrobiusrsquo Saturnalia (1 7ndash 10 1 24 22 f) beschriebenwerden (traditionelle Geschenke Festmahl fuumlr die Sklaven etc) hat gerade dieUmkehrung der Herrschaftsverhaumlltnisse im Haus Niederschlag in der Literaturgefunden

Gerade durch diese Rolleninversion treten einige wichtige gesellschaftlicheNormvorstellungen und Grundannahmen prominent hervor Dazu zaumlhlt das Be-wusstsein dass es eine befehlende und eine ausfuumlhrende Gruppe von Menschengibt oder dass im Prinzip ein Rollenwechsel moumlglich sein kann Alle Beteiligten

Ἐπειδὴ δίδωσιν ὁ θεὸς παίζειν ndash ἔστι γὰρ Κρόνια ndash hellip (sbquoDa der Gott das Scherzen erlaubt ndashes sind ja die Kronia helliplsquo Caes 1 = 306a Spanheim) Zur Frage ob es sich bei Caesares auch umdas Werk handle auf das zu Ende der Rede auf Koumlnig Helios verwiesen wird (Or in Sol reg 44 =157c Spanheim) vgl Muumlller in seiner Uumlbersetzung (39 ablehnend) und Lacombrade im Vorwortseiner Budeacute-Ausgabe (3 und 18 Anm 3) der aufgrund des Handschriftenbefundes Kronia auchals Titelbestandteil fuumlr die Caesares uumlbernimmt Es handelt sich um Sen apocol 8 1 (Claudius als Saturnalienprinz) und 12 2 (Herrschaftdes Claudius als andauerndes Saturnalienfest) ndash Dass Lukian nicht auf die Saturnalien alsRahmen fuumlr seine Werke zuruumlckgreift entwertet die Beobachtungen nicht Lukian musste auf-grund seines Selbstbewusstseins als satirischer Schriftsteller und aufgrund der Menge seinersatirischen Schriften nicht jedes Mal einen eigenen literarischen Rahmen herstellen in demeinzelne Dialoge stattfinden konnten Das Saturnalienfest selbst erscheint bei Lukian als Ge-genstand der Satire nicht als deren literarische Rahmung (Τὰ πρὸς Κρόνον) Zuerst bei Furneaux 1896 23 Anm 11 In der neueren Forschung vgl bes Nauta 1987Kritisch dazu u a Doumlpp 1993 159 f Petron 44 3 58 2 69 9 zu Horaz vgl z B serm 2 7 (libertas Decembris) Ein gelungenesBeispiel der Anpassung und Anwendung der bachtinschen Konzepte mit Ertrag fuumlr die Inter-pretation unter Einbezug von serm 2 7 bietet Sharland 2010 Distelrath 1999 114 Vgl weiterhin Versnel 1993 136ndash227 und Doumlpp 1993 Eine plastischeSchilderung der Rollenvertauschung bei der der Sklave dem Herrn die Leviten liest bietet Horserm 2 7

2 De nuptiis als literarisches Werk 149

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Herren wie Sklaven spielen also mit den Moumlglichkeiten einer alternativen Wirk-lichkeit

Das Besondere im Spiel mit den Moumlglichkeiten liegt aber in seiner zeitlichenBegrenzung Nach der Zeit des Ausnahmezustands gelten wieder die normalenimmer guumlltigen Regeln Die Rolleninversion erlaubt also ndash oder erzwingt gera-dezu ndash das Nachdenken uumlber bestimmte gesellschaftliche Normen und Wertvor-stellungen Durch die Ritualisierung und enge zeitliche Begrenzung ist darausjedoch keineswegs die Notwendigkeit entstanden die Verhaumlltnisse tatsaumlchlich zuhinterfragen oder gar zu aumlndern Daher lassen sich die Saturnalien auch als ein dieKonventionen bestaumlrkendes Fest verstehen Das Spiel mit der Moumlglichkeit eineranderen Gesellschaftsordnung hat durch seine Ritualisierung letztlich eine dieTradition legitimierende Funktion bekommen

In De nuptiis finden sich jedoch houmlchstens spaumlrliche Hinweise auf das Sa-turnalienfest Am ehesten weist das grob scherzende Agieren Saturas in diesenBereich Die bdquolangen Winternaumlchteldquo (1 2) koumlnnten (statt als Bezug auf Gellius) alsAnspielung auf das Saturnalienfest verstandenwerden ndash die Saturnalien finden inden laumlngsten Naumlchten uumlberhaupt statt seit der Kaiserzeit vom 17 bis 23 DezemberDies ndash wie die Spekulation uumlber eine spielerische etymologische Verbindung vonSatura und Saturnaliensup3⁶⁶ ndash ist aber insofern nicht von Belang da die Gattung alsGanze karnevaleske Zuumlge traumlgt und als gewissermaszligen institutionalisierter Kar-neval vom eigentlichen Fest losgeloumlst istsup3⁶⁷

Die Aufhebung der uumlblichen Ordnung (was Teuber im Ruumlckgriff auf Limina-litaumltskonzepte als praumlliminale Phase bezeichnet)sup3⁶⁸ beginnt mit der VorbereitungPhilologias zum Aufstieg in den Himmel Bereits das Erbrechen stellt eine mar-kante Umkehrung der alltaumlglichen Welt dar Statt sich Wissen anzueignen er-bricht Philologia es nun In der Goumltterversammlung auf der Milchstraszlige ist dieOrdnung sodann voumlllig verkehrt Philologia als Meisterin aller Disziplinen und

Zwar sind die einschlaumlgigen etymologischen Woumlrterbuumlcher skeptisch (v a WaldeHof-mann 2007 II 482 neutral ErnoutMeillet 2001 596) jedoch gibt es dahin gehende moderneDeutungen (aufgefuumlhrt bei WaldeHofmann 2007 II 482) und auch antike ParallelisierungenCic nat deor 2 64 Saturnus hellip est appellatus quod saturaretur annis (sbquoSaturn hellip wurde ergenannt weil er an Jahren gesaumlttigt istlsquo) Fulg myth 1 2 (p 17 16) a saturando Saturnus dictusest (sbquoDa er (die Menschen) saumlttigt wurde er Saturn genanntlsquo) Aug cons euang 1 23 35 Sa-turnus tamquam satur hellip νοῦς (sbquoSaturn gleichsam der gesaumlttigte hellip νοῦςlsquo) Vgl auch Gowers diedie etymologischen Verbindungen von satura Satyrspiel und Saturnalien untersucht (Gowers1993 109ndash 117) Sie kommt zu dem Befund dass keine Verbindung bestehe wohl aber verbin-dende Elemente identifiziert werden koumlnnten bdquocarnival licence parody uninhibited mockeryand excessive consumptionldquo (ibid 117) Vgl z B Teuber 1993 183 f Teuber 1993 183

150 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

bedeutende Lehrinstanz muss sich ihrerseits belehren lassen ndash mit dem Wissendas urspruumlnglich ihres war

Durch die Inversion wird die (vielleicht uumlblicherweise nicht prominente)Philologia in den Mittelpunkt geruumlckt und ihre zentrale Rolle im Wissenssystemtritt markant vor Augen Gleichzeitig kann darin eine leise Anfrage an ihre Lehr-autoritaumlt und eventuell auch ihre Eignung zur Lehre gesehen werden

Aufgrund des zeitlich begrenzten Rahmens der Verkehrung (diemit dem Endeder Vortraumlge voruumlber ist aber nicht explizit zuruumlckverwandelt wird) dessen Be-grenztheit durch Bezug auf die Form der menippeischen Satire ergaumlnzt werdenkann wird das System der Bildung und der Bildungsvermittlung jedoch nichtgrundsaumltzlich infrage gestellt Die Suspendierung Philologias ist temporaumlr

Dem Konzept der Dialogizitaumlt oder Mehrstimmigkeit folgend erklaumlrt sich auchdie Doppelung und Verunklarung der Erzaumlhlinstanz In den drei Dialogen indenen Satura und Martianus aufeinandertreffen behandeln sie die Frage desrichtigen Erzaumlhlens Dies beschraumlnkt sich nicht nur auf die Satire sondern umfasstalle auftretenden literarischen Formen Martianus und Satura sind sich uneinswie weit der Mythos reichen soll und ob eine Enzyklopaumldie trocken oder auchunterhaltsam erzaumlhlt werden soll (2 219ndash3 222) ob ein Symposion auch Zechenund Spaszlig vertraumlgt (8 803ndash810) oder ob und wie stark Satire Dinge vermischendarf (9 997ndash 1000)

Die unterschiedlichen Meinungen zu den Fragen werden zwar diskutiert undfuumlhren zu einem Ergebnis ndash der Erzaumlhlfluss versiegt ja an keiner Stelle oder setztneu an Allerdings entsteht in der Folge kein homogenes Werk und am Schlussmag keiner der beiden Erzaumlhler dafuumlr die Verantwortung uumlbernehmen Der Wi-derwillen sich zu dem Werk zu bekennen bedeutet aber gleichzeitig auch dassMartianus sich nicht festlegt welche Position er fuumlr die richtige haumllt Die Fragenach der rechten Art der Wissensvermittlung die auch in der Ent- und Inthroni-sierung Philologias anklang bleibt unbeantwortet

Schlieszliglich bringt der Blick auf die Aurelian-Vita aus der Historia Augustanoch einen weiteren Aspekt ein Parallel zur Aufteilung der Erzaumlhlinstanzen in Denuptiiswird der Erzaumlhlprozess in derHistoria Augusta aufmehrere AutorenverteiltWie zuerst Hermann Dessau und in der Folge Ronald Syme nachdruumlcklich gezeigthaben handelt es sich allerdings um nur einen Verfasser der uumlberdies auch inBezug auf die Abfassungszeit falsche Angaben gemacht hat und Quellen erfundenhatsup3⁶⁹ Insofern laumlsst sich der in der Historia Augusta gepraumlgte Begriff der

Auf den Charakter der Sammlung die Syme u a als bdquohoaxldquo bezeichnet (1983a 11 1983b13 1983c 219) die fingierten Autoren die manipulierten Quellen etc soll an dieser Stelle nurhingewiesen werden Vgl auch Cameron 2011 Kap 20 mit ausfuumlhrlicher Diskussion relevanterFragen

2 De nuptiis als literarisches Werk 151

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mythistoria der Vermischung von Mythischem und Historischem auch auf dieSammlung selbst anwendensup3⁷⁰

Als Menippee im engeren Sinne laumlsst sich weiterhin die Aurelian-Vita die 26Vita der Sammlung fassen und bezeichnenderweise spielt die Rahmenhandlungan denHilariasup3⁷sup1Wie zu den Saturnalien gehoumlren zu diesem Fest Scherze und ndash imRahmen von Maskierungen ndash Rollenwechselsup3⁷sup2

Noch in der rahmenden Einleitung zur Vita spielt sich folgender Dialog ab

1 et quoniam sermo nobis de Trebltellgtio Pollione qui a duobus Philippis usque ad divumClaudium et eius fratrem Quintillum imperatores tam claros quam obscuros memoriaeprodidit in eodem vehiculo fuit adserente Tiberiano quod Pollio multa incuriose multabreviter prodidisset me contra dicente neminem scriptorum quantum ad historiam pertinetnon aliquid esse mentitum prodente quin etiam in quo Livius in quo Sallustius in quoCornelius Tacitus in quo denique Trogus manifestis testibus convincerentur pedibus insententiam transitum faciens ac manum porrigens iocando[m] praeterea sbquoscribelsquo inquit sbquout

quae ille [scil Iunius Cordus] omnia exsequendo libros mythistoriis replevit talia scribendocum omnino rerum vilium aut nulla scribenda sint aut nimis pauca si tamen ex his morespossint animadverti qui re vera sciendi sunt hellip sed ex parte ut ex ea cetera colligantur(SHA Opil 1 5)

Bei der Anfuumlhrung von all diesen Informationen hat er die Buumlcher mit fabuloumlsen Ge-schichten angefuumlllt indem er Dinge von dieser Art schrieb wo doch uumlberhaupt keinenutzlosen Dinge geschrieben werden duumlrfen oder nur sehr wenige sofern daraus Verhal-tensweisen erkannt werden koumlnnen die wirklich wissenswert sind hellip aber zum Teil(schreibe ich) damit daraus das Andere gefolgert werden kann

quid Marius Maximus homo omnium verbosissimus qui et mythist[h]oricis se voluminibusinplicavit num ad istam descriptionem curamque descendit (SHA Quadr tyr 1 2)

Wie Hat sich Marius Maximus der groumlszligte Schwaumltzer vor dem Herrn der sich in seinenmythistorischen Werken verfangen hat etwa zu dieser Art der Darstellung und des sorg-faumlltigen Arbeitens herabgelassen

Hilaribus quibus omnia festa et fieri debere scimus et dici impletis sollemnibus vehiculo suome hellip Iunius Tiberianus accepit (SHA Aurelian 1 1)

An den Hilaria an denen alles zum Fest Gehoumlrende getan und gesagt werden muss wieman weiszlig empfing mich nach Erledigung der Zeremonien Iunius Tiberianus in seinemGefaumlhrt

Pausch bemerkt dieses besondere Datum zwar und erwaumlgt ob es sich um ein bdquoweitergehendesLesesignalldquo beispielsweise im Sinne karnevalesker Literatur handeln koumlnne verfolgt diese Spuraber nicht weiter (Pausch 2011 130 Anm 1) Herodian 1 10 5 ndash Einige Hinweise auf die Hilaria die im Kontext des Magna Mater-Festesam 25 Maumlrz gefeiert wurden bietet Fraser in seinem Kommentar zu Ovids Fasti (Fraser 1929244ndash248)

152 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

libet 2 securus quod velis dices habiturus mendaciorum comites quos historicae elo-quentiae miramur auctoreslsquo (SHA Aurelian 2 1ndash2)

1 Und weil unser Gespraumlch uumlber Trebellius Pollio der von den beiden Philippi bis zumvergoumlttlichten Claudius und dessen Bruder Quintillus gleichermaszligen uumlber beruumlhmte wieunbekannte Kaiser fuumlr die Nachwelt schrieb in derselben Saumlnfte stattfand behauptete erdass Pollio vieles ohne Sorgfalt und nur kurz dargelegt habe Ich erwiderte dass keinSchriftsteller sofern es um die Geschichte gehe nicht irgendwo gelogen habe und legtesodann dar worin sogar Livius Sallust Tacitus schlieszliglich sogar Trogus mit eindeutigenBelegen uumlberfuumlhrt werden koumlnnten Darauf sagte Tiberianus schlieszliglich scherzend indem ermeiner Meinung beipflichtete und mir seine Hand darbot bdquoSchreibe sowie du es fuumlr richtighaumlltst 2 Sage unbesorgt was du willst du wirst diejenigen als Gefaumlhrten fuumlr deine Taumlu-schungen haben die wir als Schoumlpfer historiographischer Beredsamkeit bewundernldquo

So sympathisch dieser Anspruch auch erscheinen mag ist er doch fuumlr das Ver-trauen in die Gattung der Geschichtsschreibung fatal Gerade in der Einleitungeiner Vita jedoch ndash zumal es der Fiktion nach die erste des Flavius Vopiscus Sy-racusius im Corpus der Historia Augusta ist ndash kann eine solche Anekdote ei-gentlich keinen Platz haben Sie erweckt beim Leser den Eindruck dass er dennachfolgend dargebotenen Informationen kein Vertrauen schenken duumlrfesup3⁷sup3

Die Parallelen zwischen der Historia Augusta insbesondere dem Vorgehen inder Vita Aureliani und De nuptiis liegen auf der Hand Verunklarung der Autor-schaft bzw der Erzaumlhlhaltung einerseits Erwecken von Zweifeln an der Glaub-wuumlrdigkeit des Dargebotenen andererseits

In der Historia Augusta sind die Inkongruenzen mit der Freude des Autors amliterarischen Spiel erklaumlrt worden Der Autor habe aus Freude am Fabulieren(vielleicht auchumein dafuumlr empfaumlngliches Publikum zu befriedigen) die Viten indieser Form verfasstsup3⁷⁴ Mag man dies fuumlr die Historia Augusta noch zugestehenderen Text uumlber einen laumlngeren Zeitraum vielleicht zunaumlchst ohne eine Gesamt-konzeption entstanden ist und auch sprachlich nicht herausragt stellt sich derSachverhalt fuumlr Martianusrsquo De nuptiis anders dar Das Werk hat durchaus einenliterarischen Anspruch und es folgt eindeutig einer vorab geplanten Gesamtan-lage Die Freude am Spiel mag vielleicht manches Detail beigesteuert haben fuumlrdie verschraumlnkte Anlage des Textes ist sie aber keine Erklaumlrung

Ganz anders ist der Anspruch zum Ende der Darstellung der Viten der bdquoDreiszligig Tyrannenldquoin dem der Autor beteuert seinem Werk mangele es zwar an literarischer Ausgefeiltheit nichtjedoch an Faktentreue da nunc cuivis libellum non tam diserte quam fideliter scriptum ndash sbquoGibnun dieses Buumlchleinwem du magst es ist nicht so sehr kunstvoll geschrieben wie es sachgetreuistlsquo (SHA Quadr tyr 33 8) Syme nennt dies bdquodeceit for its own sweet sakeldquo (1983c 217) Im gleichen Aufsatz spe-kuliert er auch uumlber das Interesse des Publikums an einer solchen Art von geistigem Spiel(ibid 221)

2 De nuptiis als literarisches Werk 153

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Es lohnt sich jedoch auch fuumlr die Historia Augusta einen Schritt weiter zugehen Ausgangspunkt dafuumlr ist die obige Beobachtungdass das literarische Spielder Historia Augusta nur durchschaut wer die Werke der historischen Literaturkennt Durch die Lektuumlre historiographischer Biographien bringt der Leser einebestimmte Leseerwartung also implizite Vorstellungen mit wie das Werk aus-sehen soll und wird Diese Erwartungen werden aber nicht oder nur teilweisebedient Formal gesehen weisen die Viten in der Historia Augusta zwar die Cha-rakteristika der Gattung auf ndash doch indem sie sie inhaltlich nicht adaumlquat aus-fuumlllen treten deren Konventionen vor Augen

Durch die uumlbermaumlszligige Verwendung falscher Verweise und erfundener Quel-len geraumlt zudem das Beglaubigungsverfahren historischer Texte in den Blick-punkt Der Leser erkennt anwelchen Stellenwelche Beglaubigungsmechanismenansetzen und auf welche Weise sie unterlaufen werden koumlnnen Uumlberspitzt lieszligesich behaupten DieHistoria Augusta verfolgt ein aufklaumlrerisches Interesse indemsie (spielerisch) aufzeigt welche Beglaubigungsverfahren die Geschichtsschrei-bung nutzt und wie sie manipuliert werden koumlnnen dadurch wird auch die Ma-nipulierbarkeit von Geschichte und Leser deutlich

In De nuptiis werden ebenfalls die Konventionen der Einzelgattungen ndash zu-mindest ansatzweise ndash hervorgehoben Dass kein perfektes Musterbeispiel derjeweiligen Einzelgattung entstehen kann liegt darin begruumlndet dass durch dieVerbindung der vier literarischen Genres keine oberflaumlchliche Konsistenz derFiktion entstehen kannVielmehr entstehen Bruumlche die ndash ebenso wie die Bruumlchein der Erzaumlhlhaltung ndash auch die Gattungskonventionen und ihre Annahmendeutlich werden lassen Dies gilt besonders fuumlr die Satire deren Vorgehen imKontrast zur eigentlichen Hochzeitshandlung aus dem Rahmen faumlllt und somitbesonderes Augenmerk erhaumllt Hinzu tritt mit der Figur Satura auch eine Perso-nifikation der Gattung die in theoretischen Diskussionen Annahmen und Vor-gehen mit Martianus eroumlrtert Grunduumlberlegungen der Gattung Satire werden sotheoretisch eroumlrtert und praktisch erprobt Gleiches giltwenn auch zT inwenigerdeutlicher Form auch fuumlr die anderen Formen Die Enzyklopaumldie in ihren langenMonologen wird durch Spott markiert die trockenen Kuumlnste werden probeweisedurch Allegorien zugaumlnglicher gemacht im Symposiondialog wird uumlberlegt in-wieweit uumlbliche Rollenmuster (der Zecher) einen Platz haben oder wie weit mandie fuumlr die Feier typischen Reden fuumlhren kann und immythischen Teil wird durchdie Gegenuumlberstellung mit dem handfesten Wissensbetrieb die Andersartigkeitdes Erzaumlhlens deutlich

So werden neben den Inhalten der Wissenschaften auch verschiedene lite-rarische Formen bewahrt Neben der reinen Anwendung und somit Tradierungwerden gleichzeitig auch die Mechanismen verdeutlicht deren sich die jeweilige

154 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Gattung bedient Somit wird ihr Funktionieren nachvollziehbar und in der Folgeauch nachahmbar

3 Zusammenfassung

Martianus weckt also durch die Wahl mehrerer gleichberechtigter Erzaumlhler diesomit das Erzaumlhlen unzuverlaumlssig werden lassen besonders aber durch dieUumlbernahme satirischer Gattungselemente ein Bewusstsein fuumlr die traditionellenGrundlagen desWissens- und Lehrsystems seiner Zeit ImGegensatz zur Satire diediese Fragen kategorisch stellt handelt es sich in De nuptiis um ein Spiel damitDer Satirebezug dient als Anknuumlpfung an die traditionellen Gattungsmerkmaleder menippeischen Satire Karnevaleske und Dialogizitaumlt

Durch die (temporaumlre) Rolleninversion richtet sich das Augenmerk aufPhilologia als Wissenszentrum und Wissensmittlerin und fordert zum Nach-denken daruumlber heraus Im Kern hinterfragt das Werk alle Bereiche die mit Bil-dung und Bildungsvermittlung zu tun haben Was sind die Inhalte wahrer Bil-dung Gibt es eine Einheit von Bildung Wie kann sie vermittelt werden

Allerdings zielt die Kritik nicht auf eine Aufloumlsung klassischer Bildungsinhalteund Vermittlungsformen Sie regt vielmehr durch Scherz und Bruumlche zumNachdenken uumlber diese Fragen an Dabei verzichtet Martianus auf eigene Vor-schlaumlge und Konzepte und festigt so gleichsam den traditionellen Bildungs-betrieb Das von ihm dargestellte Wissen wird kanonisiert und die Darstel-lungsform in langen Reden wird es auch Die mittelalterliche Rezeption von Denuptiis zeigt dies eindrucksvoll

Wissen umfasst dabei nicht nur das Faktenwissen der Vortraumlge sondern auchdas Wissen um bestimmte literarische Formen Durch die Verbindung von vierGattungen und die Doppelung der Erzaumlhlerfigur mit Reflexion uumlber angemessenesErzaumlhlen entstehen Inkonsistenzen die die Konventionen der einzelnen Gattun-gen hervortreten lassen Nicht alle Elementewerden auf dieseWeise deutlich aberMartianus bietet einen Ansatzpunkt die Fiktion auch unter der Fragestellung zulesen was einen Text der jeweiligen Gattung ausmacht ndash sowohl positiv wie ne-gativ formuliert

Mit seiner kreativen Konzeption und ihrer literarischen Umsetzung gelingt esMartianus eindrucksvoll Heiteres und Belehrendes zu verbindenwomit er an dieTradition Varros und die klassische antike Poetik anknuumlpft Es gelingt ihm daruumlberhinaus aber auchWissen zu vermitteln und die traditionellen Vorstellungen vonder Bedeutung dieses Wissens wie der Form seiner Vermittlung herauszustellenSpielerisch wird also gelehrt und hinterfragt nicht jedoch kategorisch kritisiertoder kuumlhn neu entworfen Gerade dadurch zeichnet sich Martianusrsquo De nuptiis

3 Zusammenfassung 155

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

tatsaumlchlich als nescioquid inopinum intactumque (sbquoetwas Ungewohntes und nochnie Gewagteslsquo 1 2) aus und macht es zu einem der bedeutendsten Buumlcher derSpaumltantike und zu einer interessanten Quelle fuumlr die Frage nach Bildungsvor-stellungen im fuumlnften Jahrhundert

156 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Page 3: Bildungsvorstellungen im 5. Jahrhundert n. Chr. (Macrobius, Martianus Capella und Sidonius Apollinaris) || III Martianus Capella, De nuptiis Philologiae et Mercurii

Heimatort zumindest aber Geburtsort des Martianus ist Karthago wie sichzweifelsfrei aus 9 999 einem Teil der das Werk beschlieszligenden Sphragis ergibt

beata alumnum urbs Elissae quem videt

auf den das gluumlckliche Karthago als Sohn blickt

Zu dieser Aussage passt auch die in der Forschung haumlufig wiederholte Feststel-lung Martianusrsquo Stil weise eindeutig nordafrikanische Elemente auf dies wird anParallelen zum Werk unter anderem des Apuleius aufgezeigtsup2⁶⁰ Dies wird auchdurch den Namenszusatz afer Carthaginiensis in einer Handschrift gestuumltztsup2⁶sup1

Quae virtus et quanta boni sit vivere parvo (discite) ndash sbquo(Erfahrt) ihr guten Menschenwelch eine Tugend es ist und eine wie groszlige mit nur bescheidenen Mitteln auszukom-menlsquo

Iam modo iam possim contentus vivere parvo ndash sbquoBald schon moumlchte ich zufrieden mitmeinen bescheidenen Mitteln leben koumlnnenlsquo

Die Diskussion geht von wenigen Versen aus die schwer verstaumlndlich bis korrupt sind Imdas Werk beschlieszligenden Gedicht sagt Satura uumlber Martianus

bdquoFelicisldquo inquit bdquosed Capellae flamineindocta rabidum quem videre saeculaiurgis caninos blateratus pendereproconsulari verba dantem culmini hellipldquo (9 999)

bdquoAber von der heiszligen Luft des Felix Capella (inspiriert)ldquo sagte sie bdquoden ungebildeteZeiten sahen wie er vernichtend in Zankereien huumlndisches Geklaumlff beurteilte indem erder prokonsularischen Hoheit Worte (zu houmlren) gab hellipldquo

So deutlich die Anspielungen auf eine oumlffentliche Taumltigkeit sind so vage und unverstaumlndlichbleiben sie auch Die Mehrheit der Forscher ist allerdings der Auffassung dass hier von eineranwaltlichen Taumltigkeit des Martianus die Rede ist oder zumindest eine Taumltigkeit beschriebenwird die oumlffentliches Reden nutzte (also z B als Rhetor) Dazu passt auch die Erwaumlhnung desAmtes des Prokonsuls (9 999) ohne dass deutlich wird ob Martianus das Amt selbst bekleidethat oder vor dem Amtstraumlger gesprochen hat

Eine weitere Stelle macht die Verbindung mit oumlffentlichen Auftritten plausibler In einemInterludium wirft Satura Martianus vor er habe vor lauter Haarspaltereien auf dem Forum diewahre Beschaumlftigung aus den Augen verloren so dass er nun nicht einmal mehr Philosophiaerkenne (6 575) Wird auch hier wiederum nicht deutlich welchen Beruf genau Martianusausgeuumlbt hat so impliziert dies doch er habe oumlffentliche Reden gehalten Eine mehr alsgrundlegende literarische Bildung ergibt sich aus der Menge und Diversitaumlt der literarischenVorlagen und philosophischen Kenntnisse vgl v a Shanzer 1986c und Bovey 2003 Vgl Shanzer 1986c 2 Stahl 1971 29 und 32 Pabst 1994 124 Stahl 1971 12 Grebe 1999 12 Der Namenszusatz findet sich in der Handschrift G in derSubskription zum ersten Buch

116 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Die Unsicherheiten in Bezug auf Martianus umfassen auch die Datierung Dersichere Zeitrahmen ist durch die letzte zu ermittelnde verwendete Quelle AristidesQuintilianus und die erste explizite Bezugnahme durch Fulgentius gegebensup2⁶sup2bleibt mit den Eckdaten 34 Jahrhundert und Mitte 6 Jahrhundert allerdings sehrweit

Die Bezeichnung der Heimatstadt Karthago als beata (sbquogluumlcklichlsquo 9 999) bzwinclita pridem armis (sbquoeinst durch seine Waffen beruumlhmtlsquo 6 669) hat daher auchgenaueren Datierungsversuchen einen Ausgangspunkt geboten Jedoch lassensich aus diesen Attributen Karthagos ebenso wenig Indizien fuumlr eine Datierungableiten wie aus der Verwendung des Namens Byzanz fuumlr Konstantinopel (6 670)oder der Erwaumlhnung des Prokonsulamtes in Karthago (9 999)sup2⁶sup3

Aus einer Stelle im Buch uumlber die Geographie laumlsst sich jedoch einigermaszligensicher ein terminus post quem ableiten

Umbri mox Latiumque atque ostia Tiberina dehincque ipsa caput gentium Roma armisvirissacrisque quamdiu viguit caeliferis laudibus conferenda (6 637)

Dann schlieszligen sich an die Umbrer und Latium und die Tibermuumlndung sodann Rom selbstHauptstadt aller Voumllker das Ruhm bis zu den Sternen verdiente solange es noch durchWaffen Maumlnner und Heiligtuumlmer erstrahlte

Die knappe Einschraumlnkung quamdiu viguit verweist auf eine bereits vergangeneZeit der Groumlszlige Roms und wird von den meisten Interpreten mit der Eroberungdurch die Westgoten 410 gleichgesetzt Andere Ereignisse namentlich die Pluumln-derung der Stadt durch die Vandalen im Jahre 455 kommen nicht in Betrachtsup2⁶⁴

Die Abfassung von De nuptiis nun unmittelbar auf die Jahre nach 410 anzu-setzenwie Cameron es tutsup2⁶⁵ ist dabei nicht zwingend Zum einen kannMartianusdie Eroberung als Epochenbruch aufgefasst haben und auch Jahrzehnte spaumlternoch von der fruumlheren d h ungebrochenen Macht Roms sprechen zum anderen

So LeMoine 1972a 8 Die Diskussion fassen Grebe 1999 11ndash21 und Shanzer 1986c 1ndash28 zusammen ZumProkonsulamt vgl auch Schievenin 2009d und Cristante 1978 699f Cameron 1986 326 Cameron begruumlndet dies mit Hinblick auf die angefuumlhrte Stelle da dieVandalen die Stadt nicht entvoumllkerten also die Einschraumlnkung Roma armis viris sacrisquequamdiu viguit nicht auf den Vandalenuumlberfall zutrifft Grebe haumllt in quamdiu viguit eine Be-zugnahme auf 455 oder 468 (Niederlage der byzantinischen Flotte vor Karthago) dagegen fuumlrmoumlglich (Grebe 2000 355) Cameron 1986 326 datiert De nuptiis auf die Zeit unmittelbar nach 410 da Rom nur dannentvoumllkert gewesen sei die Bewohnerzahl habe wenige Jahre darauf wieder ein aumlhnliches Ni-veau wie vor 410 erreicht

1 Vita 117

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

koumlnnen im Trikolon armis viris sacrisque auch verschiedene Arten des Nieder-gangs (Eroberung sowie allmaumlhlicher Verfall) verbunden seinsup2⁶⁶

Ein textexterner Faktor fuumlr die Bestimmung des terminus ante quem ist eineSubskription zum ersten Buch von De nuptiis die sich in einer Reihe von Hand-schriften findetsup2⁶⁷ Sie lautet

Securus Melior Felix v(ir) sp(ectabilis) com(es) consist(orianus) rhetor Urbis R(omae) exmendosissimis exemplaribus emendabam contra legente Deuterio scolastico discipulomeo Romae ad portam Capenam cons(ulatu) Paulini v(iri) c(larissimi) sub V nonarumMartiarum Christo adiuvante (Subskription zu Buch 1 in den Handschriften ABDGR)

Ich Securus Melior Felix vir spectabilis comes consistorianus Rhetor der Stadt Rom habe(das Buch) aus aumluszligerst fehlerhaften Exemplaren verbessert wobei Deuterius Student derRhetorik ein Schuumller von mir gegenlas Rom bei der Porta Capena unter dem KonsulPaulinus vir clarissimus am 5 Maumlrz mit Christi Hilfe

Trotz der vielen genauen Angaben laumlsst sich das Jahr der Abschrift durch SecurusMelior Felix nicht genau bestimmen In der fraglichen Zeitspanne gab es zweiKonsuln mit dem Namen Paulinus (498 und 534 n Chr) Klassischerweise wurdebei Datierungen der Zusatz senior hinzugefuumlgtwenn es zwei Konsuln des gleichenNamens gab so dass die Datierung ohne einen Zusatz auf den fruumlheren Konsulund damit das Jahr 498 fallen musssup2⁶⁸

Fuumlr die Datierung der Abfassung von De nuptiis sind nun noch einige Jahreabzuziehenum die Verbreitung der Schrift von Afrika nach Rom und einen Verfallder Manuskripte zu ermoumlglichen Beides muss jedoch keinesfalls lange gedauerthaben

Eine sichere und genaue Datierung des Werks und des Autors ergibt sich ausden vorgestellten Argumenten zwar nicht Sie bieten aber einige Anhaltspunktedafuumlr dass De nuptiis nach 410 und einige Zeit vor 498 abgefasst wurdesup2⁶⁹

Ebenso Stahl 1971 14 und Shanzer 1986c 5 Zur Diskussion um diese Subskription vgl bes Preacuteaux 1975 Cameron 1986 Shanzer 1986c9 Voumlssing 2008 389f Voumlssing 2008 390 ndash Solch formalistische Regeln an Subskriptionen anzulegen erscheintzunaumlchst schwierig doch in diesem Fall angesichts der weiteren exakten Angaben als durchauszulaumlssig Zu spaumltantiken Subskriptionen und ihrem Aussagewert vgl Cameron 2011 Kap 12ndash 13 Eine Datierung in die Zeit der bdquorenaissance vandaleldquo (der Begriff wurde von Pierre Richeacutegepraumlgt vgl auch Hays 2004) wie Grebe es anhand von kulturgeschichtlichen Uumlberlegungenversucht ist nur moumlglich wenn die Identifizierung des Konsuls Paulinus mit dem erstenAmtstraumlger dieses Namens infrage gestellt wird Grebes Argumentation setzt bei der unsicherenIdentifikation des Paulinus an Sie erwaumlgt sodann eine Abfassung unter den vandalischenHerrschern Gunthamund und v a Thrasamund die die Kultur gefoumlrdert haumltten (Grebe 1999 20 f)

118 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

2 De nuptiis als literarisches Werk

Bereits eine erste unbefangene Lektuumlre von De nuptiis hinterlaumlsst den Eindruckdass Martianus ein anspruchsvolles und komplexes Werk hinterlassen hat Nacheiner kurzen Szene zu Beginn in der sich der Erzaumlhler Martianus mit seinem Sohnunterhaumllt und die am Ende als Rahmen wieder aufgegriffen wird beginnt einemythische Schilderung der Hochzeitsvorbereitungen von Merkur und PhilologiaMerkur macht sich mit Hilfe von Virtus auf die Suche nach einer Braut sucht undfindet Apoll der ihm die sterbliche Philologia als Braut vorschlaumlgt bittet denGoumltterrat um die Genehmigung zur Hochzeit und erhaumllt sie (Buch 1) Als Philologiavon dem Plan erfaumlhrt uumlberlegt sie mit kabbalistisch anmutenden Berechnungenob die Ehe guumlnstig sei bereitet sich auf die Hochzeit durch eine Reinigung vor beider sie ihr bisher gesammeltes Wissen erbricht und steigt in einer Saumlnfte uumlber dieHimmelssphaumlren auf zur Milchstraszlige wo die Hochzeit stattfindet (Buch 2)Waumlhrend der Hochzeitsfeierlichkeiten laumlsst der Ehemann zu Ehren der Brautsieben Brautjungfern auftreten die ihr dienen sollen Diese stellen in langenReden ihr Wissen vor Es sind die spaumlteren sieben freien Kuumlnste (Buumlcher 3 bis 9)Eingelegt in diese Berichte sind kurze Szenen von der Hochzeitsfeier und Wort-wechsel zwischen dem Erzaumlhler Martianus und einer weiteren Erzaumlhlerfigur Sa-tura

Leser von De nuptiis besonders moderne sehen sich vor vielfaumlltige Fragenund Probleme gestelltwenn sie versuchen die Schrift mit ihren unterschiedlichenAspekten zu verstehen Eine umfassende Interpretation ist aber gerade bei diesemWerk Voraussetzung fuumlr eine Beantwortung nachrangiger Fragen Daher soll indiesem Teil ein Beitrag zum Gesamtverstaumlndnis von De nuptiis versucht werdenDer Zugang soll rein literarisch erfolgen woran sich einige weitere Uumlberlegungenanschlieszligen

Eine Analyse der literarischen Form von De nuptiis muss folgende beidenAspekte beruumlcksichtigen einerseits die Anknuumlpfung an Gattungstraditionenund ndash damit verbunden ndash die Frage nach der literarischen Form von De nuptiis alsGanzem andererseits die narrative Gestaltung des Werkes

Die FormvonMartianusrsquoDe nuptiis zu bestimmen ist keine einfache AufgabeDies liegt an der Vielzahl von Bezuumlgen und kompositorischen Ideen die eineeindeutige Identifizierung erschweren Ausdruck findet dieser Umstand darindass in dermodernen Forschung verschiedene Elemente benanntwerden die eineGattungszuordnung ermoumlglichen Das Ergebnis ist jedoch meist eine Aufzaumlhlung

und engt den Zeitraum der Abfassung auf die Herrschaft Thrasamunds (496ndash523) ein (Grebe2000 363ndash365 bes 368)

2 De nuptiis als literarisches Werk 119

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

vonmoumlglichen Zuordnungen die eine Festlegung vermeidetsup2⁷⁰Die Untersuchungwird besonders vier Traditionsstraumlnge fokussieren das Lehrbuch bzw die Enzy-klopaumldie die Symposionliteratur die mythisch-allegorische Erzaumlhlung und diemenippeische Satiresup2⁷sup1 Es wird nach dem Zweck der Anknuumlpfung an diese Tra-ditionen zu fragen sein um dann zu pruumlfen welche Wirkung die Verbindungdieser Formen hervorruft

Einen besonderen Schwerpunkt wird die Herausarbeitung der satirischenElemente in De nuptiis darstellen Trotz ihrer relativen Prominenz sind bislangnicht alle Elemente beachtet wordensup2⁷sup2 Und da aus diesen Beobachtungenwichtige Folgerungen fuumlr das Gesamtverstaumlndnis vonDe nuptiis abgeleitet werdenmuumlssen diese zunaumlchst ausfuumlhrlich erhoben werden

Eingelagert in die Analyse der satirischen Elemente von De nuptiis wird dieFrage nach der narrativen Gestaltung unter dem Blickwinkel der Erzaumlhlinstanzenthematisiert In der Schrift konkurrieren zwei Erzaumlhlerfiguren Martianus undSatura um die Verantwortung fuumlr das Erzaumlhlte wie um das richtige Vorgehen beimErzaumlhlen Es ist zu bestimmen in welchem Verhaumlltnis beide Erzaumlhlerfiguren zu-einander stehen und welchem Zweck diese Doppelung dient

21 Die literarische Form

EnzyklopaumldieIm Gegensatz zu Macrobiusrsquo Saturnalia ist De nuptiis dem Sohn nicht als Werk derBelehrung gewidmetVielmehr spricht Martianus von der fabella (1 2) bzw fabula

Paradigmatisch ist die Konstatierung der Aporie bei LeMoine die nach der Aufzaumlhlungvon Vorbildern das Kapitel zur literarischen Form ohne weitere Uumlberlegungen so abschlieszligtbdquobut the De nuptiis in the diversity of its content language and form is truly unlike anythingwritten either before or sinceldquo (LeMoine 1972a 8) Vgl auch Relihan bdquoit is a mixture thatfrustrates senseldquo (Relihan 1993 15) Bisherige Interpretationen haben jeweils unterschiedliche Traditionen benannt und derVermischung der Formen wenig Beachtung geschenkt EnzyklopaumldieLehrbuch (Marinone 197018 Lommatzsch 1904 190) Lehrbuch mit menippeischen Momenten (Dronke 1994 36)menippeische Satire (LeMoine 1972a 7) menippeische Satire und Symposionform (Petrovićovaacute2004 85) Mischung aus Enzyklopaumldie menippeischer Satire und platonischem Mythos (Barnish1986 98) menippeische Satire und Epithalamium (Cristante im Vorwort seiner Ausgabe 3 und21 Bovey 2003 10) Mischung aus philosophischem und allegorischem Roman (Boumlttger 1947590) Allegorie mit Fachschriftstellerei (Guillaumin 2008 168) Roman mit Elementen desSymposions (Stahl 1971 26) Mischung aus menippeischer Satire Allegorie fabula und Sym-posiondialog (LeMoine 1972b 214) Gelegentlich wird das satirische Element in De nuptiis sogar deutlich heruntergespielt oderumgedeutet vgl u a Grebe 1999 855 f Petrovićovaacute 2010b

120 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

(2 219) die das Buch ausmacht und die der Sohn houmlren bzw der Leser lesen sollsup2⁷sup3Erscheint es zunaumlchst so als ob die Erzaumlhlungmit dem zweiten Buch endet und abdem dritten nur ernste Abhandlungen folgen sollen (2 219 f) korrigiert Martianusdiesen Eindruck jedoch gleich zu Beginn des dritten Buches Dort laumlsst er sich voneiner nicht benannten Muse (Camena) das Versprechen abnehmen auch weiter-hin fiktionale Elemente zu nutzen

Der anfaumlnglich ins Auge gefasste Verzicht auf Fiktion (fictum) fuumlr die fol-genden wissenschaftlichen Partien (disciplinae sobriae)sup2⁷⁴ betont jedoch derenRelevanz und das Interesse an zuverlaumlssiger Belehrung Waumlhrend sich fuumlr denInhalt der Buumlcher 1 und 2 eine Erzaumlhlung als gut geeignet erwies widersprachdiese fuumlr Martianus dem Wesen der anschlieszligenden Vortraumlge welchen dadurchgroumlszligeres Gewicht zufaumlllt

Der scheinbare Konflikt wird dadurch geloumlst dass die Vortraumlge an sich in dergeplanten trockenen Form gehalten werden Sie sind jedoch in die uumlber alle neunBuumlcher fortgesetzte Erzaumlhlung der Hochzeit Merkurs mit der Philologie einge-bettet Der Handlungsfortschritt zwischen den Vortraumlgen ist nicht groszlig sondernbeschraumlnkt sich meist auf das Evozieren von Eindruumlcken und die Bezugnahme auftraditionelle gattungsspezifische Elemente (vgl z B die Elemente des Symposi-ondialogs)

Dass Martianus schlieszliglich das ganze Werk mit seinen erzaumlhlenden und be-lehrenden Teilen als fabula betrachtet wird in der abschlieszligenden Sphragisdeutlich Dort heiszligt es

Habes anilem Martiane fabulammiscillo lusit quam lucernis flamineSatura Pelasgos dum docere nititurartes daggercagris vix amicas Atticis (9 997)

Da hast du Martianus eine Altweibergeschichte welche bei Kerzenschein Satura mit ge-mischtem Liede [d h in Prosa und Vers] spielend hervorbrachtewaumlhrend sie sich bemuumlhtedie Pelasger zu lehren die Kuumlnste die den Griechen kaum freundlich [d h neu] sind

Der Begriff des mythos der dreimal in De nuptiis auftritt ist eng auf den allegorischenInhalt der Buumlcher 1 und 2 beschraumlnkt und entspricht in etwa dem was Macrobius unter narratiofabulosa versteht (Bovey 2003 38ndash42) Beide Wendungen 2 220 ndash Zur Frage der Bezeichnungen als artes bzw disciplinae in-klusive der Begriffsentwicklung vgl Bovey 2003 64ndash87

2 De nuptiis als literarisches Werk 121

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

So unklar der Inhalt der Wendung Pelasgos docere istsup2⁷⁵ wird doch deutlich dassMartianusmit den vorausgegangenen 9 Buumlchern belehrenwolltewas allein schondie systematische Anlage (sieben Kuumlnste Reflexion uumlber weitere Wissenschaftenin 9 891) und die Fuumllle des Stoffes nahelegen

Der enzyklopaumldische Teil umfasst die Buumlcher 3 bis 9 von De nuptiis Zunaumlchsttreten die Kuumlnste Grammatik Dialektik und Rhetorik auf und stellen ihre Disziplinvor (Buumlcher 3 bis 5) Davon deutlich abgesetzt durch einen Hymnus auf PallasAthene zu Beginn von Buch 6sup2⁷⁶ folgen die Wissenschaften des spaumlteren Qua-driviums Geometrie Arithmetik Astronomie und Harmonie (Buumlcher 6 bis 9)Diese werden wiederum in zwei Zweiergruppen unterteilt Eine unmittelbareVorlage dafuumlr laumlsst sich nicht erkennen aber auch bei Boethius findet sich eineZusammenfassung der vier mathematischen Faumlcher die von der Forschung aufNikomachos von Gerasa zuruumlckgefuumlhrt wirdsup2⁷⁷ Eine Anordnung nach steigendemAnsehen der Kuumlnste ist auch durch Groumlszlige und Zusammensetzung des Gefolgesund die Reaktionen der Goumltter erkennbarsup2⁷⁸

Die Vortraumlge der Kuumlnste selbst entsprechen dem Charakter von Fachschriftenwas vor allem auf der streckenweise woumlrtlichen Wiedergabe der zugrunde lie-genden Quellen beruht Durch den Umfang den kleinschrittigen Aufbau und diesprachliche Sproumldigkeit wirken diese Reden wie ein Fremdkoumlrper in der Ge-schichte der Hochzeitsfeierlichkeiten und lassen manchen anwesenden Gottmuumlde werden oder gereizt reagierensup2⁷⁹

In der Regel sind die Vortraumlge aus einer odermehrerenVorlagen uumlbernommenwobei Martianusrsquo Eigenbeitrag vor allem in der Auswahl und Zusammenstellungder Quellen liegt Ein prominentes Beispiel fuumlr Martianusrsquo Vorgehen ist die Be-zeichnung Konstantinopels als Byzanz (6 670) Die Stelle kann nicht ndash wie haumlufiggeschehen ndash zur Datierung herangezogen werden sondern offenbart Martianusrsquo

Cristante versteht die Stelle woumlrtlich wenn er formuliert Martianus wolle das baumlurischeItalien belehren (Cristante 1978 679) waumlhrend Parker die Bedeutung des Wortes Pelasgi garnicht genau bestimmen moumlchte (Parker 1890 454) Zu dieser Passage und der Bedeutung dieses zweiten sbquoBinnenprooumlmslsquo vgl Bovey 2003227ndash237 sowie Zaffagno 1998 Rechenauer 1994 Sp 1177 Waumlhrend Grammatik allein eintritt (3 223) wird Harmonia von vielen auch beruumlhmtenBegleitern eingefuumlhrt und ihr Einzug wird von Musik begleitet (9 905ndash909) Ihr Vortrag ruft beiden Goumlttern Freude hervor (9 996) waumlhrend der Vortrag von Grammatik neutral zur Kenntnisgenommen wird (3 326) und der Vortrag von Dialektik aufgrund des Unwillens der Zuhoumlrersogar abgebrochen werden muss (4 423) Vgl Relihan 1987 64 und Bovey 2003 10 die voneinem bdquoparcours ascendant et cycliqueldquo spricht 4 423 5 565 6 723

122 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

unkritischen Umgangmit seinen Quellensup2⁸⁰Meist liegt der Darstellungder Kuumlnstenicht jeweils eine Fachschrift zugrunde sondern sind mehrere Werke heran-gezogen und zusammengestelltsup2⁸sup1

Die Auswahl der Faumlcher erfolgt nicht willkuumlrlich Die Tradition der um-fassenden Bildung die sich hinter dem Begriff der ἐγκύκλιος παιδεία verbirgtsup2⁸sup2der von Martianus auch in lateinischer Uumlbersetzung verwendet wirdsup2⁸sup3 umfassteim Laufe der Jahrhunderte einen wechselnden Faumlcherkanon Im Kern waren je-doch immer sowohl sprachliche Faumlcher als auch im weiteren Sinne mathemati-sche Faumlcher darin vertretensup2⁸⁴ Die Siebenzahl war dabei nicht kanonisch eskonnten auch neun Faumlcher (Varro) dazugehoumlren oder ein nicht genau umrissenerFaumlcherkanon (Boethius)sup2⁸⁵

Gegenuumlber der Tradition stellt Martianusrsquo Faumlcherauswahl keine grundlegendeNeuerung dar Grammatik Rhetorik und Dialektik waren meist Bestandteil derumfassenden Bildung und auch Geometrie Arithmetik Astronomie und Musikgehoumlrten haumlufig dazusup2⁸⁶ Der Ausschluss weiterer Kuumlnste wie der Medizin und der

Vorlage ist an dieser Stelle Plinius (Plin nat 5 24f) Vgl Grebe 2000 354 Typisch ist dieEinschaumltzung Krapingers der De nuptiis ein niedriges fachliches Niveau bescheinigt (bdquoevidentesachliche Defiziteldquo Krapinger 1999 962) Vgl auch die Anrufung Minervas zu Beginn desQuadriviums 6 574 in der Martianus explizit um Inspiration in Bezug auf die griechischenKuumlnste bittet Ein Blick in den Similienapparat zeigt dass Martianus fuumlr das sechste Buch uumlber dieGeometrie hauptsaumlchlich auf drei Autoren zuruumlckgegriffen hat Solinus Plinius und Euklid Vglauch Willisrsquo Anmerkung in seiner Ausgabe non moris fuisse Martiano ut per integrum librumunum sequeretur auctorem (309) Sehr aufschlussreich ist beispielsweise die Untersuchung vonBarbara Ferreacute in der Einleitung zur Ausgabe (xxiv-xxvii) Vgl auch die Beitraumlge von Schievenin(2009a und 2009b) die neben der unmittelbaren Fragestellung auch eine weitere Einordnungbieten Einen konzisen und modernen Uumlberblick uumlber die Entwicklung des Konzeptes bietetRechenauer 1994 Die Monographie von Hadot (Hadot 2005) ist immer noch das Standardwerk 9 998 (disciplinae cyclicae) Hadot 2005 265ndash267 Marrou 1958a 2 Teil bes die Uumlbersicht 216ndash217 Rechenauer 1994Grebe 1999 37ndash50 Uumlber die Siebenzahl ihren Ursprung ihre Festlegung sowie ihre endguumlltige inhaltlicheFuumlllung ist bislang kein Konsens erzielt worden deutlich ist aber dass Martianus Capella undAugustin bei ihrer Kanonisierung und Ausgestaltung eine entscheidende Rolle gespielt habenbdquoLa question de lrsquoorigine du cycle des sept arts libeacuteraux est irreacutesolue et en partie insoluble maisles deux auteurs drsquoorigine africaine [Martianus Capella und Augustin] jouegraverent un rocircle con-sideacuterable dans le triomphe de ce programme drsquoeacutetude au moyen acircgeldquo (Zelzer 2003 249) ndash ZurNeunzahl der Faumlcher bei Varro als Anlehnung an die Musen vgl Huumlbner 2004 S die in Anm 284 genannte Literatur

2 De nuptiis als literarisches Werk 123

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Architektur wirdmit Verweis auf den fortgeschrittenenAbendund diemenschlich-praktische Seite der Faumlcher erklaumlrtsup2⁸⁷

Im Detail nimmt Martianus aber durchaus Aumlnderungen vor So geht es imneunten Buch von De nuptiis nicht um die Musik im Allgemeinen sondern um dieHarmonie Diese Umgewichtung steht sicher in Zusammenhang mit der verbin-denden und vereinigenden Grundkonzeption von De nuptiis die zu Beginn desersten Buches (1 1) durch den Hymnus auf Hymenaeus den verbindendenHochzeitsgott ausgedruumlckt wurdesup2⁸⁸ Unterstuumltzt wird diese Eigenwilligkeit durchdie praktische Darbietung von harmonischem Gesang der die theoretischenAusfuumlhrungen ergaumlnzt und steigert (9 911ndash919 9 996)

Auch bei der Behandlung der Geometrie in Buch 6 greift Martianus in dietraditionelle Darstellung des Wissens ein Anstatt die Ausfuumlhrungen auf geome-trische Fragen und Lehrsaumltze zu beschraumlnken erweitert Martianus sie um einenausfuumlhrlichen geographischen Teil der um einiges laumlnger ist als der geometrische(Geographie 6 586ndash703 Geometrie 6 705ndash723) Ferreacute erkennt dahinter vor al-lem ein literarisches Ziel Die vorhandene Stoffmenge zur Geometrie sei zu kleingewesen so dass Martianus sie habe erweitern muumlssen damit das sechste Buchnicht bedeutend kuumlrzer werde als die uumlbrigen Buumlchersup2⁸⁹

Veraumlndert Martianus also gelegentlich aus kompositorischen Gruumlnden dietraditionelle Darstellung der Kuumlnste so kann man dies auch in der Zusammen-fuumlhrung der vielen Spezialschriften in einemWerk erkennenUmfasst das Konzeptder ἐγκύκλιος παιδεία zwar einen breiten Faumlcherkanon an den sich Martianusauch weitgehend haumllt so ist die Darstellung aller Faumlcher in nur einem Werk un-gewoumlhnlich

Uumlblich war die Form der Abhandlung der die Beschaumlftigung mit einer Dis-ziplin zugrunde lag Als Beispiele kann auf nahezu alle antiken fachwissen-schaftlichen Schriften verwiesen werden Ausnahmen sind allein die Sammel-schriften die aber explizit andere Ziele verfolgen und keinen Fachbereichgruumlndlich bearbeiten

Diese Feststellung gilt auch fuumlr die anderen Autoren mit teilweise sbquoenzyklo-paumldischemlsquo Programm z B Augustin oder Boethius Augustins bdquoBildungspro-grammldquosup2⁹⁰ umfasste aumlhnliche Faumlcher wie Martianus sie versammelte doch ver-

9 890ndash891 Hadot nimmt an dass diese Disziplinen nicht per se als unwichtig angesehenoder in bewusster Abgrenzung von Varro ausgeschlossen worden seien sondern weil sie nichtzur bdquoSchau der goumlttlichen Weisheitenldquo fuumlhren wuumlrden (Hadot 2009 16) Zu dieser Stelle und zu dem im Hymnus ausgedruumlckten philosophisch-poetischen Pro-gramm vgl LeMoine 1972a 14 Stahl 1971 86 Relihan 1993 61 Schievenin 2009c So Ferreacute im Vorwort ihrer Ausgabe xlvi Den Begriff verwendet Studer 2007 522

124 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

fasste Augustin zu den einzelnen Disziplinen jeweils eine eigene Schrift (mit derFolge dass er nicht alle Faumlcher behandelt hatte als er das Projekt aufgab wohlaber einige Themen abgearbeitet und die Buumlcher erschienen waren)sup2⁹sup1 Aumlhnlichverhaumllt es sich mit Boethius der sich etwa einhundert Jahre spaumlter ebenfalls mitverschiedenen Wissensbereichen beschaumlftigte Trotz der Leistung des Martianussetzte Boethius sein Vorhaben aber so um dass er den verschiedenen Disziplineneinzelne Abhandlungen widmetesup2⁹sup2

Allein Varro hat seinem breiten Œuvre an Spezialschriften auch noch ein imengeren Sinne enzyklopaumldisches Werk zugefuumlgt die Disciplinae Darin beschaumlftigtsich Varro mit dem gleichen Faumlcherkanon wie Martianus (unter zusaumltzlicherAufnahme der Medizin und Architektur) Da das Werk aber verloren ist und auchnur spaumlrliche Testimonien vorhanden sind laumlsst sich nicht abschaumltzen inwieferntatsaumlchlich eine einheitliche Schrift vorgelegen hat und welches Ziel Varro mit ihrverfolgtesup2⁹sup3

MartianusrsquoWerkDe nuptiis ist die erste erhaltene Enzyklopaumldie der Antike undduumlrfte somit maszliggeblich zum heutigen Verstaumlndnis des Begriffs der Enzyklopaumldieals eines einzigenWerkes das alles Wissen enthaumllt beigetragen haben Der Grundfuumlr Martianusrsquo ungewoumlhnliches Vorgehen duumlrfte in dem augenscheinlichen Plander Verbindung aller Disziplinen liegen der auch zu Beginn des Werkes durch diePreisung des Hymenaeus ausgedruumlckt wirdsup2⁹⁴

Zu Augustins Plan vgl retract 1 6 (Per idem tempus quo Mediolani fui baptismum per-cepturus etiam disciplinarum libros conatus sum scribere ndash sbquoZu der Zeit als ich in Mailand balddie Taufe empfangen sollte habe ich versucht auch Buumlcher uumlber die Faumlcher zu schreibenlsquo)begonnen und teilweise erhalten sind gramm mus und evtl dialect Neben den Schriften zur Theologie und zur Logik sind die Schriften zur Arithmetik(arithm) zur Musik (mus) und zur Rhetorik (in top divis) zumindest teilweise erhalten Hinzukommen Uumlbersetzungen astronomicher und geometrischer Fachschriften Zu Boethiusrsquo Fach-schriften und seinem Programm vgl Chadwick 1981 69ndash107 Das spaumlrliche Wissen spiegelt auch die knappe Einfuumlhrung von Cardauns 2001 Sie um-fasst fuumlr die Disciplinae inklusive Literaturverweisen knapp zwei Seiten (77ndash78) und bietet wenigsichere Informationen Eine interessante gleichwohl stark negative Antwort auf die Zusammenstellung derKuumlnste in einem Werk bietet Voumlssing der damit gleichzeitig aber auch die Einzigartigkeit desVorgehens herausstellt bdquoWas in den mittelalterlichen Kloumlstern als Summe antiker Bildung galtwar wohl nur das Resultat der Selbstdarstellung eines ehemaligen Advokaten der dem gebil-deten Publikum seiner Stadt demonstrieren wollte dass er mehr konnte als plaumldieren und mehrwusste als der normale scholasticus den uumlberlieferten prestigetraumlchtigen Bildungsstoff allersieben artes ndash der uumlblicherweise nur in einzelnen Fachbuumlchern (und bezogen auf einzelneDisziplinen) praumlsentiert wurde ndash in einem Werk zusammenzufassen und einzubetten in einironisches literarisches Spiel So hoffte er beides zu haben den Ruhm der Bildung und den derparodistischen Distanzierung An eine spezifische Programmatik dachte er bei seiner Enzyklo-

2 De nuptiis als literarisches Werk 125

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Welches (philosophische oder literarische) Konzept dahinterstand und in-wieweit Martianus sein Vorhaben uumlberzeugend umsetzen konnte wird unter-schiedlich bewertetsup2⁹⁵Wie das Urteil auch ausfaumlllt gilt es doch zu beachten dassneben den enzyklopaumldischen Teilen mit ihrem traditionellen Inhalt in teils tra-ditioneller teils neuer Form auch andere narrative Strategien zum Einsatz kom-men die fuumlr eine umfassende Deutung und Bewertung ebenfalls beruumlcksichtigtwerden muumlssen

Literarisches SymposionEine andere Gattungstradition die fuumlr die Anlage von De nuptiis genannt werdenmuss ist die Form des literarischen Symposions In diesem Punkt besteht eineVerbindung zu Macrobiusrsquo Saturnalia deren Symposionform im entsprechendenKapitel untersucht worden istsup2⁹⁶

Auch inDe nuptiis lassen sich einige konstitutiveMerkmale eines literarischenSymposions aufzeigen Das Geschehen in den Buumlchern 3ndash9 spielt anlaumlsslich einerFeierlichkeit (der Hochzeit) an einem besonderen Ort (auf der Milchstraszlige)sup2⁹⁷ andem sich geladene Gaumlste (Goumltter Heroen etc) versammeln Den Vorsitz der Fei-erlichkeiten hat (gewissermaszligen als Symposiarch) Jupiter inne Es gibt zwar keineungeladenen Gaumlste doch Silen erfuumlllt die Rolle des Zechers und er verlaumlsst dieFeier vorzeitig (8 805) Auch die Liebe kommt nicht zu kurz indem Venus ihreReize spielen laumlsst (6 704) Voluptas mit Merkur flirtet (7 725ndash727) und Hymen-aeus mit seinem anzuumlglichen Gesang das Geschehen der Hochzeitsnacht zu-

paumldie ebenso wenig wie er seinen Platz im sbquoLehrplan des Abendlandeslsquo vorhersehen konnteldquo(Voumlssing 2008 404) Weit verbreitet ist die Ansicht Martianus habe eine Art Summe der antiken Gelehrsamkeiterstellt (Cristante im Vorwort seiner Ausgabe 27 Ferrarino 1969 2 Bovey 2003 20 Cristante2009 [3] Schievenin 2009a 77) Die gegensaumltzliche Position formuliert bereits Parker bdquo[I]t isclear that the seven arts were never supposed to include the whole circuit of human knowledgeMartianus Capellarsquos list was a reduction of Varrorsquos and Varrorsquos was not supposed to include allknowledgeldquo (Parker 1890 459) S o Kap II4 Dort werden auch die typischen Merkmale dieser literarischen Form vor-gestellt Die Milchstraszlige in der Darstellung bei Martianus greift zwei Aspekte auf die allerdingsschon lange vor ihm verbunden worden sind Einerseits ist die Milchstraszlige der Ort an den dieauszligergewoumlhnlichen Menschen nach ihrem Tod gelangen (Cic rep 6 16 Manil 1 758ndash800)andererseits ist auch die Vorstellung nicht ungewoumlhnlich dass dort der Wohnsitz der Goumltter zufinden sei (Ov met 1 170ndash 176 Manil 1 801ndash804) Bei Martianus versammeln sich dort dieGoumltter doch ist dies auch der Ort an den die vergoumlttlichte Philologia gelangt ndash abgesehen vonden uumlbrigen herausragenden Menschen die sich im Gefolge sbquoihrerlsquo Brautjungfer dort versam-meln

126 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mindest andeutet (9 902 f) wenn die Ausfuumlhrung auch nicht beschrieben wird(9 996)

Das auffaumllligsteMerkmal sind aber die Reden die gehaltenwerden Sie aumlhnelnzwar nicht dem Inhalt wohl aber der Form nach der monologischen Anlage derSymposiongespraumlche bei Platon oder (stellenweise) Macrobius Ebenso passt derInhalt Bildungswissen an sich zu einem Symposion auch wenn er hier sehrausfuumlhrlich und ohne Ruumlcksicht auf die primaumlren Adressaten die Goumltter prauml-sentiert wird Bei Platon sowie bei Martianus scheint der Inhalt der Gespraumlche imVorfeld noch nicht festzustehen wie die Auswahl der jeweils naumlchsten RednerindurchApoll (3 223 4 328 8 8109 891) bzw Paidia (7 728) oder die Diskussion umden Fortgang der Feier bzw die noch folgenden und auszuschlieszligenden Reden(= Kuumlnste) zu Beginn von Buch 9 zeigtsup2⁹⁸

Die Anordnung der Redebeitraumlge nach steigender Relevanz und die unter-brechungsfreie Praumlsentation der Reden erinnert ebenfalls ans platonische Sym-posion Schlieszliglich nimmt das Spiel mit der Erzaumlhlinstanz (Satura oder Martianus)die verschachtelte Erzaumlhlsituation bei Platon oder Macrobius mit ihren verschie-denen Berichtsebenen auf und formt sie umsup2⁹⁹

Mythisch-allegorische ErzaumlhlungZu den bereits genannten literarischen Vorlagen von De nuptiis tritt ein weiteresElement hinzu dessen Bedeutung und dessen eigene Vorlagen nur schwer zubestimmen sind

Besonders Shanzer weist in ihremKommentar zum ersten Buch vonDe nuptiiswiederholt auf die orphischen gnostischen und philosophisch-religioumlsen Ele-mente in den sehr bildhaften aber streckenweise schwer verstaumlndlichen erstenbeiden Buumlchern hinsup3⁰⁰ Eine umfassende Interpretation des Mythos bietet sie je-doch nicht Vielmehr beschraumlnkt sie sich auf Verweise zur Herkunft einzelnerMotive und auf die Deutung kuumlrzerer Passagen

Kupke kommt bei einer Musterung der verschiedenen mythischen Reminis-zenzen im zweiten Buch von De nuptiis zu der Feststellung dass eine eindeutige

Ein zentraler Unterschied besteht jedoch darin dass die Vortraumlge nicht von den Gaumlstengehalten werden sondern dass die Gaumlste also die Goumltter nur Zuhoumlrer sind waumlhrend die Kuumlnstereden Hierin erinnert De nuptiis eher an Julians Caesares in denen die versammelten Goumltter jaauch wenig sprechen wohl aber die roumlmischen Kaiser die ndash wenn auch um einiges knapper ndashihre Leistungen darstellen Ausfuumlhrlicher dazu im weiter unten folgenden Abschnitt uumlber die Erzaumlhlinstanzen Shanzer 1986c passim

2 De nuptiis als literarisches Werk 127

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

und kohaumlrente Decodierung aller Verweise undAnspielungen nichtmoumlglich seisup3⁰sup1Ihrer Ansicht nach ist es dem modernen Leser nurmehr moumlglich einzelnen Ver-weisen nachzugehen und sie aufzuzeigensup3⁰sup2

Trotz der benannten Schwierigkeiten darf bei allen Fragen nach literarischenVorlagen nicht vergessen werden dass De nuptiis vor allem (aber nicht aus-schlieszliglich) auch ein allegorisches Werk ist Die imposante Schilderung der vierFluumlsse in Buch 1 Apoll auf demParnass-Huumlgel die allegorischen Figuren undvieleweitere Elemente sind nicht nur kreative literarische Erfindungen sondern for-dern zu einer uumlbertragenen Lesart des Werkes auf Besonders die ersten beidenBuumlcher die den Mythos enthalten muumlssen aus diesem Blickwinkel gelesen undverstanden werden

Zu verweisen ist auszligerdem auf die Bezeichnung der Erzaumlhlung als fabula oderfabella Neben der naheliegenden Bedeutung von sbquoErzaumlhlung Geschichtelsquo imallgemeinen Sinn ist sicher auch an die Diskussion um die Berechtigung von fa-bulae in Macrobiusrsquo Somnium-Kommentar zu denken Dort verteidigt Macrobiussowohl Platon als auch Cicero gegen den Vorwurf fiktive Geschichten zu benut-zen um philosophische Wahrheiten zu verkuumlnden In bestimmten Faumlllen seidieses Vorgehen gerechtfertigt solange es sich um wahrhaftige und belehrendeErzaumlhlungen handlesup3⁰sup3 Diese Voraussetzung kann man auch fuumlr De nuptiis alserfuumlllt ansehen Da Martianus zudem dem Neuplatonismus aumlhnlich nahesteht wieMacrobiussup3⁰⁴ ist von einer bewussten Entscheidung zugunsten einer literarischenDarstellung auszugehen

Den einzigen Versuch einer umfassenden Deutung verschiedener Elementedes Mythos und der allegorischen Darstellung hat ndash unter Vernachlaumlssigung ei-niger Details ndash bislang Lenaz unternommen In der ausfuumlhrlichen Einleitungseines Kommentars zum zweiten Buch von De nuptiis untersucht er die philoso-phisch-religioumlsen Motive in diesem Buch und kann Verbindungen zur Myste-

Kupke 1998 154 Kupke 1998 159 Fuumlr den spaumltantiken und den mittelalterlichen Leser glaubt sie jedoch andie Moumlglichkeit der problemlosen Dekodierung Macr somn 1 2 21 vgl oben Anm 45 Gerade die neuplatonischen Elemente von De nuptiis sind verschiedentlich benannt wor-den auch wenn nicht immer eine einheitliche Deutung geboten wird Haumlufig genannt wird derAufstieg Philologias in den Himmel uumlber die Sphaumlrenstufen der mit einer bdquoRuumlckkehr der Seeleldquogleichgesetzt wird (z B Bovey 2003 11 Lenaz 1975 113 vgl auch Guillaumin 2008) Hinge-wiesen wird auch auf die drei Frauen die Merkur nicht heiraten wollen (Sophia Mantike undPsyche 1 6ndash7) und die drei Seelenteile darstellen sollen deren Summe aber letztlich Philologiaist (Lenaz 1975 107ndash 110) Dagegen vertritt Kupke die These die neuplatonischen Elementetruumlgen keine zusaumltzliche Sinnebene bei (Kupke 1998 153) kritisch aumluszligern sich BednařiacutekovaacutePetrovićovaacute 2010 7

128 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

rieninitiation zu platonischen Mysterien chaldaumlischen Orakeln magischenPraktiken und zur Theurgie nachweisen Im Deutungsteil verwirft er die ThesenNuchelmansrsquo und Mathonssup3⁰⁵ als zu kurz greifend Nuchelmans hatte in derHochzeit Philologias und Merkurs (mittelalterlicher Kommentar-Tradition fol-gend) eine Forderung von Martianus nach der Vereinigung von Wissen (Philo-logia) und Rhetorik (Merkur) gesehen Mathons Ansatz fuumlhrte den Verweis auf dieneuplatonische Wieder-Erinnerung und die Ruumlckkehr der Seele in dieses Modellein Ebenso wie bei Nuchelmans werden auch hier nur wenige Elemente desMythos interpretiertsup3⁰⁶

Lenazrsquo eigener Ansatzsup3⁰⁷ folgt den Uumlberlegungen Ferrarinossup3⁰⁸ und ergaumlnzt siemit einigen Hypothesen Im Kern kreise der Mythos des zweiten Buches um einedoppelte Vereinigung die (horizontale) Vereinigung allen irdischen Wissens inPhilologia mit Hilfe von Hymenaeus und die (vertikale) Vereinigung der goumlttlichenund menschlichen Sphaumlre mit Hilfe von Eros Hinzu treten Uumlberlegungen ob essich bei Philologia und Merkur eventuell um nur eine Entitaumlt handle die Seelewelche getrennt worden sei und nun wieder zusammenfinde

Diese Lesart integriert die meisten der mythischen und allegorischen Ele-mente und verbindet sie weitgehend schluumlssig zu einem umfassenden KonzeptAllerdings vernachlaumlssigt sie auch bestimmte EinzelbeobachtungenWieso steigtPhilologia vom Sphaumlrenrand wieder auf die Milchstraszlige hinab (2 200 2 206)Wieso werden ihr auf der Milchstraszlige die irdischen Kuumlnste vorgefuumlhrt die sieerbrechenmusste damit sie in den Himmel aufsteigen konnte (2 135 f)sup3⁰⁹ Bereitsdiese Fragen zeigen deutlich dass eine kohaumlrente plausible Aufloumlsung des Mythosnicht leicht moumlglich ist

Nuchelmans 1950 Mathon 1969 Lenaz 1975 105 Aumlhnliches gilt auch fuumlr Hadots Deutung Sie identifiziert Merkur mit demaumlgyptischen Gott Theuth auf den in De nuptiis 2 102 f angespielt wird und nennt ihn diebdquoPersonifizierung der goumlttlichen Vernunftldquo waumlhrend Philologia die Personifizierung dermenschlichen Vernunftseele in deren idealem Zustand darstelle Die sieben Wissenschaften unddie sieben mantischen Kuumlnste ermoumlglichten es der Seele bdquozu ihrem Ursprung dem intelligiblenBereich oder zu Gottldquo zuruumlckzukehren (Hadot 2009 21 f) Lenaz 1975 106ndash 119 Ferrarino 1969 Dieses Problem entfiele wenn man annaumlhme dass Martianus die Erzaumlhlung nur auf dieersten zwei Buumlcher angelegt habe und erst danach die Moumlglichkeit einer Verbindung mit der inden Buumlchern 3 bis 9 folgenden Enzyklopaumldie erkannt habe Dafuumlr gibt es zwar Hinweise (bes dieDiskussion um die FiktionalitaumltUnterhaltung) am Ende von Buch 2 und zu Beginn von Buch 3doch duumlrfte man annehmen dass Martianus den Grundkonflikt von zuruumlckgelassenem Wissenund erneut geschenktem Wissen erkannt und behoben haumltte

2 De nuptiis als literarisches Werk 129

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Weiterhin uumlberbetont der Versuch den Mythos allein aus sich heraus zu er-klaumlren den Stellenwert des zweiten Buches im Gesamtwerk Als Interpretations-rahmen zwar wichtig tritt er bei fortschreitender Lektuumlre hinter die praktischeDarstellung der sieben Kuumlnste zuruumlck Diese nehmen nicht nur mehr Raum einsondern uumlberlagern die Darstellung im zweiten Buch und reduzieren somit auchderen Bedeutung Der Mythos ist also einwichtiger keineswegs jedoch der einzigeBestandteil von De nuptiis

Menippeische SatireDas auffaumllligste literarische Kompositionselement von De nuptiis ist jedochzweifellos die Wahl des Prosimetrums die Mischung von Prosapartien mit me-trischen Einheiten Der uumlberwiegende Teil des Werks ist in Prosa gehalten inwelchen 33sup3sup1⁰ metrische Partien eingelegt sind Dabei sind die Gedichte nichtregelmaumlszligig uumlber das gesamte Werk verteilt sie finden sich uumlberwiegend an ex-ponierten Stellen besonders an den Buchanfaumlngen und Buchenden Bei denmetrischen Partien innerhalb eines Buches handelt es sich fast ausschlieszliglich umGoumltterreden

Die beobachtete unregelmaumlszligige Verteilung der metrischen Partien unter-scheidet sich deutlich von der Gestaltung wie sie Boethius wenige Jahrzehntespaumlter inDe consolatione Philosophiae einsetzt Dort sind diemetrischen Partien inHinblick auf die Gesamttextmenge haumlufiger und zudem gleichmaumlszligiger verteiltsup3sup1sup1

Damit haumlngt zusammen dass auch die literarisch-argumentative Funktion dermetrischen Teile z T von derjenigen bei Boethius abweicht Bei Boethius stehendie Gedichte im Argumentationszusammenhang und fuumlhren Gedanken fort oderbuumlndeln sie in praumlgnanter Ausdrucksweisesup3sup1sup2 Ein gutes Beispiel dafuumlr ist eine

Die Zaumlhlung umfasst die zusammenhaumlngenden metrischen Partien und zaumlhlt auch Ge-dichte mit unterschiedlichem Versmaszlig (z B die Gedichte der Musen) als eine Partie Vgl dazu besonders OrsquoDaly 1991 Kap 1 (bdquoThe poetics of the Consolationldquo) darin 19ndash22 zuMartianus Sprachliche Parallelen sind zusammengestellt im Index der Boethius-Ausgabe vonBieler (CCSL 94 116) diskutiert werden sie bei Pabst 1994 163ndash 168 Da Boethius das Werk desMartianus kannte kann man von einer gelungeneren Ausdifferenzierung der Ansaumltze des Mar-tianus sprechen Der Vergleich des Einsatzes der prosimetrischen Form bei Boethius gewinntdadurch an Gewicht Eine Mischung von Prosa und Poesie findet sich weiterhin bei Fulgentius inden Mythologiae ndash Zu Parallelen in den Werkanfaumlngen bei Martianus Fulgentius und Boethiusvgl Klingner 1921 114 Pabst 1994 der Fulgentiusrsquo Vorgehen durchaus als bdquoimitatio Martianaldquoversteht (162 134ndash 137) fuumlr Boethius in Martianus allerdings nur eine Quelle sieht bdquoThey contribute to the argument as it proceeds yet take a wider view with an authorityoutside and above the adjacent prose They possess their own thematic design which spans theentire workldquo (Crabbe 1981 260) bdquoDie Metra bilden Ruhe- und Houmlhepunkte im Werk haumlufig

130 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Stelle zu Beginn des vierten Buches Nachdem zunaumlchst allgemein erlaumlutert wirddass die Weisen vermoumlgen was sie wollen die Schlechten jedoch nicht(cons 4 1 131ndash140) folgt in Versen eine Reihe plastischer Beispiele fuumlr die These(cons 4 carm 2) bevor der Gedanke fortgesponnen wird (cons 4 3 1ndash4)

An anderen Stellen uumlbernehmen die metrischen Partien eine Gliederungs-funktion indem sie Gedanken abschlieszligen und durch die Unterbrechung Zeit zurErholung bieten So sagt Philosophia zu ihrem Schuumller Boethius

bdquosed uideo te iam dudum et pondere quaestionis oneratum et rationis prolixitate fatigatumaliquam carminis exspectare dulcedinem accipe igitur haustum quo refectus firmior inulteriora contendasldquo (Boeth cons 4 6 200‐203)

bdquoAber ich sehe dass du bereits vom Gewicht der Untersuchung belastet und von der Breiteder Beweisfuumlhrung erschoumlpft auf die suumlszlige Erholung eines Liedes wartest nimm also denTrank damit du solchermaszligen erfrischt kraumlftiger zu den weiteren Themen eilen kannstldquo

In dieser zweiten Funktion setzt auch Martianus die metrischen Partien ein Dabeisind sie nicht in die Prosadarstellung eingeschoben sondern markieren fastausschlieszliglich die Buchanfaumlnge und Buchenden Explizites Ziel ist die Belebungdes Werkes um eine angenehme Lektuumlre zu erleichternsup3sup1sup3 Dies widersprichtMartianusrsquoAnkuumlndigung nach der hinleitenden Erzaumlhlung in denBuumlchern 1 und 2keine fiktionalen Erzaumlhlungen mehr einfuumlgen zu wollen die Darstellung solleernst und dem Gegenstand angemessen sein

nunc ergo mythos terminatur infiuntartes libelli qui sequentes asserentnam fruge vera omne fictum dimoventet disciplinas annotabunt sobriaspro parte multa nec vetabunt ludicra (2 220)

Nun also hat der Mythos sein Ende erreicht es beginnen die Buumlcher die die nun anschlie-szligenden Kuumlnste darbieten Denn mit wahrhaftiger Ernte entfernen sie alles Erdichtete undzeichnen die Kuumlnste nuumlchtern auf verbieten jedoch nicht gelegentliche Unterhaltung

stehen sie am Ende von Einzelabschnitten wo sie diese dann rekapitulieren und fuumlr densbquoSchuumllerlsquo zusammenfassen Bisweilen kommt ihnen auch eine Uumlberleitungsfunktion zuldquo (Kin-dermann 1969 63) ndash Zur Gattung allgemein allerdings mit besonderem Fokus auf die mittel-alterliche Literatur vgl Pabst 1994 bes 105ndash 133 zum Prosimetrum bei Martianus und 158ndash 195bei Boethius sowie Dronke 1994 bes Kap 2 (bdquoAllegory and the mixed formldquo) So auch McDonough der im Kapitel bdquoThe function of the poetryldquo zu Recht (aber zu kurzgreifend) formuliert bdquoIn undertaking the compilation of his encyclopedia the main challenge toMartianus lay in maintaining the interest of his readers (and himself) in making palatable thearid factual account of the various disciplinesldquo (McDonough 1968 37)

2 De nuptiis als literarisches Werk 131

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Scheint es an dieser Stelle so als ob Mythos und Heiteres getrennte Dinge waumlrenzeigt der unmittelbare Fortgang zu Beginn von Buch 3 dass beide Begriffe letztlichAumlhnliches bezeichnen Hier am Beginn der Schilderung der freien Kuumlnste(3 221 f) erlaumlutert Martianus in einem weiteren Gedicht das als Dialog gestaltetist warum er von seinem Plan abweicht

Camena bringt Schmuck fuumlr das Werk mit (amicta fictis commenta ferre) AufMartianusrsquo Einwand keine Mythen mehr vorbringen zu wollen (mythi pulsi) er-widert sie es gehe nicht um Luumlge (nil mentiamur) sondern um Einkleidung(vestiantur Artes) ndash man koumlnne die Brautjungfern also die Allegorien der freienKuumlnste doch nicht nackt vorfuumlhren Daraufhin gibt sich Martianus geschlagenund die Handlung von Buch 3 beginnt

Abgesehen von der unterhaltenden Funktion die besonders durch die Ge-dichte an den Buchenden gewaumlhrleistet wird scheinen die metrischen Passagenfuumlr viele Forscher wahllos in das Werk eingestreut Typisch ist eine Aussage wieCrabbe sie trifft bdquoMartianus uses verse frequently at the beginning sometimes atthe end of books and erratically throughoutldquosup3sup1⁴

Natuumlrlich kann von einer systematischen Verteilung und einer argumenta-tionslogischen Anordnung wie bei Boethius nicht gesprochen werden Bei ge-nauerem Hinsehen wird jedoch deutlich dass die metrischen Abschnitte nichtwillkuumlrlich uumlber das Werk verstreut sindsup3sup1⁵

Die meisten metrischen Passagen finden sich in den Buumlchern 1 und 2 von Denuptiis Diese Buumlcher enthalten die einleitende Handlung die als fiktionale Er-zaumlhlung dargeboten wird Im Bericht von der Suche Merkurs nach der richtigenEhefrau und von Philologias Aufstieg in den Himmel finden sich neun metrischePassagen Es handelt sich dabei bis auf die drei Faumllle der an den Buchanfaumlngen(Buch 1) und Buchenden (Buch 1 und 2) stehenden Gedichte um Reden vonGoumlttern Diese fuumlhren die Handlung fort und dienen also nicht der Buumlndelung derGedanken oder der Erholung des Lesers Stattdessen scheint es Martianus darumzu gehen das Sprechen der Goumltter durch die metrische Gebundenheit als be-

Crabbe 1981 264 Eine Typisierung die z T von der Position der metrischen Passagenlosgeloumlst ist bietet McDonough seiner Ansicht nach sind die metrischen Partien hauptsaumlchlichfunktional bdquoThe poetry thus is primarily functional although this function varies from book tobookldquo (McDonough 1968 38) Als Funktionen benennt er fuumlr Buch 1 Handlungsfortfuumlhrung fuumlrBuch 2 Schmuck fuumlr Buch 3 Belehrung fuumlr den Rest Einfuumlhrung oder Entlassung derBrautjungfern oder Unmut uumlber Verzoumlgerung der Hochzeit Der Rest seien bdquooccasional piecesldquo(ibid 40) ndash Verspartien finden sich am Anfang der Buumlcher 1 2 3 4 5 6 7 und 9 sowie am Endeder Buumlcher 2 4 5 7 und 9 Die ungleiche Verwendung der Metra bei Boethius und Martianus laumlsst sich am besten alsEntwicklung verstehen wie es beispielsweise Kindermann (1969 60) tut Zur Kenntnis desMartianus bei Boethius vgl oben Anm 311

132 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

sonders zu markieren Dies gilt vor allem fuumlr markante Szenen zum Beispiel dieRede Jupiters in der Goumltterversammlung gegen Ende des ersten Buches (1 91ndash93)oder die orakelartige Auskunft Apolls (1 21 f)

Diese Beobachtung gilt daruumlber hinaus ebenso fuumlr die genannten Stellen inBuch 9 auch wenn es sich dort nicht um die Vorgeschichte oder einen weiterenliterarischen Rahmen handelt Jedoch ist eine Szene mit Goumlttergespraumlchen ein-geschoben in der die Goumltter unter anderem auch Verse verwenden Durch dieseReden in metrisch gebundener Form soll den entsprechenden Buumlchern also einehoumlhere Wuumlrde verliehen werden

Einen zweiten Fall stellen die Gedichte zu Beginn oder zu Ende eines Buchesin den Buumlchern 3 bis 9 dar In diesen Buumlchern praumlsentieren die Freien Kuumlnste ingeschlossenem Vortrag die Inhalte ihrer Wissenschaft Die Gedichte in einigenFaumlllen in auktorialer Erzaumlhlhaltung gestaltet uumlberbruumlcken die Fuge zwischen denBuumlchern und bieten eine Pause zwischen den langen Vortragspartien der Leserkann sich erholen Die Inhalte der Verspartien sind unterschiedlich es handeltsich zumeist um den Ein- oder Auszug einer Brautjungfer (4 327 4 423 f 8 8028 808 9 911ndash919) um die Fortfuumlhrung der Hochzeitshandlung (5 425 8 8059 888) um die Anrufung eines Gottes (6 567ndash574) oder um eine Wendung desAutors an den Leser (5 566 9 997ndash 1000)

Dieser Einsatz der Verspartien ist jedoch noch keine hinreichende Erklaumlrungfuumlr die Wahl des Prosimetrums Sie erklaumlrt sich besonders dadurch dass Marti-anus auf diese Weise sein Werk in die Traditionslinie von Texten einreiht die alsmenippeische Satiren bezeichnet werdensup3sup1⁶

Charakteristisch fuumlr diese spezielle Form der roumlmischen Satire ist der Wechselvon metrischen und prosaischen Partiensup3sup1⁷ Klassische lateinischsprachige Ver-treter der menippeischen Satire sind Varro (Saturae Menippeae) Seneca (Apo-colocyntosis) und Petron (Satyrikon) in der griechischen Literatur nutzen Lukianund Julian (Caesares) diese Form Inhaltlich lassen sich nur wenige Verbindungenzwischen den Werken ziehen und auch die Umsetzung der formalen Elemente istunterschiedlich Dies fuumlhrt sogar so weit dass sich moderne Forscher trotz derbereits antik bezeugten Bezeichnungder Gattung teilweise auszligerstande sehen dieGattung genauer zu definieren oder dass sie ihre Fragestellung losgeloumlst von derGattungstradition verfolgensup3sup1⁸ Dies macht die Verortung von De nuptiis in diesemGenre nicht leichter

Zur menippeischen Satire vgl Relihan 1993 Coffey 1996 Im Gegensatz dazu beschraumlnkt sich die Verssatire seit Horaz auf die Verwendung desHexameters So betont Scheible im Vorwort ihrer Studie zu den Gedichten in Boethiusrsquo de consolationedass sie Vorgaben der Tradition in Hinblick auf die Gedichte nicht beruumlcksichtige ndash sie lieszligen

2 De nuptiis als literarisches Werk 133

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Gelegentlich wird sogar die These vertreten dass sich das satirische ElementinDe nuptiis in dieser formalen Verbindung von Prosaund Poesie erschoumlpfesup3sup1⁹DerGattungsbegriff sbquomenippeische Satirelsquo waumlre dann identisch mit der BezeichnungsbquoProsimetrumlsquo Dem widersprechen jedoch verschiedene Beobachtungen derRuumlckgriff auf die Etymologie des Wortes satura die Bezugnahme auf Vertreter derGattung und das Auftreten einer Figur namens Satura sowie deren Agieren dasuumlber die rein formale aumluszligerliche Satireform hinausweist schlieszliglich die beson-dere Gestaltung der Erzaumlhlsituation Diese vier Elemente sollen im Folgendenherausgearbeitet werden

Etymologie ndash Dass Martianus sein Werk sehr wohl als Satire verstanden wissenwill wird an verschiedenen Stellen deutlich Dies geschieht zum Beispiel durchgelehrte Anspielungen auf die Terminologie der antiken Satire an prominenterStelle So heiszligt es in 9 998

[Satura] haec quippe loquax docta doctis aggeransfandis tacenda farcinat immiscuitMusas deosque disciplinas cyclicasgarrire agresti cruda finxit plasmate

So haumluft sie plappernd Gelehrtes auf Gelehrtes und stopft geheimes und bekanntes Wissenzusammen hatMusenundGoumltter vermischt undhat sich erdacht dass die enzyklopaumldischenDisziplinen in einem baumlurischen Machwerk unreifes Zeug daherplappern

Die Woumlrter farcinat und immiscuit verweisen auf das Zusammenstopfen undVermischen verschiedener Zutaten z B in einer Wurst oder Pastete Gleiches giltfuumlr die Woumlrtermiscillo und aggeranssup3sup2⁰ Ausgangspunkt fuumlr diese Terminologie istdie Etymologie desWortes sbquoSatirelsquo an sich bedeutet urspruumlnglich etwaswie sbquobunteMischunglsquosup3sup2sup1 Traditionell sind Anspielungen auf diese Etymologie in der satiri-

sich nicht feststellen (Scheible 1972 8) Vorhandene Untersuchungen beschreiben in der Regeldie Konstituenten der einzelnen Werke Aufgrund der geringen Zahl uumlberlieferter Werke und dergroszligen Unterschiede zwischen ihnen ist es jedoch schwierig die typischen Elemente der Gat-tung zu benennen Auch diese Arbeit schlieszligt sich dem beschreibenden Vorgehen an undvergleicht an einschlaumlgigen Stellen inwieweit die Beobachtungen auch fuumlr die Gattung typischsind So z B Coffey der die Mischung aus Prosa und Poesie bei Martianus als bdquomiscellanyldquobezeichnet und vor einer Verbindung von De nuptiis mit der Satire als problematisch warnt(Coffey 1996 959) Vgl Relihan 1993 14 ErnoutMeillet s v satur -ra -rum (2001 596) WaldeHofmann s v satura (2007 II482f) Der zentrale Hinweis auf eine Ableitung des Wortes aus dem kulinarischen Bereich findet

134 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

schen Literatur selten Allein in Juvenal findet sich ein Hinweis darauf gleichwohlmit leicht anderem Verstaumlndnis Er betrachtet die Zusammenstellung der Satirenals farrago also als Mischgericht nicht die einzelne Satiresup3sup2sup2

In diesen sehr bildlichen Wendungen trifft Martianus gleichzeitig eine Aus-sage uumlber sein Verstaumlndnis der Darstellung von Bildungswissen Bei ihm gibt eskeine vorverdauten und mundgerecht aufbereiteten Wissenspaumlckchen (wie Ma-crobius sie bietet)sup3sup2sup3 sondern rohe Kost (cruda) die ihre Zutaten d h die lite-rarischen oder inhaltlichen Urspruumlnge nicht leugnet LeMoine formuliert prauml-gnant bdquoBy calling attention to the literary functions these metaphors fulfillMartianus hellip raises questions about the principles of seamless synthesis andverbal regurgitation which Macrobius so effectively demonstratesldquosup3sup2⁴

Dass Martianus durch diese Art der Darstellung seine Autoritaumlt infrage stelle(bdquohellip reveal doubts about the competence of the cook and the quality of the edu-cational feastldquo)sup3sup2⁵ laumlsst sich jedoch nicht erkennen Schlieszliglich benennt er seinVorgehen explizit (scheitert also nicht an einem gesteckten Plan) und bietetgleichzeitig mit der Kritik an der klassischen Form der Wissensvermittlung eineMoumlglichkeit an wie nicht-vereinheitlichte Wissensvermittlung aussehen kannBeeintraumlchtigungen des Vertrauens zum Erzaumlhler und zu den Inhalten gibt esallerdings ndash jedoch aufgrund anderer Faktorensup3sup2⁶

Bezug auf andere Satiriker ndash Neben den Anspielungen auf die Etymologie derGattung Satire treten explizite Bezuumlge auf andere Autoren menippeischer Satirenauf Namentlich wird jedoch keiner der Vorgaumlnger genannt die Nennung Varroserfolgt ausschlieszliglich in den Vortraumlgen der Brautjungfern und bezieht sichuumlberwiegend auf Varros fachschriftstellerische Werke oder seinen Ruf als Enzy-klopaumldistsup3sup2⁷

sich beim Grammatiker Diomedes (Grammatici Latini 1 485) Ausgehend von dieser Passageeroumlrtert Petersmann die Etymologie mit besonderer Beruumlcksichtigung des Ursprungs des Wortessatura aus dem Kuumlchenbereich (Petersmann 1986) Iuv 1 86 nostri farrago libelli Vgl die Kommentare Morton Braund 1996 95 f undCourtney 1980 103 Vgl die Gleichnisse in der praefatio zu den Saturnalia (Sat praef 5ndash9) und die Ausfuumlh-rungen in Kap II1 sowie die dort aufgefuumlhrte Literatur LeMoine 1991 360 ibid S u die Abschnitte bdquoErzaumlhlinstanzenldquo und bdquoDeutungen der komplexen literarischen Formldquo 4 335 (die Gelehrsamkeit Varros vgl Cic ac 1 9 Aug civ 6 2) 5 517 (Nennung in einemZitat) 6 639 und 6 662 (Fragen der Geographie die Varro-Vorlage ist nicht bekannt) 9 928 (cfVarro rust 3 17 4) Vgl zum Verhaumlltnis von Martianus und Varro bes Bovey 2003 Kap 2 (bdquoLaquestion varronienneldquo) und Schievenin 2009f

2 De nuptiis als literarisches Werk 135

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Allerdings zitiert die Wendung ὄνος λύρας in 8 807 den Titel einer menip-peischen Satire Varrossup3sup2⁸ Die Wendung ist in der lateinischen Literatur ander-weitig nicht belegt weshalb davon auszugehen ist dass Martianus hier auf denrepublikanischen Satiriker direkt zuruumlckgriff Da die Wendung zudem im Streit-gespraumlch zwischenMartianus und Satura uumlber die angemessene Art des Erzaumlhlensder Geschichte faumlllt kommt ihrer Verwendung eine programmatische Aussage zuMartianus stellt sich und sein Werk also in die Nachfolge Varros und seiner Sa-tiren

Ein Bezug auf Lukian ist weniger sicher nachzuweisensup3sup2⁹ Allerdings gibt eseine motivische Uumlbernahme im zweiten Buch von De nuptiis Philologias Erbre-chen des Wissens das der Hochzeit vorausgeht hat eine Parallele in LukiansDialog Lexiphanes Der allzu (ein)gebildete Lexiphanes nimmt auf Draumlngen vonLycinus ein Brechmittel ein das ihm der Arzt Sopolis gibt Daraufhin erbricht eralle Woumlrter die er gelernt hat dies ist die Voraussetzung dafuumlr dass er nun an-gemessen belehrt werden kannsup3sup3⁰

Es handelt sich um die Fragmente Varro Men 348ndash369 In Fragment 349 findet sich dieWendung auch im Vers (si quis μελωδεῖν est ὄνος λύρας praesepibus se retineat forensibus ndashsbquower beim Gesang wiersquon Esel an der Harfe bloumld der bleib getrost im Stallmief seines Forumsdortlsquo [Uumlbs Krenkel]) Die Bezugnahme auf Varro ist umso wahrscheinlicher da Satura unmit-telbar zuvor sowohl Martianusrsquo berufliche Aufenthalte auf dem Forum erwaumlhnt und ein Wort-spiel mit seinem Namen Capella angestellt hat ndash der zwar nicht sbquoEsellsquo bedeutet wohl aber einHaustier (sbquoZiegelsquo)Vgl dazu Shanzer 1968c 38ndash40 Shanzer 1986a kritisch dazu Pabst 1994 168(m Lit) Folgt man Bovey handelt es sich bei der unmittelbar folgenden Wendung καιρὸν γνῶθιum einen weiteren Verweis auf den Titel einer Varro-Satire γνῶθι σεαυτόν (= Varr Men 199ndash210 vgl Bovey 2003 282ndash284) Naumlher liegt wohl dass Martianus Capella diese eigenstaumlndigeSentenz (vgl Diogenes Laertios I 79 der sie als Sentenz des Pittakos ausweist) aus einer anderenQuelle uumlbernommen hat Kindermann 1969 60 Shanzer geht davon aus dass Martianus Lukian kannte (Shanzer1986c 36) Zur Diskussion um Martianusrsquo Griechischkenntnisse vgl Cristante 2009 [5] undShanzer 1986c 4 die beide annehmen dass Martianus durchaus Griechisch beherrschteShanzer weist einige Stellen auf an denen Martianus woumlrtlich uumlbersetzt und schlieszligt aus derBeherrschung des Griechischen zu Recht auf einen gebildeten moumlglicherweise sogar akade-mischen Hintergrund von Martianus Lucian Lex 20f Andere antike Texte die das Erbrechen von Wissen als Teil des Reini-gungsprozesses beschreiben oder als Bild tradieren sind mir nicht bekannt Daher ist eswahrscheinlicher dass Martianus auf Lukian im Original zuruumlckgegriffen hat Zur vor-byzantinischen Rezeption Lukians vgl Nesselrath 1994 der spaumltantike Bezuumlge auf Lukian u abei Julian und Claudian aufzeigt ndash Einen Bezug auf Lukians Concilium deorum fuumlr moumlglich haumlltKrapinger 1999 962 ndash Anders gelagert sind Lucian cont 7 und Aug in Joh ev tract 36 1 Dortgeht es darum dass durch das Ausspeien Wissen weitergegeben wird was zum Bild der daserbrochene Wissen aufsammelnden Artes passt nicht jedoch zum Motiv der Reinigung

136 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Bezuumlge auszligerhalb der Uumlbernahme uumlblicher Gattungselemente lassen sich fuumlrSenecas Apocolocyntosis Petrons Satyricon oder Julians Caesares nicht konsta-tierensup3sup3sup1

Die Figur der Satura und ihr Handeln ndash Einer der deutlichsten Hinweise auf dieForm der Satire liegt im Auftreten einer Figur namens Satura Diese Figur wirdzunaumlchst von Martianus als Erzaumlhlinstanz eingefuumlhrt (1 2) von der er den Inhaltvon De nuptiis erfahren haben will Im Laufe des Werks gewinnt Satura aber anProfil und agiert zunehmend autonom

Aussagen uumlber Satura beruhen letztlich auf drei Stellen in De nuptiis (6 576ndash5798 806ndash8109997ndash999) und koumlnnen fast ausschlieszliglich aus der Formund derBotschaft ihrer eigenen Aumluszligerungen gewonnen werden An allen drei Stellendiskutiert Satura mit Martianus Ansonsten ist Satura zwar als praumlsent zu denkenwird aber nicht weiter thematisiert

Nach Martianusrsquo Anrufung Minervas zu Beginn des sechsten Buches mischtsich Satura in seine Uumlberlegungen ein welche Frauen er vor sich sehe Die Ein-mischung wird von Martianus als scherzend bezeichnet (iocabunda 6 576) dieEinmischung an sich als typisch fuumlr das Scherzen Saturas (ut lepidula est 6 576)Die Aumluszligerung Saturas beginnt mit Spott uumlber Martianusrsquo nur scheinbare KlugheitDurch falsche naumlchtliche Studien und besonders seine Anwaltstaumltigkeit habe erden Blick auf das Wichtige verloren und erkenne nun nicht einmal mehr Philo-sophia und Paideia Der Scherz wird jedoch alsbald von einem belehrendenTonfall abgeloumlst in dem Satura Martianus uumlber das Wesen der beiden Frauenaufklaumlrt

Satura tritt als Naumlchstes zu Beginn des achten Buches auf in der Folge derSilen-Szene Der angetrunkene Silen war eingeschlafen und durch Amor aufge-schreckt worden was die uumlbrigen Goumltter laut lachen lieszlig (8 803ndash805) DieseSchilderung provoziert bei SaturaWiderspruch da sie das Erzaumlhlte als unpassendfuumlr die Goumltterversammlung empfindet Ihre Kritik beginnt wieder bei der Persondes Martianus dessen Namen sie als passend zu seinem Wesen deutet (Capella ~sbquoZiegelsquo 8 806) Sodann fordert sie Martianus auf seine Possen zu unterlassenMartianus fuumlhlt sich gehoumlrig von Satura gemaszligregelt und gibt klein bei bemerktaber dass sie ansonsten mehr von Scherzen halte (alioquin lepidula 8 807) AlsSatura dann die Einfuumlhrungder eintretenden Brautjungfer in Versenvorbringt undMartianus wiederum seine Scherze (ludicra 8 808) vorhaumllt kann dieser nicht

Mit Julian verbindet Martianus immerhin die Ansiedlung der Goumltterversammlung auf derMilchstraszlige ndash Zur Rolle der Saturnalien vgl den Abschnitt bdquoDeutungen der komplexen litera-rischen Formldquo

2 De nuptiis als literarisches Werk 137

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mehr an sich halten und zahlt Satura ihre Kritik in gleicher Muumlnze heim Nacheinigem Spott uumlber Saturas Verse verteidigt nun Martianus das Recht auf Scherzgegen sie die an sich ndash nicht aber in De nuptiiswie es scheint ndash eigentlich fuumlr denScherz zustaumlndig waumlre und gibt ihr mit Martial (2 41 1) den Rat auch einmal zulachensup3sup3sup2

Ein letzter Schlagabtausch von Satura und Martianus erfolgt schlieszliglich amEnde des Werkes Wiederum streiten beide Figuren miteinander und halten sichmit Spott uumlber das Wesen des anderen nicht zuruumlck

Die Einfuumlhrung Saturas die ja nur in Verbindung ndash und das heiszligt Ausein-andersetzung ndash mit Martianus erscheint dient vornehmlich der deutlichenBenennung der Gattung und der Verstaumlndigung daruumlberwas den Charakter einessatirischen bzw des vorliegenden Werkes ausmache Erstaunlich ist dabei Mar-tianusrsquo Entwicklung der sich zunaumlchst gegen Unterhaltung im artes-Teil ausge-sprochen hatte diese spaumlter aber gegen den censorischen Eingriff Saturas imachten Buch verteidigt Noch erstaunlicher ist aber dass es gerade Satura ist diezur Beachtung des Decorums auffordert und Martianusrsquo vergleichsweise mildenScherz scharf tadelt

Erzaumlhlinstanzen ndash Die Frage nach der Erzaumlhlsituation bzw der Erzaumlhlerfigurgehoumlrt zu den grundlegenden Analysekriterien eines literarischenWerkes ebensowie die Konzipierung von Raumund Zeit Lassen sich die letzten beiden Punkte imHinblick auf De nuptiis hinreichend klaumlrensup3sup3sup3 so bietet die Erzaumlhlerfigur groumlszligereSchwierigkeiten

DassDe nuptiis zwei Erzaumlhlinstanzen hat scheint zu Beginn desWerkeswenigdramatisch In 1 2 verweist der Erzaumlhler Martianus gegenuumlber seinem Sohn dar-auf dass die folgende Geschichte (also der uumlberwiegende Teil von De nuptiis) ihm

Ride si sapis o puella ride Schievenin bietet eine gruumlndliche Analyse dieser Stelle auchmit Blick auf die inverse Vorlage Martials (plora si sapis o puella plora Mart 2 41) derwiederum auf Ovid (Ov ars 3 281 f) zuruumlckgreift (Schievenin 1984 bes 136 ausfuumlhrlich auchBovey 2003 275ndash288) Die Rahmenhandlung spielt in der erzaumlhlerischen Gegenwart und in einem unbestimmtenRaum der jedoch nicht auszligergewoumlhnlich ist es liegt nahe an Karthago und das Haus desMartianus Capella zu denken Die eigentliche Handlung spielt an z T unwirklichen Orten aufder Erde die zumeist nicht naumlher bestimmt sind (z B Philologias Herkunft) und auf derMilchstraszlige wobei die absolute Zeit nicht genannt wird aber aufeinanderfolgende Tage inihrem Ablauf erkannt werden koumlnnen Die Phantastik einzelner Szenen die meist auf alle-gorische Darstellungsweisen zuruumlckgeht verletzt jedoch nicht die raumlumliche oder zeitlichePlausibilitaumlt des Dargestellten Vgl dazu auch die Ausfuumlhrungen und grafischen Veranschau-lichungen LeMoines (1972a)

138 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

waumlhrend langer Winternaumlchte (eine Anspielung auf Gellius)sup3sup3⁴ von Satura be-richtet wurde Der antike wie moderne Leser duumlrfte sich wohl kaum daran stoszligensondernwird darin vor allem eine Inspiration des Autors durch Satura (auchwennes das zuvor noch nicht gab) erkennen Bei der Erwaumlhnung von Satura koumlnnte erHeiteres erwarten oder bunt gemischte Geschichten

Vollkommen verwirrt wird der Leser hingegen spaumltestens dann wenn er amEnde des Werkes in der Sphragis angekommen ist (9 997ndash 1000) Dort reflektiertMartianus sein literarisches Vorgehen in den vorausgegangenen neun Buumlcherngenauer gesagt distanziert er sich von der Form der Darstellung (Umfang Bunt-heit) und verweist auf die Verantwortung Saturas die die Geschichte erzaumlhlt habe

Habes anilem Martiane fabulam 997Miscillo lusit quam lucernis flamineSatura Pelasgos dum docere nititurArtes daggercagris vix amicas AtticisSic in novena decidit voluminahaec quippe loquax docta doctis aggerans 998fandis tacenda farcinat immiscuitMusas deosque disciplinas cyclicasgarrire agresti cruda finxit plasmate (9 997 f)

Da hast du Martianus eine Altweibergeschichte sie verfertigte im Spiel mit vermischterInspiration [d h in Prosa und Vers] bei Kerzenschein Saturawaumlhrend sie sich bemuumlhte diePelasger zu lehren die Kuumlnste die den Griechen kaum freundlich [d h neu] sindSo gelangte sie hinab bis zum neunten Buch haumluft plappernd Gelehrtes auf Gelehrtes undstopft geheimes und bekanntes Wissen zusammen hat Musen und Goumltter vermischt und hatsich erdacht dass die enzyklopaumldischen Disziplinen in einembaumlurischenMachwerk unreifesZeug daherplappern

So ungewoumlhnlich dieses Vorgehen auch ist ndash Martianus haumltte ja den Bericht Sa-turas als Grundlage nehmen und dann nach eigenem Geschmack umgestaltenkoumlnnen ndash wird es uumlbertroffen durch die Verteidigung Saturas Sie weist die Ver-antwortung fuumlr die Art der Erzaumlhlung von sich und verteidigt sichmit demHinweisauf Martianusrsquo intellektuelle Schwaumlche der sie die Ausfuumlhrungen habe anpassenmuumlssen

Vgl Gell praef 4 zur Erklaumlrung der Wahl des Titels Noctes Atticae fuumlr sein Werk

Sed quoniam longinquis per hiemem noctibus in agro sicuti dixi terrae Atticae commentationeshasce ludere ac facere exorsi sumus idcirco eas inscripsimus noctium esse Atticarum hellip

Aber weil wir in langen Naumlchten den Winter uumlber in Attika auf dem Landwie schon gesagtdiese Anmerkungen im Spiel und dann ernsthaft begonnen haben daher haben wir ihnenden Namen Attische Naumlchte gegeben hellip

2 De nuptiis als literarisches Werk 139

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

haec ipsa nauci rupta conscientia 999turgensque felle ac bili bdquomulta chlamydeprodire doctis approbanda cultibuspossemque comis utque e Martis curia[hellip]ab hoc creatum Pegaseum gurgitem 1000decente quando possem haurire poculoldquo (9 999 f)

Sie sagte aufgrund ihres Wissens um die Nichtigkeit (dieser Ausfuumlhrungen) verletztschwellend vor Bitterkeit und Zorn bdquoIch koumlnnte hier freundlich auftreten mit einem Gewandbekleidet lobenswert durchgelehrtes Verhaltenwie aus der VersammlungdesMars [Es folgtdie Schilderung der unguumlnstigen Anlagen von Martianus] ndash Wann koumlnnte ich mit ange-messenem Becher aus einem pegasischen Strom von ihm erschaffen schoumlpfenldquo

Somit hat das Werk das zu Beginn zwei hierarchisch geschiedene Erzaumlhler zuhaben scheint am Ende zwei Erzaumlhler die sich gleichberechtigt uumlber die Form dererzaumlhlten Geschichte streitensup3sup3⁵

Die Inkonsistenzen auf der Erzaumlhlebene setzen sich daruumlber hinaus fort HatteMartianus zu Beginn des Werks gesagt Satura habe ihm die Geschichte waumlhrendlangerWinternaumlchte erzaumlhlt so treten Satura undMartianus amEnde desWerks inder erzaumlhlerischen Gegenwart gemeinsam auf und sprechen beide nacheinanderzu Martianusrsquo Sohn

Weiterhin erscheinen Satura und Martianus innerhalb der Geschichte dieMartianus angeblichvon Satura gehoumlrt hatWaumlhrend die Goumltter denverschiedenenBrautjungfern lauschenwohnen auch SaturaundMartianus der Versammlungbeiund betrachten sie als unbeteiligte ZuschauerWie aus einer Theaterloge herauskommentieren und diskutieren sie das Geschehen das auf der bdquoGoumltterbuumlhneldquostattfindetsup3sup3⁶

Noch einen weitergehenden Schritt stellt die Silen-Szene zu Beginn des achtenBuches dar Im Anschluss an diese Szene beschwert sich Satura bei Martianus erkoumlnne die Goumltter nicht auf dieseWeise agieren lassen In der Folge entspinnt sich einGespraumlch in demMartianus seine Art des Erzaumlhlens gegen Satura verteidigt die fuumlreine zuruumlckhaltendere Darstellung plaumldiert (s o)Von der Fiktion dass Martianusseinem Sohn bloszligwiedergibtwas Satura ihm erzaumlhlt hat bleibt nichtmehr viel dieganze Szenerie ist ein Produkt der ErfindungdesMartianus gleichzeitigwohnt er ihraber gemeinsam mit Satura bei ist also Teil der Handlung

So bereits Pabst 1994 120 Anm 119 der allerdings auf eine Diskussion der Beobachtungverzichtet Es handelt sich um die Stellen zu Beginn des sechsten und des achten Buches die imvorigen Abschnitt bereits paraphrasiert wurden

140 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Diese Art der Spiels mit der Erzaumlhlerrolle wird von manchen modernen For-schern als ein wichtiges Merkmal der menippeischen Satire angesehen Hinzu-treten kann die Selbstherabsetzung des Erzaumlhlers die sich an seinemmangelndenWissen Stilbewusstsein Traditionsempfinden o auml entzuumlndetsup3sup3⁷ Folglich kanndie zunaumlchst befremdliche Brechung und Verzerrung als weiteres Merkmal derGattung menippeische Satire bestimmt werden

Aufgrund dieser Beobachtungen ist es zwingend in De nuptiis vor allem eineSatire zu sehen Auch der heiter-spoumlttische Charakter einiger Passagen zwischenden Vortraumlgen der Brautjungfern passt zum satirischen Anspruch Gelegentlicherscheint es jedoch fraglich ob es sich wirklich um satirische und nicht eher umkomische oder derbe Spaumlszlige handelt Die Szene in der Silen betrunken einschlaumlftund von den anderen Goumlttern verspottet wird (8 803ndash805) erinnert mit ihremSlapstick eher an den derben Spott der Komoumldie als an die Satire eines Varrosup3sup3⁸

22 Deutungen der komplexen literarischen Form

Wie laumlsst sich das Werk De nuptiis nun also formal beschreiben oder andersgefasstWie lassen sich die vier literarischen Traditionsstraumlnge zusammenfuumlhrenDass eine einheitliche Lesung zumindest versucht werden muss zeigt bereits dasLeitmotiv der Hochzeit ansup3sup3⁹

Im Kern handelt es sich bei MartianusrsquoWerk um eine Sammlung bedeutenderWissensschaumltze in einem einzigen Werk die darin systematisch ausgebreitetwerden Dies zeigt die Einteilung in verschiedene Disziplinen die ein ver-

Zur Erzaumlhlerrolle in der menippeischen Satire vgl u a Relihan 1993 und darin bes S 35 Mit der Aufnahme unterhaltsamer Elemente ginge Martianus sogar noch uumlber dieErwartungen an ein sbquosatirischeslsquo Werk hinaus Auch Boethius wird bescheinigt er erzaumlhle seineConsolatio bdquoper satiramldquo auch wenn bei ihm weder eine Figur Satura auftritt noch allzu vielHeiterkeit herrscht (Peiper zitiert in der Einleitung zu seiner Ausgabe S xxxi eine mittelalter-liche Boethius-Vita vgl Kindermann 1969 61)

hos libros [scil de consolatione Philosophiae] per satiram edidit imitatus videlicet mar-cianum felicem capellam qui prius libros De nuptiis philologiae et mercurii eadem speciepoematis conscripserathellip

Diese Buumlcher schrieb er als Satire freilich in Nachahmung des Marcianus Felix Capellader zuvor die Buumlcher uumlber die Hochzeit der Philologie mit Merkur in der gleichen Art vonGedicht verfasst hatte

Zum Motiv der Hochzeit das bereits programmatisch im eroumlffnenden Hymnus anHymenaeus erscheint vgl Schievenin 2009c und Cristante in der Einleitung seiner Ausgabe1987 3ndash 10

2 De nuptiis als literarisches Werk 141

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

gleichsweise leichtes Auffinden der Informationen erlaubtsup3⁴⁰ die Bedeutung wirdangesichts der Praumlsentation vor den Goumlttern auf der Milchstraszlige deutlich Alleinder Umfang dieser Vortraumlge die in sich auch nicht gestoumlrt oder gebrochenwerdenmarkiert dass es sich hier um das zentrale Charakteristikum des Werkes handelt

Den erzaumlhlerischen Anlass fuumlr diese Praumlsentation bietet eine Hochzeitsfeieralso ein Symposion hier ist die Gelegenheit fuumlr die groszligen Redebeitraumlge gegebenZudem bietet die SymposionformAnknuumlpfungspunkte fuumlr eine Rahmenhandlungdie zur Auflockerung der ebenso ausfuumlhrlichenwie trockenen Einzelreden genutztwird

Doch bleibt es ndash im Gegensatz z B zu Macrobius ndash nicht bei der bloszligenDarstellung der Wissensinhalte Hinzu tritt die allegorische Darstellung der Be-deutung von Wissen und von Fleiszlig beim Wissenserwerb in den ersten beidenBuumlchern Die praumlsentierten Inhalte der Buumlcher 3ndash9 (die Philologia ja bereits aufder Erde in Buch 2 besitzt) sindwichtig Sie sind nicht nur wichtig fuumlr das irdischeLeben (das wird nicht weiter thematisiert die explizit irdischen Wissenschaftenwie Architektur und Medizin werden sogar ausgeschlossen) ndash die Inhalte sindauch wichtig fuumlr die menschliche Vervollkommnung

Durch das angesammelte Wissen erreicht der Mensch zwar nicht die voll-kommene Erkenntnis (die erhaumllt auch Philologia nur ohne eigenes Zutun als sieauf der houmlchsten Himmelssphaumlre angekommen zum Vatergott in der jenseitigenGluumlckseligkeit betet) wohl aber ein goumlttergleiches Wissensup3⁴sup1 Der Wissenserwerbist gewissermaszligen die Voraussetzung dafuumlr dass der Mensch mit Hilfe einesgoumlttlichen Begleiters in den Himmel aufsteigen kann unsterblich wird und voll-kommene Einsicht erlangt

Die so weit kohaumlrente Verbindung der literarischen Traditionen laumlsst aller-dings den explizit satirischen Anspruch von De nuptiis auszliger Betracht durch denMartianus selbst das Werk primaumlr in die Gattung der Satire einordnet waumlhrendvergleichbare Bezuumlge zu anderen Gattungen fehlen Natuumlrlich lieszlige sich dieserprogrammatische Anspruch mit einem Verweis auf die Verwendung des Begriffszur Bezeichnung einer inhaltlich wie literarisch gemischten Form erklaumlren Dochgreift diese Erklaumlrung zu kurz da das Agieren Saturas die literarischen Passagendes Werks beinahe als Travestie erscheinen laumlsst (vgl oben zur Erzaumlhlerfigur) Einbildend-enzyklopaumldisches Werk kann sich allerdings nicht gefahrlos als Satire

So auch Englisch 1994 56 Die bdquoSystematik bei der Praumlsentationldquo erlaube einen leichtenZugriff auf die Informationen Mart Cap 2 201ndash205

142 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

praumlsentieren ohne Zweifel an der Glaubwuumlrdigkeit und Zuverlaumlssigkeit desWerkes und der praumlsentierten Inhalte zu weckensup3⁴sup2

Wenn Martianus auch die Konventionen der Gattung menippeische Satireaufnimmt und sein Werk also nur folgerichtig unter anderem eine unzuverlaumlssigeErzaumlhlsituation aufweist ist dies noch keine Erklaumlrung an sich Die regelkonformeUmsetzung gattungstypischer Anspruumlche erklaumlrt noch nicht die Wahl der Gattungan sich ndash einer Gattung die trotz ihrer Benennung als solche nicht zu denStandardformen und akzeptierten Gattungen zaumlhlte insbesondere nicht fuumlrLehrwerkesup3⁴sup3

Auch Martianusrsquo Verweis auf etwas bislang noch nicht Unternommenes(nescioquid inopinum intactumque 1 2) vermag den Widerspruch nicht zu loumlsenDie Wendung zeigt zwar dass Martianus die Ungewoumlhnlichkeit seines Ansatzesbewusst war (sofern sich die Phrase uumlberhaupt auf die Komposition des Werkesbezieht)sup3⁴⁴ beseitigt aber nicht das interpretatorische Problem ZuwelchemZweckverbindet Martianus also zwei so widerspruumlchliche Gattungen wie Enzyklopaumldieund Satiresup3⁴⁵

Drei Antwortansaumltze lassen sich grob umreiszligen 1 Die Verbindung ist nuraumluszligerlich bzw oberflaumlchlich 2 durch die Verbindung soll ein bestimmter Aspektparodiert und somit Spott und Kritik ausgesetzt werden 3 die Verbindung erfuumlllt

Dieses Problem hat bereits Westra in seinem Aufsatz bdquoThe juxtaposition of the ridiculousand the sublime in Martianus Capellaldquo benannt (Westra 1981) Allerdings beschraumlnkt sich auchdieser Aufsatz auf die Darstellung des Problems und die Zusammenstellung der Belege EineLoumlsung hat Westra nicht anzubieten ndash sein Aufsatz endet mit der eher apologetischen Bemer-kung das Eingestaumlndnis der Unvereinbarkeit von Satire und Lehrwerk durch Martianus in 9 997sei prima facie ein Spiel dahinter stecke jedoch die Absicht Problembewusstsein zu demon-strieren und Verantwortung fuumlr die unterlassene Loumlsung zu negieren bdquoEven though I would claim that prose and verse must be present in an ancient Menippeansatire it must be seen as one of a number of shocking juxtapositions of oppositesldquo (Relihan 198760) ndash In der Folge kann die prosimetrische Form durchaus auch Mittel belehrender Werkewerden vgl Pabst 1994 133 Denkbar (und wohl wahrscheinlich) waumlre auch dass damit die Inhalte besonders desMythos gemeint sind Der Verweis auf Unterhaltung fuumlhrt nicht zum Kern der Frage denn die satirische Formstellt mehr dar als reine Unterhaltung Auch das horazische Diktum ridentem dicere verum quidvetat ndashsbquolachend das Wahre zu sagen ndash was spricht dagegenlsquo (Hor serm 1 1 23) als Kern vonMartianusrsquo Satireverstaumlndnisses greift zu kurz ebenso wie vergleichbare Konzeptionen in derLiteratur Dort geht es bei Belehrung immer um einzelne philosophische Saumltze (nie beispiels-weise um die Vermittlung von Philosophie an sich) Folglich bezeichnet das bdquoverumldquo nichtkognitives Lernen sondern moralisches Der grundlegende Unterschied zur Konzeption desMartianus liegt somit auf der Hand Vgl zu diesem Aspekt im Allgemeinen z B Shanzer 1986c42 und im Speziellen u a Woytek 1986 339ndash345 Keulen 2009 bes Kap 2 und 3

2 De nuptiis als literarisches Werk 143

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

einen literarischen und belehrenden Zweck zugleich Aufgrund der komplexenSachlage und der unmittelbaren Bedeutung der Beantwortung der Frage nachdieser Verbindung fuumlr das Gesamtverstaumlndnis von De nuptiis werden alle Alter-nativen vorgestellt und bewertet

Rein formale Verbindung von Satire und EnzyklopaumldieEventuell laumlsst sich die Mischung aus enzyklopaumldischen und satirischen Ele-menten (mit den zur Satire gehoumlrigen Verspartien) als Sonderform der Varro-Re-zeption bei Martianus auffassenVarro von Reate verfasste sowohl umfangreicheFachliteratur als auch menippeische Satiren Fuumlr beides war er in der Antikebekannt und beruumlhmt ndash doch ist es wahrscheinlich dass Martianus die Werkebereits nicht mehr ndash oder allenfalls nur in Auszuumlgen ndash vorliegen hattesup3⁴⁶ Aus demWissen um die beiden Schaffensbereiche des republikanischen Autors die beideder Unterweisung dienen solltensup3⁴⁷ koumlnnte Martianus auf den Gedanken verfallensein die literarischen Formen und Inhalte in seinem Werk zu verbindensup3⁴⁸Vielleicht saszlig er auch einemMissverstaumlndnis auf indem ermeinte dass Varro seinsatirisches wie enzyklopaumldisches Koumlnnen in nur einem Werk demonstriert habeDies hieszlige jedoch dass Martianus sich der Problematik dieser Verbindung nicht

So aumluszligert sich beispielsweise Kindermann in den Vorstudien seiner Ausgabe der Conso-latio des Laurentius von Durham Er billigt Martianus nur eine sekundaumlre Varro-Kenntnis zu(Kindermann 1969 60) Entschieden verneint wird die Frage von Schievenin (2009f) und Hadotdie vor allem neuplatonische Quellen vermutet (Hadot 2005 149) Schneider jedoch nimmt andass sowohl Augustin als auch Martianus die Disciplinae noch vorliegen hatten (Schneider 1999109 f) und dass die Satiren-Exzerpte des Nonius Marcellus (fl um 400 in Afrika) ebenfalls ausdem Originaltext Varros angefertigt wurden (ibid 96 Anm 12) Abwaumlgend aumluszligert sich Huumlbner2004 passim Vgl Cic ac 1 8 (es spricht Varro)

et tamen in illis veteribus nostris quae Menippum imitati non interpretati quadam hilaritateconspersimus multa admixta ex intima philosophia multa dicta dialectice quae quo faciliusminus docti intellegerent iucunditate quadam ad legendum invitati

Jedoch findet sich in meinen fruumlhen Schriften die ich in kreativer Nachfolge (und nicht nurUumlbersetzung) Menipps mit einer gewissen Heiterkeit benetzt habe vieles aus den Kernbe-reichen der Philosophie beigemengt und vieles das nach Art der Dialektiker gesagt istdamit die weniger Gelehrten es leichter verstuumlnden nachdem sie durch eine Art von Scherzzur Lektuumlre ermuntert worden sind

Vielleicht hatte Martianus diese Stelle sogar im Kopf als er die Anlage von De nuptiis plante So z BWeinreich in der Einleitung zu seiner Uumlbersetzung roumlmischer Satiren bdquoMartianusCapella glaubte gewiszlig ein Varro redivivus zu sein sozusagen die Quintessenz des Gelehrten unddes Satirikersldquo (Weinreich 1962 XCIII) Ebenso Shanzer 1986c 42

144 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

bewusst gewesen sei ndash was ihm sicher nicht gerecht wird Auszligerdem wird so dieBezugnahme auf weitere formale Elemente der menippeischen Tradition und dieuumlbrigen Vorlaumlufer der Gattung mit anderer Konzeption (Lukian Julian) nichtausreichend beruumlcksichtigt

Ebenfalls beim Autor koumlnnte eine zweite Erklaumlrung ansetzen Im Zuge derAbfassung seiner Enzyklopaumldie hat sichMartianus nach horazischer Vorgabe (unddem Beispiel Varros)sup3⁴⁹ um Auflockerung und heitere Elemente bemuumlht Diespontanen Einfaumllle wurden ins Werk integriert und die sich daraus ergebendenInkonsistenzen entweder uumlbersehen oder billigend in Kauf genommen Beideswuumlrde gut zum klassisch negativen Martian-Bild in der Forschung passensup3⁵⁰Abgesehen davon dass Annahmen uumlber das Vorgehen beim Schreiben weitge-hend auf Spekulation beruhensup3⁵sup1 widersprechen drei Beobachtungen dieser Er-klaumlrung Erstens gelingt es Martianus De nuptiis uumlber neun Buumlcher vorauszu-planen so dass am Ende ein ndash zunaumlchst abgesehen von der Satire-Problematik ndashkohaumlrentes Werk entsteht Die Fuumllle der behandelten Themen Motive und lite-rarischen Elemente weist eher auf ein planvolles Arbeiten hin und macht es un-wahrscheinlich dass Martianus Probleme an dieser Stelle nicht wahrgenommenbzw nicht korrigiert haumltte Zweitens ist die Verbindungvon Satire und den anderenElementen nicht nur oberflaumlchlich so dass sie nachtraumlglich eingefuumlgt sein koumlnnteoder sich im Schreibprozess so ergeben haben koumlnnte Da bereits im zweitenKapitel des ersten Buches Satura eingefuumlhrt wirdwar sie von vornherein Teil des

Gemeint ist das beruumlhmte zunaumlchst nur fuumlr die Dichtung relevante prodesse aut delectare(Hor ars 333 f) zu Varro vgl die schon angefuumlhrte Stelle aus Cic ac Vgl z B die sehr bildliche Beschreibung von C S Lewis bdquo[hellip] this universe which hasproduced the bee-orchid and the giraffe has produced nothing stranger than Martianus Capella[hellip] the curiosity shop of his mind [hellip] a chaos beside which the work of Rabelais has unity andthat of Mandeville probabilityldquo (Lewis 1936 78 f) Gleiches gilt fuumlr Spekulationen uumlber eine andere Auffassung von Literatur und ihrenRegeln in Martianusrsquo Zeit oder Umfeld Einerseits kennen wir keine Texte die sich mit De nuptiisvergleichen lieszligen (was per se nichts beweist aber doch Indiziencharakter hat) andererseitshielten sich auch die spaumltantiken Autoren uumlblicherweise an die klassischen Vorgaben Ich teiledaher auch Schneiders Ansicht nicht der die Skepsis an dieser Verbindung allein der modernenLeseerfahrung zuschreibt bdquoWenn den Heutigen diese Kombination der forcierten Gelehrsamkeiteines Curriculums und der spielerisch-saloppen Causerie seltsam beruumlhren mag so waumlre dazuimmerhin schon an ein ciceronisches Dictum zu erinnern non est enim seiunctus iocus a phi-lologia (ad fam 16214) ndash sbquoSpieltrieb und Pedanterie diktieren und widersprechen sich nichtlsquo(sbquoErste Fruumlhschichtlsquo aus Grassrsquo sbquoHundejahrelsquo)ldquo (Schneider 1999 94 Anm 2) Der Verweis aufCicero traumlgt nichts zum Verstaumlndnis von Martianus bei Cicero geht es an der zitierten Stelle umden Ablauf des Tages mit seinem Schuumller der aus ernsteren und heitereren Abschnitten bestehtDaraus folgt nicht dass das Lernen mit Scherz verbunden ist ndash auszligerdem duumlrfte Cicero unteriocus (sbquo[urbaner] Scherzlsquo) anderes verstanden haben als Martianus in seiner Satura bietet

2 De nuptiis als literarisches Werk 145

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Kompositionsplans Drittens hat Schievenin gezeigt dass Martianus keineswegsoberflaumlchlich und eigenwillig arbeitet Durch eine gruumlndliche Untersuchung derSilen-Passage (8 803ndash805) kann er nachweisen dass Martianus ndash wie vieleAutoren vor ihm ndash uumlber ein umfangreiches literarisches Wissen verfuumlgte daraufbei der Abfassung seines Werkes zugreifen konnte und durch gezielte Anspie-lungen neue Bezuumlge herstelltesup3⁵sup2

Satire als Mittel der KritikWaumlhrend die antike Satire (im Gegensatz zur modernen) nicht zwangslaumlufig Kritikan Missstaumlnden uumlben wollte ist diese Moumlglichkeit umgekehrt auch nicht auszu-schlieszligen Martianus koumlnnte also bewusst eine solide Darstellung der Kuumlnste inliterarischem Gewandmit der Gattung der Satire verbunden haben um Zweifel ander Ernsthaftigkeit der uumlbrigen Teile des Werkes zu wecken Er wuumlrde somit einaufklaumlrerisches Interesse verfolgen das zugleich auch unterhaltsame Zuumlge traumlgt

Eine erste Schwierigkeit dieser Lesart von De nuptiis ergibt sich bereits bei derFrage nach dem Objekt der SatireWerden die Wissensinhalte in Zweifel gezogenoder nur die Art ihrer Vermittlung in langen Reden bzwTraktaten Soll der Glaubean die umfassende Einheit des Wissens kritisiert werden oder die Vorstellungsaumlmtliches Wissen lasse sich vermitteln gar kohaumlrent in einem Werksup3⁵sup3 Ist dieVorstellung dass Wissen goumlttlich mache parodiert oder nur die abwegige Vor-stellung dass auf einer Hochzeit solche Reden gehalten werden Oder richtet sichdie Kritik letztlich gegen die Auffassung Philologia als Vorbild zu sehen oder garals Mittlerin alles Wissens ja sogar als Mittlerin zwischen Menschen und Goumlttern

Aus der Tatsache dass das Objekt der Satire keineswegs leicht zu bestimmenist kann nicht gefolgert werden dass in De nuptiis keine Satire vorliege die be-stimmte Sachverhalte kritisiere Aber es kann durchaus gefolgert werden dass eskeine expliziten textinternen Merkmale gibt die das Lesen steuern und den Ge-genstand der Kritik deutlich hervortreten lassen Die Deutungen gehen also vonmodernen Annahmen uumlber das Umfeld bzw die Gedankenwelt von Martianus aus

Im Kern handle es sich um bdquouna narrazione tersa e brillanteldquo verbunden mit einemDickicht an Verweisen Die Silen-Szene habe einen bdquocarattere colto e della dottrina e dellalingualdquo (Schievenin 1984 132) Das Fazit seiner Untersuchung formuliert Schievenin folgen-dermaszligen bdquoIl De nuptiis si rivela dunque opera di vasti orizzonti non solo per lrsquointento dida-scalico che la pervade e che ne determineragrave la fortuna ma anche per la costante presenza nellafabula della tradizione classica e dei suoi echildquo (ibid 136) Vgl zu dieser Stelle auch Bovey2003 275ndash288 ndash Den geschickten Umgang mit mehreren Quellen ndash erzaumlhlerisch wie seman-tisch ndash kann Schievenin auch fuumlr 7 725ndash727 nachweisen (Schievenin 2009e) So z B Relihan 1993 138 bdquoMartianus writes not an encyclopedia but a Menippean satirethat parodies encyclopedic knowledgeldquo

146 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

und weisen zudem meist nicht kleinschrittig auf wie der Interpret zu seiner (oftapodiktisch dargelegten) Ansicht gelangt

Nun folgt daraus noch nicht dass Martianus De nuptiis nicht als kritisierendeSatire konzipiert haumltte die Vielzahl der (wenn auch differierenden) modernenDeutungenweist ja darauf hin Zwei Uumlberlegungenwenn auch keine schlagendenBeweise lassen die Hypothese der parodierenden Satire unwahrscheinlich wer-den der Umfang von De nuptiis und seine Rezeption Eine Satire die beispiels-weise die Verbindung von Weltwissen und menschlicher Vervollkommnung in-frage stellt benoumltigt nicht noch eine umfassende Darlegung eben diesenWissensDies gilt besonders da diese Darlegung den Hauptteil des Werks ausmacht und ndashzumindest dem Umfang nach ndash die uumlbrigen Partien weit uumlberragt Eine Deutungvon De nuptiis als kritischer Satire muumlsste also besonders die Frage beantwortenzu welchem Zweck die umfangreichen Darstellungen der Freien Kuumlnste aufge-nommen sind (und nicht nur angedeutet werden)

Die Rezeption eignet sich zwar ebenfalls nicht zu sicheren Ruumlckschluumlssen aufdie originale Intention eines Werkes haumlufig bietet sie aber interessante EinblickeDie Martianus-Rezeption stellt sich bald ein Cassiodor beruft sich in seinen In-stitutiones auf ihn Dort erscheint Martianus nicht als Satiriker oder Zeitkritikersondern als Gelehrtersup3⁵⁴ In dieser Tradition wird Martianus auch im Mittelaltergelesen und rezipiertsup3⁵⁵

Aumlhnliches laumlsst sich fuumlr Boethiusrsquo Anknuumlpfen an die prosimetrische Form inder Ausgestaltung von Martianus sagen Boethius verfasst zweifelsfrei keine kri-tische Satire kann aber trotzdem an die Form und den Inhalt von De nuptiisproblemlos anknuumlpfen Sowohl der Form nach wie auch durch einzelne Zitatemacht er deutlich dass erDe nuptiis kennt und als eine seiner Vorlagen benutzt Esist zu bezweifeln dass Boethius in seinem Bemuumlhen um eine adaumlquatewerbendeDarstellung der Philosophie auf Form und Zitate des Martianus zuruumlckgegriffenhaumltte haumltte er nicht die Moumlglichkeit der gefahrlosen Uumlbernahme gesehen

Satirische Elemente als Mittel der BelehrungDer dritte Erklaumlrungsansatz fuumlr die Verbindung von Satire und Belehrung be-trachtet die Wahl Saturas als Figur und die Bezugnahme auf die Gattung zunaumlchst

Cassiod inst 2 2 17 Zur mittelalterlichen Martianus-Rezeption vgl bes Nuchelmans 1950 Lutz 1971 und 1976Willis 1973 sowie die Ausgaben und Literatur u a zu folgenden Werken Konrad von MureFabularius Hugo von Sankt Victor Didascalicon de studio legendi Johannes von SalisburyMetalogicon Kindermann kann weiterhin nachweisen dass De nuptiis auch durch seine Forminspirierend gewirkt hat (Kindermann 1969 61 f)

2 De nuptiis als literarisches Werk 147

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

als reine Fortsetzungder literarischen Form Fuumlr diese spezielle Formder Literaturdie menippeische Satire hat der russische Literaturwissenschaftler MichailBachtin Beobachtungen aufgestellt die auch fuumlr De nuptiis zutreffen Durch denRuumlckgriff auf zwei zentrale Konzepte Bachtins das Karnevaleske und die Dialo-gizitaumlt wird ein Verstaumlndnis von De nuptiis ermoumlglicht

Auf der Suche nach Vorlagen und Urformen der Gattung des Romans ins-besondere in der Form von Dostojewskis Romanen stieszlig Bachtin unter anderemauch auf die menippeische Satire die er bis in die Antike zuruumlckverfolgtesup3⁵⁶ Zuihren Vertretern zaumlhlt er unter anderem Varro Apuleius Petron Seneca oderLukiansup3⁵⁷ Martianus Capella wird nicht erwaumlhnt was aber nicht verwundernmuss da Bachtin keine Literaturgeschichte der menippeischen Satire schriebsup3⁵⁸

Kern der Uumlberlegungen Bachtins zurmenippeischen Satire ist das Konzept desKarnevals Unter Karneval versteht er folkloristische Feste waumlhrend deren diebestehende Ordnung verkehrt wird uumlbliche Regeln nicht mehr gelten Herr-schende gestuumlrzt und Machtlose maumlchtig werden ndash auf Zeit Die Karnevalisierungalso die Uumlbernahme der Kennzeichen dieses Festes in neue oder bestehende li-terarische Formen institutionalisiert diese Ausnahmesituation und loumlst sie vomkonkreten Fest Der so entstandene Text wird bdquozum karnevalesken Spiel an demder Autor und sein Publikum einverstaumlndlich teilhaben und das keines kalen-darisch oder institutionell abgesicherten Karnevalsrahmens mehr bedarfldquosup3⁵⁹

Diese Karnevalisierung fuumlhrt unter anderem zu einer Vielstimmigkeit vonMeinungen und Positionen im Text z B durch mehrere Figurenvon denen keinebevorzugt oder gar als autoritativ gekennzeichnet wird In dieser Dialogizitaumlt wirdkein allgemein guumlltiger Sinnmehr vermittelt sondern dieWahrheit suspendiertsup3⁶⁰

Dass der Bezug auf karnevalsartige Feste der Gattung menippeische Satire (inTeilen auch der Verssatire) eignet zeigt ein kurzer Blick auf wichtige Vertreter derTradition

Julians Symposion Caesares spielt zur Zeit der Saturnalien Die Bedeutungdieses Festes fuumlr das Werk wird dadurch verdeutlicht dass es den Handlungs-

Bachtin 1971 126ndash 135 Bachtin 1971 126 128 132f Kritik an den z T pauschalisierenden und verfaumllschenden Aussagen Bachtins uumlber antikeLiteratur oder an der ununterbrochenen Traditionslinie von der Antike bis in die Moderne (z BRelihan 1987 59 Lachmann 2006 23ndash25) muumlsste auch auf manche moderne Literaturwissen-schaftler in der Nachfolge Bachtins angewandt werden (vgl Branham 2005 6 wo es uumlberSenecas Apocolocyntosis heiszligt bdquoour only extant Menippean satire in Latinldquo) Teuber 1993 182 Eine gut verstaumlndliche Einfuumlhrung in das Konzept der Dialogizitaumlt im Sinne der bach-tinschen Terminologie bietet Sharland 2010 Einfuumlhrung (1ndash51)

148 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

rahmen fuumlr den in der Folge erzaumlhlten Mythos bildet Bereits im ersten Satz wirdauf das Fest und die Tradition Heiteres frei zu erzaumlhlen Bezug genommensup3⁶sup1

Auch Senecas Apocolocyntosis stellt einen engen Bezug zum Saturnalienfesther Das Werk spielt zwar nicht an den Saturnalien sondern am Todestag desClaudius im Oktober doch wird an zwei Stellen eine Verbindung zwischen derHerrschaft des verstorbenen Kaisers und den dargestellten Sitten waumlhrend derRegierungszeit mit dem Saturnalienfest gezogensup3⁶sup2 Manche Interpreten gehensogar davon aus dass die Apocolocyntosis an den Saturnalien des Jahres 54vorgetragen wurdesup3⁶sup3 Auch bei Petron und Horaz finden sich Bezugnahmen aufdie Saturnaliensup3⁶⁴

Ein zentrales Element des Saturnalienfestes liegt in der Suspension der uumlb-licherweise geltenden Normen und Wertesup3⁶⁵ Neben den anderen Elementen desFestes wie sie z B in Macrobiusrsquo Saturnalia (1 7ndash 10 1 24 22 f) beschriebenwerden (traditionelle Geschenke Festmahl fuumlr die Sklaven etc) hat gerade dieUmkehrung der Herrschaftsverhaumlltnisse im Haus Niederschlag in der Literaturgefunden

Gerade durch diese Rolleninversion treten einige wichtige gesellschaftlicheNormvorstellungen und Grundannahmen prominent hervor Dazu zaumlhlt das Be-wusstsein dass es eine befehlende und eine ausfuumlhrende Gruppe von Menschengibt oder dass im Prinzip ein Rollenwechsel moumlglich sein kann Alle Beteiligten

Ἐπειδὴ δίδωσιν ὁ θεὸς παίζειν ndash ἔστι γὰρ Κρόνια ndash hellip (sbquoDa der Gott das Scherzen erlaubt ndashes sind ja die Kronia helliplsquo Caes 1 = 306a Spanheim) Zur Frage ob es sich bei Caesares auch umdas Werk handle auf das zu Ende der Rede auf Koumlnig Helios verwiesen wird (Or in Sol reg 44 =157c Spanheim) vgl Muumlller in seiner Uumlbersetzung (39 ablehnend) und Lacombrade im Vorwortseiner Budeacute-Ausgabe (3 und 18 Anm 3) der aufgrund des Handschriftenbefundes Kronia auchals Titelbestandteil fuumlr die Caesares uumlbernimmt Es handelt sich um Sen apocol 8 1 (Claudius als Saturnalienprinz) und 12 2 (Herrschaftdes Claudius als andauerndes Saturnalienfest) ndash Dass Lukian nicht auf die Saturnalien alsRahmen fuumlr seine Werke zuruumlckgreift entwertet die Beobachtungen nicht Lukian musste auf-grund seines Selbstbewusstseins als satirischer Schriftsteller und aufgrund der Menge seinersatirischen Schriften nicht jedes Mal einen eigenen literarischen Rahmen herstellen in demeinzelne Dialoge stattfinden konnten Das Saturnalienfest selbst erscheint bei Lukian als Ge-genstand der Satire nicht als deren literarische Rahmung (Τὰ πρὸς Κρόνον) Zuerst bei Furneaux 1896 23 Anm 11 In der neueren Forschung vgl bes Nauta 1987Kritisch dazu u a Doumlpp 1993 159 f Petron 44 3 58 2 69 9 zu Horaz vgl z B serm 2 7 (libertas Decembris) Ein gelungenesBeispiel der Anpassung und Anwendung der bachtinschen Konzepte mit Ertrag fuumlr die Inter-pretation unter Einbezug von serm 2 7 bietet Sharland 2010 Distelrath 1999 114 Vgl weiterhin Versnel 1993 136ndash227 und Doumlpp 1993 Eine plastischeSchilderung der Rollenvertauschung bei der der Sklave dem Herrn die Leviten liest bietet Horserm 2 7

2 De nuptiis als literarisches Werk 149

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Herren wie Sklaven spielen also mit den Moumlglichkeiten einer alternativen Wirk-lichkeit

Das Besondere im Spiel mit den Moumlglichkeiten liegt aber in seiner zeitlichenBegrenzung Nach der Zeit des Ausnahmezustands gelten wieder die normalenimmer guumlltigen Regeln Die Rolleninversion erlaubt also ndash oder erzwingt gera-dezu ndash das Nachdenken uumlber bestimmte gesellschaftliche Normen und Wertvor-stellungen Durch die Ritualisierung und enge zeitliche Begrenzung ist darausjedoch keineswegs die Notwendigkeit entstanden die Verhaumlltnisse tatsaumlchlich zuhinterfragen oder gar zu aumlndern Daher lassen sich die Saturnalien auch als ein dieKonventionen bestaumlrkendes Fest verstehen Das Spiel mit der Moumlglichkeit eineranderen Gesellschaftsordnung hat durch seine Ritualisierung letztlich eine dieTradition legitimierende Funktion bekommen

In De nuptiis finden sich jedoch houmlchstens spaumlrliche Hinweise auf das Sa-turnalienfest Am ehesten weist das grob scherzende Agieren Saturas in diesenBereich Die bdquolangen Winternaumlchteldquo (1 2) koumlnnten (statt als Bezug auf Gellius) alsAnspielung auf das Saturnalienfest verstandenwerden ndash die Saturnalien finden inden laumlngsten Naumlchten uumlberhaupt statt seit der Kaiserzeit vom 17 bis 23 DezemberDies ndash wie die Spekulation uumlber eine spielerische etymologische Verbindung vonSatura und Saturnaliensup3⁶⁶ ndash ist aber insofern nicht von Belang da die Gattung alsGanze karnevaleske Zuumlge traumlgt und als gewissermaszligen institutionalisierter Kar-neval vom eigentlichen Fest losgeloumlst istsup3⁶⁷

Die Aufhebung der uumlblichen Ordnung (was Teuber im Ruumlckgriff auf Limina-litaumltskonzepte als praumlliminale Phase bezeichnet)sup3⁶⁸ beginnt mit der VorbereitungPhilologias zum Aufstieg in den Himmel Bereits das Erbrechen stellt eine mar-kante Umkehrung der alltaumlglichen Welt dar Statt sich Wissen anzueignen er-bricht Philologia es nun In der Goumltterversammlung auf der Milchstraszlige ist dieOrdnung sodann voumlllig verkehrt Philologia als Meisterin aller Disziplinen und

Zwar sind die einschlaumlgigen etymologischen Woumlrterbuumlcher skeptisch (v a WaldeHof-mann 2007 II 482 neutral ErnoutMeillet 2001 596) jedoch gibt es dahin gehende moderneDeutungen (aufgefuumlhrt bei WaldeHofmann 2007 II 482) und auch antike ParallelisierungenCic nat deor 2 64 Saturnus hellip est appellatus quod saturaretur annis (sbquoSaturn hellip wurde ergenannt weil er an Jahren gesaumlttigt istlsquo) Fulg myth 1 2 (p 17 16) a saturando Saturnus dictusest (sbquoDa er (die Menschen) saumlttigt wurde er Saturn genanntlsquo) Aug cons euang 1 23 35 Sa-turnus tamquam satur hellip νοῦς (sbquoSaturn gleichsam der gesaumlttigte hellip νοῦςlsquo) Vgl auch Gowers diedie etymologischen Verbindungen von satura Satyrspiel und Saturnalien untersucht (Gowers1993 109ndash 117) Sie kommt zu dem Befund dass keine Verbindung bestehe wohl aber verbin-dende Elemente identifiziert werden koumlnnten bdquocarnival licence parody uninhibited mockeryand excessive consumptionldquo (ibid 117) Vgl z B Teuber 1993 183 f Teuber 1993 183

150 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

bedeutende Lehrinstanz muss sich ihrerseits belehren lassen ndash mit dem Wissendas urspruumlnglich ihres war

Durch die Inversion wird die (vielleicht uumlblicherweise nicht prominente)Philologia in den Mittelpunkt geruumlckt und ihre zentrale Rolle im Wissenssystemtritt markant vor Augen Gleichzeitig kann darin eine leise Anfrage an ihre Lehr-autoritaumlt und eventuell auch ihre Eignung zur Lehre gesehen werden

Aufgrund des zeitlich begrenzten Rahmens der Verkehrung (diemit dem Endeder Vortraumlge voruumlber ist aber nicht explizit zuruumlckverwandelt wird) dessen Be-grenztheit durch Bezug auf die Form der menippeischen Satire ergaumlnzt werdenkann wird das System der Bildung und der Bildungsvermittlung jedoch nichtgrundsaumltzlich infrage gestellt Die Suspendierung Philologias ist temporaumlr

Dem Konzept der Dialogizitaumlt oder Mehrstimmigkeit folgend erklaumlrt sich auchdie Doppelung und Verunklarung der Erzaumlhlinstanz In den drei Dialogen indenen Satura und Martianus aufeinandertreffen behandeln sie die Frage desrichtigen Erzaumlhlens Dies beschraumlnkt sich nicht nur auf die Satire sondern umfasstalle auftretenden literarischen Formen Martianus und Satura sind sich uneinswie weit der Mythos reichen soll und ob eine Enzyklopaumldie trocken oder auchunterhaltsam erzaumlhlt werden soll (2 219ndash3 222) ob ein Symposion auch Zechenund Spaszlig vertraumlgt (8 803ndash810) oder ob und wie stark Satire Dinge vermischendarf (9 997ndash 1000)

Die unterschiedlichen Meinungen zu den Fragen werden zwar diskutiert undfuumlhren zu einem Ergebnis ndash der Erzaumlhlfluss versiegt ja an keiner Stelle oder setztneu an Allerdings entsteht in der Folge kein homogenes Werk und am Schlussmag keiner der beiden Erzaumlhler dafuumlr die Verantwortung uumlbernehmen Der Wi-derwillen sich zu dem Werk zu bekennen bedeutet aber gleichzeitig auch dassMartianus sich nicht festlegt welche Position er fuumlr die richtige haumllt Die Fragenach der rechten Art der Wissensvermittlung die auch in der Ent- und Inthroni-sierung Philologias anklang bleibt unbeantwortet

Schlieszliglich bringt der Blick auf die Aurelian-Vita aus der Historia Augustanoch einen weiteren Aspekt ein Parallel zur Aufteilung der Erzaumlhlinstanzen in Denuptiiswird der Erzaumlhlprozess in derHistoria Augusta aufmehrere AutorenverteiltWie zuerst Hermann Dessau und in der Folge Ronald Syme nachdruumlcklich gezeigthaben handelt es sich allerdings um nur einen Verfasser der uumlberdies auch inBezug auf die Abfassungszeit falsche Angaben gemacht hat und Quellen erfundenhatsup3⁶⁹ Insofern laumlsst sich der in der Historia Augusta gepraumlgte Begriff der

Auf den Charakter der Sammlung die Syme u a als bdquohoaxldquo bezeichnet (1983a 11 1983b13 1983c 219) die fingierten Autoren die manipulierten Quellen etc soll an dieser Stelle nurhingewiesen werden Vgl auch Cameron 2011 Kap 20 mit ausfuumlhrlicher Diskussion relevanterFragen

2 De nuptiis als literarisches Werk 151

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mythistoria der Vermischung von Mythischem und Historischem auch auf dieSammlung selbst anwendensup3⁷⁰

Als Menippee im engeren Sinne laumlsst sich weiterhin die Aurelian-Vita die 26Vita der Sammlung fassen und bezeichnenderweise spielt die Rahmenhandlungan denHilariasup3⁷sup1Wie zu den Saturnalien gehoumlren zu diesem Fest Scherze und ndash imRahmen von Maskierungen ndash Rollenwechselsup3⁷sup2

Noch in der rahmenden Einleitung zur Vita spielt sich folgender Dialog ab

1 et quoniam sermo nobis de Trebltellgtio Pollione qui a duobus Philippis usque ad divumClaudium et eius fratrem Quintillum imperatores tam claros quam obscuros memoriaeprodidit in eodem vehiculo fuit adserente Tiberiano quod Pollio multa incuriose multabreviter prodidisset me contra dicente neminem scriptorum quantum ad historiam pertinetnon aliquid esse mentitum prodente quin etiam in quo Livius in quo Sallustius in quoCornelius Tacitus in quo denique Trogus manifestis testibus convincerentur pedibus insententiam transitum faciens ac manum porrigens iocando[m] praeterea sbquoscribelsquo inquit sbquout

quae ille [scil Iunius Cordus] omnia exsequendo libros mythistoriis replevit talia scribendocum omnino rerum vilium aut nulla scribenda sint aut nimis pauca si tamen ex his morespossint animadverti qui re vera sciendi sunt hellip sed ex parte ut ex ea cetera colligantur(SHA Opil 1 5)

Bei der Anfuumlhrung von all diesen Informationen hat er die Buumlcher mit fabuloumlsen Ge-schichten angefuumlllt indem er Dinge von dieser Art schrieb wo doch uumlberhaupt keinenutzlosen Dinge geschrieben werden duumlrfen oder nur sehr wenige sofern daraus Verhal-tensweisen erkannt werden koumlnnen die wirklich wissenswert sind hellip aber zum Teil(schreibe ich) damit daraus das Andere gefolgert werden kann

quid Marius Maximus homo omnium verbosissimus qui et mythist[h]oricis se voluminibusinplicavit num ad istam descriptionem curamque descendit (SHA Quadr tyr 1 2)

Wie Hat sich Marius Maximus der groumlszligte Schwaumltzer vor dem Herrn der sich in seinenmythistorischen Werken verfangen hat etwa zu dieser Art der Darstellung und des sorg-faumlltigen Arbeitens herabgelassen

Hilaribus quibus omnia festa et fieri debere scimus et dici impletis sollemnibus vehiculo suome hellip Iunius Tiberianus accepit (SHA Aurelian 1 1)

An den Hilaria an denen alles zum Fest Gehoumlrende getan und gesagt werden muss wieman weiszlig empfing mich nach Erledigung der Zeremonien Iunius Tiberianus in seinemGefaumlhrt

Pausch bemerkt dieses besondere Datum zwar und erwaumlgt ob es sich um ein bdquoweitergehendesLesesignalldquo beispielsweise im Sinne karnevalesker Literatur handeln koumlnne verfolgt diese Spuraber nicht weiter (Pausch 2011 130 Anm 1) Herodian 1 10 5 ndash Einige Hinweise auf die Hilaria die im Kontext des Magna Mater-Festesam 25 Maumlrz gefeiert wurden bietet Fraser in seinem Kommentar zu Ovids Fasti (Fraser 1929244ndash248)

152 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

libet 2 securus quod velis dices habiturus mendaciorum comites quos historicae elo-quentiae miramur auctoreslsquo (SHA Aurelian 2 1ndash2)

1 Und weil unser Gespraumlch uumlber Trebellius Pollio der von den beiden Philippi bis zumvergoumlttlichten Claudius und dessen Bruder Quintillus gleichermaszligen uumlber beruumlhmte wieunbekannte Kaiser fuumlr die Nachwelt schrieb in derselben Saumlnfte stattfand behauptete erdass Pollio vieles ohne Sorgfalt und nur kurz dargelegt habe Ich erwiderte dass keinSchriftsteller sofern es um die Geschichte gehe nicht irgendwo gelogen habe und legtesodann dar worin sogar Livius Sallust Tacitus schlieszliglich sogar Trogus mit eindeutigenBelegen uumlberfuumlhrt werden koumlnnten Darauf sagte Tiberianus schlieszliglich scherzend indem ermeiner Meinung beipflichtete und mir seine Hand darbot bdquoSchreibe sowie du es fuumlr richtighaumlltst 2 Sage unbesorgt was du willst du wirst diejenigen als Gefaumlhrten fuumlr deine Taumlu-schungen haben die wir als Schoumlpfer historiographischer Beredsamkeit bewundernldquo

So sympathisch dieser Anspruch auch erscheinen mag ist er doch fuumlr das Ver-trauen in die Gattung der Geschichtsschreibung fatal Gerade in der Einleitungeiner Vita jedoch ndash zumal es der Fiktion nach die erste des Flavius Vopiscus Sy-racusius im Corpus der Historia Augusta ist ndash kann eine solche Anekdote ei-gentlich keinen Platz haben Sie erweckt beim Leser den Eindruck dass er dennachfolgend dargebotenen Informationen kein Vertrauen schenken duumlrfesup3⁷sup3

Die Parallelen zwischen der Historia Augusta insbesondere dem Vorgehen inder Vita Aureliani und De nuptiis liegen auf der Hand Verunklarung der Autor-schaft bzw der Erzaumlhlhaltung einerseits Erwecken von Zweifeln an der Glaub-wuumlrdigkeit des Dargebotenen andererseits

In der Historia Augusta sind die Inkongruenzen mit der Freude des Autors amliterarischen Spiel erklaumlrt worden Der Autor habe aus Freude am Fabulieren(vielleicht auchumein dafuumlr empfaumlngliches Publikum zu befriedigen) die Viten indieser Form verfasstsup3⁷⁴ Mag man dies fuumlr die Historia Augusta noch zugestehenderen Text uumlber einen laumlngeren Zeitraum vielleicht zunaumlchst ohne eine Gesamt-konzeption entstanden ist und auch sprachlich nicht herausragt stellt sich derSachverhalt fuumlr Martianusrsquo De nuptiis anders dar Das Werk hat durchaus einenliterarischen Anspruch und es folgt eindeutig einer vorab geplanten Gesamtan-lage Die Freude am Spiel mag vielleicht manches Detail beigesteuert haben fuumlrdie verschraumlnkte Anlage des Textes ist sie aber keine Erklaumlrung

Ganz anders ist der Anspruch zum Ende der Darstellung der Viten der bdquoDreiszligig Tyrannenldquoin dem der Autor beteuert seinem Werk mangele es zwar an literarischer Ausgefeiltheit nichtjedoch an Faktentreue da nunc cuivis libellum non tam diserte quam fideliter scriptum ndash sbquoGibnun dieses Buumlchleinwem du magst es ist nicht so sehr kunstvoll geschrieben wie es sachgetreuistlsquo (SHA Quadr tyr 33 8) Syme nennt dies bdquodeceit for its own sweet sakeldquo (1983c 217) Im gleichen Aufsatz spe-kuliert er auch uumlber das Interesse des Publikums an einer solchen Art von geistigem Spiel(ibid 221)

2 De nuptiis als literarisches Werk 153

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Es lohnt sich jedoch auch fuumlr die Historia Augusta einen Schritt weiter zugehen Ausgangspunkt dafuumlr ist die obige Beobachtungdass das literarische Spielder Historia Augusta nur durchschaut wer die Werke der historischen Literaturkennt Durch die Lektuumlre historiographischer Biographien bringt der Leser einebestimmte Leseerwartung also implizite Vorstellungen mit wie das Werk aus-sehen soll und wird Diese Erwartungen werden aber nicht oder nur teilweisebedient Formal gesehen weisen die Viten in der Historia Augusta zwar die Cha-rakteristika der Gattung auf ndash doch indem sie sie inhaltlich nicht adaumlquat aus-fuumlllen treten deren Konventionen vor Augen

Durch die uumlbermaumlszligige Verwendung falscher Verweise und erfundener Quel-len geraumlt zudem das Beglaubigungsverfahren historischer Texte in den Blick-punkt Der Leser erkennt anwelchen Stellenwelche Beglaubigungsmechanismenansetzen und auf welche Weise sie unterlaufen werden koumlnnen Uumlberspitzt lieszligesich behaupten DieHistoria Augusta verfolgt ein aufklaumlrerisches Interesse indemsie (spielerisch) aufzeigt welche Beglaubigungsverfahren die Geschichtsschrei-bung nutzt und wie sie manipuliert werden koumlnnen dadurch wird auch die Ma-nipulierbarkeit von Geschichte und Leser deutlich

In De nuptiis werden ebenfalls die Konventionen der Einzelgattungen ndash zu-mindest ansatzweise ndash hervorgehoben Dass kein perfektes Musterbeispiel derjeweiligen Einzelgattung entstehen kann liegt darin begruumlndet dass durch dieVerbindung der vier literarischen Genres keine oberflaumlchliche Konsistenz derFiktion entstehen kannVielmehr entstehen Bruumlche die ndash ebenso wie die Bruumlchein der Erzaumlhlhaltung ndash auch die Gattungskonventionen und ihre Annahmendeutlich werden lassen Dies gilt besonders fuumlr die Satire deren Vorgehen imKontrast zur eigentlichen Hochzeitshandlung aus dem Rahmen faumlllt und somitbesonderes Augenmerk erhaumllt Hinzu tritt mit der Figur Satura auch eine Perso-nifikation der Gattung die in theoretischen Diskussionen Annahmen und Vor-gehen mit Martianus eroumlrtert Grunduumlberlegungen der Gattung Satire werden sotheoretisch eroumlrtert und praktisch erprobt Gleiches giltwenn auch zT inwenigerdeutlicher Form auch fuumlr die anderen Formen Die Enzyklopaumldie in ihren langenMonologen wird durch Spott markiert die trockenen Kuumlnste werden probeweisedurch Allegorien zugaumlnglicher gemacht im Symposiondialog wird uumlberlegt in-wieweit uumlbliche Rollenmuster (der Zecher) einen Platz haben oder wie weit mandie fuumlr die Feier typischen Reden fuumlhren kann und immythischen Teil wird durchdie Gegenuumlberstellung mit dem handfesten Wissensbetrieb die Andersartigkeitdes Erzaumlhlens deutlich

So werden neben den Inhalten der Wissenschaften auch verschiedene lite-rarische Formen bewahrt Neben der reinen Anwendung und somit Tradierungwerden gleichzeitig auch die Mechanismen verdeutlicht deren sich die jeweilige

154 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Gattung bedient Somit wird ihr Funktionieren nachvollziehbar und in der Folgeauch nachahmbar

3 Zusammenfassung

Martianus weckt also durch die Wahl mehrerer gleichberechtigter Erzaumlhler diesomit das Erzaumlhlen unzuverlaumlssig werden lassen besonders aber durch dieUumlbernahme satirischer Gattungselemente ein Bewusstsein fuumlr die traditionellenGrundlagen desWissens- und Lehrsystems seiner Zeit ImGegensatz zur Satire diediese Fragen kategorisch stellt handelt es sich in De nuptiis um ein Spiel damitDer Satirebezug dient als Anknuumlpfung an die traditionellen Gattungsmerkmaleder menippeischen Satire Karnevaleske und Dialogizitaumlt

Durch die (temporaumlre) Rolleninversion richtet sich das Augenmerk aufPhilologia als Wissenszentrum und Wissensmittlerin und fordert zum Nach-denken daruumlber heraus Im Kern hinterfragt das Werk alle Bereiche die mit Bil-dung und Bildungsvermittlung zu tun haben Was sind die Inhalte wahrer Bil-dung Gibt es eine Einheit von Bildung Wie kann sie vermittelt werden

Allerdings zielt die Kritik nicht auf eine Aufloumlsung klassischer Bildungsinhalteund Vermittlungsformen Sie regt vielmehr durch Scherz und Bruumlche zumNachdenken uumlber diese Fragen an Dabei verzichtet Martianus auf eigene Vor-schlaumlge und Konzepte und festigt so gleichsam den traditionellen Bildungs-betrieb Das von ihm dargestellte Wissen wird kanonisiert und die Darstel-lungsform in langen Reden wird es auch Die mittelalterliche Rezeption von Denuptiis zeigt dies eindrucksvoll

Wissen umfasst dabei nicht nur das Faktenwissen der Vortraumlge sondern auchdas Wissen um bestimmte literarische Formen Durch die Verbindung von vierGattungen und die Doppelung der Erzaumlhlerfigur mit Reflexion uumlber angemessenesErzaumlhlen entstehen Inkonsistenzen die die Konventionen der einzelnen Gattun-gen hervortreten lassen Nicht alle Elementewerden auf dieseWeise deutlich aberMartianus bietet einen Ansatzpunkt die Fiktion auch unter der Fragestellung zulesen was einen Text der jeweiligen Gattung ausmacht ndash sowohl positiv wie ne-gativ formuliert

Mit seiner kreativen Konzeption und ihrer literarischen Umsetzung gelingt esMartianus eindrucksvoll Heiteres und Belehrendes zu verbindenwomit er an dieTradition Varros und die klassische antike Poetik anknuumlpft Es gelingt ihm daruumlberhinaus aber auchWissen zu vermitteln und die traditionellen Vorstellungen vonder Bedeutung dieses Wissens wie der Form seiner Vermittlung herauszustellenSpielerisch wird also gelehrt und hinterfragt nicht jedoch kategorisch kritisiertoder kuumlhn neu entworfen Gerade dadurch zeichnet sich Martianusrsquo De nuptiis

3 Zusammenfassung 155

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

tatsaumlchlich als nescioquid inopinum intactumque (sbquoetwas Ungewohntes und nochnie Gewagteslsquo 1 2) aus und macht es zu einem der bedeutendsten Buumlcher derSpaumltantike und zu einer interessanten Quelle fuumlr die Frage nach Bildungsvor-stellungen im fuumlnften Jahrhundert

156 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Page 4: Bildungsvorstellungen im 5. Jahrhundert n. Chr. (Macrobius, Martianus Capella und Sidonius Apollinaris) || III Martianus Capella, De nuptiis Philologiae et Mercurii

Die Unsicherheiten in Bezug auf Martianus umfassen auch die Datierung Dersichere Zeitrahmen ist durch die letzte zu ermittelnde verwendete Quelle AristidesQuintilianus und die erste explizite Bezugnahme durch Fulgentius gegebensup2⁶sup2bleibt mit den Eckdaten 34 Jahrhundert und Mitte 6 Jahrhundert allerdings sehrweit

Die Bezeichnung der Heimatstadt Karthago als beata (sbquogluumlcklichlsquo 9 999) bzwinclita pridem armis (sbquoeinst durch seine Waffen beruumlhmtlsquo 6 669) hat daher auchgenaueren Datierungsversuchen einen Ausgangspunkt geboten Jedoch lassensich aus diesen Attributen Karthagos ebenso wenig Indizien fuumlr eine Datierungableiten wie aus der Verwendung des Namens Byzanz fuumlr Konstantinopel (6 670)oder der Erwaumlhnung des Prokonsulamtes in Karthago (9 999)sup2⁶sup3

Aus einer Stelle im Buch uumlber die Geographie laumlsst sich jedoch einigermaszligensicher ein terminus post quem ableiten

Umbri mox Latiumque atque ostia Tiberina dehincque ipsa caput gentium Roma armisvirissacrisque quamdiu viguit caeliferis laudibus conferenda (6 637)

Dann schlieszligen sich an die Umbrer und Latium und die Tibermuumlndung sodann Rom selbstHauptstadt aller Voumllker das Ruhm bis zu den Sternen verdiente solange es noch durchWaffen Maumlnner und Heiligtuumlmer erstrahlte

Die knappe Einschraumlnkung quamdiu viguit verweist auf eine bereits vergangeneZeit der Groumlszlige Roms und wird von den meisten Interpreten mit der Eroberungdurch die Westgoten 410 gleichgesetzt Andere Ereignisse namentlich die Pluumln-derung der Stadt durch die Vandalen im Jahre 455 kommen nicht in Betrachtsup2⁶⁴

Die Abfassung von De nuptiis nun unmittelbar auf die Jahre nach 410 anzu-setzenwie Cameron es tutsup2⁶⁵ ist dabei nicht zwingend Zum einen kannMartianusdie Eroberung als Epochenbruch aufgefasst haben und auch Jahrzehnte spaumlternoch von der fruumlheren d h ungebrochenen Macht Roms sprechen zum anderen

So LeMoine 1972a 8 Die Diskussion fassen Grebe 1999 11ndash21 und Shanzer 1986c 1ndash28 zusammen ZumProkonsulamt vgl auch Schievenin 2009d und Cristante 1978 699f Cameron 1986 326 Cameron begruumlndet dies mit Hinblick auf die angefuumlhrte Stelle da dieVandalen die Stadt nicht entvoumllkerten also die Einschraumlnkung Roma armis viris sacrisquequamdiu viguit nicht auf den Vandalenuumlberfall zutrifft Grebe haumllt in quamdiu viguit eine Be-zugnahme auf 455 oder 468 (Niederlage der byzantinischen Flotte vor Karthago) dagegen fuumlrmoumlglich (Grebe 2000 355) Cameron 1986 326 datiert De nuptiis auf die Zeit unmittelbar nach 410 da Rom nur dannentvoumllkert gewesen sei die Bewohnerzahl habe wenige Jahre darauf wieder ein aumlhnliches Ni-veau wie vor 410 erreicht

1 Vita 117

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

koumlnnen im Trikolon armis viris sacrisque auch verschiedene Arten des Nieder-gangs (Eroberung sowie allmaumlhlicher Verfall) verbunden seinsup2⁶⁶

Ein textexterner Faktor fuumlr die Bestimmung des terminus ante quem ist eineSubskription zum ersten Buch von De nuptiis die sich in einer Reihe von Hand-schriften findetsup2⁶⁷ Sie lautet

Securus Melior Felix v(ir) sp(ectabilis) com(es) consist(orianus) rhetor Urbis R(omae) exmendosissimis exemplaribus emendabam contra legente Deuterio scolastico discipulomeo Romae ad portam Capenam cons(ulatu) Paulini v(iri) c(larissimi) sub V nonarumMartiarum Christo adiuvante (Subskription zu Buch 1 in den Handschriften ABDGR)

Ich Securus Melior Felix vir spectabilis comes consistorianus Rhetor der Stadt Rom habe(das Buch) aus aumluszligerst fehlerhaften Exemplaren verbessert wobei Deuterius Student derRhetorik ein Schuumller von mir gegenlas Rom bei der Porta Capena unter dem KonsulPaulinus vir clarissimus am 5 Maumlrz mit Christi Hilfe

Trotz der vielen genauen Angaben laumlsst sich das Jahr der Abschrift durch SecurusMelior Felix nicht genau bestimmen In der fraglichen Zeitspanne gab es zweiKonsuln mit dem Namen Paulinus (498 und 534 n Chr) Klassischerweise wurdebei Datierungen der Zusatz senior hinzugefuumlgtwenn es zwei Konsuln des gleichenNamens gab so dass die Datierung ohne einen Zusatz auf den fruumlheren Konsulund damit das Jahr 498 fallen musssup2⁶⁸

Fuumlr die Datierung der Abfassung von De nuptiis sind nun noch einige Jahreabzuziehenum die Verbreitung der Schrift von Afrika nach Rom und einen Verfallder Manuskripte zu ermoumlglichen Beides muss jedoch keinesfalls lange gedauerthaben

Eine sichere und genaue Datierung des Werks und des Autors ergibt sich ausden vorgestellten Argumenten zwar nicht Sie bieten aber einige Anhaltspunktedafuumlr dass De nuptiis nach 410 und einige Zeit vor 498 abgefasst wurdesup2⁶⁹

Ebenso Stahl 1971 14 und Shanzer 1986c 5 Zur Diskussion um diese Subskription vgl bes Preacuteaux 1975 Cameron 1986 Shanzer 1986c9 Voumlssing 2008 389f Voumlssing 2008 390 ndash Solch formalistische Regeln an Subskriptionen anzulegen erscheintzunaumlchst schwierig doch in diesem Fall angesichts der weiteren exakten Angaben als durchauszulaumlssig Zu spaumltantiken Subskriptionen und ihrem Aussagewert vgl Cameron 2011 Kap 12ndash 13 Eine Datierung in die Zeit der bdquorenaissance vandaleldquo (der Begriff wurde von Pierre Richeacutegepraumlgt vgl auch Hays 2004) wie Grebe es anhand von kulturgeschichtlichen Uumlberlegungenversucht ist nur moumlglich wenn die Identifizierung des Konsuls Paulinus mit dem erstenAmtstraumlger dieses Namens infrage gestellt wird Grebes Argumentation setzt bei der unsicherenIdentifikation des Paulinus an Sie erwaumlgt sodann eine Abfassung unter den vandalischenHerrschern Gunthamund und v a Thrasamund die die Kultur gefoumlrdert haumltten (Grebe 1999 20 f)

118 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

2 De nuptiis als literarisches Werk

Bereits eine erste unbefangene Lektuumlre von De nuptiis hinterlaumlsst den Eindruckdass Martianus ein anspruchsvolles und komplexes Werk hinterlassen hat Nacheiner kurzen Szene zu Beginn in der sich der Erzaumlhler Martianus mit seinem Sohnunterhaumllt und die am Ende als Rahmen wieder aufgegriffen wird beginnt einemythische Schilderung der Hochzeitsvorbereitungen von Merkur und PhilologiaMerkur macht sich mit Hilfe von Virtus auf die Suche nach einer Braut sucht undfindet Apoll der ihm die sterbliche Philologia als Braut vorschlaumlgt bittet denGoumltterrat um die Genehmigung zur Hochzeit und erhaumllt sie (Buch 1) Als Philologiavon dem Plan erfaumlhrt uumlberlegt sie mit kabbalistisch anmutenden Berechnungenob die Ehe guumlnstig sei bereitet sich auf die Hochzeit durch eine Reinigung vor beider sie ihr bisher gesammeltes Wissen erbricht und steigt in einer Saumlnfte uumlber dieHimmelssphaumlren auf zur Milchstraszlige wo die Hochzeit stattfindet (Buch 2)Waumlhrend der Hochzeitsfeierlichkeiten laumlsst der Ehemann zu Ehren der Brautsieben Brautjungfern auftreten die ihr dienen sollen Diese stellen in langenReden ihr Wissen vor Es sind die spaumlteren sieben freien Kuumlnste (Buumlcher 3 bis 9)Eingelegt in diese Berichte sind kurze Szenen von der Hochzeitsfeier und Wort-wechsel zwischen dem Erzaumlhler Martianus und einer weiteren Erzaumlhlerfigur Sa-tura

Leser von De nuptiis besonders moderne sehen sich vor vielfaumlltige Fragenund Probleme gestelltwenn sie versuchen die Schrift mit ihren unterschiedlichenAspekten zu verstehen Eine umfassende Interpretation ist aber gerade bei diesemWerk Voraussetzung fuumlr eine Beantwortung nachrangiger Fragen Daher soll indiesem Teil ein Beitrag zum Gesamtverstaumlndnis von De nuptiis versucht werdenDer Zugang soll rein literarisch erfolgen woran sich einige weitere Uumlberlegungenanschlieszligen

Eine Analyse der literarischen Form von De nuptiis muss folgende beidenAspekte beruumlcksichtigen einerseits die Anknuumlpfung an Gattungstraditionenund ndash damit verbunden ndash die Frage nach der literarischen Form von De nuptiis alsGanzem andererseits die narrative Gestaltung des Werkes

Die FormvonMartianusrsquoDe nuptiis zu bestimmen ist keine einfache AufgabeDies liegt an der Vielzahl von Bezuumlgen und kompositorischen Ideen die eineeindeutige Identifizierung erschweren Ausdruck findet dieser Umstand darindass in dermodernen Forschung verschiedene Elemente benanntwerden die eineGattungszuordnung ermoumlglichen Das Ergebnis ist jedoch meist eine Aufzaumlhlung

und engt den Zeitraum der Abfassung auf die Herrschaft Thrasamunds (496ndash523) ein (Grebe2000 363ndash365 bes 368)

2 De nuptiis als literarisches Werk 119

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

vonmoumlglichen Zuordnungen die eine Festlegung vermeidetsup2⁷⁰Die Untersuchungwird besonders vier Traditionsstraumlnge fokussieren das Lehrbuch bzw die Enzy-klopaumldie die Symposionliteratur die mythisch-allegorische Erzaumlhlung und diemenippeische Satiresup2⁷sup1 Es wird nach dem Zweck der Anknuumlpfung an diese Tra-ditionen zu fragen sein um dann zu pruumlfen welche Wirkung die Verbindungdieser Formen hervorruft

Einen besonderen Schwerpunkt wird die Herausarbeitung der satirischenElemente in De nuptiis darstellen Trotz ihrer relativen Prominenz sind bislangnicht alle Elemente beachtet wordensup2⁷sup2 Und da aus diesen Beobachtungenwichtige Folgerungen fuumlr das Gesamtverstaumlndnis vonDe nuptiis abgeleitet werdenmuumlssen diese zunaumlchst ausfuumlhrlich erhoben werden

Eingelagert in die Analyse der satirischen Elemente von De nuptiis wird dieFrage nach der narrativen Gestaltung unter dem Blickwinkel der Erzaumlhlinstanzenthematisiert In der Schrift konkurrieren zwei Erzaumlhlerfiguren Martianus undSatura um die Verantwortung fuumlr das Erzaumlhlte wie um das richtige Vorgehen beimErzaumlhlen Es ist zu bestimmen in welchem Verhaumlltnis beide Erzaumlhlerfiguren zu-einander stehen und welchem Zweck diese Doppelung dient

21 Die literarische Form

EnzyklopaumldieIm Gegensatz zu Macrobiusrsquo Saturnalia ist De nuptiis dem Sohn nicht als Werk derBelehrung gewidmetVielmehr spricht Martianus von der fabella (1 2) bzw fabula

Paradigmatisch ist die Konstatierung der Aporie bei LeMoine die nach der Aufzaumlhlungvon Vorbildern das Kapitel zur literarischen Form ohne weitere Uumlberlegungen so abschlieszligtbdquobut the De nuptiis in the diversity of its content language and form is truly unlike anythingwritten either before or sinceldquo (LeMoine 1972a 8) Vgl auch Relihan bdquoit is a mixture thatfrustrates senseldquo (Relihan 1993 15) Bisherige Interpretationen haben jeweils unterschiedliche Traditionen benannt und derVermischung der Formen wenig Beachtung geschenkt EnzyklopaumldieLehrbuch (Marinone 197018 Lommatzsch 1904 190) Lehrbuch mit menippeischen Momenten (Dronke 1994 36)menippeische Satire (LeMoine 1972a 7) menippeische Satire und Symposionform (Petrovićovaacute2004 85) Mischung aus Enzyklopaumldie menippeischer Satire und platonischem Mythos (Barnish1986 98) menippeische Satire und Epithalamium (Cristante im Vorwort seiner Ausgabe 3 und21 Bovey 2003 10) Mischung aus philosophischem und allegorischem Roman (Boumlttger 1947590) Allegorie mit Fachschriftstellerei (Guillaumin 2008 168) Roman mit Elementen desSymposions (Stahl 1971 26) Mischung aus menippeischer Satire Allegorie fabula und Sym-posiondialog (LeMoine 1972b 214) Gelegentlich wird das satirische Element in De nuptiis sogar deutlich heruntergespielt oderumgedeutet vgl u a Grebe 1999 855 f Petrovićovaacute 2010b

120 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

(2 219) die das Buch ausmacht und die der Sohn houmlren bzw der Leser lesen sollsup2⁷sup3Erscheint es zunaumlchst so als ob die Erzaumlhlungmit dem zweiten Buch endet und abdem dritten nur ernste Abhandlungen folgen sollen (2 219 f) korrigiert Martianusdiesen Eindruck jedoch gleich zu Beginn des dritten Buches Dort laumlsst er sich voneiner nicht benannten Muse (Camena) das Versprechen abnehmen auch weiter-hin fiktionale Elemente zu nutzen

Der anfaumlnglich ins Auge gefasste Verzicht auf Fiktion (fictum) fuumlr die fol-genden wissenschaftlichen Partien (disciplinae sobriae)sup2⁷⁴ betont jedoch derenRelevanz und das Interesse an zuverlaumlssiger Belehrung Waumlhrend sich fuumlr denInhalt der Buumlcher 1 und 2 eine Erzaumlhlung als gut geeignet erwies widersprachdiese fuumlr Martianus dem Wesen der anschlieszligenden Vortraumlge welchen dadurchgroumlszligeres Gewicht zufaumlllt

Der scheinbare Konflikt wird dadurch geloumlst dass die Vortraumlge an sich in dergeplanten trockenen Form gehalten werden Sie sind jedoch in die uumlber alle neunBuumlcher fortgesetzte Erzaumlhlung der Hochzeit Merkurs mit der Philologie einge-bettet Der Handlungsfortschritt zwischen den Vortraumlgen ist nicht groszlig sondernbeschraumlnkt sich meist auf das Evozieren von Eindruumlcken und die Bezugnahme auftraditionelle gattungsspezifische Elemente (vgl z B die Elemente des Symposi-ondialogs)

Dass Martianus schlieszliglich das ganze Werk mit seinen erzaumlhlenden und be-lehrenden Teilen als fabula betrachtet wird in der abschlieszligenden Sphragisdeutlich Dort heiszligt es

Habes anilem Martiane fabulammiscillo lusit quam lucernis flamineSatura Pelasgos dum docere nititurartes daggercagris vix amicas Atticis (9 997)

Da hast du Martianus eine Altweibergeschichte welche bei Kerzenschein Satura mit ge-mischtem Liede [d h in Prosa und Vers] spielend hervorbrachtewaumlhrend sie sich bemuumlhtedie Pelasger zu lehren die Kuumlnste die den Griechen kaum freundlich [d h neu] sind

Der Begriff des mythos der dreimal in De nuptiis auftritt ist eng auf den allegorischenInhalt der Buumlcher 1 und 2 beschraumlnkt und entspricht in etwa dem was Macrobius unter narratiofabulosa versteht (Bovey 2003 38ndash42) Beide Wendungen 2 220 ndash Zur Frage der Bezeichnungen als artes bzw disciplinae in-klusive der Begriffsentwicklung vgl Bovey 2003 64ndash87

2 De nuptiis als literarisches Werk 121

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

So unklar der Inhalt der Wendung Pelasgos docere istsup2⁷⁵ wird doch deutlich dassMartianusmit den vorausgegangenen 9 Buumlchern belehrenwolltewas allein schondie systematische Anlage (sieben Kuumlnste Reflexion uumlber weitere Wissenschaftenin 9 891) und die Fuumllle des Stoffes nahelegen

Der enzyklopaumldische Teil umfasst die Buumlcher 3 bis 9 von De nuptiis Zunaumlchsttreten die Kuumlnste Grammatik Dialektik und Rhetorik auf und stellen ihre Disziplinvor (Buumlcher 3 bis 5) Davon deutlich abgesetzt durch einen Hymnus auf PallasAthene zu Beginn von Buch 6sup2⁷⁶ folgen die Wissenschaften des spaumlteren Qua-driviums Geometrie Arithmetik Astronomie und Harmonie (Buumlcher 6 bis 9)Diese werden wiederum in zwei Zweiergruppen unterteilt Eine unmittelbareVorlage dafuumlr laumlsst sich nicht erkennen aber auch bei Boethius findet sich eineZusammenfassung der vier mathematischen Faumlcher die von der Forschung aufNikomachos von Gerasa zuruumlckgefuumlhrt wirdsup2⁷⁷ Eine Anordnung nach steigendemAnsehen der Kuumlnste ist auch durch Groumlszlige und Zusammensetzung des Gefolgesund die Reaktionen der Goumltter erkennbarsup2⁷⁸

Die Vortraumlge der Kuumlnste selbst entsprechen dem Charakter von Fachschriftenwas vor allem auf der streckenweise woumlrtlichen Wiedergabe der zugrunde lie-genden Quellen beruht Durch den Umfang den kleinschrittigen Aufbau und diesprachliche Sproumldigkeit wirken diese Reden wie ein Fremdkoumlrper in der Ge-schichte der Hochzeitsfeierlichkeiten und lassen manchen anwesenden Gottmuumlde werden oder gereizt reagierensup2⁷⁹

In der Regel sind die Vortraumlge aus einer odermehrerenVorlagen uumlbernommenwobei Martianusrsquo Eigenbeitrag vor allem in der Auswahl und Zusammenstellungder Quellen liegt Ein prominentes Beispiel fuumlr Martianusrsquo Vorgehen ist die Be-zeichnung Konstantinopels als Byzanz (6 670) Die Stelle kann nicht ndash wie haumlufiggeschehen ndash zur Datierung herangezogen werden sondern offenbart Martianusrsquo

Cristante versteht die Stelle woumlrtlich wenn er formuliert Martianus wolle das baumlurischeItalien belehren (Cristante 1978 679) waumlhrend Parker die Bedeutung des Wortes Pelasgi garnicht genau bestimmen moumlchte (Parker 1890 454) Zu dieser Passage und der Bedeutung dieses zweiten sbquoBinnenprooumlmslsquo vgl Bovey 2003227ndash237 sowie Zaffagno 1998 Rechenauer 1994 Sp 1177 Waumlhrend Grammatik allein eintritt (3 223) wird Harmonia von vielen auch beruumlhmtenBegleitern eingefuumlhrt und ihr Einzug wird von Musik begleitet (9 905ndash909) Ihr Vortrag ruft beiden Goumlttern Freude hervor (9 996) waumlhrend der Vortrag von Grammatik neutral zur Kenntnisgenommen wird (3 326) und der Vortrag von Dialektik aufgrund des Unwillens der Zuhoumlrersogar abgebrochen werden muss (4 423) Vgl Relihan 1987 64 und Bovey 2003 10 die voneinem bdquoparcours ascendant et cycliqueldquo spricht 4 423 5 565 6 723

122 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

unkritischen Umgangmit seinen Quellensup2⁸⁰Meist liegt der Darstellungder Kuumlnstenicht jeweils eine Fachschrift zugrunde sondern sind mehrere Werke heran-gezogen und zusammengestelltsup2⁸sup1

Die Auswahl der Faumlcher erfolgt nicht willkuumlrlich Die Tradition der um-fassenden Bildung die sich hinter dem Begriff der ἐγκύκλιος παιδεία verbirgtsup2⁸sup2der von Martianus auch in lateinischer Uumlbersetzung verwendet wirdsup2⁸sup3 umfassteim Laufe der Jahrhunderte einen wechselnden Faumlcherkanon Im Kern waren je-doch immer sowohl sprachliche Faumlcher als auch im weiteren Sinne mathemati-sche Faumlcher darin vertretensup2⁸⁴ Die Siebenzahl war dabei nicht kanonisch eskonnten auch neun Faumlcher (Varro) dazugehoumlren oder ein nicht genau umrissenerFaumlcherkanon (Boethius)sup2⁸⁵

Gegenuumlber der Tradition stellt Martianusrsquo Faumlcherauswahl keine grundlegendeNeuerung dar Grammatik Rhetorik und Dialektik waren meist Bestandteil derumfassenden Bildung und auch Geometrie Arithmetik Astronomie und Musikgehoumlrten haumlufig dazusup2⁸⁶ Der Ausschluss weiterer Kuumlnste wie der Medizin und der

Vorlage ist an dieser Stelle Plinius (Plin nat 5 24f) Vgl Grebe 2000 354 Typisch ist dieEinschaumltzung Krapingers der De nuptiis ein niedriges fachliches Niveau bescheinigt (bdquoevidentesachliche Defiziteldquo Krapinger 1999 962) Vgl auch die Anrufung Minervas zu Beginn desQuadriviums 6 574 in der Martianus explizit um Inspiration in Bezug auf die griechischenKuumlnste bittet Ein Blick in den Similienapparat zeigt dass Martianus fuumlr das sechste Buch uumlber dieGeometrie hauptsaumlchlich auf drei Autoren zuruumlckgegriffen hat Solinus Plinius und Euklid Vglauch Willisrsquo Anmerkung in seiner Ausgabe non moris fuisse Martiano ut per integrum librumunum sequeretur auctorem (309) Sehr aufschlussreich ist beispielsweise die Untersuchung vonBarbara Ferreacute in der Einleitung zur Ausgabe (xxiv-xxvii) Vgl auch die Beitraumlge von Schievenin(2009a und 2009b) die neben der unmittelbaren Fragestellung auch eine weitere Einordnungbieten Einen konzisen und modernen Uumlberblick uumlber die Entwicklung des Konzeptes bietetRechenauer 1994 Die Monographie von Hadot (Hadot 2005) ist immer noch das Standardwerk 9 998 (disciplinae cyclicae) Hadot 2005 265ndash267 Marrou 1958a 2 Teil bes die Uumlbersicht 216ndash217 Rechenauer 1994Grebe 1999 37ndash50 Uumlber die Siebenzahl ihren Ursprung ihre Festlegung sowie ihre endguumlltige inhaltlicheFuumlllung ist bislang kein Konsens erzielt worden deutlich ist aber dass Martianus Capella undAugustin bei ihrer Kanonisierung und Ausgestaltung eine entscheidende Rolle gespielt habenbdquoLa question de lrsquoorigine du cycle des sept arts libeacuteraux est irreacutesolue et en partie insoluble maisles deux auteurs drsquoorigine africaine [Martianus Capella und Augustin] jouegraverent un rocircle con-sideacuterable dans le triomphe de ce programme drsquoeacutetude au moyen acircgeldquo (Zelzer 2003 249) ndash ZurNeunzahl der Faumlcher bei Varro als Anlehnung an die Musen vgl Huumlbner 2004 S die in Anm 284 genannte Literatur

2 De nuptiis als literarisches Werk 123

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Architektur wirdmit Verweis auf den fortgeschrittenenAbendund diemenschlich-praktische Seite der Faumlcher erklaumlrtsup2⁸⁷

Im Detail nimmt Martianus aber durchaus Aumlnderungen vor So geht es imneunten Buch von De nuptiis nicht um die Musik im Allgemeinen sondern um dieHarmonie Diese Umgewichtung steht sicher in Zusammenhang mit der verbin-denden und vereinigenden Grundkonzeption von De nuptiis die zu Beginn desersten Buches (1 1) durch den Hymnus auf Hymenaeus den verbindendenHochzeitsgott ausgedruumlckt wurdesup2⁸⁸ Unterstuumltzt wird diese Eigenwilligkeit durchdie praktische Darbietung von harmonischem Gesang der die theoretischenAusfuumlhrungen ergaumlnzt und steigert (9 911ndash919 9 996)

Auch bei der Behandlung der Geometrie in Buch 6 greift Martianus in dietraditionelle Darstellung des Wissens ein Anstatt die Ausfuumlhrungen auf geome-trische Fragen und Lehrsaumltze zu beschraumlnken erweitert Martianus sie um einenausfuumlhrlichen geographischen Teil der um einiges laumlnger ist als der geometrische(Geographie 6 586ndash703 Geometrie 6 705ndash723) Ferreacute erkennt dahinter vor al-lem ein literarisches Ziel Die vorhandene Stoffmenge zur Geometrie sei zu kleingewesen so dass Martianus sie habe erweitern muumlssen damit das sechste Buchnicht bedeutend kuumlrzer werde als die uumlbrigen Buumlchersup2⁸⁹

Veraumlndert Martianus also gelegentlich aus kompositorischen Gruumlnden dietraditionelle Darstellung der Kuumlnste so kann man dies auch in der Zusammen-fuumlhrung der vielen Spezialschriften in einemWerk erkennenUmfasst das Konzeptder ἐγκύκλιος παιδεία zwar einen breiten Faumlcherkanon an den sich Martianusauch weitgehend haumllt so ist die Darstellung aller Faumlcher in nur einem Werk un-gewoumlhnlich

Uumlblich war die Form der Abhandlung der die Beschaumlftigung mit einer Dis-ziplin zugrunde lag Als Beispiele kann auf nahezu alle antiken fachwissen-schaftlichen Schriften verwiesen werden Ausnahmen sind allein die Sammel-schriften die aber explizit andere Ziele verfolgen und keinen Fachbereichgruumlndlich bearbeiten

Diese Feststellung gilt auch fuumlr die anderen Autoren mit teilweise sbquoenzyklo-paumldischemlsquo Programm z B Augustin oder Boethius Augustins bdquoBildungspro-grammldquosup2⁹⁰ umfasste aumlhnliche Faumlcher wie Martianus sie versammelte doch ver-

9 890ndash891 Hadot nimmt an dass diese Disziplinen nicht per se als unwichtig angesehenoder in bewusster Abgrenzung von Varro ausgeschlossen worden seien sondern weil sie nichtzur bdquoSchau der goumlttlichen Weisheitenldquo fuumlhren wuumlrden (Hadot 2009 16) Zu dieser Stelle und zu dem im Hymnus ausgedruumlckten philosophisch-poetischen Pro-gramm vgl LeMoine 1972a 14 Stahl 1971 86 Relihan 1993 61 Schievenin 2009c So Ferreacute im Vorwort ihrer Ausgabe xlvi Den Begriff verwendet Studer 2007 522

124 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

fasste Augustin zu den einzelnen Disziplinen jeweils eine eigene Schrift (mit derFolge dass er nicht alle Faumlcher behandelt hatte als er das Projekt aufgab wohlaber einige Themen abgearbeitet und die Buumlcher erschienen waren)sup2⁹sup1 Aumlhnlichverhaumllt es sich mit Boethius der sich etwa einhundert Jahre spaumlter ebenfalls mitverschiedenen Wissensbereichen beschaumlftigte Trotz der Leistung des Martianussetzte Boethius sein Vorhaben aber so um dass er den verschiedenen Disziplineneinzelne Abhandlungen widmetesup2⁹sup2

Allein Varro hat seinem breiten Œuvre an Spezialschriften auch noch ein imengeren Sinne enzyklopaumldisches Werk zugefuumlgt die Disciplinae Darin beschaumlftigtsich Varro mit dem gleichen Faumlcherkanon wie Martianus (unter zusaumltzlicherAufnahme der Medizin und Architektur) Da das Werk aber verloren ist und auchnur spaumlrliche Testimonien vorhanden sind laumlsst sich nicht abschaumltzen inwieferntatsaumlchlich eine einheitliche Schrift vorgelegen hat und welches Ziel Varro mit ihrverfolgtesup2⁹sup3

MartianusrsquoWerkDe nuptiis ist die erste erhaltene Enzyklopaumldie der Antike undduumlrfte somit maszliggeblich zum heutigen Verstaumlndnis des Begriffs der Enzyklopaumldieals eines einzigenWerkes das alles Wissen enthaumllt beigetragen haben Der Grundfuumlr Martianusrsquo ungewoumlhnliches Vorgehen duumlrfte in dem augenscheinlichen Plander Verbindung aller Disziplinen liegen der auch zu Beginn des Werkes durch diePreisung des Hymenaeus ausgedruumlckt wirdsup2⁹⁴

Zu Augustins Plan vgl retract 1 6 (Per idem tempus quo Mediolani fui baptismum per-cepturus etiam disciplinarum libros conatus sum scribere ndash sbquoZu der Zeit als ich in Mailand balddie Taufe empfangen sollte habe ich versucht auch Buumlcher uumlber die Faumlcher zu schreibenlsquo)begonnen und teilweise erhalten sind gramm mus und evtl dialect Neben den Schriften zur Theologie und zur Logik sind die Schriften zur Arithmetik(arithm) zur Musik (mus) und zur Rhetorik (in top divis) zumindest teilweise erhalten Hinzukommen Uumlbersetzungen astronomicher und geometrischer Fachschriften Zu Boethiusrsquo Fach-schriften und seinem Programm vgl Chadwick 1981 69ndash107 Das spaumlrliche Wissen spiegelt auch die knappe Einfuumlhrung von Cardauns 2001 Sie um-fasst fuumlr die Disciplinae inklusive Literaturverweisen knapp zwei Seiten (77ndash78) und bietet wenigsichere Informationen Eine interessante gleichwohl stark negative Antwort auf die Zusammenstellung derKuumlnste in einem Werk bietet Voumlssing der damit gleichzeitig aber auch die Einzigartigkeit desVorgehens herausstellt bdquoWas in den mittelalterlichen Kloumlstern als Summe antiker Bildung galtwar wohl nur das Resultat der Selbstdarstellung eines ehemaligen Advokaten der dem gebil-deten Publikum seiner Stadt demonstrieren wollte dass er mehr konnte als plaumldieren und mehrwusste als der normale scholasticus den uumlberlieferten prestigetraumlchtigen Bildungsstoff allersieben artes ndash der uumlblicherweise nur in einzelnen Fachbuumlchern (und bezogen auf einzelneDisziplinen) praumlsentiert wurde ndash in einem Werk zusammenzufassen und einzubetten in einironisches literarisches Spiel So hoffte er beides zu haben den Ruhm der Bildung und den derparodistischen Distanzierung An eine spezifische Programmatik dachte er bei seiner Enzyklo-

2 De nuptiis als literarisches Werk 125

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Welches (philosophische oder literarische) Konzept dahinterstand und in-wieweit Martianus sein Vorhaben uumlberzeugend umsetzen konnte wird unter-schiedlich bewertetsup2⁹⁵Wie das Urteil auch ausfaumlllt gilt es doch zu beachten dassneben den enzyklopaumldischen Teilen mit ihrem traditionellen Inhalt in teils tra-ditioneller teils neuer Form auch andere narrative Strategien zum Einsatz kom-men die fuumlr eine umfassende Deutung und Bewertung ebenfalls beruumlcksichtigtwerden muumlssen

Literarisches SymposionEine andere Gattungstradition die fuumlr die Anlage von De nuptiis genannt werdenmuss ist die Form des literarischen Symposions In diesem Punkt besteht eineVerbindung zu Macrobiusrsquo Saturnalia deren Symposionform im entsprechendenKapitel untersucht worden istsup2⁹⁶

Auch inDe nuptiis lassen sich einige konstitutiveMerkmale eines literarischenSymposions aufzeigen Das Geschehen in den Buumlchern 3ndash9 spielt anlaumlsslich einerFeierlichkeit (der Hochzeit) an einem besonderen Ort (auf der Milchstraszlige)sup2⁹⁷ andem sich geladene Gaumlste (Goumltter Heroen etc) versammeln Den Vorsitz der Fei-erlichkeiten hat (gewissermaszligen als Symposiarch) Jupiter inne Es gibt zwar keineungeladenen Gaumlste doch Silen erfuumlllt die Rolle des Zechers und er verlaumlsst dieFeier vorzeitig (8 805) Auch die Liebe kommt nicht zu kurz indem Venus ihreReize spielen laumlsst (6 704) Voluptas mit Merkur flirtet (7 725ndash727) und Hymen-aeus mit seinem anzuumlglichen Gesang das Geschehen der Hochzeitsnacht zu-

paumldie ebenso wenig wie er seinen Platz im sbquoLehrplan des Abendlandeslsquo vorhersehen konnteldquo(Voumlssing 2008 404) Weit verbreitet ist die Ansicht Martianus habe eine Art Summe der antiken Gelehrsamkeiterstellt (Cristante im Vorwort seiner Ausgabe 27 Ferrarino 1969 2 Bovey 2003 20 Cristante2009 [3] Schievenin 2009a 77) Die gegensaumltzliche Position formuliert bereits Parker bdquo[I]t isclear that the seven arts were never supposed to include the whole circuit of human knowledgeMartianus Capellarsquos list was a reduction of Varrorsquos and Varrorsquos was not supposed to include allknowledgeldquo (Parker 1890 459) S o Kap II4 Dort werden auch die typischen Merkmale dieser literarischen Form vor-gestellt Die Milchstraszlige in der Darstellung bei Martianus greift zwei Aspekte auf die allerdingsschon lange vor ihm verbunden worden sind Einerseits ist die Milchstraszlige der Ort an den dieauszligergewoumlhnlichen Menschen nach ihrem Tod gelangen (Cic rep 6 16 Manil 1 758ndash800)andererseits ist auch die Vorstellung nicht ungewoumlhnlich dass dort der Wohnsitz der Goumltter zufinden sei (Ov met 1 170ndash 176 Manil 1 801ndash804) Bei Martianus versammeln sich dort dieGoumltter doch ist dies auch der Ort an den die vergoumlttlichte Philologia gelangt ndash abgesehen vonden uumlbrigen herausragenden Menschen die sich im Gefolge sbquoihrerlsquo Brautjungfer dort versam-meln

126 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mindest andeutet (9 902 f) wenn die Ausfuumlhrung auch nicht beschrieben wird(9 996)

Das auffaumllligsteMerkmal sind aber die Reden die gehaltenwerden Sie aumlhnelnzwar nicht dem Inhalt wohl aber der Form nach der monologischen Anlage derSymposiongespraumlche bei Platon oder (stellenweise) Macrobius Ebenso passt derInhalt Bildungswissen an sich zu einem Symposion auch wenn er hier sehrausfuumlhrlich und ohne Ruumlcksicht auf die primaumlren Adressaten die Goumltter prauml-sentiert wird Bei Platon sowie bei Martianus scheint der Inhalt der Gespraumlche imVorfeld noch nicht festzustehen wie die Auswahl der jeweils naumlchsten RednerindurchApoll (3 223 4 328 8 8109 891) bzw Paidia (7 728) oder die Diskussion umden Fortgang der Feier bzw die noch folgenden und auszuschlieszligenden Reden(= Kuumlnste) zu Beginn von Buch 9 zeigtsup2⁹⁸

Die Anordnung der Redebeitraumlge nach steigender Relevanz und die unter-brechungsfreie Praumlsentation der Reden erinnert ebenfalls ans platonische Sym-posion Schlieszliglich nimmt das Spiel mit der Erzaumlhlinstanz (Satura oder Martianus)die verschachtelte Erzaumlhlsituation bei Platon oder Macrobius mit ihren verschie-denen Berichtsebenen auf und formt sie umsup2⁹⁹

Mythisch-allegorische ErzaumlhlungZu den bereits genannten literarischen Vorlagen von De nuptiis tritt ein weiteresElement hinzu dessen Bedeutung und dessen eigene Vorlagen nur schwer zubestimmen sind

Besonders Shanzer weist in ihremKommentar zum ersten Buch vonDe nuptiiswiederholt auf die orphischen gnostischen und philosophisch-religioumlsen Ele-mente in den sehr bildhaften aber streckenweise schwer verstaumlndlichen erstenbeiden Buumlchern hinsup3⁰⁰ Eine umfassende Interpretation des Mythos bietet sie je-doch nicht Vielmehr beschraumlnkt sie sich auf Verweise zur Herkunft einzelnerMotive und auf die Deutung kuumlrzerer Passagen

Kupke kommt bei einer Musterung der verschiedenen mythischen Reminis-zenzen im zweiten Buch von De nuptiis zu der Feststellung dass eine eindeutige

Ein zentraler Unterschied besteht jedoch darin dass die Vortraumlge nicht von den Gaumlstengehalten werden sondern dass die Gaumlste also die Goumltter nur Zuhoumlrer sind waumlhrend die Kuumlnstereden Hierin erinnert De nuptiis eher an Julians Caesares in denen die versammelten Goumltter jaauch wenig sprechen wohl aber die roumlmischen Kaiser die ndash wenn auch um einiges knapper ndashihre Leistungen darstellen Ausfuumlhrlicher dazu im weiter unten folgenden Abschnitt uumlber die Erzaumlhlinstanzen Shanzer 1986c passim

2 De nuptiis als literarisches Werk 127

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

und kohaumlrente Decodierung aller Verweise undAnspielungen nichtmoumlglich seisup3⁰sup1Ihrer Ansicht nach ist es dem modernen Leser nurmehr moumlglich einzelnen Ver-weisen nachzugehen und sie aufzuzeigensup3⁰sup2

Trotz der benannten Schwierigkeiten darf bei allen Fragen nach literarischenVorlagen nicht vergessen werden dass De nuptiis vor allem (aber nicht aus-schlieszliglich) auch ein allegorisches Werk ist Die imposante Schilderung der vierFluumlsse in Buch 1 Apoll auf demParnass-Huumlgel die allegorischen Figuren undvieleweitere Elemente sind nicht nur kreative literarische Erfindungen sondern for-dern zu einer uumlbertragenen Lesart des Werkes auf Besonders die ersten beidenBuumlcher die den Mythos enthalten muumlssen aus diesem Blickwinkel gelesen undverstanden werden

Zu verweisen ist auszligerdem auf die Bezeichnung der Erzaumlhlung als fabula oderfabella Neben der naheliegenden Bedeutung von sbquoErzaumlhlung Geschichtelsquo imallgemeinen Sinn ist sicher auch an die Diskussion um die Berechtigung von fa-bulae in Macrobiusrsquo Somnium-Kommentar zu denken Dort verteidigt Macrobiussowohl Platon als auch Cicero gegen den Vorwurf fiktive Geschichten zu benut-zen um philosophische Wahrheiten zu verkuumlnden In bestimmten Faumlllen seidieses Vorgehen gerechtfertigt solange es sich um wahrhaftige und belehrendeErzaumlhlungen handlesup3⁰sup3 Diese Voraussetzung kann man auch fuumlr De nuptiis alserfuumlllt ansehen Da Martianus zudem dem Neuplatonismus aumlhnlich nahesteht wieMacrobiussup3⁰⁴ ist von einer bewussten Entscheidung zugunsten einer literarischenDarstellung auszugehen

Den einzigen Versuch einer umfassenden Deutung verschiedener Elementedes Mythos und der allegorischen Darstellung hat ndash unter Vernachlaumlssigung ei-niger Details ndash bislang Lenaz unternommen In der ausfuumlhrlichen Einleitungseines Kommentars zum zweiten Buch von De nuptiis untersucht er die philoso-phisch-religioumlsen Motive in diesem Buch und kann Verbindungen zur Myste-

Kupke 1998 154 Kupke 1998 159 Fuumlr den spaumltantiken und den mittelalterlichen Leser glaubt sie jedoch andie Moumlglichkeit der problemlosen Dekodierung Macr somn 1 2 21 vgl oben Anm 45 Gerade die neuplatonischen Elemente von De nuptiis sind verschiedentlich benannt wor-den auch wenn nicht immer eine einheitliche Deutung geboten wird Haumlufig genannt wird derAufstieg Philologias in den Himmel uumlber die Sphaumlrenstufen der mit einer bdquoRuumlckkehr der Seeleldquogleichgesetzt wird (z B Bovey 2003 11 Lenaz 1975 113 vgl auch Guillaumin 2008) Hinge-wiesen wird auch auf die drei Frauen die Merkur nicht heiraten wollen (Sophia Mantike undPsyche 1 6ndash7) und die drei Seelenteile darstellen sollen deren Summe aber letztlich Philologiaist (Lenaz 1975 107ndash 110) Dagegen vertritt Kupke die These die neuplatonischen Elementetruumlgen keine zusaumltzliche Sinnebene bei (Kupke 1998 153) kritisch aumluszligern sich BednařiacutekovaacutePetrovićovaacute 2010 7

128 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

rieninitiation zu platonischen Mysterien chaldaumlischen Orakeln magischenPraktiken und zur Theurgie nachweisen Im Deutungsteil verwirft er die ThesenNuchelmansrsquo und Mathonssup3⁰⁵ als zu kurz greifend Nuchelmans hatte in derHochzeit Philologias und Merkurs (mittelalterlicher Kommentar-Tradition fol-gend) eine Forderung von Martianus nach der Vereinigung von Wissen (Philo-logia) und Rhetorik (Merkur) gesehen Mathons Ansatz fuumlhrte den Verweis auf dieneuplatonische Wieder-Erinnerung und die Ruumlckkehr der Seele in dieses Modellein Ebenso wie bei Nuchelmans werden auch hier nur wenige Elemente desMythos interpretiertsup3⁰⁶

Lenazrsquo eigener Ansatzsup3⁰⁷ folgt den Uumlberlegungen Ferrarinossup3⁰⁸ und ergaumlnzt siemit einigen Hypothesen Im Kern kreise der Mythos des zweiten Buches um einedoppelte Vereinigung die (horizontale) Vereinigung allen irdischen Wissens inPhilologia mit Hilfe von Hymenaeus und die (vertikale) Vereinigung der goumlttlichenund menschlichen Sphaumlre mit Hilfe von Eros Hinzu treten Uumlberlegungen ob essich bei Philologia und Merkur eventuell um nur eine Entitaumlt handle die Seelewelche getrennt worden sei und nun wieder zusammenfinde

Diese Lesart integriert die meisten der mythischen und allegorischen Ele-mente und verbindet sie weitgehend schluumlssig zu einem umfassenden KonzeptAllerdings vernachlaumlssigt sie auch bestimmte EinzelbeobachtungenWieso steigtPhilologia vom Sphaumlrenrand wieder auf die Milchstraszlige hinab (2 200 2 206)Wieso werden ihr auf der Milchstraszlige die irdischen Kuumlnste vorgefuumlhrt die sieerbrechenmusste damit sie in den Himmel aufsteigen konnte (2 135 f)sup3⁰⁹ Bereitsdiese Fragen zeigen deutlich dass eine kohaumlrente plausible Aufloumlsung des Mythosnicht leicht moumlglich ist

Nuchelmans 1950 Mathon 1969 Lenaz 1975 105 Aumlhnliches gilt auch fuumlr Hadots Deutung Sie identifiziert Merkur mit demaumlgyptischen Gott Theuth auf den in De nuptiis 2 102 f angespielt wird und nennt ihn diebdquoPersonifizierung der goumlttlichen Vernunftldquo waumlhrend Philologia die Personifizierung dermenschlichen Vernunftseele in deren idealem Zustand darstelle Die sieben Wissenschaften unddie sieben mantischen Kuumlnste ermoumlglichten es der Seele bdquozu ihrem Ursprung dem intelligiblenBereich oder zu Gottldquo zuruumlckzukehren (Hadot 2009 21 f) Lenaz 1975 106ndash 119 Ferrarino 1969 Dieses Problem entfiele wenn man annaumlhme dass Martianus die Erzaumlhlung nur auf dieersten zwei Buumlcher angelegt habe und erst danach die Moumlglichkeit einer Verbindung mit der inden Buumlchern 3 bis 9 folgenden Enzyklopaumldie erkannt habe Dafuumlr gibt es zwar Hinweise (bes dieDiskussion um die FiktionalitaumltUnterhaltung) am Ende von Buch 2 und zu Beginn von Buch 3doch duumlrfte man annehmen dass Martianus den Grundkonflikt von zuruumlckgelassenem Wissenund erneut geschenktem Wissen erkannt und behoben haumltte

2 De nuptiis als literarisches Werk 129

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Weiterhin uumlberbetont der Versuch den Mythos allein aus sich heraus zu er-klaumlren den Stellenwert des zweiten Buches im Gesamtwerk Als Interpretations-rahmen zwar wichtig tritt er bei fortschreitender Lektuumlre hinter die praktischeDarstellung der sieben Kuumlnste zuruumlck Diese nehmen nicht nur mehr Raum einsondern uumlberlagern die Darstellung im zweiten Buch und reduzieren somit auchderen Bedeutung Der Mythos ist also einwichtiger keineswegs jedoch der einzigeBestandteil von De nuptiis

Menippeische SatireDas auffaumllligste literarische Kompositionselement von De nuptiis ist jedochzweifellos die Wahl des Prosimetrums die Mischung von Prosapartien mit me-trischen Einheiten Der uumlberwiegende Teil des Werks ist in Prosa gehalten inwelchen 33sup3sup1⁰ metrische Partien eingelegt sind Dabei sind die Gedichte nichtregelmaumlszligig uumlber das gesamte Werk verteilt sie finden sich uumlberwiegend an ex-ponierten Stellen besonders an den Buchanfaumlngen und Buchenden Bei denmetrischen Partien innerhalb eines Buches handelt es sich fast ausschlieszliglich umGoumltterreden

Die beobachtete unregelmaumlszligige Verteilung der metrischen Partien unter-scheidet sich deutlich von der Gestaltung wie sie Boethius wenige Jahrzehntespaumlter inDe consolatione Philosophiae einsetzt Dort sind diemetrischen Partien inHinblick auf die Gesamttextmenge haumlufiger und zudem gleichmaumlszligiger verteiltsup3sup1sup1

Damit haumlngt zusammen dass auch die literarisch-argumentative Funktion dermetrischen Teile z T von derjenigen bei Boethius abweicht Bei Boethius stehendie Gedichte im Argumentationszusammenhang und fuumlhren Gedanken fort oderbuumlndeln sie in praumlgnanter Ausdrucksweisesup3sup1sup2 Ein gutes Beispiel dafuumlr ist eine

Die Zaumlhlung umfasst die zusammenhaumlngenden metrischen Partien und zaumlhlt auch Ge-dichte mit unterschiedlichem Versmaszlig (z B die Gedichte der Musen) als eine Partie Vgl dazu besonders OrsquoDaly 1991 Kap 1 (bdquoThe poetics of the Consolationldquo) darin 19ndash22 zuMartianus Sprachliche Parallelen sind zusammengestellt im Index der Boethius-Ausgabe vonBieler (CCSL 94 116) diskutiert werden sie bei Pabst 1994 163ndash 168 Da Boethius das Werk desMartianus kannte kann man von einer gelungeneren Ausdifferenzierung der Ansaumltze des Mar-tianus sprechen Der Vergleich des Einsatzes der prosimetrischen Form bei Boethius gewinntdadurch an Gewicht Eine Mischung von Prosa und Poesie findet sich weiterhin bei Fulgentius inden Mythologiae ndash Zu Parallelen in den Werkanfaumlngen bei Martianus Fulgentius und Boethiusvgl Klingner 1921 114 Pabst 1994 der Fulgentiusrsquo Vorgehen durchaus als bdquoimitatio Martianaldquoversteht (162 134ndash 137) fuumlr Boethius in Martianus allerdings nur eine Quelle sieht bdquoThey contribute to the argument as it proceeds yet take a wider view with an authorityoutside and above the adjacent prose They possess their own thematic design which spans theentire workldquo (Crabbe 1981 260) bdquoDie Metra bilden Ruhe- und Houmlhepunkte im Werk haumlufig

130 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Stelle zu Beginn des vierten Buches Nachdem zunaumlchst allgemein erlaumlutert wirddass die Weisen vermoumlgen was sie wollen die Schlechten jedoch nicht(cons 4 1 131ndash140) folgt in Versen eine Reihe plastischer Beispiele fuumlr die These(cons 4 carm 2) bevor der Gedanke fortgesponnen wird (cons 4 3 1ndash4)

An anderen Stellen uumlbernehmen die metrischen Partien eine Gliederungs-funktion indem sie Gedanken abschlieszligen und durch die Unterbrechung Zeit zurErholung bieten So sagt Philosophia zu ihrem Schuumller Boethius

bdquosed uideo te iam dudum et pondere quaestionis oneratum et rationis prolixitate fatigatumaliquam carminis exspectare dulcedinem accipe igitur haustum quo refectus firmior inulteriora contendasldquo (Boeth cons 4 6 200‐203)

bdquoAber ich sehe dass du bereits vom Gewicht der Untersuchung belastet und von der Breiteder Beweisfuumlhrung erschoumlpft auf die suumlszlige Erholung eines Liedes wartest nimm also denTrank damit du solchermaszligen erfrischt kraumlftiger zu den weiteren Themen eilen kannstldquo

In dieser zweiten Funktion setzt auch Martianus die metrischen Partien ein Dabeisind sie nicht in die Prosadarstellung eingeschoben sondern markieren fastausschlieszliglich die Buchanfaumlnge und Buchenden Explizites Ziel ist die Belebungdes Werkes um eine angenehme Lektuumlre zu erleichternsup3sup1sup3 Dies widersprichtMartianusrsquoAnkuumlndigung nach der hinleitenden Erzaumlhlung in denBuumlchern 1 und 2keine fiktionalen Erzaumlhlungen mehr einfuumlgen zu wollen die Darstellung solleernst und dem Gegenstand angemessen sein

nunc ergo mythos terminatur infiuntartes libelli qui sequentes asserentnam fruge vera omne fictum dimoventet disciplinas annotabunt sobriaspro parte multa nec vetabunt ludicra (2 220)

Nun also hat der Mythos sein Ende erreicht es beginnen die Buumlcher die die nun anschlie-szligenden Kuumlnste darbieten Denn mit wahrhaftiger Ernte entfernen sie alles Erdichtete undzeichnen die Kuumlnste nuumlchtern auf verbieten jedoch nicht gelegentliche Unterhaltung

stehen sie am Ende von Einzelabschnitten wo sie diese dann rekapitulieren und fuumlr densbquoSchuumllerlsquo zusammenfassen Bisweilen kommt ihnen auch eine Uumlberleitungsfunktion zuldquo (Kin-dermann 1969 63) ndash Zur Gattung allgemein allerdings mit besonderem Fokus auf die mittel-alterliche Literatur vgl Pabst 1994 bes 105ndash 133 zum Prosimetrum bei Martianus und 158ndash 195bei Boethius sowie Dronke 1994 bes Kap 2 (bdquoAllegory and the mixed formldquo) So auch McDonough der im Kapitel bdquoThe function of the poetryldquo zu Recht (aber zu kurzgreifend) formuliert bdquoIn undertaking the compilation of his encyclopedia the main challenge toMartianus lay in maintaining the interest of his readers (and himself) in making palatable thearid factual account of the various disciplinesldquo (McDonough 1968 37)

2 De nuptiis als literarisches Werk 131

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Scheint es an dieser Stelle so als ob Mythos und Heiteres getrennte Dinge waumlrenzeigt der unmittelbare Fortgang zu Beginn von Buch 3 dass beide Begriffe letztlichAumlhnliches bezeichnen Hier am Beginn der Schilderung der freien Kuumlnste(3 221 f) erlaumlutert Martianus in einem weiteren Gedicht das als Dialog gestaltetist warum er von seinem Plan abweicht

Camena bringt Schmuck fuumlr das Werk mit (amicta fictis commenta ferre) AufMartianusrsquo Einwand keine Mythen mehr vorbringen zu wollen (mythi pulsi) er-widert sie es gehe nicht um Luumlge (nil mentiamur) sondern um Einkleidung(vestiantur Artes) ndash man koumlnne die Brautjungfern also die Allegorien der freienKuumlnste doch nicht nackt vorfuumlhren Daraufhin gibt sich Martianus geschlagenund die Handlung von Buch 3 beginnt

Abgesehen von der unterhaltenden Funktion die besonders durch die Ge-dichte an den Buchenden gewaumlhrleistet wird scheinen die metrischen Passagenfuumlr viele Forscher wahllos in das Werk eingestreut Typisch ist eine Aussage wieCrabbe sie trifft bdquoMartianus uses verse frequently at the beginning sometimes atthe end of books and erratically throughoutldquosup3sup1⁴

Natuumlrlich kann von einer systematischen Verteilung und einer argumenta-tionslogischen Anordnung wie bei Boethius nicht gesprochen werden Bei ge-nauerem Hinsehen wird jedoch deutlich dass die metrischen Abschnitte nichtwillkuumlrlich uumlber das Werk verstreut sindsup3sup1⁵

Die meisten metrischen Passagen finden sich in den Buumlchern 1 und 2 von Denuptiis Diese Buumlcher enthalten die einleitende Handlung die als fiktionale Er-zaumlhlung dargeboten wird Im Bericht von der Suche Merkurs nach der richtigenEhefrau und von Philologias Aufstieg in den Himmel finden sich neun metrischePassagen Es handelt sich dabei bis auf die drei Faumllle der an den Buchanfaumlngen(Buch 1) und Buchenden (Buch 1 und 2) stehenden Gedichte um Reden vonGoumlttern Diese fuumlhren die Handlung fort und dienen also nicht der Buumlndelung derGedanken oder der Erholung des Lesers Stattdessen scheint es Martianus darumzu gehen das Sprechen der Goumltter durch die metrische Gebundenheit als be-

Crabbe 1981 264 Eine Typisierung die z T von der Position der metrischen Passagenlosgeloumlst ist bietet McDonough seiner Ansicht nach sind die metrischen Partien hauptsaumlchlichfunktional bdquoThe poetry thus is primarily functional although this function varies from book tobookldquo (McDonough 1968 38) Als Funktionen benennt er fuumlr Buch 1 Handlungsfortfuumlhrung fuumlrBuch 2 Schmuck fuumlr Buch 3 Belehrung fuumlr den Rest Einfuumlhrung oder Entlassung derBrautjungfern oder Unmut uumlber Verzoumlgerung der Hochzeit Der Rest seien bdquooccasional piecesldquo(ibid 40) ndash Verspartien finden sich am Anfang der Buumlcher 1 2 3 4 5 6 7 und 9 sowie am Endeder Buumlcher 2 4 5 7 und 9 Die ungleiche Verwendung der Metra bei Boethius und Martianus laumlsst sich am besten alsEntwicklung verstehen wie es beispielsweise Kindermann (1969 60) tut Zur Kenntnis desMartianus bei Boethius vgl oben Anm 311

132 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

sonders zu markieren Dies gilt vor allem fuumlr markante Szenen zum Beispiel dieRede Jupiters in der Goumltterversammlung gegen Ende des ersten Buches (1 91ndash93)oder die orakelartige Auskunft Apolls (1 21 f)

Diese Beobachtung gilt daruumlber hinaus ebenso fuumlr die genannten Stellen inBuch 9 auch wenn es sich dort nicht um die Vorgeschichte oder einen weiterenliterarischen Rahmen handelt Jedoch ist eine Szene mit Goumlttergespraumlchen ein-geschoben in der die Goumltter unter anderem auch Verse verwenden Durch dieseReden in metrisch gebundener Form soll den entsprechenden Buumlchern also einehoumlhere Wuumlrde verliehen werden

Einen zweiten Fall stellen die Gedichte zu Beginn oder zu Ende eines Buchesin den Buumlchern 3 bis 9 dar In diesen Buumlchern praumlsentieren die Freien Kuumlnste ingeschlossenem Vortrag die Inhalte ihrer Wissenschaft Die Gedichte in einigenFaumlllen in auktorialer Erzaumlhlhaltung gestaltet uumlberbruumlcken die Fuge zwischen denBuumlchern und bieten eine Pause zwischen den langen Vortragspartien der Leserkann sich erholen Die Inhalte der Verspartien sind unterschiedlich es handeltsich zumeist um den Ein- oder Auszug einer Brautjungfer (4 327 4 423 f 8 8028 808 9 911ndash919) um die Fortfuumlhrung der Hochzeitshandlung (5 425 8 8059 888) um die Anrufung eines Gottes (6 567ndash574) oder um eine Wendung desAutors an den Leser (5 566 9 997ndash 1000)

Dieser Einsatz der Verspartien ist jedoch noch keine hinreichende Erklaumlrungfuumlr die Wahl des Prosimetrums Sie erklaumlrt sich besonders dadurch dass Marti-anus auf diese Weise sein Werk in die Traditionslinie von Texten einreiht die alsmenippeische Satiren bezeichnet werdensup3sup1⁶

Charakteristisch fuumlr diese spezielle Form der roumlmischen Satire ist der Wechselvon metrischen und prosaischen Partiensup3sup1⁷ Klassische lateinischsprachige Ver-treter der menippeischen Satire sind Varro (Saturae Menippeae) Seneca (Apo-colocyntosis) und Petron (Satyrikon) in der griechischen Literatur nutzen Lukianund Julian (Caesares) diese Form Inhaltlich lassen sich nur wenige Verbindungenzwischen den Werken ziehen und auch die Umsetzung der formalen Elemente istunterschiedlich Dies fuumlhrt sogar so weit dass sich moderne Forscher trotz derbereits antik bezeugten Bezeichnungder Gattung teilweise auszligerstande sehen dieGattung genauer zu definieren oder dass sie ihre Fragestellung losgeloumlst von derGattungstradition verfolgensup3sup1⁸ Dies macht die Verortung von De nuptiis in diesemGenre nicht leichter

Zur menippeischen Satire vgl Relihan 1993 Coffey 1996 Im Gegensatz dazu beschraumlnkt sich die Verssatire seit Horaz auf die Verwendung desHexameters So betont Scheible im Vorwort ihrer Studie zu den Gedichten in Boethiusrsquo de consolationedass sie Vorgaben der Tradition in Hinblick auf die Gedichte nicht beruumlcksichtige ndash sie lieszligen

2 De nuptiis als literarisches Werk 133

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Gelegentlich wird sogar die These vertreten dass sich das satirische ElementinDe nuptiis in dieser formalen Verbindung von Prosaund Poesie erschoumlpfesup3sup1⁹DerGattungsbegriff sbquomenippeische Satirelsquo waumlre dann identisch mit der BezeichnungsbquoProsimetrumlsquo Dem widersprechen jedoch verschiedene Beobachtungen derRuumlckgriff auf die Etymologie des Wortes satura die Bezugnahme auf Vertreter derGattung und das Auftreten einer Figur namens Satura sowie deren Agieren dasuumlber die rein formale aumluszligerliche Satireform hinausweist schlieszliglich die beson-dere Gestaltung der Erzaumlhlsituation Diese vier Elemente sollen im Folgendenherausgearbeitet werden

Etymologie ndash Dass Martianus sein Werk sehr wohl als Satire verstanden wissenwill wird an verschiedenen Stellen deutlich Dies geschieht zum Beispiel durchgelehrte Anspielungen auf die Terminologie der antiken Satire an prominenterStelle So heiszligt es in 9 998

[Satura] haec quippe loquax docta doctis aggeransfandis tacenda farcinat immiscuitMusas deosque disciplinas cyclicasgarrire agresti cruda finxit plasmate

So haumluft sie plappernd Gelehrtes auf Gelehrtes und stopft geheimes und bekanntes Wissenzusammen hatMusenundGoumltter vermischt undhat sich erdacht dass die enzyklopaumldischenDisziplinen in einem baumlurischen Machwerk unreifes Zeug daherplappern

Die Woumlrter farcinat und immiscuit verweisen auf das Zusammenstopfen undVermischen verschiedener Zutaten z B in einer Wurst oder Pastete Gleiches giltfuumlr die Woumlrtermiscillo und aggeranssup3sup2⁰ Ausgangspunkt fuumlr diese Terminologie istdie Etymologie desWortes sbquoSatirelsquo an sich bedeutet urspruumlnglich etwaswie sbquobunteMischunglsquosup3sup2sup1 Traditionell sind Anspielungen auf diese Etymologie in der satiri-

sich nicht feststellen (Scheible 1972 8) Vorhandene Untersuchungen beschreiben in der Regeldie Konstituenten der einzelnen Werke Aufgrund der geringen Zahl uumlberlieferter Werke und dergroszligen Unterschiede zwischen ihnen ist es jedoch schwierig die typischen Elemente der Gat-tung zu benennen Auch diese Arbeit schlieszligt sich dem beschreibenden Vorgehen an undvergleicht an einschlaumlgigen Stellen inwieweit die Beobachtungen auch fuumlr die Gattung typischsind So z B Coffey der die Mischung aus Prosa und Poesie bei Martianus als bdquomiscellanyldquobezeichnet und vor einer Verbindung von De nuptiis mit der Satire als problematisch warnt(Coffey 1996 959) Vgl Relihan 1993 14 ErnoutMeillet s v satur -ra -rum (2001 596) WaldeHofmann s v satura (2007 II482f) Der zentrale Hinweis auf eine Ableitung des Wortes aus dem kulinarischen Bereich findet

134 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

schen Literatur selten Allein in Juvenal findet sich ein Hinweis darauf gleichwohlmit leicht anderem Verstaumlndnis Er betrachtet die Zusammenstellung der Satirenals farrago also als Mischgericht nicht die einzelne Satiresup3sup2sup2

In diesen sehr bildlichen Wendungen trifft Martianus gleichzeitig eine Aus-sage uumlber sein Verstaumlndnis der Darstellung von Bildungswissen Bei ihm gibt eskeine vorverdauten und mundgerecht aufbereiteten Wissenspaumlckchen (wie Ma-crobius sie bietet)sup3sup2sup3 sondern rohe Kost (cruda) die ihre Zutaten d h die lite-rarischen oder inhaltlichen Urspruumlnge nicht leugnet LeMoine formuliert prauml-gnant bdquoBy calling attention to the literary functions these metaphors fulfillMartianus hellip raises questions about the principles of seamless synthesis andverbal regurgitation which Macrobius so effectively demonstratesldquosup3sup2⁴

Dass Martianus durch diese Art der Darstellung seine Autoritaumlt infrage stelle(bdquohellip reveal doubts about the competence of the cook and the quality of the edu-cational feastldquo)sup3sup2⁵ laumlsst sich jedoch nicht erkennen Schlieszliglich benennt er seinVorgehen explizit (scheitert also nicht an einem gesteckten Plan) und bietetgleichzeitig mit der Kritik an der klassischen Form der Wissensvermittlung eineMoumlglichkeit an wie nicht-vereinheitlichte Wissensvermittlung aussehen kannBeeintraumlchtigungen des Vertrauens zum Erzaumlhler und zu den Inhalten gibt esallerdings ndash jedoch aufgrund anderer Faktorensup3sup2⁶

Bezug auf andere Satiriker ndash Neben den Anspielungen auf die Etymologie derGattung Satire treten explizite Bezuumlge auf andere Autoren menippeischer Satirenauf Namentlich wird jedoch keiner der Vorgaumlnger genannt die Nennung Varroserfolgt ausschlieszliglich in den Vortraumlgen der Brautjungfern und bezieht sichuumlberwiegend auf Varros fachschriftstellerische Werke oder seinen Ruf als Enzy-klopaumldistsup3sup2⁷

sich beim Grammatiker Diomedes (Grammatici Latini 1 485) Ausgehend von dieser Passageeroumlrtert Petersmann die Etymologie mit besonderer Beruumlcksichtigung des Ursprungs des Wortessatura aus dem Kuumlchenbereich (Petersmann 1986) Iuv 1 86 nostri farrago libelli Vgl die Kommentare Morton Braund 1996 95 f undCourtney 1980 103 Vgl die Gleichnisse in der praefatio zu den Saturnalia (Sat praef 5ndash9) und die Ausfuumlh-rungen in Kap II1 sowie die dort aufgefuumlhrte Literatur LeMoine 1991 360 ibid S u die Abschnitte bdquoErzaumlhlinstanzenldquo und bdquoDeutungen der komplexen literarischen Formldquo 4 335 (die Gelehrsamkeit Varros vgl Cic ac 1 9 Aug civ 6 2) 5 517 (Nennung in einemZitat) 6 639 und 6 662 (Fragen der Geographie die Varro-Vorlage ist nicht bekannt) 9 928 (cfVarro rust 3 17 4) Vgl zum Verhaumlltnis von Martianus und Varro bes Bovey 2003 Kap 2 (bdquoLaquestion varronienneldquo) und Schievenin 2009f

2 De nuptiis als literarisches Werk 135

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Allerdings zitiert die Wendung ὄνος λύρας in 8 807 den Titel einer menip-peischen Satire Varrossup3sup2⁸ Die Wendung ist in der lateinischen Literatur ander-weitig nicht belegt weshalb davon auszugehen ist dass Martianus hier auf denrepublikanischen Satiriker direkt zuruumlckgriff Da die Wendung zudem im Streit-gespraumlch zwischenMartianus und Satura uumlber die angemessene Art des Erzaumlhlensder Geschichte faumlllt kommt ihrer Verwendung eine programmatische Aussage zuMartianus stellt sich und sein Werk also in die Nachfolge Varros und seiner Sa-tiren

Ein Bezug auf Lukian ist weniger sicher nachzuweisensup3sup2⁹ Allerdings gibt eseine motivische Uumlbernahme im zweiten Buch von De nuptiis Philologias Erbre-chen des Wissens das der Hochzeit vorausgeht hat eine Parallele in LukiansDialog Lexiphanes Der allzu (ein)gebildete Lexiphanes nimmt auf Draumlngen vonLycinus ein Brechmittel ein das ihm der Arzt Sopolis gibt Daraufhin erbricht eralle Woumlrter die er gelernt hat dies ist die Voraussetzung dafuumlr dass er nun an-gemessen belehrt werden kannsup3sup3⁰

Es handelt sich um die Fragmente Varro Men 348ndash369 In Fragment 349 findet sich dieWendung auch im Vers (si quis μελωδεῖν est ὄνος λύρας praesepibus se retineat forensibus ndashsbquower beim Gesang wiersquon Esel an der Harfe bloumld der bleib getrost im Stallmief seines Forumsdortlsquo [Uumlbs Krenkel]) Die Bezugnahme auf Varro ist umso wahrscheinlicher da Satura unmit-telbar zuvor sowohl Martianusrsquo berufliche Aufenthalte auf dem Forum erwaumlhnt und ein Wort-spiel mit seinem Namen Capella angestellt hat ndash der zwar nicht sbquoEsellsquo bedeutet wohl aber einHaustier (sbquoZiegelsquo)Vgl dazu Shanzer 1968c 38ndash40 Shanzer 1986a kritisch dazu Pabst 1994 168(m Lit) Folgt man Bovey handelt es sich bei der unmittelbar folgenden Wendung καιρὸν γνῶθιum einen weiteren Verweis auf den Titel einer Varro-Satire γνῶθι σεαυτόν (= Varr Men 199ndash210 vgl Bovey 2003 282ndash284) Naumlher liegt wohl dass Martianus Capella diese eigenstaumlndigeSentenz (vgl Diogenes Laertios I 79 der sie als Sentenz des Pittakos ausweist) aus einer anderenQuelle uumlbernommen hat Kindermann 1969 60 Shanzer geht davon aus dass Martianus Lukian kannte (Shanzer1986c 36) Zur Diskussion um Martianusrsquo Griechischkenntnisse vgl Cristante 2009 [5] undShanzer 1986c 4 die beide annehmen dass Martianus durchaus Griechisch beherrschteShanzer weist einige Stellen auf an denen Martianus woumlrtlich uumlbersetzt und schlieszligt aus derBeherrschung des Griechischen zu Recht auf einen gebildeten moumlglicherweise sogar akade-mischen Hintergrund von Martianus Lucian Lex 20f Andere antike Texte die das Erbrechen von Wissen als Teil des Reini-gungsprozesses beschreiben oder als Bild tradieren sind mir nicht bekannt Daher ist eswahrscheinlicher dass Martianus auf Lukian im Original zuruumlckgegriffen hat Zur vor-byzantinischen Rezeption Lukians vgl Nesselrath 1994 der spaumltantike Bezuumlge auf Lukian u abei Julian und Claudian aufzeigt ndash Einen Bezug auf Lukians Concilium deorum fuumlr moumlglich haumlltKrapinger 1999 962 ndash Anders gelagert sind Lucian cont 7 und Aug in Joh ev tract 36 1 Dortgeht es darum dass durch das Ausspeien Wissen weitergegeben wird was zum Bild der daserbrochene Wissen aufsammelnden Artes passt nicht jedoch zum Motiv der Reinigung

136 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Bezuumlge auszligerhalb der Uumlbernahme uumlblicher Gattungselemente lassen sich fuumlrSenecas Apocolocyntosis Petrons Satyricon oder Julians Caesares nicht konsta-tierensup3sup3sup1

Die Figur der Satura und ihr Handeln ndash Einer der deutlichsten Hinweise auf dieForm der Satire liegt im Auftreten einer Figur namens Satura Diese Figur wirdzunaumlchst von Martianus als Erzaumlhlinstanz eingefuumlhrt (1 2) von der er den Inhaltvon De nuptiis erfahren haben will Im Laufe des Werks gewinnt Satura aber anProfil und agiert zunehmend autonom

Aussagen uumlber Satura beruhen letztlich auf drei Stellen in De nuptiis (6 576ndash5798 806ndash8109997ndash999) und koumlnnen fast ausschlieszliglich aus der Formund derBotschaft ihrer eigenen Aumluszligerungen gewonnen werden An allen drei Stellendiskutiert Satura mit Martianus Ansonsten ist Satura zwar als praumlsent zu denkenwird aber nicht weiter thematisiert

Nach Martianusrsquo Anrufung Minervas zu Beginn des sechsten Buches mischtsich Satura in seine Uumlberlegungen ein welche Frauen er vor sich sehe Die Ein-mischung wird von Martianus als scherzend bezeichnet (iocabunda 6 576) dieEinmischung an sich als typisch fuumlr das Scherzen Saturas (ut lepidula est 6 576)Die Aumluszligerung Saturas beginnt mit Spott uumlber Martianusrsquo nur scheinbare KlugheitDurch falsche naumlchtliche Studien und besonders seine Anwaltstaumltigkeit habe erden Blick auf das Wichtige verloren und erkenne nun nicht einmal mehr Philo-sophia und Paideia Der Scherz wird jedoch alsbald von einem belehrendenTonfall abgeloumlst in dem Satura Martianus uumlber das Wesen der beiden Frauenaufklaumlrt

Satura tritt als Naumlchstes zu Beginn des achten Buches auf in der Folge derSilen-Szene Der angetrunkene Silen war eingeschlafen und durch Amor aufge-schreckt worden was die uumlbrigen Goumltter laut lachen lieszlig (8 803ndash805) DieseSchilderung provoziert bei SaturaWiderspruch da sie das Erzaumlhlte als unpassendfuumlr die Goumltterversammlung empfindet Ihre Kritik beginnt wieder bei der Persondes Martianus dessen Namen sie als passend zu seinem Wesen deutet (Capella ~sbquoZiegelsquo 8 806) Sodann fordert sie Martianus auf seine Possen zu unterlassenMartianus fuumlhlt sich gehoumlrig von Satura gemaszligregelt und gibt klein bei bemerktaber dass sie ansonsten mehr von Scherzen halte (alioquin lepidula 8 807) AlsSatura dann die Einfuumlhrungder eintretenden Brautjungfer in Versenvorbringt undMartianus wiederum seine Scherze (ludicra 8 808) vorhaumllt kann dieser nicht

Mit Julian verbindet Martianus immerhin die Ansiedlung der Goumltterversammlung auf derMilchstraszlige ndash Zur Rolle der Saturnalien vgl den Abschnitt bdquoDeutungen der komplexen litera-rischen Formldquo

2 De nuptiis als literarisches Werk 137

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mehr an sich halten und zahlt Satura ihre Kritik in gleicher Muumlnze heim Nacheinigem Spott uumlber Saturas Verse verteidigt nun Martianus das Recht auf Scherzgegen sie die an sich ndash nicht aber in De nuptiiswie es scheint ndash eigentlich fuumlr denScherz zustaumlndig waumlre und gibt ihr mit Martial (2 41 1) den Rat auch einmal zulachensup3sup3sup2

Ein letzter Schlagabtausch von Satura und Martianus erfolgt schlieszliglich amEnde des Werkes Wiederum streiten beide Figuren miteinander und halten sichmit Spott uumlber das Wesen des anderen nicht zuruumlck

Die Einfuumlhrung Saturas die ja nur in Verbindung ndash und das heiszligt Ausein-andersetzung ndash mit Martianus erscheint dient vornehmlich der deutlichenBenennung der Gattung und der Verstaumlndigung daruumlberwas den Charakter einessatirischen bzw des vorliegenden Werkes ausmache Erstaunlich ist dabei Mar-tianusrsquo Entwicklung der sich zunaumlchst gegen Unterhaltung im artes-Teil ausge-sprochen hatte diese spaumlter aber gegen den censorischen Eingriff Saturas imachten Buch verteidigt Noch erstaunlicher ist aber dass es gerade Satura ist diezur Beachtung des Decorums auffordert und Martianusrsquo vergleichsweise mildenScherz scharf tadelt

Erzaumlhlinstanzen ndash Die Frage nach der Erzaumlhlsituation bzw der Erzaumlhlerfigurgehoumlrt zu den grundlegenden Analysekriterien eines literarischenWerkes ebensowie die Konzipierung von Raumund Zeit Lassen sich die letzten beiden Punkte imHinblick auf De nuptiis hinreichend klaumlrensup3sup3sup3 so bietet die Erzaumlhlerfigur groumlszligereSchwierigkeiten

DassDe nuptiis zwei Erzaumlhlinstanzen hat scheint zu Beginn desWerkeswenigdramatisch In 1 2 verweist der Erzaumlhler Martianus gegenuumlber seinem Sohn dar-auf dass die folgende Geschichte (also der uumlberwiegende Teil von De nuptiis) ihm

Ride si sapis o puella ride Schievenin bietet eine gruumlndliche Analyse dieser Stelle auchmit Blick auf die inverse Vorlage Martials (plora si sapis o puella plora Mart 2 41) derwiederum auf Ovid (Ov ars 3 281 f) zuruumlckgreift (Schievenin 1984 bes 136 ausfuumlhrlich auchBovey 2003 275ndash288) Die Rahmenhandlung spielt in der erzaumlhlerischen Gegenwart und in einem unbestimmtenRaum der jedoch nicht auszligergewoumlhnlich ist es liegt nahe an Karthago und das Haus desMartianus Capella zu denken Die eigentliche Handlung spielt an z T unwirklichen Orten aufder Erde die zumeist nicht naumlher bestimmt sind (z B Philologias Herkunft) und auf derMilchstraszlige wobei die absolute Zeit nicht genannt wird aber aufeinanderfolgende Tage inihrem Ablauf erkannt werden koumlnnen Die Phantastik einzelner Szenen die meist auf alle-gorische Darstellungsweisen zuruumlckgeht verletzt jedoch nicht die raumlumliche oder zeitlichePlausibilitaumlt des Dargestellten Vgl dazu auch die Ausfuumlhrungen und grafischen Veranschau-lichungen LeMoines (1972a)

138 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

waumlhrend langer Winternaumlchte (eine Anspielung auf Gellius)sup3sup3⁴ von Satura be-richtet wurde Der antike wie moderne Leser duumlrfte sich wohl kaum daran stoszligensondernwird darin vor allem eine Inspiration des Autors durch Satura (auchwennes das zuvor noch nicht gab) erkennen Bei der Erwaumlhnung von Satura koumlnnte erHeiteres erwarten oder bunt gemischte Geschichten

Vollkommen verwirrt wird der Leser hingegen spaumltestens dann wenn er amEnde des Werkes in der Sphragis angekommen ist (9 997ndash 1000) Dort reflektiertMartianus sein literarisches Vorgehen in den vorausgegangenen neun Buumlcherngenauer gesagt distanziert er sich von der Form der Darstellung (Umfang Bunt-heit) und verweist auf die Verantwortung Saturas die die Geschichte erzaumlhlt habe

Habes anilem Martiane fabulam 997Miscillo lusit quam lucernis flamineSatura Pelasgos dum docere nititurArtes daggercagris vix amicas AtticisSic in novena decidit voluminahaec quippe loquax docta doctis aggerans 998fandis tacenda farcinat immiscuitMusas deosque disciplinas cyclicasgarrire agresti cruda finxit plasmate (9 997 f)

Da hast du Martianus eine Altweibergeschichte sie verfertigte im Spiel mit vermischterInspiration [d h in Prosa und Vers] bei Kerzenschein Saturawaumlhrend sie sich bemuumlhte diePelasger zu lehren die Kuumlnste die den Griechen kaum freundlich [d h neu] sindSo gelangte sie hinab bis zum neunten Buch haumluft plappernd Gelehrtes auf Gelehrtes undstopft geheimes und bekanntes Wissen zusammen hat Musen und Goumltter vermischt und hatsich erdacht dass die enzyklopaumldischen Disziplinen in einembaumlurischenMachwerk unreifesZeug daherplappern

So ungewoumlhnlich dieses Vorgehen auch ist ndash Martianus haumltte ja den Bericht Sa-turas als Grundlage nehmen und dann nach eigenem Geschmack umgestaltenkoumlnnen ndash wird es uumlbertroffen durch die Verteidigung Saturas Sie weist die Ver-antwortung fuumlr die Art der Erzaumlhlung von sich und verteidigt sichmit demHinweisauf Martianusrsquo intellektuelle Schwaumlche der sie die Ausfuumlhrungen habe anpassenmuumlssen

Vgl Gell praef 4 zur Erklaumlrung der Wahl des Titels Noctes Atticae fuumlr sein Werk

Sed quoniam longinquis per hiemem noctibus in agro sicuti dixi terrae Atticae commentationeshasce ludere ac facere exorsi sumus idcirco eas inscripsimus noctium esse Atticarum hellip

Aber weil wir in langen Naumlchten den Winter uumlber in Attika auf dem Landwie schon gesagtdiese Anmerkungen im Spiel und dann ernsthaft begonnen haben daher haben wir ihnenden Namen Attische Naumlchte gegeben hellip

2 De nuptiis als literarisches Werk 139

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

haec ipsa nauci rupta conscientia 999turgensque felle ac bili bdquomulta chlamydeprodire doctis approbanda cultibuspossemque comis utque e Martis curia[hellip]ab hoc creatum Pegaseum gurgitem 1000decente quando possem haurire poculoldquo (9 999 f)

Sie sagte aufgrund ihres Wissens um die Nichtigkeit (dieser Ausfuumlhrungen) verletztschwellend vor Bitterkeit und Zorn bdquoIch koumlnnte hier freundlich auftreten mit einem Gewandbekleidet lobenswert durchgelehrtes Verhaltenwie aus der VersammlungdesMars [Es folgtdie Schilderung der unguumlnstigen Anlagen von Martianus] ndash Wann koumlnnte ich mit ange-messenem Becher aus einem pegasischen Strom von ihm erschaffen schoumlpfenldquo

Somit hat das Werk das zu Beginn zwei hierarchisch geschiedene Erzaumlhler zuhaben scheint am Ende zwei Erzaumlhler die sich gleichberechtigt uumlber die Form dererzaumlhlten Geschichte streitensup3sup3⁵

Die Inkonsistenzen auf der Erzaumlhlebene setzen sich daruumlber hinaus fort HatteMartianus zu Beginn des Werks gesagt Satura habe ihm die Geschichte waumlhrendlangerWinternaumlchte erzaumlhlt so treten Satura undMartianus amEnde desWerks inder erzaumlhlerischen Gegenwart gemeinsam auf und sprechen beide nacheinanderzu Martianusrsquo Sohn

Weiterhin erscheinen Satura und Martianus innerhalb der Geschichte dieMartianus angeblichvon Satura gehoumlrt hatWaumlhrend die Goumltter denverschiedenenBrautjungfern lauschenwohnen auch SaturaundMartianus der Versammlungbeiund betrachten sie als unbeteiligte ZuschauerWie aus einer Theaterloge herauskommentieren und diskutieren sie das Geschehen das auf der bdquoGoumltterbuumlhneldquostattfindetsup3sup3⁶

Noch einen weitergehenden Schritt stellt die Silen-Szene zu Beginn des achtenBuches dar Im Anschluss an diese Szene beschwert sich Satura bei Martianus erkoumlnne die Goumltter nicht auf dieseWeise agieren lassen In der Folge entspinnt sich einGespraumlch in demMartianus seine Art des Erzaumlhlens gegen Satura verteidigt die fuumlreine zuruumlckhaltendere Darstellung plaumldiert (s o)Von der Fiktion dass Martianusseinem Sohn bloszligwiedergibtwas Satura ihm erzaumlhlt hat bleibt nichtmehr viel dieganze Szenerie ist ein Produkt der ErfindungdesMartianus gleichzeitigwohnt er ihraber gemeinsam mit Satura bei ist also Teil der Handlung

So bereits Pabst 1994 120 Anm 119 der allerdings auf eine Diskussion der Beobachtungverzichtet Es handelt sich um die Stellen zu Beginn des sechsten und des achten Buches die imvorigen Abschnitt bereits paraphrasiert wurden

140 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Diese Art der Spiels mit der Erzaumlhlerrolle wird von manchen modernen For-schern als ein wichtiges Merkmal der menippeischen Satire angesehen Hinzu-treten kann die Selbstherabsetzung des Erzaumlhlers die sich an seinemmangelndenWissen Stilbewusstsein Traditionsempfinden o auml entzuumlndetsup3sup3⁷ Folglich kanndie zunaumlchst befremdliche Brechung und Verzerrung als weiteres Merkmal derGattung menippeische Satire bestimmt werden

Aufgrund dieser Beobachtungen ist es zwingend in De nuptiis vor allem eineSatire zu sehen Auch der heiter-spoumlttische Charakter einiger Passagen zwischenden Vortraumlgen der Brautjungfern passt zum satirischen Anspruch Gelegentlicherscheint es jedoch fraglich ob es sich wirklich um satirische und nicht eher umkomische oder derbe Spaumlszlige handelt Die Szene in der Silen betrunken einschlaumlftund von den anderen Goumlttern verspottet wird (8 803ndash805) erinnert mit ihremSlapstick eher an den derben Spott der Komoumldie als an die Satire eines Varrosup3sup3⁸

22 Deutungen der komplexen literarischen Form

Wie laumlsst sich das Werk De nuptiis nun also formal beschreiben oder andersgefasstWie lassen sich die vier literarischen Traditionsstraumlnge zusammenfuumlhrenDass eine einheitliche Lesung zumindest versucht werden muss zeigt bereits dasLeitmotiv der Hochzeit ansup3sup3⁹

Im Kern handelt es sich bei MartianusrsquoWerk um eine Sammlung bedeutenderWissensschaumltze in einem einzigen Werk die darin systematisch ausgebreitetwerden Dies zeigt die Einteilung in verschiedene Disziplinen die ein ver-

Zur Erzaumlhlerrolle in der menippeischen Satire vgl u a Relihan 1993 und darin bes S 35 Mit der Aufnahme unterhaltsamer Elemente ginge Martianus sogar noch uumlber dieErwartungen an ein sbquosatirischeslsquo Werk hinaus Auch Boethius wird bescheinigt er erzaumlhle seineConsolatio bdquoper satiramldquo auch wenn bei ihm weder eine Figur Satura auftritt noch allzu vielHeiterkeit herrscht (Peiper zitiert in der Einleitung zu seiner Ausgabe S xxxi eine mittelalter-liche Boethius-Vita vgl Kindermann 1969 61)

hos libros [scil de consolatione Philosophiae] per satiram edidit imitatus videlicet mar-cianum felicem capellam qui prius libros De nuptiis philologiae et mercurii eadem speciepoematis conscripserathellip

Diese Buumlcher schrieb er als Satire freilich in Nachahmung des Marcianus Felix Capellader zuvor die Buumlcher uumlber die Hochzeit der Philologie mit Merkur in der gleichen Art vonGedicht verfasst hatte

Zum Motiv der Hochzeit das bereits programmatisch im eroumlffnenden Hymnus anHymenaeus erscheint vgl Schievenin 2009c und Cristante in der Einleitung seiner Ausgabe1987 3ndash 10

2 De nuptiis als literarisches Werk 141

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

gleichsweise leichtes Auffinden der Informationen erlaubtsup3⁴⁰ die Bedeutung wirdangesichts der Praumlsentation vor den Goumlttern auf der Milchstraszlige deutlich Alleinder Umfang dieser Vortraumlge die in sich auch nicht gestoumlrt oder gebrochenwerdenmarkiert dass es sich hier um das zentrale Charakteristikum des Werkes handelt

Den erzaumlhlerischen Anlass fuumlr diese Praumlsentation bietet eine Hochzeitsfeieralso ein Symposion hier ist die Gelegenheit fuumlr die groszligen Redebeitraumlge gegebenZudem bietet die SymposionformAnknuumlpfungspunkte fuumlr eine Rahmenhandlungdie zur Auflockerung der ebenso ausfuumlhrlichenwie trockenen Einzelreden genutztwird

Doch bleibt es ndash im Gegensatz z B zu Macrobius ndash nicht bei der bloszligenDarstellung der Wissensinhalte Hinzu tritt die allegorische Darstellung der Be-deutung von Wissen und von Fleiszlig beim Wissenserwerb in den ersten beidenBuumlchern Die praumlsentierten Inhalte der Buumlcher 3ndash9 (die Philologia ja bereits aufder Erde in Buch 2 besitzt) sindwichtig Sie sind nicht nur wichtig fuumlr das irdischeLeben (das wird nicht weiter thematisiert die explizit irdischen Wissenschaftenwie Architektur und Medizin werden sogar ausgeschlossen) ndash die Inhalte sindauch wichtig fuumlr die menschliche Vervollkommnung

Durch das angesammelte Wissen erreicht der Mensch zwar nicht die voll-kommene Erkenntnis (die erhaumllt auch Philologia nur ohne eigenes Zutun als sieauf der houmlchsten Himmelssphaumlre angekommen zum Vatergott in der jenseitigenGluumlckseligkeit betet) wohl aber ein goumlttergleiches Wissensup3⁴sup1 Der Wissenserwerbist gewissermaszligen die Voraussetzung dafuumlr dass der Mensch mit Hilfe einesgoumlttlichen Begleiters in den Himmel aufsteigen kann unsterblich wird und voll-kommene Einsicht erlangt

Die so weit kohaumlrente Verbindung der literarischen Traditionen laumlsst aller-dings den explizit satirischen Anspruch von De nuptiis auszliger Betracht durch denMartianus selbst das Werk primaumlr in die Gattung der Satire einordnet waumlhrendvergleichbare Bezuumlge zu anderen Gattungen fehlen Natuumlrlich lieszlige sich dieserprogrammatische Anspruch mit einem Verweis auf die Verwendung des Begriffszur Bezeichnung einer inhaltlich wie literarisch gemischten Form erklaumlren Dochgreift diese Erklaumlrung zu kurz da das Agieren Saturas die literarischen Passagendes Werks beinahe als Travestie erscheinen laumlsst (vgl oben zur Erzaumlhlerfigur) Einbildend-enzyklopaumldisches Werk kann sich allerdings nicht gefahrlos als Satire

So auch Englisch 1994 56 Die bdquoSystematik bei der Praumlsentationldquo erlaube einen leichtenZugriff auf die Informationen Mart Cap 2 201ndash205

142 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

praumlsentieren ohne Zweifel an der Glaubwuumlrdigkeit und Zuverlaumlssigkeit desWerkes und der praumlsentierten Inhalte zu weckensup3⁴sup2

Wenn Martianus auch die Konventionen der Gattung menippeische Satireaufnimmt und sein Werk also nur folgerichtig unter anderem eine unzuverlaumlssigeErzaumlhlsituation aufweist ist dies noch keine Erklaumlrung an sich Die regelkonformeUmsetzung gattungstypischer Anspruumlche erklaumlrt noch nicht die Wahl der Gattungan sich ndash einer Gattung die trotz ihrer Benennung als solche nicht zu denStandardformen und akzeptierten Gattungen zaumlhlte insbesondere nicht fuumlrLehrwerkesup3⁴sup3

Auch Martianusrsquo Verweis auf etwas bislang noch nicht Unternommenes(nescioquid inopinum intactumque 1 2) vermag den Widerspruch nicht zu loumlsenDie Wendung zeigt zwar dass Martianus die Ungewoumlhnlichkeit seines Ansatzesbewusst war (sofern sich die Phrase uumlberhaupt auf die Komposition des Werkesbezieht)sup3⁴⁴ beseitigt aber nicht das interpretatorische Problem ZuwelchemZweckverbindet Martianus also zwei so widerspruumlchliche Gattungen wie Enzyklopaumldieund Satiresup3⁴⁵

Drei Antwortansaumltze lassen sich grob umreiszligen 1 Die Verbindung ist nuraumluszligerlich bzw oberflaumlchlich 2 durch die Verbindung soll ein bestimmter Aspektparodiert und somit Spott und Kritik ausgesetzt werden 3 die Verbindung erfuumlllt

Dieses Problem hat bereits Westra in seinem Aufsatz bdquoThe juxtaposition of the ridiculousand the sublime in Martianus Capellaldquo benannt (Westra 1981) Allerdings beschraumlnkt sich auchdieser Aufsatz auf die Darstellung des Problems und die Zusammenstellung der Belege EineLoumlsung hat Westra nicht anzubieten ndash sein Aufsatz endet mit der eher apologetischen Bemer-kung das Eingestaumlndnis der Unvereinbarkeit von Satire und Lehrwerk durch Martianus in 9 997sei prima facie ein Spiel dahinter stecke jedoch die Absicht Problembewusstsein zu demon-strieren und Verantwortung fuumlr die unterlassene Loumlsung zu negieren bdquoEven though I would claim that prose and verse must be present in an ancient Menippeansatire it must be seen as one of a number of shocking juxtapositions of oppositesldquo (Relihan 198760) ndash In der Folge kann die prosimetrische Form durchaus auch Mittel belehrender Werkewerden vgl Pabst 1994 133 Denkbar (und wohl wahrscheinlich) waumlre auch dass damit die Inhalte besonders desMythos gemeint sind Der Verweis auf Unterhaltung fuumlhrt nicht zum Kern der Frage denn die satirische Formstellt mehr dar als reine Unterhaltung Auch das horazische Diktum ridentem dicere verum quidvetat ndashsbquolachend das Wahre zu sagen ndash was spricht dagegenlsquo (Hor serm 1 1 23) als Kern vonMartianusrsquo Satireverstaumlndnisses greift zu kurz ebenso wie vergleichbare Konzeptionen in derLiteratur Dort geht es bei Belehrung immer um einzelne philosophische Saumltze (nie beispiels-weise um die Vermittlung von Philosophie an sich) Folglich bezeichnet das bdquoverumldquo nichtkognitives Lernen sondern moralisches Der grundlegende Unterschied zur Konzeption desMartianus liegt somit auf der Hand Vgl zu diesem Aspekt im Allgemeinen z B Shanzer 1986c42 und im Speziellen u a Woytek 1986 339ndash345 Keulen 2009 bes Kap 2 und 3

2 De nuptiis als literarisches Werk 143

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

einen literarischen und belehrenden Zweck zugleich Aufgrund der komplexenSachlage und der unmittelbaren Bedeutung der Beantwortung der Frage nachdieser Verbindung fuumlr das Gesamtverstaumlndnis von De nuptiis werden alle Alter-nativen vorgestellt und bewertet

Rein formale Verbindung von Satire und EnzyklopaumldieEventuell laumlsst sich die Mischung aus enzyklopaumldischen und satirischen Ele-menten (mit den zur Satire gehoumlrigen Verspartien) als Sonderform der Varro-Re-zeption bei Martianus auffassenVarro von Reate verfasste sowohl umfangreicheFachliteratur als auch menippeische Satiren Fuumlr beides war er in der Antikebekannt und beruumlhmt ndash doch ist es wahrscheinlich dass Martianus die Werkebereits nicht mehr ndash oder allenfalls nur in Auszuumlgen ndash vorliegen hattesup3⁴⁶ Aus demWissen um die beiden Schaffensbereiche des republikanischen Autors die beideder Unterweisung dienen solltensup3⁴⁷ koumlnnte Martianus auf den Gedanken verfallensein die literarischen Formen und Inhalte in seinem Werk zu verbindensup3⁴⁸Vielleicht saszlig er auch einemMissverstaumlndnis auf indem ermeinte dass Varro seinsatirisches wie enzyklopaumldisches Koumlnnen in nur einem Werk demonstriert habeDies hieszlige jedoch dass Martianus sich der Problematik dieser Verbindung nicht

So aumluszligert sich beispielsweise Kindermann in den Vorstudien seiner Ausgabe der Conso-latio des Laurentius von Durham Er billigt Martianus nur eine sekundaumlre Varro-Kenntnis zu(Kindermann 1969 60) Entschieden verneint wird die Frage von Schievenin (2009f) und Hadotdie vor allem neuplatonische Quellen vermutet (Hadot 2005 149) Schneider jedoch nimmt andass sowohl Augustin als auch Martianus die Disciplinae noch vorliegen hatten (Schneider 1999109 f) und dass die Satiren-Exzerpte des Nonius Marcellus (fl um 400 in Afrika) ebenfalls ausdem Originaltext Varros angefertigt wurden (ibid 96 Anm 12) Abwaumlgend aumluszligert sich Huumlbner2004 passim Vgl Cic ac 1 8 (es spricht Varro)

et tamen in illis veteribus nostris quae Menippum imitati non interpretati quadam hilaritateconspersimus multa admixta ex intima philosophia multa dicta dialectice quae quo faciliusminus docti intellegerent iucunditate quadam ad legendum invitati

Jedoch findet sich in meinen fruumlhen Schriften die ich in kreativer Nachfolge (und nicht nurUumlbersetzung) Menipps mit einer gewissen Heiterkeit benetzt habe vieles aus den Kernbe-reichen der Philosophie beigemengt und vieles das nach Art der Dialektiker gesagt istdamit die weniger Gelehrten es leichter verstuumlnden nachdem sie durch eine Art von Scherzzur Lektuumlre ermuntert worden sind

Vielleicht hatte Martianus diese Stelle sogar im Kopf als er die Anlage von De nuptiis plante So z BWeinreich in der Einleitung zu seiner Uumlbersetzung roumlmischer Satiren bdquoMartianusCapella glaubte gewiszlig ein Varro redivivus zu sein sozusagen die Quintessenz des Gelehrten unddes Satirikersldquo (Weinreich 1962 XCIII) Ebenso Shanzer 1986c 42

144 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

bewusst gewesen sei ndash was ihm sicher nicht gerecht wird Auszligerdem wird so dieBezugnahme auf weitere formale Elemente der menippeischen Tradition und dieuumlbrigen Vorlaumlufer der Gattung mit anderer Konzeption (Lukian Julian) nichtausreichend beruumlcksichtigt

Ebenfalls beim Autor koumlnnte eine zweite Erklaumlrung ansetzen Im Zuge derAbfassung seiner Enzyklopaumldie hat sichMartianus nach horazischer Vorgabe (unddem Beispiel Varros)sup3⁴⁹ um Auflockerung und heitere Elemente bemuumlht Diespontanen Einfaumllle wurden ins Werk integriert und die sich daraus ergebendenInkonsistenzen entweder uumlbersehen oder billigend in Kauf genommen Beideswuumlrde gut zum klassisch negativen Martian-Bild in der Forschung passensup3⁵⁰Abgesehen davon dass Annahmen uumlber das Vorgehen beim Schreiben weitge-hend auf Spekulation beruhensup3⁵sup1 widersprechen drei Beobachtungen dieser Er-klaumlrung Erstens gelingt es Martianus De nuptiis uumlber neun Buumlcher vorauszu-planen so dass am Ende ein ndash zunaumlchst abgesehen von der Satire-Problematik ndashkohaumlrentes Werk entsteht Die Fuumllle der behandelten Themen Motive und lite-rarischen Elemente weist eher auf ein planvolles Arbeiten hin und macht es un-wahrscheinlich dass Martianus Probleme an dieser Stelle nicht wahrgenommenbzw nicht korrigiert haumltte Zweitens ist die Verbindungvon Satire und den anderenElementen nicht nur oberflaumlchlich so dass sie nachtraumlglich eingefuumlgt sein koumlnnteoder sich im Schreibprozess so ergeben haben koumlnnte Da bereits im zweitenKapitel des ersten Buches Satura eingefuumlhrt wirdwar sie von vornherein Teil des

Gemeint ist das beruumlhmte zunaumlchst nur fuumlr die Dichtung relevante prodesse aut delectare(Hor ars 333 f) zu Varro vgl die schon angefuumlhrte Stelle aus Cic ac Vgl z B die sehr bildliche Beschreibung von C S Lewis bdquo[hellip] this universe which hasproduced the bee-orchid and the giraffe has produced nothing stranger than Martianus Capella[hellip] the curiosity shop of his mind [hellip] a chaos beside which the work of Rabelais has unity andthat of Mandeville probabilityldquo (Lewis 1936 78 f) Gleiches gilt fuumlr Spekulationen uumlber eine andere Auffassung von Literatur und ihrenRegeln in Martianusrsquo Zeit oder Umfeld Einerseits kennen wir keine Texte die sich mit De nuptiisvergleichen lieszligen (was per se nichts beweist aber doch Indiziencharakter hat) andererseitshielten sich auch die spaumltantiken Autoren uumlblicherweise an die klassischen Vorgaben Ich teiledaher auch Schneiders Ansicht nicht der die Skepsis an dieser Verbindung allein der modernenLeseerfahrung zuschreibt bdquoWenn den Heutigen diese Kombination der forcierten Gelehrsamkeiteines Curriculums und der spielerisch-saloppen Causerie seltsam beruumlhren mag so waumlre dazuimmerhin schon an ein ciceronisches Dictum zu erinnern non est enim seiunctus iocus a phi-lologia (ad fam 16214) ndash sbquoSpieltrieb und Pedanterie diktieren und widersprechen sich nichtlsquo(sbquoErste Fruumlhschichtlsquo aus Grassrsquo sbquoHundejahrelsquo)ldquo (Schneider 1999 94 Anm 2) Der Verweis aufCicero traumlgt nichts zum Verstaumlndnis von Martianus bei Cicero geht es an der zitierten Stelle umden Ablauf des Tages mit seinem Schuumller der aus ernsteren und heitereren Abschnitten bestehtDaraus folgt nicht dass das Lernen mit Scherz verbunden ist ndash auszligerdem duumlrfte Cicero unteriocus (sbquo[urbaner] Scherzlsquo) anderes verstanden haben als Martianus in seiner Satura bietet

2 De nuptiis als literarisches Werk 145

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Kompositionsplans Drittens hat Schievenin gezeigt dass Martianus keineswegsoberflaumlchlich und eigenwillig arbeitet Durch eine gruumlndliche Untersuchung derSilen-Passage (8 803ndash805) kann er nachweisen dass Martianus ndash wie vieleAutoren vor ihm ndash uumlber ein umfangreiches literarisches Wissen verfuumlgte daraufbei der Abfassung seines Werkes zugreifen konnte und durch gezielte Anspie-lungen neue Bezuumlge herstelltesup3⁵sup2

Satire als Mittel der KritikWaumlhrend die antike Satire (im Gegensatz zur modernen) nicht zwangslaumlufig Kritikan Missstaumlnden uumlben wollte ist diese Moumlglichkeit umgekehrt auch nicht auszu-schlieszligen Martianus koumlnnte also bewusst eine solide Darstellung der Kuumlnste inliterarischem Gewandmit der Gattung der Satire verbunden haben um Zweifel ander Ernsthaftigkeit der uumlbrigen Teile des Werkes zu wecken Er wuumlrde somit einaufklaumlrerisches Interesse verfolgen das zugleich auch unterhaltsame Zuumlge traumlgt

Eine erste Schwierigkeit dieser Lesart von De nuptiis ergibt sich bereits bei derFrage nach dem Objekt der SatireWerden die Wissensinhalte in Zweifel gezogenoder nur die Art ihrer Vermittlung in langen Reden bzwTraktaten Soll der Glaubean die umfassende Einheit des Wissens kritisiert werden oder die Vorstellungsaumlmtliches Wissen lasse sich vermitteln gar kohaumlrent in einem Werksup3⁵sup3 Ist dieVorstellung dass Wissen goumlttlich mache parodiert oder nur die abwegige Vor-stellung dass auf einer Hochzeit solche Reden gehalten werden Oder richtet sichdie Kritik letztlich gegen die Auffassung Philologia als Vorbild zu sehen oder garals Mittlerin alles Wissens ja sogar als Mittlerin zwischen Menschen und Goumlttern

Aus der Tatsache dass das Objekt der Satire keineswegs leicht zu bestimmenist kann nicht gefolgert werden dass in De nuptiis keine Satire vorliege die be-stimmte Sachverhalte kritisiere Aber es kann durchaus gefolgert werden dass eskeine expliziten textinternen Merkmale gibt die das Lesen steuern und den Ge-genstand der Kritik deutlich hervortreten lassen Die Deutungen gehen also vonmodernen Annahmen uumlber das Umfeld bzw die Gedankenwelt von Martianus aus

Im Kern handle es sich um bdquouna narrazione tersa e brillanteldquo verbunden mit einemDickicht an Verweisen Die Silen-Szene habe einen bdquocarattere colto e della dottrina e dellalingualdquo (Schievenin 1984 132) Das Fazit seiner Untersuchung formuliert Schievenin folgen-dermaszligen bdquoIl De nuptiis si rivela dunque opera di vasti orizzonti non solo per lrsquointento dida-scalico che la pervade e che ne determineragrave la fortuna ma anche per la costante presenza nellafabula della tradizione classica e dei suoi echildquo (ibid 136) Vgl zu dieser Stelle auch Bovey2003 275ndash288 ndash Den geschickten Umgang mit mehreren Quellen ndash erzaumlhlerisch wie seman-tisch ndash kann Schievenin auch fuumlr 7 725ndash727 nachweisen (Schievenin 2009e) So z B Relihan 1993 138 bdquoMartianus writes not an encyclopedia but a Menippean satirethat parodies encyclopedic knowledgeldquo

146 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

und weisen zudem meist nicht kleinschrittig auf wie der Interpret zu seiner (oftapodiktisch dargelegten) Ansicht gelangt

Nun folgt daraus noch nicht dass Martianus De nuptiis nicht als kritisierendeSatire konzipiert haumltte die Vielzahl der (wenn auch differierenden) modernenDeutungenweist ja darauf hin Zwei Uumlberlegungenwenn auch keine schlagendenBeweise lassen die Hypothese der parodierenden Satire unwahrscheinlich wer-den der Umfang von De nuptiis und seine Rezeption Eine Satire die beispiels-weise die Verbindung von Weltwissen und menschlicher Vervollkommnung in-frage stellt benoumltigt nicht noch eine umfassende Darlegung eben diesenWissensDies gilt besonders da diese Darlegung den Hauptteil des Werks ausmacht und ndashzumindest dem Umfang nach ndash die uumlbrigen Partien weit uumlberragt Eine Deutungvon De nuptiis als kritischer Satire muumlsste also besonders die Frage beantwortenzu welchem Zweck die umfangreichen Darstellungen der Freien Kuumlnste aufge-nommen sind (und nicht nur angedeutet werden)

Die Rezeption eignet sich zwar ebenfalls nicht zu sicheren Ruumlckschluumlssen aufdie originale Intention eines Werkes haumlufig bietet sie aber interessante EinblickeDie Martianus-Rezeption stellt sich bald ein Cassiodor beruft sich in seinen In-stitutiones auf ihn Dort erscheint Martianus nicht als Satiriker oder Zeitkritikersondern als Gelehrtersup3⁵⁴ In dieser Tradition wird Martianus auch im Mittelaltergelesen und rezipiertsup3⁵⁵

Aumlhnliches laumlsst sich fuumlr Boethiusrsquo Anknuumlpfen an die prosimetrische Form inder Ausgestaltung von Martianus sagen Boethius verfasst zweifelsfrei keine kri-tische Satire kann aber trotzdem an die Form und den Inhalt von De nuptiisproblemlos anknuumlpfen Sowohl der Form nach wie auch durch einzelne Zitatemacht er deutlich dass erDe nuptiis kennt und als eine seiner Vorlagen benutzt Esist zu bezweifeln dass Boethius in seinem Bemuumlhen um eine adaumlquatewerbendeDarstellung der Philosophie auf Form und Zitate des Martianus zuruumlckgegriffenhaumltte haumltte er nicht die Moumlglichkeit der gefahrlosen Uumlbernahme gesehen

Satirische Elemente als Mittel der BelehrungDer dritte Erklaumlrungsansatz fuumlr die Verbindung von Satire und Belehrung be-trachtet die Wahl Saturas als Figur und die Bezugnahme auf die Gattung zunaumlchst

Cassiod inst 2 2 17 Zur mittelalterlichen Martianus-Rezeption vgl bes Nuchelmans 1950 Lutz 1971 und 1976Willis 1973 sowie die Ausgaben und Literatur u a zu folgenden Werken Konrad von MureFabularius Hugo von Sankt Victor Didascalicon de studio legendi Johannes von SalisburyMetalogicon Kindermann kann weiterhin nachweisen dass De nuptiis auch durch seine Forminspirierend gewirkt hat (Kindermann 1969 61 f)

2 De nuptiis als literarisches Werk 147

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

als reine Fortsetzungder literarischen Form Fuumlr diese spezielle Formder Literaturdie menippeische Satire hat der russische Literaturwissenschaftler MichailBachtin Beobachtungen aufgestellt die auch fuumlr De nuptiis zutreffen Durch denRuumlckgriff auf zwei zentrale Konzepte Bachtins das Karnevaleske und die Dialo-gizitaumlt wird ein Verstaumlndnis von De nuptiis ermoumlglicht

Auf der Suche nach Vorlagen und Urformen der Gattung des Romans ins-besondere in der Form von Dostojewskis Romanen stieszlig Bachtin unter anderemauch auf die menippeische Satire die er bis in die Antike zuruumlckverfolgtesup3⁵⁶ Zuihren Vertretern zaumlhlt er unter anderem Varro Apuleius Petron Seneca oderLukiansup3⁵⁷ Martianus Capella wird nicht erwaumlhnt was aber nicht verwundernmuss da Bachtin keine Literaturgeschichte der menippeischen Satire schriebsup3⁵⁸

Kern der Uumlberlegungen Bachtins zurmenippeischen Satire ist das Konzept desKarnevals Unter Karneval versteht er folkloristische Feste waumlhrend deren diebestehende Ordnung verkehrt wird uumlbliche Regeln nicht mehr gelten Herr-schende gestuumlrzt und Machtlose maumlchtig werden ndash auf Zeit Die Karnevalisierungalso die Uumlbernahme der Kennzeichen dieses Festes in neue oder bestehende li-terarische Formen institutionalisiert diese Ausnahmesituation und loumlst sie vomkonkreten Fest Der so entstandene Text wird bdquozum karnevalesken Spiel an demder Autor und sein Publikum einverstaumlndlich teilhaben und das keines kalen-darisch oder institutionell abgesicherten Karnevalsrahmens mehr bedarfldquosup3⁵⁹

Diese Karnevalisierung fuumlhrt unter anderem zu einer Vielstimmigkeit vonMeinungen und Positionen im Text z B durch mehrere Figurenvon denen keinebevorzugt oder gar als autoritativ gekennzeichnet wird In dieser Dialogizitaumlt wirdkein allgemein guumlltiger Sinnmehr vermittelt sondern dieWahrheit suspendiertsup3⁶⁰

Dass der Bezug auf karnevalsartige Feste der Gattung menippeische Satire (inTeilen auch der Verssatire) eignet zeigt ein kurzer Blick auf wichtige Vertreter derTradition

Julians Symposion Caesares spielt zur Zeit der Saturnalien Die Bedeutungdieses Festes fuumlr das Werk wird dadurch verdeutlicht dass es den Handlungs-

Bachtin 1971 126ndash 135 Bachtin 1971 126 128 132f Kritik an den z T pauschalisierenden und verfaumllschenden Aussagen Bachtins uumlber antikeLiteratur oder an der ununterbrochenen Traditionslinie von der Antike bis in die Moderne (z BRelihan 1987 59 Lachmann 2006 23ndash25) muumlsste auch auf manche moderne Literaturwissen-schaftler in der Nachfolge Bachtins angewandt werden (vgl Branham 2005 6 wo es uumlberSenecas Apocolocyntosis heiszligt bdquoour only extant Menippean satire in Latinldquo) Teuber 1993 182 Eine gut verstaumlndliche Einfuumlhrung in das Konzept der Dialogizitaumlt im Sinne der bach-tinschen Terminologie bietet Sharland 2010 Einfuumlhrung (1ndash51)

148 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

rahmen fuumlr den in der Folge erzaumlhlten Mythos bildet Bereits im ersten Satz wirdauf das Fest und die Tradition Heiteres frei zu erzaumlhlen Bezug genommensup3⁶sup1

Auch Senecas Apocolocyntosis stellt einen engen Bezug zum Saturnalienfesther Das Werk spielt zwar nicht an den Saturnalien sondern am Todestag desClaudius im Oktober doch wird an zwei Stellen eine Verbindung zwischen derHerrschaft des verstorbenen Kaisers und den dargestellten Sitten waumlhrend derRegierungszeit mit dem Saturnalienfest gezogensup3⁶sup2 Manche Interpreten gehensogar davon aus dass die Apocolocyntosis an den Saturnalien des Jahres 54vorgetragen wurdesup3⁶sup3 Auch bei Petron und Horaz finden sich Bezugnahmen aufdie Saturnaliensup3⁶⁴

Ein zentrales Element des Saturnalienfestes liegt in der Suspension der uumlb-licherweise geltenden Normen und Wertesup3⁶⁵ Neben den anderen Elementen desFestes wie sie z B in Macrobiusrsquo Saturnalia (1 7ndash 10 1 24 22 f) beschriebenwerden (traditionelle Geschenke Festmahl fuumlr die Sklaven etc) hat gerade dieUmkehrung der Herrschaftsverhaumlltnisse im Haus Niederschlag in der Literaturgefunden

Gerade durch diese Rolleninversion treten einige wichtige gesellschaftlicheNormvorstellungen und Grundannahmen prominent hervor Dazu zaumlhlt das Be-wusstsein dass es eine befehlende und eine ausfuumlhrende Gruppe von Menschengibt oder dass im Prinzip ein Rollenwechsel moumlglich sein kann Alle Beteiligten

Ἐπειδὴ δίδωσιν ὁ θεὸς παίζειν ndash ἔστι γὰρ Κρόνια ndash hellip (sbquoDa der Gott das Scherzen erlaubt ndashes sind ja die Kronia helliplsquo Caes 1 = 306a Spanheim) Zur Frage ob es sich bei Caesares auch umdas Werk handle auf das zu Ende der Rede auf Koumlnig Helios verwiesen wird (Or in Sol reg 44 =157c Spanheim) vgl Muumlller in seiner Uumlbersetzung (39 ablehnend) und Lacombrade im Vorwortseiner Budeacute-Ausgabe (3 und 18 Anm 3) der aufgrund des Handschriftenbefundes Kronia auchals Titelbestandteil fuumlr die Caesares uumlbernimmt Es handelt sich um Sen apocol 8 1 (Claudius als Saturnalienprinz) und 12 2 (Herrschaftdes Claudius als andauerndes Saturnalienfest) ndash Dass Lukian nicht auf die Saturnalien alsRahmen fuumlr seine Werke zuruumlckgreift entwertet die Beobachtungen nicht Lukian musste auf-grund seines Selbstbewusstseins als satirischer Schriftsteller und aufgrund der Menge seinersatirischen Schriften nicht jedes Mal einen eigenen literarischen Rahmen herstellen in demeinzelne Dialoge stattfinden konnten Das Saturnalienfest selbst erscheint bei Lukian als Ge-genstand der Satire nicht als deren literarische Rahmung (Τὰ πρὸς Κρόνον) Zuerst bei Furneaux 1896 23 Anm 11 In der neueren Forschung vgl bes Nauta 1987Kritisch dazu u a Doumlpp 1993 159 f Petron 44 3 58 2 69 9 zu Horaz vgl z B serm 2 7 (libertas Decembris) Ein gelungenesBeispiel der Anpassung und Anwendung der bachtinschen Konzepte mit Ertrag fuumlr die Inter-pretation unter Einbezug von serm 2 7 bietet Sharland 2010 Distelrath 1999 114 Vgl weiterhin Versnel 1993 136ndash227 und Doumlpp 1993 Eine plastischeSchilderung der Rollenvertauschung bei der der Sklave dem Herrn die Leviten liest bietet Horserm 2 7

2 De nuptiis als literarisches Werk 149

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Herren wie Sklaven spielen also mit den Moumlglichkeiten einer alternativen Wirk-lichkeit

Das Besondere im Spiel mit den Moumlglichkeiten liegt aber in seiner zeitlichenBegrenzung Nach der Zeit des Ausnahmezustands gelten wieder die normalenimmer guumlltigen Regeln Die Rolleninversion erlaubt also ndash oder erzwingt gera-dezu ndash das Nachdenken uumlber bestimmte gesellschaftliche Normen und Wertvor-stellungen Durch die Ritualisierung und enge zeitliche Begrenzung ist darausjedoch keineswegs die Notwendigkeit entstanden die Verhaumlltnisse tatsaumlchlich zuhinterfragen oder gar zu aumlndern Daher lassen sich die Saturnalien auch als ein dieKonventionen bestaumlrkendes Fest verstehen Das Spiel mit der Moumlglichkeit eineranderen Gesellschaftsordnung hat durch seine Ritualisierung letztlich eine dieTradition legitimierende Funktion bekommen

In De nuptiis finden sich jedoch houmlchstens spaumlrliche Hinweise auf das Sa-turnalienfest Am ehesten weist das grob scherzende Agieren Saturas in diesenBereich Die bdquolangen Winternaumlchteldquo (1 2) koumlnnten (statt als Bezug auf Gellius) alsAnspielung auf das Saturnalienfest verstandenwerden ndash die Saturnalien finden inden laumlngsten Naumlchten uumlberhaupt statt seit der Kaiserzeit vom 17 bis 23 DezemberDies ndash wie die Spekulation uumlber eine spielerische etymologische Verbindung vonSatura und Saturnaliensup3⁶⁶ ndash ist aber insofern nicht von Belang da die Gattung alsGanze karnevaleske Zuumlge traumlgt und als gewissermaszligen institutionalisierter Kar-neval vom eigentlichen Fest losgeloumlst istsup3⁶⁷

Die Aufhebung der uumlblichen Ordnung (was Teuber im Ruumlckgriff auf Limina-litaumltskonzepte als praumlliminale Phase bezeichnet)sup3⁶⁸ beginnt mit der VorbereitungPhilologias zum Aufstieg in den Himmel Bereits das Erbrechen stellt eine mar-kante Umkehrung der alltaumlglichen Welt dar Statt sich Wissen anzueignen er-bricht Philologia es nun In der Goumltterversammlung auf der Milchstraszlige ist dieOrdnung sodann voumlllig verkehrt Philologia als Meisterin aller Disziplinen und

Zwar sind die einschlaumlgigen etymologischen Woumlrterbuumlcher skeptisch (v a WaldeHof-mann 2007 II 482 neutral ErnoutMeillet 2001 596) jedoch gibt es dahin gehende moderneDeutungen (aufgefuumlhrt bei WaldeHofmann 2007 II 482) und auch antike ParallelisierungenCic nat deor 2 64 Saturnus hellip est appellatus quod saturaretur annis (sbquoSaturn hellip wurde ergenannt weil er an Jahren gesaumlttigt istlsquo) Fulg myth 1 2 (p 17 16) a saturando Saturnus dictusest (sbquoDa er (die Menschen) saumlttigt wurde er Saturn genanntlsquo) Aug cons euang 1 23 35 Sa-turnus tamquam satur hellip νοῦς (sbquoSaturn gleichsam der gesaumlttigte hellip νοῦςlsquo) Vgl auch Gowers diedie etymologischen Verbindungen von satura Satyrspiel und Saturnalien untersucht (Gowers1993 109ndash 117) Sie kommt zu dem Befund dass keine Verbindung bestehe wohl aber verbin-dende Elemente identifiziert werden koumlnnten bdquocarnival licence parody uninhibited mockeryand excessive consumptionldquo (ibid 117) Vgl z B Teuber 1993 183 f Teuber 1993 183

150 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

bedeutende Lehrinstanz muss sich ihrerseits belehren lassen ndash mit dem Wissendas urspruumlnglich ihres war

Durch die Inversion wird die (vielleicht uumlblicherweise nicht prominente)Philologia in den Mittelpunkt geruumlckt und ihre zentrale Rolle im Wissenssystemtritt markant vor Augen Gleichzeitig kann darin eine leise Anfrage an ihre Lehr-autoritaumlt und eventuell auch ihre Eignung zur Lehre gesehen werden

Aufgrund des zeitlich begrenzten Rahmens der Verkehrung (diemit dem Endeder Vortraumlge voruumlber ist aber nicht explizit zuruumlckverwandelt wird) dessen Be-grenztheit durch Bezug auf die Form der menippeischen Satire ergaumlnzt werdenkann wird das System der Bildung und der Bildungsvermittlung jedoch nichtgrundsaumltzlich infrage gestellt Die Suspendierung Philologias ist temporaumlr

Dem Konzept der Dialogizitaumlt oder Mehrstimmigkeit folgend erklaumlrt sich auchdie Doppelung und Verunklarung der Erzaumlhlinstanz In den drei Dialogen indenen Satura und Martianus aufeinandertreffen behandeln sie die Frage desrichtigen Erzaumlhlens Dies beschraumlnkt sich nicht nur auf die Satire sondern umfasstalle auftretenden literarischen Formen Martianus und Satura sind sich uneinswie weit der Mythos reichen soll und ob eine Enzyklopaumldie trocken oder auchunterhaltsam erzaumlhlt werden soll (2 219ndash3 222) ob ein Symposion auch Zechenund Spaszlig vertraumlgt (8 803ndash810) oder ob und wie stark Satire Dinge vermischendarf (9 997ndash 1000)

Die unterschiedlichen Meinungen zu den Fragen werden zwar diskutiert undfuumlhren zu einem Ergebnis ndash der Erzaumlhlfluss versiegt ja an keiner Stelle oder setztneu an Allerdings entsteht in der Folge kein homogenes Werk und am Schlussmag keiner der beiden Erzaumlhler dafuumlr die Verantwortung uumlbernehmen Der Wi-derwillen sich zu dem Werk zu bekennen bedeutet aber gleichzeitig auch dassMartianus sich nicht festlegt welche Position er fuumlr die richtige haumllt Die Fragenach der rechten Art der Wissensvermittlung die auch in der Ent- und Inthroni-sierung Philologias anklang bleibt unbeantwortet

Schlieszliglich bringt der Blick auf die Aurelian-Vita aus der Historia Augustanoch einen weiteren Aspekt ein Parallel zur Aufteilung der Erzaumlhlinstanzen in Denuptiiswird der Erzaumlhlprozess in derHistoria Augusta aufmehrere AutorenverteiltWie zuerst Hermann Dessau und in der Folge Ronald Syme nachdruumlcklich gezeigthaben handelt es sich allerdings um nur einen Verfasser der uumlberdies auch inBezug auf die Abfassungszeit falsche Angaben gemacht hat und Quellen erfundenhatsup3⁶⁹ Insofern laumlsst sich der in der Historia Augusta gepraumlgte Begriff der

Auf den Charakter der Sammlung die Syme u a als bdquohoaxldquo bezeichnet (1983a 11 1983b13 1983c 219) die fingierten Autoren die manipulierten Quellen etc soll an dieser Stelle nurhingewiesen werden Vgl auch Cameron 2011 Kap 20 mit ausfuumlhrlicher Diskussion relevanterFragen

2 De nuptiis als literarisches Werk 151

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mythistoria der Vermischung von Mythischem und Historischem auch auf dieSammlung selbst anwendensup3⁷⁰

Als Menippee im engeren Sinne laumlsst sich weiterhin die Aurelian-Vita die 26Vita der Sammlung fassen und bezeichnenderweise spielt die Rahmenhandlungan denHilariasup3⁷sup1Wie zu den Saturnalien gehoumlren zu diesem Fest Scherze und ndash imRahmen von Maskierungen ndash Rollenwechselsup3⁷sup2

Noch in der rahmenden Einleitung zur Vita spielt sich folgender Dialog ab

1 et quoniam sermo nobis de Trebltellgtio Pollione qui a duobus Philippis usque ad divumClaudium et eius fratrem Quintillum imperatores tam claros quam obscuros memoriaeprodidit in eodem vehiculo fuit adserente Tiberiano quod Pollio multa incuriose multabreviter prodidisset me contra dicente neminem scriptorum quantum ad historiam pertinetnon aliquid esse mentitum prodente quin etiam in quo Livius in quo Sallustius in quoCornelius Tacitus in quo denique Trogus manifestis testibus convincerentur pedibus insententiam transitum faciens ac manum porrigens iocando[m] praeterea sbquoscribelsquo inquit sbquout

quae ille [scil Iunius Cordus] omnia exsequendo libros mythistoriis replevit talia scribendocum omnino rerum vilium aut nulla scribenda sint aut nimis pauca si tamen ex his morespossint animadverti qui re vera sciendi sunt hellip sed ex parte ut ex ea cetera colligantur(SHA Opil 1 5)

Bei der Anfuumlhrung von all diesen Informationen hat er die Buumlcher mit fabuloumlsen Ge-schichten angefuumlllt indem er Dinge von dieser Art schrieb wo doch uumlberhaupt keinenutzlosen Dinge geschrieben werden duumlrfen oder nur sehr wenige sofern daraus Verhal-tensweisen erkannt werden koumlnnen die wirklich wissenswert sind hellip aber zum Teil(schreibe ich) damit daraus das Andere gefolgert werden kann

quid Marius Maximus homo omnium verbosissimus qui et mythist[h]oricis se voluminibusinplicavit num ad istam descriptionem curamque descendit (SHA Quadr tyr 1 2)

Wie Hat sich Marius Maximus der groumlszligte Schwaumltzer vor dem Herrn der sich in seinenmythistorischen Werken verfangen hat etwa zu dieser Art der Darstellung und des sorg-faumlltigen Arbeitens herabgelassen

Hilaribus quibus omnia festa et fieri debere scimus et dici impletis sollemnibus vehiculo suome hellip Iunius Tiberianus accepit (SHA Aurelian 1 1)

An den Hilaria an denen alles zum Fest Gehoumlrende getan und gesagt werden muss wieman weiszlig empfing mich nach Erledigung der Zeremonien Iunius Tiberianus in seinemGefaumlhrt

Pausch bemerkt dieses besondere Datum zwar und erwaumlgt ob es sich um ein bdquoweitergehendesLesesignalldquo beispielsweise im Sinne karnevalesker Literatur handeln koumlnne verfolgt diese Spuraber nicht weiter (Pausch 2011 130 Anm 1) Herodian 1 10 5 ndash Einige Hinweise auf die Hilaria die im Kontext des Magna Mater-Festesam 25 Maumlrz gefeiert wurden bietet Fraser in seinem Kommentar zu Ovids Fasti (Fraser 1929244ndash248)

152 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

libet 2 securus quod velis dices habiturus mendaciorum comites quos historicae elo-quentiae miramur auctoreslsquo (SHA Aurelian 2 1ndash2)

1 Und weil unser Gespraumlch uumlber Trebellius Pollio der von den beiden Philippi bis zumvergoumlttlichten Claudius und dessen Bruder Quintillus gleichermaszligen uumlber beruumlhmte wieunbekannte Kaiser fuumlr die Nachwelt schrieb in derselben Saumlnfte stattfand behauptete erdass Pollio vieles ohne Sorgfalt und nur kurz dargelegt habe Ich erwiderte dass keinSchriftsteller sofern es um die Geschichte gehe nicht irgendwo gelogen habe und legtesodann dar worin sogar Livius Sallust Tacitus schlieszliglich sogar Trogus mit eindeutigenBelegen uumlberfuumlhrt werden koumlnnten Darauf sagte Tiberianus schlieszliglich scherzend indem ermeiner Meinung beipflichtete und mir seine Hand darbot bdquoSchreibe sowie du es fuumlr richtighaumlltst 2 Sage unbesorgt was du willst du wirst diejenigen als Gefaumlhrten fuumlr deine Taumlu-schungen haben die wir als Schoumlpfer historiographischer Beredsamkeit bewundernldquo

So sympathisch dieser Anspruch auch erscheinen mag ist er doch fuumlr das Ver-trauen in die Gattung der Geschichtsschreibung fatal Gerade in der Einleitungeiner Vita jedoch ndash zumal es der Fiktion nach die erste des Flavius Vopiscus Sy-racusius im Corpus der Historia Augusta ist ndash kann eine solche Anekdote ei-gentlich keinen Platz haben Sie erweckt beim Leser den Eindruck dass er dennachfolgend dargebotenen Informationen kein Vertrauen schenken duumlrfesup3⁷sup3

Die Parallelen zwischen der Historia Augusta insbesondere dem Vorgehen inder Vita Aureliani und De nuptiis liegen auf der Hand Verunklarung der Autor-schaft bzw der Erzaumlhlhaltung einerseits Erwecken von Zweifeln an der Glaub-wuumlrdigkeit des Dargebotenen andererseits

In der Historia Augusta sind die Inkongruenzen mit der Freude des Autors amliterarischen Spiel erklaumlrt worden Der Autor habe aus Freude am Fabulieren(vielleicht auchumein dafuumlr empfaumlngliches Publikum zu befriedigen) die Viten indieser Form verfasstsup3⁷⁴ Mag man dies fuumlr die Historia Augusta noch zugestehenderen Text uumlber einen laumlngeren Zeitraum vielleicht zunaumlchst ohne eine Gesamt-konzeption entstanden ist und auch sprachlich nicht herausragt stellt sich derSachverhalt fuumlr Martianusrsquo De nuptiis anders dar Das Werk hat durchaus einenliterarischen Anspruch und es folgt eindeutig einer vorab geplanten Gesamtan-lage Die Freude am Spiel mag vielleicht manches Detail beigesteuert haben fuumlrdie verschraumlnkte Anlage des Textes ist sie aber keine Erklaumlrung

Ganz anders ist der Anspruch zum Ende der Darstellung der Viten der bdquoDreiszligig Tyrannenldquoin dem der Autor beteuert seinem Werk mangele es zwar an literarischer Ausgefeiltheit nichtjedoch an Faktentreue da nunc cuivis libellum non tam diserte quam fideliter scriptum ndash sbquoGibnun dieses Buumlchleinwem du magst es ist nicht so sehr kunstvoll geschrieben wie es sachgetreuistlsquo (SHA Quadr tyr 33 8) Syme nennt dies bdquodeceit for its own sweet sakeldquo (1983c 217) Im gleichen Aufsatz spe-kuliert er auch uumlber das Interesse des Publikums an einer solchen Art von geistigem Spiel(ibid 221)

2 De nuptiis als literarisches Werk 153

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Es lohnt sich jedoch auch fuumlr die Historia Augusta einen Schritt weiter zugehen Ausgangspunkt dafuumlr ist die obige Beobachtungdass das literarische Spielder Historia Augusta nur durchschaut wer die Werke der historischen Literaturkennt Durch die Lektuumlre historiographischer Biographien bringt der Leser einebestimmte Leseerwartung also implizite Vorstellungen mit wie das Werk aus-sehen soll und wird Diese Erwartungen werden aber nicht oder nur teilweisebedient Formal gesehen weisen die Viten in der Historia Augusta zwar die Cha-rakteristika der Gattung auf ndash doch indem sie sie inhaltlich nicht adaumlquat aus-fuumlllen treten deren Konventionen vor Augen

Durch die uumlbermaumlszligige Verwendung falscher Verweise und erfundener Quel-len geraumlt zudem das Beglaubigungsverfahren historischer Texte in den Blick-punkt Der Leser erkennt anwelchen Stellenwelche Beglaubigungsmechanismenansetzen und auf welche Weise sie unterlaufen werden koumlnnen Uumlberspitzt lieszligesich behaupten DieHistoria Augusta verfolgt ein aufklaumlrerisches Interesse indemsie (spielerisch) aufzeigt welche Beglaubigungsverfahren die Geschichtsschrei-bung nutzt und wie sie manipuliert werden koumlnnen dadurch wird auch die Ma-nipulierbarkeit von Geschichte und Leser deutlich

In De nuptiis werden ebenfalls die Konventionen der Einzelgattungen ndash zu-mindest ansatzweise ndash hervorgehoben Dass kein perfektes Musterbeispiel derjeweiligen Einzelgattung entstehen kann liegt darin begruumlndet dass durch dieVerbindung der vier literarischen Genres keine oberflaumlchliche Konsistenz derFiktion entstehen kannVielmehr entstehen Bruumlche die ndash ebenso wie die Bruumlchein der Erzaumlhlhaltung ndash auch die Gattungskonventionen und ihre Annahmendeutlich werden lassen Dies gilt besonders fuumlr die Satire deren Vorgehen imKontrast zur eigentlichen Hochzeitshandlung aus dem Rahmen faumlllt und somitbesonderes Augenmerk erhaumllt Hinzu tritt mit der Figur Satura auch eine Perso-nifikation der Gattung die in theoretischen Diskussionen Annahmen und Vor-gehen mit Martianus eroumlrtert Grunduumlberlegungen der Gattung Satire werden sotheoretisch eroumlrtert und praktisch erprobt Gleiches giltwenn auch zT inwenigerdeutlicher Form auch fuumlr die anderen Formen Die Enzyklopaumldie in ihren langenMonologen wird durch Spott markiert die trockenen Kuumlnste werden probeweisedurch Allegorien zugaumlnglicher gemacht im Symposiondialog wird uumlberlegt in-wieweit uumlbliche Rollenmuster (der Zecher) einen Platz haben oder wie weit mandie fuumlr die Feier typischen Reden fuumlhren kann und immythischen Teil wird durchdie Gegenuumlberstellung mit dem handfesten Wissensbetrieb die Andersartigkeitdes Erzaumlhlens deutlich

So werden neben den Inhalten der Wissenschaften auch verschiedene lite-rarische Formen bewahrt Neben der reinen Anwendung und somit Tradierungwerden gleichzeitig auch die Mechanismen verdeutlicht deren sich die jeweilige

154 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Gattung bedient Somit wird ihr Funktionieren nachvollziehbar und in der Folgeauch nachahmbar

3 Zusammenfassung

Martianus weckt also durch die Wahl mehrerer gleichberechtigter Erzaumlhler diesomit das Erzaumlhlen unzuverlaumlssig werden lassen besonders aber durch dieUumlbernahme satirischer Gattungselemente ein Bewusstsein fuumlr die traditionellenGrundlagen desWissens- und Lehrsystems seiner Zeit ImGegensatz zur Satire diediese Fragen kategorisch stellt handelt es sich in De nuptiis um ein Spiel damitDer Satirebezug dient als Anknuumlpfung an die traditionellen Gattungsmerkmaleder menippeischen Satire Karnevaleske und Dialogizitaumlt

Durch die (temporaumlre) Rolleninversion richtet sich das Augenmerk aufPhilologia als Wissenszentrum und Wissensmittlerin und fordert zum Nach-denken daruumlber heraus Im Kern hinterfragt das Werk alle Bereiche die mit Bil-dung und Bildungsvermittlung zu tun haben Was sind die Inhalte wahrer Bil-dung Gibt es eine Einheit von Bildung Wie kann sie vermittelt werden

Allerdings zielt die Kritik nicht auf eine Aufloumlsung klassischer Bildungsinhalteund Vermittlungsformen Sie regt vielmehr durch Scherz und Bruumlche zumNachdenken uumlber diese Fragen an Dabei verzichtet Martianus auf eigene Vor-schlaumlge und Konzepte und festigt so gleichsam den traditionellen Bildungs-betrieb Das von ihm dargestellte Wissen wird kanonisiert und die Darstel-lungsform in langen Reden wird es auch Die mittelalterliche Rezeption von Denuptiis zeigt dies eindrucksvoll

Wissen umfasst dabei nicht nur das Faktenwissen der Vortraumlge sondern auchdas Wissen um bestimmte literarische Formen Durch die Verbindung von vierGattungen und die Doppelung der Erzaumlhlerfigur mit Reflexion uumlber angemessenesErzaumlhlen entstehen Inkonsistenzen die die Konventionen der einzelnen Gattun-gen hervortreten lassen Nicht alle Elementewerden auf dieseWeise deutlich aberMartianus bietet einen Ansatzpunkt die Fiktion auch unter der Fragestellung zulesen was einen Text der jeweiligen Gattung ausmacht ndash sowohl positiv wie ne-gativ formuliert

Mit seiner kreativen Konzeption und ihrer literarischen Umsetzung gelingt esMartianus eindrucksvoll Heiteres und Belehrendes zu verbindenwomit er an dieTradition Varros und die klassische antike Poetik anknuumlpft Es gelingt ihm daruumlberhinaus aber auchWissen zu vermitteln und die traditionellen Vorstellungen vonder Bedeutung dieses Wissens wie der Form seiner Vermittlung herauszustellenSpielerisch wird also gelehrt und hinterfragt nicht jedoch kategorisch kritisiertoder kuumlhn neu entworfen Gerade dadurch zeichnet sich Martianusrsquo De nuptiis

3 Zusammenfassung 155

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

tatsaumlchlich als nescioquid inopinum intactumque (sbquoetwas Ungewohntes und nochnie Gewagteslsquo 1 2) aus und macht es zu einem der bedeutendsten Buumlcher derSpaumltantike und zu einer interessanten Quelle fuumlr die Frage nach Bildungsvor-stellungen im fuumlnften Jahrhundert

156 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Page 5: Bildungsvorstellungen im 5. Jahrhundert n. Chr. (Macrobius, Martianus Capella und Sidonius Apollinaris) || III Martianus Capella, De nuptiis Philologiae et Mercurii

koumlnnen im Trikolon armis viris sacrisque auch verschiedene Arten des Nieder-gangs (Eroberung sowie allmaumlhlicher Verfall) verbunden seinsup2⁶⁶

Ein textexterner Faktor fuumlr die Bestimmung des terminus ante quem ist eineSubskription zum ersten Buch von De nuptiis die sich in einer Reihe von Hand-schriften findetsup2⁶⁷ Sie lautet

Securus Melior Felix v(ir) sp(ectabilis) com(es) consist(orianus) rhetor Urbis R(omae) exmendosissimis exemplaribus emendabam contra legente Deuterio scolastico discipulomeo Romae ad portam Capenam cons(ulatu) Paulini v(iri) c(larissimi) sub V nonarumMartiarum Christo adiuvante (Subskription zu Buch 1 in den Handschriften ABDGR)

Ich Securus Melior Felix vir spectabilis comes consistorianus Rhetor der Stadt Rom habe(das Buch) aus aumluszligerst fehlerhaften Exemplaren verbessert wobei Deuterius Student derRhetorik ein Schuumller von mir gegenlas Rom bei der Porta Capena unter dem KonsulPaulinus vir clarissimus am 5 Maumlrz mit Christi Hilfe

Trotz der vielen genauen Angaben laumlsst sich das Jahr der Abschrift durch SecurusMelior Felix nicht genau bestimmen In der fraglichen Zeitspanne gab es zweiKonsuln mit dem Namen Paulinus (498 und 534 n Chr) Klassischerweise wurdebei Datierungen der Zusatz senior hinzugefuumlgtwenn es zwei Konsuln des gleichenNamens gab so dass die Datierung ohne einen Zusatz auf den fruumlheren Konsulund damit das Jahr 498 fallen musssup2⁶⁸

Fuumlr die Datierung der Abfassung von De nuptiis sind nun noch einige Jahreabzuziehenum die Verbreitung der Schrift von Afrika nach Rom und einen Verfallder Manuskripte zu ermoumlglichen Beides muss jedoch keinesfalls lange gedauerthaben

Eine sichere und genaue Datierung des Werks und des Autors ergibt sich ausden vorgestellten Argumenten zwar nicht Sie bieten aber einige Anhaltspunktedafuumlr dass De nuptiis nach 410 und einige Zeit vor 498 abgefasst wurdesup2⁶⁹

Ebenso Stahl 1971 14 und Shanzer 1986c 5 Zur Diskussion um diese Subskription vgl bes Preacuteaux 1975 Cameron 1986 Shanzer 1986c9 Voumlssing 2008 389f Voumlssing 2008 390 ndash Solch formalistische Regeln an Subskriptionen anzulegen erscheintzunaumlchst schwierig doch in diesem Fall angesichts der weiteren exakten Angaben als durchauszulaumlssig Zu spaumltantiken Subskriptionen und ihrem Aussagewert vgl Cameron 2011 Kap 12ndash 13 Eine Datierung in die Zeit der bdquorenaissance vandaleldquo (der Begriff wurde von Pierre Richeacutegepraumlgt vgl auch Hays 2004) wie Grebe es anhand von kulturgeschichtlichen Uumlberlegungenversucht ist nur moumlglich wenn die Identifizierung des Konsuls Paulinus mit dem erstenAmtstraumlger dieses Namens infrage gestellt wird Grebes Argumentation setzt bei der unsicherenIdentifikation des Paulinus an Sie erwaumlgt sodann eine Abfassung unter den vandalischenHerrschern Gunthamund und v a Thrasamund die die Kultur gefoumlrdert haumltten (Grebe 1999 20 f)

118 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

2 De nuptiis als literarisches Werk

Bereits eine erste unbefangene Lektuumlre von De nuptiis hinterlaumlsst den Eindruckdass Martianus ein anspruchsvolles und komplexes Werk hinterlassen hat Nacheiner kurzen Szene zu Beginn in der sich der Erzaumlhler Martianus mit seinem Sohnunterhaumllt und die am Ende als Rahmen wieder aufgegriffen wird beginnt einemythische Schilderung der Hochzeitsvorbereitungen von Merkur und PhilologiaMerkur macht sich mit Hilfe von Virtus auf die Suche nach einer Braut sucht undfindet Apoll der ihm die sterbliche Philologia als Braut vorschlaumlgt bittet denGoumltterrat um die Genehmigung zur Hochzeit und erhaumllt sie (Buch 1) Als Philologiavon dem Plan erfaumlhrt uumlberlegt sie mit kabbalistisch anmutenden Berechnungenob die Ehe guumlnstig sei bereitet sich auf die Hochzeit durch eine Reinigung vor beider sie ihr bisher gesammeltes Wissen erbricht und steigt in einer Saumlnfte uumlber dieHimmelssphaumlren auf zur Milchstraszlige wo die Hochzeit stattfindet (Buch 2)Waumlhrend der Hochzeitsfeierlichkeiten laumlsst der Ehemann zu Ehren der Brautsieben Brautjungfern auftreten die ihr dienen sollen Diese stellen in langenReden ihr Wissen vor Es sind die spaumlteren sieben freien Kuumlnste (Buumlcher 3 bis 9)Eingelegt in diese Berichte sind kurze Szenen von der Hochzeitsfeier und Wort-wechsel zwischen dem Erzaumlhler Martianus und einer weiteren Erzaumlhlerfigur Sa-tura

Leser von De nuptiis besonders moderne sehen sich vor vielfaumlltige Fragenund Probleme gestelltwenn sie versuchen die Schrift mit ihren unterschiedlichenAspekten zu verstehen Eine umfassende Interpretation ist aber gerade bei diesemWerk Voraussetzung fuumlr eine Beantwortung nachrangiger Fragen Daher soll indiesem Teil ein Beitrag zum Gesamtverstaumlndnis von De nuptiis versucht werdenDer Zugang soll rein literarisch erfolgen woran sich einige weitere Uumlberlegungenanschlieszligen

Eine Analyse der literarischen Form von De nuptiis muss folgende beidenAspekte beruumlcksichtigen einerseits die Anknuumlpfung an Gattungstraditionenund ndash damit verbunden ndash die Frage nach der literarischen Form von De nuptiis alsGanzem andererseits die narrative Gestaltung des Werkes

Die FormvonMartianusrsquoDe nuptiis zu bestimmen ist keine einfache AufgabeDies liegt an der Vielzahl von Bezuumlgen und kompositorischen Ideen die eineeindeutige Identifizierung erschweren Ausdruck findet dieser Umstand darindass in dermodernen Forschung verschiedene Elemente benanntwerden die eineGattungszuordnung ermoumlglichen Das Ergebnis ist jedoch meist eine Aufzaumlhlung

und engt den Zeitraum der Abfassung auf die Herrschaft Thrasamunds (496ndash523) ein (Grebe2000 363ndash365 bes 368)

2 De nuptiis als literarisches Werk 119

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

vonmoumlglichen Zuordnungen die eine Festlegung vermeidetsup2⁷⁰Die Untersuchungwird besonders vier Traditionsstraumlnge fokussieren das Lehrbuch bzw die Enzy-klopaumldie die Symposionliteratur die mythisch-allegorische Erzaumlhlung und diemenippeische Satiresup2⁷sup1 Es wird nach dem Zweck der Anknuumlpfung an diese Tra-ditionen zu fragen sein um dann zu pruumlfen welche Wirkung die Verbindungdieser Formen hervorruft

Einen besonderen Schwerpunkt wird die Herausarbeitung der satirischenElemente in De nuptiis darstellen Trotz ihrer relativen Prominenz sind bislangnicht alle Elemente beachtet wordensup2⁷sup2 Und da aus diesen Beobachtungenwichtige Folgerungen fuumlr das Gesamtverstaumlndnis vonDe nuptiis abgeleitet werdenmuumlssen diese zunaumlchst ausfuumlhrlich erhoben werden

Eingelagert in die Analyse der satirischen Elemente von De nuptiis wird dieFrage nach der narrativen Gestaltung unter dem Blickwinkel der Erzaumlhlinstanzenthematisiert In der Schrift konkurrieren zwei Erzaumlhlerfiguren Martianus undSatura um die Verantwortung fuumlr das Erzaumlhlte wie um das richtige Vorgehen beimErzaumlhlen Es ist zu bestimmen in welchem Verhaumlltnis beide Erzaumlhlerfiguren zu-einander stehen und welchem Zweck diese Doppelung dient

21 Die literarische Form

EnzyklopaumldieIm Gegensatz zu Macrobiusrsquo Saturnalia ist De nuptiis dem Sohn nicht als Werk derBelehrung gewidmetVielmehr spricht Martianus von der fabella (1 2) bzw fabula

Paradigmatisch ist die Konstatierung der Aporie bei LeMoine die nach der Aufzaumlhlungvon Vorbildern das Kapitel zur literarischen Form ohne weitere Uumlberlegungen so abschlieszligtbdquobut the De nuptiis in the diversity of its content language and form is truly unlike anythingwritten either before or sinceldquo (LeMoine 1972a 8) Vgl auch Relihan bdquoit is a mixture thatfrustrates senseldquo (Relihan 1993 15) Bisherige Interpretationen haben jeweils unterschiedliche Traditionen benannt und derVermischung der Formen wenig Beachtung geschenkt EnzyklopaumldieLehrbuch (Marinone 197018 Lommatzsch 1904 190) Lehrbuch mit menippeischen Momenten (Dronke 1994 36)menippeische Satire (LeMoine 1972a 7) menippeische Satire und Symposionform (Petrovićovaacute2004 85) Mischung aus Enzyklopaumldie menippeischer Satire und platonischem Mythos (Barnish1986 98) menippeische Satire und Epithalamium (Cristante im Vorwort seiner Ausgabe 3 und21 Bovey 2003 10) Mischung aus philosophischem und allegorischem Roman (Boumlttger 1947590) Allegorie mit Fachschriftstellerei (Guillaumin 2008 168) Roman mit Elementen desSymposions (Stahl 1971 26) Mischung aus menippeischer Satire Allegorie fabula und Sym-posiondialog (LeMoine 1972b 214) Gelegentlich wird das satirische Element in De nuptiis sogar deutlich heruntergespielt oderumgedeutet vgl u a Grebe 1999 855 f Petrovićovaacute 2010b

120 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

(2 219) die das Buch ausmacht und die der Sohn houmlren bzw der Leser lesen sollsup2⁷sup3Erscheint es zunaumlchst so als ob die Erzaumlhlungmit dem zweiten Buch endet und abdem dritten nur ernste Abhandlungen folgen sollen (2 219 f) korrigiert Martianusdiesen Eindruck jedoch gleich zu Beginn des dritten Buches Dort laumlsst er sich voneiner nicht benannten Muse (Camena) das Versprechen abnehmen auch weiter-hin fiktionale Elemente zu nutzen

Der anfaumlnglich ins Auge gefasste Verzicht auf Fiktion (fictum) fuumlr die fol-genden wissenschaftlichen Partien (disciplinae sobriae)sup2⁷⁴ betont jedoch derenRelevanz und das Interesse an zuverlaumlssiger Belehrung Waumlhrend sich fuumlr denInhalt der Buumlcher 1 und 2 eine Erzaumlhlung als gut geeignet erwies widersprachdiese fuumlr Martianus dem Wesen der anschlieszligenden Vortraumlge welchen dadurchgroumlszligeres Gewicht zufaumlllt

Der scheinbare Konflikt wird dadurch geloumlst dass die Vortraumlge an sich in dergeplanten trockenen Form gehalten werden Sie sind jedoch in die uumlber alle neunBuumlcher fortgesetzte Erzaumlhlung der Hochzeit Merkurs mit der Philologie einge-bettet Der Handlungsfortschritt zwischen den Vortraumlgen ist nicht groszlig sondernbeschraumlnkt sich meist auf das Evozieren von Eindruumlcken und die Bezugnahme auftraditionelle gattungsspezifische Elemente (vgl z B die Elemente des Symposi-ondialogs)

Dass Martianus schlieszliglich das ganze Werk mit seinen erzaumlhlenden und be-lehrenden Teilen als fabula betrachtet wird in der abschlieszligenden Sphragisdeutlich Dort heiszligt es

Habes anilem Martiane fabulammiscillo lusit quam lucernis flamineSatura Pelasgos dum docere nititurartes daggercagris vix amicas Atticis (9 997)

Da hast du Martianus eine Altweibergeschichte welche bei Kerzenschein Satura mit ge-mischtem Liede [d h in Prosa und Vers] spielend hervorbrachtewaumlhrend sie sich bemuumlhtedie Pelasger zu lehren die Kuumlnste die den Griechen kaum freundlich [d h neu] sind

Der Begriff des mythos der dreimal in De nuptiis auftritt ist eng auf den allegorischenInhalt der Buumlcher 1 und 2 beschraumlnkt und entspricht in etwa dem was Macrobius unter narratiofabulosa versteht (Bovey 2003 38ndash42) Beide Wendungen 2 220 ndash Zur Frage der Bezeichnungen als artes bzw disciplinae in-klusive der Begriffsentwicklung vgl Bovey 2003 64ndash87

2 De nuptiis als literarisches Werk 121

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

So unklar der Inhalt der Wendung Pelasgos docere istsup2⁷⁵ wird doch deutlich dassMartianusmit den vorausgegangenen 9 Buumlchern belehrenwolltewas allein schondie systematische Anlage (sieben Kuumlnste Reflexion uumlber weitere Wissenschaftenin 9 891) und die Fuumllle des Stoffes nahelegen

Der enzyklopaumldische Teil umfasst die Buumlcher 3 bis 9 von De nuptiis Zunaumlchsttreten die Kuumlnste Grammatik Dialektik und Rhetorik auf und stellen ihre Disziplinvor (Buumlcher 3 bis 5) Davon deutlich abgesetzt durch einen Hymnus auf PallasAthene zu Beginn von Buch 6sup2⁷⁶ folgen die Wissenschaften des spaumlteren Qua-driviums Geometrie Arithmetik Astronomie und Harmonie (Buumlcher 6 bis 9)Diese werden wiederum in zwei Zweiergruppen unterteilt Eine unmittelbareVorlage dafuumlr laumlsst sich nicht erkennen aber auch bei Boethius findet sich eineZusammenfassung der vier mathematischen Faumlcher die von der Forschung aufNikomachos von Gerasa zuruumlckgefuumlhrt wirdsup2⁷⁷ Eine Anordnung nach steigendemAnsehen der Kuumlnste ist auch durch Groumlszlige und Zusammensetzung des Gefolgesund die Reaktionen der Goumltter erkennbarsup2⁷⁸

Die Vortraumlge der Kuumlnste selbst entsprechen dem Charakter von Fachschriftenwas vor allem auf der streckenweise woumlrtlichen Wiedergabe der zugrunde lie-genden Quellen beruht Durch den Umfang den kleinschrittigen Aufbau und diesprachliche Sproumldigkeit wirken diese Reden wie ein Fremdkoumlrper in der Ge-schichte der Hochzeitsfeierlichkeiten und lassen manchen anwesenden Gottmuumlde werden oder gereizt reagierensup2⁷⁹

In der Regel sind die Vortraumlge aus einer odermehrerenVorlagen uumlbernommenwobei Martianusrsquo Eigenbeitrag vor allem in der Auswahl und Zusammenstellungder Quellen liegt Ein prominentes Beispiel fuumlr Martianusrsquo Vorgehen ist die Be-zeichnung Konstantinopels als Byzanz (6 670) Die Stelle kann nicht ndash wie haumlufiggeschehen ndash zur Datierung herangezogen werden sondern offenbart Martianusrsquo

Cristante versteht die Stelle woumlrtlich wenn er formuliert Martianus wolle das baumlurischeItalien belehren (Cristante 1978 679) waumlhrend Parker die Bedeutung des Wortes Pelasgi garnicht genau bestimmen moumlchte (Parker 1890 454) Zu dieser Passage und der Bedeutung dieses zweiten sbquoBinnenprooumlmslsquo vgl Bovey 2003227ndash237 sowie Zaffagno 1998 Rechenauer 1994 Sp 1177 Waumlhrend Grammatik allein eintritt (3 223) wird Harmonia von vielen auch beruumlhmtenBegleitern eingefuumlhrt und ihr Einzug wird von Musik begleitet (9 905ndash909) Ihr Vortrag ruft beiden Goumlttern Freude hervor (9 996) waumlhrend der Vortrag von Grammatik neutral zur Kenntnisgenommen wird (3 326) und der Vortrag von Dialektik aufgrund des Unwillens der Zuhoumlrersogar abgebrochen werden muss (4 423) Vgl Relihan 1987 64 und Bovey 2003 10 die voneinem bdquoparcours ascendant et cycliqueldquo spricht 4 423 5 565 6 723

122 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

unkritischen Umgangmit seinen Quellensup2⁸⁰Meist liegt der Darstellungder Kuumlnstenicht jeweils eine Fachschrift zugrunde sondern sind mehrere Werke heran-gezogen und zusammengestelltsup2⁸sup1

Die Auswahl der Faumlcher erfolgt nicht willkuumlrlich Die Tradition der um-fassenden Bildung die sich hinter dem Begriff der ἐγκύκλιος παιδεία verbirgtsup2⁸sup2der von Martianus auch in lateinischer Uumlbersetzung verwendet wirdsup2⁸sup3 umfassteim Laufe der Jahrhunderte einen wechselnden Faumlcherkanon Im Kern waren je-doch immer sowohl sprachliche Faumlcher als auch im weiteren Sinne mathemati-sche Faumlcher darin vertretensup2⁸⁴ Die Siebenzahl war dabei nicht kanonisch eskonnten auch neun Faumlcher (Varro) dazugehoumlren oder ein nicht genau umrissenerFaumlcherkanon (Boethius)sup2⁸⁵

Gegenuumlber der Tradition stellt Martianusrsquo Faumlcherauswahl keine grundlegendeNeuerung dar Grammatik Rhetorik und Dialektik waren meist Bestandteil derumfassenden Bildung und auch Geometrie Arithmetik Astronomie und Musikgehoumlrten haumlufig dazusup2⁸⁶ Der Ausschluss weiterer Kuumlnste wie der Medizin und der

Vorlage ist an dieser Stelle Plinius (Plin nat 5 24f) Vgl Grebe 2000 354 Typisch ist dieEinschaumltzung Krapingers der De nuptiis ein niedriges fachliches Niveau bescheinigt (bdquoevidentesachliche Defiziteldquo Krapinger 1999 962) Vgl auch die Anrufung Minervas zu Beginn desQuadriviums 6 574 in der Martianus explizit um Inspiration in Bezug auf die griechischenKuumlnste bittet Ein Blick in den Similienapparat zeigt dass Martianus fuumlr das sechste Buch uumlber dieGeometrie hauptsaumlchlich auf drei Autoren zuruumlckgegriffen hat Solinus Plinius und Euklid Vglauch Willisrsquo Anmerkung in seiner Ausgabe non moris fuisse Martiano ut per integrum librumunum sequeretur auctorem (309) Sehr aufschlussreich ist beispielsweise die Untersuchung vonBarbara Ferreacute in der Einleitung zur Ausgabe (xxiv-xxvii) Vgl auch die Beitraumlge von Schievenin(2009a und 2009b) die neben der unmittelbaren Fragestellung auch eine weitere Einordnungbieten Einen konzisen und modernen Uumlberblick uumlber die Entwicklung des Konzeptes bietetRechenauer 1994 Die Monographie von Hadot (Hadot 2005) ist immer noch das Standardwerk 9 998 (disciplinae cyclicae) Hadot 2005 265ndash267 Marrou 1958a 2 Teil bes die Uumlbersicht 216ndash217 Rechenauer 1994Grebe 1999 37ndash50 Uumlber die Siebenzahl ihren Ursprung ihre Festlegung sowie ihre endguumlltige inhaltlicheFuumlllung ist bislang kein Konsens erzielt worden deutlich ist aber dass Martianus Capella undAugustin bei ihrer Kanonisierung und Ausgestaltung eine entscheidende Rolle gespielt habenbdquoLa question de lrsquoorigine du cycle des sept arts libeacuteraux est irreacutesolue et en partie insoluble maisles deux auteurs drsquoorigine africaine [Martianus Capella und Augustin] jouegraverent un rocircle con-sideacuterable dans le triomphe de ce programme drsquoeacutetude au moyen acircgeldquo (Zelzer 2003 249) ndash ZurNeunzahl der Faumlcher bei Varro als Anlehnung an die Musen vgl Huumlbner 2004 S die in Anm 284 genannte Literatur

2 De nuptiis als literarisches Werk 123

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Architektur wirdmit Verweis auf den fortgeschrittenenAbendund diemenschlich-praktische Seite der Faumlcher erklaumlrtsup2⁸⁷

Im Detail nimmt Martianus aber durchaus Aumlnderungen vor So geht es imneunten Buch von De nuptiis nicht um die Musik im Allgemeinen sondern um dieHarmonie Diese Umgewichtung steht sicher in Zusammenhang mit der verbin-denden und vereinigenden Grundkonzeption von De nuptiis die zu Beginn desersten Buches (1 1) durch den Hymnus auf Hymenaeus den verbindendenHochzeitsgott ausgedruumlckt wurdesup2⁸⁸ Unterstuumltzt wird diese Eigenwilligkeit durchdie praktische Darbietung von harmonischem Gesang der die theoretischenAusfuumlhrungen ergaumlnzt und steigert (9 911ndash919 9 996)

Auch bei der Behandlung der Geometrie in Buch 6 greift Martianus in dietraditionelle Darstellung des Wissens ein Anstatt die Ausfuumlhrungen auf geome-trische Fragen und Lehrsaumltze zu beschraumlnken erweitert Martianus sie um einenausfuumlhrlichen geographischen Teil der um einiges laumlnger ist als der geometrische(Geographie 6 586ndash703 Geometrie 6 705ndash723) Ferreacute erkennt dahinter vor al-lem ein literarisches Ziel Die vorhandene Stoffmenge zur Geometrie sei zu kleingewesen so dass Martianus sie habe erweitern muumlssen damit das sechste Buchnicht bedeutend kuumlrzer werde als die uumlbrigen Buumlchersup2⁸⁹

Veraumlndert Martianus also gelegentlich aus kompositorischen Gruumlnden dietraditionelle Darstellung der Kuumlnste so kann man dies auch in der Zusammen-fuumlhrung der vielen Spezialschriften in einemWerk erkennenUmfasst das Konzeptder ἐγκύκλιος παιδεία zwar einen breiten Faumlcherkanon an den sich Martianusauch weitgehend haumllt so ist die Darstellung aller Faumlcher in nur einem Werk un-gewoumlhnlich

Uumlblich war die Form der Abhandlung der die Beschaumlftigung mit einer Dis-ziplin zugrunde lag Als Beispiele kann auf nahezu alle antiken fachwissen-schaftlichen Schriften verwiesen werden Ausnahmen sind allein die Sammel-schriften die aber explizit andere Ziele verfolgen und keinen Fachbereichgruumlndlich bearbeiten

Diese Feststellung gilt auch fuumlr die anderen Autoren mit teilweise sbquoenzyklo-paumldischemlsquo Programm z B Augustin oder Boethius Augustins bdquoBildungspro-grammldquosup2⁹⁰ umfasste aumlhnliche Faumlcher wie Martianus sie versammelte doch ver-

9 890ndash891 Hadot nimmt an dass diese Disziplinen nicht per se als unwichtig angesehenoder in bewusster Abgrenzung von Varro ausgeschlossen worden seien sondern weil sie nichtzur bdquoSchau der goumlttlichen Weisheitenldquo fuumlhren wuumlrden (Hadot 2009 16) Zu dieser Stelle und zu dem im Hymnus ausgedruumlckten philosophisch-poetischen Pro-gramm vgl LeMoine 1972a 14 Stahl 1971 86 Relihan 1993 61 Schievenin 2009c So Ferreacute im Vorwort ihrer Ausgabe xlvi Den Begriff verwendet Studer 2007 522

124 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

fasste Augustin zu den einzelnen Disziplinen jeweils eine eigene Schrift (mit derFolge dass er nicht alle Faumlcher behandelt hatte als er das Projekt aufgab wohlaber einige Themen abgearbeitet und die Buumlcher erschienen waren)sup2⁹sup1 Aumlhnlichverhaumllt es sich mit Boethius der sich etwa einhundert Jahre spaumlter ebenfalls mitverschiedenen Wissensbereichen beschaumlftigte Trotz der Leistung des Martianussetzte Boethius sein Vorhaben aber so um dass er den verschiedenen Disziplineneinzelne Abhandlungen widmetesup2⁹sup2

Allein Varro hat seinem breiten Œuvre an Spezialschriften auch noch ein imengeren Sinne enzyklopaumldisches Werk zugefuumlgt die Disciplinae Darin beschaumlftigtsich Varro mit dem gleichen Faumlcherkanon wie Martianus (unter zusaumltzlicherAufnahme der Medizin und Architektur) Da das Werk aber verloren ist und auchnur spaumlrliche Testimonien vorhanden sind laumlsst sich nicht abschaumltzen inwieferntatsaumlchlich eine einheitliche Schrift vorgelegen hat und welches Ziel Varro mit ihrverfolgtesup2⁹sup3

MartianusrsquoWerkDe nuptiis ist die erste erhaltene Enzyklopaumldie der Antike undduumlrfte somit maszliggeblich zum heutigen Verstaumlndnis des Begriffs der Enzyklopaumldieals eines einzigenWerkes das alles Wissen enthaumllt beigetragen haben Der Grundfuumlr Martianusrsquo ungewoumlhnliches Vorgehen duumlrfte in dem augenscheinlichen Plander Verbindung aller Disziplinen liegen der auch zu Beginn des Werkes durch diePreisung des Hymenaeus ausgedruumlckt wirdsup2⁹⁴

Zu Augustins Plan vgl retract 1 6 (Per idem tempus quo Mediolani fui baptismum per-cepturus etiam disciplinarum libros conatus sum scribere ndash sbquoZu der Zeit als ich in Mailand balddie Taufe empfangen sollte habe ich versucht auch Buumlcher uumlber die Faumlcher zu schreibenlsquo)begonnen und teilweise erhalten sind gramm mus und evtl dialect Neben den Schriften zur Theologie und zur Logik sind die Schriften zur Arithmetik(arithm) zur Musik (mus) und zur Rhetorik (in top divis) zumindest teilweise erhalten Hinzukommen Uumlbersetzungen astronomicher und geometrischer Fachschriften Zu Boethiusrsquo Fach-schriften und seinem Programm vgl Chadwick 1981 69ndash107 Das spaumlrliche Wissen spiegelt auch die knappe Einfuumlhrung von Cardauns 2001 Sie um-fasst fuumlr die Disciplinae inklusive Literaturverweisen knapp zwei Seiten (77ndash78) und bietet wenigsichere Informationen Eine interessante gleichwohl stark negative Antwort auf die Zusammenstellung derKuumlnste in einem Werk bietet Voumlssing der damit gleichzeitig aber auch die Einzigartigkeit desVorgehens herausstellt bdquoWas in den mittelalterlichen Kloumlstern als Summe antiker Bildung galtwar wohl nur das Resultat der Selbstdarstellung eines ehemaligen Advokaten der dem gebil-deten Publikum seiner Stadt demonstrieren wollte dass er mehr konnte als plaumldieren und mehrwusste als der normale scholasticus den uumlberlieferten prestigetraumlchtigen Bildungsstoff allersieben artes ndash der uumlblicherweise nur in einzelnen Fachbuumlchern (und bezogen auf einzelneDisziplinen) praumlsentiert wurde ndash in einem Werk zusammenzufassen und einzubetten in einironisches literarisches Spiel So hoffte er beides zu haben den Ruhm der Bildung und den derparodistischen Distanzierung An eine spezifische Programmatik dachte er bei seiner Enzyklo-

2 De nuptiis als literarisches Werk 125

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Welches (philosophische oder literarische) Konzept dahinterstand und in-wieweit Martianus sein Vorhaben uumlberzeugend umsetzen konnte wird unter-schiedlich bewertetsup2⁹⁵Wie das Urteil auch ausfaumlllt gilt es doch zu beachten dassneben den enzyklopaumldischen Teilen mit ihrem traditionellen Inhalt in teils tra-ditioneller teils neuer Form auch andere narrative Strategien zum Einsatz kom-men die fuumlr eine umfassende Deutung und Bewertung ebenfalls beruumlcksichtigtwerden muumlssen

Literarisches SymposionEine andere Gattungstradition die fuumlr die Anlage von De nuptiis genannt werdenmuss ist die Form des literarischen Symposions In diesem Punkt besteht eineVerbindung zu Macrobiusrsquo Saturnalia deren Symposionform im entsprechendenKapitel untersucht worden istsup2⁹⁶

Auch inDe nuptiis lassen sich einige konstitutiveMerkmale eines literarischenSymposions aufzeigen Das Geschehen in den Buumlchern 3ndash9 spielt anlaumlsslich einerFeierlichkeit (der Hochzeit) an einem besonderen Ort (auf der Milchstraszlige)sup2⁹⁷ andem sich geladene Gaumlste (Goumltter Heroen etc) versammeln Den Vorsitz der Fei-erlichkeiten hat (gewissermaszligen als Symposiarch) Jupiter inne Es gibt zwar keineungeladenen Gaumlste doch Silen erfuumlllt die Rolle des Zechers und er verlaumlsst dieFeier vorzeitig (8 805) Auch die Liebe kommt nicht zu kurz indem Venus ihreReize spielen laumlsst (6 704) Voluptas mit Merkur flirtet (7 725ndash727) und Hymen-aeus mit seinem anzuumlglichen Gesang das Geschehen der Hochzeitsnacht zu-

paumldie ebenso wenig wie er seinen Platz im sbquoLehrplan des Abendlandeslsquo vorhersehen konnteldquo(Voumlssing 2008 404) Weit verbreitet ist die Ansicht Martianus habe eine Art Summe der antiken Gelehrsamkeiterstellt (Cristante im Vorwort seiner Ausgabe 27 Ferrarino 1969 2 Bovey 2003 20 Cristante2009 [3] Schievenin 2009a 77) Die gegensaumltzliche Position formuliert bereits Parker bdquo[I]t isclear that the seven arts were never supposed to include the whole circuit of human knowledgeMartianus Capellarsquos list was a reduction of Varrorsquos and Varrorsquos was not supposed to include allknowledgeldquo (Parker 1890 459) S o Kap II4 Dort werden auch die typischen Merkmale dieser literarischen Form vor-gestellt Die Milchstraszlige in der Darstellung bei Martianus greift zwei Aspekte auf die allerdingsschon lange vor ihm verbunden worden sind Einerseits ist die Milchstraszlige der Ort an den dieauszligergewoumlhnlichen Menschen nach ihrem Tod gelangen (Cic rep 6 16 Manil 1 758ndash800)andererseits ist auch die Vorstellung nicht ungewoumlhnlich dass dort der Wohnsitz der Goumltter zufinden sei (Ov met 1 170ndash 176 Manil 1 801ndash804) Bei Martianus versammeln sich dort dieGoumltter doch ist dies auch der Ort an den die vergoumlttlichte Philologia gelangt ndash abgesehen vonden uumlbrigen herausragenden Menschen die sich im Gefolge sbquoihrerlsquo Brautjungfer dort versam-meln

126 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mindest andeutet (9 902 f) wenn die Ausfuumlhrung auch nicht beschrieben wird(9 996)

Das auffaumllligsteMerkmal sind aber die Reden die gehaltenwerden Sie aumlhnelnzwar nicht dem Inhalt wohl aber der Form nach der monologischen Anlage derSymposiongespraumlche bei Platon oder (stellenweise) Macrobius Ebenso passt derInhalt Bildungswissen an sich zu einem Symposion auch wenn er hier sehrausfuumlhrlich und ohne Ruumlcksicht auf die primaumlren Adressaten die Goumltter prauml-sentiert wird Bei Platon sowie bei Martianus scheint der Inhalt der Gespraumlche imVorfeld noch nicht festzustehen wie die Auswahl der jeweils naumlchsten RednerindurchApoll (3 223 4 328 8 8109 891) bzw Paidia (7 728) oder die Diskussion umden Fortgang der Feier bzw die noch folgenden und auszuschlieszligenden Reden(= Kuumlnste) zu Beginn von Buch 9 zeigtsup2⁹⁸

Die Anordnung der Redebeitraumlge nach steigender Relevanz und die unter-brechungsfreie Praumlsentation der Reden erinnert ebenfalls ans platonische Sym-posion Schlieszliglich nimmt das Spiel mit der Erzaumlhlinstanz (Satura oder Martianus)die verschachtelte Erzaumlhlsituation bei Platon oder Macrobius mit ihren verschie-denen Berichtsebenen auf und formt sie umsup2⁹⁹

Mythisch-allegorische ErzaumlhlungZu den bereits genannten literarischen Vorlagen von De nuptiis tritt ein weiteresElement hinzu dessen Bedeutung und dessen eigene Vorlagen nur schwer zubestimmen sind

Besonders Shanzer weist in ihremKommentar zum ersten Buch vonDe nuptiiswiederholt auf die orphischen gnostischen und philosophisch-religioumlsen Ele-mente in den sehr bildhaften aber streckenweise schwer verstaumlndlichen erstenbeiden Buumlchern hinsup3⁰⁰ Eine umfassende Interpretation des Mythos bietet sie je-doch nicht Vielmehr beschraumlnkt sie sich auf Verweise zur Herkunft einzelnerMotive und auf die Deutung kuumlrzerer Passagen

Kupke kommt bei einer Musterung der verschiedenen mythischen Reminis-zenzen im zweiten Buch von De nuptiis zu der Feststellung dass eine eindeutige

Ein zentraler Unterschied besteht jedoch darin dass die Vortraumlge nicht von den Gaumlstengehalten werden sondern dass die Gaumlste also die Goumltter nur Zuhoumlrer sind waumlhrend die Kuumlnstereden Hierin erinnert De nuptiis eher an Julians Caesares in denen die versammelten Goumltter jaauch wenig sprechen wohl aber die roumlmischen Kaiser die ndash wenn auch um einiges knapper ndashihre Leistungen darstellen Ausfuumlhrlicher dazu im weiter unten folgenden Abschnitt uumlber die Erzaumlhlinstanzen Shanzer 1986c passim

2 De nuptiis als literarisches Werk 127

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

und kohaumlrente Decodierung aller Verweise undAnspielungen nichtmoumlglich seisup3⁰sup1Ihrer Ansicht nach ist es dem modernen Leser nurmehr moumlglich einzelnen Ver-weisen nachzugehen und sie aufzuzeigensup3⁰sup2

Trotz der benannten Schwierigkeiten darf bei allen Fragen nach literarischenVorlagen nicht vergessen werden dass De nuptiis vor allem (aber nicht aus-schlieszliglich) auch ein allegorisches Werk ist Die imposante Schilderung der vierFluumlsse in Buch 1 Apoll auf demParnass-Huumlgel die allegorischen Figuren undvieleweitere Elemente sind nicht nur kreative literarische Erfindungen sondern for-dern zu einer uumlbertragenen Lesart des Werkes auf Besonders die ersten beidenBuumlcher die den Mythos enthalten muumlssen aus diesem Blickwinkel gelesen undverstanden werden

Zu verweisen ist auszligerdem auf die Bezeichnung der Erzaumlhlung als fabula oderfabella Neben der naheliegenden Bedeutung von sbquoErzaumlhlung Geschichtelsquo imallgemeinen Sinn ist sicher auch an die Diskussion um die Berechtigung von fa-bulae in Macrobiusrsquo Somnium-Kommentar zu denken Dort verteidigt Macrobiussowohl Platon als auch Cicero gegen den Vorwurf fiktive Geschichten zu benut-zen um philosophische Wahrheiten zu verkuumlnden In bestimmten Faumlllen seidieses Vorgehen gerechtfertigt solange es sich um wahrhaftige und belehrendeErzaumlhlungen handlesup3⁰sup3 Diese Voraussetzung kann man auch fuumlr De nuptiis alserfuumlllt ansehen Da Martianus zudem dem Neuplatonismus aumlhnlich nahesteht wieMacrobiussup3⁰⁴ ist von einer bewussten Entscheidung zugunsten einer literarischenDarstellung auszugehen

Den einzigen Versuch einer umfassenden Deutung verschiedener Elementedes Mythos und der allegorischen Darstellung hat ndash unter Vernachlaumlssigung ei-niger Details ndash bislang Lenaz unternommen In der ausfuumlhrlichen Einleitungseines Kommentars zum zweiten Buch von De nuptiis untersucht er die philoso-phisch-religioumlsen Motive in diesem Buch und kann Verbindungen zur Myste-

Kupke 1998 154 Kupke 1998 159 Fuumlr den spaumltantiken und den mittelalterlichen Leser glaubt sie jedoch andie Moumlglichkeit der problemlosen Dekodierung Macr somn 1 2 21 vgl oben Anm 45 Gerade die neuplatonischen Elemente von De nuptiis sind verschiedentlich benannt wor-den auch wenn nicht immer eine einheitliche Deutung geboten wird Haumlufig genannt wird derAufstieg Philologias in den Himmel uumlber die Sphaumlrenstufen der mit einer bdquoRuumlckkehr der Seeleldquogleichgesetzt wird (z B Bovey 2003 11 Lenaz 1975 113 vgl auch Guillaumin 2008) Hinge-wiesen wird auch auf die drei Frauen die Merkur nicht heiraten wollen (Sophia Mantike undPsyche 1 6ndash7) und die drei Seelenteile darstellen sollen deren Summe aber letztlich Philologiaist (Lenaz 1975 107ndash 110) Dagegen vertritt Kupke die These die neuplatonischen Elementetruumlgen keine zusaumltzliche Sinnebene bei (Kupke 1998 153) kritisch aumluszligern sich BednařiacutekovaacutePetrovićovaacute 2010 7

128 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

rieninitiation zu platonischen Mysterien chaldaumlischen Orakeln magischenPraktiken und zur Theurgie nachweisen Im Deutungsteil verwirft er die ThesenNuchelmansrsquo und Mathonssup3⁰⁵ als zu kurz greifend Nuchelmans hatte in derHochzeit Philologias und Merkurs (mittelalterlicher Kommentar-Tradition fol-gend) eine Forderung von Martianus nach der Vereinigung von Wissen (Philo-logia) und Rhetorik (Merkur) gesehen Mathons Ansatz fuumlhrte den Verweis auf dieneuplatonische Wieder-Erinnerung und die Ruumlckkehr der Seele in dieses Modellein Ebenso wie bei Nuchelmans werden auch hier nur wenige Elemente desMythos interpretiertsup3⁰⁶

Lenazrsquo eigener Ansatzsup3⁰⁷ folgt den Uumlberlegungen Ferrarinossup3⁰⁸ und ergaumlnzt siemit einigen Hypothesen Im Kern kreise der Mythos des zweiten Buches um einedoppelte Vereinigung die (horizontale) Vereinigung allen irdischen Wissens inPhilologia mit Hilfe von Hymenaeus und die (vertikale) Vereinigung der goumlttlichenund menschlichen Sphaumlre mit Hilfe von Eros Hinzu treten Uumlberlegungen ob essich bei Philologia und Merkur eventuell um nur eine Entitaumlt handle die Seelewelche getrennt worden sei und nun wieder zusammenfinde

Diese Lesart integriert die meisten der mythischen und allegorischen Ele-mente und verbindet sie weitgehend schluumlssig zu einem umfassenden KonzeptAllerdings vernachlaumlssigt sie auch bestimmte EinzelbeobachtungenWieso steigtPhilologia vom Sphaumlrenrand wieder auf die Milchstraszlige hinab (2 200 2 206)Wieso werden ihr auf der Milchstraszlige die irdischen Kuumlnste vorgefuumlhrt die sieerbrechenmusste damit sie in den Himmel aufsteigen konnte (2 135 f)sup3⁰⁹ Bereitsdiese Fragen zeigen deutlich dass eine kohaumlrente plausible Aufloumlsung des Mythosnicht leicht moumlglich ist

Nuchelmans 1950 Mathon 1969 Lenaz 1975 105 Aumlhnliches gilt auch fuumlr Hadots Deutung Sie identifiziert Merkur mit demaumlgyptischen Gott Theuth auf den in De nuptiis 2 102 f angespielt wird und nennt ihn diebdquoPersonifizierung der goumlttlichen Vernunftldquo waumlhrend Philologia die Personifizierung dermenschlichen Vernunftseele in deren idealem Zustand darstelle Die sieben Wissenschaften unddie sieben mantischen Kuumlnste ermoumlglichten es der Seele bdquozu ihrem Ursprung dem intelligiblenBereich oder zu Gottldquo zuruumlckzukehren (Hadot 2009 21 f) Lenaz 1975 106ndash 119 Ferrarino 1969 Dieses Problem entfiele wenn man annaumlhme dass Martianus die Erzaumlhlung nur auf dieersten zwei Buumlcher angelegt habe und erst danach die Moumlglichkeit einer Verbindung mit der inden Buumlchern 3 bis 9 folgenden Enzyklopaumldie erkannt habe Dafuumlr gibt es zwar Hinweise (bes dieDiskussion um die FiktionalitaumltUnterhaltung) am Ende von Buch 2 und zu Beginn von Buch 3doch duumlrfte man annehmen dass Martianus den Grundkonflikt von zuruumlckgelassenem Wissenund erneut geschenktem Wissen erkannt und behoben haumltte

2 De nuptiis als literarisches Werk 129

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Weiterhin uumlberbetont der Versuch den Mythos allein aus sich heraus zu er-klaumlren den Stellenwert des zweiten Buches im Gesamtwerk Als Interpretations-rahmen zwar wichtig tritt er bei fortschreitender Lektuumlre hinter die praktischeDarstellung der sieben Kuumlnste zuruumlck Diese nehmen nicht nur mehr Raum einsondern uumlberlagern die Darstellung im zweiten Buch und reduzieren somit auchderen Bedeutung Der Mythos ist also einwichtiger keineswegs jedoch der einzigeBestandteil von De nuptiis

Menippeische SatireDas auffaumllligste literarische Kompositionselement von De nuptiis ist jedochzweifellos die Wahl des Prosimetrums die Mischung von Prosapartien mit me-trischen Einheiten Der uumlberwiegende Teil des Werks ist in Prosa gehalten inwelchen 33sup3sup1⁰ metrische Partien eingelegt sind Dabei sind die Gedichte nichtregelmaumlszligig uumlber das gesamte Werk verteilt sie finden sich uumlberwiegend an ex-ponierten Stellen besonders an den Buchanfaumlngen und Buchenden Bei denmetrischen Partien innerhalb eines Buches handelt es sich fast ausschlieszliglich umGoumltterreden

Die beobachtete unregelmaumlszligige Verteilung der metrischen Partien unter-scheidet sich deutlich von der Gestaltung wie sie Boethius wenige Jahrzehntespaumlter inDe consolatione Philosophiae einsetzt Dort sind diemetrischen Partien inHinblick auf die Gesamttextmenge haumlufiger und zudem gleichmaumlszligiger verteiltsup3sup1sup1

Damit haumlngt zusammen dass auch die literarisch-argumentative Funktion dermetrischen Teile z T von derjenigen bei Boethius abweicht Bei Boethius stehendie Gedichte im Argumentationszusammenhang und fuumlhren Gedanken fort oderbuumlndeln sie in praumlgnanter Ausdrucksweisesup3sup1sup2 Ein gutes Beispiel dafuumlr ist eine

Die Zaumlhlung umfasst die zusammenhaumlngenden metrischen Partien und zaumlhlt auch Ge-dichte mit unterschiedlichem Versmaszlig (z B die Gedichte der Musen) als eine Partie Vgl dazu besonders OrsquoDaly 1991 Kap 1 (bdquoThe poetics of the Consolationldquo) darin 19ndash22 zuMartianus Sprachliche Parallelen sind zusammengestellt im Index der Boethius-Ausgabe vonBieler (CCSL 94 116) diskutiert werden sie bei Pabst 1994 163ndash 168 Da Boethius das Werk desMartianus kannte kann man von einer gelungeneren Ausdifferenzierung der Ansaumltze des Mar-tianus sprechen Der Vergleich des Einsatzes der prosimetrischen Form bei Boethius gewinntdadurch an Gewicht Eine Mischung von Prosa und Poesie findet sich weiterhin bei Fulgentius inden Mythologiae ndash Zu Parallelen in den Werkanfaumlngen bei Martianus Fulgentius und Boethiusvgl Klingner 1921 114 Pabst 1994 der Fulgentiusrsquo Vorgehen durchaus als bdquoimitatio Martianaldquoversteht (162 134ndash 137) fuumlr Boethius in Martianus allerdings nur eine Quelle sieht bdquoThey contribute to the argument as it proceeds yet take a wider view with an authorityoutside and above the adjacent prose They possess their own thematic design which spans theentire workldquo (Crabbe 1981 260) bdquoDie Metra bilden Ruhe- und Houmlhepunkte im Werk haumlufig

130 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Stelle zu Beginn des vierten Buches Nachdem zunaumlchst allgemein erlaumlutert wirddass die Weisen vermoumlgen was sie wollen die Schlechten jedoch nicht(cons 4 1 131ndash140) folgt in Versen eine Reihe plastischer Beispiele fuumlr die These(cons 4 carm 2) bevor der Gedanke fortgesponnen wird (cons 4 3 1ndash4)

An anderen Stellen uumlbernehmen die metrischen Partien eine Gliederungs-funktion indem sie Gedanken abschlieszligen und durch die Unterbrechung Zeit zurErholung bieten So sagt Philosophia zu ihrem Schuumller Boethius

bdquosed uideo te iam dudum et pondere quaestionis oneratum et rationis prolixitate fatigatumaliquam carminis exspectare dulcedinem accipe igitur haustum quo refectus firmior inulteriora contendasldquo (Boeth cons 4 6 200‐203)

bdquoAber ich sehe dass du bereits vom Gewicht der Untersuchung belastet und von der Breiteder Beweisfuumlhrung erschoumlpft auf die suumlszlige Erholung eines Liedes wartest nimm also denTrank damit du solchermaszligen erfrischt kraumlftiger zu den weiteren Themen eilen kannstldquo

In dieser zweiten Funktion setzt auch Martianus die metrischen Partien ein Dabeisind sie nicht in die Prosadarstellung eingeschoben sondern markieren fastausschlieszliglich die Buchanfaumlnge und Buchenden Explizites Ziel ist die Belebungdes Werkes um eine angenehme Lektuumlre zu erleichternsup3sup1sup3 Dies widersprichtMartianusrsquoAnkuumlndigung nach der hinleitenden Erzaumlhlung in denBuumlchern 1 und 2keine fiktionalen Erzaumlhlungen mehr einfuumlgen zu wollen die Darstellung solleernst und dem Gegenstand angemessen sein

nunc ergo mythos terminatur infiuntartes libelli qui sequentes asserentnam fruge vera omne fictum dimoventet disciplinas annotabunt sobriaspro parte multa nec vetabunt ludicra (2 220)

Nun also hat der Mythos sein Ende erreicht es beginnen die Buumlcher die die nun anschlie-szligenden Kuumlnste darbieten Denn mit wahrhaftiger Ernte entfernen sie alles Erdichtete undzeichnen die Kuumlnste nuumlchtern auf verbieten jedoch nicht gelegentliche Unterhaltung

stehen sie am Ende von Einzelabschnitten wo sie diese dann rekapitulieren und fuumlr densbquoSchuumllerlsquo zusammenfassen Bisweilen kommt ihnen auch eine Uumlberleitungsfunktion zuldquo (Kin-dermann 1969 63) ndash Zur Gattung allgemein allerdings mit besonderem Fokus auf die mittel-alterliche Literatur vgl Pabst 1994 bes 105ndash 133 zum Prosimetrum bei Martianus und 158ndash 195bei Boethius sowie Dronke 1994 bes Kap 2 (bdquoAllegory and the mixed formldquo) So auch McDonough der im Kapitel bdquoThe function of the poetryldquo zu Recht (aber zu kurzgreifend) formuliert bdquoIn undertaking the compilation of his encyclopedia the main challenge toMartianus lay in maintaining the interest of his readers (and himself) in making palatable thearid factual account of the various disciplinesldquo (McDonough 1968 37)

2 De nuptiis als literarisches Werk 131

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Scheint es an dieser Stelle so als ob Mythos und Heiteres getrennte Dinge waumlrenzeigt der unmittelbare Fortgang zu Beginn von Buch 3 dass beide Begriffe letztlichAumlhnliches bezeichnen Hier am Beginn der Schilderung der freien Kuumlnste(3 221 f) erlaumlutert Martianus in einem weiteren Gedicht das als Dialog gestaltetist warum er von seinem Plan abweicht

Camena bringt Schmuck fuumlr das Werk mit (amicta fictis commenta ferre) AufMartianusrsquo Einwand keine Mythen mehr vorbringen zu wollen (mythi pulsi) er-widert sie es gehe nicht um Luumlge (nil mentiamur) sondern um Einkleidung(vestiantur Artes) ndash man koumlnne die Brautjungfern also die Allegorien der freienKuumlnste doch nicht nackt vorfuumlhren Daraufhin gibt sich Martianus geschlagenund die Handlung von Buch 3 beginnt

Abgesehen von der unterhaltenden Funktion die besonders durch die Ge-dichte an den Buchenden gewaumlhrleistet wird scheinen die metrischen Passagenfuumlr viele Forscher wahllos in das Werk eingestreut Typisch ist eine Aussage wieCrabbe sie trifft bdquoMartianus uses verse frequently at the beginning sometimes atthe end of books and erratically throughoutldquosup3sup1⁴

Natuumlrlich kann von einer systematischen Verteilung und einer argumenta-tionslogischen Anordnung wie bei Boethius nicht gesprochen werden Bei ge-nauerem Hinsehen wird jedoch deutlich dass die metrischen Abschnitte nichtwillkuumlrlich uumlber das Werk verstreut sindsup3sup1⁵

Die meisten metrischen Passagen finden sich in den Buumlchern 1 und 2 von Denuptiis Diese Buumlcher enthalten die einleitende Handlung die als fiktionale Er-zaumlhlung dargeboten wird Im Bericht von der Suche Merkurs nach der richtigenEhefrau und von Philologias Aufstieg in den Himmel finden sich neun metrischePassagen Es handelt sich dabei bis auf die drei Faumllle der an den Buchanfaumlngen(Buch 1) und Buchenden (Buch 1 und 2) stehenden Gedichte um Reden vonGoumlttern Diese fuumlhren die Handlung fort und dienen also nicht der Buumlndelung derGedanken oder der Erholung des Lesers Stattdessen scheint es Martianus darumzu gehen das Sprechen der Goumltter durch die metrische Gebundenheit als be-

Crabbe 1981 264 Eine Typisierung die z T von der Position der metrischen Passagenlosgeloumlst ist bietet McDonough seiner Ansicht nach sind die metrischen Partien hauptsaumlchlichfunktional bdquoThe poetry thus is primarily functional although this function varies from book tobookldquo (McDonough 1968 38) Als Funktionen benennt er fuumlr Buch 1 Handlungsfortfuumlhrung fuumlrBuch 2 Schmuck fuumlr Buch 3 Belehrung fuumlr den Rest Einfuumlhrung oder Entlassung derBrautjungfern oder Unmut uumlber Verzoumlgerung der Hochzeit Der Rest seien bdquooccasional piecesldquo(ibid 40) ndash Verspartien finden sich am Anfang der Buumlcher 1 2 3 4 5 6 7 und 9 sowie am Endeder Buumlcher 2 4 5 7 und 9 Die ungleiche Verwendung der Metra bei Boethius und Martianus laumlsst sich am besten alsEntwicklung verstehen wie es beispielsweise Kindermann (1969 60) tut Zur Kenntnis desMartianus bei Boethius vgl oben Anm 311

132 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

sonders zu markieren Dies gilt vor allem fuumlr markante Szenen zum Beispiel dieRede Jupiters in der Goumltterversammlung gegen Ende des ersten Buches (1 91ndash93)oder die orakelartige Auskunft Apolls (1 21 f)

Diese Beobachtung gilt daruumlber hinaus ebenso fuumlr die genannten Stellen inBuch 9 auch wenn es sich dort nicht um die Vorgeschichte oder einen weiterenliterarischen Rahmen handelt Jedoch ist eine Szene mit Goumlttergespraumlchen ein-geschoben in der die Goumltter unter anderem auch Verse verwenden Durch dieseReden in metrisch gebundener Form soll den entsprechenden Buumlchern also einehoumlhere Wuumlrde verliehen werden

Einen zweiten Fall stellen die Gedichte zu Beginn oder zu Ende eines Buchesin den Buumlchern 3 bis 9 dar In diesen Buumlchern praumlsentieren die Freien Kuumlnste ingeschlossenem Vortrag die Inhalte ihrer Wissenschaft Die Gedichte in einigenFaumlllen in auktorialer Erzaumlhlhaltung gestaltet uumlberbruumlcken die Fuge zwischen denBuumlchern und bieten eine Pause zwischen den langen Vortragspartien der Leserkann sich erholen Die Inhalte der Verspartien sind unterschiedlich es handeltsich zumeist um den Ein- oder Auszug einer Brautjungfer (4 327 4 423 f 8 8028 808 9 911ndash919) um die Fortfuumlhrung der Hochzeitshandlung (5 425 8 8059 888) um die Anrufung eines Gottes (6 567ndash574) oder um eine Wendung desAutors an den Leser (5 566 9 997ndash 1000)

Dieser Einsatz der Verspartien ist jedoch noch keine hinreichende Erklaumlrungfuumlr die Wahl des Prosimetrums Sie erklaumlrt sich besonders dadurch dass Marti-anus auf diese Weise sein Werk in die Traditionslinie von Texten einreiht die alsmenippeische Satiren bezeichnet werdensup3sup1⁶

Charakteristisch fuumlr diese spezielle Form der roumlmischen Satire ist der Wechselvon metrischen und prosaischen Partiensup3sup1⁷ Klassische lateinischsprachige Ver-treter der menippeischen Satire sind Varro (Saturae Menippeae) Seneca (Apo-colocyntosis) und Petron (Satyrikon) in der griechischen Literatur nutzen Lukianund Julian (Caesares) diese Form Inhaltlich lassen sich nur wenige Verbindungenzwischen den Werken ziehen und auch die Umsetzung der formalen Elemente istunterschiedlich Dies fuumlhrt sogar so weit dass sich moderne Forscher trotz derbereits antik bezeugten Bezeichnungder Gattung teilweise auszligerstande sehen dieGattung genauer zu definieren oder dass sie ihre Fragestellung losgeloumlst von derGattungstradition verfolgensup3sup1⁸ Dies macht die Verortung von De nuptiis in diesemGenre nicht leichter

Zur menippeischen Satire vgl Relihan 1993 Coffey 1996 Im Gegensatz dazu beschraumlnkt sich die Verssatire seit Horaz auf die Verwendung desHexameters So betont Scheible im Vorwort ihrer Studie zu den Gedichten in Boethiusrsquo de consolationedass sie Vorgaben der Tradition in Hinblick auf die Gedichte nicht beruumlcksichtige ndash sie lieszligen

2 De nuptiis als literarisches Werk 133

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Gelegentlich wird sogar die These vertreten dass sich das satirische ElementinDe nuptiis in dieser formalen Verbindung von Prosaund Poesie erschoumlpfesup3sup1⁹DerGattungsbegriff sbquomenippeische Satirelsquo waumlre dann identisch mit der BezeichnungsbquoProsimetrumlsquo Dem widersprechen jedoch verschiedene Beobachtungen derRuumlckgriff auf die Etymologie des Wortes satura die Bezugnahme auf Vertreter derGattung und das Auftreten einer Figur namens Satura sowie deren Agieren dasuumlber die rein formale aumluszligerliche Satireform hinausweist schlieszliglich die beson-dere Gestaltung der Erzaumlhlsituation Diese vier Elemente sollen im Folgendenherausgearbeitet werden

Etymologie ndash Dass Martianus sein Werk sehr wohl als Satire verstanden wissenwill wird an verschiedenen Stellen deutlich Dies geschieht zum Beispiel durchgelehrte Anspielungen auf die Terminologie der antiken Satire an prominenterStelle So heiszligt es in 9 998

[Satura] haec quippe loquax docta doctis aggeransfandis tacenda farcinat immiscuitMusas deosque disciplinas cyclicasgarrire agresti cruda finxit plasmate

So haumluft sie plappernd Gelehrtes auf Gelehrtes und stopft geheimes und bekanntes Wissenzusammen hatMusenundGoumltter vermischt undhat sich erdacht dass die enzyklopaumldischenDisziplinen in einem baumlurischen Machwerk unreifes Zeug daherplappern

Die Woumlrter farcinat und immiscuit verweisen auf das Zusammenstopfen undVermischen verschiedener Zutaten z B in einer Wurst oder Pastete Gleiches giltfuumlr die Woumlrtermiscillo und aggeranssup3sup2⁰ Ausgangspunkt fuumlr diese Terminologie istdie Etymologie desWortes sbquoSatirelsquo an sich bedeutet urspruumlnglich etwaswie sbquobunteMischunglsquosup3sup2sup1 Traditionell sind Anspielungen auf diese Etymologie in der satiri-

sich nicht feststellen (Scheible 1972 8) Vorhandene Untersuchungen beschreiben in der Regeldie Konstituenten der einzelnen Werke Aufgrund der geringen Zahl uumlberlieferter Werke und dergroszligen Unterschiede zwischen ihnen ist es jedoch schwierig die typischen Elemente der Gat-tung zu benennen Auch diese Arbeit schlieszligt sich dem beschreibenden Vorgehen an undvergleicht an einschlaumlgigen Stellen inwieweit die Beobachtungen auch fuumlr die Gattung typischsind So z B Coffey der die Mischung aus Prosa und Poesie bei Martianus als bdquomiscellanyldquobezeichnet und vor einer Verbindung von De nuptiis mit der Satire als problematisch warnt(Coffey 1996 959) Vgl Relihan 1993 14 ErnoutMeillet s v satur -ra -rum (2001 596) WaldeHofmann s v satura (2007 II482f) Der zentrale Hinweis auf eine Ableitung des Wortes aus dem kulinarischen Bereich findet

134 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

schen Literatur selten Allein in Juvenal findet sich ein Hinweis darauf gleichwohlmit leicht anderem Verstaumlndnis Er betrachtet die Zusammenstellung der Satirenals farrago also als Mischgericht nicht die einzelne Satiresup3sup2sup2

In diesen sehr bildlichen Wendungen trifft Martianus gleichzeitig eine Aus-sage uumlber sein Verstaumlndnis der Darstellung von Bildungswissen Bei ihm gibt eskeine vorverdauten und mundgerecht aufbereiteten Wissenspaumlckchen (wie Ma-crobius sie bietet)sup3sup2sup3 sondern rohe Kost (cruda) die ihre Zutaten d h die lite-rarischen oder inhaltlichen Urspruumlnge nicht leugnet LeMoine formuliert prauml-gnant bdquoBy calling attention to the literary functions these metaphors fulfillMartianus hellip raises questions about the principles of seamless synthesis andverbal regurgitation which Macrobius so effectively demonstratesldquosup3sup2⁴

Dass Martianus durch diese Art der Darstellung seine Autoritaumlt infrage stelle(bdquohellip reveal doubts about the competence of the cook and the quality of the edu-cational feastldquo)sup3sup2⁵ laumlsst sich jedoch nicht erkennen Schlieszliglich benennt er seinVorgehen explizit (scheitert also nicht an einem gesteckten Plan) und bietetgleichzeitig mit der Kritik an der klassischen Form der Wissensvermittlung eineMoumlglichkeit an wie nicht-vereinheitlichte Wissensvermittlung aussehen kannBeeintraumlchtigungen des Vertrauens zum Erzaumlhler und zu den Inhalten gibt esallerdings ndash jedoch aufgrund anderer Faktorensup3sup2⁶

Bezug auf andere Satiriker ndash Neben den Anspielungen auf die Etymologie derGattung Satire treten explizite Bezuumlge auf andere Autoren menippeischer Satirenauf Namentlich wird jedoch keiner der Vorgaumlnger genannt die Nennung Varroserfolgt ausschlieszliglich in den Vortraumlgen der Brautjungfern und bezieht sichuumlberwiegend auf Varros fachschriftstellerische Werke oder seinen Ruf als Enzy-klopaumldistsup3sup2⁷

sich beim Grammatiker Diomedes (Grammatici Latini 1 485) Ausgehend von dieser Passageeroumlrtert Petersmann die Etymologie mit besonderer Beruumlcksichtigung des Ursprungs des Wortessatura aus dem Kuumlchenbereich (Petersmann 1986) Iuv 1 86 nostri farrago libelli Vgl die Kommentare Morton Braund 1996 95 f undCourtney 1980 103 Vgl die Gleichnisse in der praefatio zu den Saturnalia (Sat praef 5ndash9) und die Ausfuumlh-rungen in Kap II1 sowie die dort aufgefuumlhrte Literatur LeMoine 1991 360 ibid S u die Abschnitte bdquoErzaumlhlinstanzenldquo und bdquoDeutungen der komplexen literarischen Formldquo 4 335 (die Gelehrsamkeit Varros vgl Cic ac 1 9 Aug civ 6 2) 5 517 (Nennung in einemZitat) 6 639 und 6 662 (Fragen der Geographie die Varro-Vorlage ist nicht bekannt) 9 928 (cfVarro rust 3 17 4) Vgl zum Verhaumlltnis von Martianus und Varro bes Bovey 2003 Kap 2 (bdquoLaquestion varronienneldquo) und Schievenin 2009f

2 De nuptiis als literarisches Werk 135

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Allerdings zitiert die Wendung ὄνος λύρας in 8 807 den Titel einer menip-peischen Satire Varrossup3sup2⁸ Die Wendung ist in der lateinischen Literatur ander-weitig nicht belegt weshalb davon auszugehen ist dass Martianus hier auf denrepublikanischen Satiriker direkt zuruumlckgriff Da die Wendung zudem im Streit-gespraumlch zwischenMartianus und Satura uumlber die angemessene Art des Erzaumlhlensder Geschichte faumlllt kommt ihrer Verwendung eine programmatische Aussage zuMartianus stellt sich und sein Werk also in die Nachfolge Varros und seiner Sa-tiren

Ein Bezug auf Lukian ist weniger sicher nachzuweisensup3sup2⁹ Allerdings gibt eseine motivische Uumlbernahme im zweiten Buch von De nuptiis Philologias Erbre-chen des Wissens das der Hochzeit vorausgeht hat eine Parallele in LukiansDialog Lexiphanes Der allzu (ein)gebildete Lexiphanes nimmt auf Draumlngen vonLycinus ein Brechmittel ein das ihm der Arzt Sopolis gibt Daraufhin erbricht eralle Woumlrter die er gelernt hat dies ist die Voraussetzung dafuumlr dass er nun an-gemessen belehrt werden kannsup3sup3⁰

Es handelt sich um die Fragmente Varro Men 348ndash369 In Fragment 349 findet sich dieWendung auch im Vers (si quis μελωδεῖν est ὄνος λύρας praesepibus se retineat forensibus ndashsbquower beim Gesang wiersquon Esel an der Harfe bloumld der bleib getrost im Stallmief seines Forumsdortlsquo [Uumlbs Krenkel]) Die Bezugnahme auf Varro ist umso wahrscheinlicher da Satura unmit-telbar zuvor sowohl Martianusrsquo berufliche Aufenthalte auf dem Forum erwaumlhnt und ein Wort-spiel mit seinem Namen Capella angestellt hat ndash der zwar nicht sbquoEsellsquo bedeutet wohl aber einHaustier (sbquoZiegelsquo)Vgl dazu Shanzer 1968c 38ndash40 Shanzer 1986a kritisch dazu Pabst 1994 168(m Lit) Folgt man Bovey handelt es sich bei der unmittelbar folgenden Wendung καιρὸν γνῶθιum einen weiteren Verweis auf den Titel einer Varro-Satire γνῶθι σεαυτόν (= Varr Men 199ndash210 vgl Bovey 2003 282ndash284) Naumlher liegt wohl dass Martianus Capella diese eigenstaumlndigeSentenz (vgl Diogenes Laertios I 79 der sie als Sentenz des Pittakos ausweist) aus einer anderenQuelle uumlbernommen hat Kindermann 1969 60 Shanzer geht davon aus dass Martianus Lukian kannte (Shanzer1986c 36) Zur Diskussion um Martianusrsquo Griechischkenntnisse vgl Cristante 2009 [5] undShanzer 1986c 4 die beide annehmen dass Martianus durchaus Griechisch beherrschteShanzer weist einige Stellen auf an denen Martianus woumlrtlich uumlbersetzt und schlieszligt aus derBeherrschung des Griechischen zu Recht auf einen gebildeten moumlglicherweise sogar akade-mischen Hintergrund von Martianus Lucian Lex 20f Andere antike Texte die das Erbrechen von Wissen als Teil des Reini-gungsprozesses beschreiben oder als Bild tradieren sind mir nicht bekannt Daher ist eswahrscheinlicher dass Martianus auf Lukian im Original zuruumlckgegriffen hat Zur vor-byzantinischen Rezeption Lukians vgl Nesselrath 1994 der spaumltantike Bezuumlge auf Lukian u abei Julian und Claudian aufzeigt ndash Einen Bezug auf Lukians Concilium deorum fuumlr moumlglich haumlltKrapinger 1999 962 ndash Anders gelagert sind Lucian cont 7 und Aug in Joh ev tract 36 1 Dortgeht es darum dass durch das Ausspeien Wissen weitergegeben wird was zum Bild der daserbrochene Wissen aufsammelnden Artes passt nicht jedoch zum Motiv der Reinigung

136 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Bezuumlge auszligerhalb der Uumlbernahme uumlblicher Gattungselemente lassen sich fuumlrSenecas Apocolocyntosis Petrons Satyricon oder Julians Caesares nicht konsta-tierensup3sup3sup1

Die Figur der Satura und ihr Handeln ndash Einer der deutlichsten Hinweise auf dieForm der Satire liegt im Auftreten einer Figur namens Satura Diese Figur wirdzunaumlchst von Martianus als Erzaumlhlinstanz eingefuumlhrt (1 2) von der er den Inhaltvon De nuptiis erfahren haben will Im Laufe des Werks gewinnt Satura aber anProfil und agiert zunehmend autonom

Aussagen uumlber Satura beruhen letztlich auf drei Stellen in De nuptiis (6 576ndash5798 806ndash8109997ndash999) und koumlnnen fast ausschlieszliglich aus der Formund derBotschaft ihrer eigenen Aumluszligerungen gewonnen werden An allen drei Stellendiskutiert Satura mit Martianus Ansonsten ist Satura zwar als praumlsent zu denkenwird aber nicht weiter thematisiert

Nach Martianusrsquo Anrufung Minervas zu Beginn des sechsten Buches mischtsich Satura in seine Uumlberlegungen ein welche Frauen er vor sich sehe Die Ein-mischung wird von Martianus als scherzend bezeichnet (iocabunda 6 576) dieEinmischung an sich als typisch fuumlr das Scherzen Saturas (ut lepidula est 6 576)Die Aumluszligerung Saturas beginnt mit Spott uumlber Martianusrsquo nur scheinbare KlugheitDurch falsche naumlchtliche Studien und besonders seine Anwaltstaumltigkeit habe erden Blick auf das Wichtige verloren und erkenne nun nicht einmal mehr Philo-sophia und Paideia Der Scherz wird jedoch alsbald von einem belehrendenTonfall abgeloumlst in dem Satura Martianus uumlber das Wesen der beiden Frauenaufklaumlrt

Satura tritt als Naumlchstes zu Beginn des achten Buches auf in der Folge derSilen-Szene Der angetrunkene Silen war eingeschlafen und durch Amor aufge-schreckt worden was die uumlbrigen Goumltter laut lachen lieszlig (8 803ndash805) DieseSchilderung provoziert bei SaturaWiderspruch da sie das Erzaumlhlte als unpassendfuumlr die Goumltterversammlung empfindet Ihre Kritik beginnt wieder bei der Persondes Martianus dessen Namen sie als passend zu seinem Wesen deutet (Capella ~sbquoZiegelsquo 8 806) Sodann fordert sie Martianus auf seine Possen zu unterlassenMartianus fuumlhlt sich gehoumlrig von Satura gemaszligregelt und gibt klein bei bemerktaber dass sie ansonsten mehr von Scherzen halte (alioquin lepidula 8 807) AlsSatura dann die Einfuumlhrungder eintretenden Brautjungfer in Versenvorbringt undMartianus wiederum seine Scherze (ludicra 8 808) vorhaumllt kann dieser nicht

Mit Julian verbindet Martianus immerhin die Ansiedlung der Goumltterversammlung auf derMilchstraszlige ndash Zur Rolle der Saturnalien vgl den Abschnitt bdquoDeutungen der komplexen litera-rischen Formldquo

2 De nuptiis als literarisches Werk 137

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mehr an sich halten und zahlt Satura ihre Kritik in gleicher Muumlnze heim Nacheinigem Spott uumlber Saturas Verse verteidigt nun Martianus das Recht auf Scherzgegen sie die an sich ndash nicht aber in De nuptiiswie es scheint ndash eigentlich fuumlr denScherz zustaumlndig waumlre und gibt ihr mit Martial (2 41 1) den Rat auch einmal zulachensup3sup3sup2

Ein letzter Schlagabtausch von Satura und Martianus erfolgt schlieszliglich amEnde des Werkes Wiederum streiten beide Figuren miteinander und halten sichmit Spott uumlber das Wesen des anderen nicht zuruumlck

Die Einfuumlhrung Saturas die ja nur in Verbindung ndash und das heiszligt Ausein-andersetzung ndash mit Martianus erscheint dient vornehmlich der deutlichenBenennung der Gattung und der Verstaumlndigung daruumlberwas den Charakter einessatirischen bzw des vorliegenden Werkes ausmache Erstaunlich ist dabei Mar-tianusrsquo Entwicklung der sich zunaumlchst gegen Unterhaltung im artes-Teil ausge-sprochen hatte diese spaumlter aber gegen den censorischen Eingriff Saturas imachten Buch verteidigt Noch erstaunlicher ist aber dass es gerade Satura ist diezur Beachtung des Decorums auffordert und Martianusrsquo vergleichsweise mildenScherz scharf tadelt

Erzaumlhlinstanzen ndash Die Frage nach der Erzaumlhlsituation bzw der Erzaumlhlerfigurgehoumlrt zu den grundlegenden Analysekriterien eines literarischenWerkes ebensowie die Konzipierung von Raumund Zeit Lassen sich die letzten beiden Punkte imHinblick auf De nuptiis hinreichend klaumlrensup3sup3sup3 so bietet die Erzaumlhlerfigur groumlszligereSchwierigkeiten

DassDe nuptiis zwei Erzaumlhlinstanzen hat scheint zu Beginn desWerkeswenigdramatisch In 1 2 verweist der Erzaumlhler Martianus gegenuumlber seinem Sohn dar-auf dass die folgende Geschichte (also der uumlberwiegende Teil von De nuptiis) ihm

Ride si sapis o puella ride Schievenin bietet eine gruumlndliche Analyse dieser Stelle auchmit Blick auf die inverse Vorlage Martials (plora si sapis o puella plora Mart 2 41) derwiederum auf Ovid (Ov ars 3 281 f) zuruumlckgreift (Schievenin 1984 bes 136 ausfuumlhrlich auchBovey 2003 275ndash288) Die Rahmenhandlung spielt in der erzaumlhlerischen Gegenwart und in einem unbestimmtenRaum der jedoch nicht auszligergewoumlhnlich ist es liegt nahe an Karthago und das Haus desMartianus Capella zu denken Die eigentliche Handlung spielt an z T unwirklichen Orten aufder Erde die zumeist nicht naumlher bestimmt sind (z B Philologias Herkunft) und auf derMilchstraszlige wobei die absolute Zeit nicht genannt wird aber aufeinanderfolgende Tage inihrem Ablauf erkannt werden koumlnnen Die Phantastik einzelner Szenen die meist auf alle-gorische Darstellungsweisen zuruumlckgeht verletzt jedoch nicht die raumlumliche oder zeitlichePlausibilitaumlt des Dargestellten Vgl dazu auch die Ausfuumlhrungen und grafischen Veranschau-lichungen LeMoines (1972a)

138 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

waumlhrend langer Winternaumlchte (eine Anspielung auf Gellius)sup3sup3⁴ von Satura be-richtet wurde Der antike wie moderne Leser duumlrfte sich wohl kaum daran stoszligensondernwird darin vor allem eine Inspiration des Autors durch Satura (auchwennes das zuvor noch nicht gab) erkennen Bei der Erwaumlhnung von Satura koumlnnte erHeiteres erwarten oder bunt gemischte Geschichten

Vollkommen verwirrt wird der Leser hingegen spaumltestens dann wenn er amEnde des Werkes in der Sphragis angekommen ist (9 997ndash 1000) Dort reflektiertMartianus sein literarisches Vorgehen in den vorausgegangenen neun Buumlcherngenauer gesagt distanziert er sich von der Form der Darstellung (Umfang Bunt-heit) und verweist auf die Verantwortung Saturas die die Geschichte erzaumlhlt habe

Habes anilem Martiane fabulam 997Miscillo lusit quam lucernis flamineSatura Pelasgos dum docere nititurArtes daggercagris vix amicas AtticisSic in novena decidit voluminahaec quippe loquax docta doctis aggerans 998fandis tacenda farcinat immiscuitMusas deosque disciplinas cyclicasgarrire agresti cruda finxit plasmate (9 997 f)

Da hast du Martianus eine Altweibergeschichte sie verfertigte im Spiel mit vermischterInspiration [d h in Prosa und Vers] bei Kerzenschein Saturawaumlhrend sie sich bemuumlhte diePelasger zu lehren die Kuumlnste die den Griechen kaum freundlich [d h neu] sindSo gelangte sie hinab bis zum neunten Buch haumluft plappernd Gelehrtes auf Gelehrtes undstopft geheimes und bekanntes Wissen zusammen hat Musen und Goumltter vermischt und hatsich erdacht dass die enzyklopaumldischen Disziplinen in einembaumlurischenMachwerk unreifesZeug daherplappern

So ungewoumlhnlich dieses Vorgehen auch ist ndash Martianus haumltte ja den Bericht Sa-turas als Grundlage nehmen und dann nach eigenem Geschmack umgestaltenkoumlnnen ndash wird es uumlbertroffen durch die Verteidigung Saturas Sie weist die Ver-antwortung fuumlr die Art der Erzaumlhlung von sich und verteidigt sichmit demHinweisauf Martianusrsquo intellektuelle Schwaumlche der sie die Ausfuumlhrungen habe anpassenmuumlssen

Vgl Gell praef 4 zur Erklaumlrung der Wahl des Titels Noctes Atticae fuumlr sein Werk

Sed quoniam longinquis per hiemem noctibus in agro sicuti dixi terrae Atticae commentationeshasce ludere ac facere exorsi sumus idcirco eas inscripsimus noctium esse Atticarum hellip

Aber weil wir in langen Naumlchten den Winter uumlber in Attika auf dem Landwie schon gesagtdiese Anmerkungen im Spiel und dann ernsthaft begonnen haben daher haben wir ihnenden Namen Attische Naumlchte gegeben hellip

2 De nuptiis als literarisches Werk 139

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

haec ipsa nauci rupta conscientia 999turgensque felle ac bili bdquomulta chlamydeprodire doctis approbanda cultibuspossemque comis utque e Martis curia[hellip]ab hoc creatum Pegaseum gurgitem 1000decente quando possem haurire poculoldquo (9 999 f)

Sie sagte aufgrund ihres Wissens um die Nichtigkeit (dieser Ausfuumlhrungen) verletztschwellend vor Bitterkeit und Zorn bdquoIch koumlnnte hier freundlich auftreten mit einem Gewandbekleidet lobenswert durchgelehrtes Verhaltenwie aus der VersammlungdesMars [Es folgtdie Schilderung der unguumlnstigen Anlagen von Martianus] ndash Wann koumlnnte ich mit ange-messenem Becher aus einem pegasischen Strom von ihm erschaffen schoumlpfenldquo

Somit hat das Werk das zu Beginn zwei hierarchisch geschiedene Erzaumlhler zuhaben scheint am Ende zwei Erzaumlhler die sich gleichberechtigt uumlber die Form dererzaumlhlten Geschichte streitensup3sup3⁵

Die Inkonsistenzen auf der Erzaumlhlebene setzen sich daruumlber hinaus fort HatteMartianus zu Beginn des Werks gesagt Satura habe ihm die Geschichte waumlhrendlangerWinternaumlchte erzaumlhlt so treten Satura undMartianus amEnde desWerks inder erzaumlhlerischen Gegenwart gemeinsam auf und sprechen beide nacheinanderzu Martianusrsquo Sohn

Weiterhin erscheinen Satura und Martianus innerhalb der Geschichte dieMartianus angeblichvon Satura gehoumlrt hatWaumlhrend die Goumltter denverschiedenenBrautjungfern lauschenwohnen auch SaturaundMartianus der Versammlungbeiund betrachten sie als unbeteiligte ZuschauerWie aus einer Theaterloge herauskommentieren und diskutieren sie das Geschehen das auf der bdquoGoumltterbuumlhneldquostattfindetsup3sup3⁶

Noch einen weitergehenden Schritt stellt die Silen-Szene zu Beginn des achtenBuches dar Im Anschluss an diese Szene beschwert sich Satura bei Martianus erkoumlnne die Goumltter nicht auf dieseWeise agieren lassen In der Folge entspinnt sich einGespraumlch in demMartianus seine Art des Erzaumlhlens gegen Satura verteidigt die fuumlreine zuruumlckhaltendere Darstellung plaumldiert (s o)Von der Fiktion dass Martianusseinem Sohn bloszligwiedergibtwas Satura ihm erzaumlhlt hat bleibt nichtmehr viel dieganze Szenerie ist ein Produkt der ErfindungdesMartianus gleichzeitigwohnt er ihraber gemeinsam mit Satura bei ist also Teil der Handlung

So bereits Pabst 1994 120 Anm 119 der allerdings auf eine Diskussion der Beobachtungverzichtet Es handelt sich um die Stellen zu Beginn des sechsten und des achten Buches die imvorigen Abschnitt bereits paraphrasiert wurden

140 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Diese Art der Spiels mit der Erzaumlhlerrolle wird von manchen modernen For-schern als ein wichtiges Merkmal der menippeischen Satire angesehen Hinzu-treten kann die Selbstherabsetzung des Erzaumlhlers die sich an seinemmangelndenWissen Stilbewusstsein Traditionsempfinden o auml entzuumlndetsup3sup3⁷ Folglich kanndie zunaumlchst befremdliche Brechung und Verzerrung als weiteres Merkmal derGattung menippeische Satire bestimmt werden

Aufgrund dieser Beobachtungen ist es zwingend in De nuptiis vor allem eineSatire zu sehen Auch der heiter-spoumlttische Charakter einiger Passagen zwischenden Vortraumlgen der Brautjungfern passt zum satirischen Anspruch Gelegentlicherscheint es jedoch fraglich ob es sich wirklich um satirische und nicht eher umkomische oder derbe Spaumlszlige handelt Die Szene in der Silen betrunken einschlaumlftund von den anderen Goumlttern verspottet wird (8 803ndash805) erinnert mit ihremSlapstick eher an den derben Spott der Komoumldie als an die Satire eines Varrosup3sup3⁸

22 Deutungen der komplexen literarischen Form

Wie laumlsst sich das Werk De nuptiis nun also formal beschreiben oder andersgefasstWie lassen sich die vier literarischen Traditionsstraumlnge zusammenfuumlhrenDass eine einheitliche Lesung zumindest versucht werden muss zeigt bereits dasLeitmotiv der Hochzeit ansup3sup3⁹

Im Kern handelt es sich bei MartianusrsquoWerk um eine Sammlung bedeutenderWissensschaumltze in einem einzigen Werk die darin systematisch ausgebreitetwerden Dies zeigt die Einteilung in verschiedene Disziplinen die ein ver-

Zur Erzaumlhlerrolle in der menippeischen Satire vgl u a Relihan 1993 und darin bes S 35 Mit der Aufnahme unterhaltsamer Elemente ginge Martianus sogar noch uumlber dieErwartungen an ein sbquosatirischeslsquo Werk hinaus Auch Boethius wird bescheinigt er erzaumlhle seineConsolatio bdquoper satiramldquo auch wenn bei ihm weder eine Figur Satura auftritt noch allzu vielHeiterkeit herrscht (Peiper zitiert in der Einleitung zu seiner Ausgabe S xxxi eine mittelalter-liche Boethius-Vita vgl Kindermann 1969 61)

hos libros [scil de consolatione Philosophiae] per satiram edidit imitatus videlicet mar-cianum felicem capellam qui prius libros De nuptiis philologiae et mercurii eadem speciepoematis conscripserathellip

Diese Buumlcher schrieb er als Satire freilich in Nachahmung des Marcianus Felix Capellader zuvor die Buumlcher uumlber die Hochzeit der Philologie mit Merkur in der gleichen Art vonGedicht verfasst hatte

Zum Motiv der Hochzeit das bereits programmatisch im eroumlffnenden Hymnus anHymenaeus erscheint vgl Schievenin 2009c und Cristante in der Einleitung seiner Ausgabe1987 3ndash 10

2 De nuptiis als literarisches Werk 141

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

gleichsweise leichtes Auffinden der Informationen erlaubtsup3⁴⁰ die Bedeutung wirdangesichts der Praumlsentation vor den Goumlttern auf der Milchstraszlige deutlich Alleinder Umfang dieser Vortraumlge die in sich auch nicht gestoumlrt oder gebrochenwerdenmarkiert dass es sich hier um das zentrale Charakteristikum des Werkes handelt

Den erzaumlhlerischen Anlass fuumlr diese Praumlsentation bietet eine Hochzeitsfeieralso ein Symposion hier ist die Gelegenheit fuumlr die groszligen Redebeitraumlge gegebenZudem bietet die SymposionformAnknuumlpfungspunkte fuumlr eine Rahmenhandlungdie zur Auflockerung der ebenso ausfuumlhrlichenwie trockenen Einzelreden genutztwird

Doch bleibt es ndash im Gegensatz z B zu Macrobius ndash nicht bei der bloszligenDarstellung der Wissensinhalte Hinzu tritt die allegorische Darstellung der Be-deutung von Wissen und von Fleiszlig beim Wissenserwerb in den ersten beidenBuumlchern Die praumlsentierten Inhalte der Buumlcher 3ndash9 (die Philologia ja bereits aufder Erde in Buch 2 besitzt) sindwichtig Sie sind nicht nur wichtig fuumlr das irdischeLeben (das wird nicht weiter thematisiert die explizit irdischen Wissenschaftenwie Architektur und Medizin werden sogar ausgeschlossen) ndash die Inhalte sindauch wichtig fuumlr die menschliche Vervollkommnung

Durch das angesammelte Wissen erreicht der Mensch zwar nicht die voll-kommene Erkenntnis (die erhaumllt auch Philologia nur ohne eigenes Zutun als sieauf der houmlchsten Himmelssphaumlre angekommen zum Vatergott in der jenseitigenGluumlckseligkeit betet) wohl aber ein goumlttergleiches Wissensup3⁴sup1 Der Wissenserwerbist gewissermaszligen die Voraussetzung dafuumlr dass der Mensch mit Hilfe einesgoumlttlichen Begleiters in den Himmel aufsteigen kann unsterblich wird und voll-kommene Einsicht erlangt

Die so weit kohaumlrente Verbindung der literarischen Traditionen laumlsst aller-dings den explizit satirischen Anspruch von De nuptiis auszliger Betracht durch denMartianus selbst das Werk primaumlr in die Gattung der Satire einordnet waumlhrendvergleichbare Bezuumlge zu anderen Gattungen fehlen Natuumlrlich lieszlige sich dieserprogrammatische Anspruch mit einem Verweis auf die Verwendung des Begriffszur Bezeichnung einer inhaltlich wie literarisch gemischten Form erklaumlren Dochgreift diese Erklaumlrung zu kurz da das Agieren Saturas die literarischen Passagendes Werks beinahe als Travestie erscheinen laumlsst (vgl oben zur Erzaumlhlerfigur) Einbildend-enzyklopaumldisches Werk kann sich allerdings nicht gefahrlos als Satire

So auch Englisch 1994 56 Die bdquoSystematik bei der Praumlsentationldquo erlaube einen leichtenZugriff auf die Informationen Mart Cap 2 201ndash205

142 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

praumlsentieren ohne Zweifel an der Glaubwuumlrdigkeit und Zuverlaumlssigkeit desWerkes und der praumlsentierten Inhalte zu weckensup3⁴sup2

Wenn Martianus auch die Konventionen der Gattung menippeische Satireaufnimmt und sein Werk also nur folgerichtig unter anderem eine unzuverlaumlssigeErzaumlhlsituation aufweist ist dies noch keine Erklaumlrung an sich Die regelkonformeUmsetzung gattungstypischer Anspruumlche erklaumlrt noch nicht die Wahl der Gattungan sich ndash einer Gattung die trotz ihrer Benennung als solche nicht zu denStandardformen und akzeptierten Gattungen zaumlhlte insbesondere nicht fuumlrLehrwerkesup3⁴sup3

Auch Martianusrsquo Verweis auf etwas bislang noch nicht Unternommenes(nescioquid inopinum intactumque 1 2) vermag den Widerspruch nicht zu loumlsenDie Wendung zeigt zwar dass Martianus die Ungewoumlhnlichkeit seines Ansatzesbewusst war (sofern sich die Phrase uumlberhaupt auf die Komposition des Werkesbezieht)sup3⁴⁴ beseitigt aber nicht das interpretatorische Problem ZuwelchemZweckverbindet Martianus also zwei so widerspruumlchliche Gattungen wie Enzyklopaumldieund Satiresup3⁴⁵

Drei Antwortansaumltze lassen sich grob umreiszligen 1 Die Verbindung ist nuraumluszligerlich bzw oberflaumlchlich 2 durch die Verbindung soll ein bestimmter Aspektparodiert und somit Spott und Kritik ausgesetzt werden 3 die Verbindung erfuumlllt

Dieses Problem hat bereits Westra in seinem Aufsatz bdquoThe juxtaposition of the ridiculousand the sublime in Martianus Capellaldquo benannt (Westra 1981) Allerdings beschraumlnkt sich auchdieser Aufsatz auf die Darstellung des Problems und die Zusammenstellung der Belege EineLoumlsung hat Westra nicht anzubieten ndash sein Aufsatz endet mit der eher apologetischen Bemer-kung das Eingestaumlndnis der Unvereinbarkeit von Satire und Lehrwerk durch Martianus in 9 997sei prima facie ein Spiel dahinter stecke jedoch die Absicht Problembewusstsein zu demon-strieren und Verantwortung fuumlr die unterlassene Loumlsung zu negieren bdquoEven though I would claim that prose and verse must be present in an ancient Menippeansatire it must be seen as one of a number of shocking juxtapositions of oppositesldquo (Relihan 198760) ndash In der Folge kann die prosimetrische Form durchaus auch Mittel belehrender Werkewerden vgl Pabst 1994 133 Denkbar (und wohl wahrscheinlich) waumlre auch dass damit die Inhalte besonders desMythos gemeint sind Der Verweis auf Unterhaltung fuumlhrt nicht zum Kern der Frage denn die satirische Formstellt mehr dar als reine Unterhaltung Auch das horazische Diktum ridentem dicere verum quidvetat ndashsbquolachend das Wahre zu sagen ndash was spricht dagegenlsquo (Hor serm 1 1 23) als Kern vonMartianusrsquo Satireverstaumlndnisses greift zu kurz ebenso wie vergleichbare Konzeptionen in derLiteratur Dort geht es bei Belehrung immer um einzelne philosophische Saumltze (nie beispiels-weise um die Vermittlung von Philosophie an sich) Folglich bezeichnet das bdquoverumldquo nichtkognitives Lernen sondern moralisches Der grundlegende Unterschied zur Konzeption desMartianus liegt somit auf der Hand Vgl zu diesem Aspekt im Allgemeinen z B Shanzer 1986c42 und im Speziellen u a Woytek 1986 339ndash345 Keulen 2009 bes Kap 2 und 3

2 De nuptiis als literarisches Werk 143

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

einen literarischen und belehrenden Zweck zugleich Aufgrund der komplexenSachlage und der unmittelbaren Bedeutung der Beantwortung der Frage nachdieser Verbindung fuumlr das Gesamtverstaumlndnis von De nuptiis werden alle Alter-nativen vorgestellt und bewertet

Rein formale Verbindung von Satire und EnzyklopaumldieEventuell laumlsst sich die Mischung aus enzyklopaumldischen und satirischen Ele-menten (mit den zur Satire gehoumlrigen Verspartien) als Sonderform der Varro-Re-zeption bei Martianus auffassenVarro von Reate verfasste sowohl umfangreicheFachliteratur als auch menippeische Satiren Fuumlr beides war er in der Antikebekannt und beruumlhmt ndash doch ist es wahrscheinlich dass Martianus die Werkebereits nicht mehr ndash oder allenfalls nur in Auszuumlgen ndash vorliegen hattesup3⁴⁶ Aus demWissen um die beiden Schaffensbereiche des republikanischen Autors die beideder Unterweisung dienen solltensup3⁴⁷ koumlnnte Martianus auf den Gedanken verfallensein die literarischen Formen und Inhalte in seinem Werk zu verbindensup3⁴⁸Vielleicht saszlig er auch einemMissverstaumlndnis auf indem ermeinte dass Varro seinsatirisches wie enzyklopaumldisches Koumlnnen in nur einem Werk demonstriert habeDies hieszlige jedoch dass Martianus sich der Problematik dieser Verbindung nicht

So aumluszligert sich beispielsweise Kindermann in den Vorstudien seiner Ausgabe der Conso-latio des Laurentius von Durham Er billigt Martianus nur eine sekundaumlre Varro-Kenntnis zu(Kindermann 1969 60) Entschieden verneint wird die Frage von Schievenin (2009f) und Hadotdie vor allem neuplatonische Quellen vermutet (Hadot 2005 149) Schneider jedoch nimmt andass sowohl Augustin als auch Martianus die Disciplinae noch vorliegen hatten (Schneider 1999109 f) und dass die Satiren-Exzerpte des Nonius Marcellus (fl um 400 in Afrika) ebenfalls ausdem Originaltext Varros angefertigt wurden (ibid 96 Anm 12) Abwaumlgend aumluszligert sich Huumlbner2004 passim Vgl Cic ac 1 8 (es spricht Varro)

et tamen in illis veteribus nostris quae Menippum imitati non interpretati quadam hilaritateconspersimus multa admixta ex intima philosophia multa dicta dialectice quae quo faciliusminus docti intellegerent iucunditate quadam ad legendum invitati

Jedoch findet sich in meinen fruumlhen Schriften die ich in kreativer Nachfolge (und nicht nurUumlbersetzung) Menipps mit einer gewissen Heiterkeit benetzt habe vieles aus den Kernbe-reichen der Philosophie beigemengt und vieles das nach Art der Dialektiker gesagt istdamit die weniger Gelehrten es leichter verstuumlnden nachdem sie durch eine Art von Scherzzur Lektuumlre ermuntert worden sind

Vielleicht hatte Martianus diese Stelle sogar im Kopf als er die Anlage von De nuptiis plante So z BWeinreich in der Einleitung zu seiner Uumlbersetzung roumlmischer Satiren bdquoMartianusCapella glaubte gewiszlig ein Varro redivivus zu sein sozusagen die Quintessenz des Gelehrten unddes Satirikersldquo (Weinreich 1962 XCIII) Ebenso Shanzer 1986c 42

144 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

bewusst gewesen sei ndash was ihm sicher nicht gerecht wird Auszligerdem wird so dieBezugnahme auf weitere formale Elemente der menippeischen Tradition und dieuumlbrigen Vorlaumlufer der Gattung mit anderer Konzeption (Lukian Julian) nichtausreichend beruumlcksichtigt

Ebenfalls beim Autor koumlnnte eine zweite Erklaumlrung ansetzen Im Zuge derAbfassung seiner Enzyklopaumldie hat sichMartianus nach horazischer Vorgabe (unddem Beispiel Varros)sup3⁴⁹ um Auflockerung und heitere Elemente bemuumlht Diespontanen Einfaumllle wurden ins Werk integriert und die sich daraus ergebendenInkonsistenzen entweder uumlbersehen oder billigend in Kauf genommen Beideswuumlrde gut zum klassisch negativen Martian-Bild in der Forschung passensup3⁵⁰Abgesehen davon dass Annahmen uumlber das Vorgehen beim Schreiben weitge-hend auf Spekulation beruhensup3⁵sup1 widersprechen drei Beobachtungen dieser Er-klaumlrung Erstens gelingt es Martianus De nuptiis uumlber neun Buumlcher vorauszu-planen so dass am Ende ein ndash zunaumlchst abgesehen von der Satire-Problematik ndashkohaumlrentes Werk entsteht Die Fuumllle der behandelten Themen Motive und lite-rarischen Elemente weist eher auf ein planvolles Arbeiten hin und macht es un-wahrscheinlich dass Martianus Probleme an dieser Stelle nicht wahrgenommenbzw nicht korrigiert haumltte Zweitens ist die Verbindungvon Satire und den anderenElementen nicht nur oberflaumlchlich so dass sie nachtraumlglich eingefuumlgt sein koumlnnteoder sich im Schreibprozess so ergeben haben koumlnnte Da bereits im zweitenKapitel des ersten Buches Satura eingefuumlhrt wirdwar sie von vornherein Teil des

Gemeint ist das beruumlhmte zunaumlchst nur fuumlr die Dichtung relevante prodesse aut delectare(Hor ars 333 f) zu Varro vgl die schon angefuumlhrte Stelle aus Cic ac Vgl z B die sehr bildliche Beschreibung von C S Lewis bdquo[hellip] this universe which hasproduced the bee-orchid and the giraffe has produced nothing stranger than Martianus Capella[hellip] the curiosity shop of his mind [hellip] a chaos beside which the work of Rabelais has unity andthat of Mandeville probabilityldquo (Lewis 1936 78 f) Gleiches gilt fuumlr Spekulationen uumlber eine andere Auffassung von Literatur und ihrenRegeln in Martianusrsquo Zeit oder Umfeld Einerseits kennen wir keine Texte die sich mit De nuptiisvergleichen lieszligen (was per se nichts beweist aber doch Indiziencharakter hat) andererseitshielten sich auch die spaumltantiken Autoren uumlblicherweise an die klassischen Vorgaben Ich teiledaher auch Schneiders Ansicht nicht der die Skepsis an dieser Verbindung allein der modernenLeseerfahrung zuschreibt bdquoWenn den Heutigen diese Kombination der forcierten Gelehrsamkeiteines Curriculums und der spielerisch-saloppen Causerie seltsam beruumlhren mag so waumlre dazuimmerhin schon an ein ciceronisches Dictum zu erinnern non est enim seiunctus iocus a phi-lologia (ad fam 16214) ndash sbquoSpieltrieb und Pedanterie diktieren und widersprechen sich nichtlsquo(sbquoErste Fruumlhschichtlsquo aus Grassrsquo sbquoHundejahrelsquo)ldquo (Schneider 1999 94 Anm 2) Der Verweis aufCicero traumlgt nichts zum Verstaumlndnis von Martianus bei Cicero geht es an der zitierten Stelle umden Ablauf des Tages mit seinem Schuumller der aus ernsteren und heitereren Abschnitten bestehtDaraus folgt nicht dass das Lernen mit Scherz verbunden ist ndash auszligerdem duumlrfte Cicero unteriocus (sbquo[urbaner] Scherzlsquo) anderes verstanden haben als Martianus in seiner Satura bietet

2 De nuptiis als literarisches Werk 145

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Kompositionsplans Drittens hat Schievenin gezeigt dass Martianus keineswegsoberflaumlchlich und eigenwillig arbeitet Durch eine gruumlndliche Untersuchung derSilen-Passage (8 803ndash805) kann er nachweisen dass Martianus ndash wie vieleAutoren vor ihm ndash uumlber ein umfangreiches literarisches Wissen verfuumlgte daraufbei der Abfassung seines Werkes zugreifen konnte und durch gezielte Anspie-lungen neue Bezuumlge herstelltesup3⁵sup2

Satire als Mittel der KritikWaumlhrend die antike Satire (im Gegensatz zur modernen) nicht zwangslaumlufig Kritikan Missstaumlnden uumlben wollte ist diese Moumlglichkeit umgekehrt auch nicht auszu-schlieszligen Martianus koumlnnte also bewusst eine solide Darstellung der Kuumlnste inliterarischem Gewandmit der Gattung der Satire verbunden haben um Zweifel ander Ernsthaftigkeit der uumlbrigen Teile des Werkes zu wecken Er wuumlrde somit einaufklaumlrerisches Interesse verfolgen das zugleich auch unterhaltsame Zuumlge traumlgt

Eine erste Schwierigkeit dieser Lesart von De nuptiis ergibt sich bereits bei derFrage nach dem Objekt der SatireWerden die Wissensinhalte in Zweifel gezogenoder nur die Art ihrer Vermittlung in langen Reden bzwTraktaten Soll der Glaubean die umfassende Einheit des Wissens kritisiert werden oder die Vorstellungsaumlmtliches Wissen lasse sich vermitteln gar kohaumlrent in einem Werksup3⁵sup3 Ist dieVorstellung dass Wissen goumlttlich mache parodiert oder nur die abwegige Vor-stellung dass auf einer Hochzeit solche Reden gehalten werden Oder richtet sichdie Kritik letztlich gegen die Auffassung Philologia als Vorbild zu sehen oder garals Mittlerin alles Wissens ja sogar als Mittlerin zwischen Menschen und Goumlttern

Aus der Tatsache dass das Objekt der Satire keineswegs leicht zu bestimmenist kann nicht gefolgert werden dass in De nuptiis keine Satire vorliege die be-stimmte Sachverhalte kritisiere Aber es kann durchaus gefolgert werden dass eskeine expliziten textinternen Merkmale gibt die das Lesen steuern und den Ge-genstand der Kritik deutlich hervortreten lassen Die Deutungen gehen also vonmodernen Annahmen uumlber das Umfeld bzw die Gedankenwelt von Martianus aus

Im Kern handle es sich um bdquouna narrazione tersa e brillanteldquo verbunden mit einemDickicht an Verweisen Die Silen-Szene habe einen bdquocarattere colto e della dottrina e dellalingualdquo (Schievenin 1984 132) Das Fazit seiner Untersuchung formuliert Schievenin folgen-dermaszligen bdquoIl De nuptiis si rivela dunque opera di vasti orizzonti non solo per lrsquointento dida-scalico che la pervade e che ne determineragrave la fortuna ma anche per la costante presenza nellafabula della tradizione classica e dei suoi echildquo (ibid 136) Vgl zu dieser Stelle auch Bovey2003 275ndash288 ndash Den geschickten Umgang mit mehreren Quellen ndash erzaumlhlerisch wie seman-tisch ndash kann Schievenin auch fuumlr 7 725ndash727 nachweisen (Schievenin 2009e) So z B Relihan 1993 138 bdquoMartianus writes not an encyclopedia but a Menippean satirethat parodies encyclopedic knowledgeldquo

146 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

und weisen zudem meist nicht kleinschrittig auf wie der Interpret zu seiner (oftapodiktisch dargelegten) Ansicht gelangt

Nun folgt daraus noch nicht dass Martianus De nuptiis nicht als kritisierendeSatire konzipiert haumltte die Vielzahl der (wenn auch differierenden) modernenDeutungenweist ja darauf hin Zwei Uumlberlegungenwenn auch keine schlagendenBeweise lassen die Hypothese der parodierenden Satire unwahrscheinlich wer-den der Umfang von De nuptiis und seine Rezeption Eine Satire die beispiels-weise die Verbindung von Weltwissen und menschlicher Vervollkommnung in-frage stellt benoumltigt nicht noch eine umfassende Darlegung eben diesenWissensDies gilt besonders da diese Darlegung den Hauptteil des Werks ausmacht und ndashzumindest dem Umfang nach ndash die uumlbrigen Partien weit uumlberragt Eine Deutungvon De nuptiis als kritischer Satire muumlsste also besonders die Frage beantwortenzu welchem Zweck die umfangreichen Darstellungen der Freien Kuumlnste aufge-nommen sind (und nicht nur angedeutet werden)

Die Rezeption eignet sich zwar ebenfalls nicht zu sicheren Ruumlckschluumlssen aufdie originale Intention eines Werkes haumlufig bietet sie aber interessante EinblickeDie Martianus-Rezeption stellt sich bald ein Cassiodor beruft sich in seinen In-stitutiones auf ihn Dort erscheint Martianus nicht als Satiriker oder Zeitkritikersondern als Gelehrtersup3⁵⁴ In dieser Tradition wird Martianus auch im Mittelaltergelesen und rezipiertsup3⁵⁵

Aumlhnliches laumlsst sich fuumlr Boethiusrsquo Anknuumlpfen an die prosimetrische Form inder Ausgestaltung von Martianus sagen Boethius verfasst zweifelsfrei keine kri-tische Satire kann aber trotzdem an die Form und den Inhalt von De nuptiisproblemlos anknuumlpfen Sowohl der Form nach wie auch durch einzelne Zitatemacht er deutlich dass erDe nuptiis kennt und als eine seiner Vorlagen benutzt Esist zu bezweifeln dass Boethius in seinem Bemuumlhen um eine adaumlquatewerbendeDarstellung der Philosophie auf Form und Zitate des Martianus zuruumlckgegriffenhaumltte haumltte er nicht die Moumlglichkeit der gefahrlosen Uumlbernahme gesehen

Satirische Elemente als Mittel der BelehrungDer dritte Erklaumlrungsansatz fuumlr die Verbindung von Satire und Belehrung be-trachtet die Wahl Saturas als Figur und die Bezugnahme auf die Gattung zunaumlchst

Cassiod inst 2 2 17 Zur mittelalterlichen Martianus-Rezeption vgl bes Nuchelmans 1950 Lutz 1971 und 1976Willis 1973 sowie die Ausgaben und Literatur u a zu folgenden Werken Konrad von MureFabularius Hugo von Sankt Victor Didascalicon de studio legendi Johannes von SalisburyMetalogicon Kindermann kann weiterhin nachweisen dass De nuptiis auch durch seine Forminspirierend gewirkt hat (Kindermann 1969 61 f)

2 De nuptiis als literarisches Werk 147

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

als reine Fortsetzungder literarischen Form Fuumlr diese spezielle Formder Literaturdie menippeische Satire hat der russische Literaturwissenschaftler MichailBachtin Beobachtungen aufgestellt die auch fuumlr De nuptiis zutreffen Durch denRuumlckgriff auf zwei zentrale Konzepte Bachtins das Karnevaleske und die Dialo-gizitaumlt wird ein Verstaumlndnis von De nuptiis ermoumlglicht

Auf der Suche nach Vorlagen und Urformen der Gattung des Romans ins-besondere in der Form von Dostojewskis Romanen stieszlig Bachtin unter anderemauch auf die menippeische Satire die er bis in die Antike zuruumlckverfolgtesup3⁵⁶ Zuihren Vertretern zaumlhlt er unter anderem Varro Apuleius Petron Seneca oderLukiansup3⁵⁷ Martianus Capella wird nicht erwaumlhnt was aber nicht verwundernmuss da Bachtin keine Literaturgeschichte der menippeischen Satire schriebsup3⁵⁸

Kern der Uumlberlegungen Bachtins zurmenippeischen Satire ist das Konzept desKarnevals Unter Karneval versteht er folkloristische Feste waumlhrend deren diebestehende Ordnung verkehrt wird uumlbliche Regeln nicht mehr gelten Herr-schende gestuumlrzt und Machtlose maumlchtig werden ndash auf Zeit Die Karnevalisierungalso die Uumlbernahme der Kennzeichen dieses Festes in neue oder bestehende li-terarische Formen institutionalisiert diese Ausnahmesituation und loumlst sie vomkonkreten Fest Der so entstandene Text wird bdquozum karnevalesken Spiel an demder Autor und sein Publikum einverstaumlndlich teilhaben und das keines kalen-darisch oder institutionell abgesicherten Karnevalsrahmens mehr bedarfldquosup3⁵⁹

Diese Karnevalisierung fuumlhrt unter anderem zu einer Vielstimmigkeit vonMeinungen und Positionen im Text z B durch mehrere Figurenvon denen keinebevorzugt oder gar als autoritativ gekennzeichnet wird In dieser Dialogizitaumlt wirdkein allgemein guumlltiger Sinnmehr vermittelt sondern dieWahrheit suspendiertsup3⁶⁰

Dass der Bezug auf karnevalsartige Feste der Gattung menippeische Satire (inTeilen auch der Verssatire) eignet zeigt ein kurzer Blick auf wichtige Vertreter derTradition

Julians Symposion Caesares spielt zur Zeit der Saturnalien Die Bedeutungdieses Festes fuumlr das Werk wird dadurch verdeutlicht dass es den Handlungs-

Bachtin 1971 126ndash 135 Bachtin 1971 126 128 132f Kritik an den z T pauschalisierenden und verfaumllschenden Aussagen Bachtins uumlber antikeLiteratur oder an der ununterbrochenen Traditionslinie von der Antike bis in die Moderne (z BRelihan 1987 59 Lachmann 2006 23ndash25) muumlsste auch auf manche moderne Literaturwissen-schaftler in der Nachfolge Bachtins angewandt werden (vgl Branham 2005 6 wo es uumlberSenecas Apocolocyntosis heiszligt bdquoour only extant Menippean satire in Latinldquo) Teuber 1993 182 Eine gut verstaumlndliche Einfuumlhrung in das Konzept der Dialogizitaumlt im Sinne der bach-tinschen Terminologie bietet Sharland 2010 Einfuumlhrung (1ndash51)

148 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

rahmen fuumlr den in der Folge erzaumlhlten Mythos bildet Bereits im ersten Satz wirdauf das Fest und die Tradition Heiteres frei zu erzaumlhlen Bezug genommensup3⁶sup1

Auch Senecas Apocolocyntosis stellt einen engen Bezug zum Saturnalienfesther Das Werk spielt zwar nicht an den Saturnalien sondern am Todestag desClaudius im Oktober doch wird an zwei Stellen eine Verbindung zwischen derHerrschaft des verstorbenen Kaisers und den dargestellten Sitten waumlhrend derRegierungszeit mit dem Saturnalienfest gezogensup3⁶sup2 Manche Interpreten gehensogar davon aus dass die Apocolocyntosis an den Saturnalien des Jahres 54vorgetragen wurdesup3⁶sup3 Auch bei Petron und Horaz finden sich Bezugnahmen aufdie Saturnaliensup3⁶⁴

Ein zentrales Element des Saturnalienfestes liegt in der Suspension der uumlb-licherweise geltenden Normen und Wertesup3⁶⁵ Neben den anderen Elementen desFestes wie sie z B in Macrobiusrsquo Saturnalia (1 7ndash 10 1 24 22 f) beschriebenwerden (traditionelle Geschenke Festmahl fuumlr die Sklaven etc) hat gerade dieUmkehrung der Herrschaftsverhaumlltnisse im Haus Niederschlag in der Literaturgefunden

Gerade durch diese Rolleninversion treten einige wichtige gesellschaftlicheNormvorstellungen und Grundannahmen prominent hervor Dazu zaumlhlt das Be-wusstsein dass es eine befehlende und eine ausfuumlhrende Gruppe von Menschengibt oder dass im Prinzip ein Rollenwechsel moumlglich sein kann Alle Beteiligten

Ἐπειδὴ δίδωσιν ὁ θεὸς παίζειν ndash ἔστι γὰρ Κρόνια ndash hellip (sbquoDa der Gott das Scherzen erlaubt ndashes sind ja die Kronia helliplsquo Caes 1 = 306a Spanheim) Zur Frage ob es sich bei Caesares auch umdas Werk handle auf das zu Ende der Rede auf Koumlnig Helios verwiesen wird (Or in Sol reg 44 =157c Spanheim) vgl Muumlller in seiner Uumlbersetzung (39 ablehnend) und Lacombrade im Vorwortseiner Budeacute-Ausgabe (3 und 18 Anm 3) der aufgrund des Handschriftenbefundes Kronia auchals Titelbestandteil fuumlr die Caesares uumlbernimmt Es handelt sich um Sen apocol 8 1 (Claudius als Saturnalienprinz) und 12 2 (Herrschaftdes Claudius als andauerndes Saturnalienfest) ndash Dass Lukian nicht auf die Saturnalien alsRahmen fuumlr seine Werke zuruumlckgreift entwertet die Beobachtungen nicht Lukian musste auf-grund seines Selbstbewusstseins als satirischer Schriftsteller und aufgrund der Menge seinersatirischen Schriften nicht jedes Mal einen eigenen literarischen Rahmen herstellen in demeinzelne Dialoge stattfinden konnten Das Saturnalienfest selbst erscheint bei Lukian als Ge-genstand der Satire nicht als deren literarische Rahmung (Τὰ πρὸς Κρόνον) Zuerst bei Furneaux 1896 23 Anm 11 In der neueren Forschung vgl bes Nauta 1987Kritisch dazu u a Doumlpp 1993 159 f Petron 44 3 58 2 69 9 zu Horaz vgl z B serm 2 7 (libertas Decembris) Ein gelungenesBeispiel der Anpassung und Anwendung der bachtinschen Konzepte mit Ertrag fuumlr die Inter-pretation unter Einbezug von serm 2 7 bietet Sharland 2010 Distelrath 1999 114 Vgl weiterhin Versnel 1993 136ndash227 und Doumlpp 1993 Eine plastischeSchilderung der Rollenvertauschung bei der der Sklave dem Herrn die Leviten liest bietet Horserm 2 7

2 De nuptiis als literarisches Werk 149

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Herren wie Sklaven spielen also mit den Moumlglichkeiten einer alternativen Wirk-lichkeit

Das Besondere im Spiel mit den Moumlglichkeiten liegt aber in seiner zeitlichenBegrenzung Nach der Zeit des Ausnahmezustands gelten wieder die normalenimmer guumlltigen Regeln Die Rolleninversion erlaubt also ndash oder erzwingt gera-dezu ndash das Nachdenken uumlber bestimmte gesellschaftliche Normen und Wertvor-stellungen Durch die Ritualisierung und enge zeitliche Begrenzung ist darausjedoch keineswegs die Notwendigkeit entstanden die Verhaumlltnisse tatsaumlchlich zuhinterfragen oder gar zu aumlndern Daher lassen sich die Saturnalien auch als ein dieKonventionen bestaumlrkendes Fest verstehen Das Spiel mit der Moumlglichkeit eineranderen Gesellschaftsordnung hat durch seine Ritualisierung letztlich eine dieTradition legitimierende Funktion bekommen

In De nuptiis finden sich jedoch houmlchstens spaumlrliche Hinweise auf das Sa-turnalienfest Am ehesten weist das grob scherzende Agieren Saturas in diesenBereich Die bdquolangen Winternaumlchteldquo (1 2) koumlnnten (statt als Bezug auf Gellius) alsAnspielung auf das Saturnalienfest verstandenwerden ndash die Saturnalien finden inden laumlngsten Naumlchten uumlberhaupt statt seit der Kaiserzeit vom 17 bis 23 DezemberDies ndash wie die Spekulation uumlber eine spielerische etymologische Verbindung vonSatura und Saturnaliensup3⁶⁶ ndash ist aber insofern nicht von Belang da die Gattung alsGanze karnevaleske Zuumlge traumlgt und als gewissermaszligen institutionalisierter Kar-neval vom eigentlichen Fest losgeloumlst istsup3⁶⁷

Die Aufhebung der uumlblichen Ordnung (was Teuber im Ruumlckgriff auf Limina-litaumltskonzepte als praumlliminale Phase bezeichnet)sup3⁶⁸ beginnt mit der VorbereitungPhilologias zum Aufstieg in den Himmel Bereits das Erbrechen stellt eine mar-kante Umkehrung der alltaumlglichen Welt dar Statt sich Wissen anzueignen er-bricht Philologia es nun In der Goumltterversammlung auf der Milchstraszlige ist dieOrdnung sodann voumlllig verkehrt Philologia als Meisterin aller Disziplinen und

Zwar sind die einschlaumlgigen etymologischen Woumlrterbuumlcher skeptisch (v a WaldeHof-mann 2007 II 482 neutral ErnoutMeillet 2001 596) jedoch gibt es dahin gehende moderneDeutungen (aufgefuumlhrt bei WaldeHofmann 2007 II 482) und auch antike ParallelisierungenCic nat deor 2 64 Saturnus hellip est appellatus quod saturaretur annis (sbquoSaturn hellip wurde ergenannt weil er an Jahren gesaumlttigt istlsquo) Fulg myth 1 2 (p 17 16) a saturando Saturnus dictusest (sbquoDa er (die Menschen) saumlttigt wurde er Saturn genanntlsquo) Aug cons euang 1 23 35 Sa-turnus tamquam satur hellip νοῦς (sbquoSaturn gleichsam der gesaumlttigte hellip νοῦςlsquo) Vgl auch Gowers diedie etymologischen Verbindungen von satura Satyrspiel und Saturnalien untersucht (Gowers1993 109ndash 117) Sie kommt zu dem Befund dass keine Verbindung bestehe wohl aber verbin-dende Elemente identifiziert werden koumlnnten bdquocarnival licence parody uninhibited mockeryand excessive consumptionldquo (ibid 117) Vgl z B Teuber 1993 183 f Teuber 1993 183

150 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

bedeutende Lehrinstanz muss sich ihrerseits belehren lassen ndash mit dem Wissendas urspruumlnglich ihres war

Durch die Inversion wird die (vielleicht uumlblicherweise nicht prominente)Philologia in den Mittelpunkt geruumlckt und ihre zentrale Rolle im Wissenssystemtritt markant vor Augen Gleichzeitig kann darin eine leise Anfrage an ihre Lehr-autoritaumlt und eventuell auch ihre Eignung zur Lehre gesehen werden

Aufgrund des zeitlich begrenzten Rahmens der Verkehrung (diemit dem Endeder Vortraumlge voruumlber ist aber nicht explizit zuruumlckverwandelt wird) dessen Be-grenztheit durch Bezug auf die Form der menippeischen Satire ergaumlnzt werdenkann wird das System der Bildung und der Bildungsvermittlung jedoch nichtgrundsaumltzlich infrage gestellt Die Suspendierung Philologias ist temporaumlr

Dem Konzept der Dialogizitaumlt oder Mehrstimmigkeit folgend erklaumlrt sich auchdie Doppelung und Verunklarung der Erzaumlhlinstanz In den drei Dialogen indenen Satura und Martianus aufeinandertreffen behandeln sie die Frage desrichtigen Erzaumlhlens Dies beschraumlnkt sich nicht nur auf die Satire sondern umfasstalle auftretenden literarischen Formen Martianus und Satura sind sich uneinswie weit der Mythos reichen soll und ob eine Enzyklopaumldie trocken oder auchunterhaltsam erzaumlhlt werden soll (2 219ndash3 222) ob ein Symposion auch Zechenund Spaszlig vertraumlgt (8 803ndash810) oder ob und wie stark Satire Dinge vermischendarf (9 997ndash 1000)

Die unterschiedlichen Meinungen zu den Fragen werden zwar diskutiert undfuumlhren zu einem Ergebnis ndash der Erzaumlhlfluss versiegt ja an keiner Stelle oder setztneu an Allerdings entsteht in der Folge kein homogenes Werk und am Schlussmag keiner der beiden Erzaumlhler dafuumlr die Verantwortung uumlbernehmen Der Wi-derwillen sich zu dem Werk zu bekennen bedeutet aber gleichzeitig auch dassMartianus sich nicht festlegt welche Position er fuumlr die richtige haumllt Die Fragenach der rechten Art der Wissensvermittlung die auch in der Ent- und Inthroni-sierung Philologias anklang bleibt unbeantwortet

Schlieszliglich bringt der Blick auf die Aurelian-Vita aus der Historia Augustanoch einen weiteren Aspekt ein Parallel zur Aufteilung der Erzaumlhlinstanzen in Denuptiiswird der Erzaumlhlprozess in derHistoria Augusta aufmehrere AutorenverteiltWie zuerst Hermann Dessau und in der Folge Ronald Syme nachdruumlcklich gezeigthaben handelt es sich allerdings um nur einen Verfasser der uumlberdies auch inBezug auf die Abfassungszeit falsche Angaben gemacht hat und Quellen erfundenhatsup3⁶⁹ Insofern laumlsst sich der in der Historia Augusta gepraumlgte Begriff der

Auf den Charakter der Sammlung die Syme u a als bdquohoaxldquo bezeichnet (1983a 11 1983b13 1983c 219) die fingierten Autoren die manipulierten Quellen etc soll an dieser Stelle nurhingewiesen werden Vgl auch Cameron 2011 Kap 20 mit ausfuumlhrlicher Diskussion relevanterFragen

2 De nuptiis als literarisches Werk 151

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mythistoria der Vermischung von Mythischem und Historischem auch auf dieSammlung selbst anwendensup3⁷⁰

Als Menippee im engeren Sinne laumlsst sich weiterhin die Aurelian-Vita die 26Vita der Sammlung fassen und bezeichnenderweise spielt die Rahmenhandlungan denHilariasup3⁷sup1Wie zu den Saturnalien gehoumlren zu diesem Fest Scherze und ndash imRahmen von Maskierungen ndash Rollenwechselsup3⁷sup2

Noch in der rahmenden Einleitung zur Vita spielt sich folgender Dialog ab

1 et quoniam sermo nobis de Trebltellgtio Pollione qui a duobus Philippis usque ad divumClaudium et eius fratrem Quintillum imperatores tam claros quam obscuros memoriaeprodidit in eodem vehiculo fuit adserente Tiberiano quod Pollio multa incuriose multabreviter prodidisset me contra dicente neminem scriptorum quantum ad historiam pertinetnon aliquid esse mentitum prodente quin etiam in quo Livius in quo Sallustius in quoCornelius Tacitus in quo denique Trogus manifestis testibus convincerentur pedibus insententiam transitum faciens ac manum porrigens iocando[m] praeterea sbquoscribelsquo inquit sbquout

quae ille [scil Iunius Cordus] omnia exsequendo libros mythistoriis replevit talia scribendocum omnino rerum vilium aut nulla scribenda sint aut nimis pauca si tamen ex his morespossint animadverti qui re vera sciendi sunt hellip sed ex parte ut ex ea cetera colligantur(SHA Opil 1 5)

Bei der Anfuumlhrung von all diesen Informationen hat er die Buumlcher mit fabuloumlsen Ge-schichten angefuumlllt indem er Dinge von dieser Art schrieb wo doch uumlberhaupt keinenutzlosen Dinge geschrieben werden duumlrfen oder nur sehr wenige sofern daraus Verhal-tensweisen erkannt werden koumlnnen die wirklich wissenswert sind hellip aber zum Teil(schreibe ich) damit daraus das Andere gefolgert werden kann

quid Marius Maximus homo omnium verbosissimus qui et mythist[h]oricis se voluminibusinplicavit num ad istam descriptionem curamque descendit (SHA Quadr tyr 1 2)

Wie Hat sich Marius Maximus der groumlszligte Schwaumltzer vor dem Herrn der sich in seinenmythistorischen Werken verfangen hat etwa zu dieser Art der Darstellung und des sorg-faumlltigen Arbeitens herabgelassen

Hilaribus quibus omnia festa et fieri debere scimus et dici impletis sollemnibus vehiculo suome hellip Iunius Tiberianus accepit (SHA Aurelian 1 1)

An den Hilaria an denen alles zum Fest Gehoumlrende getan und gesagt werden muss wieman weiszlig empfing mich nach Erledigung der Zeremonien Iunius Tiberianus in seinemGefaumlhrt

Pausch bemerkt dieses besondere Datum zwar und erwaumlgt ob es sich um ein bdquoweitergehendesLesesignalldquo beispielsweise im Sinne karnevalesker Literatur handeln koumlnne verfolgt diese Spuraber nicht weiter (Pausch 2011 130 Anm 1) Herodian 1 10 5 ndash Einige Hinweise auf die Hilaria die im Kontext des Magna Mater-Festesam 25 Maumlrz gefeiert wurden bietet Fraser in seinem Kommentar zu Ovids Fasti (Fraser 1929244ndash248)

152 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

libet 2 securus quod velis dices habiturus mendaciorum comites quos historicae elo-quentiae miramur auctoreslsquo (SHA Aurelian 2 1ndash2)

1 Und weil unser Gespraumlch uumlber Trebellius Pollio der von den beiden Philippi bis zumvergoumlttlichten Claudius und dessen Bruder Quintillus gleichermaszligen uumlber beruumlhmte wieunbekannte Kaiser fuumlr die Nachwelt schrieb in derselben Saumlnfte stattfand behauptete erdass Pollio vieles ohne Sorgfalt und nur kurz dargelegt habe Ich erwiderte dass keinSchriftsteller sofern es um die Geschichte gehe nicht irgendwo gelogen habe und legtesodann dar worin sogar Livius Sallust Tacitus schlieszliglich sogar Trogus mit eindeutigenBelegen uumlberfuumlhrt werden koumlnnten Darauf sagte Tiberianus schlieszliglich scherzend indem ermeiner Meinung beipflichtete und mir seine Hand darbot bdquoSchreibe sowie du es fuumlr richtighaumlltst 2 Sage unbesorgt was du willst du wirst diejenigen als Gefaumlhrten fuumlr deine Taumlu-schungen haben die wir als Schoumlpfer historiographischer Beredsamkeit bewundernldquo

So sympathisch dieser Anspruch auch erscheinen mag ist er doch fuumlr das Ver-trauen in die Gattung der Geschichtsschreibung fatal Gerade in der Einleitungeiner Vita jedoch ndash zumal es der Fiktion nach die erste des Flavius Vopiscus Sy-racusius im Corpus der Historia Augusta ist ndash kann eine solche Anekdote ei-gentlich keinen Platz haben Sie erweckt beim Leser den Eindruck dass er dennachfolgend dargebotenen Informationen kein Vertrauen schenken duumlrfesup3⁷sup3

Die Parallelen zwischen der Historia Augusta insbesondere dem Vorgehen inder Vita Aureliani und De nuptiis liegen auf der Hand Verunklarung der Autor-schaft bzw der Erzaumlhlhaltung einerseits Erwecken von Zweifeln an der Glaub-wuumlrdigkeit des Dargebotenen andererseits

In der Historia Augusta sind die Inkongruenzen mit der Freude des Autors amliterarischen Spiel erklaumlrt worden Der Autor habe aus Freude am Fabulieren(vielleicht auchumein dafuumlr empfaumlngliches Publikum zu befriedigen) die Viten indieser Form verfasstsup3⁷⁴ Mag man dies fuumlr die Historia Augusta noch zugestehenderen Text uumlber einen laumlngeren Zeitraum vielleicht zunaumlchst ohne eine Gesamt-konzeption entstanden ist und auch sprachlich nicht herausragt stellt sich derSachverhalt fuumlr Martianusrsquo De nuptiis anders dar Das Werk hat durchaus einenliterarischen Anspruch und es folgt eindeutig einer vorab geplanten Gesamtan-lage Die Freude am Spiel mag vielleicht manches Detail beigesteuert haben fuumlrdie verschraumlnkte Anlage des Textes ist sie aber keine Erklaumlrung

Ganz anders ist der Anspruch zum Ende der Darstellung der Viten der bdquoDreiszligig Tyrannenldquoin dem der Autor beteuert seinem Werk mangele es zwar an literarischer Ausgefeiltheit nichtjedoch an Faktentreue da nunc cuivis libellum non tam diserte quam fideliter scriptum ndash sbquoGibnun dieses Buumlchleinwem du magst es ist nicht so sehr kunstvoll geschrieben wie es sachgetreuistlsquo (SHA Quadr tyr 33 8) Syme nennt dies bdquodeceit for its own sweet sakeldquo (1983c 217) Im gleichen Aufsatz spe-kuliert er auch uumlber das Interesse des Publikums an einer solchen Art von geistigem Spiel(ibid 221)

2 De nuptiis als literarisches Werk 153

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Es lohnt sich jedoch auch fuumlr die Historia Augusta einen Schritt weiter zugehen Ausgangspunkt dafuumlr ist die obige Beobachtungdass das literarische Spielder Historia Augusta nur durchschaut wer die Werke der historischen Literaturkennt Durch die Lektuumlre historiographischer Biographien bringt der Leser einebestimmte Leseerwartung also implizite Vorstellungen mit wie das Werk aus-sehen soll und wird Diese Erwartungen werden aber nicht oder nur teilweisebedient Formal gesehen weisen die Viten in der Historia Augusta zwar die Cha-rakteristika der Gattung auf ndash doch indem sie sie inhaltlich nicht adaumlquat aus-fuumlllen treten deren Konventionen vor Augen

Durch die uumlbermaumlszligige Verwendung falscher Verweise und erfundener Quel-len geraumlt zudem das Beglaubigungsverfahren historischer Texte in den Blick-punkt Der Leser erkennt anwelchen Stellenwelche Beglaubigungsmechanismenansetzen und auf welche Weise sie unterlaufen werden koumlnnen Uumlberspitzt lieszligesich behaupten DieHistoria Augusta verfolgt ein aufklaumlrerisches Interesse indemsie (spielerisch) aufzeigt welche Beglaubigungsverfahren die Geschichtsschrei-bung nutzt und wie sie manipuliert werden koumlnnen dadurch wird auch die Ma-nipulierbarkeit von Geschichte und Leser deutlich

In De nuptiis werden ebenfalls die Konventionen der Einzelgattungen ndash zu-mindest ansatzweise ndash hervorgehoben Dass kein perfektes Musterbeispiel derjeweiligen Einzelgattung entstehen kann liegt darin begruumlndet dass durch dieVerbindung der vier literarischen Genres keine oberflaumlchliche Konsistenz derFiktion entstehen kannVielmehr entstehen Bruumlche die ndash ebenso wie die Bruumlchein der Erzaumlhlhaltung ndash auch die Gattungskonventionen und ihre Annahmendeutlich werden lassen Dies gilt besonders fuumlr die Satire deren Vorgehen imKontrast zur eigentlichen Hochzeitshandlung aus dem Rahmen faumlllt und somitbesonderes Augenmerk erhaumllt Hinzu tritt mit der Figur Satura auch eine Perso-nifikation der Gattung die in theoretischen Diskussionen Annahmen und Vor-gehen mit Martianus eroumlrtert Grunduumlberlegungen der Gattung Satire werden sotheoretisch eroumlrtert und praktisch erprobt Gleiches giltwenn auch zT inwenigerdeutlicher Form auch fuumlr die anderen Formen Die Enzyklopaumldie in ihren langenMonologen wird durch Spott markiert die trockenen Kuumlnste werden probeweisedurch Allegorien zugaumlnglicher gemacht im Symposiondialog wird uumlberlegt in-wieweit uumlbliche Rollenmuster (der Zecher) einen Platz haben oder wie weit mandie fuumlr die Feier typischen Reden fuumlhren kann und immythischen Teil wird durchdie Gegenuumlberstellung mit dem handfesten Wissensbetrieb die Andersartigkeitdes Erzaumlhlens deutlich

So werden neben den Inhalten der Wissenschaften auch verschiedene lite-rarische Formen bewahrt Neben der reinen Anwendung und somit Tradierungwerden gleichzeitig auch die Mechanismen verdeutlicht deren sich die jeweilige

154 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Gattung bedient Somit wird ihr Funktionieren nachvollziehbar und in der Folgeauch nachahmbar

3 Zusammenfassung

Martianus weckt also durch die Wahl mehrerer gleichberechtigter Erzaumlhler diesomit das Erzaumlhlen unzuverlaumlssig werden lassen besonders aber durch dieUumlbernahme satirischer Gattungselemente ein Bewusstsein fuumlr die traditionellenGrundlagen desWissens- und Lehrsystems seiner Zeit ImGegensatz zur Satire diediese Fragen kategorisch stellt handelt es sich in De nuptiis um ein Spiel damitDer Satirebezug dient als Anknuumlpfung an die traditionellen Gattungsmerkmaleder menippeischen Satire Karnevaleske und Dialogizitaumlt

Durch die (temporaumlre) Rolleninversion richtet sich das Augenmerk aufPhilologia als Wissenszentrum und Wissensmittlerin und fordert zum Nach-denken daruumlber heraus Im Kern hinterfragt das Werk alle Bereiche die mit Bil-dung und Bildungsvermittlung zu tun haben Was sind die Inhalte wahrer Bil-dung Gibt es eine Einheit von Bildung Wie kann sie vermittelt werden

Allerdings zielt die Kritik nicht auf eine Aufloumlsung klassischer Bildungsinhalteund Vermittlungsformen Sie regt vielmehr durch Scherz und Bruumlche zumNachdenken uumlber diese Fragen an Dabei verzichtet Martianus auf eigene Vor-schlaumlge und Konzepte und festigt so gleichsam den traditionellen Bildungs-betrieb Das von ihm dargestellte Wissen wird kanonisiert und die Darstel-lungsform in langen Reden wird es auch Die mittelalterliche Rezeption von Denuptiis zeigt dies eindrucksvoll

Wissen umfasst dabei nicht nur das Faktenwissen der Vortraumlge sondern auchdas Wissen um bestimmte literarische Formen Durch die Verbindung von vierGattungen und die Doppelung der Erzaumlhlerfigur mit Reflexion uumlber angemessenesErzaumlhlen entstehen Inkonsistenzen die die Konventionen der einzelnen Gattun-gen hervortreten lassen Nicht alle Elementewerden auf dieseWeise deutlich aberMartianus bietet einen Ansatzpunkt die Fiktion auch unter der Fragestellung zulesen was einen Text der jeweiligen Gattung ausmacht ndash sowohl positiv wie ne-gativ formuliert

Mit seiner kreativen Konzeption und ihrer literarischen Umsetzung gelingt esMartianus eindrucksvoll Heiteres und Belehrendes zu verbindenwomit er an dieTradition Varros und die klassische antike Poetik anknuumlpft Es gelingt ihm daruumlberhinaus aber auchWissen zu vermitteln und die traditionellen Vorstellungen vonder Bedeutung dieses Wissens wie der Form seiner Vermittlung herauszustellenSpielerisch wird also gelehrt und hinterfragt nicht jedoch kategorisch kritisiertoder kuumlhn neu entworfen Gerade dadurch zeichnet sich Martianusrsquo De nuptiis

3 Zusammenfassung 155

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

tatsaumlchlich als nescioquid inopinum intactumque (sbquoetwas Ungewohntes und nochnie Gewagteslsquo 1 2) aus und macht es zu einem der bedeutendsten Buumlcher derSpaumltantike und zu einer interessanten Quelle fuumlr die Frage nach Bildungsvor-stellungen im fuumlnften Jahrhundert

156 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Page 6: Bildungsvorstellungen im 5. Jahrhundert n. Chr. (Macrobius, Martianus Capella und Sidonius Apollinaris) || III Martianus Capella, De nuptiis Philologiae et Mercurii

2 De nuptiis als literarisches Werk

Bereits eine erste unbefangene Lektuumlre von De nuptiis hinterlaumlsst den Eindruckdass Martianus ein anspruchsvolles und komplexes Werk hinterlassen hat Nacheiner kurzen Szene zu Beginn in der sich der Erzaumlhler Martianus mit seinem Sohnunterhaumllt und die am Ende als Rahmen wieder aufgegriffen wird beginnt einemythische Schilderung der Hochzeitsvorbereitungen von Merkur und PhilologiaMerkur macht sich mit Hilfe von Virtus auf die Suche nach einer Braut sucht undfindet Apoll der ihm die sterbliche Philologia als Braut vorschlaumlgt bittet denGoumltterrat um die Genehmigung zur Hochzeit und erhaumllt sie (Buch 1) Als Philologiavon dem Plan erfaumlhrt uumlberlegt sie mit kabbalistisch anmutenden Berechnungenob die Ehe guumlnstig sei bereitet sich auf die Hochzeit durch eine Reinigung vor beider sie ihr bisher gesammeltes Wissen erbricht und steigt in einer Saumlnfte uumlber dieHimmelssphaumlren auf zur Milchstraszlige wo die Hochzeit stattfindet (Buch 2)Waumlhrend der Hochzeitsfeierlichkeiten laumlsst der Ehemann zu Ehren der Brautsieben Brautjungfern auftreten die ihr dienen sollen Diese stellen in langenReden ihr Wissen vor Es sind die spaumlteren sieben freien Kuumlnste (Buumlcher 3 bis 9)Eingelegt in diese Berichte sind kurze Szenen von der Hochzeitsfeier und Wort-wechsel zwischen dem Erzaumlhler Martianus und einer weiteren Erzaumlhlerfigur Sa-tura

Leser von De nuptiis besonders moderne sehen sich vor vielfaumlltige Fragenund Probleme gestelltwenn sie versuchen die Schrift mit ihren unterschiedlichenAspekten zu verstehen Eine umfassende Interpretation ist aber gerade bei diesemWerk Voraussetzung fuumlr eine Beantwortung nachrangiger Fragen Daher soll indiesem Teil ein Beitrag zum Gesamtverstaumlndnis von De nuptiis versucht werdenDer Zugang soll rein literarisch erfolgen woran sich einige weitere Uumlberlegungenanschlieszligen

Eine Analyse der literarischen Form von De nuptiis muss folgende beidenAspekte beruumlcksichtigen einerseits die Anknuumlpfung an Gattungstraditionenund ndash damit verbunden ndash die Frage nach der literarischen Form von De nuptiis alsGanzem andererseits die narrative Gestaltung des Werkes

Die FormvonMartianusrsquoDe nuptiis zu bestimmen ist keine einfache AufgabeDies liegt an der Vielzahl von Bezuumlgen und kompositorischen Ideen die eineeindeutige Identifizierung erschweren Ausdruck findet dieser Umstand darindass in dermodernen Forschung verschiedene Elemente benanntwerden die eineGattungszuordnung ermoumlglichen Das Ergebnis ist jedoch meist eine Aufzaumlhlung

und engt den Zeitraum der Abfassung auf die Herrschaft Thrasamunds (496ndash523) ein (Grebe2000 363ndash365 bes 368)

2 De nuptiis als literarisches Werk 119

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

vonmoumlglichen Zuordnungen die eine Festlegung vermeidetsup2⁷⁰Die Untersuchungwird besonders vier Traditionsstraumlnge fokussieren das Lehrbuch bzw die Enzy-klopaumldie die Symposionliteratur die mythisch-allegorische Erzaumlhlung und diemenippeische Satiresup2⁷sup1 Es wird nach dem Zweck der Anknuumlpfung an diese Tra-ditionen zu fragen sein um dann zu pruumlfen welche Wirkung die Verbindungdieser Formen hervorruft

Einen besonderen Schwerpunkt wird die Herausarbeitung der satirischenElemente in De nuptiis darstellen Trotz ihrer relativen Prominenz sind bislangnicht alle Elemente beachtet wordensup2⁷sup2 Und da aus diesen Beobachtungenwichtige Folgerungen fuumlr das Gesamtverstaumlndnis vonDe nuptiis abgeleitet werdenmuumlssen diese zunaumlchst ausfuumlhrlich erhoben werden

Eingelagert in die Analyse der satirischen Elemente von De nuptiis wird dieFrage nach der narrativen Gestaltung unter dem Blickwinkel der Erzaumlhlinstanzenthematisiert In der Schrift konkurrieren zwei Erzaumlhlerfiguren Martianus undSatura um die Verantwortung fuumlr das Erzaumlhlte wie um das richtige Vorgehen beimErzaumlhlen Es ist zu bestimmen in welchem Verhaumlltnis beide Erzaumlhlerfiguren zu-einander stehen und welchem Zweck diese Doppelung dient

21 Die literarische Form

EnzyklopaumldieIm Gegensatz zu Macrobiusrsquo Saturnalia ist De nuptiis dem Sohn nicht als Werk derBelehrung gewidmetVielmehr spricht Martianus von der fabella (1 2) bzw fabula

Paradigmatisch ist die Konstatierung der Aporie bei LeMoine die nach der Aufzaumlhlungvon Vorbildern das Kapitel zur literarischen Form ohne weitere Uumlberlegungen so abschlieszligtbdquobut the De nuptiis in the diversity of its content language and form is truly unlike anythingwritten either before or sinceldquo (LeMoine 1972a 8) Vgl auch Relihan bdquoit is a mixture thatfrustrates senseldquo (Relihan 1993 15) Bisherige Interpretationen haben jeweils unterschiedliche Traditionen benannt und derVermischung der Formen wenig Beachtung geschenkt EnzyklopaumldieLehrbuch (Marinone 197018 Lommatzsch 1904 190) Lehrbuch mit menippeischen Momenten (Dronke 1994 36)menippeische Satire (LeMoine 1972a 7) menippeische Satire und Symposionform (Petrovićovaacute2004 85) Mischung aus Enzyklopaumldie menippeischer Satire und platonischem Mythos (Barnish1986 98) menippeische Satire und Epithalamium (Cristante im Vorwort seiner Ausgabe 3 und21 Bovey 2003 10) Mischung aus philosophischem und allegorischem Roman (Boumlttger 1947590) Allegorie mit Fachschriftstellerei (Guillaumin 2008 168) Roman mit Elementen desSymposions (Stahl 1971 26) Mischung aus menippeischer Satire Allegorie fabula und Sym-posiondialog (LeMoine 1972b 214) Gelegentlich wird das satirische Element in De nuptiis sogar deutlich heruntergespielt oderumgedeutet vgl u a Grebe 1999 855 f Petrovićovaacute 2010b

120 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

(2 219) die das Buch ausmacht und die der Sohn houmlren bzw der Leser lesen sollsup2⁷sup3Erscheint es zunaumlchst so als ob die Erzaumlhlungmit dem zweiten Buch endet und abdem dritten nur ernste Abhandlungen folgen sollen (2 219 f) korrigiert Martianusdiesen Eindruck jedoch gleich zu Beginn des dritten Buches Dort laumlsst er sich voneiner nicht benannten Muse (Camena) das Versprechen abnehmen auch weiter-hin fiktionale Elemente zu nutzen

Der anfaumlnglich ins Auge gefasste Verzicht auf Fiktion (fictum) fuumlr die fol-genden wissenschaftlichen Partien (disciplinae sobriae)sup2⁷⁴ betont jedoch derenRelevanz und das Interesse an zuverlaumlssiger Belehrung Waumlhrend sich fuumlr denInhalt der Buumlcher 1 und 2 eine Erzaumlhlung als gut geeignet erwies widersprachdiese fuumlr Martianus dem Wesen der anschlieszligenden Vortraumlge welchen dadurchgroumlszligeres Gewicht zufaumlllt

Der scheinbare Konflikt wird dadurch geloumlst dass die Vortraumlge an sich in dergeplanten trockenen Form gehalten werden Sie sind jedoch in die uumlber alle neunBuumlcher fortgesetzte Erzaumlhlung der Hochzeit Merkurs mit der Philologie einge-bettet Der Handlungsfortschritt zwischen den Vortraumlgen ist nicht groszlig sondernbeschraumlnkt sich meist auf das Evozieren von Eindruumlcken und die Bezugnahme auftraditionelle gattungsspezifische Elemente (vgl z B die Elemente des Symposi-ondialogs)

Dass Martianus schlieszliglich das ganze Werk mit seinen erzaumlhlenden und be-lehrenden Teilen als fabula betrachtet wird in der abschlieszligenden Sphragisdeutlich Dort heiszligt es

Habes anilem Martiane fabulammiscillo lusit quam lucernis flamineSatura Pelasgos dum docere nititurartes daggercagris vix amicas Atticis (9 997)

Da hast du Martianus eine Altweibergeschichte welche bei Kerzenschein Satura mit ge-mischtem Liede [d h in Prosa und Vers] spielend hervorbrachtewaumlhrend sie sich bemuumlhtedie Pelasger zu lehren die Kuumlnste die den Griechen kaum freundlich [d h neu] sind

Der Begriff des mythos der dreimal in De nuptiis auftritt ist eng auf den allegorischenInhalt der Buumlcher 1 und 2 beschraumlnkt und entspricht in etwa dem was Macrobius unter narratiofabulosa versteht (Bovey 2003 38ndash42) Beide Wendungen 2 220 ndash Zur Frage der Bezeichnungen als artes bzw disciplinae in-klusive der Begriffsentwicklung vgl Bovey 2003 64ndash87

2 De nuptiis als literarisches Werk 121

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

So unklar der Inhalt der Wendung Pelasgos docere istsup2⁷⁵ wird doch deutlich dassMartianusmit den vorausgegangenen 9 Buumlchern belehrenwolltewas allein schondie systematische Anlage (sieben Kuumlnste Reflexion uumlber weitere Wissenschaftenin 9 891) und die Fuumllle des Stoffes nahelegen

Der enzyklopaumldische Teil umfasst die Buumlcher 3 bis 9 von De nuptiis Zunaumlchsttreten die Kuumlnste Grammatik Dialektik und Rhetorik auf und stellen ihre Disziplinvor (Buumlcher 3 bis 5) Davon deutlich abgesetzt durch einen Hymnus auf PallasAthene zu Beginn von Buch 6sup2⁷⁶ folgen die Wissenschaften des spaumlteren Qua-driviums Geometrie Arithmetik Astronomie und Harmonie (Buumlcher 6 bis 9)Diese werden wiederum in zwei Zweiergruppen unterteilt Eine unmittelbareVorlage dafuumlr laumlsst sich nicht erkennen aber auch bei Boethius findet sich eineZusammenfassung der vier mathematischen Faumlcher die von der Forschung aufNikomachos von Gerasa zuruumlckgefuumlhrt wirdsup2⁷⁷ Eine Anordnung nach steigendemAnsehen der Kuumlnste ist auch durch Groumlszlige und Zusammensetzung des Gefolgesund die Reaktionen der Goumltter erkennbarsup2⁷⁸

Die Vortraumlge der Kuumlnste selbst entsprechen dem Charakter von Fachschriftenwas vor allem auf der streckenweise woumlrtlichen Wiedergabe der zugrunde lie-genden Quellen beruht Durch den Umfang den kleinschrittigen Aufbau und diesprachliche Sproumldigkeit wirken diese Reden wie ein Fremdkoumlrper in der Ge-schichte der Hochzeitsfeierlichkeiten und lassen manchen anwesenden Gottmuumlde werden oder gereizt reagierensup2⁷⁹

In der Regel sind die Vortraumlge aus einer odermehrerenVorlagen uumlbernommenwobei Martianusrsquo Eigenbeitrag vor allem in der Auswahl und Zusammenstellungder Quellen liegt Ein prominentes Beispiel fuumlr Martianusrsquo Vorgehen ist die Be-zeichnung Konstantinopels als Byzanz (6 670) Die Stelle kann nicht ndash wie haumlufiggeschehen ndash zur Datierung herangezogen werden sondern offenbart Martianusrsquo

Cristante versteht die Stelle woumlrtlich wenn er formuliert Martianus wolle das baumlurischeItalien belehren (Cristante 1978 679) waumlhrend Parker die Bedeutung des Wortes Pelasgi garnicht genau bestimmen moumlchte (Parker 1890 454) Zu dieser Passage und der Bedeutung dieses zweiten sbquoBinnenprooumlmslsquo vgl Bovey 2003227ndash237 sowie Zaffagno 1998 Rechenauer 1994 Sp 1177 Waumlhrend Grammatik allein eintritt (3 223) wird Harmonia von vielen auch beruumlhmtenBegleitern eingefuumlhrt und ihr Einzug wird von Musik begleitet (9 905ndash909) Ihr Vortrag ruft beiden Goumlttern Freude hervor (9 996) waumlhrend der Vortrag von Grammatik neutral zur Kenntnisgenommen wird (3 326) und der Vortrag von Dialektik aufgrund des Unwillens der Zuhoumlrersogar abgebrochen werden muss (4 423) Vgl Relihan 1987 64 und Bovey 2003 10 die voneinem bdquoparcours ascendant et cycliqueldquo spricht 4 423 5 565 6 723

122 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

unkritischen Umgangmit seinen Quellensup2⁸⁰Meist liegt der Darstellungder Kuumlnstenicht jeweils eine Fachschrift zugrunde sondern sind mehrere Werke heran-gezogen und zusammengestelltsup2⁸sup1

Die Auswahl der Faumlcher erfolgt nicht willkuumlrlich Die Tradition der um-fassenden Bildung die sich hinter dem Begriff der ἐγκύκλιος παιδεία verbirgtsup2⁸sup2der von Martianus auch in lateinischer Uumlbersetzung verwendet wirdsup2⁸sup3 umfassteim Laufe der Jahrhunderte einen wechselnden Faumlcherkanon Im Kern waren je-doch immer sowohl sprachliche Faumlcher als auch im weiteren Sinne mathemati-sche Faumlcher darin vertretensup2⁸⁴ Die Siebenzahl war dabei nicht kanonisch eskonnten auch neun Faumlcher (Varro) dazugehoumlren oder ein nicht genau umrissenerFaumlcherkanon (Boethius)sup2⁸⁵

Gegenuumlber der Tradition stellt Martianusrsquo Faumlcherauswahl keine grundlegendeNeuerung dar Grammatik Rhetorik und Dialektik waren meist Bestandteil derumfassenden Bildung und auch Geometrie Arithmetik Astronomie und Musikgehoumlrten haumlufig dazusup2⁸⁶ Der Ausschluss weiterer Kuumlnste wie der Medizin und der

Vorlage ist an dieser Stelle Plinius (Plin nat 5 24f) Vgl Grebe 2000 354 Typisch ist dieEinschaumltzung Krapingers der De nuptiis ein niedriges fachliches Niveau bescheinigt (bdquoevidentesachliche Defiziteldquo Krapinger 1999 962) Vgl auch die Anrufung Minervas zu Beginn desQuadriviums 6 574 in der Martianus explizit um Inspiration in Bezug auf die griechischenKuumlnste bittet Ein Blick in den Similienapparat zeigt dass Martianus fuumlr das sechste Buch uumlber dieGeometrie hauptsaumlchlich auf drei Autoren zuruumlckgegriffen hat Solinus Plinius und Euklid Vglauch Willisrsquo Anmerkung in seiner Ausgabe non moris fuisse Martiano ut per integrum librumunum sequeretur auctorem (309) Sehr aufschlussreich ist beispielsweise die Untersuchung vonBarbara Ferreacute in der Einleitung zur Ausgabe (xxiv-xxvii) Vgl auch die Beitraumlge von Schievenin(2009a und 2009b) die neben der unmittelbaren Fragestellung auch eine weitere Einordnungbieten Einen konzisen und modernen Uumlberblick uumlber die Entwicklung des Konzeptes bietetRechenauer 1994 Die Monographie von Hadot (Hadot 2005) ist immer noch das Standardwerk 9 998 (disciplinae cyclicae) Hadot 2005 265ndash267 Marrou 1958a 2 Teil bes die Uumlbersicht 216ndash217 Rechenauer 1994Grebe 1999 37ndash50 Uumlber die Siebenzahl ihren Ursprung ihre Festlegung sowie ihre endguumlltige inhaltlicheFuumlllung ist bislang kein Konsens erzielt worden deutlich ist aber dass Martianus Capella undAugustin bei ihrer Kanonisierung und Ausgestaltung eine entscheidende Rolle gespielt habenbdquoLa question de lrsquoorigine du cycle des sept arts libeacuteraux est irreacutesolue et en partie insoluble maisles deux auteurs drsquoorigine africaine [Martianus Capella und Augustin] jouegraverent un rocircle con-sideacuterable dans le triomphe de ce programme drsquoeacutetude au moyen acircgeldquo (Zelzer 2003 249) ndash ZurNeunzahl der Faumlcher bei Varro als Anlehnung an die Musen vgl Huumlbner 2004 S die in Anm 284 genannte Literatur

2 De nuptiis als literarisches Werk 123

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Architektur wirdmit Verweis auf den fortgeschrittenenAbendund diemenschlich-praktische Seite der Faumlcher erklaumlrtsup2⁸⁷

Im Detail nimmt Martianus aber durchaus Aumlnderungen vor So geht es imneunten Buch von De nuptiis nicht um die Musik im Allgemeinen sondern um dieHarmonie Diese Umgewichtung steht sicher in Zusammenhang mit der verbin-denden und vereinigenden Grundkonzeption von De nuptiis die zu Beginn desersten Buches (1 1) durch den Hymnus auf Hymenaeus den verbindendenHochzeitsgott ausgedruumlckt wurdesup2⁸⁸ Unterstuumltzt wird diese Eigenwilligkeit durchdie praktische Darbietung von harmonischem Gesang der die theoretischenAusfuumlhrungen ergaumlnzt und steigert (9 911ndash919 9 996)

Auch bei der Behandlung der Geometrie in Buch 6 greift Martianus in dietraditionelle Darstellung des Wissens ein Anstatt die Ausfuumlhrungen auf geome-trische Fragen und Lehrsaumltze zu beschraumlnken erweitert Martianus sie um einenausfuumlhrlichen geographischen Teil der um einiges laumlnger ist als der geometrische(Geographie 6 586ndash703 Geometrie 6 705ndash723) Ferreacute erkennt dahinter vor al-lem ein literarisches Ziel Die vorhandene Stoffmenge zur Geometrie sei zu kleingewesen so dass Martianus sie habe erweitern muumlssen damit das sechste Buchnicht bedeutend kuumlrzer werde als die uumlbrigen Buumlchersup2⁸⁹

Veraumlndert Martianus also gelegentlich aus kompositorischen Gruumlnden dietraditionelle Darstellung der Kuumlnste so kann man dies auch in der Zusammen-fuumlhrung der vielen Spezialschriften in einemWerk erkennenUmfasst das Konzeptder ἐγκύκλιος παιδεία zwar einen breiten Faumlcherkanon an den sich Martianusauch weitgehend haumllt so ist die Darstellung aller Faumlcher in nur einem Werk un-gewoumlhnlich

Uumlblich war die Form der Abhandlung der die Beschaumlftigung mit einer Dis-ziplin zugrunde lag Als Beispiele kann auf nahezu alle antiken fachwissen-schaftlichen Schriften verwiesen werden Ausnahmen sind allein die Sammel-schriften die aber explizit andere Ziele verfolgen und keinen Fachbereichgruumlndlich bearbeiten

Diese Feststellung gilt auch fuumlr die anderen Autoren mit teilweise sbquoenzyklo-paumldischemlsquo Programm z B Augustin oder Boethius Augustins bdquoBildungspro-grammldquosup2⁹⁰ umfasste aumlhnliche Faumlcher wie Martianus sie versammelte doch ver-

9 890ndash891 Hadot nimmt an dass diese Disziplinen nicht per se als unwichtig angesehenoder in bewusster Abgrenzung von Varro ausgeschlossen worden seien sondern weil sie nichtzur bdquoSchau der goumlttlichen Weisheitenldquo fuumlhren wuumlrden (Hadot 2009 16) Zu dieser Stelle und zu dem im Hymnus ausgedruumlckten philosophisch-poetischen Pro-gramm vgl LeMoine 1972a 14 Stahl 1971 86 Relihan 1993 61 Schievenin 2009c So Ferreacute im Vorwort ihrer Ausgabe xlvi Den Begriff verwendet Studer 2007 522

124 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

fasste Augustin zu den einzelnen Disziplinen jeweils eine eigene Schrift (mit derFolge dass er nicht alle Faumlcher behandelt hatte als er das Projekt aufgab wohlaber einige Themen abgearbeitet und die Buumlcher erschienen waren)sup2⁹sup1 Aumlhnlichverhaumllt es sich mit Boethius der sich etwa einhundert Jahre spaumlter ebenfalls mitverschiedenen Wissensbereichen beschaumlftigte Trotz der Leistung des Martianussetzte Boethius sein Vorhaben aber so um dass er den verschiedenen Disziplineneinzelne Abhandlungen widmetesup2⁹sup2

Allein Varro hat seinem breiten Œuvre an Spezialschriften auch noch ein imengeren Sinne enzyklopaumldisches Werk zugefuumlgt die Disciplinae Darin beschaumlftigtsich Varro mit dem gleichen Faumlcherkanon wie Martianus (unter zusaumltzlicherAufnahme der Medizin und Architektur) Da das Werk aber verloren ist und auchnur spaumlrliche Testimonien vorhanden sind laumlsst sich nicht abschaumltzen inwieferntatsaumlchlich eine einheitliche Schrift vorgelegen hat und welches Ziel Varro mit ihrverfolgtesup2⁹sup3

MartianusrsquoWerkDe nuptiis ist die erste erhaltene Enzyklopaumldie der Antike undduumlrfte somit maszliggeblich zum heutigen Verstaumlndnis des Begriffs der Enzyklopaumldieals eines einzigenWerkes das alles Wissen enthaumllt beigetragen haben Der Grundfuumlr Martianusrsquo ungewoumlhnliches Vorgehen duumlrfte in dem augenscheinlichen Plander Verbindung aller Disziplinen liegen der auch zu Beginn des Werkes durch diePreisung des Hymenaeus ausgedruumlckt wirdsup2⁹⁴

Zu Augustins Plan vgl retract 1 6 (Per idem tempus quo Mediolani fui baptismum per-cepturus etiam disciplinarum libros conatus sum scribere ndash sbquoZu der Zeit als ich in Mailand balddie Taufe empfangen sollte habe ich versucht auch Buumlcher uumlber die Faumlcher zu schreibenlsquo)begonnen und teilweise erhalten sind gramm mus und evtl dialect Neben den Schriften zur Theologie und zur Logik sind die Schriften zur Arithmetik(arithm) zur Musik (mus) und zur Rhetorik (in top divis) zumindest teilweise erhalten Hinzukommen Uumlbersetzungen astronomicher und geometrischer Fachschriften Zu Boethiusrsquo Fach-schriften und seinem Programm vgl Chadwick 1981 69ndash107 Das spaumlrliche Wissen spiegelt auch die knappe Einfuumlhrung von Cardauns 2001 Sie um-fasst fuumlr die Disciplinae inklusive Literaturverweisen knapp zwei Seiten (77ndash78) und bietet wenigsichere Informationen Eine interessante gleichwohl stark negative Antwort auf die Zusammenstellung derKuumlnste in einem Werk bietet Voumlssing der damit gleichzeitig aber auch die Einzigartigkeit desVorgehens herausstellt bdquoWas in den mittelalterlichen Kloumlstern als Summe antiker Bildung galtwar wohl nur das Resultat der Selbstdarstellung eines ehemaligen Advokaten der dem gebil-deten Publikum seiner Stadt demonstrieren wollte dass er mehr konnte als plaumldieren und mehrwusste als der normale scholasticus den uumlberlieferten prestigetraumlchtigen Bildungsstoff allersieben artes ndash der uumlblicherweise nur in einzelnen Fachbuumlchern (und bezogen auf einzelneDisziplinen) praumlsentiert wurde ndash in einem Werk zusammenzufassen und einzubetten in einironisches literarisches Spiel So hoffte er beides zu haben den Ruhm der Bildung und den derparodistischen Distanzierung An eine spezifische Programmatik dachte er bei seiner Enzyklo-

2 De nuptiis als literarisches Werk 125

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Welches (philosophische oder literarische) Konzept dahinterstand und in-wieweit Martianus sein Vorhaben uumlberzeugend umsetzen konnte wird unter-schiedlich bewertetsup2⁹⁵Wie das Urteil auch ausfaumlllt gilt es doch zu beachten dassneben den enzyklopaumldischen Teilen mit ihrem traditionellen Inhalt in teils tra-ditioneller teils neuer Form auch andere narrative Strategien zum Einsatz kom-men die fuumlr eine umfassende Deutung und Bewertung ebenfalls beruumlcksichtigtwerden muumlssen

Literarisches SymposionEine andere Gattungstradition die fuumlr die Anlage von De nuptiis genannt werdenmuss ist die Form des literarischen Symposions In diesem Punkt besteht eineVerbindung zu Macrobiusrsquo Saturnalia deren Symposionform im entsprechendenKapitel untersucht worden istsup2⁹⁶

Auch inDe nuptiis lassen sich einige konstitutiveMerkmale eines literarischenSymposions aufzeigen Das Geschehen in den Buumlchern 3ndash9 spielt anlaumlsslich einerFeierlichkeit (der Hochzeit) an einem besonderen Ort (auf der Milchstraszlige)sup2⁹⁷ andem sich geladene Gaumlste (Goumltter Heroen etc) versammeln Den Vorsitz der Fei-erlichkeiten hat (gewissermaszligen als Symposiarch) Jupiter inne Es gibt zwar keineungeladenen Gaumlste doch Silen erfuumlllt die Rolle des Zechers und er verlaumlsst dieFeier vorzeitig (8 805) Auch die Liebe kommt nicht zu kurz indem Venus ihreReize spielen laumlsst (6 704) Voluptas mit Merkur flirtet (7 725ndash727) und Hymen-aeus mit seinem anzuumlglichen Gesang das Geschehen der Hochzeitsnacht zu-

paumldie ebenso wenig wie er seinen Platz im sbquoLehrplan des Abendlandeslsquo vorhersehen konnteldquo(Voumlssing 2008 404) Weit verbreitet ist die Ansicht Martianus habe eine Art Summe der antiken Gelehrsamkeiterstellt (Cristante im Vorwort seiner Ausgabe 27 Ferrarino 1969 2 Bovey 2003 20 Cristante2009 [3] Schievenin 2009a 77) Die gegensaumltzliche Position formuliert bereits Parker bdquo[I]t isclear that the seven arts were never supposed to include the whole circuit of human knowledgeMartianus Capellarsquos list was a reduction of Varrorsquos and Varrorsquos was not supposed to include allknowledgeldquo (Parker 1890 459) S o Kap II4 Dort werden auch die typischen Merkmale dieser literarischen Form vor-gestellt Die Milchstraszlige in der Darstellung bei Martianus greift zwei Aspekte auf die allerdingsschon lange vor ihm verbunden worden sind Einerseits ist die Milchstraszlige der Ort an den dieauszligergewoumlhnlichen Menschen nach ihrem Tod gelangen (Cic rep 6 16 Manil 1 758ndash800)andererseits ist auch die Vorstellung nicht ungewoumlhnlich dass dort der Wohnsitz der Goumltter zufinden sei (Ov met 1 170ndash 176 Manil 1 801ndash804) Bei Martianus versammeln sich dort dieGoumltter doch ist dies auch der Ort an den die vergoumlttlichte Philologia gelangt ndash abgesehen vonden uumlbrigen herausragenden Menschen die sich im Gefolge sbquoihrerlsquo Brautjungfer dort versam-meln

126 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mindest andeutet (9 902 f) wenn die Ausfuumlhrung auch nicht beschrieben wird(9 996)

Das auffaumllligsteMerkmal sind aber die Reden die gehaltenwerden Sie aumlhnelnzwar nicht dem Inhalt wohl aber der Form nach der monologischen Anlage derSymposiongespraumlche bei Platon oder (stellenweise) Macrobius Ebenso passt derInhalt Bildungswissen an sich zu einem Symposion auch wenn er hier sehrausfuumlhrlich und ohne Ruumlcksicht auf die primaumlren Adressaten die Goumltter prauml-sentiert wird Bei Platon sowie bei Martianus scheint der Inhalt der Gespraumlche imVorfeld noch nicht festzustehen wie die Auswahl der jeweils naumlchsten RednerindurchApoll (3 223 4 328 8 8109 891) bzw Paidia (7 728) oder die Diskussion umden Fortgang der Feier bzw die noch folgenden und auszuschlieszligenden Reden(= Kuumlnste) zu Beginn von Buch 9 zeigtsup2⁹⁸

Die Anordnung der Redebeitraumlge nach steigender Relevanz und die unter-brechungsfreie Praumlsentation der Reden erinnert ebenfalls ans platonische Sym-posion Schlieszliglich nimmt das Spiel mit der Erzaumlhlinstanz (Satura oder Martianus)die verschachtelte Erzaumlhlsituation bei Platon oder Macrobius mit ihren verschie-denen Berichtsebenen auf und formt sie umsup2⁹⁹

Mythisch-allegorische ErzaumlhlungZu den bereits genannten literarischen Vorlagen von De nuptiis tritt ein weiteresElement hinzu dessen Bedeutung und dessen eigene Vorlagen nur schwer zubestimmen sind

Besonders Shanzer weist in ihremKommentar zum ersten Buch vonDe nuptiiswiederholt auf die orphischen gnostischen und philosophisch-religioumlsen Ele-mente in den sehr bildhaften aber streckenweise schwer verstaumlndlichen erstenbeiden Buumlchern hinsup3⁰⁰ Eine umfassende Interpretation des Mythos bietet sie je-doch nicht Vielmehr beschraumlnkt sie sich auf Verweise zur Herkunft einzelnerMotive und auf die Deutung kuumlrzerer Passagen

Kupke kommt bei einer Musterung der verschiedenen mythischen Reminis-zenzen im zweiten Buch von De nuptiis zu der Feststellung dass eine eindeutige

Ein zentraler Unterschied besteht jedoch darin dass die Vortraumlge nicht von den Gaumlstengehalten werden sondern dass die Gaumlste also die Goumltter nur Zuhoumlrer sind waumlhrend die Kuumlnstereden Hierin erinnert De nuptiis eher an Julians Caesares in denen die versammelten Goumltter jaauch wenig sprechen wohl aber die roumlmischen Kaiser die ndash wenn auch um einiges knapper ndashihre Leistungen darstellen Ausfuumlhrlicher dazu im weiter unten folgenden Abschnitt uumlber die Erzaumlhlinstanzen Shanzer 1986c passim

2 De nuptiis als literarisches Werk 127

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

und kohaumlrente Decodierung aller Verweise undAnspielungen nichtmoumlglich seisup3⁰sup1Ihrer Ansicht nach ist es dem modernen Leser nurmehr moumlglich einzelnen Ver-weisen nachzugehen und sie aufzuzeigensup3⁰sup2

Trotz der benannten Schwierigkeiten darf bei allen Fragen nach literarischenVorlagen nicht vergessen werden dass De nuptiis vor allem (aber nicht aus-schlieszliglich) auch ein allegorisches Werk ist Die imposante Schilderung der vierFluumlsse in Buch 1 Apoll auf demParnass-Huumlgel die allegorischen Figuren undvieleweitere Elemente sind nicht nur kreative literarische Erfindungen sondern for-dern zu einer uumlbertragenen Lesart des Werkes auf Besonders die ersten beidenBuumlcher die den Mythos enthalten muumlssen aus diesem Blickwinkel gelesen undverstanden werden

Zu verweisen ist auszligerdem auf die Bezeichnung der Erzaumlhlung als fabula oderfabella Neben der naheliegenden Bedeutung von sbquoErzaumlhlung Geschichtelsquo imallgemeinen Sinn ist sicher auch an die Diskussion um die Berechtigung von fa-bulae in Macrobiusrsquo Somnium-Kommentar zu denken Dort verteidigt Macrobiussowohl Platon als auch Cicero gegen den Vorwurf fiktive Geschichten zu benut-zen um philosophische Wahrheiten zu verkuumlnden In bestimmten Faumlllen seidieses Vorgehen gerechtfertigt solange es sich um wahrhaftige und belehrendeErzaumlhlungen handlesup3⁰sup3 Diese Voraussetzung kann man auch fuumlr De nuptiis alserfuumlllt ansehen Da Martianus zudem dem Neuplatonismus aumlhnlich nahesteht wieMacrobiussup3⁰⁴ ist von einer bewussten Entscheidung zugunsten einer literarischenDarstellung auszugehen

Den einzigen Versuch einer umfassenden Deutung verschiedener Elementedes Mythos und der allegorischen Darstellung hat ndash unter Vernachlaumlssigung ei-niger Details ndash bislang Lenaz unternommen In der ausfuumlhrlichen Einleitungseines Kommentars zum zweiten Buch von De nuptiis untersucht er die philoso-phisch-religioumlsen Motive in diesem Buch und kann Verbindungen zur Myste-

Kupke 1998 154 Kupke 1998 159 Fuumlr den spaumltantiken und den mittelalterlichen Leser glaubt sie jedoch andie Moumlglichkeit der problemlosen Dekodierung Macr somn 1 2 21 vgl oben Anm 45 Gerade die neuplatonischen Elemente von De nuptiis sind verschiedentlich benannt wor-den auch wenn nicht immer eine einheitliche Deutung geboten wird Haumlufig genannt wird derAufstieg Philologias in den Himmel uumlber die Sphaumlrenstufen der mit einer bdquoRuumlckkehr der Seeleldquogleichgesetzt wird (z B Bovey 2003 11 Lenaz 1975 113 vgl auch Guillaumin 2008) Hinge-wiesen wird auch auf die drei Frauen die Merkur nicht heiraten wollen (Sophia Mantike undPsyche 1 6ndash7) und die drei Seelenteile darstellen sollen deren Summe aber letztlich Philologiaist (Lenaz 1975 107ndash 110) Dagegen vertritt Kupke die These die neuplatonischen Elementetruumlgen keine zusaumltzliche Sinnebene bei (Kupke 1998 153) kritisch aumluszligern sich BednařiacutekovaacutePetrovićovaacute 2010 7

128 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

rieninitiation zu platonischen Mysterien chaldaumlischen Orakeln magischenPraktiken und zur Theurgie nachweisen Im Deutungsteil verwirft er die ThesenNuchelmansrsquo und Mathonssup3⁰⁵ als zu kurz greifend Nuchelmans hatte in derHochzeit Philologias und Merkurs (mittelalterlicher Kommentar-Tradition fol-gend) eine Forderung von Martianus nach der Vereinigung von Wissen (Philo-logia) und Rhetorik (Merkur) gesehen Mathons Ansatz fuumlhrte den Verweis auf dieneuplatonische Wieder-Erinnerung und die Ruumlckkehr der Seele in dieses Modellein Ebenso wie bei Nuchelmans werden auch hier nur wenige Elemente desMythos interpretiertsup3⁰⁶

Lenazrsquo eigener Ansatzsup3⁰⁷ folgt den Uumlberlegungen Ferrarinossup3⁰⁸ und ergaumlnzt siemit einigen Hypothesen Im Kern kreise der Mythos des zweiten Buches um einedoppelte Vereinigung die (horizontale) Vereinigung allen irdischen Wissens inPhilologia mit Hilfe von Hymenaeus und die (vertikale) Vereinigung der goumlttlichenund menschlichen Sphaumlre mit Hilfe von Eros Hinzu treten Uumlberlegungen ob essich bei Philologia und Merkur eventuell um nur eine Entitaumlt handle die Seelewelche getrennt worden sei und nun wieder zusammenfinde

Diese Lesart integriert die meisten der mythischen und allegorischen Ele-mente und verbindet sie weitgehend schluumlssig zu einem umfassenden KonzeptAllerdings vernachlaumlssigt sie auch bestimmte EinzelbeobachtungenWieso steigtPhilologia vom Sphaumlrenrand wieder auf die Milchstraszlige hinab (2 200 2 206)Wieso werden ihr auf der Milchstraszlige die irdischen Kuumlnste vorgefuumlhrt die sieerbrechenmusste damit sie in den Himmel aufsteigen konnte (2 135 f)sup3⁰⁹ Bereitsdiese Fragen zeigen deutlich dass eine kohaumlrente plausible Aufloumlsung des Mythosnicht leicht moumlglich ist

Nuchelmans 1950 Mathon 1969 Lenaz 1975 105 Aumlhnliches gilt auch fuumlr Hadots Deutung Sie identifiziert Merkur mit demaumlgyptischen Gott Theuth auf den in De nuptiis 2 102 f angespielt wird und nennt ihn diebdquoPersonifizierung der goumlttlichen Vernunftldquo waumlhrend Philologia die Personifizierung dermenschlichen Vernunftseele in deren idealem Zustand darstelle Die sieben Wissenschaften unddie sieben mantischen Kuumlnste ermoumlglichten es der Seele bdquozu ihrem Ursprung dem intelligiblenBereich oder zu Gottldquo zuruumlckzukehren (Hadot 2009 21 f) Lenaz 1975 106ndash 119 Ferrarino 1969 Dieses Problem entfiele wenn man annaumlhme dass Martianus die Erzaumlhlung nur auf dieersten zwei Buumlcher angelegt habe und erst danach die Moumlglichkeit einer Verbindung mit der inden Buumlchern 3 bis 9 folgenden Enzyklopaumldie erkannt habe Dafuumlr gibt es zwar Hinweise (bes dieDiskussion um die FiktionalitaumltUnterhaltung) am Ende von Buch 2 und zu Beginn von Buch 3doch duumlrfte man annehmen dass Martianus den Grundkonflikt von zuruumlckgelassenem Wissenund erneut geschenktem Wissen erkannt und behoben haumltte

2 De nuptiis als literarisches Werk 129

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Weiterhin uumlberbetont der Versuch den Mythos allein aus sich heraus zu er-klaumlren den Stellenwert des zweiten Buches im Gesamtwerk Als Interpretations-rahmen zwar wichtig tritt er bei fortschreitender Lektuumlre hinter die praktischeDarstellung der sieben Kuumlnste zuruumlck Diese nehmen nicht nur mehr Raum einsondern uumlberlagern die Darstellung im zweiten Buch und reduzieren somit auchderen Bedeutung Der Mythos ist also einwichtiger keineswegs jedoch der einzigeBestandteil von De nuptiis

Menippeische SatireDas auffaumllligste literarische Kompositionselement von De nuptiis ist jedochzweifellos die Wahl des Prosimetrums die Mischung von Prosapartien mit me-trischen Einheiten Der uumlberwiegende Teil des Werks ist in Prosa gehalten inwelchen 33sup3sup1⁰ metrische Partien eingelegt sind Dabei sind die Gedichte nichtregelmaumlszligig uumlber das gesamte Werk verteilt sie finden sich uumlberwiegend an ex-ponierten Stellen besonders an den Buchanfaumlngen und Buchenden Bei denmetrischen Partien innerhalb eines Buches handelt es sich fast ausschlieszliglich umGoumltterreden

Die beobachtete unregelmaumlszligige Verteilung der metrischen Partien unter-scheidet sich deutlich von der Gestaltung wie sie Boethius wenige Jahrzehntespaumlter inDe consolatione Philosophiae einsetzt Dort sind diemetrischen Partien inHinblick auf die Gesamttextmenge haumlufiger und zudem gleichmaumlszligiger verteiltsup3sup1sup1

Damit haumlngt zusammen dass auch die literarisch-argumentative Funktion dermetrischen Teile z T von derjenigen bei Boethius abweicht Bei Boethius stehendie Gedichte im Argumentationszusammenhang und fuumlhren Gedanken fort oderbuumlndeln sie in praumlgnanter Ausdrucksweisesup3sup1sup2 Ein gutes Beispiel dafuumlr ist eine

Die Zaumlhlung umfasst die zusammenhaumlngenden metrischen Partien und zaumlhlt auch Ge-dichte mit unterschiedlichem Versmaszlig (z B die Gedichte der Musen) als eine Partie Vgl dazu besonders OrsquoDaly 1991 Kap 1 (bdquoThe poetics of the Consolationldquo) darin 19ndash22 zuMartianus Sprachliche Parallelen sind zusammengestellt im Index der Boethius-Ausgabe vonBieler (CCSL 94 116) diskutiert werden sie bei Pabst 1994 163ndash 168 Da Boethius das Werk desMartianus kannte kann man von einer gelungeneren Ausdifferenzierung der Ansaumltze des Mar-tianus sprechen Der Vergleich des Einsatzes der prosimetrischen Form bei Boethius gewinntdadurch an Gewicht Eine Mischung von Prosa und Poesie findet sich weiterhin bei Fulgentius inden Mythologiae ndash Zu Parallelen in den Werkanfaumlngen bei Martianus Fulgentius und Boethiusvgl Klingner 1921 114 Pabst 1994 der Fulgentiusrsquo Vorgehen durchaus als bdquoimitatio Martianaldquoversteht (162 134ndash 137) fuumlr Boethius in Martianus allerdings nur eine Quelle sieht bdquoThey contribute to the argument as it proceeds yet take a wider view with an authorityoutside and above the adjacent prose They possess their own thematic design which spans theentire workldquo (Crabbe 1981 260) bdquoDie Metra bilden Ruhe- und Houmlhepunkte im Werk haumlufig

130 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Stelle zu Beginn des vierten Buches Nachdem zunaumlchst allgemein erlaumlutert wirddass die Weisen vermoumlgen was sie wollen die Schlechten jedoch nicht(cons 4 1 131ndash140) folgt in Versen eine Reihe plastischer Beispiele fuumlr die These(cons 4 carm 2) bevor der Gedanke fortgesponnen wird (cons 4 3 1ndash4)

An anderen Stellen uumlbernehmen die metrischen Partien eine Gliederungs-funktion indem sie Gedanken abschlieszligen und durch die Unterbrechung Zeit zurErholung bieten So sagt Philosophia zu ihrem Schuumller Boethius

bdquosed uideo te iam dudum et pondere quaestionis oneratum et rationis prolixitate fatigatumaliquam carminis exspectare dulcedinem accipe igitur haustum quo refectus firmior inulteriora contendasldquo (Boeth cons 4 6 200‐203)

bdquoAber ich sehe dass du bereits vom Gewicht der Untersuchung belastet und von der Breiteder Beweisfuumlhrung erschoumlpft auf die suumlszlige Erholung eines Liedes wartest nimm also denTrank damit du solchermaszligen erfrischt kraumlftiger zu den weiteren Themen eilen kannstldquo

In dieser zweiten Funktion setzt auch Martianus die metrischen Partien ein Dabeisind sie nicht in die Prosadarstellung eingeschoben sondern markieren fastausschlieszliglich die Buchanfaumlnge und Buchenden Explizites Ziel ist die Belebungdes Werkes um eine angenehme Lektuumlre zu erleichternsup3sup1sup3 Dies widersprichtMartianusrsquoAnkuumlndigung nach der hinleitenden Erzaumlhlung in denBuumlchern 1 und 2keine fiktionalen Erzaumlhlungen mehr einfuumlgen zu wollen die Darstellung solleernst und dem Gegenstand angemessen sein

nunc ergo mythos terminatur infiuntartes libelli qui sequentes asserentnam fruge vera omne fictum dimoventet disciplinas annotabunt sobriaspro parte multa nec vetabunt ludicra (2 220)

Nun also hat der Mythos sein Ende erreicht es beginnen die Buumlcher die die nun anschlie-szligenden Kuumlnste darbieten Denn mit wahrhaftiger Ernte entfernen sie alles Erdichtete undzeichnen die Kuumlnste nuumlchtern auf verbieten jedoch nicht gelegentliche Unterhaltung

stehen sie am Ende von Einzelabschnitten wo sie diese dann rekapitulieren und fuumlr densbquoSchuumllerlsquo zusammenfassen Bisweilen kommt ihnen auch eine Uumlberleitungsfunktion zuldquo (Kin-dermann 1969 63) ndash Zur Gattung allgemein allerdings mit besonderem Fokus auf die mittel-alterliche Literatur vgl Pabst 1994 bes 105ndash 133 zum Prosimetrum bei Martianus und 158ndash 195bei Boethius sowie Dronke 1994 bes Kap 2 (bdquoAllegory and the mixed formldquo) So auch McDonough der im Kapitel bdquoThe function of the poetryldquo zu Recht (aber zu kurzgreifend) formuliert bdquoIn undertaking the compilation of his encyclopedia the main challenge toMartianus lay in maintaining the interest of his readers (and himself) in making palatable thearid factual account of the various disciplinesldquo (McDonough 1968 37)

2 De nuptiis als literarisches Werk 131

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Scheint es an dieser Stelle so als ob Mythos und Heiteres getrennte Dinge waumlrenzeigt der unmittelbare Fortgang zu Beginn von Buch 3 dass beide Begriffe letztlichAumlhnliches bezeichnen Hier am Beginn der Schilderung der freien Kuumlnste(3 221 f) erlaumlutert Martianus in einem weiteren Gedicht das als Dialog gestaltetist warum er von seinem Plan abweicht

Camena bringt Schmuck fuumlr das Werk mit (amicta fictis commenta ferre) AufMartianusrsquo Einwand keine Mythen mehr vorbringen zu wollen (mythi pulsi) er-widert sie es gehe nicht um Luumlge (nil mentiamur) sondern um Einkleidung(vestiantur Artes) ndash man koumlnne die Brautjungfern also die Allegorien der freienKuumlnste doch nicht nackt vorfuumlhren Daraufhin gibt sich Martianus geschlagenund die Handlung von Buch 3 beginnt

Abgesehen von der unterhaltenden Funktion die besonders durch die Ge-dichte an den Buchenden gewaumlhrleistet wird scheinen die metrischen Passagenfuumlr viele Forscher wahllos in das Werk eingestreut Typisch ist eine Aussage wieCrabbe sie trifft bdquoMartianus uses verse frequently at the beginning sometimes atthe end of books and erratically throughoutldquosup3sup1⁴

Natuumlrlich kann von einer systematischen Verteilung und einer argumenta-tionslogischen Anordnung wie bei Boethius nicht gesprochen werden Bei ge-nauerem Hinsehen wird jedoch deutlich dass die metrischen Abschnitte nichtwillkuumlrlich uumlber das Werk verstreut sindsup3sup1⁵

Die meisten metrischen Passagen finden sich in den Buumlchern 1 und 2 von Denuptiis Diese Buumlcher enthalten die einleitende Handlung die als fiktionale Er-zaumlhlung dargeboten wird Im Bericht von der Suche Merkurs nach der richtigenEhefrau und von Philologias Aufstieg in den Himmel finden sich neun metrischePassagen Es handelt sich dabei bis auf die drei Faumllle der an den Buchanfaumlngen(Buch 1) und Buchenden (Buch 1 und 2) stehenden Gedichte um Reden vonGoumlttern Diese fuumlhren die Handlung fort und dienen also nicht der Buumlndelung derGedanken oder der Erholung des Lesers Stattdessen scheint es Martianus darumzu gehen das Sprechen der Goumltter durch die metrische Gebundenheit als be-

Crabbe 1981 264 Eine Typisierung die z T von der Position der metrischen Passagenlosgeloumlst ist bietet McDonough seiner Ansicht nach sind die metrischen Partien hauptsaumlchlichfunktional bdquoThe poetry thus is primarily functional although this function varies from book tobookldquo (McDonough 1968 38) Als Funktionen benennt er fuumlr Buch 1 Handlungsfortfuumlhrung fuumlrBuch 2 Schmuck fuumlr Buch 3 Belehrung fuumlr den Rest Einfuumlhrung oder Entlassung derBrautjungfern oder Unmut uumlber Verzoumlgerung der Hochzeit Der Rest seien bdquooccasional piecesldquo(ibid 40) ndash Verspartien finden sich am Anfang der Buumlcher 1 2 3 4 5 6 7 und 9 sowie am Endeder Buumlcher 2 4 5 7 und 9 Die ungleiche Verwendung der Metra bei Boethius und Martianus laumlsst sich am besten alsEntwicklung verstehen wie es beispielsweise Kindermann (1969 60) tut Zur Kenntnis desMartianus bei Boethius vgl oben Anm 311

132 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

sonders zu markieren Dies gilt vor allem fuumlr markante Szenen zum Beispiel dieRede Jupiters in der Goumltterversammlung gegen Ende des ersten Buches (1 91ndash93)oder die orakelartige Auskunft Apolls (1 21 f)

Diese Beobachtung gilt daruumlber hinaus ebenso fuumlr die genannten Stellen inBuch 9 auch wenn es sich dort nicht um die Vorgeschichte oder einen weiterenliterarischen Rahmen handelt Jedoch ist eine Szene mit Goumlttergespraumlchen ein-geschoben in der die Goumltter unter anderem auch Verse verwenden Durch dieseReden in metrisch gebundener Form soll den entsprechenden Buumlchern also einehoumlhere Wuumlrde verliehen werden

Einen zweiten Fall stellen die Gedichte zu Beginn oder zu Ende eines Buchesin den Buumlchern 3 bis 9 dar In diesen Buumlchern praumlsentieren die Freien Kuumlnste ingeschlossenem Vortrag die Inhalte ihrer Wissenschaft Die Gedichte in einigenFaumlllen in auktorialer Erzaumlhlhaltung gestaltet uumlberbruumlcken die Fuge zwischen denBuumlchern und bieten eine Pause zwischen den langen Vortragspartien der Leserkann sich erholen Die Inhalte der Verspartien sind unterschiedlich es handeltsich zumeist um den Ein- oder Auszug einer Brautjungfer (4 327 4 423 f 8 8028 808 9 911ndash919) um die Fortfuumlhrung der Hochzeitshandlung (5 425 8 8059 888) um die Anrufung eines Gottes (6 567ndash574) oder um eine Wendung desAutors an den Leser (5 566 9 997ndash 1000)

Dieser Einsatz der Verspartien ist jedoch noch keine hinreichende Erklaumlrungfuumlr die Wahl des Prosimetrums Sie erklaumlrt sich besonders dadurch dass Marti-anus auf diese Weise sein Werk in die Traditionslinie von Texten einreiht die alsmenippeische Satiren bezeichnet werdensup3sup1⁶

Charakteristisch fuumlr diese spezielle Form der roumlmischen Satire ist der Wechselvon metrischen und prosaischen Partiensup3sup1⁷ Klassische lateinischsprachige Ver-treter der menippeischen Satire sind Varro (Saturae Menippeae) Seneca (Apo-colocyntosis) und Petron (Satyrikon) in der griechischen Literatur nutzen Lukianund Julian (Caesares) diese Form Inhaltlich lassen sich nur wenige Verbindungenzwischen den Werken ziehen und auch die Umsetzung der formalen Elemente istunterschiedlich Dies fuumlhrt sogar so weit dass sich moderne Forscher trotz derbereits antik bezeugten Bezeichnungder Gattung teilweise auszligerstande sehen dieGattung genauer zu definieren oder dass sie ihre Fragestellung losgeloumlst von derGattungstradition verfolgensup3sup1⁸ Dies macht die Verortung von De nuptiis in diesemGenre nicht leichter

Zur menippeischen Satire vgl Relihan 1993 Coffey 1996 Im Gegensatz dazu beschraumlnkt sich die Verssatire seit Horaz auf die Verwendung desHexameters So betont Scheible im Vorwort ihrer Studie zu den Gedichten in Boethiusrsquo de consolationedass sie Vorgaben der Tradition in Hinblick auf die Gedichte nicht beruumlcksichtige ndash sie lieszligen

2 De nuptiis als literarisches Werk 133

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Gelegentlich wird sogar die These vertreten dass sich das satirische ElementinDe nuptiis in dieser formalen Verbindung von Prosaund Poesie erschoumlpfesup3sup1⁹DerGattungsbegriff sbquomenippeische Satirelsquo waumlre dann identisch mit der BezeichnungsbquoProsimetrumlsquo Dem widersprechen jedoch verschiedene Beobachtungen derRuumlckgriff auf die Etymologie des Wortes satura die Bezugnahme auf Vertreter derGattung und das Auftreten einer Figur namens Satura sowie deren Agieren dasuumlber die rein formale aumluszligerliche Satireform hinausweist schlieszliglich die beson-dere Gestaltung der Erzaumlhlsituation Diese vier Elemente sollen im Folgendenherausgearbeitet werden

Etymologie ndash Dass Martianus sein Werk sehr wohl als Satire verstanden wissenwill wird an verschiedenen Stellen deutlich Dies geschieht zum Beispiel durchgelehrte Anspielungen auf die Terminologie der antiken Satire an prominenterStelle So heiszligt es in 9 998

[Satura] haec quippe loquax docta doctis aggeransfandis tacenda farcinat immiscuitMusas deosque disciplinas cyclicasgarrire agresti cruda finxit plasmate

So haumluft sie plappernd Gelehrtes auf Gelehrtes und stopft geheimes und bekanntes Wissenzusammen hatMusenundGoumltter vermischt undhat sich erdacht dass die enzyklopaumldischenDisziplinen in einem baumlurischen Machwerk unreifes Zeug daherplappern

Die Woumlrter farcinat und immiscuit verweisen auf das Zusammenstopfen undVermischen verschiedener Zutaten z B in einer Wurst oder Pastete Gleiches giltfuumlr die Woumlrtermiscillo und aggeranssup3sup2⁰ Ausgangspunkt fuumlr diese Terminologie istdie Etymologie desWortes sbquoSatirelsquo an sich bedeutet urspruumlnglich etwaswie sbquobunteMischunglsquosup3sup2sup1 Traditionell sind Anspielungen auf diese Etymologie in der satiri-

sich nicht feststellen (Scheible 1972 8) Vorhandene Untersuchungen beschreiben in der Regeldie Konstituenten der einzelnen Werke Aufgrund der geringen Zahl uumlberlieferter Werke und dergroszligen Unterschiede zwischen ihnen ist es jedoch schwierig die typischen Elemente der Gat-tung zu benennen Auch diese Arbeit schlieszligt sich dem beschreibenden Vorgehen an undvergleicht an einschlaumlgigen Stellen inwieweit die Beobachtungen auch fuumlr die Gattung typischsind So z B Coffey der die Mischung aus Prosa und Poesie bei Martianus als bdquomiscellanyldquobezeichnet und vor einer Verbindung von De nuptiis mit der Satire als problematisch warnt(Coffey 1996 959) Vgl Relihan 1993 14 ErnoutMeillet s v satur -ra -rum (2001 596) WaldeHofmann s v satura (2007 II482f) Der zentrale Hinweis auf eine Ableitung des Wortes aus dem kulinarischen Bereich findet

134 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

schen Literatur selten Allein in Juvenal findet sich ein Hinweis darauf gleichwohlmit leicht anderem Verstaumlndnis Er betrachtet die Zusammenstellung der Satirenals farrago also als Mischgericht nicht die einzelne Satiresup3sup2sup2

In diesen sehr bildlichen Wendungen trifft Martianus gleichzeitig eine Aus-sage uumlber sein Verstaumlndnis der Darstellung von Bildungswissen Bei ihm gibt eskeine vorverdauten und mundgerecht aufbereiteten Wissenspaumlckchen (wie Ma-crobius sie bietet)sup3sup2sup3 sondern rohe Kost (cruda) die ihre Zutaten d h die lite-rarischen oder inhaltlichen Urspruumlnge nicht leugnet LeMoine formuliert prauml-gnant bdquoBy calling attention to the literary functions these metaphors fulfillMartianus hellip raises questions about the principles of seamless synthesis andverbal regurgitation which Macrobius so effectively demonstratesldquosup3sup2⁴

Dass Martianus durch diese Art der Darstellung seine Autoritaumlt infrage stelle(bdquohellip reveal doubts about the competence of the cook and the quality of the edu-cational feastldquo)sup3sup2⁵ laumlsst sich jedoch nicht erkennen Schlieszliglich benennt er seinVorgehen explizit (scheitert also nicht an einem gesteckten Plan) und bietetgleichzeitig mit der Kritik an der klassischen Form der Wissensvermittlung eineMoumlglichkeit an wie nicht-vereinheitlichte Wissensvermittlung aussehen kannBeeintraumlchtigungen des Vertrauens zum Erzaumlhler und zu den Inhalten gibt esallerdings ndash jedoch aufgrund anderer Faktorensup3sup2⁶

Bezug auf andere Satiriker ndash Neben den Anspielungen auf die Etymologie derGattung Satire treten explizite Bezuumlge auf andere Autoren menippeischer Satirenauf Namentlich wird jedoch keiner der Vorgaumlnger genannt die Nennung Varroserfolgt ausschlieszliglich in den Vortraumlgen der Brautjungfern und bezieht sichuumlberwiegend auf Varros fachschriftstellerische Werke oder seinen Ruf als Enzy-klopaumldistsup3sup2⁷

sich beim Grammatiker Diomedes (Grammatici Latini 1 485) Ausgehend von dieser Passageeroumlrtert Petersmann die Etymologie mit besonderer Beruumlcksichtigung des Ursprungs des Wortessatura aus dem Kuumlchenbereich (Petersmann 1986) Iuv 1 86 nostri farrago libelli Vgl die Kommentare Morton Braund 1996 95 f undCourtney 1980 103 Vgl die Gleichnisse in der praefatio zu den Saturnalia (Sat praef 5ndash9) und die Ausfuumlh-rungen in Kap II1 sowie die dort aufgefuumlhrte Literatur LeMoine 1991 360 ibid S u die Abschnitte bdquoErzaumlhlinstanzenldquo und bdquoDeutungen der komplexen literarischen Formldquo 4 335 (die Gelehrsamkeit Varros vgl Cic ac 1 9 Aug civ 6 2) 5 517 (Nennung in einemZitat) 6 639 und 6 662 (Fragen der Geographie die Varro-Vorlage ist nicht bekannt) 9 928 (cfVarro rust 3 17 4) Vgl zum Verhaumlltnis von Martianus und Varro bes Bovey 2003 Kap 2 (bdquoLaquestion varronienneldquo) und Schievenin 2009f

2 De nuptiis als literarisches Werk 135

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Allerdings zitiert die Wendung ὄνος λύρας in 8 807 den Titel einer menip-peischen Satire Varrossup3sup2⁸ Die Wendung ist in der lateinischen Literatur ander-weitig nicht belegt weshalb davon auszugehen ist dass Martianus hier auf denrepublikanischen Satiriker direkt zuruumlckgriff Da die Wendung zudem im Streit-gespraumlch zwischenMartianus und Satura uumlber die angemessene Art des Erzaumlhlensder Geschichte faumlllt kommt ihrer Verwendung eine programmatische Aussage zuMartianus stellt sich und sein Werk also in die Nachfolge Varros und seiner Sa-tiren

Ein Bezug auf Lukian ist weniger sicher nachzuweisensup3sup2⁹ Allerdings gibt eseine motivische Uumlbernahme im zweiten Buch von De nuptiis Philologias Erbre-chen des Wissens das der Hochzeit vorausgeht hat eine Parallele in LukiansDialog Lexiphanes Der allzu (ein)gebildete Lexiphanes nimmt auf Draumlngen vonLycinus ein Brechmittel ein das ihm der Arzt Sopolis gibt Daraufhin erbricht eralle Woumlrter die er gelernt hat dies ist die Voraussetzung dafuumlr dass er nun an-gemessen belehrt werden kannsup3sup3⁰

Es handelt sich um die Fragmente Varro Men 348ndash369 In Fragment 349 findet sich dieWendung auch im Vers (si quis μελωδεῖν est ὄνος λύρας praesepibus se retineat forensibus ndashsbquower beim Gesang wiersquon Esel an der Harfe bloumld der bleib getrost im Stallmief seines Forumsdortlsquo [Uumlbs Krenkel]) Die Bezugnahme auf Varro ist umso wahrscheinlicher da Satura unmit-telbar zuvor sowohl Martianusrsquo berufliche Aufenthalte auf dem Forum erwaumlhnt und ein Wort-spiel mit seinem Namen Capella angestellt hat ndash der zwar nicht sbquoEsellsquo bedeutet wohl aber einHaustier (sbquoZiegelsquo)Vgl dazu Shanzer 1968c 38ndash40 Shanzer 1986a kritisch dazu Pabst 1994 168(m Lit) Folgt man Bovey handelt es sich bei der unmittelbar folgenden Wendung καιρὸν γνῶθιum einen weiteren Verweis auf den Titel einer Varro-Satire γνῶθι σεαυτόν (= Varr Men 199ndash210 vgl Bovey 2003 282ndash284) Naumlher liegt wohl dass Martianus Capella diese eigenstaumlndigeSentenz (vgl Diogenes Laertios I 79 der sie als Sentenz des Pittakos ausweist) aus einer anderenQuelle uumlbernommen hat Kindermann 1969 60 Shanzer geht davon aus dass Martianus Lukian kannte (Shanzer1986c 36) Zur Diskussion um Martianusrsquo Griechischkenntnisse vgl Cristante 2009 [5] undShanzer 1986c 4 die beide annehmen dass Martianus durchaus Griechisch beherrschteShanzer weist einige Stellen auf an denen Martianus woumlrtlich uumlbersetzt und schlieszligt aus derBeherrschung des Griechischen zu Recht auf einen gebildeten moumlglicherweise sogar akade-mischen Hintergrund von Martianus Lucian Lex 20f Andere antike Texte die das Erbrechen von Wissen als Teil des Reini-gungsprozesses beschreiben oder als Bild tradieren sind mir nicht bekannt Daher ist eswahrscheinlicher dass Martianus auf Lukian im Original zuruumlckgegriffen hat Zur vor-byzantinischen Rezeption Lukians vgl Nesselrath 1994 der spaumltantike Bezuumlge auf Lukian u abei Julian und Claudian aufzeigt ndash Einen Bezug auf Lukians Concilium deorum fuumlr moumlglich haumlltKrapinger 1999 962 ndash Anders gelagert sind Lucian cont 7 und Aug in Joh ev tract 36 1 Dortgeht es darum dass durch das Ausspeien Wissen weitergegeben wird was zum Bild der daserbrochene Wissen aufsammelnden Artes passt nicht jedoch zum Motiv der Reinigung

136 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Bezuumlge auszligerhalb der Uumlbernahme uumlblicher Gattungselemente lassen sich fuumlrSenecas Apocolocyntosis Petrons Satyricon oder Julians Caesares nicht konsta-tierensup3sup3sup1

Die Figur der Satura und ihr Handeln ndash Einer der deutlichsten Hinweise auf dieForm der Satire liegt im Auftreten einer Figur namens Satura Diese Figur wirdzunaumlchst von Martianus als Erzaumlhlinstanz eingefuumlhrt (1 2) von der er den Inhaltvon De nuptiis erfahren haben will Im Laufe des Werks gewinnt Satura aber anProfil und agiert zunehmend autonom

Aussagen uumlber Satura beruhen letztlich auf drei Stellen in De nuptiis (6 576ndash5798 806ndash8109997ndash999) und koumlnnen fast ausschlieszliglich aus der Formund derBotschaft ihrer eigenen Aumluszligerungen gewonnen werden An allen drei Stellendiskutiert Satura mit Martianus Ansonsten ist Satura zwar als praumlsent zu denkenwird aber nicht weiter thematisiert

Nach Martianusrsquo Anrufung Minervas zu Beginn des sechsten Buches mischtsich Satura in seine Uumlberlegungen ein welche Frauen er vor sich sehe Die Ein-mischung wird von Martianus als scherzend bezeichnet (iocabunda 6 576) dieEinmischung an sich als typisch fuumlr das Scherzen Saturas (ut lepidula est 6 576)Die Aumluszligerung Saturas beginnt mit Spott uumlber Martianusrsquo nur scheinbare KlugheitDurch falsche naumlchtliche Studien und besonders seine Anwaltstaumltigkeit habe erden Blick auf das Wichtige verloren und erkenne nun nicht einmal mehr Philo-sophia und Paideia Der Scherz wird jedoch alsbald von einem belehrendenTonfall abgeloumlst in dem Satura Martianus uumlber das Wesen der beiden Frauenaufklaumlrt

Satura tritt als Naumlchstes zu Beginn des achten Buches auf in der Folge derSilen-Szene Der angetrunkene Silen war eingeschlafen und durch Amor aufge-schreckt worden was die uumlbrigen Goumltter laut lachen lieszlig (8 803ndash805) DieseSchilderung provoziert bei SaturaWiderspruch da sie das Erzaumlhlte als unpassendfuumlr die Goumltterversammlung empfindet Ihre Kritik beginnt wieder bei der Persondes Martianus dessen Namen sie als passend zu seinem Wesen deutet (Capella ~sbquoZiegelsquo 8 806) Sodann fordert sie Martianus auf seine Possen zu unterlassenMartianus fuumlhlt sich gehoumlrig von Satura gemaszligregelt und gibt klein bei bemerktaber dass sie ansonsten mehr von Scherzen halte (alioquin lepidula 8 807) AlsSatura dann die Einfuumlhrungder eintretenden Brautjungfer in Versenvorbringt undMartianus wiederum seine Scherze (ludicra 8 808) vorhaumllt kann dieser nicht

Mit Julian verbindet Martianus immerhin die Ansiedlung der Goumltterversammlung auf derMilchstraszlige ndash Zur Rolle der Saturnalien vgl den Abschnitt bdquoDeutungen der komplexen litera-rischen Formldquo

2 De nuptiis als literarisches Werk 137

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mehr an sich halten und zahlt Satura ihre Kritik in gleicher Muumlnze heim Nacheinigem Spott uumlber Saturas Verse verteidigt nun Martianus das Recht auf Scherzgegen sie die an sich ndash nicht aber in De nuptiiswie es scheint ndash eigentlich fuumlr denScherz zustaumlndig waumlre und gibt ihr mit Martial (2 41 1) den Rat auch einmal zulachensup3sup3sup2

Ein letzter Schlagabtausch von Satura und Martianus erfolgt schlieszliglich amEnde des Werkes Wiederum streiten beide Figuren miteinander und halten sichmit Spott uumlber das Wesen des anderen nicht zuruumlck

Die Einfuumlhrung Saturas die ja nur in Verbindung ndash und das heiszligt Ausein-andersetzung ndash mit Martianus erscheint dient vornehmlich der deutlichenBenennung der Gattung und der Verstaumlndigung daruumlberwas den Charakter einessatirischen bzw des vorliegenden Werkes ausmache Erstaunlich ist dabei Mar-tianusrsquo Entwicklung der sich zunaumlchst gegen Unterhaltung im artes-Teil ausge-sprochen hatte diese spaumlter aber gegen den censorischen Eingriff Saturas imachten Buch verteidigt Noch erstaunlicher ist aber dass es gerade Satura ist diezur Beachtung des Decorums auffordert und Martianusrsquo vergleichsweise mildenScherz scharf tadelt

Erzaumlhlinstanzen ndash Die Frage nach der Erzaumlhlsituation bzw der Erzaumlhlerfigurgehoumlrt zu den grundlegenden Analysekriterien eines literarischenWerkes ebensowie die Konzipierung von Raumund Zeit Lassen sich die letzten beiden Punkte imHinblick auf De nuptiis hinreichend klaumlrensup3sup3sup3 so bietet die Erzaumlhlerfigur groumlszligereSchwierigkeiten

DassDe nuptiis zwei Erzaumlhlinstanzen hat scheint zu Beginn desWerkeswenigdramatisch In 1 2 verweist der Erzaumlhler Martianus gegenuumlber seinem Sohn dar-auf dass die folgende Geschichte (also der uumlberwiegende Teil von De nuptiis) ihm

Ride si sapis o puella ride Schievenin bietet eine gruumlndliche Analyse dieser Stelle auchmit Blick auf die inverse Vorlage Martials (plora si sapis o puella plora Mart 2 41) derwiederum auf Ovid (Ov ars 3 281 f) zuruumlckgreift (Schievenin 1984 bes 136 ausfuumlhrlich auchBovey 2003 275ndash288) Die Rahmenhandlung spielt in der erzaumlhlerischen Gegenwart und in einem unbestimmtenRaum der jedoch nicht auszligergewoumlhnlich ist es liegt nahe an Karthago und das Haus desMartianus Capella zu denken Die eigentliche Handlung spielt an z T unwirklichen Orten aufder Erde die zumeist nicht naumlher bestimmt sind (z B Philologias Herkunft) und auf derMilchstraszlige wobei die absolute Zeit nicht genannt wird aber aufeinanderfolgende Tage inihrem Ablauf erkannt werden koumlnnen Die Phantastik einzelner Szenen die meist auf alle-gorische Darstellungsweisen zuruumlckgeht verletzt jedoch nicht die raumlumliche oder zeitlichePlausibilitaumlt des Dargestellten Vgl dazu auch die Ausfuumlhrungen und grafischen Veranschau-lichungen LeMoines (1972a)

138 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

waumlhrend langer Winternaumlchte (eine Anspielung auf Gellius)sup3sup3⁴ von Satura be-richtet wurde Der antike wie moderne Leser duumlrfte sich wohl kaum daran stoszligensondernwird darin vor allem eine Inspiration des Autors durch Satura (auchwennes das zuvor noch nicht gab) erkennen Bei der Erwaumlhnung von Satura koumlnnte erHeiteres erwarten oder bunt gemischte Geschichten

Vollkommen verwirrt wird der Leser hingegen spaumltestens dann wenn er amEnde des Werkes in der Sphragis angekommen ist (9 997ndash 1000) Dort reflektiertMartianus sein literarisches Vorgehen in den vorausgegangenen neun Buumlcherngenauer gesagt distanziert er sich von der Form der Darstellung (Umfang Bunt-heit) und verweist auf die Verantwortung Saturas die die Geschichte erzaumlhlt habe

Habes anilem Martiane fabulam 997Miscillo lusit quam lucernis flamineSatura Pelasgos dum docere nititurArtes daggercagris vix amicas AtticisSic in novena decidit voluminahaec quippe loquax docta doctis aggerans 998fandis tacenda farcinat immiscuitMusas deosque disciplinas cyclicasgarrire agresti cruda finxit plasmate (9 997 f)

Da hast du Martianus eine Altweibergeschichte sie verfertigte im Spiel mit vermischterInspiration [d h in Prosa und Vers] bei Kerzenschein Saturawaumlhrend sie sich bemuumlhte diePelasger zu lehren die Kuumlnste die den Griechen kaum freundlich [d h neu] sindSo gelangte sie hinab bis zum neunten Buch haumluft plappernd Gelehrtes auf Gelehrtes undstopft geheimes und bekanntes Wissen zusammen hat Musen und Goumltter vermischt und hatsich erdacht dass die enzyklopaumldischen Disziplinen in einembaumlurischenMachwerk unreifesZeug daherplappern

So ungewoumlhnlich dieses Vorgehen auch ist ndash Martianus haumltte ja den Bericht Sa-turas als Grundlage nehmen und dann nach eigenem Geschmack umgestaltenkoumlnnen ndash wird es uumlbertroffen durch die Verteidigung Saturas Sie weist die Ver-antwortung fuumlr die Art der Erzaumlhlung von sich und verteidigt sichmit demHinweisauf Martianusrsquo intellektuelle Schwaumlche der sie die Ausfuumlhrungen habe anpassenmuumlssen

Vgl Gell praef 4 zur Erklaumlrung der Wahl des Titels Noctes Atticae fuumlr sein Werk

Sed quoniam longinquis per hiemem noctibus in agro sicuti dixi terrae Atticae commentationeshasce ludere ac facere exorsi sumus idcirco eas inscripsimus noctium esse Atticarum hellip

Aber weil wir in langen Naumlchten den Winter uumlber in Attika auf dem Landwie schon gesagtdiese Anmerkungen im Spiel und dann ernsthaft begonnen haben daher haben wir ihnenden Namen Attische Naumlchte gegeben hellip

2 De nuptiis als literarisches Werk 139

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

haec ipsa nauci rupta conscientia 999turgensque felle ac bili bdquomulta chlamydeprodire doctis approbanda cultibuspossemque comis utque e Martis curia[hellip]ab hoc creatum Pegaseum gurgitem 1000decente quando possem haurire poculoldquo (9 999 f)

Sie sagte aufgrund ihres Wissens um die Nichtigkeit (dieser Ausfuumlhrungen) verletztschwellend vor Bitterkeit und Zorn bdquoIch koumlnnte hier freundlich auftreten mit einem Gewandbekleidet lobenswert durchgelehrtes Verhaltenwie aus der VersammlungdesMars [Es folgtdie Schilderung der unguumlnstigen Anlagen von Martianus] ndash Wann koumlnnte ich mit ange-messenem Becher aus einem pegasischen Strom von ihm erschaffen schoumlpfenldquo

Somit hat das Werk das zu Beginn zwei hierarchisch geschiedene Erzaumlhler zuhaben scheint am Ende zwei Erzaumlhler die sich gleichberechtigt uumlber die Form dererzaumlhlten Geschichte streitensup3sup3⁵

Die Inkonsistenzen auf der Erzaumlhlebene setzen sich daruumlber hinaus fort HatteMartianus zu Beginn des Werks gesagt Satura habe ihm die Geschichte waumlhrendlangerWinternaumlchte erzaumlhlt so treten Satura undMartianus amEnde desWerks inder erzaumlhlerischen Gegenwart gemeinsam auf und sprechen beide nacheinanderzu Martianusrsquo Sohn

Weiterhin erscheinen Satura und Martianus innerhalb der Geschichte dieMartianus angeblichvon Satura gehoumlrt hatWaumlhrend die Goumltter denverschiedenenBrautjungfern lauschenwohnen auch SaturaundMartianus der Versammlungbeiund betrachten sie als unbeteiligte ZuschauerWie aus einer Theaterloge herauskommentieren und diskutieren sie das Geschehen das auf der bdquoGoumltterbuumlhneldquostattfindetsup3sup3⁶

Noch einen weitergehenden Schritt stellt die Silen-Szene zu Beginn des achtenBuches dar Im Anschluss an diese Szene beschwert sich Satura bei Martianus erkoumlnne die Goumltter nicht auf dieseWeise agieren lassen In der Folge entspinnt sich einGespraumlch in demMartianus seine Art des Erzaumlhlens gegen Satura verteidigt die fuumlreine zuruumlckhaltendere Darstellung plaumldiert (s o)Von der Fiktion dass Martianusseinem Sohn bloszligwiedergibtwas Satura ihm erzaumlhlt hat bleibt nichtmehr viel dieganze Szenerie ist ein Produkt der ErfindungdesMartianus gleichzeitigwohnt er ihraber gemeinsam mit Satura bei ist also Teil der Handlung

So bereits Pabst 1994 120 Anm 119 der allerdings auf eine Diskussion der Beobachtungverzichtet Es handelt sich um die Stellen zu Beginn des sechsten und des achten Buches die imvorigen Abschnitt bereits paraphrasiert wurden

140 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Diese Art der Spiels mit der Erzaumlhlerrolle wird von manchen modernen For-schern als ein wichtiges Merkmal der menippeischen Satire angesehen Hinzu-treten kann die Selbstherabsetzung des Erzaumlhlers die sich an seinemmangelndenWissen Stilbewusstsein Traditionsempfinden o auml entzuumlndetsup3sup3⁷ Folglich kanndie zunaumlchst befremdliche Brechung und Verzerrung als weiteres Merkmal derGattung menippeische Satire bestimmt werden

Aufgrund dieser Beobachtungen ist es zwingend in De nuptiis vor allem eineSatire zu sehen Auch der heiter-spoumlttische Charakter einiger Passagen zwischenden Vortraumlgen der Brautjungfern passt zum satirischen Anspruch Gelegentlicherscheint es jedoch fraglich ob es sich wirklich um satirische und nicht eher umkomische oder derbe Spaumlszlige handelt Die Szene in der Silen betrunken einschlaumlftund von den anderen Goumlttern verspottet wird (8 803ndash805) erinnert mit ihremSlapstick eher an den derben Spott der Komoumldie als an die Satire eines Varrosup3sup3⁸

22 Deutungen der komplexen literarischen Form

Wie laumlsst sich das Werk De nuptiis nun also formal beschreiben oder andersgefasstWie lassen sich die vier literarischen Traditionsstraumlnge zusammenfuumlhrenDass eine einheitliche Lesung zumindest versucht werden muss zeigt bereits dasLeitmotiv der Hochzeit ansup3sup3⁹

Im Kern handelt es sich bei MartianusrsquoWerk um eine Sammlung bedeutenderWissensschaumltze in einem einzigen Werk die darin systematisch ausgebreitetwerden Dies zeigt die Einteilung in verschiedene Disziplinen die ein ver-

Zur Erzaumlhlerrolle in der menippeischen Satire vgl u a Relihan 1993 und darin bes S 35 Mit der Aufnahme unterhaltsamer Elemente ginge Martianus sogar noch uumlber dieErwartungen an ein sbquosatirischeslsquo Werk hinaus Auch Boethius wird bescheinigt er erzaumlhle seineConsolatio bdquoper satiramldquo auch wenn bei ihm weder eine Figur Satura auftritt noch allzu vielHeiterkeit herrscht (Peiper zitiert in der Einleitung zu seiner Ausgabe S xxxi eine mittelalter-liche Boethius-Vita vgl Kindermann 1969 61)

hos libros [scil de consolatione Philosophiae] per satiram edidit imitatus videlicet mar-cianum felicem capellam qui prius libros De nuptiis philologiae et mercurii eadem speciepoematis conscripserathellip

Diese Buumlcher schrieb er als Satire freilich in Nachahmung des Marcianus Felix Capellader zuvor die Buumlcher uumlber die Hochzeit der Philologie mit Merkur in der gleichen Art vonGedicht verfasst hatte

Zum Motiv der Hochzeit das bereits programmatisch im eroumlffnenden Hymnus anHymenaeus erscheint vgl Schievenin 2009c und Cristante in der Einleitung seiner Ausgabe1987 3ndash 10

2 De nuptiis als literarisches Werk 141

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

gleichsweise leichtes Auffinden der Informationen erlaubtsup3⁴⁰ die Bedeutung wirdangesichts der Praumlsentation vor den Goumlttern auf der Milchstraszlige deutlich Alleinder Umfang dieser Vortraumlge die in sich auch nicht gestoumlrt oder gebrochenwerdenmarkiert dass es sich hier um das zentrale Charakteristikum des Werkes handelt

Den erzaumlhlerischen Anlass fuumlr diese Praumlsentation bietet eine Hochzeitsfeieralso ein Symposion hier ist die Gelegenheit fuumlr die groszligen Redebeitraumlge gegebenZudem bietet die SymposionformAnknuumlpfungspunkte fuumlr eine Rahmenhandlungdie zur Auflockerung der ebenso ausfuumlhrlichenwie trockenen Einzelreden genutztwird

Doch bleibt es ndash im Gegensatz z B zu Macrobius ndash nicht bei der bloszligenDarstellung der Wissensinhalte Hinzu tritt die allegorische Darstellung der Be-deutung von Wissen und von Fleiszlig beim Wissenserwerb in den ersten beidenBuumlchern Die praumlsentierten Inhalte der Buumlcher 3ndash9 (die Philologia ja bereits aufder Erde in Buch 2 besitzt) sindwichtig Sie sind nicht nur wichtig fuumlr das irdischeLeben (das wird nicht weiter thematisiert die explizit irdischen Wissenschaftenwie Architektur und Medizin werden sogar ausgeschlossen) ndash die Inhalte sindauch wichtig fuumlr die menschliche Vervollkommnung

Durch das angesammelte Wissen erreicht der Mensch zwar nicht die voll-kommene Erkenntnis (die erhaumllt auch Philologia nur ohne eigenes Zutun als sieauf der houmlchsten Himmelssphaumlre angekommen zum Vatergott in der jenseitigenGluumlckseligkeit betet) wohl aber ein goumlttergleiches Wissensup3⁴sup1 Der Wissenserwerbist gewissermaszligen die Voraussetzung dafuumlr dass der Mensch mit Hilfe einesgoumlttlichen Begleiters in den Himmel aufsteigen kann unsterblich wird und voll-kommene Einsicht erlangt

Die so weit kohaumlrente Verbindung der literarischen Traditionen laumlsst aller-dings den explizit satirischen Anspruch von De nuptiis auszliger Betracht durch denMartianus selbst das Werk primaumlr in die Gattung der Satire einordnet waumlhrendvergleichbare Bezuumlge zu anderen Gattungen fehlen Natuumlrlich lieszlige sich dieserprogrammatische Anspruch mit einem Verweis auf die Verwendung des Begriffszur Bezeichnung einer inhaltlich wie literarisch gemischten Form erklaumlren Dochgreift diese Erklaumlrung zu kurz da das Agieren Saturas die literarischen Passagendes Werks beinahe als Travestie erscheinen laumlsst (vgl oben zur Erzaumlhlerfigur) Einbildend-enzyklopaumldisches Werk kann sich allerdings nicht gefahrlos als Satire

So auch Englisch 1994 56 Die bdquoSystematik bei der Praumlsentationldquo erlaube einen leichtenZugriff auf die Informationen Mart Cap 2 201ndash205

142 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

praumlsentieren ohne Zweifel an der Glaubwuumlrdigkeit und Zuverlaumlssigkeit desWerkes und der praumlsentierten Inhalte zu weckensup3⁴sup2

Wenn Martianus auch die Konventionen der Gattung menippeische Satireaufnimmt und sein Werk also nur folgerichtig unter anderem eine unzuverlaumlssigeErzaumlhlsituation aufweist ist dies noch keine Erklaumlrung an sich Die regelkonformeUmsetzung gattungstypischer Anspruumlche erklaumlrt noch nicht die Wahl der Gattungan sich ndash einer Gattung die trotz ihrer Benennung als solche nicht zu denStandardformen und akzeptierten Gattungen zaumlhlte insbesondere nicht fuumlrLehrwerkesup3⁴sup3

Auch Martianusrsquo Verweis auf etwas bislang noch nicht Unternommenes(nescioquid inopinum intactumque 1 2) vermag den Widerspruch nicht zu loumlsenDie Wendung zeigt zwar dass Martianus die Ungewoumlhnlichkeit seines Ansatzesbewusst war (sofern sich die Phrase uumlberhaupt auf die Komposition des Werkesbezieht)sup3⁴⁴ beseitigt aber nicht das interpretatorische Problem ZuwelchemZweckverbindet Martianus also zwei so widerspruumlchliche Gattungen wie Enzyklopaumldieund Satiresup3⁴⁵

Drei Antwortansaumltze lassen sich grob umreiszligen 1 Die Verbindung ist nuraumluszligerlich bzw oberflaumlchlich 2 durch die Verbindung soll ein bestimmter Aspektparodiert und somit Spott und Kritik ausgesetzt werden 3 die Verbindung erfuumlllt

Dieses Problem hat bereits Westra in seinem Aufsatz bdquoThe juxtaposition of the ridiculousand the sublime in Martianus Capellaldquo benannt (Westra 1981) Allerdings beschraumlnkt sich auchdieser Aufsatz auf die Darstellung des Problems und die Zusammenstellung der Belege EineLoumlsung hat Westra nicht anzubieten ndash sein Aufsatz endet mit der eher apologetischen Bemer-kung das Eingestaumlndnis der Unvereinbarkeit von Satire und Lehrwerk durch Martianus in 9 997sei prima facie ein Spiel dahinter stecke jedoch die Absicht Problembewusstsein zu demon-strieren und Verantwortung fuumlr die unterlassene Loumlsung zu negieren bdquoEven though I would claim that prose and verse must be present in an ancient Menippeansatire it must be seen as one of a number of shocking juxtapositions of oppositesldquo (Relihan 198760) ndash In der Folge kann die prosimetrische Form durchaus auch Mittel belehrender Werkewerden vgl Pabst 1994 133 Denkbar (und wohl wahrscheinlich) waumlre auch dass damit die Inhalte besonders desMythos gemeint sind Der Verweis auf Unterhaltung fuumlhrt nicht zum Kern der Frage denn die satirische Formstellt mehr dar als reine Unterhaltung Auch das horazische Diktum ridentem dicere verum quidvetat ndashsbquolachend das Wahre zu sagen ndash was spricht dagegenlsquo (Hor serm 1 1 23) als Kern vonMartianusrsquo Satireverstaumlndnisses greift zu kurz ebenso wie vergleichbare Konzeptionen in derLiteratur Dort geht es bei Belehrung immer um einzelne philosophische Saumltze (nie beispiels-weise um die Vermittlung von Philosophie an sich) Folglich bezeichnet das bdquoverumldquo nichtkognitives Lernen sondern moralisches Der grundlegende Unterschied zur Konzeption desMartianus liegt somit auf der Hand Vgl zu diesem Aspekt im Allgemeinen z B Shanzer 1986c42 und im Speziellen u a Woytek 1986 339ndash345 Keulen 2009 bes Kap 2 und 3

2 De nuptiis als literarisches Werk 143

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

einen literarischen und belehrenden Zweck zugleich Aufgrund der komplexenSachlage und der unmittelbaren Bedeutung der Beantwortung der Frage nachdieser Verbindung fuumlr das Gesamtverstaumlndnis von De nuptiis werden alle Alter-nativen vorgestellt und bewertet

Rein formale Verbindung von Satire und EnzyklopaumldieEventuell laumlsst sich die Mischung aus enzyklopaumldischen und satirischen Ele-menten (mit den zur Satire gehoumlrigen Verspartien) als Sonderform der Varro-Re-zeption bei Martianus auffassenVarro von Reate verfasste sowohl umfangreicheFachliteratur als auch menippeische Satiren Fuumlr beides war er in der Antikebekannt und beruumlhmt ndash doch ist es wahrscheinlich dass Martianus die Werkebereits nicht mehr ndash oder allenfalls nur in Auszuumlgen ndash vorliegen hattesup3⁴⁶ Aus demWissen um die beiden Schaffensbereiche des republikanischen Autors die beideder Unterweisung dienen solltensup3⁴⁷ koumlnnte Martianus auf den Gedanken verfallensein die literarischen Formen und Inhalte in seinem Werk zu verbindensup3⁴⁸Vielleicht saszlig er auch einemMissverstaumlndnis auf indem ermeinte dass Varro seinsatirisches wie enzyklopaumldisches Koumlnnen in nur einem Werk demonstriert habeDies hieszlige jedoch dass Martianus sich der Problematik dieser Verbindung nicht

So aumluszligert sich beispielsweise Kindermann in den Vorstudien seiner Ausgabe der Conso-latio des Laurentius von Durham Er billigt Martianus nur eine sekundaumlre Varro-Kenntnis zu(Kindermann 1969 60) Entschieden verneint wird die Frage von Schievenin (2009f) und Hadotdie vor allem neuplatonische Quellen vermutet (Hadot 2005 149) Schneider jedoch nimmt andass sowohl Augustin als auch Martianus die Disciplinae noch vorliegen hatten (Schneider 1999109 f) und dass die Satiren-Exzerpte des Nonius Marcellus (fl um 400 in Afrika) ebenfalls ausdem Originaltext Varros angefertigt wurden (ibid 96 Anm 12) Abwaumlgend aumluszligert sich Huumlbner2004 passim Vgl Cic ac 1 8 (es spricht Varro)

et tamen in illis veteribus nostris quae Menippum imitati non interpretati quadam hilaritateconspersimus multa admixta ex intima philosophia multa dicta dialectice quae quo faciliusminus docti intellegerent iucunditate quadam ad legendum invitati

Jedoch findet sich in meinen fruumlhen Schriften die ich in kreativer Nachfolge (und nicht nurUumlbersetzung) Menipps mit einer gewissen Heiterkeit benetzt habe vieles aus den Kernbe-reichen der Philosophie beigemengt und vieles das nach Art der Dialektiker gesagt istdamit die weniger Gelehrten es leichter verstuumlnden nachdem sie durch eine Art von Scherzzur Lektuumlre ermuntert worden sind

Vielleicht hatte Martianus diese Stelle sogar im Kopf als er die Anlage von De nuptiis plante So z BWeinreich in der Einleitung zu seiner Uumlbersetzung roumlmischer Satiren bdquoMartianusCapella glaubte gewiszlig ein Varro redivivus zu sein sozusagen die Quintessenz des Gelehrten unddes Satirikersldquo (Weinreich 1962 XCIII) Ebenso Shanzer 1986c 42

144 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

bewusst gewesen sei ndash was ihm sicher nicht gerecht wird Auszligerdem wird so dieBezugnahme auf weitere formale Elemente der menippeischen Tradition und dieuumlbrigen Vorlaumlufer der Gattung mit anderer Konzeption (Lukian Julian) nichtausreichend beruumlcksichtigt

Ebenfalls beim Autor koumlnnte eine zweite Erklaumlrung ansetzen Im Zuge derAbfassung seiner Enzyklopaumldie hat sichMartianus nach horazischer Vorgabe (unddem Beispiel Varros)sup3⁴⁹ um Auflockerung und heitere Elemente bemuumlht Diespontanen Einfaumllle wurden ins Werk integriert und die sich daraus ergebendenInkonsistenzen entweder uumlbersehen oder billigend in Kauf genommen Beideswuumlrde gut zum klassisch negativen Martian-Bild in der Forschung passensup3⁵⁰Abgesehen davon dass Annahmen uumlber das Vorgehen beim Schreiben weitge-hend auf Spekulation beruhensup3⁵sup1 widersprechen drei Beobachtungen dieser Er-klaumlrung Erstens gelingt es Martianus De nuptiis uumlber neun Buumlcher vorauszu-planen so dass am Ende ein ndash zunaumlchst abgesehen von der Satire-Problematik ndashkohaumlrentes Werk entsteht Die Fuumllle der behandelten Themen Motive und lite-rarischen Elemente weist eher auf ein planvolles Arbeiten hin und macht es un-wahrscheinlich dass Martianus Probleme an dieser Stelle nicht wahrgenommenbzw nicht korrigiert haumltte Zweitens ist die Verbindungvon Satire und den anderenElementen nicht nur oberflaumlchlich so dass sie nachtraumlglich eingefuumlgt sein koumlnnteoder sich im Schreibprozess so ergeben haben koumlnnte Da bereits im zweitenKapitel des ersten Buches Satura eingefuumlhrt wirdwar sie von vornherein Teil des

Gemeint ist das beruumlhmte zunaumlchst nur fuumlr die Dichtung relevante prodesse aut delectare(Hor ars 333 f) zu Varro vgl die schon angefuumlhrte Stelle aus Cic ac Vgl z B die sehr bildliche Beschreibung von C S Lewis bdquo[hellip] this universe which hasproduced the bee-orchid and the giraffe has produced nothing stranger than Martianus Capella[hellip] the curiosity shop of his mind [hellip] a chaos beside which the work of Rabelais has unity andthat of Mandeville probabilityldquo (Lewis 1936 78 f) Gleiches gilt fuumlr Spekulationen uumlber eine andere Auffassung von Literatur und ihrenRegeln in Martianusrsquo Zeit oder Umfeld Einerseits kennen wir keine Texte die sich mit De nuptiisvergleichen lieszligen (was per se nichts beweist aber doch Indiziencharakter hat) andererseitshielten sich auch die spaumltantiken Autoren uumlblicherweise an die klassischen Vorgaben Ich teiledaher auch Schneiders Ansicht nicht der die Skepsis an dieser Verbindung allein der modernenLeseerfahrung zuschreibt bdquoWenn den Heutigen diese Kombination der forcierten Gelehrsamkeiteines Curriculums und der spielerisch-saloppen Causerie seltsam beruumlhren mag so waumlre dazuimmerhin schon an ein ciceronisches Dictum zu erinnern non est enim seiunctus iocus a phi-lologia (ad fam 16214) ndash sbquoSpieltrieb und Pedanterie diktieren und widersprechen sich nichtlsquo(sbquoErste Fruumlhschichtlsquo aus Grassrsquo sbquoHundejahrelsquo)ldquo (Schneider 1999 94 Anm 2) Der Verweis aufCicero traumlgt nichts zum Verstaumlndnis von Martianus bei Cicero geht es an der zitierten Stelle umden Ablauf des Tages mit seinem Schuumller der aus ernsteren und heitereren Abschnitten bestehtDaraus folgt nicht dass das Lernen mit Scherz verbunden ist ndash auszligerdem duumlrfte Cicero unteriocus (sbquo[urbaner] Scherzlsquo) anderes verstanden haben als Martianus in seiner Satura bietet

2 De nuptiis als literarisches Werk 145

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Kompositionsplans Drittens hat Schievenin gezeigt dass Martianus keineswegsoberflaumlchlich und eigenwillig arbeitet Durch eine gruumlndliche Untersuchung derSilen-Passage (8 803ndash805) kann er nachweisen dass Martianus ndash wie vieleAutoren vor ihm ndash uumlber ein umfangreiches literarisches Wissen verfuumlgte daraufbei der Abfassung seines Werkes zugreifen konnte und durch gezielte Anspie-lungen neue Bezuumlge herstelltesup3⁵sup2

Satire als Mittel der KritikWaumlhrend die antike Satire (im Gegensatz zur modernen) nicht zwangslaumlufig Kritikan Missstaumlnden uumlben wollte ist diese Moumlglichkeit umgekehrt auch nicht auszu-schlieszligen Martianus koumlnnte also bewusst eine solide Darstellung der Kuumlnste inliterarischem Gewandmit der Gattung der Satire verbunden haben um Zweifel ander Ernsthaftigkeit der uumlbrigen Teile des Werkes zu wecken Er wuumlrde somit einaufklaumlrerisches Interesse verfolgen das zugleich auch unterhaltsame Zuumlge traumlgt

Eine erste Schwierigkeit dieser Lesart von De nuptiis ergibt sich bereits bei derFrage nach dem Objekt der SatireWerden die Wissensinhalte in Zweifel gezogenoder nur die Art ihrer Vermittlung in langen Reden bzwTraktaten Soll der Glaubean die umfassende Einheit des Wissens kritisiert werden oder die Vorstellungsaumlmtliches Wissen lasse sich vermitteln gar kohaumlrent in einem Werksup3⁵sup3 Ist dieVorstellung dass Wissen goumlttlich mache parodiert oder nur die abwegige Vor-stellung dass auf einer Hochzeit solche Reden gehalten werden Oder richtet sichdie Kritik letztlich gegen die Auffassung Philologia als Vorbild zu sehen oder garals Mittlerin alles Wissens ja sogar als Mittlerin zwischen Menschen und Goumlttern

Aus der Tatsache dass das Objekt der Satire keineswegs leicht zu bestimmenist kann nicht gefolgert werden dass in De nuptiis keine Satire vorliege die be-stimmte Sachverhalte kritisiere Aber es kann durchaus gefolgert werden dass eskeine expliziten textinternen Merkmale gibt die das Lesen steuern und den Ge-genstand der Kritik deutlich hervortreten lassen Die Deutungen gehen also vonmodernen Annahmen uumlber das Umfeld bzw die Gedankenwelt von Martianus aus

Im Kern handle es sich um bdquouna narrazione tersa e brillanteldquo verbunden mit einemDickicht an Verweisen Die Silen-Szene habe einen bdquocarattere colto e della dottrina e dellalingualdquo (Schievenin 1984 132) Das Fazit seiner Untersuchung formuliert Schievenin folgen-dermaszligen bdquoIl De nuptiis si rivela dunque opera di vasti orizzonti non solo per lrsquointento dida-scalico che la pervade e che ne determineragrave la fortuna ma anche per la costante presenza nellafabula della tradizione classica e dei suoi echildquo (ibid 136) Vgl zu dieser Stelle auch Bovey2003 275ndash288 ndash Den geschickten Umgang mit mehreren Quellen ndash erzaumlhlerisch wie seman-tisch ndash kann Schievenin auch fuumlr 7 725ndash727 nachweisen (Schievenin 2009e) So z B Relihan 1993 138 bdquoMartianus writes not an encyclopedia but a Menippean satirethat parodies encyclopedic knowledgeldquo

146 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

und weisen zudem meist nicht kleinschrittig auf wie der Interpret zu seiner (oftapodiktisch dargelegten) Ansicht gelangt

Nun folgt daraus noch nicht dass Martianus De nuptiis nicht als kritisierendeSatire konzipiert haumltte die Vielzahl der (wenn auch differierenden) modernenDeutungenweist ja darauf hin Zwei Uumlberlegungenwenn auch keine schlagendenBeweise lassen die Hypothese der parodierenden Satire unwahrscheinlich wer-den der Umfang von De nuptiis und seine Rezeption Eine Satire die beispiels-weise die Verbindung von Weltwissen und menschlicher Vervollkommnung in-frage stellt benoumltigt nicht noch eine umfassende Darlegung eben diesenWissensDies gilt besonders da diese Darlegung den Hauptteil des Werks ausmacht und ndashzumindest dem Umfang nach ndash die uumlbrigen Partien weit uumlberragt Eine Deutungvon De nuptiis als kritischer Satire muumlsste also besonders die Frage beantwortenzu welchem Zweck die umfangreichen Darstellungen der Freien Kuumlnste aufge-nommen sind (und nicht nur angedeutet werden)

Die Rezeption eignet sich zwar ebenfalls nicht zu sicheren Ruumlckschluumlssen aufdie originale Intention eines Werkes haumlufig bietet sie aber interessante EinblickeDie Martianus-Rezeption stellt sich bald ein Cassiodor beruft sich in seinen In-stitutiones auf ihn Dort erscheint Martianus nicht als Satiriker oder Zeitkritikersondern als Gelehrtersup3⁵⁴ In dieser Tradition wird Martianus auch im Mittelaltergelesen und rezipiertsup3⁵⁵

Aumlhnliches laumlsst sich fuumlr Boethiusrsquo Anknuumlpfen an die prosimetrische Form inder Ausgestaltung von Martianus sagen Boethius verfasst zweifelsfrei keine kri-tische Satire kann aber trotzdem an die Form und den Inhalt von De nuptiisproblemlos anknuumlpfen Sowohl der Form nach wie auch durch einzelne Zitatemacht er deutlich dass erDe nuptiis kennt und als eine seiner Vorlagen benutzt Esist zu bezweifeln dass Boethius in seinem Bemuumlhen um eine adaumlquatewerbendeDarstellung der Philosophie auf Form und Zitate des Martianus zuruumlckgegriffenhaumltte haumltte er nicht die Moumlglichkeit der gefahrlosen Uumlbernahme gesehen

Satirische Elemente als Mittel der BelehrungDer dritte Erklaumlrungsansatz fuumlr die Verbindung von Satire und Belehrung be-trachtet die Wahl Saturas als Figur und die Bezugnahme auf die Gattung zunaumlchst

Cassiod inst 2 2 17 Zur mittelalterlichen Martianus-Rezeption vgl bes Nuchelmans 1950 Lutz 1971 und 1976Willis 1973 sowie die Ausgaben und Literatur u a zu folgenden Werken Konrad von MureFabularius Hugo von Sankt Victor Didascalicon de studio legendi Johannes von SalisburyMetalogicon Kindermann kann weiterhin nachweisen dass De nuptiis auch durch seine Forminspirierend gewirkt hat (Kindermann 1969 61 f)

2 De nuptiis als literarisches Werk 147

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

als reine Fortsetzungder literarischen Form Fuumlr diese spezielle Formder Literaturdie menippeische Satire hat der russische Literaturwissenschaftler MichailBachtin Beobachtungen aufgestellt die auch fuumlr De nuptiis zutreffen Durch denRuumlckgriff auf zwei zentrale Konzepte Bachtins das Karnevaleske und die Dialo-gizitaumlt wird ein Verstaumlndnis von De nuptiis ermoumlglicht

Auf der Suche nach Vorlagen und Urformen der Gattung des Romans ins-besondere in der Form von Dostojewskis Romanen stieszlig Bachtin unter anderemauch auf die menippeische Satire die er bis in die Antike zuruumlckverfolgtesup3⁵⁶ Zuihren Vertretern zaumlhlt er unter anderem Varro Apuleius Petron Seneca oderLukiansup3⁵⁷ Martianus Capella wird nicht erwaumlhnt was aber nicht verwundernmuss da Bachtin keine Literaturgeschichte der menippeischen Satire schriebsup3⁵⁸

Kern der Uumlberlegungen Bachtins zurmenippeischen Satire ist das Konzept desKarnevals Unter Karneval versteht er folkloristische Feste waumlhrend deren diebestehende Ordnung verkehrt wird uumlbliche Regeln nicht mehr gelten Herr-schende gestuumlrzt und Machtlose maumlchtig werden ndash auf Zeit Die Karnevalisierungalso die Uumlbernahme der Kennzeichen dieses Festes in neue oder bestehende li-terarische Formen institutionalisiert diese Ausnahmesituation und loumlst sie vomkonkreten Fest Der so entstandene Text wird bdquozum karnevalesken Spiel an demder Autor und sein Publikum einverstaumlndlich teilhaben und das keines kalen-darisch oder institutionell abgesicherten Karnevalsrahmens mehr bedarfldquosup3⁵⁹

Diese Karnevalisierung fuumlhrt unter anderem zu einer Vielstimmigkeit vonMeinungen und Positionen im Text z B durch mehrere Figurenvon denen keinebevorzugt oder gar als autoritativ gekennzeichnet wird In dieser Dialogizitaumlt wirdkein allgemein guumlltiger Sinnmehr vermittelt sondern dieWahrheit suspendiertsup3⁶⁰

Dass der Bezug auf karnevalsartige Feste der Gattung menippeische Satire (inTeilen auch der Verssatire) eignet zeigt ein kurzer Blick auf wichtige Vertreter derTradition

Julians Symposion Caesares spielt zur Zeit der Saturnalien Die Bedeutungdieses Festes fuumlr das Werk wird dadurch verdeutlicht dass es den Handlungs-

Bachtin 1971 126ndash 135 Bachtin 1971 126 128 132f Kritik an den z T pauschalisierenden und verfaumllschenden Aussagen Bachtins uumlber antikeLiteratur oder an der ununterbrochenen Traditionslinie von der Antike bis in die Moderne (z BRelihan 1987 59 Lachmann 2006 23ndash25) muumlsste auch auf manche moderne Literaturwissen-schaftler in der Nachfolge Bachtins angewandt werden (vgl Branham 2005 6 wo es uumlberSenecas Apocolocyntosis heiszligt bdquoour only extant Menippean satire in Latinldquo) Teuber 1993 182 Eine gut verstaumlndliche Einfuumlhrung in das Konzept der Dialogizitaumlt im Sinne der bach-tinschen Terminologie bietet Sharland 2010 Einfuumlhrung (1ndash51)

148 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

rahmen fuumlr den in der Folge erzaumlhlten Mythos bildet Bereits im ersten Satz wirdauf das Fest und die Tradition Heiteres frei zu erzaumlhlen Bezug genommensup3⁶sup1

Auch Senecas Apocolocyntosis stellt einen engen Bezug zum Saturnalienfesther Das Werk spielt zwar nicht an den Saturnalien sondern am Todestag desClaudius im Oktober doch wird an zwei Stellen eine Verbindung zwischen derHerrschaft des verstorbenen Kaisers und den dargestellten Sitten waumlhrend derRegierungszeit mit dem Saturnalienfest gezogensup3⁶sup2 Manche Interpreten gehensogar davon aus dass die Apocolocyntosis an den Saturnalien des Jahres 54vorgetragen wurdesup3⁶sup3 Auch bei Petron und Horaz finden sich Bezugnahmen aufdie Saturnaliensup3⁶⁴

Ein zentrales Element des Saturnalienfestes liegt in der Suspension der uumlb-licherweise geltenden Normen und Wertesup3⁶⁵ Neben den anderen Elementen desFestes wie sie z B in Macrobiusrsquo Saturnalia (1 7ndash 10 1 24 22 f) beschriebenwerden (traditionelle Geschenke Festmahl fuumlr die Sklaven etc) hat gerade dieUmkehrung der Herrschaftsverhaumlltnisse im Haus Niederschlag in der Literaturgefunden

Gerade durch diese Rolleninversion treten einige wichtige gesellschaftlicheNormvorstellungen und Grundannahmen prominent hervor Dazu zaumlhlt das Be-wusstsein dass es eine befehlende und eine ausfuumlhrende Gruppe von Menschengibt oder dass im Prinzip ein Rollenwechsel moumlglich sein kann Alle Beteiligten

Ἐπειδὴ δίδωσιν ὁ θεὸς παίζειν ndash ἔστι γὰρ Κρόνια ndash hellip (sbquoDa der Gott das Scherzen erlaubt ndashes sind ja die Kronia helliplsquo Caes 1 = 306a Spanheim) Zur Frage ob es sich bei Caesares auch umdas Werk handle auf das zu Ende der Rede auf Koumlnig Helios verwiesen wird (Or in Sol reg 44 =157c Spanheim) vgl Muumlller in seiner Uumlbersetzung (39 ablehnend) und Lacombrade im Vorwortseiner Budeacute-Ausgabe (3 und 18 Anm 3) der aufgrund des Handschriftenbefundes Kronia auchals Titelbestandteil fuumlr die Caesares uumlbernimmt Es handelt sich um Sen apocol 8 1 (Claudius als Saturnalienprinz) und 12 2 (Herrschaftdes Claudius als andauerndes Saturnalienfest) ndash Dass Lukian nicht auf die Saturnalien alsRahmen fuumlr seine Werke zuruumlckgreift entwertet die Beobachtungen nicht Lukian musste auf-grund seines Selbstbewusstseins als satirischer Schriftsteller und aufgrund der Menge seinersatirischen Schriften nicht jedes Mal einen eigenen literarischen Rahmen herstellen in demeinzelne Dialoge stattfinden konnten Das Saturnalienfest selbst erscheint bei Lukian als Ge-genstand der Satire nicht als deren literarische Rahmung (Τὰ πρὸς Κρόνον) Zuerst bei Furneaux 1896 23 Anm 11 In der neueren Forschung vgl bes Nauta 1987Kritisch dazu u a Doumlpp 1993 159 f Petron 44 3 58 2 69 9 zu Horaz vgl z B serm 2 7 (libertas Decembris) Ein gelungenesBeispiel der Anpassung und Anwendung der bachtinschen Konzepte mit Ertrag fuumlr die Inter-pretation unter Einbezug von serm 2 7 bietet Sharland 2010 Distelrath 1999 114 Vgl weiterhin Versnel 1993 136ndash227 und Doumlpp 1993 Eine plastischeSchilderung der Rollenvertauschung bei der der Sklave dem Herrn die Leviten liest bietet Horserm 2 7

2 De nuptiis als literarisches Werk 149

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Herren wie Sklaven spielen also mit den Moumlglichkeiten einer alternativen Wirk-lichkeit

Das Besondere im Spiel mit den Moumlglichkeiten liegt aber in seiner zeitlichenBegrenzung Nach der Zeit des Ausnahmezustands gelten wieder die normalenimmer guumlltigen Regeln Die Rolleninversion erlaubt also ndash oder erzwingt gera-dezu ndash das Nachdenken uumlber bestimmte gesellschaftliche Normen und Wertvor-stellungen Durch die Ritualisierung und enge zeitliche Begrenzung ist darausjedoch keineswegs die Notwendigkeit entstanden die Verhaumlltnisse tatsaumlchlich zuhinterfragen oder gar zu aumlndern Daher lassen sich die Saturnalien auch als ein dieKonventionen bestaumlrkendes Fest verstehen Das Spiel mit der Moumlglichkeit eineranderen Gesellschaftsordnung hat durch seine Ritualisierung letztlich eine dieTradition legitimierende Funktion bekommen

In De nuptiis finden sich jedoch houmlchstens spaumlrliche Hinweise auf das Sa-turnalienfest Am ehesten weist das grob scherzende Agieren Saturas in diesenBereich Die bdquolangen Winternaumlchteldquo (1 2) koumlnnten (statt als Bezug auf Gellius) alsAnspielung auf das Saturnalienfest verstandenwerden ndash die Saturnalien finden inden laumlngsten Naumlchten uumlberhaupt statt seit der Kaiserzeit vom 17 bis 23 DezemberDies ndash wie die Spekulation uumlber eine spielerische etymologische Verbindung vonSatura und Saturnaliensup3⁶⁶ ndash ist aber insofern nicht von Belang da die Gattung alsGanze karnevaleske Zuumlge traumlgt und als gewissermaszligen institutionalisierter Kar-neval vom eigentlichen Fest losgeloumlst istsup3⁶⁷

Die Aufhebung der uumlblichen Ordnung (was Teuber im Ruumlckgriff auf Limina-litaumltskonzepte als praumlliminale Phase bezeichnet)sup3⁶⁸ beginnt mit der VorbereitungPhilologias zum Aufstieg in den Himmel Bereits das Erbrechen stellt eine mar-kante Umkehrung der alltaumlglichen Welt dar Statt sich Wissen anzueignen er-bricht Philologia es nun In der Goumltterversammlung auf der Milchstraszlige ist dieOrdnung sodann voumlllig verkehrt Philologia als Meisterin aller Disziplinen und

Zwar sind die einschlaumlgigen etymologischen Woumlrterbuumlcher skeptisch (v a WaldeHof-mann 2007 II 482 neutral ErnoutMeillet 2001 596) jedoch gibt es dahin gehende moderneDeutungen (aufgefuumlhrt bei WaldeHofmann 2007 II 482) und auch antike ParallelisierungenCic nat deor 2 64 Saturnus hellip est appellatus quod saturaretur annis (sbquoSaturn hellip wurde ergenannt weil er an Jahren gesaumlttigt istlsquo) Fulg myth 1 2 (p 17 16) a saturando Saturnus dictusest (sbquoDa er (die Menschen) saumlttigt wurde er Saturn genanntlsquo) Aug cons euang 1 23 35 Sa-turnus tamquam satur hellip νοῦς (sbquoSaturn gleichsam der gesaumlttigte hellip νοῦςlsquo) Vgl auch Gowers diedie etymologischen Verbindungen von satura Satyrspiel und Saturnalien untersucht (Gowers1993 109ndash 117) Sie kommt zu dem Befund dass keine Verbindung bestehe wohl aber verbin-dende Elemente identifiziert werden koumlnnten bdquocarnival licence parody uninhibited mockeryand excessive consumptionldquo (ibid 117) Vgl z B Teuber 1993 183 f Teuber 1993 183

150 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

bedeutende Lehrinstanz muss sich ihrerseits belehren lassen ndash mit dem Wissendas urspruumlnglich ihres war

Durch die Inversion wird die (vielleicht uumlblicherweise nicht prominente)Philologia in den Mittelpunkt geruumlckt und ihre zentrale Rolle im Wissenssystemtritt markant vor Augen Gleichzeitig kann darin eine leise Anfrage an ihre Lehr-autoritaumlt und eventuell auch ihre Eignung zur Lehre gesehen werden

Aufgrund des zeitlich begrenzten Rahmens der Verkehrung (diemit dem Endeder Vortraumlge voruumlber ist aber nicht explizit zuruumlckverwandelt wird) dessen Be-grenztheit durch Bezug auf die Form der menippeischen Satire ergaumlnzt werdenkann wird das System der Bildung und der Bildungsvermittlung jedoch nichtgrundsaumltzlich infrage gestellt Die Suspendierung Philologias ist temporaumlr

Dem Konzept der Dialogizitaumlt oder Mehrstimmigkeit folgend erklaumlrt sich auchdie Doppelung und Verunklarung der Erzaumlhlinstanz In den drei Dialogen indenen Satura und Martianus aufeinandertreffen behandeln sie die Frage desrichtigen Erzaumlhlens Dies beschraumlnkt sich nicht nur auf die Satire sondern umfasstalle auftretenden literarischen Formen Martianus und Satura sind sich uneinswie weit der Mythos reichen soll und ob eine Enzyklopaumldie trocken oder auchunterhaltsam erzaumlhlt werden soll (2 219ndash3 222) ob ein Symposion auch Zechenund Spaszlig vertraumlgt (8 803ndash810) oder ob und wie stark Satire Dinge vermischendarf (9 997ndash 1000)

Die unterschiedlichen Meinungen zu den Fragen werden zwar diskutiert undfuumlhren zu einem Ergebnis ndash der Erzaumlhlfluss versiegt ja an keiner Stelle oder setztneu an Allerdings entsteht in der Folge kein homogenes Werk und am Schlussmag keiner der beiden Erzaumlhler dafuumlr die Verantwortung uumlbernehmen Der Wi-derwillen sich zu dem Werk zu bekennen bedeutet aber gleichzeitig auch dassMartianus sich nicht festlegt welche Position er fuumlr die richtige haumllt Die Fragenach der rechten Art der Wissensvermittlung die auch in der Ent- und Inthroni-sierung Philologias anklang bleibt unbeantwortet

Schlieszliglich bringt der Blick auf die Aurelian-Vita aus der Historia Augustanoch einen weiteren Aspekt ein Parallel zur Aufteilung der Erzaumlhlinstanzen in Denuptiiswird der Erzaumlhlprozess in derHistoria Augusta aufmehrere AutorenverteiltWie zuerst Hermann Dessau und in der Folge Ronald Syme nachdruumlcklich gezeigthaben handelt es sich allerdings um nur einen Verfasser der uumlberdies auch inBezug auf die Abfassungszeit falsche Angaben gemacht hat und Quellen erfundenhatsup3⁶⁹ Insofern laumlsst sich der in der Historia Augusta gepraumlgte Begriff der

Auf den Charakter der Sammlung die Syme u a als bdquohoaxldquo bezeichnet (1983a 11 1983b13 1983c 219) die fingierten Autoren die manipulierten Quellen etc soll an dieser Stelle nurhingewiesen werden Vgl auch Cameron 2011 Kap 20 mit ausfuumlhrlicher Diskussion relevanterFragen

2 De nuptiis als literarisches Werk 151

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mythistoria der Vermischung von Mythischem und Historischem auch auf dieSammlung selbst anwendensup3⁷⁰

Als Menippee im engeren Sinne laumlsst sich weiterhin die Aurelian-Vita die 26Vita der Sammlung fassen und bezeichnenderweise spielt die Rahmenhandlungan denHilariasup3⁷sup1Wie zu den Saturnalien gehoumlren zu diesem Fest Scherze und ndash imRahmen von Maskierungen ndash Rollenwechselsup3⁷sup2

Noch in der rahmenden Einleitung zur Vita spielt sich folgender Dialog ab

1 et quoniam sermo nobis de Trebltellgtio Pollione qui a duobus Philippis usque ad divumClaudium et eius fratrem Quintillum imperatores tam claros quam obscuros memoriaeprodidit in eodem vehiculo fuit adserente Tiberiano quod Pollio multa incuriose multabreviter prodidisset me contra dicente neminem scriptorum quantum ad historiam pertinetnon aliquid esse mentitum prodente quin etiam in quo Livius in quo Sallustius in quoCornelius Tacitus in quo denique Trogus manifestis testibus convincerentur pedibus insententiam transitum faciens ac manum porrigens iocando[m] praeterea sbquoscribelsquo inquit sbquout

quae ille [scil Iunius Cordus] omnia exsequendo libros mythistoriis replevit talia scribendocum omnino rerum vilium aut nulla scribenda sint aut nimis pauca si tamen ex his morespossint animadverti qui re vera sciendi sunt hellip sed ex parte ut ex ea cetera colligantur(SHA Opil 1 5)

Bei der Anfuumlhrung von all diesen Informationen hat er die Buumlcher mit fabuloumlsen Ge-schichten angefuumlllt indem er Dinge von dieser Art schrieb wo doch uumlberhaupt keinenutzlosen Dinge geschrieben werden duumlrfen oder nur sehr wenige sofern daraus Verhal-tensweisen erkannt werden koumlnnen die wirklich wissenswert sind hellip aber zum Teil(schreibe ich) damit daraus das Andere gefolgert werden kann

quid Marius Maximus homo omnium verbosissimus qui et mythist[h]oricis se voluminibusinplicavit num ad istam descriptionem curamque descendit (SHA Quadr tyr 1 2)

Wie Hat sich Marius Maximus der groumlszligte Schwaumltzer vor dem Herrn der sich in seinenmythistorischen Werken verfangen hat etwa zu dieser Art der Darstellung und des sorg-faumlltigen Arbeitens herabgelassen

Hilaribus quibus omnia festa et fieri debere scimus et dici impletis sollemnibus vehiculo suome hellip Iunius Tiberianus accepit (SHA Aurelian 1 1)

An den Hilaria an denen alles zum Fest Gehoumlrende getan und gesagt werden muss wieman weiszlig empfing mich nach Erledigung der Zeremonien Iunius Tiberianus in seinemGefaumlhrt

Pausch bemerkt dieses besondere Datum zwar und erwaumlgt ob es sich um ein bdquoweitergehendesLesesignalldquo beispielsweise im Sinne karnevalesker Literatur handeln koumlnne verfolgt diese Spuraber nicht weiter (Pausch 2011 130 Anm 1) Herodian 1 10 5 ndash Einige Hinweise auf die Hilaria die im Kontext des Magna Mater-Festesam 25 Maumlrz gefeiert wurden bietet Fraser in seinem Kommentar zu Ovids Fasti (Fraser 1929244ndash248)

152 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

libet 2 securus quod velis dices habiturus mendaciorum comites quos historicae elo-quentiae miramur auctoreslsquo (SHA Aurelian 2 1ndash2)

1 Und weil unser Gespraumlch uumlber Trebellius Pollio der von den beiden Philippi bis zumvergoumlttlichten Claudius und dessen Bruder Quintillus gleichermaszligen uumlber beruumlhmte wieunbekannte Kaiser fuumlr die Nachwelt schrieb in derselben Saumlnfte stattfand behauptete erdass Pollio vieles ohne Sorgfalt und nur kurz dargelegt habe Ich erwiderte dass keinSchriftsteller sofern es um die Geschichte gehe nicht irgendwo gelogen habe und legtesodann dar worin sogar Livius Sallust Tacitus schlieszliglich sogar Trogus mit eindeutigenBelegen uumlberfuumlhrt werden koumlnnten Darauf sagte Tiberianus schlieszliglich scherzend indem ermeiner Meinung beipflichtete und mir seine Hand darbot bdquoSchreibe sowie du es fuumlr richtighaumlltst 2 Sage unbesorgt was du willst du wirst diejenigen als Gefaumlhrten fuumlr deine Taumlu-schungen haben die wir als Schoumlpfer historiographischer Beredsamkeit bewundernldquo

So sympathisch dieser Anspruch auch erscheinen mag ist er doch fuumlr das Ver-trauen in die Gattung der Geschichtsschreibung fatal Gerade in der Einleitungeiner Vita jedoch ndash zumal es der Fiktion nach die erste des Flavius Vopiscus Sy-racusius im Corpus der Historia Augusta ist ndash kann eine solche Anekdote ei-gentlich keinen Platz haben Sie erweckt beim Leser den Eindruck dass er dennachfolgend dargebotenen Informationen kein Vertrauen schenken duumlrfesup3⁷sup3

Die Parallelen zwischen der Historia Augusta insbesondere dem Vorgehen inder Vita Aureliani und De nuptiis liegen auf der Hand Verunklarung der Autor-schaft bzw der Erzaumlhlhaltung einerseits Erwecken von Zweifeln an der Glaub-wuumlrdigkeit des Dargebotenen andererseits

In der Historia Augusta sind die Inkongruenzen mit der Freude des Autors amliterarischen Spiel erklaumlrt worden Der Autor habe aus Freude am Fabulieren(vielleicht auchumein dafuumlr empfaumlngliches Publikum zu befriedigen) die Viten indieser Form verfasstsup3⁷⁴ Mag man dies fuumlr die Historia Augusta noch zugestehenderen Text uumlber einen laumlngeren Zeitraum vielleicht zunaumlchst ohne eine Gesamt-konzeption entstanden ist und auch sprachlich nicht herausragt stellt sich derSachverhalt fuumlr Martianusrsquo De nuptiis anders dar Das Werk hat durchaus einenliterarischen Anspruch und es folgt eindeutig einer vorab geplanten Gesamtan-lage Die Freude am Spiel mag vielleicht manches Detail beigesteuert haben fuumlrdie verschraumlnkte Anlage des Textes ist sie aber keine Erklaumlrung

Ganz anders ist der Anspruch zum Ende der Darstellung der Viten der bdquoDreiszligig Tyrannenldquoin dem der Autor beteuert seinem Werk mangele es zwar an literarischer Ausgefeiltheit nichtjedoch an Faktentreue da nunc cuivis libellum non tam diserte quam fideliter scriptum ndash sbquoGibnun dieses Buumlchleinwem du magst es ist nicht so sehr kunstvoll geschrieben wie es sachgetreuistlsquo (SHA Quadr tyr 33 8) Syme nennt dies bdquodeceit for its own sweet sakeldquo (1983c 217) Im gleichen Aufsatz spe-kuliert er auch uumlber das Interesse des Publikums an einer solchen Art von geistigem Spiel(ibid 221)

2 De nuptiis als literarisches Werk 153

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Es lohnt sich jedoch auch fuumlr die Historia Augusta einen Schritt weiter zugehen Ausgangspunkt dafuumlr ist die obige Beobachtungdass das literarische Spielder Historia Augusta nur durchschaut wer die Werke der historischen Literaturkennt Durch die Lektuumlre historiographischer Biographien bringt der Leser einebestimmte Leseerwartung also implizite Vorstellungen mit wie das Werk aus-sehen soll und wird Diese Erwartungen werden aber nicht oder nur teilweisebedient Formal gesehen weisen die Viten in der Historia Augusta zwar die Cha-rakteristika der Gattung auf ndash doch indem sie sie inhaltlich nicht adaumlquat aus-fuumlllen treten deren Konventionen vor Augen

Durch die uumlbermaumlszligige Verwendung falscher Verweise und erfundener Quel-len geraumlt zudem das Beglaubigungsverfahren historischer Texte in den Blick-punkt Der Leser erkennt anwelchen Stellenwelche Beglaubigungsmechanismenansetzen und auf welche Weise sie unterlaufen werden koumlnnen Uumlberspitzt lieszligesich behaupten DieHistoria Augusta verfolgt ein aufklaumlrerisches Interesse indemsie (spielerisch) aufzeigt welche Beglaubigungsverfahren die Geschichtsschrei-bung nutzt und wie sie manipuliert werden koumlnnen dadurch wird auch die Ma-nipulierbarkeit von Geschichte und Leser deutlich

In De nuptiis werden ebenfalls die Konventionen der Einzelgattungen ndash zu-mindest ansatzweise ndash hervorgehoben Dass kein perfektes Musterbeispiel derjeweiligen Einzelgattung entstehen kann liegt darin begruumlndet dass durch dieVerbindung der vier literarischen Genres keine oberflaumlchliche Konsistenz derFiktion entstehen kannVielmehr entstehen Bruumlche die ndash ebenso wie die Bruumlchein der Erzaumlhlhaltung ndash auch die Gattungskonventionen und ihre Annahmendeutlich werden lassen Dies gilt besonders fuumlr die Satire deren Vorgehen imKontrast zur eigentlichen Hochzeitshandlung aus dem Rahmen faumlllt und somitbesonderes Augenmerk erhaumllt Hinzu tritt mit der Figur Satura auch eine Perso-nifikation der Gattung die in theoretischen Diskussionen Annahmen und Vor-gehen mit Martianus eroumlrtert Grunduumlberlegungen der Gattung Satire werden sotheoretisch eroumlrtert und praktisch erprobt Gleiches giltwenn auch zT inwenigerdeutlicher Form auch fuumlr die anderen Formen Die Enzyklopaumldie in ihren langenMonologen wird durch Spott markiert die trockenen Kuumlnste werden probeweisedurch Allegorien zugaumlnglicher gemacht im Symposiondialog wird uumlberlegt in-wieweit uumlbliche Rollenmuster (der Zecher) einen Platz haben oder wie weit mandie fuumlr die Feier typischen Reden fuumlhren kann und immythischen Teil wird durchdie Gegenuumlberstellung mit dem handfesten Wissensbetrieb die Andersartigkeitdes Erzaumlhlens deutlich

So werden neben den Inhalten der Wissenschaften auch verschiedene lite-rarische Formen bewahrt Neben der reinen Anwendung und somit Tradierungwerden gleichzeitig auch die Mechanismen verdeutlicht deren sich die jeweilige

154 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Gattung bedient Somit wird ihr Funktionieren nachvollziehbar und in der Folgeauch nachahmbar

3 Zusammenfassung

Martianus weckt also durch die Wahl mehrerer gleichberechtigter Erzaumlhler diesomit das Erzaumlhlen unzuverlaumlssig werden lassen besonders aber durch dieUumlbernahme satirischer Gattungselemente ein Bewusstsein fuumlr die traditionellenGrundlagen desWissens- und Lehrsystems seiner Zeit ImGegensatz zur Satire diediese Fragen kategorisch stellt handelt es sich in De nuptiis um ein Spiel damitDer Satirebezug dient als Anknuumlpfung an die traditionellen Gattungsmerkmaleder menippeischen Satire Karnevaleske und Dialogizitaumlt

Durch die (temporaumlre) Rolleninversion richtet sich das Augenmerk aufPhilologia als Wissenszentrum und Wissensmittlerin und fordert zum Nach-denken daruumlber heraus Im Kern hinterfragt das Werk alle Bereiche die mit Bil-dung und Bildungsvermittlung zu tun haben Was sind die Inhalte wahrer Bil-dung Gibt es eine Einheit von Bildung Wie kann sie vermittelt werden

Allerdings zielt die Kritik nicht auf eine Aufloumlsung klassischer Bildungsinhalteund Vermittlungsformen Sie regt vielmehr durch Scherz und Bruumlche zumNachdenken uumlber diese Fragen an Dabei verzichtet Martianus auf eigene Vor-schlaumlge und Konzepte und festigt so gleichsam den traditionellen Bildungs-betrieb Das von ihm dargestellte Wissen wird kanonisiert und die Darstel-lungsform in langen Reden wird es auch Die mittelalterliche Rezeption von Denuptiis zeigt dies eindrucksvoll

Wissen umfasst dabei nicht nur das Faktenwissen der Vortraumlge sondern auchdas Wissen um bestimmte literarische Formen Durch die Verbindung von vierGattungen und die Doppelung der Erzaumlhlerfigur mit Reflexion uumlber angemessenesErzaumlhlen entstehen Inkonsistenzen die die Konventionen der einzelnen Gattun-gen hervortreten lassen Nicht alle Elementewerden auf dieseWeise deutlich aberMartianus bietet einen Ansatzpunkt die Fiktion auch unter der Fragestellung zulesen was einen Text der jeweiligen Gattung ausmacht ndash sowohl positiv wie ne-gativ formuliert

Mit seiner kreativen Konzeption und ihrer literarischen Umsetzung gelingt esMartianus eindrucksvoll Heiteres und Belehrendes zu verbindenwomit er an dieTradition Varros und die klassische antike Poetik anknuumlpft Es gelingt ihm daruumlberhinaus aber auchWissen zu vermitteln und die traditionellen Vorstellungen vonder Bedeutung dieses Wissens wie der Form seiner Vermittlung herauszustellenSpielerisch wird also gelehrt und hinterfragt nicht jedoch kategorisch kritisiertoder kuumlhn neu entworfen Gerade dadurch zeichnet sich Martianusrsquo De nuptiis

3 Zusammenfassung 155

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

tatsaumlchlich als nescioquid inopinum intactumque (sbquoetwas Ungewohntes und nochnie Gewagteslsquo 1 2) aus und macht es zu einem der bedeutendsten Buumlcher derSpaumltantike und zu einer interessanten Quelle fuumlr die Frage nach Bildungsvor-stellungen im fuumlnften Jahrhundert

156 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Page 7: Bildungsvorstellungen im 5. Jahrhundert n. Chr. (Macrobius, Martianus Capella und Sidonius Apollinaris) || III Martianus Capella, De nuptiis Philologiae et Mercurii

vonmoumlglichen Zuordnungen die eine Festlegung vermeidetsup2⁷⁰Die Untersuchungwird besonders vier Traditionsstraumlnge fokussieren das Lehrbuch bzw die Enzy-klopaumldie die Symposionliteratur die mythisch-allegorische Erzaumlhlung und diemenippeische Satiresup2⁷sup1 Es wird nach dem Zweck der Anknuumlpfung an diese Tra-ditionen zu fragen sein um dann zu pruumlfen welche Wirkung die Verbindungdieser Formen hervorruft

Einen besonderen Schwerpunkt wird die Herausarbeitung der satirischenElemente in De nuptiis darstellen Trotz ihrer relativen Prominenz sind bislangnicht alle Elemente beachtet wordensup2⁷sup2 Und da aus diesen Beobachtungenwichtige Folgerungen fuumlr das Gesamtverstaumlndnis vonDe nuptiis abgeleitet werdenmuumlssen diese zunaumlchst ausfuumlhrlich erhoben werden

Eingelagert in die Analyse der satirischen Elemente von De nuptiis wird dieFrage nach der narrativen Gestaltung unter dem Blickwinkel der Erzaumlhlinstanzenthematisiert In der Schrift konkurrieren zwei Erzaumlhlerfiguren Martianus undSatura um die Verantwortung fuumlr das Erzaumlhlte wie um das richtige Vorgehen beimErzaumlhlen Es ist zu bestimmen in welchem Verhaumlltnis beide Erzaumlhlerfiguren zu-einander stehen und welchem Zweck diese Doppelung dient

21 Die literarische Form

EnzyklopaumldieIm Gegensatz zu Macrobiusrsquo Saturnalia ist De nuptiis dem Sohn nicht als Werk derBelehrung gewidmetVielmehr spricht Martianus von der fabella (1 2) bzw fabula

Paradigmatisch ist die Konstatierung der Aporie bei LeMoine die nach der Aufzaumlhlungvon Vorbildern das Kapitel zur literarischen Form ohne weitere Uumlberlegungen so abschlieszligtbdquobut the De nuptiis in the diversity of its content language and form is truly unlike anythingwritten either before or sinceldquo (LeMoine 1972a 8) Vgl auch Relihan bdquoit is a mixture thatfrustrates senseldquo (Relihan 1993 15) Bisherige Interpretationen haben jeweils unterschiedliche Traditionen benannt und derVermischung der Formen wenig Beachtung geschenkt EnzyklopaumldieLehrbuch (Marinone 197018 Lommatzsch 1904 190) Lehrbuch mit menippeischen Momenten (Dronke 1994 36)menippeische Satire (LeMoine 1972a 7) menippeische Satire und Symposionform (Petrovićovaacute2004 85) Mischung aus Enzyklopaumldie menippeischer Satire und platonischem Mythos (Barnish1986 98) menippeische Satire und Epithalamium (Cristante im Vorwort seiner Ausgabe 3 und21 Bovey 2003 10) Mischung aus philosophischem und allegorischem Roman (Boumlttger 1947590) Allegorie mit Fachschriftstellerei (Guillaumin 2008 168) Roman mit Elementen desSymposions (Stahl 1971 26) Mischung aus menippeischer Satire Allegorie fabula und Sym-posiondialog (LeMoine 1972b 214) Gelegentlich wird das satirische Element in De nuptiis sogar deutlich heruntergespielt oderumgedeutet vgl u a Grebe 1999 855 f Petrovićovaacute 2010b

120 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

(2 219) die das Buch ausmacht und die der Sohn houmlren bzw der Leser lesen sollsup2⁷sup3Erscheint es zunaumlchst so als ob die Erzaumlhlungmit dem zweiten Buch endet und abdem dritten nur ernste Abhandlungen folgen sollen (2 219 f) korrigiert Martianusdiesen Eindruck jedoch gleich zu Beginn des dritten Buches Dort laumlsst er sich voneiner nicht benannten Muse (Camena) das Versprechen abnehmen auch weiter-hin fiktionale Elemente zu nutzen

Der anfaumlnglich ins Auge gefasste Verzicht auf Fiktion (fictum) fuumlr die fol-genden wissenschaftlichen Partien (disciplinae sobriae)sup2⁷⁴ betont jedoch derenRelevanz und das Interesse an zuverlaumlssiger Belehrung Waumlhrend sich fuumlr denInhalt der Buumlcher 1 und 2 eine Erzaumlhlung als gut geeignet erwies widersprachdiese fuumlr Martianus dem Wesen der anschlieszligenden Vortraumlge welchen dadurchgroumlszligeres Gewicht zufaumlllt

Der scheinbare Konflikt wird dadurch geloumlst dass die Vortraumlge an sich in dergeplanten trockenen Form gehalten werden Sie sind jedoch in die uumlber alle neunBuumlcher fortgesetzte Erzaumlhlung der Hochzeit Merkurs mit der Philologie einge-bettet Der Handlungsfortschritt zwischen den Vortraumlgen ist nicht groszlig sondernbeschraumlnkt sich meist auf das Evozieren von Eindruumlcken und die Bezugnahme auftraditionelle gattungsspezifische Elemente (vgl z B die Elemente des Symposi-ondialogs)

Dass Martianus schlieszliglich das ganze Werk mit seinen erzaumlhlenden und be-lehrenden Teilen als fabula betrachtet wird in der abschlieszligenden Sphragisdeutlich Dort heiszligt es

Habes anilem Martiane fabulammiscillo lusit quam lucernis flamineSatura Pelasgos dum docere nititurartes daggercagris vix amicas Atticis (9 997)

Da hast du Martianus eine Altweibergeschichte welche bei Kerzenschein Satura mit ge-mischtem Liede [d h in Prosa und Vers] spielend hervorbrachtewaumlhrend sie sich bemuumlhtedie Pelasger zu lehren die Kuumlnste die den Griechen kaum freundlich [d h neu] sind

Der Begriff des mythos der dreimal in De nuptiis auftritt ist eng auf den allegorischenInhalt der Buumlcher 1 und 2 beschraumlnkt und entspricht in etwa dem was Macrobius unter narratiofabulosa versteht (Bovey 2003 38ndash42) Beide Wendungen 2 220 ndash Zur Frage der Bezeichnungen als artes bzw disciplinae in-klusive der Begriffsentwicklung vgl Bovey 2003 64ndash87

2 De nuptiis als literarisches Werk 121

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

So unklar der Inhalt der Wendung Pelasgos docere istsup2⁷⁵ wird doch deutlich dassMartianusmit den vorausgegangenen 9 Buumlchern belehrenwolltewas allein schondie systematische Anlage (sieben Kuumlnste Reflexion uumlber weitere Wissenschaftenin 9 891) und die Fuumllle des Stoffes nahelegen

Der enzyklopaumldische Teil umfasst die Buumlcher 3 bis 9 von De nuptiis Zunaumlchsttreten die Kuumlnste Grammatik Dialektik und Rhetorik auf und stellen ihre Disziplinvor (Buumlcher 3 bis 5) Davon deutlich abgesetzt durch einen Hymnus auf PallasAthene zu Beginn von Buch 6sup2⁷⁶ folgen die Wissenschaften des spaumlteren Qua-driviums Geometrie Arithmetik Astronomie und Harmonie (Buumlcher 6 bis 9)Diese werden wiederum in zwei Zweiergruppen unterteilt Eine unmittelbareVorlage dafuumlr laumlsst sich nicht erkennen aber auch bei Boethius findet sich eineZusammenfassung der vier mathematischen Faumlcher die von der Forschung aufNikomachos von Gerasa zuruumlckgefuumlhrt wirdsup2⁷⁷ Eine Anordnung nach steigendemAnsehen der Kuumlnste ist auch durch Groumlszlige und Zusammensetzung des Gefolgesund die Reaktionen der Goumltter erkennbarsup2⁷⁸

Die Vortraumlge der Kuumlnste selbst entsprechen dem Charakter von Fachschriftenwas vor allem auf der streckenweise woumlrtlichen Wiedergabe der zugrunde lie-genden Quellen beruht Durch den Umfang den kleinschrittigen Aufbau und diesprachliche Sproumldigkeit wirken diese Reden wie ein Fremdkoumlrper in der Ge-schichte der Hochzeitsfeierlichkeiten und lassen manchen anwesenden Gottmuumlde werden oder gereizt reagierensup2⁷⁹

In der Regel sind die Vortraumlge aus einer odermehrerenVorlagen uumlbernommenwobei Martianusrsquo Eigenbeitrag vor allem in der Auswahl und Zusammenstellungder Quellen liegt Ein prominentes Beispiel fuumlr Martianusrsquo Vorgehen ist die Be-zeichnung Konstantinopels als Byzanz (6 670) Die Stelle kann nicht ndash wie haumlufiggeschehen ndash zur Datierung herangezogen werden sondern offenbart Martianusrsquo

Cristante versteht die Stelle woumlrtlich wenn er formuliert Martianus wolle das baumlurischeItalien belehren (Cristante 1978 679) waumlhrend Parker die Bedeutung des Wortes Pelasgi garnicht genau bestimmen moumlchte (Parker 1890 454) Zu dieser Passage und der Bedeutung dieses zweiten sbquoBinnenprooumlmslsquo vgl Bovey 2003227ndash237 sowie Zaffagno 1998 Rechenauer 1994 Sp 1177 Waumlhrend Grammatik allein eintritt (3 223) wird Harmonia von vielen auch beruumlhmtenBegleitern eingefuumlhrt und ihr Einzug wird von Musik begleitet (9 905ndash909) Ihr Vortrag ruft beiden Goumlttern Freude hervor (9 996) waumlhrend der Vortrag von Grammatik neutral zur Kenntnisgenommen wird (3 326) und der Vortrag von Dialektik aufgrund des Unwillens der Zuhoumlrersogar abgebrochen werden muss (4 423) Vgl Relihan 1987 64 und Bovey 2003 10 die voneinem bdquoparcours ascendant et cycliqueldquo spricht 4 423 5 565 6 723

122 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

unkritischen Umgangmit seinen Quellensup2⁸⁰Meist liegt der Darstellungder Kuumlnstenicht jeweils eine Fachschrift zugrunde sondern sind mehrere Werke heran-gezogen und zusammengestelltsup2⁸sup1

Die Auswahl der Faumlcher erfolgt nicht willkuumlrlich Die Tradition der um-fassenden Bildung die sich hinter dem Begriff der ἐγκύκλιος παιδεία verbirgtsup2⁸sup2der von Martianus auch in lateinischer Uumlbersetzung verwendet wirdsup2⁸sup3 umfassteim Laufe der Jahrhunderte einen wechselnden Faumlcherkanon Im Kern waren je-doch immer sowohl sprachliche Faumlcher als auch im weiteren Sinne mathemati-sche Faumlcher darin vertretensup2⁸⁴ Die Siebenzahl war dabei nicht kanonisch eskonnten auch neun Faumlcher (Varro) dazugehoumlren oder ein nicht genau umrissenerFaumlcherkanon (Boethius)sup2⁸⁵

Gegenuumlber der Tradition stellt Martianusrsquo Faumlcherauswahl keine grundlegendeNeuerung dar Grammatik Rhetorik und Dialektik waren meist Bestandteil derumfassenden Bildung und auch Geometrie Arithmetik Astronomie und Musikgehoumlrten haumlufig dazusup2⁸⁶ Der Ausschluss weiterer Kuumlnste wie der Medizin und der

Vorlage ist an dieser Stelle Plinius (Plin nat 5 24f) Vgl Grebe 2000 354 Typisch ist dieEinschaumltzung Krapingers der De nuptiis ein niedriges fachliches Niveau bescheinigt (bdquoevidentesachliche Defiziteldquo Krapinger 1999 962) Vgl auch die Anrufung Minervas zu Beginn desQuadriviums 6 574 in der Martianus explizit um Inspiration in Bezug auf die griechischenKuumlnste bittet Ein Blick in den Similienapparat zeigt dass Martianus fuumlr das sechste Buch uumlber dieGeometrie hauptsaumlchlich auf drei Autoren zuruumlckgegriffen hat Solinus Plinius und Euklid Vglauch Willisrsquo Anmerkung in seiner Ausgabe non moris fuisse Martiano ut per integrum librumunum sequeretur auctorem (309) Sehr aufschlussreich ist beispielsweise die Untersuchung vonBarbara Ferreacute in der Einleitung zur Ausgabe (xxiv-xxvii) Vgl auch die Beitraumlge von Schievenin(2009a und 2009b) die neben der unmittelbaren Fragestellung auch eine weitere Einordnungbieten Einen konzisen und modernen Uumlberblick uumlber die Entwicklung des Konzeptes bietetRechenauer 1994 Die Monographie von Hadot (Hadot 2005) ist immer noch das Standardwerk 9 998 (disciplinae cyclicae) Hadot 2005 265ndash267 Marrou 1958a 2 Teil bes die Uumlbersicht 216ndash217 Rechenauer 1994Grebe 1999 37ndash50 Uumlber die Siebenzahl ihren Ursprung ihre Festlegung sowie ihre endguumlltige inhaltlicheFuumlllung ist bislang kein Konsens erzielt worden deutlich ist aber dass Martianus Capella undAugustin bei ihrer Kanonisierung und Ausgestaltung eine entscheidende Rolle gespielt habenbdquoLa question de lrsquoorigine du cycle des sept arts libeacuteraux est irreacutesolue et en partie insoluble maisles deux auteurs drsquoorigine africaine [Martianus Capella und Augustin] jouegraverent un rocircle con-sideacuterable dans le triomphe de ce programme drsquoeacutetude au moyen acircgeldquo (Zelzer 2003 249) ndash ZurNeunzahl der Faumlcher bei Varro als Anlehnung an die Musen vgl Huumlbner 2004 S die in Anm 284 genannte Literatur

2 De nuptiis als literarisches Werk 123

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Architektur wirdmit Verweis auf den fortgeschrittenenAbendund diemenschlich-praktische Seite der Faumlcher erklaumlrtsup2⁸⁷

Im Detail nimmt Martianus aber durchaus Aumlnderungen vor So geht es imneunten Buch von De nuptiis nicht um die Musik im Allgemeinen sondern um dieHarmonie Diese Umgewichtung steht sicher in Zusammenhang mit der verbin-denden und vereinigenden Grundkonzeption von De nuptiis die zu Beginn desersten Buches (1 1) durch den Hymnus auf Hymenaeus den verbindendenHochzeitsgott ausgedruumlckt wurdesup2⁸⁸ Unterstuumltzt wird diese Eigenwilligkeit durchdie praktische Darbietung von harmonischem Gesang der die theoretischenAusfuumlhrungen ergaumlnzt und steigert (9 911ndash919 9 996)

Auch bei der Behandlung der Geometrie in Buch 6 greift Martianus in dietraditionelle Darstellung des Wissens ein Anstatt die Ausfuumlhrungen auf geome-trische Fragen und Lehrsaumltze zu beschraumlnken erweitert Martianus sie um einenausfuumlhrlichen geographischen Teil der um einiges laumlnger ist als der geometrische(Geographie 6 586ndash703 Geometrie 6 705ndash723) Ferreacute erkennt dahinter vor al-lem ein literarisches Ziel Die vorhandene Stoffmenge zur Geometrie sei zu kleingewesen so dass Martianus sie habe erweitern muumlssen damit das sechste Buchnicht bedeutend kuumlrzer werde als die uumlbrigen Buumlchersup2⁸⁹

Veraumlndert Martianus also gelegentlich aus kompositorischen Gruumlnden dietraditionelle Darstellung der Kuumlnste so kann man dies auch in der Zusammen-fuumlhrung der vielen Spezialschriften in einemWerk erkennenUmfasst das Konzeptder ἐγκύκλιος παιδεία zwar einen breiten Faumlcherkanon an den sich Martianusauch weitgehend haumllt so ist die Darstellung aller Faumlcher in nur einem Werk un-gewoumlhnlich

Uumlblich war die Form der Abhandlung der die Beschaumlftigung mit einer Dis-ziplin zugrunde lag Als Beispiele kann auf nahezu alle antiken fachwissen-schaftlichen Schriften verwiesen werden Ausnahmen sind allein die Sammel-schriften die aber explizit andere Ziele verfolgen und keinen Fachbereichgruumlndlich bearbeiten

Diese Feststellung gilt auch fuumlr die anderen Autoren mit teilweise sbquoenzyklo-paumldischemlsquo Programm z B Augustin oder Boethius Augustins bdquoBildungspro-grammldquosup2⁹⁰ umfasste aumlhnliche Faumlcher wie Martianus sie versammelte doch ver-

9 890ndash891 Hadot nimmt an dass diese Disziplinen nicht per se als unwichtig angesehenoder in bewusster Abgrenzung von Varro ausgeschlossen worden seien sondern weil sie nichtzur bdquoSchau der goumlttlichen Weisheitenldquo fuumlhren wuumlrden (Hadot 2009 16) Zu dieser Stelle und zu dem im Hymnus ausgedruumlckten philosophisch-poetischen Pro-gramm vgl LeMoine 1972a 14 Stahl 1971 86 Relihan 1993 61 Schievenin 2009c So Ferreacute im Vorwort ihrer Ausgabe xlvi Den Begriff verwendet Studer 2007 522

124 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

fasste Augustin zu den einzelnen Disziplinen jeweils eine eigene Schrift (mit derFolge dass er nicht alle Faumlcher behandelt hatte als er das Projekt aufgab wohlaber einige Themen abgearbeitet und die Buumlcher erschienen waren)sup2⁹sup1 Aumlhnlichverhaumllt es sich mit Boethius der sich etwa einhundert Jahre spaumlter ebenfalls mitverschiedenen Wissensbereichen beschaumlftigte Trotz der Leistung des Martianussetzte Boethius sein Vorhaben aber so um dass er den verschiedenen Disziplineneinzelne Abhandlungen widmetesup2⁹sup2

Allein Varro hat seinem breiten Œuvre an Spezialschriften auch noch ein imengeren Sinne enzyklopaumldisches Werk zugefuumlgt die Disciplinae Darin beschaumlftigtsich Varro mit dem gleichen Faumlcherkanon wie Martianus (unter zusaumltzlicherAufnahme der Medizin und Architektur) Da das Werk aber verloren ist und auchnur spaumlrliche Testimonien vorhanden sind laumlsst sich nicht abschaumltzen inwieferntatsaumlchlich eine einheitliche Schrift vorgelegen hat und welches Ziel Varro mit ihrverfolgtesup2⁹sup3

MartianusrsquoWerkDe nuptiis ist die erste erhaltene Enzyklopaumldie der Antike undduumlrfte somit maszliggeblich zum heutigen Verstaumlndnis des Begriffs der Enzyklopaumldieals eines einzigenWerkes das alles Wissen enthaumllt beigetragen haben Der Grundfuumlr Martianusrsquo ungewoumlhnliches Vorgehen duumlrfte in dem augenscheinlichen Plander Verbindung aller Disziplinen liegen der auch zu Beginn des Werkes durch diePreisung des Hymenaeus ausgedruumlckt wirdsup2⁹⁴

Zu Augustins Plan vgl retract 1 6 (Per idem tempus quo Mediolani fui baptismum per-cepturus etiam disciplinarum libros conatus sum scribere ndash sbquoZu der Zeit als ich in Mailand balddie Taufe empfangen sollte habe ich versucht auch Buumlcher uumlber die Faumlcher zu schreibenlsquo)begonnen und teilweise erhalten sind gramm mus und evtl dialect Neben den Schriften zur Theologie und zur Logik sind die Schriften zur Arithmetik(arithm) zur Musik (mus) und zur Rhetorik (in top divis) zumindest teilweise erhalten Hinzukommen Uumlbersetzungen astronomicher und geometrischer Fachschriften Zu Boethiusrsquo Fach-schriften und seinem Programm vgl Chadwick 1981 69ndash107 Das spaumlrliche Wissen spiegelt auch die knappe Einfuumlhrung von Cardauns 2001 Sie um-fasst fuumlr die Disciplinae inklusive Literaturverweisen knapp zwei Seiten (77ndash78) und bietet wenigsichere Informationen Eine interessante gleichwohl stark negative Antwort auf die Zusammenstellung derKuumlnste in einem Werk bietet Voumlssing der damit gleichzeitig aber auch die Einzigartigkeit desVorgehens herausstellt bdquoWas in den mittelalterlichen Kloumlstern als Summe antiker Bildung galtwar wohl nur das Resultat der Selbstdarstellung eines ehemaligen Advokaten der dem gebil-deten Publikum seiner Stadt demonstrieren wollte dass er mehr konnte als plaumldieren und mehrwusste als der normale scholasticus den uumlberlieferten prestigetraumlchtigen Bildungsstoff allersieben artes ndash der uumlblicherweise nur in einzelnen Fachbuumlchern (und bezogen auf einzelneDisziplinen) praumlsentiert wurde ndash in einem Werk zusammenzufassen und einzubetten in einironisches literarisches Spiel So hoffte er beides zu haben den Ruhm der Bildung und den derparodistischen Distanzierung An eine spezifische Programmatik dachte er bei seiner Enzyklo-

2 De nuptiis als literarisches Werk 125

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Welches (philosophische oder literarische) Konzept dahinterstand und in-wieweit Martianus sein Vorhaben uumlberzeugend umsetzen konnte wird unter-schiedlich bewertetsup2⁹⁵Wie das Urteil auch ausfaumlllt gilt es doch zu beachten dassneben den enzyklopaumldischen Teilen mit ihrem traditionellen Inhalt in teils tra-ditioneller teils neuer Form auch andere narrative Strategien zum Einsatz kom-men die fuumlr eine umfassende Deutung und Bewertung ebenfalls beruumlcksichtigtwerden muumlssen

Literarisches SymposionEine andere Gattungstradition die fuumlr die Anlage von De nuptiis genannt werdenmuss ist die Form des literarischen Symposions In diesem Punkt besteht eineVerbindung zu Macrobiusrsquo Saturnalia deren Symposionform im entsprechendenKapitel untersucht worden istsup2⁹⁶

Auch inDe nuptiis lassen sich einige konstitutiveMerkmale eines literarischenSymposions aufzeigen Das Geschehen in den Buumlchern 3ndash9 spielt anlaumlsslich einerFeierlichkeit (der Hochzeit) an einem besonderen Ort (auf der Milchstraszlige)sup2⁹⁷ andem sich geladene Gaumlste (Goumltter Heroen etc) versammeln Den Vorsitz der Fei-erlichkeiten hat (gewissermaszligen als Symposiarch) Jupiter inne Es gibt zwar keineungeladenen Gaumlste doch Silen erfuumlllt die Rolle des Zechers und er verlaumlsst dieFeier vorzeitig (8 805) Auch die Liebe kommt nicht zu kurz indem Venus ihreReize spielen laumlsst (6 704) Voluptas mit Merkur flirtet (7 725ndash727) und Hymen-aeus mit seinem anzuumlglichen Gesang das Geschehen der Hochzeitsnacht zu-

paumldie ebenso wenig wie er seinen Platz im sbquoLehrplan des Abendlandeslsquo vorhersehen konnteldquo(Voumlssing 2008 404) Weit verbreitet ist die Ansicht Martianus habe eine Art Summe der antiken Gelehrsamkeiterstellt (Cristante im Vorwort seiner Ausgabe 27 Ferrarino 1969 2 Bovey 2003 20 Cristante2009 [3] Schievenin 2009a 77) Die gegensaumltzliche Position formuliert bereits Parker bdquo[I]t isclear that the seven arts were never supposed to include the whole circuit of human knowledgeMartianus Capellarsquos list was a reduction of Varrorsquos and Varrorsquos was not supposed to include allknowledgeldquo (Parker 1890 459) S o Kap II4 Dort werden auch die typischen Merkmale dieser literarischen Form vor-gestellt Die Milchstraszlige in der Darstellung bei Martianus greift zwei Aspekte auf die allerdingsschon lange vor ihm verbunden worden sind Einerseits ist die Milchstraszlige der Ort an den dieauszligergewoumlhnlichen Menschen nach ihrem Tod gelangen (Cic rep 6 16 Manil 1 758ndash800)andererseits ist auch die Vorstellung nicht ungewoumlhnlich dass dort der Wohnsitz der Goumltter zufinden sei (Ov met 1 170ndash 176 Manil 1 801ndash804) Bei Martianus versammeln sich dort dieGoumltter doch ist dies auch der Ort an den die vergoumlttlichte Philologia gelangt ndash abgesehen vonden uumlbrigen herausragenden Menschen die sich im Gefolge sbquoihrerlsquo Brautjungfer dort versam-meln

126 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mindest andeutet (9 902 f) wenn die Ausfuumlhrung auch nicht beschrieben wird(9 996)

Das auffaumllligsteMerkmal sind aber die Reden die gehaltenwerden Sie aumlhnelnzwar nicht dem Inhalt wohl aber der Form nach der monologischen Anlage derSymposiongespraumlche bei Platon oder (stellenweise) Macrobius Ebenso passt derInhalt Bildungswissen an sich zu einem Symposion auch wenn er hier sehrausfuumlhrlich und ohne Ruumlcksicht auf die primaumlren Adressaten die Goumltter prauml-sentiert wird Bei Platon sowie bei Martianus scheint der Inhalt der Gespraumlche imVorfeld noch nicht festzustehen wie die Auswahl der jeweils naumlchsten RednerindurchApoll (3 223 4 328 8 8109 891) bzw Paidia (7 728) oder die Diskussion umden Fortgang der Feier bzw die noch folgenden und auszuschlieszligenden Reden(= Kuumlnste) zu Beginn von Buch 9 zeigtsup2⁹⁸

Die Anordnung der Redebeitraumlge nach steigender Relevanz und die unter-brechungsfreie Praumlsentation der Reden erinnert ebenfalls ans platonische Sym-posion Schlieszliglich nimmt das Spiel mit der Erzaumlhlinstanz (Satura oder Martianus)die verschachtelte Erzaumlhlsituation bei Platon oder Macrobius mit ihren verschie-denen Berichtsebenen auf und formt sie umsup2⁹⁹

Mythisch-allegorische ErzaumlhlungZu den bereits genannten literarischen Vorlagen von De nuptiis tritt ein weiteresElement hinzu dessen Bedeutung und dessen eigene Vorlagen nur schwer zubestimmen sind

Besonders Shanzer weist in ihremKommentar zum ersten Buch vonDe nuptiiswiederholt auf die orphischen gnostischen und philosophisch-religioumlsen Ele-mente in den sehr bildhaften aber streckenweise schwer verstaumlndlichen erstenbeiden Buumlchern hinsup3⁰⁰ Eine umfassende Interpretation des Mythos bietet sie je-doch nicht Vielmehr beschraumlnkt sie sich auf Verweise zur Herkunft einzelnerMotive und auf die Deutung kuumlrzerer Passagen

Kupke kommt bei einer Musterung der verschiedenen mythischen Reminis-zenzen im zweiten Buch von De nuptiis zu der Feststellung dass eine eindeutige

Ein zentraler Unterschied besteht jedoch darin dass die Vortraumlge nicht von den Gaumlstengehalten werden sondern dass die Gaumlste also die Goumltter nur Zuhoumlrer sind waumlhrend die Kuumlnstereden Hierin erinnert De nuptiis eher an Julians Caesares in denen die versammelten Goumltter jaauch wenig sprechen wohl aber die roumlmischen Kaiser die ndash wenn auch um einiges knapper ndashihre Leistungen darstellen Ausfuumlhrlicher dazu im weiter unten folgenden Abschnitt uumlber die Erzaumlhlinstanzen Shanzer 1986c passim

2 De nuptiis als literarisches Werk 127

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

und kohaumlrente Decodierung aller Verweise undAnspielungen nichtmoumlglich seisup3⁰sup1Ihrer Ansicht nach ist es dem modernen Leser nurmehr moumlglich einzelnen Ver-weisen nachzugehen und sie aufzuzeigensup3⁰sup2

Trotz der benannten Schwierigkeiten darf bei allen Fragen nach literarischenVorlagen nicht vergessen werden dass De nuptiis vor allem (aber nicht aus-schlieszliglich) auch ein allegorisches Werk ist Die imposante Schilderung der vierFluumlsse in Buch 1 Apoll auf demParnass-Huumlgel die allegorischen Figuren undvieleweitere Elemente sind nicht nur kreative literarische Erfindungen sondern for-dern zu einer uumlbertragenen Lesart des Werkes auf Besonders die ersten beidenBuumlcher die den Mythos enthalten muumlssen aus diesem Blickwinkel gelesen undverstanden werden

Zu verweisen ist auszligerdem auf die Bezeichnung der Erzaumlhlung als fabula oderfabella Neben der naheliegenden Bedeutung von sbquoErzaumlhlung Geschichtelsquo imallgemeinen Sinn ist sicher auch an die Diskussion um die Berechtigung von fa-bulae in Macrobiusrsquo Somnium-Kommentar zu denken Dort verteidigt Macrobiussowohl Platon als auch Cicero gegen den Vorwurf fiktive Geschichten zu benut-zen um philosophische Wahrheiten zu verkuumlnden In bestimmten Faumlllen seidieses Vorgehen gerechtfertigt solange es sich um wahrhaftige und belehrendeErzaumlhlungen handlesup3⁰sup3 Diese Voraussetzung kann man auch fuumlr De nuptiis alserfuumlllt ansehen Da Martianus zudem dem Neuplatonismus aumlhnlich nahesteht wieMacrobiussup3⁰⁴ ist von einer bewussten Entscheidung zugunsten einer literarischenDarstellung auszugehen

Den einzigen Versuch einer umfassenden Deutung verschiedener Elementedes Mythos und der allegorischen Darstellung hat ndash unter Vernachlaumlssigung ei-niger Details ndash bislang Lenaz unternommen In der ausfuumlhrlichen Einleitungseines Kommentars zum zweiten Buch von De nuptiis untersucht er die philoso-phisch-religioumlsen Motive in diesem Buch und kann Verbindungen zur Myste-

Kupke 1998 154 Kupke 1998 159 Fuumlr den spaumltantiken und den mittelalterlichen Leser glaubt sie jedoch andie Moumlglichkeit der problemlosen Dekodierung Macr somn 1 2 21 vgl oben Anm 45 Gerade die neuplatonischen Elemente von De nuptiis sind verschiedentlich benannt wor-den auch wenn nicht immer eine einheitliche Deutung geboten wird Haumlufig genannt wird derAufstieg Philologias in den Himmel uumlber die Sphaumlrenstufen der mit einer bdquoRuumlckkehr der Seeleldquogleichgesetzt wird (z B Bovey 2003 11 Lenaz 1975 113 vgl auch Guillaumin 2008) Hinge-wiesen wird auch auf die drei Frauen die Merkur nicht heiraten wollen (Sophia Mantike undPsyche 1 6ndash7) und die drei Seelenteile darstellen sollen deren Summe aber letztlich Philologiaist (Lenaz 1975 107ndash 110) Dagegen vertritt Kupke die These die neuplatonischen Elementetruumlgen keine zusaumltzliche Sinnebene bei (Kupke 1998 153) kritisch aumluszligern sich BednařiacutekovaacutePetrovićovaacute 2010 7

128 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

rieninitiation zu platonischen Mysterien chaldaumlischen Orakeln magischenPraktiken und zur Theurgie nachweisen Im Deutungsteil verwirft er die ThesenNuchelmansrsquo und Mathonssup3⁰⁵ als zu kurz greifend Nuchelmans hatte in derHochzeit Philologias und Merkurs (mittelalterlicher Kommentar-Tradition fol-gend) eine Forderung von Martianus nach der Vereinigung von Wissen (Philo-logia) und Rhetorik (Merkur) gesehen Mathons Ansatz fuumlhrte den Verweis auf dieneuplatonische Wieder-Erinnerung und die Ruumlckkehr der Seele in dieses Modellein Ebenso wie bei Nuchelmans werden auch hier nur wenige Elemente desMythos interpretiertsup3⁰⁶

Lenazrsquo eigener Ansatzsup3⁰⁷ folgt den Uumlberlegungen Ferrarinossup3⁰⁸ und ergaumlnzt siemit einigen Hypothesen Im Kern kreise der Mythos des zweiten Buches um einedoppelte Vereinigung die (horizontale) Vereinigung allen irdischen Wissens inPhilologia mit Hilfe von Hymenaeus und die (vertikale) Vereinigung der goumlttlichenund menschlichen Sphaumlre mit Hilfe von Eros Hinzu treten Uumlberlegungen ob essich bei Philologia und Merkur eventuell um nur eine Entitaumlt handle die Seelewelche getrennt worden sei und nun wieder zusammenfinde

Diese Lesart integriert die meisten der mythischen und allegorischen Ele-mente und verbindet sie weitgehend schluumlssig zu einem umfassenden KonzeptAllerdings vernachlaumlssigt sie auch bestimmte EinzelbeobachtungenWieso steigtPhilologia vom Sphaumlrenrand wieder auf die Milchstraszlige hinab (2 200 2 206)Wieso werden ihr auf der Milchstraszlige die irdischen Kuumlnste vorgefuumlhrt die sieerbrechenmusste damit sie in den Himmel aufsteigen konnte (2 135 f)sup3⁰⁹ Bereitsdiese Fragen zeigen deutlich dass eine kohaumlrente plausible Aufloumlsung des Mythosnicht leicht moumlglich ist

Nuchelmans 1950 Mathon 1969 Lenaz 1975 105 Aumlhnliches gilt auch fuumlr Hadots Deutung Sie identifiziert Merkur mit demaumlgyptischen Gott Theuth auf den in De nuptiis 2 102 f angespielt wird und nennt ihn diebdquoPersonifizierung der goumlttlichen Vernunftldquo waumlhrend Philologia die Personifizierung dermenschlichen Vernunftseele in deren idealem Zustand darstelle Die sieben Wissenschaften unddie sieben mantischen Kuumlnste ermoumlglichten es der Seele bdquozu ihrem Ursprung dem intelligiblenBereich oder zu Gottldquo zuruumlckzukehren (Hadot 2009 21 f) Lenaz 1975 106ndash 119 Ferrarino 1969 Dieses Problem entfiele wenn man annaumlhme dass Martianus die Erzaumlhlung nur auf dieersten zwei Buumlcher angelegt habe und erst danach die Moumlglichkeit einer Verbindung mit der inden Buumlchern 3 bis 9 folgenden Enzyklopaumldie erkannt habe Dafuumlr gibt es zwar Hinweise (bes dieDiskussion um die FiktionalitaumltUnterhaltung) am Ende von Buch 2 und zu Beginn von Buch 3doch duumlrfte man annehmen dass Martianus den Grundkonflikt von zuruumlckgelassenem Wissenund erneut geschenktem Wissen erkannt und behoben haumltte

2 De nuptiis als literarisches Werk 129

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Weiterhin uumlberbetont der Versuch den Mythos allein aus sich heraus zu er-klaumlren den Stellenwert des zweiten Buches im Gesamtwerk Als Interpretations-rahmen zwar wichtig tritt er bei fortschreitender Lektuumlre hinter die praktischeDarstellung der sieben Kuumlnste zuruumlck Diese nehmen nicht nur mehr Raum einsondern uumlberlagern die Darstellung im zweiten Buch und reduzieren somit auchderen Bedeutung Der Mythos ist also einwichtiger keineswegs jedoch der einzigeBestandteil von De nuptiis

Menippeische SatireDas auffaumllligste literarische Kompositionselement von De nuptiis ist jedochzweifellos die Wahl des Prosimetrums die Mischung von Prosapartien mit me-trischen Einheiten Der uumlberwiegende Teil des Werks ist in Prosa gehalten inwelchen 33sup3sup1⁰ metrische Partien eingelegt sind Dabei sind die Gedichte nichtregelmaumlszligig uumlber das gesamte Werk verteilt sie finden sich uumlberwiegend an ex-ponierten Stellen besonders an den Buchanfaumlngen und Buchenden Bei denmetrischen Partien innerhalb eines Buches handelt es sich fast ausschlieszliglich umGoumltterreden

Die beobachtete unregelmaumlszligige Verteilung der metrischen Partien unter-scheidet sich deutlich von der Gestaltung wie sie Boethius wenige Jahrzehntespaumlter inDe consolatione Philosophiae einsetzt Dort sind diemetrischen Partien inHinblick auf die Gesamttextmenge haumlufiger und zudem gleichmaumlszligiger verteiltsup3sup1sup1

Damit haumlngt zusammen dass auch die literarisch-argumentative Funktion dermetrischen Teile z T von derjenigen bei Boethius abweicht Bei Boethius stehendie Gedichte im Argumentationszusammenhang und fuumlhren Gedanken fort oderbuumlndeln sie in praumlgnanter Ausdrucksweisesup3sup1sup2 Ein gutes Beispiel dafuumlr ist eine

Die Zaumlhlung umfasst die zusammenhaumlngenden metrischen Partien und zaumlhlt auch Ge-dichte mit unterschiedlichem Versmaszlig (z B die Gedichte der Musen) als eine Partie Vgl dazu besonders OrsquoDaly 1991 Kap 1 (bdquoThe poetics of the Consolationldquo) darin 19ndash22 zuMartianus Sprachliche Parallelen sind zusammengestellt im Index der Boethius-Ausgabe vonBieler (CCSL 94 116) diskutiert werden sie bei Pabst 1994 163ndash 168 Da Boethius das Werk desMartianus kannte kann man von einer gelungeneren Ausdifferenzierung der Ansaumltze des Mar-tianus sprechen Der Vergleich des Einsatzes der prosimetrischen Form bei Boethius gewinntdadurch an Gewicht Eine Mischung von Prosa und Poesie findet sich weiterhin bei Fulgentius inden Mythologiae ndash Zu Parallelen in den Werkanfaumlngen bei Martianus Fulgentius und Boethiusvgl Klingner 1921 114 Pabst 1994 der Fulgentiusrsquo Vorgehen durchaus als bdquoimitatio Martianaldquoversteht (162 134ndash 137) fuumlr Boethius in Martianus allerdings nur eine Quelle sieht bdquoThey contribute to the argument as it proceeds yet take a wider view with an authorityoutside and above the adjacent prose They possess their own thematic design which spans theentire workldquo (Crabbe 1981 260) bdquoDie Metra bilden Ruhe- und Houmlhepunkte im Werk haumlufig

130 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Stelle zu Beginn des vierten Buches Nachdem zunaumlchst allgemein erlaumlutert wirddass die Weisen vermoumlgen was sie wollen die Schlechten jedoch nicht(cons 4 1 131ndash140) folgt in Versen eine Reihe plastischer Beispiele fuumlr die These(cons 4 carm 2) bevor der Gedanke fortgesponnen wird (cons 4 3 1ndash4)

An anderen Stellen uumlbernehmen die metrischen Partien eine Gliederungs-funktion indem sie Gedanken abschlieszligen und durch die Unterbrechung Zeit zurErholung bieten So sagt Philosophia zu ihrem Schuumller Boethius

bdquosed uideo te iam dudum et pondere quaestionis oneratum et rationis prolixitate fatigatumaliquam carminis exspectare dulcedinem accipe igitur haustum quo refectus firmior inulteriora contendasldquo (Boeth cons 4 6 200‐203)

bdquoAber ich sehe dass du bereits vom Gewicht der Untersuchung belastet und von der Breiteder Beweisfuumlhrung erschoumlpft auf die suumlszlige Erholung eines Liedes wartest nimm also denTrank damit du solchermaszligen erfrischt kraumlftiger zu den weiteren Themen eilen kannstldquo

In dieser zweiten Funktion setzt auch Martianus die metrischen Partien ein Dabeisind sie nicht in die Prosadarstellung eingeschoben sondern markieren fastausschlieszliglich die Buchanfaumlnge und Buchenden Explizites Ziel ist die Belebungdes Werkes um eine angenehme Lektuumlre zu erleichternsup3sup1sup3 Dies widersprichtMartianusrsquoAnkuumlndigung nach der hinleitenden Erzaumlhlung in denBuumlchern 1 und 2keine fiktionalen Erzaumlhlungen mehr einfuumlgen zu wollen die Darstellung solleernst und dem Gegenstand angemessen sein

nunc ergo mythos terminatur infiuntartes libelli qui sequentes asserentnam fruge vera omne fictum dimoventet disciplinas annotabunt sobriaspro parte multa nec vetabunt ludicra (2 220)

Nun also hat der Mythos sein Ende erreicht es beginnen die Buumlcher die die nun anschlie-szligenden Kuumlnste darbieten Denn mit wahrhaftiger Ernte entfernen sie alles Erdichtete undzeichnen die Kuumlnste nuumlchtern auf verbieten jedoch nicht gelegentliche Unterhaltung

stehen sie am Ende von Einzelabschnitten wo sie diese dann rekapitulieren und fuumlr densbquoSchuumllerlsquo zusammenfassen Bisweilen kommt ihnen auch eine Uumlberleitungsfunktion zuldquo (Kin-dermann 1969 63) ndash Zur Gattung allgemein allerdings mit besonderem Fokus auf die mittel-alterliche Literatur vgl Pabst 1994 bes 105ndash 133 zum Prosimetrum bei Martianus und 158ndash 195bei Boethius sowie Dronke 1994 bes Kap 2 (bdquoAllegory and the mixed formldquo) So auch McDonough der im Kapitel bdquoThe function of the poetryldquo zu Recht (aber zu kurzgreifend) formuliert bdquoIn undertaking the compilation of his encyclopedia the main challenge toMartianus lay in maintaining the interest of his readers (and himself) in making palatable thearid factual account of the various disciplinesldquo (McDonough 1968 37)

2 De nuptiis als literarisches Werk 131

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Scheint es an dieser Stelle so als ob Mythos und Heiteres getrennte Dinge waumlrenzeigt der unmittelbare Fortgang zu Beginn von Buch 3 dass beide Begriffe letztlichAumlhnliches bezeichnen Hier am Beginn der Schilderung der freien Kuumlnste(3 221 f) erlaumlutert Martianus in einem weiteren Gedicht das als Dialog gestaltetist warum er von seinem Plan abweicht

Camena bringt Schmuck fuumlr das Werk mit (amicta fictis commenta ferre) AufMartianusrsquo Einwand keine Mythen mehr vorbringen zu wollen (mythi pulsi) er-widert sie es gehe nicht um Luumlge (nil mentiamur) sondern um Einkleidung(vestiantur Artes) ndash man koumlnne die Brautjungfern also die Allegorien der freienKuumlnste doch nicht nackt vorfuumlhren Daraufhin gibt sich Martianus geschlagenund die Handlung von Buch 3 beginnt

Abgesehen von der unterhaltenden Funktion die besonders durch die Ge-dichte an den Buchenden gewaumlhrleistet wird scheinen die metrischen Passagenfuumlr viele Forscher wahllos in das Werk eingestreut Typisch ist eine Aussage wieCrabbe sie trifft bdquoMartianus uses verse frequently at the beginning sometimes atthe end of books and erratically throughoutldquosup3sup1⁴

Natuumlrlich kann von einer systematischen Verteilung und einer argumenta-tionslogischen Anordnung wie bei Boethius nicht gesprochen werden Bei ge-nauerem Hinsehen wird jedoch deutlich dass die metrischen Abschnitte nichtwillkuumlrlich uumlber das Werk verstreut sindsup3sup1⁵

Die meisten metrischen Passagen finden sich in den Buumlchern 1 und 2 von Denuptiis Diese Buumlcher enthalten die einleitende Handlung die als fiktionale Er-zaumlhlung dargeboten wird Im Bericht von der Suche Merkurs nach der richtigenEhefrau und von Philologias Aufstieg in den Himmel finden sich neun metrischePassagen Es handelt sich dabei bis auf die drei Faumllle der an den Buchanfaumlngen(Buch 1) und Buchenden (Buch 1 und 2) stehenden Gedichte um Reden vonGoumlttern Diese fuumlhren die Handlung fort und dienen also nicht der Buumlndelung derGedanken oder der Erholung des Lesers Stattdessen scheint es Martianus darumzu gehen das Sprechen der Goumltter durch die metrische Gebundenheit als be-

Crabbe 1981 264 Eine Typisierung die z T von der Position der metrischen Passagenlosgeloumlst ist bietet McDonough seiner Ansicht nach sind die metrischen Partien hauptsaumlchlichfunktional bdquoThe poetry thus is primarily functional although this function varies from book tobookldquo (McDonough 1968 38) Als Funktionen benennt er fuumlr Buch 1 Handlungsfortfuumlhrung fuumlrBuch 2 Schmuck fuumlr Buch 3 Belehrung fuumlr den Rest Einfuumlhrung oder Entlassung derBrautjungfern oder Unmut uumlber Verzoumlgerung der Hochzeit Der Rest seien bdquooccasional piecesldquo(ibid 40) ndash Verspartien finden sich am Anfang der Buumlcher 1 2 3 4 5 6 7 und 9 sowie am Endeder Buumlcher 2 4 5 7 und 9 Die ungleiche Verwendung der Metra bei Boethius und Martianus laumlsst sich am besten alsEntwicklung verstehen wie es beispielsweise Kindermann (1969 60) tut Zur Kenntnis desMartianus bei Boethius vgl oben Anm 311

132 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

sonders zu markieren Dies gilt vor allem fuumlr markante Szenen zum Beispiel dieRede Jupiters in der Goumltterversammlung gegen Ende des ersten Buches (1 91ndash93)oder die orakelartige Auskunft Apolls (1 21 f)

Diese Beobachtung gilt daruumlber hinaus ebenso fuumlr die genannten Stellen inBuch 9 auch wenn es sich dort nicht um die Vorgeschichte oder einen weiterenliterarischen Rahmen handelt Jedoch ist eine Szene mit Goumlttergespraumlchen ein-geschoben in der die Goumltter unter anderem auch Verse verwenden Durch dieseReden in metrisch gebundener Form soll den entsprechenden Buumlchern also einehoumlhere Wuumlrde verliehen werden

Einen zweiten Fall stellen die Gedichte zu Beginn oder zu Ende eines Buchesin den Buumlchern 3 bis 9 dar In diesen Buumlchern praumlsentieren die Freien Kuumlnste ingeschlossenem Vortrag die Inhalte ihrer Wissenschaft Die Gedichte in einigenFaumlllen in auktorialer Erzaumlhlhaltung gestaltet uumlberbruumlcken die Fuge zwischen denBuumlchern und bieten eine Pause zwischen den langen Vortragspartien der Leserkann sich erholen Die Inhalte der Verspartien sind unterschiedlich es handeltsich zumeist um den Ein- oder Auszug einer Brautjungfer (4 327 4 423 f 8 8028 808 9 911ndash919) um die Fortfuumlhrung der Hochzeitshandlung (5 425 8 8059 888) um die Anrufung eines Gottes (6 567ndash574) oder um eine Wendung desAutors an den Leser (5 566 9 997ndash 1000)

Dieser Einsatz der Verspartien ist jedoch noch keine hinreichende Erklaumlrungfuumlr die Wahl des Prosimetrums Sie erklaumlrt sich besonders dadurch dass Marti-anus auf diese Weise sein Werk in die Traditionslinie von Texten einreiht die alsmenippeische Satiren bezeichnet werdensup3sup1⁶

Charakteristisch fuumlr diese spezielle Form der roumlmischen Satire ist der Wechselvon metrischen und prosaischen Partiensup3sup1⁷ Klassische lateinischsprachige Ver-treter der menippeischen Satire sind Varro (Saturae Menippeae) Seneca (Apo-colocyntosis) und Petron (Satyrikon) in der griechischen Literatur nutzen Lukianund Julian (Caesares) diese Form Inhaltlich lassen sich nur wenige Verbindungenzwischen den Werken ziehen und auch die Umsetzung der formalen Elemente istunterschiedlich Dies fuumlhrt sogar so weit dass sich moderne Forscher trotz derbereits antik bezeugten Bezeichnungder Gattung teilweise auszligerstande sehen dieGattung genauer zu definieren oder dass sie ihre Fragestellung losgeloumlst von derGattungstradition verfolgensup3sup1⁸ Dies macht die Verortung von De nuptiis in diesemGenre nicht leichter

Zur menippeischen Satire vgl Relihan 1993 Coffey 1996 Im Gegensatz dazu beschraumlnkt sich die Verssatire seit Horaz auf die Verwendung desHexameters So betont Scheible im Vorwort ihrer Studie zu den Gedichten in Boethiusrsquo de consolationedass sie Vorgaben der Tradition in Hinblick auf die Gedichte nicht beruumlcksichtige ndash sie lieszligen

2 De nuptiis als literarisches Werk 133

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Gelegentlich wird sogar die These vertreten dass sich das satirische ElementinDe nuptiis in dieser formalen Verbindung von Prosaund Poesie erschoumlpfesup3sup1⁹DerGattungsbegriff sbquomenippeische Satirelsquo waumlre dann identisch mit der BezeichnungsbquoProsimetrumlsquo Dem widersprechen jedoch verschiedene Beobachtungen derRuumlckgriff auf die Etymologie des Wortes satura die Bezugnahme auf Vertreter derGattung und das Auftreten einer Figur namens Satura sowie deren Agieren dasuumlber die rein formale aumluszligerliche Satireform hinausweist schlieszliglich die beson-dere Gestaltung der Erzaumlhlsituation Diese vier Elemente sollen im Folgendenherausgearbeitet werden

Etymologie ndash Dass Martianus sein Werk sehr wohl als Satire verstanden wissenwill wird an verschiedenen Stellen deutlich Dies geschieht zum Beispiel durchgelehrte Anspielungen auf die Terminologie der antiken Satire an prominenterStelle So heiszligt es in 9 998

[Satura] haec quippe loquax docta doctis aggeransfandis tacenda farcinat immiscuitMusas deosque disciplinas cyclicasgarrire agresti cruda finxit plasmate

So haumluft sie plappernd Gelehrtes auf Gelehrtes und stopft geheimes und bekanntes Wissenzusammen hatMusenundGoumltter vermischt undhat sich erdacht dass die enzyklopaumldischenDisziplinen in einem baumlurischen Machwerk unreifes Zeug daherplappern

Die Woumlrter farcinat und immiscuit verweisen auf das Zusammenstopfen undVermischen verschiedener Zutaten z B in einer Wurst oder Pastete Gleiches giltfuumlr die Woumlrtermiscillo und aggeranssup3sup2⁰ Ausgangspunkt fuumlr diese Terminologie istdie Etymologie desWortes sbquoSatirelsquo an sich bedeutet urspruumlnglich etwaswie sbquobunteMischunglsquosup3sup2sup1 Traditionell sind Anspielungen auf diese Etymologie in der satiri-

sich nicht feststellen (Scheible 1972 8) Vorhandene Untersuchungen beschreiben in der Regeldie Konstituenten der einzelnen Werke Aufgrund der geringen Zahl uumlberlieferter Werke und dergroszligen Unterschiede zwischen ihnen ist es jedoch schwierig die typischen Elemente der Gat-tung zu benennen Auch diese Arbeit schlieszligt sich dem beschreibenden Vorgehen an undvergleicht an einschlaumlgigen Stellen inwieweit die Beobachtungen auch fuumlr die Gattung typischsind So z B Coffey der die Mischung aus Prosa und Poesie bei Martianus als bdquomiscellanyldquobezeichnet und vor einer Verbindung von De nuptiis mit der Satire als problematisch warnt(Coffey 1996 959) Vgl Relihan 1993 14 ErnoutMeillet s v satur -ra -rum (2001 596) WaldeHofmann s v satura (2007 II482f) Der zentrale Hinweis auf eine Ableitung des Wortes aus dem kulinarischen Bereich findet

134 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

schen Literatur selten Allein in Juvenal findet sich ein Hinweis darauf gleichwohlmit leicht anderem Verstaumlndnis Er betrachtet die Zusammenstellung der Satirenals farrago also als Mischgericht nicht die einzelne Satiresup3sup2sup2

In diesen sehr bildlichen Wendungen trifft Martianus gleichzeitig eine Aus-sage uumlber sein Verstaumlndnis der Darstellung von Bildungswissen Bei ihm gibt eskeine vorverdauten und mundgerecht aufbereiteten Wissenspaumlckchen (wie Ma-crobius sie bietet)sup3sup2sup3 sondern rohe Kost (cruda) die ihre Zutaten d h die lite-rarischen oder inhaltlichen Urspruumlnge nicht leugnet LeMoine formuliert prauml-gnant bdquoBy calling attention to the literary functions these metaphors fulfillMartianus hellip raises questions about the principles of seamless synthesis andverbal regurgitation which Macrobius so effectively demonstratesldquosup3sup2⁴

Dass Martianus durch diese Art der Darstellung seine Autoritaumlt infrage stelle(bdquohellip reveal doubts about the competence of the cook and the quality of the edu-cational feastldquo)sup3sup2⁵ laumlsst sich jedoch nicht erkennen Schlieszliglich benennt er seinVorgehen explizit (scheitert also nicht an einem gesteckten Plan) und bietetgleichzeitig mit der Kritik an der klassischen Form der Wissensvermittlung eineMoumlglichkeit an wie nicht-vereinheitlichte Wissensvermittlung aussehen kannBeeintraumlchtigungen des Vertrauens zum Erzaumlhler und zu den Inhalten gibt esallerdings ndash jedoch aufgrund anderer Faktorensup3sup2⁶

Bezug auf andere Satiriker ndash Neben den Anspielungen auf die Etymologie derGattung Satire treten explizite Bezuumlge auf andere Autoren menippeischer Satirenauf Namentlich wird jedoch keiner der Vorgaumlnger genannt die Nennung Varroserfolgt ausschlieszliglich in den Vortraumlgen der Brautjungfern und bezieht sichuumlberwiegend auf Varros fachschriftstellerische Werke oder seinen Ruf als Enzy-klopaumldistsup3sup2⁷

sich beim Grammatiker Diomedes (Grammatici Latini 1 485) Ausgehend von dieser Passageeroumlrtert Petersmann die Etymologie mit besonderer Beruumlcksichtigung des Ursprungs des Wortessatura aus dem Kuumlchenbereich (Petersmann 1986) Iuv 1 86 nostri farrago libelli Vgl die Kommentare Morton Braund 1996 95 f undCourtney 1980 103 Vgl die Gleichnisse in der praefatio zu den Saturnalia (Sat praef 5ndash9) und die Ausfuumlh-rungen in Kap II1 sowie die dort aufgefuumlhrte Literatur LeMoine 1991 360 ibid S u die Abschnitte bdquoErzaumlhlinstanzenldquo und bdquoDeutungen der komplexen literarischen Formldquo 4 335 (die Gelehrsamkeit Varros vgl Cic ac 1 9 Aug civ 6 2) 5 517 (Nennung in einemZitat) 6 639 und 6 662 (Fragen der Geographie die Varro-Vorlage ist nicht bekannt) 9 928 (cfVarro rust 3 17 4) Vgl zum Verhaumlltnis von Martianus und Varro bes Bovey 2003 Kap 2 (bdquoLaquestion varronienneldquo) und Schievenin 2009f

2 De nuptiis als literarisches Werk 135

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Allerdings zitiert die Wendung ὄνος λύρας in 8 807 den Titel einer menip-peischen Satire Varrossup3sup2⁸ Die Wendung ist in der lateinischen Literatur ander-weitig nicht belegt weshalb davon auszugehen ist dass Martianus hier auf denrepublikanischen Satiriker direkt zuruumlckgriff Da die Wendung zudem im Streit-gespraumlch zwischenMartianus und Satura uumlber die angemessene Art des Erzaumlhlensder Geschichte faumlllt kommt ihrer Verwendung eine programmatische Aussage zuMartianus stellt sich und sein Werk also in die Nachfolge Varros und seiner Sa-tiren

Ein Bezug auf Lukian ist weniger sicher nachzuweisensup3sup2⁹ Allerdings gibt eseine motivische Uumlbernahme im zweiten Buch von De nuptiis Philologias Erbre-chen des Wissens das der Hochzeit vorausgeht hat eine Parallele in LukiansDialog Lexiphanes Der allzu (ein)gebildete Lexiphanes nimmt auf Draumlngen vonLycinus ein Brechmittel ein das ihm der Arzt Sopolis gibt Daraufhin erbricht eralle Woumlrter die er gelernt hat dies ist die Voraussetzung dafuumlr dass er nun an-gemessen belehrt werden kannsup3sup3⁰

Es handelt sich um die Fragmente Varro Men 348ndash369 In Fragment 349 findet sich dieWendung auch im Vers (si quis μελωδεῖν est ὄνος λύρας praesepibus se retineat forensibus ndashsbquower beim Gesang wiersquon Esel an der Harfe bloumld der bleib getrost im Stallmief seines Forumsdortlsquo [Uumlbs Krenkel]) Die Bezugnahme auf Varro ist umso wahrscheinlicher da Satura unmit-telbar zuvor sowohl Martianusrsquo berufliche Aufenthalte auf dem Forum erwaumlhnt und ein Wort-spiel mit seinem Namen Capella angestellt hat ndash der zwar nicht sbquoEsellsquo bedeutet wohl aber einHaustier (sbquoZiegelsquo)Vgl dazu Shanzer 1968c 38ndash40 Shanzer 1986a kritisch dazu Pabst 1994 168(m Lit) Folgt man Bovey handelt es sich bei der unmittelbar folgenden Wendung καιρὸν γνῶθιum einen weiteren Verweis auf den Titel einer Varro-Satire γνῶθι σεαυτόν (= Varr Men 199ndash210 vgl Bovey 2003 282ndash284) Naumlher liegt wohl dass Martianus Capella diese eigenstaumlndigeSentenz (vgl Diogenes Laertios I 79 der sie als Sentenz des Pittakos ausweist) aus einer anderenQuelle uumlbernommen hat Kindermann 1969 60 Shanzer geht davon aus dass Martianus Lukian kannte (Shanzer1986c 36) Zur Diskussion um Martianusrsquo Griechischkenntnisse vgl Cristante 2009 [5] undShanzer 1986c 4 die beide annehmen dass Martianus durchaus Griechisch beherrschteShanzer weist einige Stellen auf an denen Martianus woumlrtlich uumlbersetzt und schlieszligt aus derBeherrschung des Griechischen zu Recht auf einen gebildeten moumlglicherweise sogar akade-mischen Hintergrund von Martianus Lucian Lex 20f Andere antike Texte die das Erbrechen von Wissen als Teil des Reini-gungsprozesses beschreiben oder als Bild tradieren sind mir nicht bekannt Daher ist eswahrscheinlicher dass Martianus auf Lukian im Original zuruumlckgegriffen hat Zur vor-byzantinischen Rezeption Lukians vgl Nesselrath 1994 der spaumltantike Bezuumlge auf Lukian u abei Julian und Claudian aufzeigt ndash Einen Bezug auf Lukians Concilium deorum fuumlr moumlglich haumlltKrapinger 1999 962 ndash Anders gelagert sind Lucian cont 7 und Aug in Joh ev tract 36 1 Dortgeht es darum dass durch das Ausspeien Wissen weitergegeben wird was zum Bild der daserbrochene Wissen aufsammelnden Artes passt nicht jedoch zum Motiv der Reinigung

136 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Bezuumlge auszligerhalb der Uumlbernahme uumlblicher Gattungselemente lassen sich fuumlrSenecas Apocolocyntosis Petrons Satyricon oder Julians Caesares nicht konsta-tierensup3sup3sup1

Die Figur der Satura und ihr Handeln ndash Einer der deutlichsten Hinweise auf dieForm der Satire liegt im Auftreten einer Figur namens Satura Diese Figur wirdzunaumlchst von Martianus als Erzaumlhlinstanz eingefuumlhrt (1 2) von der er den Inhaltvon De nuptiis erfahren haben will Im Laufe des Werks gewinnt Satura aber anProfil und agiert zunehmend autonom

Aussagen uumlber Satura beruhen letztlich auf drei Stellen in De nuptiis (6 576ndash5798 806ndash8109997ndash999) und koumlnnen fast ausschlieszliglich aus der Formund derBotschaft ihrer eigenen Aumluszligerungen gewonnen werden An allen drei Stellendiskutiert Satura mit Martianus Ansonsten ist Satura zwar als praumlsent zu denkenwird aber nicht weiter thematisiert

Nach Martianusrsquo Anrufung Minervas zu Beginn des sechsten Buches mischtsich Satura in seine Uumlberlegungen ein welche Frauen er vor sich sehe Die Ein-mischung wird von Martianus als scherzend bezeichnet (iocabunda 6 576) dieEinmischung an sich als typisch fuumlr das Scherzen Saturas (ut lepidula est 6 576)Die Aumluszligerung Saturas beginnt mit Spott uumlber Martianusrsquo nur scheinbare KlugheitDurch falsche naumlchtliche Studien und besonders seine Anwaltstaumltigkeit habe erden Blick auf das Wichtige verloren und erkenne nun nicht einmal mehr Philo-sophia und Paideia Der Scherz wird jedoch alsbald von einem belehrendenTonfall abgeloumlst in dem Satura Martianus uumlber das Wesen der beiden Frauenaufklaumlrt

Satura tritt als Naumlchstes zu Beginn des achten Buches auf in der Folge derSilen-Szene Der angetrunkene Silen war eingeschlafen und durch Amor aufge-schreckt worden was die uumlbrigen Goumltter laut lachen lieszlig (8 803ndash805) DieseSchilderung provoziert bei SaturaWiderspruch da sie das Erzaumlhlte als unpassendfuumlr die Goumltterversammlung empfindet Ihre Kritik beginnt wieder bei der Persondes Martianus dessen Namen sie als passend zu seinem Wesen deutet (Capella ~sbquoZiegelsquo 8 806) Sodann fordert sie Martianus auf seine Possen zu unterlassenMartianus fuumlhlt sich gehoumlrig von Satura gemaszligregelt und gibt klein bei bemerktaber dass sie ansonsten mehr von Scherzen halte (alioquin lepidula 8 807) AlsSatura dann die Einfuumlhrungder eintretenden Brautjungfer in Versenvorbringt undMartianus wiederum seine Scherze (ludicra 8 808) vorhaumllt kann dieser nicht

Mit Julian verbindet Martianus immerhin die Ansiedlung der Goumltterversammlung auf derMilchstraszlige ndash Zur Rolle der Saturnalien vgl den Abschnitt bdquoDeutungen der komplexen litera-rischen Formldquo

2 De nuptiis als literarisches Werk 137

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mehr an sich halten und zahlt Satura ihre Kritik in gleicher Muumlnze heim Nacheinigem Spott uumlber Saturas Verse verteidigt nun Martianus das Recht auf Scherzgegen sie die an sich ndash nicht aber in De nuptiiswie es scheint ndash eigentlich fuumlr denScherz zustaumlndig waumlre und gibt ihr mit Martial (2 41 1) den Rat auch einmal zulachensup3sup3sup2

Ein letzter Schlagabtausch von Satura und Martianus erfolgt schlieszliglich amEnde des Werkes Wiederum streiten beide Figuren miteinander und halten sichmit Spott uumlber das Wesen des anderen nicht zuruumlck

Die Einfuumlhrung Saturas die ja nur in Verbindung ndash und das heiszligt Ausein-andersetzung ndash mit Martianus erscheint dient vornehmlich der deutlichenBenennung der Gattung und der Verstaumlndigung daruumlberwas den Charakter einessatirischen bzw des vorliegenden Werkes ausmache Erstaunlich ist dabei Mar-tianusrsquo Entwicklung der sich zunaumlchst gegen Unterhaltung im artes-Teil ausge-sprochen hatte diese spaumlter aber gegen den censorischen Eingriff Saturas imachten Buch verteidigt Noch erstaunlicher ist aber dass es gerade Satura ist diezur Beachtung des Decorums auffordert und Martianusrsquo vergleichsweise mildenScherz scharf tadelt

Erzaumlhlinstanzen ndash Die Frage nach der Erzaumlhlsituation bzw der Erzaumlhlerfigurgehoumlrt zu den grundlegenden Analysekriterien eines literarischenWerkes ebensowie die Konzipierung von Raumund Zeit Lassen sich die letzten beiden Punkte imHinblick auf De nuptiis hinreichend klaumlrensup3sup3sup3 so bietet die Erzaumlhlerfigur groumlszligereSchwierigkeiten

DassDe nuptiis zwei Erzaumlhlinstanzen hat scheint zu Beginn desWerkeswenigdramatisch In 1 2 verweist der Erzaumlhler Martianus gegenuumlber seinem Sohn dar-auf dass die folgende Geschichte (also der uumlberwiegende Teil von De nuptiis) ihm

Ride si sapis o puella ride Schievenin bietet eine gruumlndliche Analyse dieser Stelle auchmit Blick auf die inverse Vorlage Martials (plora si sapis o puella plora Mart 2 41) derwiederum auf Ovid (Ov ars 3 281 f) zuruumlckgreift (Schievenin 1984 bes 136 ausfuumlhrlich auchBovey 2003 275ndash288) Die Rahmenhandlung spielt in der erzaumlhlerischen Gegenwart und in einem unbestimmtenRaum der jedoch nicht auszligergewoumlhnlich ist es liegt nahe an Karthago und das Haus desMartianus Capella zu denken Die eigentliche Handlung spielt an z T unwirklichen Orten aufder Erde die zumeist nicht naumlher bestimmt sind (z B Philologias Herkunft) und auf derMilchstraszlige wobei die absolute Zeit nicht genannt wird aber aufeinanderfolgende Tage inihrem Ablauf erkannt werden koumlnnen Die Phantastik einzelner Szenen die meist auf alle-gorische Darstellungsweisen zuruumlckgeht verletzt jedoch nicht die raumlumliche oder zeitlichePlausibilitaumlt des Dargestellten Vgl dazu auch die Ausfuumlhrungen und grafischen Veranschau-lichungen LeMoines (1972a)

138 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

waumlhrend langer Winternaumlchte (eine Anspielung auf Gellius)sup3sup3⁴ von Satura be-richtet wurde Der antike wie moderne Leser duumlrfte sich wohl kaum daran stoszligensondernwird darin vor allem eine Inspiration des Autors durch Satura (auchwennes das zuvor noch nicht gab) erkennen Bei der Erwaumlhnung von Satura koumlnnte erHeiteres erwarten oder bunt gemischte Geschichten

Vollkommen verwirrt wird der Leser hingegen spaumltestens dann wenn er amEnde des Werkes in der Sphragis angekommen ist (9 997ndash 1000) Dort reflektiertMartianus sein literarisches Vorgehen in den vorausgegangenen neun Buumlcherngenauer gesagt distanziert er sich von der Form der Darstellung (Umfang Bunt-heit) und verweist auf die Verantwortung Saturas die die Geschichte erzaumlhlt habe

Habes anilem Martiane fabulam 997Miscillo lusit quam lucernis flamineSatura Pelasgos dum docere nititurArtes daggercagris vix amicas AtticisSic in novena decidit voluminahaec quippe loquax docta doctis aggerans 998fandis tacenda farcinat immiscuitMusas deosque disciplinas cyclicasgarrire agresti cruda finxit plasmate (9 997 f)

Da hast du Martianus eine Altweibergeschichte sie verfertigte im Spiel mit vermischterInspiration [d h in Prosa und Vers] bei Kerzenschein Saturawaumlhrend sie sich bemuumlhte diePelasger zu lehren die Kuumlnste die den Griechen kaum freundlich [d h neu] sindSo gelangte sie hinab bis zum neunten Buch haumluft plappernd Gelehrtes auf Gelehrtes undstopft geheimes und bekanntes Wissen zusammen hat Musen und Goumltter vermischt und hatsich erdacht dass die enzyklopaumldischen Disziplinen in einembaumlurischenMachwerk unreifesZeug daherplappern

So ungewoumlhnlich dieses Vorgehen auch ist ndash Martianus haumltte ja den Bericht Sa-turas als Grundlage nehmen und dann nach eigenem Geschmack umgestaltenkoumlnnen ndash wird es uumlbertroffen durch die Verteidigung Saturas Sie weist die Ver-antwortung fuumlr die Art der Erzaumlhlung von sich und verteidigt sichmit demHinweisauf Martianusrsquo intellektuelle Schwaumlche der sie die Ausfuumlhrungen habe anpassenmuumlssen

Vgl Gell praef 4 zur Erklaumlrung der Wahl des Titels Noctes Atticae fuumlr sein Werk

Sed quoniam longinquis per hiemem noctibus in agro sicuti dixi terrae Atticae commentationeshasce ludere ac facere exorsi sumus idcirco eas inscripsimus noctium esse Atticarum hellip

Aber weil wir in langen Naumlchten den Winter uumlber in Attika auf dem Landwie schon gesagtdiese Anmerkungen im Spiel und dann ernsthaft begonnen haben daher haben wir ihnenden Namen Attische Naumlchte gegeben hellip

2 De nuptiis als literarisches Werk 139

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

haec ipsa nauci rupta conscientia 999turgensque felle ac bili bdquomulta chlamydeprodire doctis approbanda cultibuspossemque comis utque e Martis curia[hellip]ab hoc creatum Pegaseum gurgitem 1000decente quando possem haurire poculoldquo (9 999 f)

Sie sagte aufgrund ihres Wissens um die Nichtigkeit (dieser Ausfuumlhrungen) verletztschwellend vor Bitterkeit und Zorn bdquoIch koumlnnte hier freundlich auftreten mit einem Gewandbekleidet lobenswert durchgelehrtes Verhaltenwie aus der VersammlungdesMars [Es folgtdie Schilderung der unguumlnstigen Anlagen von Martianus] ndash Wann koumlnnte ich mit ange-messenem Becher aus einem pegasischen Strom von ihm erschaffen schoumlpfenldquo

Somit hat das Werk das zu Beginn zwei hierarchisch geschiedene Erzaumlhler zuhaben scheint am Ende zwei Erzaumlhler die sich gleichberechtigt uumlber die Form dererzaumlhlten Geschichte streitensup3sup3⁵

Die Inkonsistenzen auf der Erzaumlhlebene setzen sich daruumlber hinaus fort HatteMartianus zu Beginn des Werks gesagt Satura habe ihm die Geschichte waumlhrendlangerWinternaumlchte erzaumlhlt so treten Satura undMartianus amEnde desWerks inder erzaumlhlerischen Gegenwart gemeinsam auf und sprechen beide nacheinanderzu Martianusrsquo Sohn

Weiterhin erscheinen Satura und Martianus innerhalb der Geschichte dieMartianus angeblichvon Satura gehoumlrt hatWaumlhrend die Goumltter denverschiedenenBrautjungfern lauschenwohnen auch SaturaundMartianus der Versammlungbeiund betrachten sie als unbeteiligte ZuschauerWie aus einer Theaterloge herauskommentieren und diskutieren sie das Geschehen das auf der bdquoGoumltterbuumlhneldquostattfindetsup3sup3⁶

Noch einen weitergehenden Schritt stellt die Silen-Szene zu Beginn des achtenBuches dar Im Anschluss an diese Szene beschwert sich Satura bei Martianus erkoumlnne die Goumltter nicht auf dieseWeise agieren lassen In der Folge entspinnt sich einGespraumlch in demMartianus seine Art des Erzaumlhlens gegen Satura verteidigt die fuumlreine zuruumlckhaltendere Darstellung plaumldiert (s o)Von der Fiktion dass Martianusseinem Sohn bloszligwiedergibtwas Satura ihm erzaumlhlt hat bleibt nichtmehr viel dieganze Szenerie ist ein Produkt der ErfindungdesMartianus gleichzeitigwohnt er ihraber gemeinsam mit Satura bei ist also Teil der Handlung

So bereits Pabst 1994 120 Anm 119 der allerdings auf eine Diskussion der Beobachtungverzichtet Es handelt sich um die Stellen zu Beginn des sechsten und des achten Buches die imvorigen Abschnitt bereits paraphrasiert wurden

140 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Diese Art der Spiels mit der Erzaumlhlerrolle wird von manchen modernen For-schern als ein wichtiges Merkmal der menippeischen Satire angesehen Hinzu-treten kann die Selbstherabsetzung des Erzaumlhlers die sich an seinemmangelndenWissen Stilbewusstsein Traditionsempfinden o auml entzuumlndetsup3sup3⁷ Folglich kanndie zunaumlchst befremdliche Brechung und Verzerrung als weiteres Merkmal derGattung menippeische Satire bestimmt werden

Aufgrund dieser Beobachtungen ist es zwingend in De nuptiis vor allem eineSatire zu sehen Auch der heiter-spoumlttische Charakter einiger Passagen zwischenden Vortraumlgen der Brautjungfern passt zum satirischen Anspruch Gelegentlicherscheint es jedoch fraglich ob es sich wirklich um satirische und nicht eher umkomische oder derbe Spaumlszlige handelt Die Szene in der Silen betrunken einschlaumlftund von den anderen Goumlttern verspottet wird (8 803ndash805) erinnert mit ihremSlapstick eher an den derben Spott der Komoumldie als an die Satire eines Varrosup3sup3⁸

22 Deutungen der komplexen literarischen Form

Wie laumlsst sich das Werk De nuptiis nun also formal beschreiben oder andersgefasstWie lassen sich die vier literarischen Traditionsstraumlnge zusammenfuumlhrenDass eine einheitliche Lesung zumindest versucht werden muss zeigt bereits dasLeitmotiv der Hochzeit ansup3sup3⁹

Im Kern handelt es sich bei MartianusrsquoWerk um eine Sammlung bedeutenderWissensschaumltze in einem einzigen Werk die darin systematisch ausgebreitetwerden Dies zeigt die Einteilung in verschiedene Disziplinen die ein ver-

Zur Erzaumlhlerrolle in der menippeischen Satire vgl u a Relihan 1993 und darin bes S 35 Mit der Aufnahme unterhaltsamer Elemente ginge Martianus sogar noch uumlber dieErwartungen an ein sbquosatirischeslsquo Werk hinaus Auch Boethius wird bescheinigt er erzaumlhle seineConsolatio bdquoper satiramldquo auch wenn bei ihm weder eine Figur Satura auftritt noch allzu vielHeiterkeit herrscht (Peiper zitiert in der Einleitung zu seiner Ausgabe S xxxi eine mittelalter-liche Boethius-Vita vgl Kindermann 1969 61)

hos libros [scil de consolatione Philosophiae] per satiram edidit imitatus videlicet mar-cianum felicem capellam qui prius libros De nuptiis philologiae et mercurii eadem speciepoematis conscripserathellip

Diese Buumlcher schrieb er als Satire freilich in Nachahmung des Marcianus Felix Capellader zuvor die Buumlcher uumlber die Hochzeit der Philologie mit Merkur in der gleichen Art vonGedicht verfasst hatte

Zum Motiv der Hochzeit das bereits programmatisch im eroumlffnenden Hymnus anHymenaeus erscheint vgl Schievenin 2009c und Cristante in der Einleitung seiner Ausgabe1987 3ndash 10

2 De nuptiis als literarisches Werk 141

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

gleichsweise leichtes Auffinden der Informationen erlaubtsup3⁴⁰ die Bedeutung wirdangesichts der Praumlsentation vor den Goumlttern auf der Milchstraszlige deutlich Alleinder Umfang dieser Vortraumlge die in sich auch nicht gestoumlrt oder gebrochenwerdenmarkiert dass es sich hier um das zentrale Charakteristikum des Werkes handelt

Den erzaumlhlerischen Anlass fuumlr diese Praumlsentation bietet eine Hochzeitsfeieralso ein Symposion hier ist die Gelegenheit fuumlr die groszligen Redebeitraumlge gegebenZudem bietet die SymposionformAnknuumlpfungspunkte fuumlr eine Rahmenhandlungdie zur Auflockerung der ebenso ausfuumlhrlichenwie trockenen Einzelreden genutztwird

Doch bleibt es ndash im Gegensatz z B zu Macrobius ndash nicht bei der bloszligenDarstellung der Wissensinhalte Hinzu tritt die allegorische Darstellung der Be-deutung von Wissen und von Fleiszlig beim Wissenserwerb in den ersten beidenBuumlchern Die praumlsentierten Inhalte der Buumlcher 3ndash9 (die Philologia ja bereits aufder Erde in Buch 2 besitzt) sindwichtig Sie sind nicht nur wichtig fuumlr das irdischeLeben (das wird nicht weiter thematisiert die explizit irdischen Wissenschaftenwie Architektur und Medizin werden sogar ausgeschlossen) ndash die Inhalte sindauch wichtig fuumlr die menschliche Vervollkommnung

Durch das angesammelte Wissen erreicht der Mensch zwar nicht die voll-kommene Erkenntnis (die erhaumllt auch Philologia nur ohne eigenes Zutun als sieauf der houmlchsten Himmelssphaumlre angekommen zum Vatergott in der jenseitigenGluumlckseligkeit betet) wohl aber ein goumlttergleiches Wissensup3⁴sup1 Der Wissenserwerbist gewissermaszligen die Voraussetzung dafuumlr dass der Mensch mit Hilfe einesgoumlttlichen Begleiters in den Himmel aufsteigen kann unsterblich wird und voll-kommene Einsicht erlangt

Die so weit kohaumlrente Verbindung der literarischen Traditionen laumlsst aller-dings den explizit satirischen Anspruch von De nuptiis auszliger Betracht durch denMartianus selbst das Werk primaumlr in die Gattung der Satire einordnet waumlhrendvergleichbare Bezuumlge zu anderen Gattungen fehlen Natuumlrlich lieszlige sich dieserprogrammatische Anspruch mit einem Verweis auf die Verwendung des Begriffszur Bezeichnung einer inhaltlich wie literarisch gemischten Form erklaumlren Dochgreift diese Erklaumlrung zu kurz da das Agieren Saturas die literarischen Passagendes Werks beinahe als Travestie erscheinen laumlsst (vgl oben zur Erzaumlhlerfigur) Einbildend-enzyklopaumldisches Werk kann sich allerdings nicht gefahrlos als Satire

So auch Englisch 1994 56 Die bdquoSystematik bei der Praumlsentationldquo erlaube einen leichtenZugriff auf die Informationen Mart Cap 2 201ndash205

142 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

praumlsentieren ohne Zweifel an der Glaubwuumlrdigkeit und Zuverlaumlssigkeit desWerkes und der praumlsentierten Inhalte zu weckensup3⁴sup2

Wenn Martianus auch die Konventionen der Gattung menippeische Satireaufnimmt und sein Werk also nur folgerichtig unter anderem eine unzuverlaumlssigeErzaumlhlsituation aufweist ist dies noch keine Erklaumlrung an sich Die regelkonformeUmsetzung gattungstypischer Anspruumlche erklaumlrt noch nicht die Wahl der Gattungan sich ndash einer Gattung die trotz ihrer Benennung als solche nicht zu denStandardformen und akzeptierten Gattungen zaumlhlte insbesondere nicht fuumlrLehrwerkesup3⁴sup3

Auch Martianusrsquo Verweis auf etwas bislang noch nicht Unternommenes(nescioquid inopinum intactumque 1 2) vermag den Widerspruch nicht zu loumlsenDie Wendung zeigt zwar dass Martianus die Ungewoumlhnlichkeit seines Ansatzesbewusst war (sofern sich die Phrase uumlberhaupt auf die Komposition des Werkesbezieht)sup3⁴⁴ beseitigt aber nicht das interpretatorische Problem ZuwelchemZweckverbindet Martianus also zwei so widerspruumlchliche Gattungen wie Enzyklopaumldieund Satiresup3⁴⁵

Drei Antwortansaumltze lassen sich grob umreiszligen 1 Die Verbindung ist nuraumluszligerlich bzw oberflaumlchlich 2 durch die Verbindung soll ein bestimmter Aspektparodiert und somit Spott und Kritik ausgesetzt werden 3 die Verbindung erfuumlllt

Dieses Problem hat bereits Westra in seinem Aufsatz bdquoThe juxtaposition of the ridiculousand the sublime in Martianus Capellaldquo benannt (Westra 1981) Allerdings beschraumlnkt sich auchdieser Aufsatz auf die Darstellung des Problems und die Zusammenstellung der Belege EineLoumlsung hat Westra nicht anzubieten ndash sein Aufsatz endet mit der eher apologetischen Bemer-kung das Eingestaumlndnis der Unvereinbarkeit von Satire und Lehrwerk durch Martianus in 9 997sei prima facie ein Spiel dahinter stecke jedoch die Absicht Problembewusstsein zu demon-strieren und Verantwortung fuumlr die unterlassene Loumlsung zu negieren bdquoEven though I would claim that prose and verse must be present in an ancient Menippeansatire it must be seen as one of a number of shocking juxtapositions of oppositesldquo (Relihan 198760) ndash In der Folge kann die prosimetrische Form durchaus auch Mittel belehrender Werkewerden vgl Pabst 1994 133 Denkbar (und wohl wahrscheinlich) waumlre auch dass damit die Inhalte besonders desMythos gemeint sind Der Verweis auf Unterhaltung fuumlhrt nicht zum Kern der Frage denn die satirische Formstellt mehr dar als reine Unterhaltung Auch das horazische Diktum ridentem dicere verum quidvetat ndashsbquolachend das Wahre zu sagen ndash was spricht dagegenlsquo (Hor serm 1 1 23) als Kern vonMartianusrsquo Satireverstaumlndnisses greift zu kurz ebenso wie vergleichbare Konzeptionen in derLiteratur Dort geht es bei Belehrung immer um einzelne philosophische Saumltze (nie beispiels-weise um die Vermittlung von Philosophie an sich) Folglich bezeichnet das bdquoverumldquo nichtkognitives Lernen sondern moralisches Der grundlegende Unterschied zur Konzeption desMartianus liegt somit auf der Hand Vgl zu diesem Aspekt im Allgemeinen z B Shanzer 1986c42 und im Speziellen u a Woytek 1986 339ndash345 Keulen 2009 bes Kap 2 und 3

2 De nuptiis als literarisches Werk 143

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

einen literarischen und belehrenden Zweck zugleich Aufgrund der komplexenSachlage und der unmittelbaren Bedeutung der Beantwortung der Frage nachdieser Verbindung fuumlr das Gesamtverstaumlndnis von De nuptiis werden alle Alter-nativen vorgestellt und bewertet

Rein formale Verbindung von Satire und EnzyklopaumldieEventuell laumlsst sich die Mischung aus enzyklopaumldischen und satirischen Ele-menten (mit den zur Satire gehoumlrigen Verspartien) als Sonderform der Varro-Re-zeption bei Martianus auffassenVarro von Reate verfasste sowohl umfangreicheFachliteratur als auch menippeische Satiren Fuumlr beides war er in der Antikebekannt und beruumlhmt ndash doch ist es wahrscheinlich dass Martianus die Werkebereits nicht mehr ndash oder allenfalls nur in Auszuumlgen ndash vorliegen hattesup3⁴⁶ Aus demWissen um die beiden Schaffensbereiche des republikanischen Autors die beideder Unterweisung dienen solltensup3⁴⁷ koumlnnte Martianus auf den Gedanken verfallensein die literarischen Formen und Inhalte in seinem Werk zu verbindensup3⁴⁸Vielleicht saszlig er auch einemMissverstaumlndnis auf indem ermeinte dass Varro seinsatirisches wie enzyklopaumldisches Koumlnnen in nur einem Werk demonstriert habeDies hieszlige jedoch dass Martianus sich der Problematik dieser Verbindung nicht

So aumluszligert sich beispielsweise Kindermann in den Vorstudien seiner Ausgabe der Conso-latio des Laurentius von Durham Er billigt Martianus nur eine sekundaumlre Varro-Kenntnis zu(Kindermann 1969 60) Entschieden verneint wird die Frage von Schievenin (2009f) und Hadotdie vor allem neuplatonische Quellen vermutet (Hadot 2005 149) Schneider jedoch nimmt andass sowohl Augustin als auch Martianus die Disciplinae noch vorliegen hatten (Schneider 1999109 f) und dass die Satiren-Exzerpte des Nonius Marcellus (fl um 400 in Afrika) ebenfalls ausdem Originaltext Varros angefertigt wurden (ibid 96 Anm 12) Abwaumlgend aumluszligert sich Huumlbner2004 passim Vgl Cic ac 1 8 (es spricht Varro)

et tamen in illis veteribus nostris quae Menippum imitati non interpretati quadam hilaritateconspersimus multa admixta ex intima philosophia multa dicta dialectice quae quo faciliusminus docti intellegerent iucunditate quadam ad legendum invitati

Jedoch findet sich in meinen fruumlhen Schriften die ich in kreativer Nachfolge (und nicht nurUumlbersetzung) Menipps mit einer gewissen Heiterkeit benetzt habe vieles aus den Kernbe-reichen der Philosophie beigemengt und vieles das nach Art der Dialektiker gesagt istdamit die weniger Gelehrten es leichter verstuumlnden nachdem sie durch eine Art von Scherzzur Lektuumlre ermuntert worden sind

Vielleicht hatte Martianus diese Stelle sogar im Kopf als er die Anlage von De nuptiis plante So z BWeinreich in der Einleitung zu seiner Uumlbersetzung roumlmischer Satiren bdquoMartianusCapella glaubte gewiszlig ein Varro redivivus zu sein sozusagen die Quintessenz des Gelehrten unddes Satirikersldquo (Weinreich 1962 XCIII) Ebenso Shanzer 1986c 42

144 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

bewusst gewesen sei ndash was ihm sicher nicht gerecht wird Auszligerdem wird so dieBezugnahme auf weitere formale Elemente der menippeischen Tradition und dieuumlbrigen Vorlaumlufer der Gattung mit anderer Konzeption (Lukian Julian) nichtausreichend beruumlcksichtigt

Ebenfalls beim Autor koumlnnte eine zweite Erklaumlrung ansetzen Im Zuge derAbfassung seiner Enzyklopaumldie hat sichMartianus nach horazischer Vorgabe (unddem Beispiel Varros)sup3⁴⁹ um Auflockerung und heitere Elemente bemuumlht Diespontanen Einfaumllle wurden ins Werk integriert und die sich daraus ergebendenInkonsistenzen entweder uumlbersehen oder billigend in Kauf genommen Beideswuumlrde gut zum klassisch negativen Martian-Bild in der Forschung passensup3⁵⁰Abgesehen davon dass Annahmen uumlber das Vorgehen beim Schreiben weitge-hend auf Spekulation beruhensup3⁵sup1 widersprechen drei Beobachtungen dieser Er-klaumlrung Erstens gelingt es Martianus De nuptiis uumlber neun Buumlcher vorauszu-planen so dass am Ende ein ndash zunaumlchst abgesehen von der Satire-Problematik ndashkohaumlrentes Werk entsteht Die Fuumllle der behandelten Themen Motive und lite-rarischen Elemente weist eher auf ein planvolles Arbeiten hin und macht es un-wahrscheinlich dass Martianus Probleme an dieser Stelle nicht wahrgenommenbzw nicht korrigiert haumltte Zweitens ist die Verbindungvon Satire und den anderenElementen nicht nur oberflaumlchlich so dass sie nachtraumlglich eingefuumlgt sein koumlnnteoder sich im Schreibprozess so ergeben haben koumlnnte Da bereits im zweitenKapitel des ersten Buches Satura eingefuumlhrt wirdwar sie von vornherein Teil des

Gemeint ist das beruumlhmte zunaumlchst nur fuumlr die Dichtung relevante prodesse aut delectare(Hor ars 333 f) zu Varro vgl die schon angefuumlhrte Stelle aus Cic ac Vgl z B die sehr bildliche Beschreibung von C S Lewis bdquo[hellip] this universe which hasproduced the bee-orchid and the giraffe has produced nothing stranger than Martianus Capella[hellip] the curiosity shop of his mind [hellip] a chaos beside which the work of Rabelais has unity andthat of Mandeville probabilityldquo (Lewis 1936 78 f) Gleiches gilt fuumlr Spekulationen uumlber eine andere Auffassung von Literatur und ihrenRegeln in Martianusrsquo Zeit oder Umfeld Einerseits kennen wir keine Texte die sich mit De nuptiisvergleichen lieszligen (was per se nichts beweist aber doch Indiziencharakter hat) andererseitshielten sich auch die spaumltantiken Autoren uumlblicherweise an die klassischen Vorgaben Ich teiledaher auch Schneiders Ansicht nicht der die Skepsis an dieser Verbindung allein der modernenLeseerfahrung zuschreibt bdquoWenn den Heutigen diese Kombination der forcierten Gelehrsamkeiteines Curriculums und der spielerisch-saloppen Causerie seltsam beruumlhren mag so waumlre dazuimmerhin schon an ein ciceronisches Dictum zu erinnern non est enim seiunctus iocus a phi-lologia (ad fam 16214) ndash sbquoSpieltrieb und Pedanterie diktieren und widersprechen sich nichtlsquo(sbquoErste Fruumlhschichtlsquo aus Grassrsquo sbquoHundejahrelsquo)ldquo (Schneider 1999 94 Anm 2) Der Verweis aufCicero traumlgt nichts zum Verstaumlndnis von Martianus bei Cicero geht es an der zitierten Stelle umden Ablauf des Tages mit seinem Schuumller der aus ernsteren und heitereren Abschnitten bestehtDaraus folgt nicht dass das Lernen mit Scherz verbunden ist ndash auszligerdem duumlrfte Cicero unteriocus (sbquo[urbaner] Scherzlsquo) anderes verstanden haben als Martianus in seiner Satura bietet

2 De nuptiis als literarisches Werk 145

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Kompositionsplans Drittens hat Schievenin gezeigt dass Martianus keineswegsoberflaumlchlich und eigenwillig arbeitet Durch eine gruumlndliche Untersuchung derSilen-Passage (8 803ndash805) kann er nachweisen dass Martianus ndash wie vieleAutoren vor ihm ndash uumlber ein umfangreiches literarisches Wissen verfuumlgte daraufbei der Abfassung seines Werkes zugreifen konnte und durch gezielte Anspie-lungen neue Bezuumlge herstelltesup3⁵sup2

Satire als Mittel der KritikWaumlhrend die antike Satire (im Gegensatz zur modernen) nicht zwangslaumlufig Kritikan Missstaumlnden uumlben wollte ist diese Moumlglichkeit umgekehrt auch nicht auszu-schlieszligen Martianus koumlnnte also bewusst eine solide Darstellung der Kuumlnste inliterarischem Gewandmit der Gattung der Satire verbunden haben um Zweifel ander Ernsthaftigkeit der uumlbrigen Teile des Werkes zu wecken Er wuumlrde somit einaufklaumlrerisches Interesse verfolgen das zugleich auch unterhaltsame Zuumlge traumlgt

Eine erste Schwierigkeit dieser Lesart von De nuptiis ergibt sich bereits bei derFrage nach dem Objekt der SatireWerden die Wissensinhalte in Zweifel gezogenoder nur die Art ihrer Vermittlung in langen Reden bzwTraktaten Soll der Glaubean die umfassende Einheit des Wissens kritisiert werden oder die Vorstellungsaumlmtliches Wissen lasse sich vermitteln gar kohaumlrent in einem Werksup3⁵sup3 Ist dieVorstellung dass Wissen goumlttlich mache parodiert oder nur die abwegige Vor-stellung dass auf einer Hochzeit solche Reden gehalten werden Oder richtet sichdie Kritik letztlich gegen die Auffassung Philologia als Vorbild zu sehen oder garals Mittlerin alles Wissens ja sogar als Mittlerin zwischen Menschen und Goumlttern

Aus der Tatsache dass das Objekt der Satire keineswegs leicht zu bestimmenist kann nicht gefolgert werden dass in De nuptiis keine Satire vorliege die be-stimmte Sachverhalte kritisiere Aber es kann durchaus gefolgert werden dass eskeine expliziten textinternen Merkmale gibt die das Lesen steuern und den Ge-genstand der Kritik deutlich hervortreten lassen Die Deutungen gehen also vonmodernen Annahmen uumlber das Umfeld bzw die Gedankenwelt von Martianus aus

Im Kern handle es sich um bdquouna narrazione tersa e brillanteldquo verbunden mit einemDickicht an Verweisen Die Silen-Szene habe einen bdquocarattere colto e della dottrina e dellalingualdquo (Schievenin 1984 132) Das Fazit seiner Untersuchung formuliert Schievenin folgen-dermaszligen bdquoIl De nuptiis si rivela dunque opera di vasti orizzonti non solo per lrsquointento dida-scalico che la pervade e che ne determineragrave la fortuna ma anche per la costante presenza nellafabula della tradizione classica e dei suoi echildquo (ibid 136) Vgl zu dieser Stelle auch Bovey2003 275ndash288 ndash Den geschickten Umgang mit mehreren Quellen ndash erzaumlhlerisch wie seman-tisch ndash kann Schievenin auch fuumlr 7 725ndash727 nachweisen (Schievenin 2009e) So z B Relihan 1993 138 bdquoMartianus writes not an encyclopedia but a Menippean satirethat parodies encyclopedic knowledgeldquo

146 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

und weisen zudem meist nicht kleinschrittig auf wie der Interpret zu seiner (oftapodiktisch dargelegten) Ansicht gelangt

Nun folgt daraus noch nicht dass Martianus De nuptiis nicht als kritisierendeSatire konzipiert haumltte die Vielzahl der (wenn auch differierenden) modernenDeutungenweist ja darauf hin Zwei Uumlberlegungenwenn auch keine schlagendenBeweise lassen die Hypothese der parodierenden Satire unwahrscheinlich wer-den der Umfang von De nuptiis und seine Rezeption Eine Satire die beispiels-weise die Verbindung von Weltwissen und menschlicher Vervollkommnung in-frage stellt benoumltigt nicht noch eine umfassende Darlegung eben diesenWissensDies gilt besonders da diese Darlegung den Hauptteil des Werks ausmacht und ndashzumindest dem Umfang nach ndash die uumlbrigen Partien weit uumlberragt Eine Deutungvon De nuptiis als kritischer Satire muumlsste also besonders die Frage beantwortenzu welchem Zweck die umfangreichen Darstellungen der Freien Kuumlnste aufge-nommen sind (und nicht nur angedeutet werden)

Die Rezeption eignet sich zwar ebenfalls nicht zu sicheren Ruumlckschluumlssen aufdie originale Intention eines Werkes haumlufig bietet sie aber interessante EinblickeDie Martianus-Rezeption stellt sich bald ein Cassiodor beruft sich in seinen In-stitutiones auf ihn Dort erscheint Martianus nicht als Satiriker oder Zeitkritikersondern als Gelehrtersup3⁵⁴ In dieser Tradition wird Martianus auch im Mittelaltergelesen und rezipiertsup3⁵⁵

Aumlhnliches laumlsst sich fuumlr Boethiusrsquo Anknuumlpfen an die prosimetrische Form inder Ausgestaltung von Martianus sagen Boethius verfasst zweifelsfrei keine kri-tische Satire kann aber trotzdem an die Form und den Inhalt von De nuptiisproblemlos anknuumlpfen Sowohl der Form nach wie auch durch einzelne Zitatemacht er deutlich dass erDe nuptiis kennt und als eine seiner Vorlagen benutzt Esist zu bezweifeln dass Boethius in seinem Bemuumlhen um eine adaumlquatewerbendeDarstellung der Philosophie auf Form und Zitate des Martianus zuruumlckgegriffenhaumltte haumltte er nicht die Moumlglichkeit der gefahrlosen Uumlbernahme gesehen

Satirische Elemente als Mittel der BelehrungDer dritte Erklaumlrungsansatz fuumlr die Verbindung von Satire und Belehrung be-trachtet die Wahl Saturas als Figur und die Bezugnahme auf die Gattung zunaumlchst

Cassiod inst 2 2 17 Zur mittelalterlichen Martianus-Rezeption vgl bes Nuchelmans 1950 Lutz 1971 und 1976Willis 1973 sowie die Ausgaben und Literatur u a zu folgenden Werken Konrad von MureFabularius Hugo von Sankt Victor Didascalicon de studio legendi Johannes von SalisburyMetalogicon Kindermann kann weiterhin nachweisen dass De nuptiis auch durch seine Forminspirierend gewirkt hat (Kindermann 1969 61 f)

2 De nuptiis als literarisches Werk 147

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

als reine Fortsetzungder literarischen Form Fuumlr diese spezielle Formder Literaturdie menippeische Satire hat der russische Literaturwissenschaftler MichailBachtin Beobachtungen aufgestellt die auch fuumlr De nuptiis zutreffen Durch denRuumlckgriff auf zwei zentrale Konzepte Bachtins das Karnevaleske und die Dialo-gizitaumlt wird ein Verstaumlndnis von De nuptiis ermoumlglicht

Auf der Suche nach Vorlagen und Urformen der Gattung des Romans ins-besondere in der Form von Dostojewskis Romanen stieszlig Bachtin unter anderemauch auf die menippeische Satire die er bis in die Antike zuruumlckverfolgtesup3⁵⁶ Zuihren Vertretern zaumlhlt er unter anderem Varro Apuleius Petron Seneca oderLukiansup3⁵⁷ Martianus Capella wird nicht erwaumlhnt was aber nicht verwundernmuss da Bachtin keine Literaturgeschichte der menippeischen Satire schriebsup3⁵⁸

Kern der Uumlberlegungen Bachtins zurmenippeischen Satire ist das Konzept desKarnevals Unter Karneval versteht er folkloristische Feste waumlhrend deren diebestehende Ordnung verkehrt wird uumlbliche Regeln nicht mehr gelten Herr-schende gestuumlrzt und Machtlose maumlchtig werden ndash auf Zeit Die Karnevalisierungalso die Uumlbernahme der Kennzeichen dieses Festes in neue oder bestehende li-terarische Formen institutionalisiert diese Ausnahmesituation und loumlst sie vomkonkreten Fest Der so entstandene Text wird bdquozum karnevalesken Spiel an demder Autor und sein Publikum einverstaumlndlich teilhaben und das keines kalen-darisch oder institutionell abgesicherten Karnevalsrahmens mehr bedarfldquosup3⁵⁹

Diese Karnevalisierung fuumlhrt unter anderem zu einer Vielstimmigkeit vonMeinungen und Positionen im Text z B durch mehrere Figurenvon denen keinebevorzugt oder gar als autoritativ gekennzeichnet wird In dieser Dialogizitaumlt wirdkein allgemein guumlltiger Sinnmehr vermittelt sondern dieWahrheit suspendiertsup3⁶⁰

Dass der Bezug auf karnevalsartige Feste der Gattung menippeische Satire (inTeilen auch der Verssatire) eignet zeigt ein kurzer Blick auf wichtige Vertreter derTradition

Julians Symposion Caesares spielt zur Zeit der Saturnalien Die Bedeutungdieses Festes fuumlr das Werk wird dadurch verdeutlicht dass es den Handlungs-

Bachtin 1971 126ndash 135 Bachtin 1971 126 128 132f Kritik an den z T pauschalisierenden und verfaumllschenden Aussagen Bachtins uumlber antikeLiteratur oder an der ununterbrochenen Traditionslinie von der Antike bis in die Moderne (z BRelihan 1987 59 Lachmann 2006 23ndash25) muumlsste auch auf manche moderne Literaturwissen-schaftler in der Nachfolge Bachtins angewandt werden (vgl Branham 2005 6 wo es uumlberSenecas Apocolocyntosis heiszligt bdquoour only extant Menippean satire in Latinldquo) Teuber 1993 182 Eine gut verstaumlndliche Einfuumlhrung in das Konzept der Dialogizitaumlt im Sinne der bach-tinschen Terminologie bietet Sharland 2010 Einfuumlhrung (1ndash51)

148 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

rahmen fuumlr den in der Folge erzaumlhlten Mythos bildet Bereits im ersten Satz wirdauf das Fest und die Tradition Heiteres frei zu erzaumlhlen Bezug genommensup3⁶sup1

Auch Senecas Apocolocyntosis stellt einen engen Bezug zum Saturnalienfesther Das Werk spielt zwar nicht an den Saturnalien sondern am Todestag desClaudius im Oktober doch wird an zwei Stellen eine Verbindung zwischen derHerrschaft des verstorbenen Kaisers und den dargestellten Sitten waumlhrend derRegierungszeit mit dem Saturnalienfest gezogensup3⁶sup2 Manche Interpreten gehensogar davon aus dass die Apocolocyntosis an den Saturnalien des Jahres 54vorgetragen wurdesup3⁶sup3 Auch bei Petron und Horaz finden sich Bezugnahmen aufdie Saturnaliensup3⁶⁴

Ein zentrales Element des Saturnalienfestes liegt in der Suspension der uumlb-licherweise geltenden Normen und Wertesup3⁶⁵ Neben den anderen Elementen desFestes wie sie z B in Macrobiusrsquo Saturnalia (1 7ndash 10 1 24 22 f) beschriebenwerden (traditionelle Geschenke Festmahl fuumlr die Sklaven etc) hat gerade dieUmkehrung der Herrschaftsverhaumlltnisse im Haus Niederschlag in der Literaturgefunden

Gerade durch diese Rolleninversion treten einige wichtige gesellschaftlicheNormvorstellungen und Grundannahmen prominent hervor Dazu zaumlhlt das Be-wusstsein dass es eine befehlende und eine ausfuumlhrende Gruppe von Menschengibt oder dass im Prinzip ein Rollenwechsel moumlglich sein kann Alle Beteiligten

Ἐπειδὴ δίδωσιν ὁ θεὸς παίζειν ndash ἔστι γὰρ Κρόνια ndash hellip (sbquoDa der Gott das Scherzen erlaubt ndashes sind ja die Kronia helliplsquo Caes 1 = 306a Spanheim) Zur Frage ob es sich bei Caesares auch umdas Werk handle auf das zu Ende der Rede auf Koumlnig Helios verwiesen wird (Or in Sol reg 44 =157c Spanheim) vgl Muumlller in seiner Uumlbersetzung (39 ablehnend) und Lacombrade im Vorwortseiner Budeacute-Ausgabe (3 und 18 Anm 3) der aufgrund des Handschriftenbefundes Kronia auchals Titelbestandteil fuumlr die Caesares uumlbernimmt Es handelt sich um Sen apocol 8 1 (Claudius als Saturnalienprinz) und 12 2 (Herrschaftdes Claudius als andauerndes Saturnalienfest) ndash Dass Lukian nicht auf die Saturnalien alsRahmen fuumlr seine Werke zuruumlckgreift entwertet die Beobachtungen nicht Lukian musste auf-grund seines Selbstbewusstseins als satirischer Schriftsteller und aufgrund der Menge seinersatirischen Schriften nicht jedes Mal einen eigenen literarischen Rahmen herstellen in demeinzelne Dialoge stattfinden konnten Das Saturnalienfest selbst erscheint bei Lukian als Ge-genstand der Satire nicht als deren literarische Rahmung (Τὰ πρὸς Κρόνον) Zuerst bei Furneaux 1896 23 Anm 11 In der neueren Forschung vgl bes Nauta 1987Kritisch dazu u a Doumlpp 1993 159 f Petron 44 3 58 2 69 9 zu Horaz vgl z B serm 2 7 (libertas Decembris) Ein gelungenesBeispiel der Anpassung und Anwendung der bachtinschen Konzepte mit Ertrag fuumlr die Inter-pretation unter Einbezug von serm 2 7 bietet Sharland 2010 Distelrath 1999 114 Vgl weiterhin Versnel 1993 136ndash227 und Doumlpp 1993 Eine plastischeSchilderung der Rollenvertauschung bei der der Sklave dem Herrn die Leviten liest bietet Horserm 2 7

2 De nuptiis als literarisches Werk 149

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Herren wie Sklaven spielen also mit den Moumlglichkeiten einer alternativen Wirk-lichkeit

Das Besondere im Spiel mit den Moumlglichkeiten liegt aber in seiner zeitlichenBegrenzung Nach der Zeit des Ausnahmezustands gelten wieder die normalenimmer guumlltigen Regeln Die Rolleninversion erlaubt also ndash oder erzwingt gera-dezu ndash das Nachdenken uumlber bestimmte gesellschaftliche Normen und Wertvor-stellungen Durch die Ritualisierung und enge zeitliche Begrenzung ist darausjedoch keineswegs die Notwendigkeit entstanden die Verhaumlltnisse tatsaumlchlich zuhinterfragen oder gar zu aumlndern Daher lassen sich die Saturnalien auch als ein dieKonventionen bestaumlrkendes Fest verstehen Das Spiel mit der Moumlglichkeit eineranderen Gesellschaftsordnung hat durch seine Ritualisierung letztlich eine dieTradition legitimierende Funktion bekommen

In De nuptiis finden sich jedoch houmlchstens spaumlrliche Hinweise auf das Sa-turnalienfest Am ehesten weist das grob scherzende Agieren Saturas in diesenBereich Die bdquolangen Winternaumlchteldquo (1 2) koumlnnten (statt als Bezug auf Gellius) alsAnspielung auf das Saturnalienfest verstandenwerden ndash die Saturnalien finden inden laumlngsten Naumlchten uumlberhaupt statt seit der Kaiserzeit vom 17 bis 23 DezemberDies ndash wie die Spekulation uumlber eine spielerische etymologische Verbindung vonSatura und Saturnaliensup3⁶⁶ ndash ist aber insofern nicht von Belang da die Gattung alsGanze karnevaleske Zuumlge traumlgt und als gewissermaszligen institutionalisierter Kar-neval vom eigentlichen Fest losgeloumlst istsup3⁶⁷

Die Aufhebung der uumlblichen Ordnung (was Teuber im Ruumlckgriff auf Limina-litaumltskonzepte als praumlliminale Phase bezeichnet)sup3⁶⁸ beginnt mit der VorbereitungPhilologias zum Aufstieg in den Himmel Bereits das Erbrechen stellt eine mar-kante Umkehrung der alltaumlglichen Welt dar Statt sich Wissen anzueignen er-bricht Philologia es nun In der Goumltterversammlung auf der Milchstraszlige ist dieOrdnung sodann voumlllig verkehrt Philologia als Meisterin aller Disziplinen und

Zwar sind die einschlaumlgigen etymologischen Woumlrterbuumlcher skeptisch (v a WaldeHof-mann 2007 II 482 neutral ErnoutMeillet 2001 596) jedoch gibt es dahin gehende moderneDeutungen (aufgefuumlhrt bei WaldeHofmann 2007 II 482) und auch antike ParallelisierungenCic nat deor 2 64 Saturnus hellip est appellatus quod saturaretur annis (sbquoSaturn hellip wurde ergenannt weil er an Jahren gesaumlttigt istlsquo) Fulg myth 1 2 (p 17 16) a saturando Saturnus dictusest (sbquoDa er (die Menschen) saumlttigt wurde er Saturn genanntlsquo) Aug cons euang 1 23 35 Sa-turnus tamquam satur hellip νοῦς (sbquoSaturn gleichsam der gesaumlttigte hellip νοῦςlsquo) Vgl auch Gowers diedie etymologischen Verbindungen von satura Satyrspiel und Saturnalien untersucht (Gowers1993 109ndash 117) Sie kommt zu dem Befund dass keine Verbindung bestehe wohl aber verbin-dende Elemente identifiziert werden koumlnnten bdquocarnival licence parody uninhibited mockeryand excessive consumptionldquo (ibid 117) Vgl z B Teuber 1993 183 f Teuber 1993 183

150 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

bedeutende Lehrinstanz muss sich ihrerseits belehren lassen ndash mit dem Wissendas urspruumlnglich ihres war

Durch die Inversion wird die (vielleicht uumlblicherweise nicht prominente)Philologia in den Mittelpunkt geruumlckt und ihre zentrale Rolle im Wissenssystemtritt markant vor Augen Gleichzeitig kann darin eine leise Anfrage an ihre Lehr-autoritaumlt und eventuell auch ihre Eignung zur Lehre gesehen werden

Aufgrund des zeitlich begrenzten Rahmens der Verkehrung (diemit dem Endeder Vortraumlge voruumlber ist aber nicht explizit zuruumlckverwandelt wird) dessen Be-grenztheit durch Bezug auf die Form der menippeischen Satire ergaumlnzt werdenkann wird das System der Bildung und der Bildungsvermittlung jedoch nichtgrundsaumltzlich infrage gestellt Die Suspendierung Philologias ist temporaumlr

Dem Konzept der Dialogizitaumlt oder Mehrstimmigkeit folgend erklaumlrt sich auchdie Doppelung und Verunklarung der Erzaumlhlinstanz In den drei Dialogen indenen Satura und Martianus aufeinandertreffen behandeln sie die Frage desrichtigen Erzaumlhlens Dies beschraumlnkt sich nicht nur auf die Satire sondern umfasstalle auftretenden literarischen Formen Martianus und Satura sind sich uneinswie weit der Mythos reichen soll und ob eine Enzyklopaumldie trocken oder auchunterhaltsam erzaumlhlt werden soll (2 219ndash3 222) ob ein Symposion auch Zechenund Spaszlig vertraumlgt (8 803ndash810) oder ob und wie stark Satire Dinge vermischendarf (9 997ndash 1000)

Die unterschiedlichen Meinungen zu den Fragen werden zwar diskutiert undfuumlhren zu einem Ergebnis ndash der Erzaumlhlfluss versiegt ja an keiner Stelle oder setztneu an Allerdings entsteht in der Folge kein homogenes Werk und am Schlussmag keiner der beiden Erzaumlhler dafuumlr die Verantwortung uumlbernehmen Der Wi-derwillen sich zu dem Werk zu bekennen bedeutet aber gleichzeitig auch dassMartianus sich nicht festlegt welche Position er fuumlr die richtige haumllt Die Fragenach der rechten Art der Wissensvermittlung die auch in der Ent- und Inthroni-sierung Philologias anklang bleibt unbeantwortet

Schlieszliglich bringt der Blick auf die Aurelian-Vita aus der Historia Augustanoch einen weiteren Aspekt ein Parallel zur Aufteilung der Erzaumlhlinstanzen in Denuptiiswird der Erzaumlhlprozess in derHistoria Augusta aufmehrere AutorenverteiltWie zuerst Hermann Dessau und in der Folge Ronald Syme nachdruumlcklich gezeigthaben handelt es sich allerdings um nur einen Verfasser der uumlberdies auch inBezug auf die Abfassungszeit falsche Angaben gemacht hat und Quellen erfundenhatsup3⁶⁹ Insofern laumlsst sich der in der Historia Augusta gepraumlgte Begriff der

Auf den Charakter der Sammlung die Syme u a als bdquohoaxldquo bezeichnet (1983a 11 1983b13 1983c 219) die fingierten Autoren die manipulierten Quellen etc soll an dieser Stelle nurhingewiesen werden Vgl auch Cameron 2011 Kap 20 mit ausfuumlhrlicher Diskussion relevanterFragen

2 De nuptiis als literarisches Werk 151

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mythistoria der Vermischung von Mythischem und Historischem auch auf dieSammlung selbst anwendensup3⁷⁰

Als Menippee im engeren Sinne laumlsst sich weiterhin die Aurelian-Vita die 26Vita der Sammlung fassen und bezeichnenderweise spielt die Rahmenhandlungan denHilariasup3⁷sup1Wie zu den Saturnalien gehoumlren zu diesem Fest Scherze und ndash imRahmen von Maskierungen ndash Rollenwechselsup3⁷sup2

Noch in der rahmenden Einleitung zur Vita spielt sich folgender Dialog ab

1 et quoniam sermo nobis de Trebltellgtio Pollione qui a duobus Philippis usque ad divumClaudium et eius fratrem Quintillum imperatores tam claros quam obscuros memoriaeprodidit in eodem vehiculo fuit adserente Tiberiano quod Pollio multa incuriose multabreviter prodidisset me contra dicente neminem scriptorum quantum ad historiam pertinetnon aliquid esse mentitum prodente quin etiam in quo Livius in quo Sallustius in quoCornelius Tacitus in quo denique Trogus manifestis testibus convincerentur pedibus insententiam transitum faciens ac manum porrigens iocando[m] praeterea sbquoscribelsquo inquit sbquout

quae ille [scil Iunius Cordus] omnia exsequendo libros mythistoriis replevit talia scribendocum omnino rerum vilium aut nulla scribenda sint aut nimis pauca si tamen ex his morespossint animadverti qui re vera sciendi sunt hellip sed ex parte ut ex ea cetera colligantur(SHA Opil 1 5)

Bei der Anfuumlhrung von all diesen Informationen hat er die Buumlcher mit fabuloumlsen Ge-schichten angefuumlllt indem er Dinge von dieser Art schrieb wo doch uumlberhaupt keinenutzlosen Dinge geschrieben werden duumlrfen oder nur sehr wenige sofern daraus Verhal-tensweisen erkannt werden koumlnnen die wirklich wissenswert sind hellip aber zum Teil(schreibe ich) damit daraus das Andere gefolgert werden kann

quid Marius Maximus homo omnium verbosissimus qui et mythist[h]oricis se voluminibusinplicavit num ad istam descriptionem curamque descendit (SHA Quadr tyr 1 2)

Wie Hat sich Marius Maximus der groumlszligte Schwaumltzer vor dem Herrn der sich in seinenmythistorischen Werken verfangen hat etwa zu dieser Art der Darstellung und des sorg-faumlltigen Arbeitens herabgelassen

Hilaribus quibus omnia festa et fieri debere scimus et dici impletis sollemnibus vehiculo suome hellip Iunius Tiberianus accepit (SHA Aurelian 1 1)

An den Hilaria an denen alles zum Fest Gehoumlrende getan und gesagt werden muss wieman weiszlig empfing mich nach Erledigung der Zeremonien Iunius Tiberianus in seinemGefaumlhrt

Pausch bemerkt dieses besondere Datum zwar und erwaumlgt ob es sich um ein bdquoweitergehendesLesesignalldquo beispielsweise im Sinne karnevalesker Literatur handeln koumlnne verfolgt diese Spuraber nicht weiter (Pausch 2011 130 Anm 1) Herodian 1 10 5 ndash Einige Hinweise auf die Hilaria die im Kontext des Magna Mater-Festesam 25 Maumlrz gefeiert wurden bietet Fraser in seinem Kommentar zu Ovids Fasti (Fraser 1929244ndash248)

152 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

libet 2 securus quod velis dices habiturus mendaciorum comites quos historicae elo-quentiae miramur auctoreslsquo (SHA Aurelian 2 1ndash2)

1 Und weil unser Gespraumlch uumlber Trebellius Pollio der von den beiden Philippi bis zumvergoumlttlichten Claudius und dessen Bruder Quintillus gleichermaszligen uumlber beruumlhmte wieunbekannte Kaiser fuumlr die Nachwelt schrieb in derselben Saumlnfte stattfand behauptete erdass Pollio vieles ohne Sorgfalt und nur kurz dargelegt habe Ich erwiderte dass keinSchriftsteller sofern es um die Geschichte gehe nicht irgendwo gelogen habe und legtesodann dar worin sogar Livius Sallust Tacitus schlieszliglich sogar Trogus mit eindeutigenBelegen uumlberfuumlhrt werden koumlnnten Darauf sagte Tiberianus schlieszliglich scherzend indem ermeiner Meinung beipflichtete und mir seine Hand darbot bdquoSchreibe sowie du es fuumlr richtighaumlltst 2 Sage unbesorgt was du willst du wirst diejenigen als Gefaumlhrten fuumlr deine Taumlu-schungen haben die wir als Schoumlpfer historiographischer Beredsamkeit bewundernldquo

So sympathisch dieser Anspruch auch erscheinen mag ist er doch fuumlr das Ver-trauen in die Gattung der Geschichtsschreibung fatal Gerade in der Einleitungeiner Vita jedoch ndash zumal es der Fiktion nach die erste des Flavius Vopiscus Sy-racusius im Corpus der Historia Augusta ist ndash kann eine solche Anekdote ei-gentlich keinen Platz haben Sie erweckt beim Leser den Eindruck dass er dennachfolgend dargebotenen Informationen kein Vertrauen schenken duumlrfesup3⁷sup3

Die Parallelen zwischen der Historia Augusta insbesondere dem Vorgehen inder Vita Aureliani und De nuptiis liegen auf der Hand Verunklarung der Autor-schaft bzw der Erzaumlhlhaltung einerseits Erwecken von Zweifeln an der Glaub-wuumlrdigkeit des Dargebotenen andererseits

In der Historia Augusta sind die Inkongruenzen mit der Freude des Autors amliterarischen Spiel erklaumlrt worden Der Autor habe aus Freude am Fabulieren(vielleicht auchumein dafuumlr empfaumlngliches Publikum zu befriedigen) die Viten indieser Form verfasstsup3⁷⁴ Mag man dies fuumlr die Historia Augusta noch zugestehenderen Text uumlber einen laumlngeren Zeitraum vielleicht zunaumlchst ohne eine Gesamt-konzeption entstanden ist und auch sprachlich nicht herausragt stellt sich derSachverhalt fuumlr Martianusrsquo De nuptiis anders dar Das Werk hat durchaus einenliterarischen Anspruch und es folgt eindeutig einer vorab geplanten Gesamtan-lage Die Freude am Spiel mag vielleicht manches Detail beigesteuert haben fuumlrdie verschraumlnkte Anlage des Textes ist sie aber keine Erklaumlrung

Ganz anders ist der Anspruch zum Ende der Darstellung der Viten der bdquoDreiszligig Tyrannenldquoin dem der Autor beteuert seinem Werk mangele es zwar an literarischer Ausgefeiltheit nichtjedoch an Faktentreue da nunc cuivis libellum non tam diserte quam fideliter scriptum ndash sbquoGibnun dieses Buumlchleinwem du magst es ist nicht so sehr kunstvoll geschrieben wie es sachgetreuistlsquo (SHA Quadr tyr 33 8) Syme nennt dies bdquodeceit for its own sweet sakeldquo (1983c 217) Im gleichen Aufsatz spe-kuliert er auch uumlber das Interesse des Publikums an einer solchen Art von geistigem Spiel(ibid 221)

2 De nuptiis als literarisches Werk 153

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Es lohnt sich jedoch auch fuumlr die Historia Augusta einen Schritt weiter zugehen Ausgangspunkt dafuumlr ist die obige Beobachtungdass das literarische Spielder Historia Augusta nur durchschaut wer die Werke der historischen Literaturkennt Durch die Lektuumlre historiographischer Biographien bringt der Leser einebestimmte Leseerwartung also implizite Vorstellungen mit wie das Werk aus-sehen soll und wird Diese Erwartungen werden aber nicht oder nur teilweisebedient Formal gesehen weisen die Viten in der Historia Augusta zwar die Cha-rakteristika der Gattung auf ndash doch indem sie sie inhaltlich nicht adaumlquat aus-fuumlllen treten deren Konventionen vor Augen

Durch die uumlbermaumlszligige Verwendung falscher Verweise und erfundener Quel-len geraumlt zudem das Beglaubigungsverfahren historischer Texte in den Blick-punkt Der Leser erkennt anwelchen Stellenwelche Beglaubigungsmechanismenansetzen und auf welche Weise sie unterlaufen werden koumlnnen Uumlberspitzt lieszligesich behaupten DieHistoria Augusta verfolgt ein aufklaumlrerisches Interesse indemsie (spielerisch) aufzeigt welche Beglaubigungsverfahren die Geschichtsschrei-bung nutzt und wie sie manipuliert werden koumlnnen dadurch wird auch die Ma-nipulierbarkeit von Geschichte und Leser deutlich

In De nuptiis werden ebenfalls die Konventionen der Einzelgattungen ndash zu-mindest ansatzweise ndash hervorgehoben Dass kein perfektes Musterbeispiel derjeweiligen Einzelgattung entstehen kann liegt darin begruumlndet dass durch dieVerbindung der vier literarischen Genres keine oberflaumlchliche Konsistenz derFiktion entstehen kannVielmehr entstehen Bruumlche die ndash ebenso wie die Bruumlchein der Erzaumlhlhaltung ndash auch die Gattungskonventionen und ihre Annahmendeutlich werden lassen Dies gilt besonders fuumlr die Satire deren Vorgehen imKontrast zur eigentlichen Hochzeitshandlung aus dem Rahmen faumlllt und somitbesonderes Augenmerk erhaumllt Hinzu tritt mit der Figur Satura auch eine Perso-nifikation der Gattung die in theoretischen Diskussionen Annahmen und Vor-gehen mit Martianus eroumlrtert Grunduumlberlegungen der Gattung Satire werden sotheoretisch eroumlrtert und praktisch erprobt Gleiches giltwenn auch zT inwenigerdeutlicher Form auch fuumlr die anderen Formen Die Enzyklopaumldie in ihren langenMonologen wird durch Spott markiert die trockenen Kuumlnste werden probeweisedurch Allegorien zugaumlnglicher gemacht im Symposiondialog wird uumlberlegt in-wieweit uumlbliche Rollenmuster (der Zecher) einen Platz haben oder wie weit mandie fuumlr die Feier typischen Reden fuumlhren kann und immythischen Teil wird durchdie Gegenuumlberstellung mit dem handfesten Wissensbetrieb die Andersartigkeitdes Erzaumlhlens deutlich

So werden neben den Inhalten der Wissenschaften auch verschiedene lite-rarische Formen bewahrt Neben der reinen Anwendung und somit Tradierungwerden gleichzeitig auch die Mechanismen verdeutlicht deren sich die jeweilige

154 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Gattung bedient Somit wird ihr Funktionieren nachvollziehbar und in der Folgeauch nachahmbar

3 Zusammenfassung

Martianus weckt also durch die Wahl mehrerer gleichberechtigter Erzaumlhler diesomit das Erzaumlhlen unzuverlaumlssig werden lassen besonders aber durch dieUumlbernahme satirischer Gattungselemente ein Bewusstsein fuumlr die traditionellenGrundlagen desWissens- und Lehrsystems seiner Zeit ImGegensatz zur Satire diediese Fragen kategorisch stellt handelt es sich in De nuptiis um ein Spiel damitDer Satirebezug dient als Anknuumlpfung an die traditionellen Gattungsmerkmaleder menippeischen Satire Karnevaleske und Dialogizitaumlt

Durch die (temporaumlre) Rolleninversion richtet sich das Augenmerk aufPhilologia als Wissenszentrum und Wissensmittlerin und fordert zum Nach-denken daruumlber heraus Im Kern hinterfragt das Werk alle Bereiche die mit Bil-dung und Bildungsvermittlung zu tun haben Was sind die Inhalte wahrer Bil-dung Gibt es eine Einheit von Bildung Wie kann sie vermittelt werden

Allerdings zielt die Kritik nicht auf eine Aufloumlsung klassischer Bildungsinhalteund Vermittlungsformen Sie regt vielmehr durch Scherz und Bruumlche zumNachdenken uumlber diese Fragen an Dabei verzichtet Martianus auf eigene Vor-schlaumlge und Konzepte und festigt so gleichsam den traditionellen Bildungs-betrieb Das von ihm dargestellte Wissen wird kanonisiert und die Darstel-lungsform in langen Reden wird es auch Die mittelalterliche Rezeption von Denuptiis zeigt dies eindrucksvoll

Wissen umfasst dabei nicht nur das Faktenwissen der Vortraumlge sondern auchdas Wissen um bestimmte literarische Formen Durch die Verbindung von vierGattungen und die Doppelung der Erzaumlhlerfigur mit Reflexion uumlber angemessenesErzaumlhlen entstehen Inkonsistenzen die die Konventionen der einzelnen Gattun-gen hervortreten lassen Nicht alle Elementewerden auf dieseWeise deutlich aberMartianus bietet einen Ansatzpunkt die Fiktion auch unter der Fragestellung zulesen was einen Text der jeweiligen Gattung ausmacht ndash sowohl positiv wie ne-gativ formuliert

Mit seiner kreativen Konzeption und ihrer literarischen Umsetzung gelingt esMartianus eindrucksvoll Heiteres und Belehrendes zu verbindenwomit er an dieTradition Varros und die klassische antike Poetik anknuumlpft Es gelingt ihm daruumlberhinaus aber auchWissen zu vermitteln und die traditionellen Vorstellungen vonder Bedeutung dieses Wissens wie der Form seiner Vermittlung herauszustellenSpielerisch wird also gelehrt und hinterfragt nicht jedoch kategorisch kritisiertoder kuumlhn neu entworfen Gerade dadurch zeichnet sich Martianusrsquo De nuptiis

3 Zusammenfassung 155

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

tatsaumlchlich als nescioquid inopinum intactumque (sbquoetwas Ungewohntes und nochnie Gewagteslsquo 1 2) aus und macht es zu einem der bedeutendsten Buumlcher derSpaumltantike und zu einer interessanten Quelle fuumlr die Frage nach Bildungsvor-stellungen im fuumlnften Jahrhundert

156 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Page 8: Bildungsvorstellungen im 5. Jahrhundert n. Chr. (Macrobius, Martianus Capella und Sidonius Apollinaris) || III Martianus Capella, De nuptiis Philologiae et Mercurii

(2 219) die das Buch ausmacht und die der Sohn houmlren bzw der Leser lesen sollsup2⁷sup3Erscheint es zunaumlchst so als ob die Erzaumlhlungmit dem zweiten Buch endet und abdem dritten nur ernste Abhandlungen folgen sollen (2 219 f) korrigiert Martianusdiesen Eindruck jedoch gleich zu Beginn des dritten Buches Dort laumlsst er sich voneiner nicht benannten Muse (Camena) das Versprechen abnehmen auch weiter-hin fiktionale Elemente zu nutzen

Der anfaumlnglich ins Auge gefasste Verzicht auf Fiktion (fictum) fuumlr die fol-genden wissenschaftlichen Partien (disciplinae sobriae)sup2⁷⁴ betont jedoch derenRelevanz und das Interesse an zuverlaumlssiger Belehrung Waumlhrend sich fuumlr denInhalt der Buumlcher 1 und 2 eine Erzaumlhlung als gut geeignet erwies widersprachdiese fuumlr Martianus dem Wesen der anschlieszligenden Vortraumlge welchen dadurchgroumlszligeres Gewicht zufaumlllt

Der scheinbare Konflikt wird dadurch geloumlst dass die Vortraumlge an sich in dergeplanten trockenen Form gehalten werden Sie sind jedoch in die uumlber alle neunBuumlcher fortgesetzte Erzaumlhlung der Hochzeit Merkurs mit der Philologie einge-bettet Der Handlungsfortschritt zwischen den Vortraumlgen ist nicht groszlig sondernbeschraumlnkt sich meist auf das Evozieren von Eindruumlcken und die Bezugnahme auftraditionelle gattungsspezifische Elemente (vgl z B die Elemente des Symposi-ondialogs)

Dass Martianus schlieszliglich das ganze Werk mit seinen erzaumlhlenden und be-lehrenden Teilen als fabula betrachtet wird in der abschlieszligenden Sphragisdeutlich Dort heiszligt es

Habes anilem Martiane fabulammiscillo lusit quam lucernis flamineSatura Pelasgos dum docere nititurartes daggercagris vix amicas Atticis (9 997)

Da hast du Martianus eine Altweibergeschichte welche bei Kerzenschein Satura mit ge-mischtem Liede [d h in Prosa und Vers] spielend hervorbrachtewaumlhrend sie sich bemuumlhtedie Pelasger zu lehren die Kuumlnste die den Griechen kaum freundlich [d h neu] sind

Der Begriff des mythos der dreimal in De nuptiis auftritt ist eng auf den allegorischenInhalt der Buumlcher 1 und 2 beschraumlnkt und entspricht in etwa dem was Macrobius unter narratiofabulosa versteht (Bovey 2003 38ndash42) Beide Wendungen 2 220 ndash Zur Frage der Bezeichnungen als artes bzw disciplinae in-klusive der Begriffsentwicklung vgl Bovey 2003 64ndash87

2 De nuptiis als literarisches Werk 121

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

So unklar der Inhalt der Wendung Pelasgos docere istsup2⁷⁵ wird doch deutlich dassMartianusmit den vorausgegangenen 9 Buumlchern belehrenwolltewas allein schondie systematische Anlage (sieben Kuumlnste Reflexion uumlber weitere Wissenschaftenin 9 891) und die Fuumllle des Stoffes nahelegen

Der enzyklopaumldische Teil umfasst die Buumlcher 3 bis 9 von De nuptiis Zunaumlchsttreten die Kuumlnste Grammatik Dialektik und Rhetorik auf und stellen ihre Disziplinvor (Buumlcher 3 bis 5) Davon deutlich abgesetzt durch einen Hymnus auf PallasAthene zu Beginn von Buch 6sup2⁷⁶ folgen die Wissenschaften des spaumlteren Qua-driviums Geometrie Arithmetik Astronomie und Harmonie (Buumlcher 6 bis 9)Diese werden wiederum in zwei Zweiergruppen unterteilt Eine unmittelbareVorlage dafuumlr laumlsst sich nicht erkennen aber auch bei Boethius findet sich eineZusammenfassung der vier mathematischen Faumlcher die von der Forschung aufNikomachos von Gerasa zuruumlckgefuumlhrt wirdsup2⁷⁷ Eine Anordnung nach steigendemAnsehen der Kuumlnste ist auch durch Groumlszlige und Zusammensetzung des Gefolgesund die Reaktionen der Goumltter erkennbarsup2⁷⁸

Die Vortraumlge der Kuumlnste selbst entsprechen dem Charakter von Fachschriftenwas vor allem auf der streckenweise woumlrtlichen Wiedergabe der zugrunde lie-genden Quellen beruht Durch den Umfang den kleinschrittigen Aufbau und diesprachliche Sproumldigkeit wirken diese Reden wie ein Fremdkoumlrper in der Ge-schichte der Hochzeitsfeierlichkeiten und lassen manchen anwesenden Gottmuumlde werden oder gereizt reagierensup2⁷⁹

In der Regel sind die Vortraumlge aus einer odermehrerenVorlagen uumlbernommenwobei Martianusrsquo Eigenbeitrag vor allem in der Auswahl und Zusammenstellungder Quellen liegt Ein prominentes Beispiel fuumlr Martianusrsquo Vorgehen ist die Be-zeichnung Konstantinopels als Byzanz (6 670) Die Stelle kann nicht ndash wie haumlufiggeschehen ndash zur Datierung herangezogen werden sondern offenbart Martianusrsquo

Cristante versteht die Stelle woumlrtlich wenn er formuliert Martianus wolle das baumlurischeItalien belehren (Cristante 1978 679) waumlhrend Parker die Bedeutung des Wortes Pelasgi garnicht genau bestimmen moumlchte (Parker 1890 454) Zu dieser Passage und der Bedeutung dieses zweiten sbquoBinnenprooumlmslsquo vgl Bovey 2003227ndash237 sowie Zaffagno 1998 Rechenauer 1994 Sp 1177 Waumlhrend Grammatik allein eintritt (3 223) wird Harmonia von vielen auch beruumlhmtenBegleitern eingefuumlhrt und ihr Einzug wird von Musik begleitet (9 905ndash909) Ihr Vortrag ruft beiden Goumlttern Freude hervor (9 996) waumlhrend der Vortrag von Grammatik neutral zur Kenntnisgenommen wird (3 326) und der Vortrag von Dialektik aufgrund des Unwillens der Zuhoumlrersogar abgebrochen werden muss (4 423) Vgl Relihan 1987 64 und Bovey 2003 10 die voneinem bdquoparcours ascendant et cycliqueldquo spricht 4 423 5 565 6 723

122 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

unkritischen Umgangmit seinen Quellensup2⁸⁰Meist liegt der Darstellungder Kuumlnstenicht jeweils eine Fachschrift zugrunde sondern sind mehrere Werke heran-gezogen und zusammengestelltsup2⁸sup1

Die Auswahl der Faumlcher erfolgt nicht willkuumlrlich Die Tradition der um-fassenden Bildung die sich hinter dem Begriff der ἐγκύκλιος παιδεία verbirgtsup2⁸sup2der von Martianus auch in lateinischer Uumlbersetzung verwendet wirdsup2⁸sup3 umfassteim Laufe der Jahrhunderte einen wechselnden Faumlcherkanon Im Kern waren je-doch immer sowohl sprachliche Faumlcher als auch im weiteren Sinne mathemati-sche Faumlcher darin vertretensup2⁸⁴ Die Siebenzahl war dabei nicht kanonisch eskonnten auch neun Faumlcher (Varro) dazugehoumlren oder ein nicht genau umrissenerFaumlcherkanon (Boethius)sup2⁸⁵

Gegenuumlber der Tradition stellt Martianusrsquo Faumlcherauswahl keine grundlegendeNeuerung dar Grammatik Rhetorik und Dialektik waren meist Bestandteil derumfassenden Bildung und auch Geometrie Arithmetik Astronomie und Musikgehoumlrten haumlufig dazusup2⁸⁶ Der Ausschluss weiterer Kuumlnste wie der Medizin und der

Vorlage ist an dieser Stelle Plinius (Plin nat 5 24f) Vgl Grebe 2000 354 Typisch ist dieEinschaumltzung Krapingers der De nuptiis ein niedriges fachliches Niveau bescheinigt (bdquoevidentesachliche Defiziteldquo Krapinger 1999 962) Vgl auch die Anrufung Minervas zu Beginn desQuadriviums 6 574 in der Martianus explizit um Inspiration in Bezug auf die griechischenKuumlnste bittet Ein Blick in den Similienapparat zeigt dass Martianus fuumlr das sechste Buch uumlber dieGeometrie hauptsaumlchlich auf drei Autoren zuruumlckgegriffen hat Solinus Plinius und Euklid Vglauch Willisrsquo Anmerkung in seiner Ausgabe non moris fuisse Martiano ut per integrum librumunum sequeretur auctorem (309) Sehr aufschlussreich ist beispielsweise die Untersuchung vonBarbara Ferreacute in der Einleitung zur Ausgabe (xxiv-xxvii) Vgl auch die Beitraumlge von Schievenin(2009a und 2009b) die neben der unmittelbaren Fragestellung auch eine weitere Einordnungbieten Einen konzisen und modernen Uumlberblick uumlber die Entwicklung des Konzeptes bietetRechenauer 1994 Die Monographie von Hadot (Hadot 2005) ist immer noch das Standardwerk 9 998 (disciplinae cyclicae) Hadot 2005 265ndash267 Marrou 1958a 2 Teil bes die Uumlbersicht 216ndash217 Rechenauer 1994Grebe 1999 37ndash50 Uumlber die Siebenzahl ihren Ursprung ihre Festlegung sowie ihre endguumlltige inhaltlicheFuumlllung ist bislang kein Konsens erzielt worden deutlich ist aber dass Martianus Capella undAugustin bei ihrer Kanonisierung und Ausgestaltung eine entscheidende Rolle gespielt habenbdquoLa question de lrsquoorigine du cycle des sept arts libeacuteraux est irreacutesolue et en partie insoluble maisles deux auteurs drsquoorigine africaine [Martianus Capella und Augustin] jouegraverent un rocircle con-sideacuterable dans le triomphe de ce programme drsquoeacutetude au moyen acircgeldquo (Zelzer 2003 249) ndash ZurNeunzahl der Faumlcher bei Varro als Anlehnung an die Musen vgl Huumlbner 2004 S die in Anm 284 genannte Literatur

2 De nuptiis als literarisches Werk 123

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Architektur wirdmit Verweis auf den fortgeschrittenenAbendund diemenschlich-praktische Seite der Faumlcher erklaumlrtsup2⁸⁷

Im Detail nimmt Martianus aber durchaus Aumlnderungen vor So geht es imneunten Buch von De nuptiis nicht um die Musik im Allgemeinen sondern um dieHarmonie Diese Umgewichtung steht sicher in Zusammenhang mit der verbin-denden und vereinigenden Grundkonzeption von De nuptiis die zu Beginn desersten Buches (1 1) durch den Hymnus auf Hymenaeus den verbindendenHochzeitsgott ausgedruumlckt wurdesup2⁸⁸ Unterstuumltzt wird diese Eigenwilligkeit durchdie praktische Darbietung von harmonischem Gesang der die theoretischenAusfuumlhrungen ergaumlnzt und steigert (9 911ndash919 9 996)

Auch bei der Behandlung der Geometrie in Buch 6 greift Martianus in dietraditionelle Darstellung des Wissens ein Anstatt die Ausfuumlhrungen auf geome-trische Fragen und Lehrsaumltze zu beschraumlnken erweitert Martianus sie um einenausfuumlhrlichen geographischen Teil der um einiges laumlnger ist als der geometrische(Geographie 6 586ndash703 Geometrie 6 705ndash723) Ferreacute erkennt dahinter vor al-lem ein literarisches Ziel Die vorhandene Stoffmenge zur Geometrie sei zu kleingewesen so dass Martianus sie habe erweitern muumlssen damit das sechste Buchnicht bedeutend kuumlrzer werde als die uumlbrigen Buumlchersup2⁸⁹

Veraumlndert Martianus also gelegentlich aus kompositorischen Gruumlnden dietraditionelle Darstellung der Kuumlnste so kann man dies auch in der Zusammen-fuumlhrung der vielen Spezialschriften in einemWerk erkennenUmfasst das Konzeptder ἐγκύκλιος παιδεία zwar einen breiten Faumlcherkanon an den sich Martianusauch weitgehend haumllt so ist die Darstellung aller Faumlcher in nur einem Werk un-gewoumlhnlich

Uumlblich war die Form der Abhandlung der die Beschaumlftigung mit einer Dis-ziplin zugrunde lag Als Beispiele kann auf nahezu alle antiken fachwissen-schaftlichen Schriften verwiesen werden Ausnahmen sind allein die Sammel-schriften die aber explizit andere Ziele verfolgen und keinen Fachbereichgruumlndlich bearbeiten

Diese Feststellung gilt auch fuumlr die anderen Autoren mit teilweise sbquoenzyklo-paumldischemlsquo Programm z B Augustin oder Boethius Augustins bdquoBildungspro-grammldquosup2⁹⁰ umfasste aumlhnliche Faumlcher wie Martianus sie versammelte doch ver-

9 890ndash891 Hadot nimmt an dass diese Disziplinen nicht per se als unwichtig angesehenoder in bewusster Abgrenzung von Varro ausgeschlossen worden seien sondern weil sie nichtzur bdquoSchau der goumlttlichen Weisheitenldquo fuumlhren wuumlrden (Hadot 2009 16) Zu dieser Stelle und zu dem im Hymnus ausgedruumlckten philosophisch-poetischen Pro-gramm vgl LeMoine 1972a 14 Stahl 1971 86 Relihan 1993 61 Schievenin 2009c So Ferreacute im Vorwort ihrer Ausgabe xlvi Den Begriff verwendet Studer 2007 522

124 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

fasste Augustin zu den einzelnen Disziplinen jeweils eine eigene Schrift (mit derFolge dass er nicht alle Faumlcher behandelt hatte als er das Projekt aufgab wohlaber einige Themen abgearbeitet und die Buumlcher erschienen waren)sup2⁹sup1 Aumlhnlichverhaumllt es sich mit Boethius der sich etwa einhundert Jahre spaumlter ebenfalls mitverschiedenen Wissensbereichen beschaumlftigte Trotz der Leistung des Martianussetzte Boethius sein Vorhaben aber so um dass er den verschiedenen Disziplineneinzelne Abhandlungen widmetesup2⁹sup2

Allein Varro hat seinem breiten Œuvre an Spezialschriften auch noch ein imengeren Sinne enzyklopaumldisches Werk zugefuumlgt die Disciplinae Darin beschaumlftigtsich Varro mit dem gleichen Faumlcherkanon wie Martianus (unter zusaumltzlicherAufnahme der Medizin und Architektur) Da das Werk aber verloren ist und auchnur spaumlrliche Testimonien vorhanden sind laumlsst sich nicht abschaumltzen inwieferntatsaumlchlich eine einheitliche Schrift vorgelegen hat und welches Ziel Varro mit ihrverfolgtesup2⁹sup3

MartianusrsquoWerkDe nuptiis ist die erste erhaltene Enzyklopaumldie der Antike undduumlrfte somit maszliggeblich zum heutigen Verstaumlndnis des Begriffs der Enzyklopaumldieals eines einzigenWerkes das alles Wissen enthaumllt beigetragen haben Der Grundfuumlr Martianusrsquo ungewoumlhnliches Vorgehen duumlrfte in dem augenscheinlichen Plander Verbindung aller Disziplinen liegen der auch zu Beginn des Werkes durch diePreisung des Hymenaeus ausgedruumlckt wirdsup2⁹⁴

Zu Augustins Plan vgl retract 1 6 (Per idem tempus quo Mediolani fui baptismum per-cepturus etiam disciplinarum libros conatus sum scribere ndash sbquoZu der Zeit als ich in Mailand balddie Taufe empfangen sollte habe ich versucht auch Buumlcher uumlber die Faumlcher zu schreibenlsquo)begonnen und teilweise erhalten sind gramm mus und evtl dialect Neben den Schriften zur Theologie und zur Logik sind die Schriften zur Arithmetik(arithm) zur Musik (mus) und zur Rhetorik (in top divis) zumindest teilweise erhalten Hinzukommen Uumlbersetzungen astronomicher und geometrischer Fachschriften Zu Boethiusrsquo Fach-schriften und seinem Programm vgl Chadwick 1981 69ndash107 Das spaumlrliche Wissen spiegelt auch die knappe Einfuumlhrung von Cardauns 2001 Sie um-fasst fuumlr die Disciplinae inklusive Literaturverweisen knapp zwei Seiten (77ndash78) und bietet wenigsichere Informationen Eine interessante gleichwohl stark negative Antwort auf die Zusammenstellung derKuumlnste in einem Werk bietet Voumlssing der damit gleichzeitig aber auch die Einzigartigkeit desVorgehens herausstellt bdquoWas in den mittelalterlichen Kloumlstern als Summe antiker Bildung galtwar wohl nur das Resultat der Selbstdarstellung eines ehemaligen Advokaten der dem gebil-deten Publikum seiner Stadt demonstrieren wollte dass er mehr konnte als plaumldieren und mehrwusste als der normale scholasticus den uumlberlieferten prestigetraumlchtigen Bildungsstoff allersieben artes ndash der uumlblicherweise nur in einzelnen Fachbuumlchern (und bezogen auf einzelneDisziplinen) praumlsentiert wurde ndash in einem Werk zusammenzufassen und einzubetten in einironisches literarisches Spiel So hoffte er beides zu haben den Ruhm der Bildung und den derparodistischen Distanzierung An eine spezifische Programmatik dachte er bei seiner Enzyklo-

2 De nuptiis als literarisches Werk 125

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Welches (philosophische oder literarische) Konzept dahinterstand und in-wieweit Martianus sein Vorhaben uumlberzeugend umsetzen konnte wird unter-schiedlich bewertetsup2⁹⁵Wie das Urteil auch ausfaumlllt gilt es doch zu beachten dassneben den enzyklopaumldischen Teilen mit ihrem traditionellen Inhalt in teils tra-ditioneller teils neuer Form auch andere narrative Strategien zum Einsatz kom-men die fuumlr eine umfassende Deutung und Bewertung ebenfalls beruumlcksichtigtwerden muumlssen

Literarisches SymposionEine andere Gattungstradition die fuumlr die Anlage von De nuptiis genannt werdenmuss ist die Form des literarischen Symposions In diesem Punkt besteht eineVerbindung zu Macrobiusrsquo Saturnalia deren Symposionform im entsprechendenKapitel untersucht worden istsup2⁹⁶

Auch inDe nuptiis lassen sich einige konstitutiveMerkmale eines literarischenSymposions aufzeigen Das Geschehen in den Buumlchern 3ndash9 spielt anlaumlsslich einerFeierlichkeit (der Hochzeit) an einem besonderen Ort (auf der Milchstraszlige)sup2⁹⁷ andem sich geladene Gaumlste (Goumltter Heroen etc) versammeln Den Vorsitz der Fei-erlichkeiten hat (gewissermaszligen als Symposiarch) Jupiter inne Es gibt zwar keineungeladenen Gaumlste doch Silen erfuumlllt die Rolle des Zechers und er verlaumlsst dieFeier vorzeitig (8 805) Auch die Liebe kommt nicht zu kurz indem Venus ihreReize spielen laumlsst (6 704) Voluptas mit Merkur flirtet (7 725ndash727) und Hymen-aeus mit seinem anzuumlglichen Gesang das Geschehen der Hochzeitsnacht zu-

paumldie ebenso wenig wie er seinen Platz im sbquoLehrplan des Abendlandeslsquo vorhersehen konnteldquo(Voumlssing 2008 404) Weit verbreitet ist die Ansicht Martianus habe eine Art Summe der antiken Gelehrsamkeiterstellt (Cristante im Vorwort seiner Ausgabe 27 Ferrarino 1969 2 Bovey 2003 20 Cristante2009 [3] Schievenin 2009a 77) Die gegensaumltzliche Position formuliert bereits Parker bdquo[I]t isclear that the seven arts were never supposed to include the whole circuit of human knowledgeMartianus Capellarsquos list was a reduction of Varrorsquos and Varrorsquos was not supposed to include allknowledgeldquo (Parker 1890 459) S o Kap II4 Dort werden auch die typischen Merkmale dieser literarischen Form vor-gestellt Die Milchstraszlige in der Darstellung bei Martianus greift zwei Aspekte auf die allerdingsschon lange vor ihm verbunden worden sind Einerseits ist die Milchstraszlige der Ort an den dieauszligergewoumlhnlichen Menschen nach ihrem Tod gelangen (Cic rep 6 16 Manil 1 758ndash800)andererseits ist auch die Vorstellung nicht ungewoumlhnlich dass dort der Wohnsitz der Goumltter zufinden sei (Ov met 1 170ndash 176 Manil 1 801ndash804) Bei Martianus versammeln sich dort dieGoumltter doch ist dies auch der Ort an den die vergoumlttlichte Philologia gelangt ndash abgesehen vonden uumlbrigen herausragenden Menschen die sich im Gefolge sbquoihrerlsquo Brautjungfer dort versam-meln

126 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mindest andeutet (9 902 f) wenn die Ausfuumlhrung auch nicht beschrieben wird(9 996)

Das auffaumllligsteMerkmal sind aber die Reden die gehaltenwerden Sie aumlhnelnzwar nicht dem Inhalt wohl aber der Form nach der monologischen Anlage derSymposiongespraumlche bei Platon oder (stellenweise) Macrobius Ebenso passt derInhalt Bildungswissen an sich zu einem Symposion auch wenn er hier sehrausfuumlhrlich und ohne Ruumlcksicht auf die primaumlren Adressaten die Goumltter prauml-sentiert wird Bei Platon sowie bei Martianus scheint der Inhalt der Gespraumlche imVorfeld noch nicht festzustehen wie die Auswahl der jeweils naumlchsten RednerindurchApoll (3 223 4 328 8 8109 891) bzw Paidia (7 728) oder die Diskussion umden Fortgang der Feier bzw die noch folgenden und auszuschlieszligenden Reden(= Kuumlnste) zu Beginn von Buch 9 zeigtsup2⁹⁸

Die Anordnung der Redebeitraumlge nach steigender Relevanz und die unter-brechungsfreie Praumlsentation der Reden erinnert ebenfalls ans platonische Sym-posion Schlieszliglich nimmt das Spiel mit der Erzaumlhlinstanz (Satura oder Martianus)die verschachtelte Erzaumlhlsituation bei Platon oder Macrobius mit ihren verschie-denen Berichtsebenen auf und formt sie umsup2⁹⁹

Mythisch-allegorische ErzaumlhlungZu den bereits genannten literarischen Vorlagen von De nuptiis tritt ein weiteresElement hinzu dessen Bedeutung und dessen eigene Vorlagen nur schwer zubestimmen sind

Besonders Shanzer weist in ihremKommentar zum ersten Buch vonDe nuptiiswiederholt auf die orphischen gnostischen und philosophisch-religioumlsen Ele-mente in den sehr bildhaften aber streckenweise schwer verstaumlndlichen erstenbeiden Buumlchern hinsup3⁰⁰ Eine umfassende Interpretation des Mythos bietet sie je-doch nicht Vielmehr beschraumlnkt sie sich auf Verweise zur Herkunft einzelnerMotive und auf die Deutung kuumlrzerer Passagen

Kupke kommt bei einer Musterung der verschiedenen mythischen Reminis-zenzen im zweiten Buch von De nuptiis zu der Feststellung dass eine eindeutige

Ein zentraler Unterschied besteht jedoch darin dass die Vortraumlge nicht von den Gaumlstengehalten werden sondern dass die Gaumlste also die Goumltter nur Zuhoumlrer sind waumlhrend die Kuumlnstereden Hierin erinnert De nuptiis eher an Julians Caesares in denen die versammelten Goumltter jaauch wenig sprechen wohl aber die roumlmischen Kaiser die ndash wenn auch um einiges knapper ndashihre Leistungen darstellen Ausfuumlhrlicher dazu im weiter unten folgenden Abschnitt uumlber die Erzaumlhlinstanzen Shanzer 1986c passim

2 De nuptiis als literarisches Werk 127

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

und kohaumlrente Decodierung aller Verweise undAnspielungen nichtmoumlglich seisup3⁰sup1Ihrer Ansicht nach ist es dem modernen Leser nurmehr moumlglich einzelnen Ver-weisen nachzugehen und sie aufzuzeigensup3⁰sup2

Trotz der benannten Schwierigkeiten darf bei allen Fragen nach literarischenVorlagen nicht vergessen werden dass De nuptiis vor allem (aber nicht aus-schlieszliglich) auch ein allegorisches Werk ist Die imposante Schilderung der vierFluumlsse in Buch 1 Apoll auf demParnass-Huumlgel die allegorischen Figuren undvieleweitere Elemente sind nicht nur kreative literarische Erfindungen sondern for-dern zu einer uumlbertragenen Lesart des Werkes auf Besonders die ersten beidenBuumlcher die den Mythos enthalten muumlssen aus diesem Blickwinkel gelesen undverstanden werden

Zu verweisen ist auszligerdem auf die Bezeichnung der Erzaumlhlung als fabula oderfabella Neben der naheliegenden Bedeutung von sbquoErzaumlhlung Geschichtelsquo imallgemeinen Sinn ist sicher auch an die Diskussion um die Berechtigung von fa-bulae in Macrobiusrsquo Somnium-Kommentar zu denken Dort verteidigt Macrobiussowohl Platon als auch Cicero gegen den Vorwurf fiktive Geschichten zu benut-zen um philosophische Wahrheiten zu verkuumlnden In bestimmten Faumlllen seidieses Vorgehen gerechtfertigt solange es sich um wahrhaftige und belehrendeErzaumlhlungen handlesup3⁰sup3 Diese Voraussetzung kann man auch fuumlr De nuptiis alserfuumlllt ansehen Da Martianus zudem dem Neuplatonismus aumlhnlich nahesteht wieMacrobiussup3⁰⁴ ist von einer bewussten Entscheidung zugunsten einer literarischenDarstellung auszugehen

Den einzigen Versuch einer umfassenden Deutung verschiedener Elementedes Mythos und der allegorischen Darstellung hat ndash unter Vernachlaumlssigung ei-niger Details ndash bislang Lenaz unternommen In der ausfuumlhrlichen Einleitungseines Kommentars zum zweiten Buch von De nuptiis untersucht er die philoso-phisch-religioumlsen Motive in diesem Buch und kann Verbindungen zur Myste-

Kupke 1998 154 Kupke 1998 159 Fuumlr den spaumltantiken und den mittelalterlichen Leser glaubt sie jedoch andie Moumlglichkeit der problemlosen Dekodierung Macr somn 1 2 21 vgl oben Anm 45 Gerade die neuplatonischen Elemente von De nuptiis sind verschiedentlich benannt wor-den auch wenn nicht immer eine einheitliche Deutung geboten wird Haumlufig genannt wird derAufstieg Philologias in den Himmel uumlber die Sphaumlrenstufen der mit einer bdquoRuumlckkehr der Seeleldquogleichgesetzt wird (z B Bovey 2003 11 Lenaz 1975 113 vgl auch Guillaumin 2008) Hinge-wiesen wird auch auf die drei Frauen die Merkur nicht heiraten wollen (Sophia Mantike undPsyche 1 6ndash7) und die drei Seelenteile darstellen sollen deren Summe aber letztlich Philologiaist (Lenaz 1975 107ndash 110) Dagegen vertritt Kupke die These die neuplatonischen Elementetruumlgen keine zusaumltzliche Sinnebene bei (Kupke 1998 153) kritisch aumluszligern sich BednařiacutekovaacutePetrovićovaacute 2010 7

128 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

rieninitiation zu platonischen Mysterien chaldaumlischen Orakeln magischenPraktiken und zur Theurgie nachweisen Im Deutungsteil verwirft er die ThesenNuchelmansrsquo und Mathonssup3⁰⁵ als zu kurz greifend Nuchelmans hatte in derHochzeit Philologias und Merkurs (mittelalterlicher Kommentar-Tradition fol-gend) eine Forderung von Martianus nach der Vereinigung von Wissen (Philo-logia) und Rhetorik (Merkur) gesehen Mathons Ansatz fuumlhrte den Verweis auf dieneuplatonische Wieder-Erinnerung und die Ruumlckkehr der Seele in dieses Modellein Ebenso wie bei Nuchelmans werden auch hier nur wenige Elemente desMythos interpretiertsup3⁰⁶

Lenazrsquo eigener Ansatzsup3⁰⁷ folgt den Uumlberlegungen Ferrarinossup3⁰⁸ und ergaumlnzt siemit einigen Hypothesen Im Kern kreise der Mythos des zweiten Buches um einedoppelte Vereinigung die (horizontale) Vereinigung allen irdischen Wissens inPhilologia mit Hilfe von Hymenaeus und die (vertikale) Vereinigung der goumlttlichenund menschlichen Sphaumlre mit Hilfe von Eros Hinzu treten Uumlberlegungen ob essich bei Philologia und Merkur eventuell um nur eine Entitaumlt handle die Seelewelche getrennt worden sei und nun wieder zusammenfinde

Diese Lesart integriert die meisten der mythischen und allegorischen Ele-mente und verbindet sie weitgehend schluumlssig zu einem umfassenden KonzeptAllerdings vernachlaumlssigt sie auch bestimmte EinzelbeobachtungenWieso steigtPhilologia vom Sphaumlrenrand wieder auf die Milchstraszlige hinab (2 200 2 206)Wieso werden ihr auf der Milchstraszlige die irdischen Kuumlnste vorgefuumlhrt die sieerbrechenmusste damit sie in den Himmel aufsteigen konnte (2 135 f)sup3⁰⁹ Bereitsdiese Fragen zeigen deutlich dass eine kohaumlrente plausible Aufloumlsung des Mythosnicht leicht moumlglich ist

Nuchelmans 1950 Mathon 1969 Lenaz 1975 105 Aumlhnliches gilt auch fuumlr Hadots Deutung Sie identifiziert Merkur mit demaumlgyptischen Gott Theuth auf den in De nuptiis 2 102 f angespielt wird und nennt ihn diebdquoPersonifizierung der goumlttlichen Vernunftldquo waumlhrend Philologia die Personifizierung dermenschlichen Vernunftseele in deren idealem Zustand darstelle Die sieben Wissenschaften unddie sieben mantischen Kuumlnste ermoumlglichten es der Seele bdquozu ihrem Ursprung dem intelligiblenBereich oder zu Gottldquo zuruumlckzukehren (Hadot 2009 21 f) Lenaz 1975 106ndash 119 Ferrarino 1969 Dieses Problem entfiele wenn man annaumlhme dass Martianus die Erzaumlhlung nur auf dieersten zwei Buumlcher angelegt habe und erst danach die Moumlglichkeit einer Verbindung mit der inden Buumlchern 3 bis 9 folgenden Enzyklopaumldie erkannt habe Dafuumlr gibt es zwar Hinweise (bes dieDiskussion um die FiktionalitaumltUnterhaltung) am Ende von Buch 2 und zu Beginn von Buch 3doch duumlrfte man annehmen dass Martianus den Grundkonflikt von zuruumlckgelassenem Wissenund erneut geschenktem Wissen erkannt und behoben haumltte

2 De nuptiis als literarisches Werk 129

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Weiterhin uumlberbetont der Versuch den Mythos allein aus sich heraus zu er-klaumlren den Stellenwert des zweiten Buches im Gesamtwerk Als Interpretations-rahmen zwar wichtig tritt er bei fortschreitender Lektuumlre hinter die praktischeDarstellung der sieben Kuumlnste zuruumlck Diese nehmen nicht nur mehr Raum einsondern uumlberlagern die Darstellung im zweiten Buch und reduzieren somit auchderen Bedeutung Der Mythos ist also einwichtiger keineswegs jedoch der einzigeBestandteil von De nuptiis

Menippeische SatireDas auffaumllligste literarische Kompositionselement von De nuptiis ist jedochzweifellos die Wahl des Prosimetrums die Mischung von Prosapartien mit me-trischen Einheiten Der uumlberwiegende Teil des Werks ist in Prosa gehalten inwelchen 33sup3sup1⁰ metrische Partien eingelegt sind Dabei sind die Gedichte nichtregelmaumlszligig uumlber das gesamte Werk verteilt sie finden sich uumlberwiegend an ex-ponierten Stellen besonders an den Buchanfaumlngen und Buchenden Bei denmetrischen Partien innerhalb eines Buches handelt es sich fast ausschlieszliglich umGoumltterreden

Die beobachtete unregelmaumlszligige Verteilung der metrischen Partien unter-scheidet sich deutlich von der Gestaltung wie sie Boethius wenige Jahrzehntespaumlter inDe consolatione Philosophiae einsetzt Dort sind diemetrischen Partien inHinblick auf die Gesamttextmenge haumlufiger und zudem gleichmaumlszligiger verteiltsup3sup1sup1

Damit haumlngt zusammen dass auch die literarisch-argumentative Funktion dermetrischen Teile z T von derjenigen bei Boethius abweicht Bei Boethius stehendie Gedichte im Argumentationszusammenhang und fuumlhren Gedanken fort oderbuumlndeln sie in praumlgnanter Ausdrucksweisesup3sup1sup2 Ein gutes Beispiel dafuumlr ist eine

Die Zaumlhlung umfasst die zusammenhaumlngenden metrischen Partien und zaumlhlt auch Ge-dichte mit unterschiedlichem Versmaszlig (z B die Gedichte der Musen) als eine Partie Vgl dazu besonders OrsquoDaly 1991 Kap 1 (bdquoThe poetics of the Consolationldquo) darin 19ndash22 zuMartianus Sprachliche Parallelen sind zusammengestellt im Index der Boethius-Ausgabe vonBieler (CCSL 94 116) diskutiert werden sie bei Pabst 1994 163ndash 168 Da Boethius das Werk desMartianus kannte kann man von einer gelungeneren Ausdifferenzierung der Ansaumltze des Mar-tianus sprechen Der Vergleich des Einsatzes der prosimetrischen Form bei Boethius gewinntdadurch an Gewicht Eine Mischung von Prosa und Poesie findet sich weiterhin bei Fulgentius inden Mythologiae ndash Zu Parallelen in den Werkanfaumlngen bei Martianus Fulgentius und Boethiusvgl Klingner 1921 114 Pabst 1994 der Fulgentiusrsquo Vorgehen durchaus als bdquoimitatio Martianaldquoversteht (162 134ndash 137) fuumlr Boethius in Martianus allerdings nur eine Quelle sieht bdquoThey contribute to the argument as it proceeds yet take a wider view with an authorityoutside and above the adjacent prose They possess their own thematic design which spans theentire workldquo (Crabbe 1981 260) bdquoDie Metra bilden Ruhe- und Houmlhepunkte im Werk haumlufig

130 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Stelle zu Beginn des vierten Buches Nachdem zunaumlchst allgemein erlaumlutert wirddass die Weisen vermoumlgen was sie wollen die Schlechten jedoch nicht(cons 4 1 131ndash140) folgt in Versen eine Reihe plastischer Beispiele fuumlr die These(cons 4 carm 2) bevor der Gedanke fortgesponnen wird (cons 4 3 1ndash4)

An anderen Stellen uumlbernehmen die metrischen Partien eine Gliederungs-funktion indem sie Gedanken abschlieszligen und durch die Unterbrechung Zeit zurErholung bieten So sagt Philosophia zu ihrem Schuumller Boethius

bdquosed uideo te iam dudum et pondere quaestionis oneratum et rationis prolixitate fatigatumaliquam carminis exspectare dulcedinem accipe igitur haustum quo refectus firmior inulteriora contendasldquo (Boeth cons 4 6 200‐203)

bdquoAber ich sehe dass du bereits vom Gewicht der Untersuchung belastet und von der Breiteder Beweisfuumlhrung erschoumlpft auf die suumlszlige Erholung eines Liedes wartest nimm also denTrank damit du solchermaszligen erfrischt kraumlftiger zu den weiteren Themen eilen kannstldquo

In dieser zweiten Funktion setzt auch Martianus die metrischen Partien ein Dabeisind sie nicht in die Prosadarstellung eingeschoben sondern markieren fastausschlieszliglich die Buchanfaumlnge und Buchenden Explizites Ziel ist die Belebungdes Werkes um eine angenehme Lektuumlre zu erleichternsup3sup1sup3 Dies widersprichtMartianusrsquoAnkuumlndigung nach der hinleitenden Erzaumlhlung in denBuumlchern 1 und 2keine fiktionalen Erzaumlhlungen mehr einfuumlgen zu wollen die Darstellung solleernst und dem Gegenstand angemessen sein

nunc ergo mythos terminatur infiuntartes libelli qui sequentes asserentnam fruge vera omne fictum dimoventet disciplinas annotabunt sobriaspro parte multa nec vetabunt ludicra (2 220)

Nun also hat der Mythos sein Ende erreicht es beginnen die Buumlcher die die nun anschlie-szligenden Kuumlnste darbieten Denn mit wahrhaftiger Ernte entfernen sie alles Erdichtete undzeichnen die Kuumlnste nuumlchtern auf verbieten jedoch nicht gelegentliche Unterhaltung

stehen sie am Ende von Einzelabschnitten wo sie diese dann rekapitulieren und fuumlr densbquoSchuumllerlsquo zusammenfassen Bisweilen kommt ihnen auch eine Uumlberleitungsfunktion zuldquo (Kin-dermann 1969 63) ndash Zur Gattung allgemein allerdings mit besonderem Fokus auf die mittel-alterliche Literatur vgl Pabst 1994 bes 105ndash 133 zum Prosimetrum bei Martianus und 158ndash 195bei Boethius sowie Dronke 1994 bes Kap 2 (bdquoAllegory and the mixed formldquo) So auch McDonough der im Kapitel bdquoThe function of the poetryldquo zu Recht (aber zu kurzgreifend) formuliert bdquoIn undertaking the compilation of his encyclopedia the main challenge toMartianus lay in maintaining the interest of his readers (and himself) in making palatable thearid factual account of the various disciplinesldquo (McDonough 1968 37)

2 De nuptiis als literarisches Werk 131

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Scheint es an dieser Stelle so als ob Mythos und Heiteres getrennte Dinge waumlrenzeigt der unmittelbare Fortgang zu Beginn von Buch 3 dass beide Begriffe letztlichAumlhnliches bezeichnen Hier am Beginn der Schilderung der freien Kuumlnste(3 221 f) erlaumlutert Martianus in einem weiteren Gedicht das als Dialog gestaltetist warum er von seinem Plan abweicht

Camena bringt Schmuck fuumlr das Werk mit (amicta fictis commenta ferre) AufMartianusrsquo Einwand keine Mythen mehr vorbringen zu wollen (mythi pulsi) er-widert sie es gehe nicht um Luumlge (nil mentiamur) sondern um Einkleidung(vestiantur Artes) ndash man koumlnne die Brautjungfern also die Allegorien der freienKuumlnste doch nicht nackt vorfuumlhren Daraufhin gibt sich Martianus geschlagenund die Handlung von Buch 3 beginnt

Abgesehen von der unterhaltenden Funktion die besonders durch die Ge-dichte an den Buchenden gewaumlhrleistet wird scheinen die metrischen Passagenfuumlr viele Forscher wahllos in das Werk eingestreut Typisch ist eine Aussage wieCrabbe sie trifft bdquoMartianus uses verse frequently at the beginning sometimes atthe end of books and erratically throughoutldquosup3sup1⁴

Natuumlrlich kann von einer systematischen Verteilung und einer argumenta-tionslogischen Anordnung wie bei Boethius nicht gesprochen werden Bei ge-nauerem Hinsehen wird jedoch deutlich dass die metrischen Abschnitte nichtwillkuumlrlich uumlber das Werk verstreut sindsup3sup1⁵

Die meisten metrischen Passagen finden sich in den Buumlchern 1 und 2 von Denuptiis Diese Buumlcher enthalten die einleitende Handlung die als fiktionale Er-zaumlhlung dargeboten wird Im Bericht von der Suche Merkurs nach der richtigenEhefrau und von Philologias Aufstieg in den Himmel finden sich neun metrischePassagen Es handelt sich dabei bis auf die drei Faumllle der an den Buchanfaumlngen(Buch 1) und Buchenden (Buch 1 und 2) stehenden Gedichte um Reden vonGoumlttern Diese fuumlhren die Handlung fort und dienen also nicht der Buumlndelung derGedanken oder der Erholung des Lesers Stattdessen scheint es Martianus darumzu gehen das Sprechen der Goumltter durch die metrische Gebundenheit als be-

Crabbe 1981 264 Eine Typisierung die z T von der Position der metrischen Passagenlosgeloumlst ist bietet McDonough seiner Ansicht nach sind die metrischen Partien hauptsaumlchlichfunktional bdquoThe poetry thus is primarily functional although this function varies from book tobookldquo (McDonough 1968 38) Als Funktionen benennt er fuumlr Buch 1 Handlungsfortfuumlhrung fuumlrBuch 2 Schmuck fuumlr Buch 3 Belehrung fuumlr den Rest Einfuumlhrung oder Entlassung derBrautjungfern oder Unmut uumlber Verzoumlgerung der Hochzeit Der Rest seien bdquooccasional piecesldquo(ibid 40) ndash Verspartien finden sich am Anfang der Buumlcher 1 2 3 4 5 6 7 und 9 sowie am Endeder Buumlcher 2 4 5 7 und 9 Die ungleiche Verwendung der Metra bei Boethius und Martianus laumlsst sich am besten alsEntwicklung verstehen wie es beispielsweise Kindermann (1969 60) tut Zur Kenntnis desMartianus bei Boethius vgl oben Anm 311

132 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

sonders zu markieren Dies gilt vor allem fuumlr markante Szenen zum Beispiel dieRede Jupiters in der Goumltterversammlung gegen Ende des ersten Buches (1 91ndash93)oder die orakelartige Auskunft Apolls (1 21 f)

Diese Beobachtung gilt daruumlber hinaus ebenso fuumlr die genannten Stellen inBuch 9 auch wenn es sich dort nicht um die Vorgeschichte oder einen weiterenliterarischen Rahmen handelt Jedoch ist eine Szene mit Goumlttergespraumlchen ein-geschoben in der die Goumltter unter anderem auch Verse verwenden Durch dieseReden in metrisch gebundener Form soll den entsprechenden Buumlchern also einehoumlhere Wuumlrde verliehen werden

Einen zweiten Fall stellen die Gedichte zu Beginn oder zu Ende eines Buchesin den Buumlchern 3 bis 9 dar In diesen Buumlchern praumlsentieren die Freien Kuumlnste ingeschlossenem Vortrag die Inhalte ihrer Wissenschaft Die Gedichte in einigenFaumlllen in auktorialer Erzaumlhlhaltung gestaltet uumlberbruumlcken die Fuge zwischen denBuumlchern und bieten eine Pause zwischen den langen Vortragspartien der Leserkann sich erholen Die Inhalte der Verspartien sind unterschiedlich es handeltsich zumeist um den Ein- oder Auszug einer Brautjungfer (4 327 4 423 f 8 8028 808 9 911ndash919) um die Fortfuumlhrung der Hochzeitshandlung (5 425 8 8059 888) um die Anrufung eines Gottes (6 567ndash574) oder um eine Wendung desAutors an den Leser (5 566 9 997ndash 1000)

Dieser Einsatz der Verspartien ist jedoch noch keine hinreichende Erklaumlrungfuumlr die Wahl des Prosimetrums Sie erklaumlrt sich besonders dadurch dass Marti-anus auf diese Weise sein Werk in die Traditionslinie von Texten einreiht die alsmenippeische Satiren bezeichnet werdensup3sup1⁶

Charakteristisch fuumlr diese spezielle Form der roumlmischen Satire ist der Wechselvon metrischen und prosaischen Partiensup3sup1⁷ Klassische lateinischsprachige Ver-treter der menippeischen Satire sind Varro (Saturae Menippeae) Seneca (Apo-colocyntosis) und Petron (Satyrikon) in der griechischen Literatur nutzen Lukianund Julian (Caesares) diese Form Inhaltlich lassen sich nur wenige Verbindungenzwischen den Werken ziehen und auch die Umsetzung der formalen Elemente istunterschiedlich Dies fuumlhrt sogar so weit dass sich moderne Forscher trotz derbereits antik bezeugten Bezeichnungder Gattung teilweise auszligerstande sehen dieGattung genauer zu definieren oder dass sie ihre Fragestellung losgeloumlst von derGattungstradition verfolgensup3sup1⁸ Dies macht die Verortung von De nuptiis in diesemGenre nicht leichter

Zur menippeischen Satire vgl Relihan 1993 Coffey 1996 Im Gegensatz dazu beschraumlnkt sich die Verssatire seit Horaz auf die Verwendung desHexameters So betont Scheible im Vorwort ihrer Studie zu den Gedichten in Boethiusrsquo de consolationedass sie Vorgaben der Tradition in Hinblick auf die Gedichte nicht beruumlcksichtige ndash sie lieszligen

2 De nuptiis als literarisches Werk 133

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Gelegentlich wird sogar die These vertreten dass sich das satirische ElementinDe nuptiis in dieser formalen Verbindung von Prosaund Poesie erschoumlpfesup3sup1⁹DerGattungsbegriff sbquomenippeische Satirelsquo waumlre dann identisch mit der BezeichnungsbquoProsimetrumlsquo Dem widersprechen jedoch verschiedene Beobachtungen derRuumlckgriff auf die Etymologie des Wortes satura die Bezugnahme auf Vertreter derGattung und das Auftreten einer Figur namens Satura sowie deren Agieren dasuumlber die rein formale aumluszligerliche Satireform hinausweist schlieszliglich die beson-dere Gestaltung der Erzaumlhlsituation Diese vier Elemente sollen im Folgendenherausgearbeitet werden

Etymologie ndash Dass Martianus sein Werk sehr wohl als Satire verstanden wissenwill wird an verschiedenen Stellen deutlich Dies geschieht zum Beispiel durchgelehrte Anspielungen auf die Terminologie der antiken Satire an prominenterStelle So heiszligt es in 9 998

[Satura] haec quippe loquax docta doctis aggeransfandis tacenda farcinat immiscuitMusas deosque disciplinas cyclicasgarrire agresti cruda finxit plasmate

So haumluft sie plappernd Gelehrtes auf Gelehrtes und stopft geheimes und bekanntes Wissenzusammen hatMusenundGoumltter vermischt undhat sich erdacht dass die enzyklopaumldischenDisziplinen in einem baumlurischen Machwerk unreifes Zeug daherplappern

Die Woumlrter farcinat und immiscuit verweisen auf das Zusammenstopfen undVermischen verschiedener Zutaten z B in einer Wurst oder Pastete Gleiches giltfuumlr die Woumlrtermiscillo und aggeranssup3sup2⁰ Ausgangspunkt fuumlr diese Terminologie istdie Etymologie desWortes sbquoSatirelsquo an sich bedeutet urspruumlnglich etwaswie sbquobunteMischunglsquosup3sup2sup1 Traditionell sind Anspielungen auf diese Etymologie in der satiri-

sich nicht feststellen (Scheible 1972 8) Vorhandene Untersuchungen beschreiben in der Regeldie Konstituenten der einzelnen Werke Aufgrund der geringen Zahl uumlberlieferter Werke und dergroszligen Unterschiede zwischen ihnen ist es jedoch schwierig die typischen Elemente der Gat-tung zu benennen Auch diese Arbeit schlieszligt sich dem beschreibenden Vorgehen an undvergleicht an einschlaumlgigen Stellen inwieweit die Beobachtungen auch fuumlr die Gattung typischsind So z B Coffey der die Mischung aus Prosa und Poesie bei Martianus als bdquomiscellanyldquobezeichnet und vor einer Verbindung von De nuptiis mit der Satire als problematisch warnt(Coffey 1996 959) Vgl Relihan 1993 14 ErnoutMeillet s v satur -ra -rum (2001 596) WaldeHofmann s v satura (2007 II482f) Der zentrale Hinweis auf eine Ableitung des Wortes aus dem kulinarischen Bereich findet

134 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

schen Literatur selten Allein in Juvenal findet sich ein Hinweis darauf gleichwohlmit leicht anderem Verstaumlndnis Er betrachtet die Zusammenstellung der Satirenals farrago also als Mischgericht nicht die einzelne Satiresup3sup2sup2

In diesen sehr bildlichen Wendungen trifft Martianus gleichzeitig eine Aus-sage uumlber sein Verstaumlndnis der Darstellung von Bildungswissen Bei ihm gibt eskeine vorverdauten und mundgerecht aufbereiteten Wissenspaumlckchen (wie Ma-crobius sie bietet)sup3sup2sup3 sondern rohe Kost (cruda) die ihre Zutaten d h die lite-rarischen oder inhaltlichen Urspruumlnge nicht leugnet LeMoine formuliert prauml-gnant bdquoBy calling attention to the literary functions these metaphors fulfillMartianus hellip raises questions about the principles of seamless synthesis andverbal regurgitation which Macrobius so effectively demonstratesldquosup3sup2⁴

Dass Martianus durch diese Art der Darstellung seine Autoritaumlt infrage stelle(bdquohellip reveal doubts about the competence of the cook and the quality of the edu-cational feastldquo)sup3sup2⁵ laumlsst sich jedoch nicht erkennen Schlieszliglich benennt er seinVorgehen explizit (scheitert also nicht an einem gesteckten Plan) und bietetgleichzeitig mit der Kritik an der klassischen Form der Wissensvermittlung eineMoumlglichkeit an wie nicht-vereinheitlichte Wissensvermittlung aussehen kannBeeintraumlchtigungen des Vertrauens zum Erzaumlhler und zu den Inhalten gibt esallerdings ndash jedoch aufgrund anderer Faktorensup3sup2⁶

Bezug auf andere Satiriker ndash Neben den Anspielungen auf die Etymologie derGattung Satire treten explizite Bezuumlge auf andere Autoren menippeischer Satirenauf Namentlich wird jedoch keiner der Vorgaumlnger genannt die Nennung Varroserfolgt ausschlieszliglich in den Vortraumlgen der Brautjungfern und bezieht sichuumlberwiegend auf Varros fachschriftstellerische Werke oder seinen Ruf als Enzy-klopaumldistsup3sup2⁷

sich beim Grammatiker Diomedes (Grammatici Latini 1 485) Ausgehend von dieser Passageeroumlrtert Petersmann die Etymologie mit besonderer Beruumlcksichtigung des Ursprungs des Wortessatura aus dem Kuumlchenbereich (Petersmann 1986) Iuv 1 86 nostri farrago libelli Vgl die Kommentare Morton Braund 1996 95 f undCourtney 1980 103 Vgl die Gleichnisse in der praefatio zu den Saturnalia (Sat praef 5ndash9) und die Ausfuumlh-rungen in Kap II1 sowie die dort aufgefuumlhrte Literatur LeMoine 1991 360 ibid S u die Abschnitte bdquoErzaumlhlinstanzenldquo und bdquoDeutungen der komplexen literarischen Formldquo 4 335 (die Gelehrsamkeit Varros vgl Cic ac 1 9 Aug civ 6 2) 5 517 (Nennung in einemZitat) 6 639 und 6 662 (Fragen der Geographie die Varro-Vorlage ist nicht bekannt) 9 928 (cfVarro rust 3 17 4) Vgl zum Verhaumlltnis von Martianus und Varro bes Bovey 2003 Kap 2 (bdquoLaquestion varronienneldquo) und Schievenin 2009f

2 De nuptiis als literarisches Werk 135

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Allerdings zitiert die Wendung ὄνος λύρας in 8 807 den Titel einer menip-peischen Satire Varrossup3sup2⁸ Die Wendung ist in der lateinischen Literatur ander-weitig nicht belegt weshalb davon auszugehen ist dass Martianus hier auf denrepublikanischen Satiriker direkt zuruumlckgriff Da die Wendung zudem im Streit-gespraumlch zwischenMartianus und Satura uumlber die angemessene Art des Erzaumlhlensder Geschichte faumlllt kommt ihrer Verwendung eine programmatische Aussage zuMartianus stellt sich und sein Werk also in die Nachfolge Varros und seiner Sa-tiren

Ein Bezug auf Lukian ist weniger sicher nachzuweisensup3sup2⁹ Allerdings gibt eseine motivische Uumlbernahme im zweiten Buch von De nuptiis Philologias Erbre-chen des Wissens das der Hochzeit vorausgeht hat eine Parallele in LukiansDialog Lexiphanes Der allzu (ein)gebildete Lexiphanes nimmt auf Draumlngen vonLycinus ein Brechmittel ein das ihm der Arzt Sopolis gibt Daraufhin erbricht eralle Woumlrter die er gelernt hat dies ist die Voraussetzung dafuumlr dass er nun an-gemessen belehrt werden kannsup3sup3⁰

Es handelt sich um die Fragmente Varro Men 348ndash369 In Fragment 349 findet sich dieWendung auch im Vers (si quis μελωδεῖν est ὄνος λύρας praesepibus se retineat forensibus ndashsbquower beim Gesang wiersquon Esel an der Harfe bloumld der bleib getrost im Stallmief seines Forumsdortlsquo [Uumlbs Krenkel]) Die Bezugnahme auf Varro ist umso wahrscheinlicher da Satura unmit-telbar zuvor sowohl Martianusrsquo berufliche Aufenthalte auf dem Forum erwaumlhnt und ein Wort-spiel mit seinem Namen Capella angestellt hat ndash der zwar nicht sbquoEsellsquo bedeutet wohl aber einHaustier (sbquoZiegelsquo)Vgl dazu Shanzer 1968c 38ndash40 Shanzer 1986a kritisch dazu Pabst 1994 168(m Lit) Folgt man Bovey handelt es sich bei der unmittelbar folgenden Wendung καιρὸν γνῶθιum einen weiteren Verweis auf den Titel einer Varro-Satire γνῶθι σεαυτόν (= Varr Men 199ndash210 vgl Bovey 2003 282ndash284) Naumlher liegt wohl dass Martianus Capella diese eigenstaumlndigeSentenz (vgl Diogenes Laertios I 79 der sie als Sentenz des Pittakos ausweist) aus einer anderenQuelle uumlbernommen hat Kindermann 1969 60 Shanzer geht davon aus dass Martianus Lukian kannte (Shanzer1986c 36) Zur Diskussion um Martianusrsquo Griechischkenntnisse vgl Cristante 2009 [5] undShanzer 1986c 4 die beide annehmen dass Martianus durchaus Griechisch beherrschteShanzer weist einige Stellen auf an denen Martianus woumlrtlich uumlbersetzt und schlieszligt aus derBeherrschung des Griechischen zu Recht auf einen gebildeten moumlglicherweise sogar akade-mischen Hintergrund von Martianus Lucian Lex 20f Andere antike Texte die das Erbrechen von Wissen als Teil des Reini-gungsprozesses beschreiben oder als Bild tradieren sind mir nicht bekannt Daher ist eswahrscheinlicher dass Martianus auf Lukian im Original zuruumlckgegriffen hat Zur vor-byzantinischen Rezeption Lukians vgl Nesselrath 1994 der spaumltantike Bezuumlge auf Lukian u abei Julian und Claudian aufzeigt ndash Einen Bezug auf Lukians Concilium deorum fuumlr moumlglich haumlltKrapinger 1999 962 ndash Anders gelagert sind Lucian cont 7 und Aug in Joh ev tract 36 1 Dortgeht es darum dass durch das Ausspeien Wissen weitergegeben wird was zum Bild der daserbrochene Wissen aufsammelnden Artes passt nicht jedoch zum Motiv der Reinigung

136 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Bezuumlge auszligerhalb der Uumlbernahme uumlblicher Gattungselemente lassen sich fuumlrSenecas Apocolocyntosis Petrons Satyricon oder Julians Caesares nicht konsta-tierensup3sup3sup1

Die Figur der Satura und ihr Handeln ndash Einer der deutlichsten Hinweise auf dieForm der Satire liegt im Auftreten einer Figur namens Satura Diese Figur wirdzunaumlchst von Martianus als Erzaumlhlinstanz eingefuumlhrt (1 2) von der er den Inhaltvon De nuptiis erfahren haben will Im Laufe des Werks gewinnt Satura aber anProfil und agiert zunehmend autonom

Aussagen uumlber Satura beruhen letztlich auf drei Stellen in De nuptiis (6 576ndash5798 806ndash8109997ndash999) und koumlnnen fast ausschlieszliglich aus der Formund derBotschaft ihrer eigenen Aumluszligerungen gewonnen werden An allen drei Stellendiskutiert Satura mit Martianus Ansonsten ist Satura zwar als praumlsent zu denkenwird aber nicht weiter thematisiert

Nach Martianusrsquo Anrufung Minervas zu Beginn des sechsten Buches mischtsich Satura in seine Uumlberlegungen ein welche Frauen er vor sich sehe Die Ein-mischung wird von Martianus als scherzend bezeichnet (iocabunda 6 576) dieEinmischung an sich als typisch fuumlr das Scherzen Saturas (ut lepidula est 6 576)Die Aumluszligerung Saturas beginnt mit Spott uumlber Martianusrsquo nur scheinbare KlugheitDurch falsche naumlchtliche Studien und besonders seine Anwaltstaumltigkeit habe erden Blick auf das Wichtige verloren und erkenne nun nicht einmal mehr Philo-sophia und Paideia Der Scherz wird jedoch alsbald von einem belehrendenTonfall abgeloumlst in dem Satura Martianus uumlber das Wesen der beiden Frauenaufklaumlrt

Satura tritt als Naumlchstes zu Beginn des achten Buches auf in der Folge derSilen-Szene Der angetrunkene Silen war eingeschlafen und durch Amor aufge-schreckt worden was die uumlbrigen Goumltter laut lachen lieszlig (8 803ndash805) DieseSchilderung provoziert bei SaturaWiderspruch da sie das Erzaumlhlte als unpassendfuumlr die Goumltterversammlung empfindet Ihre Kritik beginnt wieder bei der Persondes Martianus dessen Namen sie als passend zu seinem Wesen deutet (Capella ~sbquoZiegelsquo 8 806) Sodann fordert sie Martianus auf seine Possen zu unterlassenMartianus fuumlhlt sich gehoumlrig von Satura gemaszligregelt und gibt klein bei bemerktaber dass sie ansonsten mehr von Scherzen halte (alioquin lepidula 8 807) AlsSatura dann die Einfuumlhrungder eintretenden Brautjungfer in Versenvorbringt undMartianus wiederum seine Scherze (ludicra 8 808) vorhaumllt kann dieser nicht

Mit Julian verbindet Martianus immerhin die Ansiedlung der Goumltterversammlung auf derMilchstraszlige ndash Zur Rolle der Saturnalien vgl den Abschnitt bdquoDeutungen der komplexen litera-rischen Formldquo

2 De nuptiis als literarisches Werk 137

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mehr an sich halten und zahlt Satura ihre Kritik in gleicher Muumlnze heim Nacheinigem Spott uumlber Saturas Verse verteidigt nun Martianus das Recht auf Scherzgegen sie die an sich ndash nicht aber in De nuptiiswie es scheint ndash eigentlich fuumlr denScherz zustaumlndig waumlre und gibt ihr mit Martial (2 41 1) den Rat auch einmal zulachensup3sup3sup2

Ein letzter Schlagabtausch von Satura und Martianus erfolgt schlieszliglich amEnde des Werkes Wiederum streiten beide Figuren miteinander und halten sichmit Spott uumlber das Wesen des anderen nicht zuruumlck

Die Einfuumlhrung Saturas die ja nur in Verbindung ndash und das heiszligt Ausein-andersetzung ndash mit Martianus erscheint dient vornehmlich der deutlichenBenennung der Gattung und der Verstaumlndigung daruumlberwas den Charakter einessatirischen bzw des vorliegenden Werkes ausmache Erstaunlich ist dabei Mar-tianusrsquo Entwicklung der sich zunaumlchst gegen Unterhaltung im artes-Teil ausge-sprochen hatte diese spaumlter aber gegen den censorischen Eingriff Saturas imachten Buch verteidigt Noch erstaunlicher ist aber dass es gerade Satura ist diezur Beachtung des Decorums auffordert und Martianusrsquo vergleichsweise mildenScherz scharf tadelt

Erzaumlhlinstanzen ndash Die Frage nach der Erzaumlhlsituation bzw der Erzaumlhlerfigurgehoumlrt zu den grundlegenden Analysekriterien eines literarischenWerkes ebensowie die Konzipierung von Raumund Zeit Lassen sich die letzten beiden Punkte imHinblick auf De nuptiis hinreichend klaumlrensup3sup3sup3 so bietet die Erzaumlhlerfigur groumlszligereSchwierigkeiten

DassDe nuptiis zwei Erzaumlhlinstanzen hat scheint zu Beginn desWerkeswenigdramatisch In 1 2 verweist der Erzaumlhler Martianus gegenuumlber seinem Sohn dar-auf dass die folgende Geschichte (also der uumlberwiegende Teil von De nuptiis) ihm

Ride si sapis o puella ride Schievenin bietet eine gruumlndliche Analyse dieser Stelle auchmit Blick auf die inverse Vorlage Martials (plora si sapis o puella plora Mart 2 41) derwiederum auf Ovid (Ov ars 3 281 f) zuruumlckgreift (Schievenin 1984 bes 136 ausfuumlhrlich auchBovey 2003 275ndash288) Die Rahmenhandlung spielt in der erzaumlhlerischen Gegenwart und in einem unbestimmtenRaum der jedoch nicht auszligergewoumlhnlich ist es liegt nahe an Karthago und das Haus desMartianus Capella zu denken Die eigentliche Handlung spielt an z T unwirklichen Orten aufder Erde die zumeist nicht naumlher bestimmt sind (z B Philologias Herkunft) und auf derMilchstraszlige wobei die absolute Zeit nicht genannt wird aber aufeinanderfolgende Tage inihrem Ablauf erkannt werden koumlnnen Die Phantastik einzelner Szenen die meist auf alle-gorische Darstellungsweisen zuruumlckgeht verletzt jedoch nicht die raumlumliche oder zeitlichePlausibilitaumlt des Dargestellten Vgl dazu auch die Ausfuumlhrungen und grafischen Veranschau-lichungen LeMoines (1972a)

138 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

waumlhrend langer Winternaumlchte (eine Anspielung auf Gellius)sup3sup3⁴ von Satura be-richtet wurde Der antike wie moderne Leser duumlrfte sich wohl kaum daran stoszligensondernwird darin vor allem eine Inspiration des Autors durch Satura (auchwennes das zuvor noch nicht gab) erkennen Bei der Erwaumlhnung von Satura koumlnnte erHeiteres erwarten oder bunt gemischte Geschichten

Vollkommen verwirrt wird der Leser hingegen spaumltestens dann wenn er amEnde des Werkes in der Sphragis angekommen ist (9 997ndash 1000) Dort reflektiertMartianus sein literarisches Vorgehen in den vorausgegangenen neun Buumlcherngenauer gesagt distanziert er sich von der Form der Darstellung (Umfang Bunt-heit) und verweist auf die Verantwortung Saturas die die Geschichte erzaumlhlt habe

Habes anilem Martiane fabulam 997Miscillo lusit quam lucernis flamineSatura Pelasgos dum docere nititurArtes daggercagris vix amicas AtticisSic in novena decidit voluminahaec quippe loquax docta doctis aggerans 998fandis tacenda farcinat immiscuitMusas deosque disciplinas cyclicasgarrire agresti cruda finxit plasmate (9 997 f)

Da hast du Martianus eine Altweibergeschichte sie verfertigte im Spiel mit vermischterInspiration [d h in Prosa und Vers] bei Kerzenschein Saturawaumlhrend sie sich bemuumlhte diePelasger zu lehren die Kuumlnste die den Griechen kaum freundlich [d h neu] sindSo gelangte sie hinab bis zum neunten Buch haumluft plappernd Gelehrtes auf Gelehrtes undstopft geheimes und bekanntes Wissen zusammen hat Musen und Goumltter vermischt und hatsich erdacht dass die enzyklopaumldischen Disziplinen in einembaumlurischenMachwerk unreifesZeug daherplappern

So ungewoumlhnlich dieses Vorgehen auch ist ndash Martianus haumltte ja den Bericht Sa-turas als Grundlage nehmen und dann nach eigenem Geschmack umgestaltenkoumlnnen ndash wird es uumlbertroffen durch die Verteidigung Saturas Sie weist die Ver-antwortung fuumlr die Art der Erzaumlhlung von sich und verteidigt sichmit demHinweisauf Martianusrsquo intellektuelle Schwaumlche der sie die Ausfuumlhrungen habe anpassenmuumlssen

Vgl Gell praef 4 zur Erklaumlrung der Wahl des Titels Noctes Atticae fuumlr sein Werk

Sed quoniam longinquis per hiemem noctibus in agro sicuti dixi terrae Atticae commentationeshasce ludere ac facere exorsi sumus idcirco eas inscripsimus noctium esse Atticarum hellip

Aber weil wir in langen Naumlchten den Winter uumlber in Attika auf dem Landwie schon gesagtdiese Anmerkungen im Spiel und dann ernsthaft begonnen haben daher haben wir ihnenden Namen Attische Naumlchte gegeben hellip

2 De nuptiis als literarisches Werk 139

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

haec ipsa nauci rupta conscientia 999turgensque felle ac bili bdquomulta chlamydeprodire doctis approbanda cultibuspossemque comis utque e Martis curia[hellip]ab hoc creatum Pegaseum gurgitem 1000decente quando possem haurire poculoldquo (9 999 f)

Sie sagte aufgrund ihres Wissens um die Nichtigkeit (dieser Ausfuumlhrungen) verletztschwellend vor Bitterkeit und Zorn bdquoIch koumlnnte hier freundlich auftreten mit einem Gewandbekleidet lobenswert durchgelehrtes Verhaltenwie aus der VersammlungdesMars [Es folgtdie Schilderung der unguumlnstigen Anlagen von Martianus] ndash Wann koumlnnte ich mit ange-messenem Becher aus einem pegasischen Strom von ihm erschaffen schoumlpfenldquo

Somit hat das Werk das zu Beginn zwei hierarchisch geschiedene Erzaumlhler zuhaben scheint am Ende zwei Erzaumlhler die sich gleichberechtigt uumlber die Form dererzaumlhlten Geschichte streitensup3sup3⁵

Die Inkonsistenzen auf der Erzaumlhlebene setzen sich daruumlber hinaus fort HatteMartianus zu Beginn des Werks gesagt Satura habe ihm die Geschichte waumlhrendlangerWinternaumlchte erzaumlhlt so treten Satura undMartianus amEnde desWerks inder erzaumlhlerischen Gegenwart gemeinsam auf und sprechen beide nacheinanderzu Martianusrsquo Sohn

Weiterhin erscheinen Satura und Martianus innerhalb der Geschichte dieMartianus angeblichvon Satura gehoumlrt hatWaumlhrend die Goumltter denverschiedenenBrautjungfern lauschenwohnen auch SaturaundMartianus der Versammlungbeiund betrachten sie als unbeteiligte ZuschauerWie aus einer Theaterloge herauskommentieren und diskutieren sie das Geschehen das auf der bdquoGoumltterbuumlhneldquostattfindetsup3sup3⁶

Noch einen weitergehenden Schritt stellt die Silen-Szene zu Beginn des achtenBuches dar Im Anschluss an diese Szene beschwert sich Satura bei Martianus erkoumlnne die Goumltter nicht auf dieseWeise agieren lassen In der Folge entspinnt sich einGespraumlch in demMartianus seine Art des Erzaumlhlens gegen Satura verteidigt die fuumlreine zuruumlckhaltendere Darstellung plaumldiert (s o)Von der Fiktion dass Martianusseinem Sohn bloszligwiedergibtwas Satura ihm erzaumlhlt hat bleibt nichtmehr viel dieganze Szenerie ist ein Produkt der ErfindungdesMartianus gleichzeitigwohnt er ihraber gemeinsam mit Satura bei ist also Teil der Handlung

So bereits Pabst 1994 120 Anm 119 der allerdings auf eine Diskussion der Beobachtungverzichtet Es handelt sich um die Stellen zu Beginn des sechsten und des achten Buches die imvorigen Abschnitt bereits paraphrasiert wurden

140 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Diese Art der Spiels mit der Erzaumlhlerrolle wird von manchen modernen For-schern als ein wichtiges Merkmal der menippeischen Satire angesehen Hinzu-treten kann die Selbstherabsetzung des Erzaumlhlers die sich an seinemmangelndenWissen Stilbewusstsein Traditionsempfinden o auml entzuumlndetsup3sup3⁷ Folglich kanndie zunaumlchst befremdliche Brechung und Verzerrung als weiteres Merkmal derGattung menippeische Satire bestimmt werden

Aufgrund dieser Beobachtungen ist es zwingend in De nuptiis vor allem eineSatire zu sehen Auch der heiter-spoumlttische Charakter einiger Passagen zwischenden Vortraumlgen der Brautjungfern passt zum satirischen Anspruch Gelegentlicherscheint es jedoch fraglich ob es sich wirklich um satirische und nicht eher umkomische oder derbe Spaumlszlige handelt Die Szene in der Silen betrunken einschlaumlftund von den anderen Goumlttern verspottet wird (8 803ndash805) erinnert mit ihremSlapstick eher an den derben Spott der Komoumldie als an die Satire eines Varrosup3sup3⁸

22 Deutungen der komplexen literarischen Form

Wie laumlsst sich das Werk De nuptiis nun also formal beschreiben oder andersgefasstWie lassen sich die vier literarischen Traditionsstraumlnge zusammenfuumlhrenDass eine einheitliche Lesung zumindest versucht werden muss zeigt bereits dasLeitmotiv der Hochzeit ansup3sup3⁹

Im Kern handelt es sich bei MartianusrsquoWerk um eine Sammlung bedeutenderWissensschaumltze in einem einzigen Werk die darin systematisch ausgebreitetwerden Dies zeigt die Einteilung in verschiedene Disziplinen die ein ver-

Zur Erzaumlhlerrolle in der menippeischen Satire vgl u a Relihan 1993 und darin bes S 35 Mit der Aufnahme unterhaltsamer Elemente ginge Martianus sogar noch uumlber dieErwartungen an ein sbquosatirischeslsquo Werk hinaus Auch Boethius wird bescheinigt er erzaumlhle seineConsolatio bdquoper satiramldquo auch wenn bei ihm weder eine Figur Satura auftritt noch allzu vielHeiterkeit herrscht (Peiper zitiert in der Einleitung zu seiner Ausgabe S xxxi eine mittelalter-liche Boethius-Vita vgl Kindermann 1969 61)

hos libros [scil de consolatione Philosophiae] per satiram edidit imitatus videlicet mar-cianum felicem capellam qui prius libros De nuptiis philologiae et mercurii eadem speciepoematis conscripserathellip

Diese Buumlcher schrieb er als Satire freilich in Nachahmung des Marcianus Felix Capellader zuvor die Buumlcher uumlber die Hochzeit der Philologie mit Merkur in der gleichen Art vonGedicht verfasst hatte

Zum Motiv der Hochzeit das bereits programmatisch im eroumlffnenden Hymnus anHymenaeus erscheint vgl Schievenin 2009c und Cristante in der Einleitung seiner Ausgabe1987 3ndash 10

2 De nuptiis als literarisches Werk 141

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

gleichsweise leichtes Auffinden der Informationen erlaubtsup3⁴⁰ die Bedeutung wirdangesichts der Praumlsentation vor den Goumlttern auf der Milchstraszlige deutlich Alleinder Umfang dieser Vortraumlge die in sich auch nicht gestoumlrt oder gebrochenwerdenmarkiert dass es sich hier um das zentrale Charakteristikum des Werkes handelt

Den erzaumlhlerischen Anlass fuumlr diese Praumlsentation bietet eine Hochzeitsfeieralso ein Symposion hier ist die Gelegenheit fuumlr die groszligen Redebeitraumlge gegebenZudem bietet die SymposionformAnknuumlpfungspunkte fuumlr eine Rahmenhandlungdie zur Auflockerung der ebenso ausfuumlhrlichenwie trockenen Einzelreden genutztwird

Doch bleibt es ndash im Gegensatz z B zu Macrobius ndash nicht bei der bloszligenDarstellung der Wissensinhalte Hinzu tritt die allegorische Darstellung der Be-deutung von Wissen und von Fleiszlig beim Wissenserwerb in den ersten beidenBuumlchern Die praumlsentierten Inhalte der Buumlcher 3ndash9 (die Philologia ja bereits aufder Erde in Buch 2 besitzt) sindwichtig Sie sind nicht nur wichtig fuumlr das irdischeLeben (das wird nicht weiter thematisiert die explizit irdischen Wissenschaftenwie Architektur und Medizin werden sogar ausgeschlossen) ndash die Inhalte sindauch wichtig fuumlr die menschliche Vervollkommnung

Durch das angesammelte Wissen erreicht der Mensch zwar nicht die voll-kommene Erkenntnis (die erhaumllt auch Philologia nur ohne eigenes Zutun als sieauf der houmlchsten Himmelssphaumlre angekommen zum Vatergott in der jenseitigenGluumlckseligkeit betet) wohl aber ein goumlttergleiches Wissensup3⁴sup1 Der Wissenserwerbist gewissermaszligen die Voraussetzung dafuumlr dass der Mensch mit Hilfe einesgoumlttlichen Begleiters in den Himmel aufsteigen kann unsterblich wird und voll-kommene Einsicht erlangt

Die so weit kohaumlrente Verbindung der literarischen Traditionen laumlsst aller-dings den explizit satirischen Anspruch von De nuptiis auszliger Betracht durch denMartianus selbst das Werk primaumlr in die Gattung der Satire einordnet waumlhrendvergleichbare Bezuumlge zu anderen Gattungen fehlen Natuumlrlich lieszlige sich dieserprogrammatische Anspruch mit einem Verweis auf die Verwendung des Begriffszur Bezeichnung einer inhaltlich wie literarisch gemischten Form erklaumlren Dochgreift diese Erklaumlrung zu kurz da das Agieren Saturas die literarischen Passagendes Werks beinahe als Travestie erscheinen laumlsst (vgl oben zur Erzaumlhlerfigur) Einbildend-enzyklopaumldisches Werk kann sich allerdings nicht gefahrlos als Satire

So auch Englisch 1994 56 Die bdquoSystematik bei der Praumlsentationldquo erlaube einen leichtenZugriff auf die Informationen Mart Cap 2 201ndash205

142 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

praumlsentieren ohne Zweifel an der Glaubwuumlrdigkeit und Zuverlaumlssigkeit desWerkes und der praumlsentierten Inhalte zu weckensup3⁴sup2

Wenn Martianus auch die Konventionen der Gattung menippeische Satireaufnimmt und sein Werk also nur folgerichtig unter anderem eine unzuverlaumlssigeErzaumlhlsituation aufweist ist dies noch keine Erklaumlrung an sich Die regelkonformeUmsetzung gattungstypischer Anspruumlche erklaumlrt noch nicht die Wahl der Gattungan sich ndash einer Gattung die trotz ihrer Benennung als solche nicht zu denStandardformen und akzeptierten Gattungen zaumlhlte insbesondere nicht fuumlrLehrwerkesup3⁴sup3

Auch Martianusrsquo Verweis auf etwas bislang noch nicht Unternommenes(nescioquid inopinum intactumque 1 2) vermag den Widerspruch nicht zu loumlsenDie Wendung zeigt zwar dass Martianus die Ungewoumlhnlichkeit seines Ansatzesbewusst war (sofern sich die Phrase uumlberhaupt auf die Komposition des Werkesbezieht)sup3⁴⁴ beseitigt aber nicht das interpretatorische Problem ZuwelchemZweckverbindet Martianus also zwei so widerspruumlchliche Gattungen wie Enzyklopaumldieund Satiresup3⁴⁵

Drei Antwortansaumltze lassen sich grob umreiszligen 1 Die Verbindung ist nuraumluszligerlich bzw oberflaumlchlich 2 durch die Verbindung soll ein bestimmter Aspektparodiert und somit Spott und Kritik ausgesetzt werden 3 die Verbindung erfuumlllt

Dieses Problem hat bereits Westra in seinem Aufsatz bdquoThe juxtaposition of the ridiculousand the sublime in Martianus Capellaldquo benannt (Westra 1981) Allerdings beschraumlnkt sich auchdieser Aufsatz auf die Darstellung des Problems und die Zusammenstellung der Belege EineLoumlsung hat Westra nicht anzubieten ndash sein Aufsatz endet mit der eher apologetischen Bemer-kung das Eingestaumlndnis der Unvereinbarkeit von Satire und Lehrwerk durch Martianus in 9 997sei prima facie ein Spiel dahinter stecke jedoch die Absicht Problembewusstsein zu demon-strieren und Verantwortung fuumlr die unterlassene Loumlsung zu negieren bdquoEven though I would claim that prose and verse must be present in an ancient Menippeansatire it must be seen as one of a number of shocking juxtapositions of oppositesldquo (Relihan 198760) ndash In der Folge kann die prosimetrische Form durchaus auch Mittel belehrender Werkewerden vgl Pabst 1994 133 Denkbar (und wohl wahrscheinlich) waumlre auch dass damit die Inhalte besonders desMythos gemeint sind Der Verweis auf Unterhaltung fuumlhrt nicht zum Kern der Frage denn die satirische Formstellt mehr dar als reine Unterhaltung Auch das horazische Diktum ridentem dicere verum quidvetat ndashsbquolachend das Wahre zu sagen ndash was spricht dagegenlsquo (Hor serm 1 1 23) als Kern vonMartianusrsquo Satireverstaumlndnisses greift zu kurz ebenso wie vergleichbare Konzeptionen in derLiteratur Dort geht es bei Belehrung immer um einzelne philosophische Saumltze (nie beispiels-weise um die Vermittlung von Philosophie an sich) Folglich bezeichnet das bdquoverumldquo nichtkognitives Lernen sondern moralisches Der grundlegende Unterschied zur Konzeption desMartianus liegt somit auf der Hand Vgl zu diesem Aspekt im Allgemeinen z B Shanzer 1986c42 und im Speziellen u a Woytek 1986 339ndash345 Keulen 2009 bes Kap 2 und 3

2 De nuptiis als literarisches Werk 143

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

einen literarischen und belehrenden Zweck zugleich Aufgrund der komplexenSachlage und der unmittelbaren Bedeutung der Beantwortung der Frage nachdieser Verbindung fuumlr das Gesamtverstaumlndnis von De nuptiis werden alle Alter-nativen vorgestellt und bewertet

Rein formale Verbindung von Satire und EnzyklopaumldieEventuell laumlsst sich die Mischung aus enzyklopaumldischen und satirischen Ele-menten (mit den zur Satire gehoumlrigen Verspartien) als Sonderform der Varro-Re-zeption bei Martianus auffassenVarro von Reate verfasste sowohl umfangreicheFachliteratur als auch menippeische Satiren Fuumlr beides war er in der Antikebekannt und beruumlhmt ndash doch ist es wahrscheinlich dass Martianus die Werkebereits nicht mehr ndash oder allenfalls nur in Auszuumlgen ndash vorliegen hattesup3⁴⁶ Aus demWissen um die beiden Schaffensbereiche des republikanischen Autors die beideder Unterweisung dienen solltensup3⁴⁷ koumlnnte Martianus auf den Gedanken verfallensein die literarischen Formen und Inhalte in seinem Werk zu verbindensup3⁴⁸Vielleicht saszlig er auch einemMissverstaumlndnis auf indem ermeinte dass Varro seinsatirisches wie enzyklopaumldisches Koumlnnen in nur einem Werk demonstriert habeDies hieszlige jedoch dass Martianus sich der Problematik dieser Verbindung nicht

So aumluszligert sich beispielsweise Kindermann in den Vorstudien seiner Ausgabe der Conso-latio des Laurentius von Durham Er billigt Martianus nur eine sekundaumlre Varro-Kenntnis zu(Kindermann 1969 60) Entschieden verneint wird die Frage von Schievenin (2009f) und Hadotdie vor allem neuplatonische Quellen vermutet (Hadot 2005 149) Schneider jedoch nimmt andass sowohl Augustin als auch Martianus die Disciplinae noch vorliegen hatten (Schneider 1999109 f) und dass die Satiren-Exzerpte des Nonius Marcellus (fl um 400 in Afrika) ebenfalls ausdem Originaltext Varros angefertigt wurden (ibid 96 Anm 12) Abwaumlgend aumluszligert sich Huumlbner2004 passim Vgl Cic ac 1 8 (es spricht Varro)

et tamen in illis veteribus nostris quae Menippum imitati non interpretati quadam hilaritateconspersimus multa admixta ex intima philosophia multa dicta dialectice quae quo faciliusminus docti intellegerent iucunditate quadam ad legendum invitati

Jedoch findet sich in meinen fruumlhen Schriften die ich in kreativer Nachfolge (und nicht nurUumlbersetzung) Menipps mit einer gewissen Heiterkeit benetzt habe vieles aus den Kernbe-reichen der Philosophie beigemengt und vieles das nach Art der Dialektiker gesagt istdamit die weniger Gelehrten es leichter verstuumlnden nachdem sie durch eine Art von Scherzzur Lektuumlre ermuntert worden sind

Vielleicht hatte Martianus diese Stelle sogar im Kopf als er die Anlage von De nuptiis plante So z BWeinreich in der Einleitung zu seiner Uumlbersetzung roumlmischer Satiren bdquoMartianusCapella glaubte gewiszlig ein Varro redivivus zu sein sozusagen die Quintessenz des Gelehrten unddes Satirikersldquo (Weinreich 1962 XCIII) Ebenso Shanzer 1986c 42

144 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

bewusst gewesen sei ndash was ihm sicher nicht gerecht wird Auszligerdem wird so dieBezugnahme auf weitere formale Elemente der menippeischen Tradition und dieuumlbrigen Vorlaumlufer der Gattung mit anderer Konzeption (Lukian Julian) nichtausreichend beruumlcksichtigt

Ebenfalls beim Autor koumlnnte eine zweite Erklaumlrung ansetzen Im Zuge derAbfassung seiner Enzyklopaumldie hat sichMartianus nach horazischer Vorgabe (unddem Beispiel Varros)sup3⁴⁹ um Auflockerung und heitere Elemente bemuumlht Diespontanen Einfaumllle wurden ins Werk integriert und die sich daraus ergebendenInkonsistenzen entweder uumlbersehen oder billigend in Kauf genommen Beideswuumlrde gut zum klassisch negativen Martian-Bild in der Forschung passensup3⁵⁰Abgesehen davon dass Annahmen uumlber das Vorgehen beim Schreiben weitge-hend auf Spekulation beruhensup3⁵sup1 widersprechen drei Beobachtungen dieser Er-klaumlrung Erstens gelingt es Martianus De nuptiis uumlber neun Buumlcher vorauszu-planen so dass am Ende ein ndash zunaumlchst abgesehen von der Satire-Problematik ndashkohaumlrentes Werk entsteht Die Fuumllle der behandelten Themen Motive und lite-rarischen Elemente weist eher auf ein planvolles Arbeiten hin und macht es un-wahrscheinlich dass Martianus Probleme an dieser Stelle nicht wahrgenommenbzw nicht korrigiert haumltte Zweitens ist die Verbindungvon Satire und den anderenElementen nicht nur oberflaumlchlich so dass sie nachtraumlglich eingefuumlgt sein koumlnnteoder sich im Schreibprozess so ergeben haben koumlnnte Da bereits im zweitenKapitel des ersten Buches Satura eingefuumlhrt wirdwar sie von vornherein Teil des

Gemeint ist das beruumlhmte zunaumlchst nur fuumlr die Dichtung relevante prodesse aut delectare(Hor ars 333 f) zu Varro vgl die schon angefuumlhrte Stelle aus Cic ac Vgl z B die sehr bildliche Beschreibung von C S Lewis bdquo[hellip] this universe which hasproduced the bee-orchid and the giraffe has produced nothing stranger than Martianus Capella[hellip] the curiosity shop of his mind [hellip] a chaos beside which the work of Rabelais has unity andthat of Mandeville probabilityldquo (Lewis 1936 78 f) Gleiches gilt fuumlr Spekulationen uumlber eine andere Auffassung von Literatur und ihrenRegeln in Martianusrsquo Zeit oder Umfeld Einerseits kennen wir keine Texte die sich mit De nuptiisvergleichen lieszligen (was per se nichts beweist aber doch Indiziencharakter hat) andererseitshielten sich auch die spaumltantiken Autoren uumlblicherweise an die klassischen Vorgaben Ich teiledaher auch Schneiders Ansicht nicht der die Skepsis an dieser Verbindung allein der modernenLeseerfahrung zuschreibt bdquoWenn den Heutigen diese Kombination der forcierten Gelehrsamkeiteines Curriculums und der spielerisch-saloppen Causerie seltsam beruumlhren mag so waumlre dazuimmerhin schon an ein ciceronisches Dictum zu erinnern non est enim seiunctus iocus a phi-lologia (ad fam 16214) ndash sbquoSpieltrieb und Pedanterie diktieren und widersprechen sich nichtlsquo(sbquoErste Fruumlhschichtlsquo aus Grassrsquo sbquoHundejahrelsquo)ldquo (Schneider 1999 94 Anm 2) Der Verweis aufCicero traumlgt nichts zum Verstaumlndnis von Martianus bei Cicero geht es an der zitierten Stelle umden Ablauf des Tages mit seinem Schuumller der aus ernsteren und heitereren Abschnitten bestehtDaraus folgt nicht dass das Lernen mit Scherz verbunden ist ndash auszligerdem duumlrfte Cicero unteriocus (sbquo[urbaner] Scherzlsquo) anderes verstanden haben als Martianus in seiner Satura bietet

2 De nuptiis als literarisches Werk 145

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Kompositionsplans Drittens hat Schievenin gezeigt dass Martianus keineswegsoberflaumlchlich und eigenwillig arbeitet Durch eine gruumlndliche Untersuchung derSilen-Passage (8 803ndash805) kann er nachweisen dass Martianus ndash wie vieleAutoren vor ihm ndash uumlber ein umfangreiches literarisches Wissen verfuumlgte daraufbei der Abfassung seines Werkes zugreifen konnte und durch gezielte Anspie-lungen neue Bezuumlge herstelltesup3⁵sup2

Satire als Mittel der KritikWaumlhrend die antike Satire (im Gegensatz zur modernen) nicht zwangslaumlufig Kritikan Missstaumlnden uumlben wollte ist diese Moumlglichkeit umgekehrt auch nicht auszu-schlieszligen Martianus koumlnnte also bewusst eine solide Darstellung der Kuumlnste inliterarischem Gewandmit der Gattung der Satire verbunden haben um Zweifel ander Ernsthaftigkeit der uumlbrigen Teile des Werkes zu wecken Er wuumlrde somit einaufklaumlrerisches Interesse verfolgen das zugleich auch unterhaltsame Zuumlge traumlgt

Eine erste Schwierigkeit dieser Lesart von De nuptiis ergibt sich bereits bei derFrage nach dem Objekt der SatireWerden die Wissensinhalte in Zweifel gezogenoder nur die Art ihrer Vermittlung in langen Reden bzwTraktaten Soll der Glaubean die umfassende Einheit des Wissens kritisiert werden oder die Vorstellungsaumlmtliches Wissen lasse sich vermitteln gar kohaumlrent in einem Werksup3⁵sup3 Ist dieVorstellung dass Wissen goumlttlich mache parodiert oder nur die abwegige Vor-stellung dass auf einer Hochzeit solche Reden gehalten werden Oder richtet sichdie Kritik letztlich gegen die Auffassung Philologia als Vorbild zu sehen oder garals Mittlerin alles Wissens ja sogar als Mittlerin zwischen Menschen und Goumlttern

Aus der Tatsache dass das Objekt der Satire keineswegs leicht zu bestimmenist kann nicht gefolgert werden dass in De nuptiis keine Satire vorliege die be-stimmte Sachverhalte kritisiere Aber es kann durchaus gefolgert werden dass eskeine expliziten textinternen Merkmale gibt die das Lesen steuern und den Ge-genstand der Kritik deutlich hervortreten lassen Die Deutungen gehen also vonmodernen Annahmen uumlber das Umfeld bzw die Gedankenwelt von Martianus aus

Im Kern handle es sich um bdquouna narrazione tersa e brillanteldquo verbunden mit einemDickicht an Verweisen Die Silen-Szene habe einen bdquocarattere colto e della dottrina e dellalingualdquo (Schievenin 1984 132) Das Fazit seiner Untersuchung formuliert Schievenin folgen-dermaszligen bdquoIl De nuptiis si rivela dunque opera di vasti orizzonti non solo per lrsquointento dida-scalico che la pervade e che ne determineragrave la fortuna ma anche per la costante presenza nellafabula della tradizione classica e dei suoi echildquo (ibid 136) Vgl zu dieser Stelle auch Bovey2003 275ndash288 ndash Den geschickten Umgang mit mehreren Quellen ndash erzaumlhlerisch wie seman-tisch ndash kann Schievenin auch fuumlr 7 725ndash727 nachweisen (Schievenin 2009e) So z B Relihan 1993 138 bdquoMartianus writes not an encyclopedia but a Menippean satirethat parodies encyclopedic knowledgeldquo

146 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

und weisen zudem meist nicht kleinschrittig auf wie der Interpret zu seiner (oftapodiktisch dargelegten) Ansicht gelangt

Nun folgt daraus noch nicht dass Martianus De nuptiis nicht als kritisierendeSatire konzipiert haumltte die Vielzahl der (wenn auch differierenden) modernenDeutungenweist ja darauf hin Zwei Uumlberlegungenwenn auch keine schlagendenBeweise lassen die Hypothese der parodierenden Satire unwahrscheinlich wer-den der Umfang von De nuptiis und seine Rezeption Eine Satire die beispiels-weise die Verbindung von Weltwissen und menschlicher Vervollkommnung in-frage stellt benoumltigt nicht noch eine umfassende Darlegung eben diesenWissensDies gilt besonders da diese Darlegung den Hauptteil des Werks ausmacht und ndashzumindest dem Umfang nach ndash die uumlbrigen Partien weit uumlberragt Eine Deutungvon De nuptiis als kritischer Satire muumlsste also besonders die Frage beantwortenzu welchem Zweck die umfangreichen Darstellungen der Freien Kuumlnste aufge-nommen sind (und nicht nur angedeutet werden)

Die Rezeption eignet sich zwar ebenfalls nicht zu sicheren Ruumlckschluumlssen aufdie originale Intention eines Werkes haumlufig bietet sie aber interessante EinblickeDie Martianus-Rezeption stellt sich bald ein Cassiodor beruft sich in seinen In-stitutiones auf ihn Dort erscheint Martianus nicht als Satiriker oder Zeitkritikersondern als Gelehrtersup3⁵⁴ In dieser Tradition wird Martianus auch im Mittelaltergelesen und rezipiertsup3⁵⁵

Aumlhnliches laumlsst sich fuumlr Boethiusrsquo Anknuumlpfen an die prosimetrische Form inder Ausgestaltung von Martianus sagen Boethius verfasst zweifelsfrei keine kri-tische Satire kann aber trotzdem an die Form und den Inhalt von De nuptiisproblemlos anknuumlpfen Sowohl der Form nach wie auch durch einzelne Zitatemacht er deutlich dass erDe nuptiis kennt und als eine seiner Vorlagen benutzt Esist zu bezweifeln dass Boethius in seinem Bemuumlhen um eine adaumlquatewerbendeDarstellung der Philosophie auf Form und Zitate des Martianus zuruumlckgegriffenhaumltte haumltte er nicht die Moumlglichkeit der gefahrlosen Uumlbernahme gesehen

Satirische Elemente als Mittel der BelehrungDer dritte Erklaumlrungsansatz fuumlr die Verbindung von Satire und Belehrung be-trachtet die Wahl Saturas als Figur und die Bezugnahme auf die Gattung zunaumlchst

Cassiod inst 2 2 17 Zur mittelalterlichen Martianus-Rezeption vgl bes Nuchelmans 1950 Lutz 1971 und 1976Willis 1973 sowie die Ausgaben und Literatur u a zu folgenden Werken Konrad von MureFabularius Hugo von Sankt Victor Didascalicon de studio legendi Johannes von SalisburyMetalogicon Kindermann kann weiterhin nachweisen dass De nuptiis auch durch seine Forminspirierend gewirkt hat (Kindermann 1969 61 f)

2 De nuptiis als literarisches Werk 147

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

als reine Fortsetzungder literarischen Form Fuumlr diese spezielle Formder Literaturdie menippeische Satire hat der russische Literaturwissenschaftler MichailBachtin Beobachtungen aufgestellt die auch fuumlr De nuptiis zutreffen Durch denRuumlckgriff auf zwei zentrale Konzepte Bachtins das Karnevaleske und die Dialo-gizitaumlt wird ein Verstaumlndnis von De nuptiis ermoumlglicht

Auf der Suche nach Vorlagen und Urformen der Gattung des Romans ins-besondere in der Form von Dostojewskis Romanen stieszlig Bachtin unter anderemauch auf die menippeische Satire die er bis in die Antike zuruumlckverfolgtesup3⁵⁶ Zuihren Vertretern zaumlhlt er unter anderem Varro Apuleius Petron Seneca oderLukiansup3⁵⁷ Martianus Capella wird nicht erwaumlhnt was aber nicht verwundernmuss da Bachtin keine Literaturgeschichte der menippeischen Satire schriebsup3⁵⁸

Kern der Uumlberlegungen Bachtins zurmenippeischen Satire ist das Konzept desKarnevals Unter Karneval versteht er folkloristische Feste waumlhrend deren diebestehende Ordnung verkehrt wird uumlbliche Regeln nicht mehr gelten Herr-schende gestuumlrzt und Machtlose maumlchtig werden ndash auf Zeit Die Karnevalisierungalso die Uumlbernahme der Kennzeichen dieses Festes in neue oder bestehende li-terarische Formen institutionalisiert diese Ausnahmesituation und loumlst sie vomkonkreten Fest Der so entstandene Text wird bdquozum karnevalesken Spiel an demder Autor und sein Publikum einverstaumlndlich teilhaben und das keines kalen-darisch oder institutionell abgesicherten Karnevalsrahmens mehr bedarfldquosup3⁵⁹

Diese Karnevalisierung fuumlhrt unter anderem zu einer Vielstimmigkeit vonMeinungen und Positionen im Text z B durch mehrere Figurenvon denen keinebevorzugt oder gar als autoritativ gekennzeichnet wird In dieser Dialogizitaumlt wirdkein allgemein guumlltiger Sinnmehr vermittelt sondern dieWahrheit suspendiertsup3⁶⁰

Dass der Bezug auf karnevalsartige Feste der Gattung menippeische Satire (inTeilen auch der Verssatire) eignet zeigt ein kurzer Blick auf wichtige Vertreter derTradition

Julians Symposion Caesares spielt zur Zeit der Saturnalien Die Bedeutungdieses Festes fuumlr das Werk wird dadurch verdeutlicht dass es den Handlungs-

Bachtin 1971 126ndash 135 Bachtin 1971 126 128 132f Kritik an den z T pauschalisierenden und verfaumllschenden Aussagen Bachtins uumlber antikeLiteratur oder an der ununterbrochenen Traditionslinie von der Antike bis in die Moderne (z BRelihan 1987 59 Lachmann 2006 23ndash25) muumlsste auch auf manche moderne Literaturwissen-schaftler in der Nachfolge Bachtins angewandt werden (vgl Branham 2005 6 wo es uumlberSenecas Apocolocyntosis heiszligt bdquoour only extant Menippean satire in Latinldquo) Teuber 1993 182 Eine gut verstaumlndliche Einfuumlhrung in das Konzept der Dialogizitaumlt im Sinne der bach-tinschen Terminologie bietet Sharland 2010 Einfuumlhrung (1ndash51)

148 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

rahmen fuumlr den in der Folge erzaumlhlten Mythos bildet Bereits im ersten Satz wirdauf das Fest und die Tradition Heiteres frei zu erzaumlhlen Bezug genommensup3⁶sup1

Auch Senecas Apocolocyntosis stellt einen engen Bezug zum Saturnalienfesther Das Werk spielt zwar nicht an den Saturnalien sondern am Todestag desClaudius im Oktober doch wird an zwei Stellen eine Verbindung zwischen derHerrschaft des verstorbenen Kaisers und den dargestellten Sitten waumlhrend derRegierungszeit mit dem Saturnalienfest gezogensup3⁶sup2 Manche Interpreten gehensogar davon aus dass die Apocolocyntosis an den Saturnalien des Jahres 54vorgetragen wurdesup3⁶sup3 Auch bei Petron und Horaz finden sich Bezugnahmen aufdie Saturnaliensup3⁶⁴

Ein zentrales Element des Saturnalienfestes liegt in der Suspension der uumlb-licherweise geltenden Normen und Wertesup3⁶⁵ Neben den anderen Elementen desFestes wie sie z B in Macrobiusrsquo Saturnalia (1 7ndash 10 1 24 22 f) beschriebenwerden (traditionelle Geschenke Festmahl fuumlr die Sklaven etc) hat gerade dieUmkehrung der Herrschaftsverhaumlltnisse im Haus Niederschlag in der Literaturgefunden

Gerade durch diese Rolleninversion treten einige wichtige gesellschaftlicheNormvorstellungen und Grundannahmen prominent hervor Dazu zaumlhlt das Be-wusstsein dass es eine befehlende und eine ausfuumlhrende Gruppe von Menschengibt oder dass im Prinzip ein Rollenwechsel moumlglich sein kann Alle Beteiligten

Ἐπειδὴ δίδωσιν ὁ θεὸς παίζειν ndash ἔστι γὰρ Κρόνια ndash hellip (sbquoDa der Gott das Scherzen erlaubt ndashes sind ja die Kronia helliplsquo Caes 1 = 306a Spanheim) Zur Frage ob es sich bei Caesares auch umdas Werk handle auf das zu Ende der Rede auf Koumlnig Helios verwiesen wird (Or in Sol reg 44 =157c Spanheim) vgl Muumlller in seiner Uumlbersetzung (39 ablehnend) und Lacombrade im Vorwortseiner Budeacute-Ausgabe (3 und 18 Anm 3) der aufgrund des Handschriftenbefundes Kronia auchals Titelbestandteil fuumlr die Caesares uumlbernimmt Es handelt sich um Sen apocol 8 1 (Claudius als Saturnalienprinz) und 12 2 (Herrschaftdes Claudius als andauerndes Saturnalienfest) ndash Dass Lukian nicht auf die Saturnalien alsRahmen fuumlr seine Werke zuruumlckgreift entwertet die Beobachtungen nicht Lukian musste auf-grund seines Selbstbewusstseins als satirischer Schriftsteller und aufgrund der Menge seinersatirischen Schriften nicht jedes Mal einen eigenen literarischen Rahmen herstellen in demeinzelne Dialoge stattfinden konnten Das Saturnalienfest selbst erscheint bei Lukian als Ge-genstand der Satire nicht als deren literarische Rahmung (Τὰ πρὸς Κρόνον) Zuerst bei Furneaux 1896 23 Anm 11 In der neueren Forschung vgl bes Nauta 1987Kritisch dazu u a Doumlpp 1993 159 f Petron 44 3 58 2 69 9 zu Horaz vgl z B serm 2 7 (libertas Decembris) Ein gelungenesBeispiel der Anpassung und Anwendung der bachtinschen Konzepte mit Ertrag fuumlr die Inter-pretation unter Einbezug von serm 2 7 bietet Sharland 2010 Distelrath 1999 114 Vgl weiterhin Versnel 1993 136ndash227 und Doumlpp 1993 Eine plastischeSchilderung der Rollenvertauschung bei der der Sklave dem Herrn die Leviten liest bietet Horserm 2 7

2 De nuptiis als literarisches Werk 149

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Herren wie Sklaven spielen also mit den Moumlglichkeiten einer alternativen Wirk-lichkeit

Das Besondere im Spiel mit den Moumlglichkeiten liegt aber in seiner zeitlichenBegrenzung Nach der Zeit des Ausnahmezustands gelten wieder die normalenimmer guumlltigen Regeln Die Rolleninversion erlaubt also ndash oder erzwingt gera-dezu ndash das Nachdenken uumlber bestimmte gesellschaftliche Normen und Wertvor-stellungen Durch die Ritualisierung und enge zeitliche Begrenzung ist darausjedoch keineswegs die Notwendigkeit entstanden die Verhaumlltnisse tatsaumlchlich zuhinterfragen oder gar zu aumlndern Daher lassen sich die Saturnalien auch als ein dieKonventionen bestaumlrkendes Fest verstehen Das Spiel mit der Moumlglichkeit eineranderen Gesellschaftsordnung hat durch seine Ritualisierung letztlich eine dieTradition legitimierende Funktion bekommen

In De nuptiis finden sich jedoch houmlchstens spaumlrliche Hinweise auf das Sa-turnalienfest Am ehesten weist das grob scherzende Agieren Saturas in diesenBereich Die bdquolangen Winternaumlchteldquo (1 2) koumlnnten (statt als Bezug auf Gellius) alsAnspielung auf das Saturnalienfest verstandenwerden ndash die Saturnalien finden inden laumlngsten Naumlchten uumlberhaupt statt seit der Kaiserzeit vom 17 bis 23 DezemberDies ndash wie die Spekulation uumlber eine spielerische etymologische Verbindung vonSatura und Saturnaliensup3⁶⁶ ndash ist aber insofern nicht von Belang da die Gattung alsGanze karnevaleske Zuumlge traumlgt und als gewissermaszligen institutionalisierter Kar-neval vom eigentlichen Fest losgeloumlst istsup3⁶⁷

Die Aufhebung der uumlblichen Ordnung (was Teuber im Ruumlckgriff auf Limina-litaumltskonzepte als praumlliminale Phase bezeichnet)sup3⁶⁸ beginnt mit der VorbereitungPhilologias zum Aufstieg in den Himmel Bereits das Erbrechen stellt eine mar-kante Umkehrung der alltaumlglichen Welt dar Statt sich Wissen anzueignen er-bricht Philologia es nun In der Goumltterversammlung auf der Milchstraszlige ist dieOrdnung sodann voumlllig verkehrt Philologia als Meisterin aller Disziplinen und

Zwar sind die einschlaumlgigen etymologischen Woumlrterbuumlcher skeptisch (v a WaldeHof-mann 2007 II 482 neutral ErnoutMeillet 2001 596) jedoch gibt es dahin gehende moderneDeutungen (aufgefuumlhrt bei WaldeHofmann 2007 II 482) und auch antike ParallelisierungenCic nat deor 2 64 Saturnus hellip est appellatus quod saturaretur annis (sbquoSaturn hellip wurde ergenannt weil er an Jahren gesaumlttigt istlsquo) Fulg myth 1 2 (p 17 16) a saturando Saturnus dictusest (sbquoDa er (die Menschen) saumlttigt wurde er Saturn genanntlsquo) Aug cons euang 1 23 35 Sa-turnus tamquam satur hellip νοῦς (sbquoSaturn gleichsam der gesaumlttigte hellip νοῦςlsquo) Vgl auch Gowers diedie etymologischen Verbindungen von satura Satyrspiel und Saturnalien untersucht (Gowers1993 109ndash 117) Sie kommt zu dem Befund dass keine Verbindung bestehe wohl aber verbin-dende Elemente identifiziert werden koumlnnten bdquocarnival licence parody uninhibited mockeryand excessive consumptionldquo (ibid 117) Vgl z B Teuber 1993 183 f Teuber 1993 183

150 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

bedeutende Lehrinstanz muss sich ihrerseits belehren lassen ndash mit dem Wissendas urspruumlnglich ihres war

Durch die Inversion wird die (vielleicht uumlblicherweise nicht prominente)Philologia in den Mittelpunkt geruumlckt und ihre zentrale Rolle im Wissenssystemtritt markant vor Augen Gleichzeitig kann darin eine leise Anfrage an ihre Lehr-autoritaumlt und eventuell auch ihre Eignung zur Lehre gesehen werden

Aufgrund des zeitlich begrenzten Rahmens der Verkehrung (diemit dem Endeder Vortraumlge voruumlber ist aber nicht explizit zuruumlckverwandelt wird) dessen Be-grenztheit durch Bezug auf die Form der menippeischen Satire ergaumlnzt werdenkann wird das System der Bildung und der Bildungsvermittlung jedoch nichtgrundsaumltzlich infrage gestellt Die Suspendierung Philologias ist temporaumlr

Dem Konzept der Dialogizitaumlt oder Mehrstimmigkeit folgend erklaumlrt sich auchdie Doppelung und Verunklarung der Erzaumlhlinstanz In den drei Dialogen indenen Satura und Martianus aufeinandertreffen behandeln sie die Frage desrichtigen Erzaumlhlens Dies beschraumlnkt sich nicht nur auf die Satire sondern umfasstalle auftretenden literarischen Formen Martianus und Satura sind sich uneinswie weit der Mythos reichen soll und ob eine Enzyklopaumldie trocken oder auchunterhaltsam erzaumlhlt werden soll (2 219ndash3 222) ob ein Symposion auch Zechenund Spaszlig vertraumlgt (8 803ndash810) oder ob und wie stark Satire Dinge vermischendarf (9 997ndash 1000)

Die unterschiedlichen Meinungen zu den Fragen werden zwar diskutiert undfuumlhren zu einem Ergebnis ndash der Erzaumlhlfluss versiegt ja an keiner Stelle oder setztneu an Allerdings entsteht in der Folge kein homogenes Werk und am Schlussmag keiner der beiden Erzaumlhler dafuumlr die Verantwortung uumlbernehmen Der Wi-derwillen sich zu dem Werk zu bekennen bedeutet aber gleichzeitig auch dassMartianus sich nicht festlegt welche Position er fuumlr die richtige haumllt Die Fragenach der rechten Art der Wissensvermittlung die auch in der Ent- und Inthroni-sierung Philologias anklang bleibt unbeantwortet

Schlieszliglich bringt der Blick auf die Aurelian-Vita aus der Historia Augustanoch einen weiteren Aspekt ein Parallel zur Aufteilung der Erzaumlhlinstanzen in Denuptiiswird der Erzaumlhlprozess in derHistoria Augusta aufmehrere AutorenverteiltWie zuerst Hermann Dessau und in der Folge Ronald Syme nachdruumlcklich gezeigthaben handelt es sich allerdings um nur einen Verfasser der uumlberdies auch inBezug auf die Abfassungszeit falsche Angaben gemacht hat und Quellen erfundenhatsup3⁶⁹ Insofern laumlsst sich der in der Historia Augusta gepraumlgte Begriff der

Auf den Charakter der Sammlung die Syme u a als bdquohoaxldquo bezeichnet (1983a 11 1983b13 1983c 219) die fingierten Autoren die manipulierten Quellen etc soll an dieser Stelle nurhingewiesen werden Vgl auch Cameron 2011 Kap 20 mit ausfuumlhrlicher Diskussion relevanterFragen

2 De nuptiis als literarisches Werk 151

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mythistoria der Vermischung von Mythischem und Historischem auch auf dieSammlung selbst anwendensup3⁷⁰

Als Menippee im engeren Sinne laumlsst sich weiterhin die Aurelian-Vita die 26Vita der Sammlung fassen und bezeichnenderweise spielt die Rahmenhandlungan denHilariasup3⁷sup1Wie zu den Saturnalien gehoumlren zu diesem Fest Scherze und ndash imRahmen von Maskierungen ndash Rollenwechselsup3⁷sup2

Noch in der rahmenden Einleitung zur Vita spielt sich folgender Dialog ab

1 et quoniam sermo nobis de Trebltellgtio Pollione qui a duobus Philippis usque ad divumClaudium et eius fratrem Quintillum imperatores tam claros quam obscuros memoriaeprodidit in eodem vehiculo fuit adserente Tiberiano quod Pollio multa incuriose multabreviter prodidisset me contra dicente neminem scriptorum quantum ad historiam pertinetnon aliquid esse mentitum prodente quin etiam in quo Livius in quo Sallustius in quoCornelius Tacitus in quo denique Trogus manifestis testibus convincerentur pedibus insententiam transitum faciens ac manum porrigens iocando[m] praeterea sbquoscribelsquo inquit sbquout

quae ille [scil Iunius Cordus] omnia exsequendo libros mythistoriis replevit talia scribendocum omnino rerum vilium aut nulla scribenda sint aut nimis pauca si tamen ex his morespossint animadverti qui re vera sciendi sunt hellip sed ex parte ut ex ea cetera colligantur(SHA Opil 1 5)

Bei der Anfuumlhrung von all diesen Informationen hat er die Buumlcher mit fabuloumlsen Ge-schichten angefuumlllt indem er Dinge von dieser Art schrieb wo doch uumlberhaupt keinenutzlosen Dinge geschrieben werden duumlrfen oder nur sehr wenige sofern daraus Verhal-tensweisen erkannt werden koumlnnen die wirklich wissenswert sind hellip aber zum Teil(schreibe ich) damit daraus das Andere gefolgert werden kann

quid Marius Maximus homo omnium verbosissimus qui et mythist[h]oricis se voluminibusinplicavit num ad istam descriptionem curamque descendit (SHA Quadr tyr 1 2)

Wie Hat sich Marius Maximus der groumlszligte Schwaumltzer vor dem Herrn der sich in seinenmythistorischen Werken verfangen hat etwa zu dieser Art der Darstellung und des sorg-faumlltigen Arbeitens herabgelassen

Hilaribus quibus omnia festa et fieri debere scimus et dici impletis sollemnibus vehiculo suome hellip Iunius Tiberianus accepit (SHA Aurelian 1 1)

An den Hilaria an denen alles zum Fest Gehoumlrende getan und gesagt werden muss wieman weiszlig empfing mich nach Erledigung der Zeremonien Iunius Tiberianus in seinemGefaumlhrt

Pausch bemerkt dieses besondere Datum zwar und erwaumlgt ob es sich um ein bdquoweitergehendesLesesignalldquo beispielsweise im Sinne karnevalesker Literatur handeln koumlnne verfolgt diese Spuraber nicht weiter (Pausch 2011 130 Anm 1) Herodian 1 10 5 ndash Einige Hinweise auf die Hilaria die im Kontext des Magna Mater-Festesam 25 Maumlrz gefeiert wurden bietet Fraser in seinem Kommentar zu Ovids Fasti (Fraser 1929244ndash248)

152 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

libet 2 securus quod velis dices habiturus mendaciorum comites quos historicae elo-quentiae miramur auctoreslsquo (SHA Aurelian 2 1ndash2)

1 Und weil unser Gespraumlch uumlber Trebellius Pollio der von den beiden Philippi bis zumvergoumlttlichten Claudius und dessen Bruder Quintillus gleichermaszligen uumlber beruumlhmte wieunbekannte Kaiser fuumlr die Nachwelt schrieb in derselben Saumlnfte stattfand behauptete erdass Pollio vieles ohne Sorgfalt und nur kurz dargelegt habe Ich erwiderte dass keinSchriftsteller sofern es um die Geschichte gehe nicht irgendwo gelogen habe und legtesodann dar worin sogar Livius Sallust Tacitus schlieszliglich sogar Trogus mit eindeutigenBelegen uumlberfuumlhrt werden koumlnnten Darauf sagte Tiberianus schlieszliglich scherzend indem ermeiner Meinung beipflichtete und mir seine Hand darbot bdquoSchreibe sowie du es fuumlr richtighaumlltst 2 Sage unbesorgt was du willst du wirst diejenigen als Gefaumlhrten fuumlr deine Taumlu-schungen haben die wir als Schoumlpfer historiographischer Beredsamkeit bewundernldquo

So sympathisch dieser Anspruch auch erscheinen mag ist er doch fuumlr das Ver-trauen in die Gattung der Geschichtsschreibung fatal Gerade in der Einleitungeiner Vita jedoch ndash zumal es der Fiktion nach die erste des Flavius Vopiscus Sy-racusius im Corpus der Historia Augusta ist ndash kann eine solche Anekdote ei-gentlich keinen Platz haben Sie erweckt beim Leser den Eindruck dass er dennachfolgend dargebotenen Informationen kein Vertrauen schenken duumlrfesup3⁷sup3

Die Parallelen zwischen der Historia Augusta insbesondere dem Vorgehen inder Vita Aureliani und De nuptiis liegen auf der Hand Verunklarung der Autor-schaft bzw der Erzaumlhlhaltung einerseits Erwecken von Zweifeln an der Glaub-wuumlrdigkeit des Dargebotenen andererseits

In der Historia Augusta sind die Inkongruenzen mit der Freude des Autors amliterarischen Spiel erklaumlrt worden Der Autor habe aus Freude am Fabulieren(vielleicht auchumein dafuumlr empfaumlngliches Publikum zu befriedigen) die Viten indieser Form verfasstsup3⁷⁴ Mag man dies fuumlr die Historia Augusta noch zugestehenderen Text uumlber einen laumlngeren Zeitraum vielleicht zunaumlchst ohne eine Gesamt-konzeption entstanden ist und auch sprachlich nicht herausragt stellt sich derSachverhalt fuumlr Martianusrsquo De nuptiis anders dar Das Werk hat durchaus einenliterarischen Anspruch und es folgt eindeutig einer vorab geplanten Gesamtan-lage Die Freude am Spiel mag vielleicht manches Detail beigesteuert haben fuumlrdie verschraumlnkte Anlage des Textes ist sie aber keine Erklaumlrung

Ganz anders ist der Anspruch zum Ende der Darstellung der Viten der bdquoDreiszligig Tyrannenldquoin dem der Autor beteuert seinem Werk mangele es zwar an literarischer Ausgefeiltheit nichtjedoch an Faktentreue da nunc cuivis libellum non tam diserte quam fideliter scriptum ndash sbquoGibnun dieses Buumlchleinwem du magst es ist nicht so sehr kunstvoll geschrieben wie es sachgetreuistlsquo (SHA Quadr tyr 33 8) Syme nennt dies bdquodeceit for its own sweet sakeldquo (1983c 217) Im gleichen Aufsatz spe-kuliert er auch uumlber das Interesse des Publikums an einer solchen Art von geistigem Spiel(ibid 221)

2 De nuptiis als literarisches Werk 153

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Es lohnt sich jedoch auch fuumlr die Historia Augusta einen Schritt weiter zugehen Ausgangspunkt dafuumlr ist die obige Beobachtungdass das literarische Spielder Historia Augusta nur durchschaut wer die Werke der historischen Literaturkennt Durch die Lektuumlre historiographischer Biographien bringt der Leser einebestimmte Leseerwartung also implizite Vorstellungen mit wie das Werk aus-sehen soll und wird Diese Erwartungen werden aber nicht oder nur teilweisebedient Formal gesehen weisen die Viten in der Historia Augusta zwar die Cha-rakteristika der Gattung auf ndash doch indem sie sie inhaltlich nicht adaumlquat aus-fuumlllen treten deren Konventionen vor Augen

Durch die uumlbermaumlszligige Verwendung falscher Verweise und erfundener Quel-len geraumlt zudem das Beglaubigungsverfahren historischer Texte in den Blick-punkt Der Leser erkennt anwelchen Stellenwelche Beglaubigungsmechanismenansetzen und auf welche Weise sie unterlaufen werden koumlnnen Uumlberspitzt lieszligesich behaupten DieHistoria Augusta verfolgt ein aufklaumlrerisches Interesse indemsie (spielerisch) aufzeigt welche Beglaubigungsverfahren die Geschichtsschrei-bung nutzt und wie sie manipuliert werden koumlnnen dadurch wird auch die Ma-nipulierbarkeit von Geschichte und Leser deutlich

In De nuptiis werden ebenfalls die Konventionen der Einzelgattungen ndash zu-mindest ansatzweise ndash hervorgehoben Dass kein perfektes Musterbeispiel derjeweiligen Einzelgattung entstehen kann liegt darin begruumlndet dass durch dieVerbindung der vier literarischen Genres keine oberflaumlchliche Konsistenz derFiktion entstehen kannVielmehr entstehen Bruumlche die ndash ebenso wie die Bruumlchein der Erzaumlhlhaltung ndash auch die Gattungskonventionen und ihre Annahmendeutlich werden lassen Dies gilt besonders fuumlr die Satire deren Vorgehen imKontrast zur eigentlichen Hochzeitshandlung aus dem Rahmen faumlllt und somitbesonderes Augenmerk erhaumllt Hinzu tritt mit der Figur Satura auch eine Perso-nifikation der Gattung die in theoretischen Diskussionen Annahmen und Vor-gehen mit Martianus eroumlrtert Grunduumlberlegungen der Gattung Satire werden sotheoretisch eroumlrtert und praktisch erprobt Gleiches giltwenn auch zT inwenigerdeutlicher Form auch fuumlr die anderen Formen Die Enzyklopaumldie in ihren langenMonologen wird durch Spott markiert die trockenen Kuumlnste werden probeweisedurch Allegorien zugaumlnglicher gemacht im Symposiondialog wird uumlberlegt in-wieweit uumlbliche Rollenmuster (der Zecher) einen Platz haben oder wie weit mandie fuumlr die Feier typischen Reden fuumlhren kann und immythischen Teil wird durchdie Gegenuumlberstellung mit dem handfesten Wissensbetrieb die Andersartigkeitdes Erzaumlhlens deutlich

So werden neben den Inhalten der Wissenschaften auch verschiedene lite-rarische Formen bewahrt Neben der reinen Anwendung und somit Tradierungwerden gleichzeitig auch die Mechanismen verdeutlicht deren sich die jeweilige

154 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Gattung bedient Somit wird ihr Funktionieren nachvollziehbar und in der Folgeauch nachahmbar

3 Zusammenfassung

Martianus weckt also durch die Wahl mehrerer gleichberechtigter Erzaumlhler diesomit das Erzaumlhlen unzuverlaumlssig werden lassen besonders aber durch dieUumlbernahme satirischer Gattungselemente ein Bewusstsein fuumlr die traditionellenGrundlagen desWissens- und Lehrsystems seiner Zeit ImGegensatz zur Satire diediese Fragen kategorisch stellt handelt es sich in De nuptiis um ein Spiel damitDer Satirebezug dient als Anknuumlpfung an die traditionellen Gattungsmerkmaleder menippeischen Satire Karnevaleske und Dialogizitaumlt

Durch die (temporaumlre) Rolleninversion richtet sich das Augenmerk aufPhilologia als Wissenszentrum und Wissensmittlerin und fordert zum Nach-denken daruumlber heraus Im Kern hinterfragt das Werk alle Bereiche die mit Bil-dung und Bildungsvermittlung zu tun haben Was sind die Inhalte wahrer Bil-dung Gibt es eine Einheit von Bildung Wie kann sie vermittelt werden

Allerdings zielt die Kritik nicht auf eine Aufloumlsung klassischer Bildungsinhalteund Vermittlungsformen Sie regt vielmehr durch Scherz und Bruumlche zumNachdenken uumlber diese Fragen an Dabei verzichtet Martianus auf eigene Vor-schlaumlge und Konzepte und festigt so gleichsam den traditionellen Bildungs-betrieb Das von ihm dargestellte Wissen wird kanonisiert und die Darstel-lungsform in langen Reden wird es auch Die mittelalterliche Rezeption von Denuptiis zeigt dies eindrucksvoll

Wissen umfasst dabei nicht nur das Faktenwissen der Vortraumlge sondern auchdas Wissen um bestimmte literarische Formen Durch die Verbindung von vierGattungen und die Doppelung der Erzaumlhlerfigur mit Reflexion uumlber angemessenesErzaumlhlen entstehen Inkonsistenzen die die Konventionen der einzelnen Gattun-gen hervortreten lassen Nicht alle Elementewerden auf dieseWeise deutlich aberMartianus bietet einen Ansatzpunkt die Fiktion auch unter der Fragestellung zulesen was einen Text der jeweiligen Gattung ausmacht ndash sowohl positiv wie ne-gativ formuliert

Mit seiner kreativen Konzeption und ihrer literarischen Umsetzung gelingt esMartianus eindrucksvoll Heiteres und Belehrendes zu verbindenwomit er an dieTradition Varros und die klassische antike Poetik anknuumlpft Es gelingt ihm daruumlberhinaus aber auchWissen zu vermitteln und die traditionellen Vorstellungen vonder Bedeutung dieses Wissens wie der Form seiner Vermittlung herauszustellenSpielerisch wird also gelehrt und hinterfragt nicht jedoch kategorisch kritisiertoder kuumlhn neu entworfen Gerade dadurch zeichnet sich Martianusrsquo De nuptiis

3 Zusammenfassung 155

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

tatsaumlchlich als nescioquid inopinum intactumque (sbquoetwas Ungewohntes und nochnie Gewagteslsquo 1 2) aus und macht es zu einem der bedeutendsten Buumlcher derSpaumltantike und zu einer interessanten Quelle fuumlr die Frage nach Bildungsvor-stellungen im fuumlnften Jahrhundert

156 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Page 9: Bildungsvorstellungen im 5. Jahrhundert n. Chr. (Macrobius, Martianus Capella und Sidonius Apollinaris) || III Martianus Capella, De nuptiis Philologiae et Mercurii

So unklar der Inhalt der Wendung Pelasgos docere istsup2⁷⁵ wird doch deutlich dassMartianusmit den vorausgegangenen 9 Buumlchern belehrenwolltewas allein schondie systematische Anlage (sieben Kuumlnste Reflexion uumlber weitere Wissenschaftenin 9 891) und die Fuumllle des Stoffes nahelegen

Der enzyklopaumldische Teil umfasst die Buumlcher 3 bis 9 von De nuptiis Zunaumlchsttreten die Kuumlnste Grammatik Dialektik und Rhetorik auf und stellen ihre Disziplinvor (Buumlcher 3 bis 5) Davon deutlich abgesetzt durch einen Hymnus auf PallasAthene zu Beginn von Buch 6sup2⁷⁶ folgen die Wissenschaften des spaumlteren Qua-driviums Geometrie Arithmetik Astronomie und Harmonie (Buumlcher 6 bis 9)Diese werden wiederum in zwei Zweiergruppen unterteilt Eine unmittelbareVorlage dafuumlr laumlsst sich nicht erkennen aber auch bei Boethius findet sich eineZusammenfassung der vier mathematischen Faumlcher die von der Forschung aufNikomachos von Gerasa zuruumlckgefuumlhrt wirdsup2⁷⁷ Eine Anordnung nach steigendemAnsehen der Kuumlnste ist auch durch Groumlszlige und Zusammensetzung des Gefolgesund die Reaktionen der Goumltter erkennbarsup2⁷⁸

Die Vortraumlge der Kuumlnste selbst entsprechen dem Charakter von Fachschriftenwas vor allem auf der streckenweise woumlrtlichen Wiedergabe der zugrunde lie-genden Quellen beruht Durch den Umfang den kleinschrittigen Aufbau und diesprachliche Sproumldigkeit wirken diese Reden wie ein Fremdkoumlrper in der Ge-schichte der Hochzeitsfeierlichkeiten und lassen manchen anwesenden Gottmuumlde werden oder gereizt reagierensup2⁷⁹

In der Regel sind die Vortraumlge aus einer odermehrerenVorlagen uumlbernommenwobei Martianusrsquo Eigenbeitrag vor allem in der Auswahl und Zusammenstellungder Quellen liegt Ein prominentes Beispiel fuumlr Martianusrsquo Vorgehen ist die Be-zeichnung Konstantinopels als Byzanz (6 670) Die Stelle kann nicht ndash wie haumlufiggeschehen ndash zur Datierung herangezogen werden sondern offenbart Martianusrsquo

Cristante versteht die Stelle woumlrtlich wenn er formuliert Martianus wolle das baumlurischeItalien belehren (Cristante 1978 679) waumlhrend Parker die Bedeutung des Wortes Pelasgi garnicht genau bestimmen moumlchte (Parker 1890 454) Zu dieser Passage und der Bedeutung dieses zweiten sbquoBinnenprooumlmslsquo vgl Bovey 2003227ndash237 sowie Zaffagno 1998 Rechenauer 1994 Sp 1177 Waumlhrend Grammatik allein eintritt (3 223) wird Harmonia von vielen auch beruumlhmtenBegleitern eingefuumlhrt und ihr Einzug wird von Musik begleitet (9 905ndash909) Ihr Vortrag ruft beiden Goumlttern Freude hervor (9 996) waumlhrend der Vortrag von Grammatik neutral zur Kenntnisgenommen wird (3 326) und der Vortrag von Dialektik aufgrund des Unwillens der Zuhoumlrersogar abgebrochen werden muss (4 423) Vgl Relihan 1987 64 und Bovey 2003 10 die voneinem bdquoparcours ascendant et cycliqueldquo spricht 4 423 5 565 6 723

122 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

unkritischen Umgangmit seinen Quellensup2⁸⁰Meist liegt der Darstellungder Kuumlnstenicht jeweils eine Fachschrift zugrunde sondern sind mehrere Werke heran-gezogen und zusammengestelltsup2⁸sup1

Die Auswahl der Faumlcher erfolgt nicht willkuumlrlich Die Tradition der um-fassenden Bildung die sich hinter dem Begriff der ἐγκύκλιος παιδεία verbirgtsup2⁸sup2der von Martianus auch in lateinischer Uumlbersetzung verwendet wirdsup2⁸sup3 umfassteim Laufe der Jahrhunderte einen wechselnden Faumlcherkanon Im Kern waren je-doch immer sowohl sprachliche Faumlcher als auch im weiteren Sinne mathemati-sche Faumlcher darin vertretensup2⁸⁴ Die Siebenzahl war dabei nicht kanonisch eskonnten auch neun Faumlcher (Varro) dazugehoumlren oder ein nicht genau umrissenerFaumlcherkanon (Boethius)sup2⁸⁵

Gegenuumlber der Tradition stellt Martianusrsquo Faumlcherauswahl keine grundlegendeNeuerung dar Grammatik Rhetorik und Dialektik waren meist Bestandteil derumfassenden Bildung und auch Geometrie Arithmetik Astronomie und Musikgehoumlrten haumlufig dazusup2⁸⁶ Der Ausschluss weiterer Kuumlnste wie der Medizin und der

Vorlage ist an dieser Stelle Plinius (Plin nat 5 24f) Vgl Grebe 2000 354 Typisch ist dieEinschaumltzung Krapingers der De nuptiis ein niedriges fachliches Niveau bescheinigt (bdquoevidentesachliche Defiziteldquo Krapinger 1999 962) Vgl auch die Anrufung Minervas zu Beginn desQuadriviums 6 574 in der Martianus explizit um Inspiration in Bezug auf die griechischenKuumlnste bittet Ein Blick in den Similienapparat zeigt dass Martianus fuumlr das sechste Buch uumlber dieGeometrie hauptsaumlchlich auf drei Autoren zuruumlckgegriffen hat Solinus Plinius und Euklid Vglauch Willisrsquo Anmerkung in seiner Ausgabe non moris fuisse Martiano ut per integrum librumunum sequeretur auctorem (309) Sehr aufschlussreich ist beispielsweise die Untersuchung vonBarbara Ferreacute in der Einleitung zur Ausgabe (xxiv-xxvii) Vgl auch die Beitraumlge von Schievenin(2009a und 2009b) die neben der unmittelbaren Fragestellung auch eine weitere Einordnungbieten Einen konzisen und modernen Uumlberblick uumlber die Entwicklung des Konzeptes bietetRechenauer 1994 Die Monographie von Hadot (Hadot 2005) ist immer noch das Standardwerk 9 998 (disciplinae cyclicae) Hadot 2005 265ndash267 Marrou 1958a 2 Teil bes die Uumlbersicht 216ndash217 Rechenauer 1994Grebe 1999 37ndash50 Uumlber die Siebenzahl ihren Ursprung ihre Festlegung sowie ihre endguumlltige inhaltlicheFuumlllung ist bislang kein Konsens erzielt worden deutlich ist aber dass Martianus Capella undAugustin bei ihrer Kanonisierung und Ausgestaltung eine entscheidende Rolle gespielt habenbdquoLa question de lrsquoorigine du cycle des sept arts libeacuteraux est irreacutesolue et en partie insoluble maisles deux auteurs drsquoorigine africaine [Martianus Capella und Augustin] jouegraverent un rocircle con-sideacuterable dans le triomphe de ce programme drsquoeacutetude au moyen acircgeldquo (Zelzer 2003 249) ndash ZurNeunzahl der Faumlcher bei Varro als Anlehnung an die Musen vgl Huumlbner 2004 S die in Anm 284 genannte Literatur

2 De nuptiis als literarisches Werk 123

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Architektur wirdmit Verweis auf den fortgeschrittenenAbendund diemenschlich-praktische Seite der Faumlcher erklaumlrtsup2⁸⁷

Im Detail nimmt Martianus aber durchaus Aumlnderungen vor So geht es imneunten Buch von De nuptiis nicht um die Musik im Allgemeinen sondern um dieHarmonie Diese Umgewichtung steht sicher in Zusammenhang mit der verbin-denden und vereinigenden Grundkonzeption von De nuptiis die zu Beginn desersten Buches (1 1) durch den Hymnus auf Hymenaeus den verbindendenHochzeitsgott ausgedruumlckt wurdesup2⁸⁸ Unterstuumltzt wird diese Eigenwilligkeit durchdie praktische Darbietung von harmonischem Gesang der die theoretischenAusfuumlhrungen ergaumlnzt und steigert (9 911ndash919 9 996)

Auch bei der Behandlung der Geometrie in Buch 6 greift Martianus in dietraditionelle Darstellung des Wissens ein Anstatt die Ausfuumlhrungen auf geome-trische Fragen und Lehrsaumltze zu beschraumlnken erweitert Martianus sie um einenausfuumlhrlichen geographischen Teil der um einiges laumlnger ist als der geometrische(Geographie 6 586ndash703 Geometrie 6 705ndash723) Ferreacute erkennt dahinter vor al-lem ein literarisches Ziel Die vorhandene Stoffmenge zur Geometrie sei zu kleingewesen so dass Martianus sie habe erweitern muumlssen damit das sechste Buchnicht bedeutend kuumlrzer werde als die uumlbrigen Buumlchersup2⁸⁹

Veraumlndert Martianus also gelegentlich aus kompositorischen Gruumlnden dietraditionelle Darstellung der Kuumlnste so kann man dies auch in der Zusammen-fuumlhrung der vielen Spezialschriften in einemWerk erkennenUmfasst das Konzeptder ἐγκύκλιος παιδεία zwar einen breiten Faumlcherkanon an den sich Martianusauch weitgehend haumllt so ist die Darstellung aller Faumlcher in nur einem Werk un-gewoumlhnlich

Uumlblich war die Form der Abhandlung der die Beschaumlftigung mit einer Dis-ziplin zugrunde lag Als Beispiele kann auf nahezu alle antiken fachwissen-schaftlichen Schriften verwiesen werden Ausnahmen sind allein die Sammel-schriften die aber explizit andere Ziele verfolgen und keinen Fachbereichgruumlndlich bearbeiten

Diese Feststellung gilt auch fuumlr die anderen Autoren mit teilweise sbquoenzyklo-paumldischemlsquo Programm z B Augustin oder Boethius Augustins bdquoBildungspro-grammldquosup2⁹⁰ umfasste aumlhnliche Faumlcher wie Martianus sie versammelte doch ver-

9 890ndash891 Hadot nimmt an dass diese Disziplinen nicht per se als unwichtig angesehenoder in bewusster Abgrenzung von Varro ausgeschlossen worden seien sondern weil sie nichtzur bdquoSchau der goumlttlichen Weisheitenldquo fuumlhren wuumlrden (Hadot 2009 16) Zu dieser Stelle und zu dem im Hymnus ausgedruumlckten philosophisch-poetischen Pro-gramm vgl LeMoine 1972a 14 Stahl 1971 86 Relihan 1993 61 Schievenin 2009c So Ferreacute im Vorwort ihrer Ausgabe xlvi Den Begriff verwendet Studer 2007 522

124 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

fasste Augustin zu den einzelnen Disziplinen jeweils eine eigene Schrift (mit derFolge dass er nicht alle Faumlcher behandelt hatte als er das Projekt aufgab wohlaber einige Themen abgearbeitet und die Buumlcher erschienen waren)sup2⁹sup1 Aumlhnlichverhaumllt es sich mit Boethius der sich etwa einhundert Jahre spaumlter ebenfalls mitverschiedenen Wissensbereichen beschaumlftigte Trotz der Leistung des Martianussetzte Boethius sein Vorhaben aber so um dass er den verschiedenen Disziplineneinzelne Abhandlungen widmetesup2⁹sup2

Allein Varro hat seinem breiten Œuvre an Spezialschriften auch noch ein imengeren Sinne enzyklopaumldisches Werk zugefuumlgt die Disciplinae Darin beschaumlftigtsich Varro mit dem gleichen Faumlcherkanon wie Martianus (unter zusaumltzlicherAufnahme der Medizin und Architektur) Da das Werk aber verloren ist und auchnur spaumlrliche Testimonien vorhanden sind laumlsst sich nicht abschaumltzen inwieferntatsaumlchlich eine einheitliche Schrift vorgelegen hat und welches Ziel Varro mit ihrverfolgtesup2⁹sup3

MartianusrsquoWerkDe nuptiis ist die erste erhaltene Enzyklopaumldie der Antike undduumlrfte somit maszliggeblich zum heutigen Verstaumlndnis des Begriffs der Enzyklopaumldieals eines einzigenWerkes das alles Wissen enthaumllt beigetragen haben Der Grundfuumlr Martianusrsquo ungewoumlhnliches Vorgehen duumlrfte in dem augenscheinlichen Plander Verbindung aller Disziplinen liegen der auch zu Beginn des Werkes durch diePreisung des Hymenaeus ausgedruumlckt wirdsup2⁹⁴

Zu Augustins Plan vgl retract 1 6 (Per idem tempus quo Mediolani fui baptismum per-cepturus etiam disciplinarum libros conatus sum scribere ndash sbquoZu der Zeit als ich in Mailand balddie Taufe empfangen sollte habe ich versucht auch Buumlcher uumlber die Faumlcher zu schreibenlsquo)begonnen und teilweise erhalten sind gramm mus und evtl dialect Neben den Schriften zur Theologie und zur Logik sind die Schriften zur Arithmetik(arithm) zur Musik (mus) und zur Rhetorik (in top divis) zumindest teilweise erhalten Hinzukommen Uumlbersetzungen astronomicher und geometrischer Fachschriften Zu Boethiusrsquo Fach-schriften und seinem Programm vgl Chadwick 1981 69ndash107 Das spaumlrliche Wissen spiegelt auch die knappe Einfuumlhrung von Cardauns 2001 Sie um-fasst fuumlr die Disciplinae inklusive Literaturverweisen knapp zwei Seiten (77ndash78) und bietet wenigsichere Informationen Eine interessante gleichwohl stark negative Antwort auf die Zusammenstellung derKuumlnste in einem Werk bietet Voumlssing der damit gleichzeitig aber auch die Einzigartigkeit desVorgehens herausstellt bdquoWas in den mittelalterlichen Kloumlstern als Summe antiker Bildung galtwar wohl nur das Resultat der Selbstdarstellung eines ehemaligen Advokaten der dem gebil-deten Publikum seiner Stadt demonstrieren wollte dass er mehr konnte als plaumldieren und mehrwusste als der normale scholasticus den uumlberlieferten prestigetraumlchtigen Bildungsstoff allersieben artes ndash der uumlblicherweise nur in einzelnen Fachbuumlchern (und bezogen auf einzelneDisziplinen) praumlsentiert wurde ndash in einem Werk zusammenzufassen und einzubetten in einironisches literarisches Spiel So hoffte er beides zu haben den Ruhm der Bildung und den derparodistischen Distanzierung An eine spezifische Programmatik dachte er bei seiner Enzyklo-

2 De nuptiis als literarisches Werk 125

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Welches (philosophische oder literarische) Konzept dahinterstand und in-wieweit Martianus sein Vorhaben uumlberzeugend umsetzen konnte wird unter-schiedlich bewertetsup2⁹⁵Wie das Urteil auch ausfaumlllt gilt es doch zu beachten dassneben den enzyklopaumldischen Teilen mit ihrem traditionellen Inhalt in teils tra-ditioneller teils neuer Form auch andere narrative Strategien zum Einsatz kom-men die fuumlr eine umfassende Deutung und Bewertung ebenfalls beruumlcksichtigtwerden muumlssen

Literarisches SymposionEine andere Gattungstradition die fuumlr die Anlage von De nuptiis genannt werdenmuss ist die Form des literarischen Symposions In diesem Punkt besteht eineVerbindung zu Macrobiusrsquo Saturnalia deren Symposionform im entsprechendenKapitel untersucht worden istsup2⁹⁶

Auch inDe nuptiis lassen sich einige konstitutiveMerkmale eines literarischenSymposions aufzeigen Das Geschehen in den Buumlchern 3ndash9 spielt anlaumlsslich einerFeierlichkeit (der Hochzeit) an einem besonderen Ort (auf der Milchstraszlige)sup2⁹⁷ andem sich geladene Gaumlste (Goumltter Heroen etc) versammeln Den Vorsitz der Fei-erlichkeiten hat (gewissermaszligen als Symposiarch) Jupiter inne Es gibt zwar keineungeladenen Gaumlste doch Silen erfuumlllt die Rolle des Zechers und er verlaumlsst dieFeier vorzeitig (8 805) Auch die Liebe kommt nicht zu kurz indem Venus ihreReize spielen laumlsst (6 704) Voluptas mit Merkur flirtet (7 725ndash727) und Hymen-aeus mit seinem anzuumlglichen Gesang das Geschehen der Hochzeitsnacht zu-

paumldie ebenso wenig wie er seinen Platz im sbquoLehrplan des Abendlandeslsquo vorhersehen konnteldquo(Voumlssing 2008 404) Weit verbreitet ist die Ansicht Martianus habe eine Art Summe der antiken Gelehrsamkeiterstellt (Cristante im Vorwort seiner Ausgabe 27 Ferrarino 1969 2 Bovey 2003 20 Cristante2009 [3] Schievenin 2009a 77) Die gegensaumltzliche Position formuliert bereits Parker bdquo[I]t isclear that the seven arts were never supposed to include the whole circuit of human knowledgeMartianus Capellarsquos list was a reduction of Varrorsquos and Varrorsquos was not supposed to include allknowledgeldquo (Parker 1890 459) S o Kap II4 Dort werden auch die typischen Merkmale dieser literarischen Form vor-gestellt Die Milchstraszlige in der Darstellung bei Martianus greift zwei Aspekte auf die allerdingsschon lange vor ihm verbunden worden sind Einerseits ist die Milchstraszlige der Ort an den dieauszligergewoumlhnlichen Menschen nach ihrem Tod gelangen (Cic rep 6 16 Manil 1 758ndash800)andererseits ist auch die Vorstellung nicht ungewoumlhnlich dass dort der Wohnsitz der Goumltter zufinden sei (Ov met 1 170ndash 176 Manil 1 801ndash804) Bei Martianus versammeln sich dort dieGoumltter doch ist dies auch der Ort an den die vergoumlttlichte Philologia gelangt ndash abgesehen vonden uumlbrigen herausragenden Menschen die sich im Gefolge sbquoihrerlsquo Brautjungfer dort versam-meln

126 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mindest andeutet (9 902 f) wenn die Ausfuumlhrung auch nicht beschrieben wird(9 996)

Das auffaumllligsteMerkmal sind aber die Reden die gehaltenwerden Sie aumlhnelnzwar nicht dem Inhalt wohl aber der Form nach der monologischen Anlage derSymposiongespraumlche bei Platon oder (stellenweise) Macrobius Ebenso passt derInhalt Bildungswissen an sich zu einem Symposion auch wenn er hier sehrausfuumlhrlich und ohne Ruumlcksicht auf die primaumlren Adressaten die Goumltter prauml-sentiert wird Bei Platon sowie bei Martianus scheint der Inhalt der Gespraumlche imVorfeld noch nicht festzustehen wie die Auswahl der jeweils naumlchsten RednerindurchApoll (3 223 4 328 8 8109 891) bzw Paidia (7 728) oder die Diskussion umden Fortgang der Feier bzw die noch folgenden und auszuschlieszligenden Reden(= Kuumlnste) zu Beginn von Buch 9 zeigtsup2⁹⁸

Die Anordnung der Redebeitraumlge nach steigender Relevanz und die unter-brechungsfreie Praumlsentation der Reden erinnert ebenfalls ans platonische Sym-posion Schlieszliglich nimmt das Spiel mit der Erzaumlhlinstanz (Satura oder Martianus)die verschachtelte Erzaumlhlsituation bei Platon oder Macrobius mit ihren verschie-denen Berichtsebenen auf und formt sie umsup2⁹⁹

Mythisch-allegorische ErzaumlhlungZu den bereits genannten literarischen Vorlagen von De nuptiis tritt ein weiteresElement hinzu dessen Bedeutung und dessen eigene Vorlagen nur schwer zubestimmen sind

Besonders Shanzer weist in ihremKommentar zum ersten Buch vonDe nuptiiswiederholt auf die orphischen gnostischen und philosophisch-religioumlsen Ele-mente in den sehr bildhaften aber streckenweise schwer verstaumlndlichen erstenbeiden Buumlchern hinsup3⁰⁰ Eine umfassende Interpretation des Mythos bietet sie je-doch nicht Vielmehr beschraumlnkt sie sich auf Verweise zur Herkunft einzelnerMotive und auf die Deutung kuumlrzerer Passagen

Kupke kommt bei einer Musterung der verschiedenen mythischen Reminis-zenzen im zweiten Buch von De nuptiis zu der Feststellung dass eine eindeutige

Ein zentraler Unterschied besteht jedoch darin dass die Vortraumlge nicht von den Gaumlstengehalten werden sondern dass die Gaumlste also die Goumltter nur Zuhoumlrer sind waumlhrend die Kuumlnstereden Hierin erinnert De nuptiis eher an Julians Caesares in denen die versammelten Goumltter jaauch wenig sprechen wohl aber die roumlmischen Kaiser die ndash wenn auch um einiges knapper ndashihre Leistungen darstellen Ausfuumlhrlicher dazu im weiter unten folgenden Abschnitt uumlber die Erzaumlhlinstanzen Shanzer 1986c passim

2 De nuptiis als literarisches Werk 127

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

und kohaumlrente Decodierung aller Verweise undAnspielungen nichtmoumlglich seisup3⁰sup1Ihrer Ansicht nach ist es dem modernen Leser nurmehr moumlglich einzelnen Ver-weisen nachzugehen und sie aufzuzeigensup3⁰sup2

Trotz der benannten Schwierigkeiten darf bei allen Fragen nach literarischenVorlagen nicht vergessen werden dass De nuptiis vor allem (aber nicht aus-schlieszliglich) auch ein allegorisches Werk ist Die imposante Schilderung der vierFluumlsse in Buch 1 Apoll auf demParnass-Huumlgel die allegorischen Figuren undvieleweitere Elemente sind nicht nur kreative literarische Erfindungen sondern for-dern zu einer uumlbertragenen Lesart des Werkes auf Besonders die ersten beidenBuumlcher die den Mythos enthalten muumlssen aus diesem Blickwinkel gelesen undverstanden werden

Zu verweisen ist auszligerdem auf die Bezeichnung der Erzaumlhlung als fabula oderfabella Neben der naheliegenden Bedeutung von sbquoErzaumlhlung Geschichtelsquo imallgemeinen Sinn ist sicher auch an die Diskussion um die Berechtigung von fa-bulae in Macrobiusrsquo Somnium-Kommentar zu denken Dort verteidigt Macrobiussowohl Platon als auch Cicero gegen den Vorwurf fiktive Geschichten zu benut-zen um philosophische Wahrheiten zu verkuumlnden In bestimmten Faumlllen seidieses Vorgehen gerechtfertigt solange es sich um wahrhaftige und belehrendeErzaumlhlungen handlesup3⁰sup3 Diese Voraussetzung kann man auch fuumlr De nuptiis alserfuumlllt ansehen Da Martianus zudem dem Neuplatonismus aumlhnlich nahesteht wieMacrobiussup3⁰⁴ ist von einer bewussten Entscheidung zugunsten einer literarischenDarstellung auszugehen

Den einzigen Versuch einer umfassenden Deutung verschiedener Elementedes Mythos und der allegorischen Darstellung hat ndash unter Vernachlaumlssigung ei-niger Details ndash bislang Lenaz unternommen In der ausfuumlhrlichen Einleitungseines Kommentars zum zweiten Buch von De nuptiis untersucht er die philoso-phisch-religioumlsen Motive in diesem Buch und kann Verbindungen zur Myste-

Kupke 1998 154 Kupke 1998 159 Fuumlr den spaumltantiken und den mittelalterlichen Leser glaubt sie jedoch andie Moumlglichkeit der problemlosen Dekodierung Macr somn 1 2 21 vgl oben Anm 45 Gerade die neuplatonischen Elemente von De nuptiis sind verschiedentlich benannt wor-den auch wenn nicht immer eine einheitliche Deutung geboten wird Haumlufig genannt wird derAufstieg Philologias in den Himmel uumlber die Sphaumlrenstufen der mit einer bdquoRuumlckkehr der Seeleldquogleichgesetzt wird (z B Bovey 2003 11 Lenaz 1975 113 vgl auch Guillaumin 2008) Hinge-wiesen wird auch auf die drei Frauen die Merkur nicht heiraten wollen (Sophia Mantike undPsyche 1 6ndash7) und die drei Seelenteile darstellen sollen deren Summe aber letztlich Philologiaist (Lenaz 1975 107ndash 110) Dagegen vertritt Kupke die These die neuplatonischen Elementetruumlgen keine zusaumltzliche Sinnebene bei (Kupke 1998 153) kritisch aumluszligern sich BednařiacutekovaacutePetrovićovaacute 2010 7

128 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

rieninitiation zu platonischen Mysterien chaldaumlischen Orakeln magischenPraktiken und zur Theurgie nachweisen Im Deutungsteil verwirft er die ThesenNuchelmansrsquo und Mathonssup3⁰⁵ als zu kurz greifend Nuchelmans hatte in derHochzeit Philologias und Merkurs (mittelalterlicher Kommentar-Tradition fol-gend) eine Forderung von Martianus nach der Vereinigung von Wissen (Philo-logia) und Rhetorik (Merkur) gesehen Mathons Ansatz fuumlhrte den Verweis auf dieneuplatonische Wieder-Erinnerung und die Ruumlckkehr der Seele in dieses Modellein Ebenso wie bei Nuchelmans werden auch hier nur wenige Elemente desMythos interpretiertsup3⁰⁶

Lenazrsquo eigener Ansatzsup3⁰⁷ folgt den Uumlberlegungen Ferrarinossup3⁰⁸ und ergaumlnzt siemit einigen Hypothesen Im Kern kreise der Mythos des zweiten Buches um einedoppelte Vereinigung die (horizontale) Vereinigung allen irdischen Wissens inPhilologia mit Hilfe von Hymenaeus und die (vertikale) Vereinigung der goumlttlichenund menschlichen Sphaumlre mit Hilfe von Eros Hinzu treten Uumlberlegungen ob essich bei Philologia und Merkur eventuell um nur eine Entitaumlt handle die Seelewelche getrennt worden sei und nun wieder zusammenfinde

Diese Lesart integriert die meisten der mythischen und allegorischen Ele-mente und verbindet sie weitgehend schluumlssig zu einem umfassenden KonzeptAllerdings vernachlaumlssigt sie auch bestimmte EinzelbeobachtungenWieso steigtPhilologia vom Sphaumlrenrand wieder auf die Milchstraszlige hinab (2 200 2 206)Wieso werden ihr auf der Milchstraszlige die irdischen Kuumlnste vorgefuumlhrt die sieerbrechenmusste damit sie in den Himmel aufsteigen konnte (2 135 f)sup3⁰⁹ Bereitsdiese Fragen zeigen deutlich dass eine kohaumlrente plausible Aufloumlsung des Mythosnicht leicht moumlglich ist

Nuchelmans 1950 Mathon 1969 Lenaz 1975 105 Aumlhnliches gilt auch fuumlr Hadots Deutung Sie identifiziert Merkur mit demaumlgyptischen Gott Theuth auf den in De nuptiis 2 102 f angespielt wird und nennt ihn diebdquoPersonifizierung der goumlttlichen Vernunftldquo waumlhrend Philologia die Personifizierung dermenschlichen Vernunftseele in deren idealem Zustand darstelle Die sieben Wissenschaften unddie sieben mantischen Kuumlnste ermoumlglichten es der Seele bdquozu ihrem Ursprung dem intelligiblenBereich oder zu Gottldquo zuruumlckzukehren (Hadot 2009 21 f) Lenaz 1975 106ndash 119 Ferrarino 1969 Dieses Problem entfiele wenn man annaumlhme dass Martianus die Erzaumlhlung nur auf dieersten zwei Buumlcher angelegt habe und erst danach die Moumlglichkeit einer Verbindung mit der inden Buumlchern 3 bis 9 folgenden Enzyklopaumldie erkannt habe Dafuumlr gibt es zwar Hinweise (bes dieDiskussion um die FiktionalitaumltUnterhaltung) am Ende von Buch 2 und zu Beginn von Buch 3doch duumlrfte man annehmen dass Martianus den Grundkonflikt von zuruumlckgelassenem Wissenund erneut geschenktem Wissen erkannt und behoben haumltte

2 De nuptiis als literarisches Werk 129

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Weiterhin uumlberbetont der Versuch den Mythos allein aus sich heraus zu er-klaumlren den Stellenwert des zweiten Buches im Gesamtwerk Als Interpretations-rahmen zwar wichtig tritt er bei fortschreitender Lektuumlre hinter die praktischeDarstellung der sieben Kuumlnste zuruumlck Diese nehmen nicht nur mehr Raum einsondern uumlberlagern die Darstellung im zweiten Buch und reduzieren somit auchderen Bedeutung Der Mythos ist also einwichtiger keineswegs jedoch der einzigeBestandteil von De nuptiis

Menippeische SatireDas auffaumllligste literarische Kompositionselement von De nuptiis ist jedochzweifellos die Wahl des Prosimetrums die Mischung von Prosapartien mit me-trischen Einheiten Der uumlberwiegende Teil des Werks ist in Prosa gehalten inwelchen 33sup3sup1⁰ metrische Partien eingelegt sind Dabei sind die Gedichte nichtregelmaumlszligig uumlber das gesamte Werk verteilt sie finden sich uumlberwiegend an ex-ponierten Stellen besonders an den Buchanfaumlngen und Buchenden Bei denmetrischen Partien innerhalb eines Buches handelt es sich fast ausschlieszliglich umGoumltterreden

Die beobachtete unregelmaumlszligige Verteilung der metrischen Partien unter-scheidet sich deutlich von der Gestaltung wie sie Boethius wenige Jahrzehntespaumlter inDe consolatione Philosophiae einsetzt Dort sind diemetrischen Partien inHinblick auf die Gesamttextmenge haumlufiger und zudem gleichmaumlszligiger verteiltsup3sup1sup1

Damit haumlngt zusammen dass auch die literarisch-argumentative Funktion dermetrischen Teile z T von derjenigen bei Boethius abweicht Bei Boethius stehendie Gedichte im Argumentationszusammenhang und fuumlhren Gedanken fort oderbuumlndeln sie in praumlgnanter Ausdrucksweisesup3sup1sup2 Ein gutes Beispiel dafuumlr ist eine

Die Zaumlhlung umfasst die zusammenhaumlngenden metrischen Partien und zaumlhlt auch Ge-dichte mit unterschiedlichem Versmaszlig (z B die Gedichte der Musen) als eine Partie Vgl dazu besonders OrsquoDaly 1991 Kap 1 (bdquoThe poetics of the Consolationldquo) darin 19ndash22 zuMartianus Sprachliche Parallelen sind zusammengestellt im Index der Boethius-Ausgabe vonBieler (CCSL 94 116) diskutiert werden sie bei Pabst 1994 163ndash 168 Da Boethius das Werk desMartianus kannte kann man von einer gelungeneren Ausdifferenzierung der Ansaumltze des Mar-tianus sprechen Der Vergleich des Einsatzes der prosimetrischen Form bei Boethius gewinntdadurch an Gewicht Eine Mischung von Prosa und Poesie findet sich weiterhin bei Fulgentius inden Mythologiae ndash Zu Parallelen in den Werkanfaumlngen bei Martianus Fulgentius und Boethiusvgl Klingner 1921 114 Pabst 1994 der Fulgentiusrsquo Vorgehen durchaus als bdquoimitatio Martianaldquoversteht (162 134ndash 137) fuumlr Boethius in Martianus allerdings nur eine Quelle sieht bdquoThey contribute to the argument as it proceeds yet take a wider view with an authorityoutside and above the adjacent prose They possess their own thematic design which spans theentire workldquo (Crabbe 1981 260) bdquoDie Metra bilden Ruhe- und Houmlhepunkte im Werk haumlufig

130 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Stelle zu Beginn des vierten Buches Nachdem zunaumlchst allgemein erlaumlutert wirddass die Weisen vermoumlgen was sie wollen die Schlechten jedoch nicht(cons 4 1 131ndash140) folgt in Versen eine Reihe plastischer Beispiele fuumlr die These(cons 4 carm 2) bevor der Gedanke fortgesponnen wird (cons 4 3 1ndash4)

An anderen Stellen uumlbernehmen die metrischen Partien eine Gliederungs-funktion indem sie Gedanken abschlieszligen und durch die Unterbrechung Zeit zurErholung bieten So sagt Philosophia zu ihrem Schuumller Boethius

bdquosed uideo te iam dudum et pondere quaestionis oneratum et rationis prolixitate fatigatumaliquam carminis exspectare dulcedinem accipe igitur haustum quo refectus firmior inulteriora contendasldquo (Boeth cons 4 6 200‐203)

bdquoAber ich sehe dass du bereits vom Gewicht der Untersuchung belastet und von der Breiteder Beweisfuumlhrung erschoumlpft auf die suumlszlige Erholung eines Liedes wartest nimm also denTrank damit du solchermaszligen erfrischt kraumlftiger zu den weiteren Themen eilen kannstldquo

In dieser zweiten Funktion setzt auch Martianus die metrischen Partien ein Dabeisind sie nicht in die Prosadarstellung eingeschoben sondern markieren fastausschlieszliglich die Buchanfaumlnge und Buchenden Explizites Ziel ist die Belebungdes Werkes um eine angenehme Lektuumlre zu erleichternsup3sup1sup3 Dies widersprichtMartianusrsquoAnkuumlndigung nach der hinleitenden Erzaumlhlung in denBuumlchern 1 und 2keine fiktionalen Erzaumlhlungen mehr einfuumlgen zu wollen die Darstellung solleernst und dem Gegenstand angemessen sein

nunc ergo mythos terminatur infiuntartes libelli qui sequentes asserentnam fruge vera omne fictum dimoventet disciplinas annotabunt sobriaspro parte multa nec vetabunt ludicra (2 220)

Nun also hat der Mythos sein Ende erreicht es beginnen die Buumlcher die die nun anschlie-szligenden Kuumlnste darbieten Denn mit wahrhaftiger Ernte entfernen sie alles Erdichtete undzeichnen die Kuumlnste nuumlchtern auf verbieten jedoch nicht gelegentliche Unterhaltung

stehen sie am Ende von Einzelabschnitten wo sie diese dann rekapitulieren und fuumlr densbquoSchuumllerlsquo zusammenfassen Bisweilen kommt ihnen auch eine Uumlberleitungsfunktion zuldquo (Kin-dermann 1969 63) ndash Zur Gattung allgemein allerdings mit besonderem Fokus auf die mittel-alterliche Literatur vgl Pabst 1994 bes 105ndash 133 zum Prosimetrum bei Martianus und 158ndash 195bei Boethius sowie Dronke 1994 bes Kap 2 (bdquoAllegory and the mixed formldquo) So auch McDonough der im Kapitel bdquoThe function of the poetryldquo zu Recht (aber zu kurzgreifend) formuliert bdquoIn undertaking the compilation of his encyclopedia the main challenge toMartianus lay in maintaining the interest of his readers (and himself) in making palatable thearid factual account of the various disciplinesldquo (McDonough 1968 37)

2 De nuptiis als literarisches Werk 131

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Scheint es an dieser Stelle so als ob Mythos und Heiteres getrennte Dinge waumlrenzeigt der unmittelbare Fortgang zu Beginn von Buch 3 dass beide Begriffe letztlichAumlhnliches bezeichnen Hier am Beginn der Schilderung der freien Kuumlnste(3 221 f) erlaumlutert Martianus in einem weiteren Gedicht das als Dialog gestaltetist warum er von seinem Plan abweicht

Camena bringt Schmuck fuumlr das Werk mit (amicta fictis commenta ferre) AufMartianusrsquo Einwand keine Mythen mehr vorbringen zu wollen (mythi pulsi) er-widert sie es gehe nicht um Luumlge (nil mentiamur) sondern um Einkleidung(vestiantur Artes) ndash man koumlnne die Brautjungfern also die Allegorien der freienKuumlnste doch nicht nackt vorfuumlhren Daraufhin gibt sich Martianus geschlagenund die Handlung von Buch 3 beginnt

Abgesehen von der unterhaltenden Funktion die besonders durch die Ge-dichte an den Buchenden gewaumlhrleistet wird scheinen die metrischen Passagenfuumlr viele Forscher wahllos in das Werk eingestreut Typisch ist eine Aussage wieCrabbe sie trifft bdquoMartianus uses verse frequently at the beginning sometimes atthe end of books and erratically throughoutldquosup3sup1⁴

Natuumlrlich kann von einer systematischen Verteilung und einer argumenta-tionslogischen Anordnung wie bei Boethius nicht gesprochen werden Bei ge-nauerem Hinsehen wird jedoch deutlich dass die metrischen Abschnitte nichtwillkuumlrlich uumlber das Werk verstreut sindsup3sup1⁵

Die meisten metrischen Passagen finden sich in den Buumlchern 1 und 2 von Denuptiis Diese Buumlcher enthalten die einleitende Handlung die als fiktionale Er-zaumlhlung dargeboten wird Im Bericht von der Suche Merkurs nach der richtigenEhefrau und von Philologias Aufstieg in den Himmel finden sich neun metrischePassagen Es handelt sich dabei bis auf die drei Faumllle der an den Buchanfaumlngen(Buch 1) und Buchenden (Buch 1 und 2) stehenden Gedichte um Reden vonGoumlttern Diese fuumlhren die Handlung fort und dienen also nicht der Buumlndelung derGedanken oder der Erholung des Lesers Stattdessen scheint es Martianus darumzu gehen das Sprechen der Goumltter durch die metrische Gebundenheit als be-

Crabbe 1981 264 Eine Typisierung die z T von der Position der metrischen Passagenlosgeloumlst ist bietet McDonough seiner Ansicht nach sind die metrischen Partien hauptsaumlchlichfunktional bdquoThe poetry thus is primarily functional although this function varies from book tobookldquo (McDonough 1968 38) Als Funktionen benennt er fuumlr Buch 1 Handlungsfortfuumlhrung fuumlrBuch 2 Schmuck fuumlr Buch 3 Belehrung fuumlr den Rest Einfuumlhrung oder Entlassung derBrautjungfern oder Unmut uumlber Verzoumlgerung der Hochzeit Der Rest seien bdquooccasional piecesldquo(ibid 40) ndash Verspartien finden sich am Anfang der Buumlcher 1 2 3 4 5 6 7 und 9 sowie am Endeder Buumlcher 2 4 5 7 und 9 Die ungleiche Verwendung der Metra bei Boethius und Martianus laumlsst sich am besten alsEntwicklung verstehen wie es beispielsweise Kindermann (1969 60) tut Zur Kenntnis desMartianus bei Boethius vgl oben Anm 311

132 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

sonders zu markieren Dies gilt vor allem fuumlr markante Szenen zum Beispiel dieRede Jupiters in der Goumltterversammlung gegen Ende des ersten Buches (1 91ndash93)oder die orakelartige Auskunft Apolls (1 21 f)

Diese Beobachtung gilt daruumlber hinaus ebenso fuumlr die genannten Stellen inBuch 9 auch wenn es sich dort nicht um die Vorgeschichte oder einen weiterenliterarischen Rahmen handelt Jedoch ist eine Szene mit Goumlttergespraumlchen ein-geschoben in der die Goumltter unter anderem auch Verse verwenden Durch dieseReden in metrisch gebundener Form soll den entsprechenden Buumlchern also einehoumlhere Wuumlrde verliehen werden

Einen zweiten Fall stellen die Gedichte zu Beginn oder zu Ende eines Buchesin den Buumlchern 3 bis 9 dar In diesen Buumlchern praumlsentieren die Freien Kuumlnste ingeschlossenem Vortrag die Inhalte ihrer Wissenschaft Die Gedichte in einigenFaumlllen in auktorialer Erzaumlhlhaltung gestaltet uumlberbruumlcken die Fuge zwischen denBuumlchern und bieten eine Pause zwischen den langen Vortragspartien der Leserkann sich erholen Die Inhalte der Verspartien sind unterschiedlich es handeltsich zumeist um den Ein- oder Auszug einer Brautjungfer (4 327 4 423 f 8 8028 808 9 911ndash919) um die Fortfuumlhrung der Hochzeitshandlung (5 425 8 8059 888) um die Anrufung eines Gottes (6 567ndash574) oder um eine Wendung desAutors an den Leser (5 566 9 997ndash 1000)

Dieser Einsatz der Verspartien ist jedoch noch keine hinreichende Erklaumlrungfuumlr die Wahl des Prosimetrums Sie erklaumlrt sich besonders dadurch dass Marti-anus auf diese Weise sein Werk in die Traditionslinie von Texten einreiht die alsmenippeische Satiren bezeichnet werdensup3sup1⁶

Charakteristisch fuumlr diese spezielle Form der roumlmischen Satire ist der Wechselvon metrischen und prosaischen Partiensup3sup1⁷ Klassische lateinischsprachige Ver-treter der menippeischen Satire sind Varro (Saturae Menippeae) Seneca (Apo-colocyntosis) und Petron (Satyrikon) in der griechischen Literatur nutzen Lukianund Julian (Caesares) diese Form Inhaltlich lassen sich nur wenige Verbindungenzwischen den Werken ziehen und auch die Umsetzung der formalen Elemente istunterschiedlich Dies fuumlhrt sogar so weit dass sich moderne Forscher trotz derbereits antik bezeugten Bezeichnungder Gattung teilweise auszligerstande sehen dieGattung genauer zu definieren oder dass sie ihre Fragestellung losgeloumlst von derGattungstradition verfolgensup3sup1⁸ Dies macht die Verortung von De nuptiis in diesemGenre nicht leichter

Zur menippeischen Satire vgl Relihan 1993 Coffey 1996 Im Gegensatz dazu beschraumlnkt sich die Verssatire seit Horaz auf die Verwendung desHexameters So betont Scheible im Vorwort ihrer Studie zu den Gedichten in Boethiusrsquo de consolationedass sie Vorgaben der Tradition in Hinblick auf die Gedichte nicht beruumlcksichtige ndash sie lieszligen

2 De nuptiis als literarisches Werk 133

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Gelegentlich wird sogar die These vertreten dass sich das satirische ElementinDe nuptiis in dieser formalen Verbindung von Prosaund Poesie erschoumlpfesup3sup1⁹DerGattungsbegriff sbquomenippeische Satirelsquo waumlre dann identisch mit der BezeichnungsbquoProsimetrumlsquo Dem widersprechen jedoch verschiedene Beobachtungen derRuumlckgriff auf die Etymologie des Wortes satura die Bezugnahme auf Vertreter derGattung und das Auftreten einer Figur namens Satura sowie deren Agieren dasuumlber die rein formale aumluszligerliche Satireform hinausweist schlieszliglich die beson-dere Gestaltung der Erzaumlhlsituation Diese vier Elemente sollen im Folgendenherausgearbeitet werden

Etymologie ndash Dass Martianus sein Werk sehr wohl als Satire verstanden wissenwill wird an verschiedenen Stellen deutlich Dies geschieht zum Beispiel durchgelehrte Anspielungen auf die Terminologie der antiken Satire an prominenterStelle So heiszligt es in 9 998

[Satura] haec quippe loquax docta doctis aggeransfandis tacenda farcinat immiscuitMusas deosque disciplinas cyclicasgarrire agresti cruda finxit plasmate

So haumluft sie plappernd Gelehrtes auf Gelehrtes und stopft geheimes und bekanntes Wissenzusammen hatMusenundGoumltter vermischt undhat sich erdacht dass die enzyklopaumldischenDisziplinen in einem baumlurischen Machwerk unreifes Zeug daherplappern

Die Woumlrter farcinat und immiscuit verweisen auf das Zusammenstopfen undVermischen verschiedener Zutaten z B in einer Wurst oder Pastete Gleiches giltfuumlr die Woumlrtermiscillo und aggeranssup3sup2⁰ Ausgangspunkt fuumlr diese Terminologie istdie Etymologie desWortes sbquoSatirelsquo an sich bedeutet urspruumlnglich etwaswie sbquobunteMischunglsquosup3sup2sup1 Traditionell sind Anspielungen auf diese Etymologie in der satiri-

sich nicht feststellen (Scheible 1972 8) Vorhandene Untersuchungen beschreiben in der Regeldie Konstituenten der einzelnen Werke Aufgrund der geringen Zahl uumlberlieferter Werke und dergroszligen Unterschiede zwischen ihnen ist es jedoch schwierig die typischen Elemente der Gat-tung zu benennen Auch diese Arbeit schlieszligt sich dem beschreibenden Vorgehen an undvergleicht an einschlaumlgigen Stellen inwieweit die Beobachtungen auch fuumlr die Gattung typischsind So z B Coffey der die Mischung aus Prosa und Poesie bei Martianus als bdquomiscellanyldquobezeichnet und vor einer Verbindung von De nuptiis mit der Satire als problematisch warnt(Coffey 1996 959) Vgl Relihan 1993 14 ErnoutMeillet s v satur -ra -rum (2001 596) WaldeHofmann s v satura (2007 II482f) Der zentrale Hinweis auf eine Ableitung des Wortes aus dem kulinarischen Bereich findet

134 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

schen Literatur selten Allein in Juvenal findet sich ein Hinweis darauf gleichwohlmit leicht anderem Verstaumlndnis Er betrachtet die Zusammenstellung der Satirenals farrago also als Mischgericht nicht die einzelne Satiresup3sup2sup2

In diesen sehr bildlichen Wendungen trifft Martianus gleichzeitig eine Aus-sage uumlber sein Verstaumlndnis der Darstellung von Bildungswissen Bei ihm gibt eskeine vorverdauten und mundgerecht aufbereiteten Wissenspaumlckchen (wie Ma-crobius sie bietet)sup3sup2sup3 sondern rohe Kost (cruda) die ihre Zutaten d h die lite-rarischen oder inhaltlichen Urspruumlnge nicht leugnet LeMoine formuliert prauml-gnant bdquoBy calling attention to the literary functions these metaphors fulfillMartianus hellip raises questions about the principles of seamless synthesis andverbal regurgitation which Macrobius so effectively demonstratesldquosup3sup2⁴

Dass Martianus durch diese Art der Darstellung seine Autoritaumlt infrage stelle(bdquohellip reveal doubts about the competence of the cook and the quality of the edu-cational feastldquo)sup3sup2⁵ laumlsst sich jedoch nicht erkennen Schlieszliglich benennt er seinVorgehen explizit (scheitert also nicht an einem gesteckten Plan) und bietetgleichzeitig mit der Kritik an der klassischen Form der Wissensvermittlung eineMoumlglichkeit an wie nicht-vereinheitlichte Wissensvermittlung aussehen kannBeeintraumlchtigungen des Vertrauens zum Erzaumlhler und zu den Inhalten gibt esallerdings ndash jedoch aufgrund anderer Faktorensup3sup2⁶

Bezug auf andere Satiriker ndash Neben den Anspielungen auf die Etymologie derGattung Satire treten explizite Bezuumlge auf andere Autoren menippeischer Satirenauf Namentlich wird jedoch keiner der Vorgaumlnger genannt die Nennung Varroserfolgt ausschlieszliglich in den Vortraumlgen der Brautjungfern und bezieht sichuumlberwiegend auf Varros fachschriftstellerische Werke oder seinen Ruf als Enzy-klopaumldistsup3sup2⁷

sich beim Grammatiker Diomedes (Grammatici Latini 1 485) Ausgehend von dieser Passageeroumlrtert Petersmann die Etymologie mit besonderer Beruumlcksichtigung des Ursprungs des Wortessatura aus dem Kuumlchenbereich (Petersmann 1986) Iuv 1 86 nostri farrago libelli Vgl die Kommentare Morton Braund 1996 95 f undCourtney 1980 103 Vgl die Gleichnisse in der praefatio zu den Saturnalia (Sat praef 5ndash9) und die Ausfuumlh-rungen in Kap II1 sowie die dort aufgefuumlhrte Literatur LeMoine 1991 360 ibid S u die Abschnitte bdquoErzaumlhlinstanzenldquo und bdquoDeutungen der komplexen literarischen Formldquo 4 335 (die Gelehrsamkeit Varros vgl Cic ac 1 9 Aug civ 6 2) 5 517 (Nennung in einemZitat) 6 639 und 6 662 (Fragen der Geographie die Varro-Vorlage ist nicht bekannt) 9 928 (cfVarro rust 3 17 4) Vgl zum Verhaumlltnis von Martianus und Varro bes Bovey 2003 Kap 2 (bdquoLaquestion varronienneldquo) und Schievenin 2009f

2 De nuptiis als literarisches Werk 135

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Allerdings zitiert die Wendung ὄνος λύρας in 8 807 den Titel einer menip-peischen Satire Varrossup3sup2⁸ Die Wendung ist in der lateinischen Literatur ander-weitig nicht belegt weshalb davon auszugehen ist dass Martianus hier auf denrepublikanischen Satiriker direkt zuruumlckgriff Da die Wendung zudem im Streit-gespraumlch zwischenMartianus und Satura uumlber die angemessene Art des Erzaumlhlensder Geschichte faumlllt kommt ihrer Verwendung eine programmatische Aussage zuMartianus stellt sich und sein Werk also in die Nachfolge Varros und seiner Sa-tiren

Ein Bezug auf Lukian ist weniger sicher nachzuweisensup3sup2⁹ Allerdings gibt eseine motivische Uumlbernahme im zweiten Buch von De nuptiis Philologias Erbre-chen des Wissens das der Hochzeit vorausgeht hat eine Parallele in LukiansDialog Lexiphanes Der allzu (ein)gebildete Lexiphanes nimmt auf Draumlngen vonLycinus ein Brechmittel ein das ihm der Arzt Sopolis gibt Daraufhin erbricht eralle Woumlrter die er gelernt hat dies ist die Voraussetzung dafuumlr dass er nun an-gemessen belehrt werden kannsup3sup3⁰

Es handelt sich um die Fragmente Varro Men 348ndash369 In Fragment 349 findet sich dieWendung auch im Vers (si quis μελωδεῖν est ὄνος λύρας praesepibus se retineat forensibus ndashsbquower beim Gesang wiersquon Esel an der Harfe bloumld der bleib getrost im Stallmief seines Forumsdortlsquo [Uumlbs Krenkel]) Die Bezugnahme auf Varro ist umso wahrscheinlicher da Satura unmit-telbar zuvor sowohl Martianusrsquo berufliche Aufenthalte auf dem Forum erwaumlhnt und ein Wort-spiel mit seinem Namen Capella angestellt hat ndash der zwar nicht sbquoEsellsquo bedeutet wohl aber einHaustier (sbquoZiegelsquo)Vgl dazu Shanzer 1968c 38ndash40 Shanzer 1986a kritisch dazu Pabst 1994 168(m Lit) Folgt man Bovey handelt es sich bei der unmittelbar folgenden Wendung καιρὸν γνῶθιum einen weiteren Verweis auf den Titel einer Varro-Satire γνῶθι σεαυτόν (= Varr Men 199ndash210 vgl Bovey 2003 282ndash284) Naumlher liegt wohl dass Martianus Capella diese eigenstaumlndigeSentenz (vgl Diogenes Laertios I 79 der sie als Sentenz des Pittakos ausweist) aus einer anderenQuelle uumlbernommen hat Kindermann 1969 60 Shanzer geht davon aus dass Martianus Lukian kannte (Shanzer1986c 36) Zur Diskussion um Martianusrsquo Griechischkenntnisse vgl Cristante 2009 [5] undShanzer 1986c 4 die beide annehmen dass Martianus durchaus Griechisch beherrschteShanzer weist einige Stellen auf an denen Martianus woumlrtlich uumlbersetzt und schlieszligt aus derBeherrschung des Griechischen zu Recht auf einen gebildeten moumlglicherweise sogar akade-mischen Hintergrund von Martianus Lucian Lex 20f Andere antike Texte die das Erbrechen von Wissen als Teil des Reini-gungsprozesses beschreiben oder als Bild tradieren sind mir nicht bekannt Daher ist eswahrscheinlicher dass Martianus auf Lukian im Original zuruumlckgegriffen hat Zur vor-byzantinischen Rezeption Lukians vgl Nesselrath 1994 der spaumltantike Bezuumlge auf Lukian u abei Julian und Claudian aufzeigt ndash Einen Bezug auf Lukians Concilium deorum fuumlr moumlglich haumlltKrapinger 1999 962 ndash Anders gelagert sind Lucian cont 7 und Aug in Joh ev tract 36 1 Dortgeht es darum dass durch das Ausspeien Wissen weitergegeben wird was zum Bild der daserbrochene Wissen aufsammelnden Artes passt nicht jedoch zum Motiv der Reinigung

136 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Bezuumlge auszligerhalb der Uumlbernahme uumlblicher Gattungselemente lassen sich fuumlrSenecas Apocolocyntosis Petrons Satyricon oder Julians Caesares nicht konsta-tierensup3sup3sup1

Die Figur der Satura und ihr Handeln ndash Einer der deutlichsten Hinweise auf dieForm der Satire liegt im Auftreten einer Figur namens Satura Diese Figur wirdzunaumlchst von Martianus als Erzaumlhlinstanz eingefuumlhrt (1 2) von der er den Inhaltvon De nuptiis erfahren haben will Im Laufe des Werks gewinnt Satura aber anProfil und agiert zunehmend autonom

Aussagen uumlber Satura beruhen letztlich auf drei Stellen in De nuptiis (6 576ndash5798 806ndash8109997ndash999) und koumlnnen fast ausschlieszliglich aus der Formund derBotschaft ihrer eigenen Aumluszligerungen gewonnen werden An allen drei Stellendiskutiert Satura mit Martianus Ansonsten ist Satura zwar als praumlsent zu denkenwird aber nicht weiter thematisiert

Nach Martianusrsquo Anrufung Minervas zu Beginn des sechsten Buches mischtsich Satura in seine Uumlberlegungen ein welche Frauen er vor sich sehe Die Ein-mischung wird von Martianus als scherzend bezeichnet (iocabunda 6 576) dieEinmischung an sich als typisch fuumlr das Scherzen Saturas (ut lepidula est 6 576)Die Aumluszligerung Saturas beginnt mit Spott uumlber Martianusrsquo nur scheinbare KlugheitDurch falsche naumlchtliche Studien und besonders seine Anwaltstaumltigkeit habe erden Blick auf das Wichtige verloren und erkenne nun nicht einmal mehr Philo-sophia und Paideia Der Scherz wird jedoch alsbald von einem belehrendenTonfall abgeloumlst in dem Satura Martianus uumlber das Wesen der beiden Frauenaufklaumlrt

Satura tritt als Naumlchstes zu Beginn des achten Buches auf in der Folge derSilen-Szene Der angetrunkene Silen war eingeschlafen und durch Amor aufge-schreckt worden was die uumlbrigen Goumltter laut lachen lieszlig (8 803ndash805) DieseSchilderung provoziert bei SaturaWiderspruch da sie das Erzaumlhlte als unpassendfuumlr die Goumltterversammlung empfindet Ihre Kritik beginnt wieder bei der Persondes Martianus dessen Namen sie als passend zu seinem Wesen deutet (Capella ~sbquoZiegelsquo 8 806) Sodann fordert sie Martianus auf seine Possen zu unterlassenMartianus fuumlhlt sich gehoumlrig von Satura gemaszligregelt und gibt klein bei bemerktaber dass sie ansonsten mehr von Scherzen halte (alioquin lepidula 8 807) AlsSatura dann die Einfuumlhrungder eintretenden Brautjungfer in Versenvorbringt undMartianus wiederum seine Scherze (ludicra 8 808) vorhaumllt kann dieser nicht

Mit Julian verbindet Martianus immerhin die Ansiedlung der Goumltterversammlung auf derMilchstraszlige ndash Zur Rolle der Saturnalien vgl den Abschnitt bdquoDeutungen der komplexen litera-rischen Formldquo

2 De nuptiis als literarisches Werk 137

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mehr an sich halten und zahlt Satura ihre Kritik in gleicher Muumlnze heim Nacheinigem Spott uumlber Saturas Verse verteidigt nun Martianus das Recht auf Scherzgegen sie die an sich ndash nicht aber in De nuptiiswie es scheint ndash eigentlich fuumlr denScherz zustaumlndig waumlre und gibt ihr mit Martial (2 41 1) den Rat auch einmal zulachensup3sup3sup2

Ein letzter Schlagabtausch von Satura und Martianus erfolgt schlieszliglich amEnde des Werkes Wiederum streiten beide Figuren miteinander und halten sichmit Spott uumlber das Wesen des anderen nicht zuruumlck

Die Einfuumlhrung Saturas die ja nur in Verbindung ndash und das heiszligt Ausein-andersetzung ndash mit Martianus erscheint dient vornehmlich der deutlichenBenennung der Gattung und der Verstaumlndigung daruumlberwas den Charakter einessatirischen bzw des vorliegenden Werkes ausmache Erstaunlich ist dabei Mar-tianusrsquo Entwicklung der sich zunaumlchst gegen Unterhaltung im artes-Teil ausge-sprochen hatte diese spaumlter aber gegen den censorischen Eingriff Saturas imachten Buch verteidigt Noch erstaunlicher ist aber dass es gerade Satura ist diezur Beachtung des Decorums auffordert und Martianusrsquo vergleichsweise mildenScherz scharf tadelt

Erzaumlhlinstanzen ndash Die Frage nach der Erzaumlhlsituation bzw der Erzaumlhlerfigurgehoumlrt zu den grundlegenden Analysekriterien eines literarischenWerkes ebensowie die Konzipierung von Raumund Zeit Lassen sich die letzten beiden Punkte imHinblick auf De nuptiis hinreichend klaumlrensup3sup3sup3 so bietet die Erzaumlhlerfigur groumlszligereSchwierigkeiten

DassDe nuptiis zwei Erzaumlhlinstanzen hat scheint zu Beginn desWerkeswenigdramatisch In 1 2 verweist der Erzaumlhler Martianus gegenuumlber seinem Sohn dar-auf dass die folgende Geschichte (also der uumlberwiegende Teil von De nuptiis) ihm

Ride si sapis o puella ride Schievenin bietet eine gruumlndliche Analyse dieser Stelle auchmit Blick auf die inverse Vorlage Martials (plora si sapis o puella plora Mart 2 41) derwiederum auf Ovid (Ov ars 3 281 f) zuruumlckgreift (Schievenin 1984 bes 136 ausfuumlhrlich auchBovey 2003 275ndash288) Die Rahmenhandlung spielt in der erzaumlhlerischen Gegenwart und in einem unbestimmtenRaum der jedoch nicht auszligergewoumlhnlich ist es liegt nahe an Karthago und das Haus desMartianus Capella zu denken Die eigentliche Handlung spielt an z T unwirklichen Orten aufder Erde die zumeist nicht naumlher bestimmt sind (z B Philologias Herkunft) und auf derMilchstraszlige wobei die absolute Zeit nicht genannt wird aber aufeinanderfolgende Tage inihrem Ablauf erkannt werden koumlnnen Die Phantastik einzelner Szenen die meist auf alle-gorische Darstellungsweisen zuruumlckgeht verletzt jedoch nicht die raumlumliche oder zeitlichePlausibilitaumlt des Dargestellten Vgl dazu auch die Ausfuumlhrungen und grafischen Veranschau-lichungen LeMoines (1972a)

138 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

waumlhrend langer Winternaumlchte (eine Anspielung auf Gellius)sup3sup3⁴ von Satura be-richtet wurde Der antike wie moderne Leser duumlrfte sich wohl kaum daran stoszligensondernwird darin vor allem eine Inspiration des Autors durch Satura (auchwennes das zuvor noch nicht gab) erkennen Bei der Erwaumlhnung von Satura koumlnnte erHeiteres erwarten oder bunt gemischte Geschichten

Vollkommen verwirrt wird der Leser hingegen spaumltestens dann wenn er amEnde des Werkes in der Sphragis angekommen ist (9 997ndash 1000) Dort reflektiertMartianus sein literarisches Vorgehen in den vorausgegangenen neun Buumlcherngenauer gesagt distanziert er sich von der Form der Darstellung (Umfang Bunt-heit) und verweist auf die Verantwortung Saturas die die Geschichte erzaumlhlt habe

Habes anilem Martiane fabulam 997Miscillo lusit quam lucernis flamineSatura Pelasgos dum docere nititurArtes daggercagris vix amicas AtticisSic in novena decidit voluminahaec quippe loquax docta doctis aggerans 998fandis tacenda farcinat immiscuitMusas deosque disciplinas cyclicasgarrire agresti cruda finxit plasmate (9 997 f)

Da hast du Martianus eine Altweibergeschichte sie verfertigte im Spiel mit vermischterInspiration [d h in Prosa und Vers] bei Kerzenschein Saturawaumlhrend sie sich bemuumlhte diePelasger zu lehren die Kuumlnste die den Griechen kaum freundlich [d h neu] sindSo gelangte sie hinab bis zum neunten Buch haumluft plappernd Gelehrtes auf Gelehrtes undstopft geheimes und bekanntes Wissen zusammen hat Musen und Goumltter vermischt und hatsich erdacht dass die enzyklopaumldischen Disziplinen in einembaumlurischenMachwerk unreifesZeug daherplappern

So ungewoumlhnlich dieses Vorgehen auch ist ndash Martianus haumltte ja den Bericht Sa-turas als Grundlage nehmen und dann nach eigenem Geschmack umgestaltenkoumlnnen ndash wird es uumlbertroffen durch die Verteidigung Saturas Sie weist die Ver-antwortung fuumlr die Art der Erzaumlhlung von sich und verteidigt sichmit demHinweisauf Martianusrsquo intellektuelle Schwaumlche der sie die Ausfuumlhrungen habe anpassenmuumlssen

Vgl Gell praef 4 zur Erklaumlrung der Wahl des Titels Noctes Atticae fuumlr sein Werk

Sed quoniam longinquis per hiemem noctibus in agro sicuti dixi terrae Atticae commentationeshasce ludere ac facere exorsi sumus idcirco eas inscripsimus noctium esse Atticarum hellip

Aber weil wir in langen Naumlchten den Winter uumlber in Attika auf dem Landwie schon gesagtdiese Anmerkungen im Spiel und dann ernsthaft begonnen haben daher haben wir ihnenden Namen Attische Naumlchte gegeben hellip

2 De nuptiis als literarisches Werk 139

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

haec ipsa nauci rupta conscientia 999turgensque felle ac bili bdquomulta chlamydeprodire doctis approbanda cultibuspossemque comis utque e Martis curia[hellip]ab hoc creatum Pegaseum gurgitem 1000decente quando possem haurire poculoldquo (9 999 f)

Sie sagte aufgrund ihres Wissens um die Nichtigkeit (dieser Ausfuumlhrungen) verletztschwellend vor Bitterkeit und Zorn bdquoIch koumlnnte hier freundlich auftreten mit einem Gewandbekleidet lobenswert durchgelehrtes Verhaltenwie aus der VersammlungdesMars [Es folgtdie Schilderung der unguumlnstigen Anlagen von Martianus] ndash Wann koumlnnte ich mit ange-messenem Becher aus einem pegasischen Strom von ihm erschaffen schoumlpfenldquo

Somit hat das Werk das zu Beginn zwei hierarchisch geschiedene Erzaumlhler zuhaben scheint am Ende zwei Erzaumlhler die sich gleichberechtigt uumlber die Form dererzaumlhlten Geschichte streitensup3sup3⁵

Die Inkonsistenzen auf der Erzaumlhlebene setzen sich daruumlber hinaus fort HatteMartianus zu Beginn des Werks gesagt Satura habe ihm die Geschichte waumlhrendlangerWinternaumlchte erzaumlhlt so treten Satura undMartianus amEnde desWerks inder erzaumlhlerischen Gegenwart gemeinsam auf und sprechen beide nacheinanderzu Martianusrsquo Sohn

Weiterhin erscheinen Satura und Martianus innerhalb der Geschichte dieMartianus angeblichvon Satura gehoumlrt hatWaumlhrend die Goumltter denverschiedenenBrautjungfern lauschenwohnen auch SaturaundMartianus der Versammlungbeiund betrachten sie als unbeteiligte ZuschauerWie aus einer Theaterloge herauskommentieren und diskutieren sie das Geschehen das auf der bdquoGoumltterbuumlhneldquostattfindetsup3sup3⁶

Noch einen weitergehenden Schritt stellt die Silen-Szene zu Beginn des achtenBuches dar Im Anschluss an diese Szene beschwert sich Satura bei Martianus erkoumlnne die Goumltter nicht auf dieseWeise agieren lassen In der Folge entspinnt sich einGespraumlch in demMartianus seine Art des Erzaumlhlens gegen Satura verteidigt die fuumlreine zuruumlckhaltendere Darstellung plaumldiert (s o)Von der Fiktion dass Martianusseinem Sohn bloszligwiedergibtwas Satura ihm erzaumlhlt hat bleibt nichtmehr viel dieganze Szenerie ist ein Produkt der ErfindungdesMartianus gleichzeitigwohnt er ihraber gemeinsam mit Satura bei ist also Teil der Handlung

So bereits Pabst 1994 120 Anm 119 der allerdings auf eine Diskussion der Beobachtungverzichtet Es handelt sich um die Stellen zu Beginn des sechsten und des achten Buches die imvorigen Abschnitt bereits paraphrasiert wurden

140 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Diese Art der Spiels mit der Erzaumlhlerrolle wird von manchen modernen For-schern als ein wichtiges Merkmal der menippeischen Satire angesehen Hinzu-treten kann die Selbstherabsetzung des Erzaumlhlers die sich an seinemmangelndenWissen Stilbewusstsein Traditionsempfinden o auml entzuumlndetsup3sup3⁷ Folglich kanndie zunaumlchst befremdliche Brechung und Verzerrung als weiteres Merkmal derGattung menippeische Satire bestimmt werden

Aufgrund dieser Beobachtungen ist es zwingend in De nuptiis vor allem eineSatire zu sehen Auch der heiter-spoumlttische Charakter einiger Passagen zwischenden Vortraumlgen der Brautjungfern passt zum satirischen Anspruch Gelegentlicherscheint es jedoch fraglich ob es sich wirklich um satirische und nicht eher umkomische oder derbe Spaumlszlige handelt Die Szene in der Silen betrunken einschlaumlftund von den anderen Goumlttern verspottet wird (8 803ndash805) erinnert mit ihremSlapstick eher an den derben Spott der Komoumldie als an die Satire eines Varrosup3sup3⁸

22 Deutungen der komplexen literarischen Form

Wie laumlsst sich das Werk De nuptiis nun also formal beschreiben oder andersgefasstWie lassen sich die vier literarischen Traditionsstraumlnge zusammenfuumlhrenDass eine einheitliche Lesung zumindest versucht werden muss zeigt bereits dasLeitmotiv der Hochzeit ansup3sup3⁹

Im Kern handelt es sich bei MartianusrsquoWerk um eine Sammlung bedeutenderWissensschaumltze in einem einzigen Werk die darin systematisch ausgebreitetwerden Dies zeigt die Einteilung in verschiedene Disziplinen die ein ver-

Zur Erzaumlhlerrolle in der menippeischen Satire vgl u a Relihan 1993 und darin bes S 35 Mit der Aufnahme unterhaltsamer Elemente ginge Martianus sogar noch uumlber dieErwartungen an ein sbquosatirischeslsquo Werk hinaus Auch Boethius wird bescheinigt er erzaumlhle seineConsolatio bdquoper satiramldquo auch wenn bei ihm weder eine Figur Satura auftritt noch allzu vielHeiterkeit herrscht (Peiper zitiert in der Einleitung zu seiner Ausgabe S xxxi eine mittelalter-liche Boethius-Vita vgl Kindermann 1969 61)

hos libros [scil de consolatione Philosophiae] per satiram edidit imitatus videlicet mar-cianum felicem capellam qui prius libros De nuptiis philologiae et mercurii eadem speciepoematis conscripserathellip

Diese Buumlcher schrieb er als Satire freilich in Nachahmung des Marcianus Felix Capellader zuvor die Buumlcher uumlber die Hochzeit der Philologie mit Merkur in der gleichen Art vonGedicht verfasst hatte

Zum Motiv der Hochzeit das bereits programmatisch im eroumlffnenden Hymnus anHymenaeus erscheint vgl Schievenin 2009c und Cristante in der Einleitung seiner Ausgabe1987 3ndash 10

2 De nuptiis als literarisches Werk 141

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

gleichsweise leichtes Auffinden der Informationen erlaubtsup3⁴⁰ die Bedeutung wirdangesichts der Praumlsentation vor den Goumlttern auf der Milchstraszlige deutlich Alleinder Umfang dieser Vortraumlge die in sich auch nicht gestoumlrt oder gebrochenwerdenmarkiert dass es sich hier um das zentrale Charakteristikum des Werkes handelt

Den erzaumlhlerischen Anlass fuumlr diese Praumlsentation bietet eine Hochzeitsfeieralso ein Symposion hier ist die Gelegenheit fuumlr die groszligen Redebeitraumlge gegebenZudem bietet die SymposionformAnknuumlpfungspunkte fuumlr eine Rahmenhandlungdie zur Auflockerung der ebenso ausfuumlhrlichenwie trockenen Einzelreden genutztwird

Doch bleibt es ndash im Gegensatz z B zu Macrobius ndash nicht bei der bloszligenDarstellung der Wissensinhalte Hinzu tritt die allegorische Darstellung der Be-deutung von Wissen und von Fleiszlig beim Wissenserwerb in den ersten beidenBuumlchern Die praumlsentierten Inhalte der Buumlcher 3ndash9 (die Philologia ja bereits aufder Erde in Buch 2 besitzt) sindwichtig Sie sind nicht nur wichtig fuumlr das irdischeLeben (das wird nicht weiter thematisiert die explizit irdischen Wissenschaftenwie Architektur und Medizin werden sogar ausgeschlossen) ndash die Inhalte sindauch wichtig fuumlr die menschliche Vervollkommnung

Durch das angesammelte Wissen erreicht der Mensch zwar nicht die voll-kommene Erkenntnis (die erhaumllt auch Philologia nur ohne eigenes Zutun als sieauf der houmlchsten Himmelssphaumlre angekommen zum Vatergott in der jenseitigenGluumlckseligkeit betet) wohl aber ein goumlttergleiches Wissensup3⁴sup1 Der Wissenserwerbist gewissermaszligen die Voraussetzung dafuumlr dass der Mensch mit Hilfe einesgoumlttlichen Begleiters in den Himmel aufsteigen kann unsterblich wird und voll-kommene Einsicht erlangt

Die so weit kohaumlrente Verbindung der literarischen Traditionen laumlsst aller-dings den explizit satirischen Anspruch von De nuptiis auszliger Betracht durch denMartianus selbst das Werk primaumlr in die Gattung der Satire einordnet waumlhrendvergleichbare Bezuumlge zu anderen Gattungen fehlen Natuumlrlich lieszlige sich dieserprogrammatische Anspruch mit einem Verweis auf die Verwendung des Begriffszur Bezeichnung einer inhaltlich wie literarisch gemischten Form erklaumlren Dochgreift diese Erklaumlrung zu kurz da das Agieren Saturas die literarischen Passagendes Werks beinahe als Travestie erscheinen laumlsst (vgl oben zur Erzaumlhlerfigur) Einbildend-enzyklopaumldisches Werk kann sich allerdings nicht gefahrlos als Satire

So auch Englisch 1994 56 Die bdquoSystematik bei der Praumlsentationldquo erlaube einen leichtenZugriff auf die Informationen Mart Cap 2 201ndash205

142 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

praumlsentieren ohne Zweifel an der Glaubwuumlrdigkeit und Zuverlaumlssigkeit desWerkes und der praumlsentierten Inhalte zu weckensup3⁴sup2

Wenn Martianus auch die Konventionen der Gattung menippeische Satireaufnimmt und sein Werk also nur folgerichtig unter anderem eine unzuverlaumlssigeErzaumlhlsituation aufweist ist dies noch keine Erklaumlrung an sich Die regelkonformeUmsetzung gattungstypischer Anspruumlche erklaumlrt noch nicht die Wahl der Gattungan sich ndash einer Gattung die trotz ihrer Benennung als solche nicht zu denStandardformen und akzeptierten Gattungen zaumlhlte insbesondere nicht fuumlrLehrwerkesup3⁴sup3

Auch Martianusrsquo Verweis auf etwas bislang noch nicht Unternommenes(nescioquid inopinum intactumque 1 2) vermag den Widerspruch nicht zu loumlsenDie Wendung zeigt zwar dass Martianus die Ungewoumlhnlichkeit seines Ansatzesbewusst war (sofern sich die Phrase uumlberhaupt auf die Komposition des Werkesbezieht)sup3⁴⁴ beseitigt aber nicht das interpretatorische Problem ZuwelchemZweckverbindet Martianus also zwei so widerspruumlchliche Gattungen wie Enzyklopaumldieund Satiresup3⁴⁵

Drei Antwortansaumltze lassen sich grob umreiszligen 1 Die Verbindung ist nuraumluszligerlich bzw oberflaumlchlich 2 durch die Verbindung soll ein bestimmter Aspektparodiert und somit Spott und Kritik ausgesetzt werden 3 die Verbindung erfuumlllt

Dieses Problem hat bereits Westra in seinem Aufsatz bdquoThe juxtaposition of the ridiculousand the sublime in Martianus Capellaldquo benannt (Westra 1981) Allerdings beschraumlnkt sich auchdieser Aufsatz auf die Darstellung des Problems und die Zusammenstellung der Belege EineLoumlsung hat Westra nicht anzubieten ndash sein Aufsatz endet mit der eher apologetischen Bemer-kung das Eingestaumlndnis der Unvereinbarkeit von Satire und Lehrwerk durch Martianus in 9 997sei prima facie ein Spiel dahinter stecke jedoch die Absicht Problembewusstsein zu demon-strieren und Verantwortung fuumlr die unterlassene Loumlsung zu negieren bdquoEven though I would claim that prose and verse must be present in an ancient Menippeansatire it must be seen as one of a number of shocking juxtapositions of oppositesldquo (Relihan 198760) ndash In der Folge kann die prosimetrische Form durchaus auch Mittel belehrender Werkewerden vgl Pabst 1994 133 Denkbar (und wohl wahrscheinlich) waumlre auch dass damit die Inhalte besonders desMythos gemeint sind Der Verweis auf Unterhaltung fuumlhrt nicht zum Kern der Frage denn die satirische Formstellt mehr dar als reine Unterhaltung Auch das horazische Diktum ridentem dicere verum quidvetat ndashsbquolachend das Wahre zu sagen ndash was spricht dagegenlsquo (Hor serm 1 1 23) als Kern vonMartianusrsquo Satireverstaumlndnisses greift zu kurz ebenso wie vergleichbare Konzeptionen in derLiteratur Dort geht es bei Belehrung immer um einzelne philosophische Saumltze (nie beispiels-weise um die Vermittlung von Philosophie an sich) Folglich bezeichnet das bdquoverumldquo nichtkognitives Lernen sondern moralisches Der grundlegende Unterschied zur Konzeption desMartianus liegt somit auf der Hand Vgl zu diesem Aspekt im Allgemeinen z B Shanzer 1986c42 und im Speziellen u a Woytek 1986 339ndash345 Keulen 2009 bes Kap 2 und 3

2 De nuptiis als literarisches Werk 143

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

einen literarischen und belehrenden Zweck zugleich Aufgrund der komplexenSachlage und der unmittelbaren Bedeutung der Beantwortung der Frage nachdieser Verbindung fuumlr das Gesamtverstaumlndnis von De nuptiis werden alle Alter-nativen vorgestellt und bewertet

Rein formale Verbindung von Satire und EnzyklopaumldieEventuell laumlsst sich die Mischung aus enzyklopaumldischen und satirischen Ele-menten (mit den zur Satire gehoumlrigen Verspartien) als Sonderform der Varro-Re-zeption bei Martianus auffassenVarro von Reate verfasste sowohl umfangreicheFachliteratur als auch menippeische Satiren Fuumlr beides war er in der Antikebekannt und beruumlhmt ndash doch ist es wahrscheinlich dass Martianus die Werkebereits nicht mehr ndash oder allenfalls nur in Auszuumlgen ndash vorliegen hattesup3⁴⁶ Aus demWissen um die beiden Schaffensbereiche des republikanischen Autors die beideder Unterweisung dienen solltensup3⁴⁷ koumlnnte Martianus auf den Gedanken verfallensein die literarischen Formen und Inhalte in seinem Werk zu verbindensup3⁴⁸Vielleicht saszlig er auch einemMissverstaumlndnis auf indem ermeinte dass Varro seinsatirisches wie enzyklopaumldisches Koumlnnen in nur einem Werk demonstriert habeDies hieszlige jedoch dass Martianus sich der Problematik dieser Verbindung nicht

So aumluszligert sich beispielsweise Kindermann in den Vorstudien seiner Ausgabe der Conso-latio des Laurentius von Durham Er billigt Martianus nur eine sekundaumlre Varro-Kenntnis zu(Kindermann 1969 60) Entschieden verneint wird die Frage von Schievenin (2009f) und Hadotdie vor allem neuplatonische Quellen vermutet (Hadot 2005 149) Schneider jedoch nimmt andass sowohl Augustin als auch Martianus die Disciplinae noch vorliegen hatten (Schneider 1999109 f) und dass die Satiren-Exzerpte des Nonius Marcellus (fl um 400 in Afrika) ebenfalls ausdem Originaltext Varros angefertigt wurden (ibid 96 Anm 12) Abwaumlgend aumluszligert sich Huumlbner2004 passim Vgl Cic ac 1 8 (es spricht Varro)

et tamen in illis veteribus nostris quae Menippum imitati non interpretati quadam hilaritateconspersimus multa admixta ex intima philosophia multa dicta dialectice quae quo faciliusminus docti intellegerent iucunditate quadam ad legendum invitati

Jedoch findet sich in meinen fruumlhen Schriften die ich in kreativer Nachfolge (und nicht nurUumlbersetzung) Menipps mit einer gewissen Heiterkeit benetzt habe vieles aus den Kernbe-reichen der Philosophie beigemengt und vieles das nach Art der Dialektiker gesagt istdamit die weniger Gelehrten es leichter verstuumlnden nachdem sie durch eine Art von Scherzzur Lektuumlre ermuntert worden sind

Vielleicht hatte Martianus diese Stelle sogar im Kopf als er die Anlage von De nuptiis plante So z BWeinreich in der Einleitung zu seiner Uumlbersetzung roumlmischer Satiren bdquoMartianusCapella glaubte gewiszlig ein Varro redivivus zu sein sozusagen die Quintessenz des Gelehrten unddes Satirikersldquo (Weinreich 1962 XCIII) Ebenso Shanzer 1986c 42

144 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

bewusst gewesen sei ndash was ihm sicher nicht gerecht wird Auszligerdem wird so dieBezugnahme auf weitere formale Elemente der menippeischen Tradition und dieuumlbrigen Vorlaumlufer der Gattung mit anderer Konzeption (Lukian Julian) nichtausreichend beruumlcksichtigt

Ebenfalls beim Autor koumlnnte eine zweite Erklaumlrung ansetzen Im Zuge derAbfassung seiner Enzyklopaumldie hat sichMartianus nach horazischer Vorgabe (unddem Beispiel Varros)sup3⁴⁹ um Auflockerung und heitere Elemente bemuumlht Diespontanen Einfaumllle wurden ins Werk integriert und die sich daraus ergebendenInkonsistenzen entweder uumlbersehen oder billigend in Kauf genommen Beideswuumlrde gut zum klassisch negativen Martian-Bild in der Forschung passensup3⁵⁰Abgesehen davon dass Annahmen uumlber das Vorgehen beim Schreiben weitge-hend auf Spekulation beruhensup3⁵sup1 widersprechen drei Beobachtungen dieser Er-klaumlrung Erstens gelingt es Martianus De nuptiis uumlber neun Buumlcher vorauszu-planen so dass am Ende ein ndash zunaumlchst abgesehen von der Satire-Problematik ndashkohaumlrentes Werk entsteht Die Fuumllle der behandelten Themen Motive und lite-rarischen Elemente weist eher auf ein planvolles Arbeiten hin und macht es un-wahrscheinlich dass Martianus Probleme an dieser Stelle nicht wahrgenommenbzw nicht korrigiert haumltte Zweitens ist die Verbindungvon Satire und den anderenElementen nicht nur oberflaumlchlich so dass sie nachtraumlglich eingefuumlgt sein koumlnnteoder sich im Schreibprozess so ergeben haben koumlnnte Da bereits im zweitenKapitel des ersten Buches Satura eingefuumlhrt wirdwar sie von vornherein Teil des

Gemeint ist das beruumlhmte zunaumlchst nur fuumlr die Dichtung relevante prodesse aut delectare(Hor ars 333 f) zu Varro vgl die schon angefuumlhrte Stelle aus Cic ac Vgl z B die sehr bildliche Beschreibung von C S Lewis bdquo[hellip] this universe which hasproduced the bee-orchid and the giraffe has produced nothing stranger than Martianus Capella[hellip] the curiosity shop of his mind [hellip] a chaos beside which the work of Rabelais has unity andthat of Mandeville probabilityldquo (Lewis 1936 78 f) Gleiches gilt fuumlr Spekulationen uumlber eine andere Auffassung von Literatur und ihrenRegeln in Martianusrsquo Zeit oder Umfeld Einerseits kennen wir keine Texte die sich mit De nuptiisvergleichen lieszligen (was per se nichts beweist aber doch Indiziencharakter hat) andererseitshielten sich auch die spaumltantiken Autoren uumlblicherweise an die klassischen Vorgaben Ich teiledaher auch Schneiders Ansicht nicht der die Skepsis an dieser Verbindung allein der modernenLeseerfahrung zuschreibt bdquoWenn den Heutigen diese Kombination der forcierten Gelehrsamkeiteines Curriculums und der spielerisch-saloppen Causerie seltsam beruumlhren mag so waumlre dazuimmerhin schon an ein ciceronisches Dictum zu erinnern non est enim seiunctus iocus a phi-lologia (ad fam 16214) ndash sbquoSpieltrieb und Pedanterie diktieren und widersprechen sich nichtlsquo(sbquoErste Fruumlhschichtlsquo aus Grassrsquo sbquoHundejahrelsquo)ldquo (Schneider 1999 94 Anm 2) Der Verweis aufCicero traumlgt nichts zum Verstaumlndnis von Martianus bei Cicero geht es an der zitierten Stelle umden Ablauf des Tages mit seinem Schuumller der aus ernsteren und heitereren Abschnitten bestehtDaraus folgt nicht dass das Lernen mit Scherz verbunden ist ndash auszligerdem duumlrfte Cicero unteriocus (sbquo[urbaner] Scherzlsquo) anderes verstanden haben als Martianus in seiner Satura bietet

2 De nuptiis als literarisches Werk 145

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Kompositionsplans Drittens hat Schievenin gezeigt dass Martianus keineswegsoberflaumlchlich und eigenwillig arbeitet Durch eine gruumlndliche Untersuchung derSilen-Passage (8 803ndash805) kann er nachweisen dass Martianus ndash wie vieleAutoren vor ihm ndash uumlber ein umfangreiches literarisches Wissen verfuumlgte daraufbei der Abfassung seines Werkes zugreifen konnte und durch gezielte Anspie-lungen neue Bezuumlge herstelltesup3⁵sup2

Satire als Mittel der KritikWaumlhrend die antike Satire (im Gegensatz zur modernen) nicht zwangslaumlufig Kritikan Missstaumlnden uumlben wollte ist diese Moumlglichkeit umgekehrt auch nicht auszu-schlieszligen Martianus koumlnnte also bewusst eine solide Darstellung der Kuumlnste inliterarischem Gewandmit der Gattung der Satire verbunden haben um Zweifel ander Ernsthaftigkeit der uumlbrigen Teile des Werkes zu wecken Er wuumlrde somit einaufklaumlrerisches Interesse verfolgen das zugleich auch unterhaltsame Zuumlge traumlgt

Eine erste Schwierigkeit dieser Lesart von De nuptiis ergibt sich bereits bei derFrage nach dem Objekt der SatireWerden die Wissensinhalte in Zweifel gezogenoder nur die Art ihrer Vermittlung in langen Reden bzwTraktaten Soll der Glaubean die umfassende Einheit des Wissens kritisiert werden oder die Vorstellungsaumlmtliches Wissen lasse sich vermitteln gar kohaumlrent in einem Werksup3⁵sup3 Ist dieVorstellung dass Wissen goumlttlich mache parodiert oder nur die abwegige Vor-stellung dass auf einer Hochzeit solche Reden gehalten werden Oder richtet sichdie Kritik letztlich gegen die Auffassung Philologia als Vorbild zu sehen oder garals Mittlerin alles Wissens ja sogar als Mittlerin zwischen Menschen und Goumlttern

Aus der Tatsache dass das Objekt der Satire keineswegs leicht zu bestimmenist kann nicht gefolgert werden dass in De nuptiis keine Satire vorliege die be-stimmte Sachverhalte kritisiere Aber es kann durchaus gefolgert werden dass eskeine expliziten textinternen Merkmale gibt die das Lesen steuern und den Ge-genstand der Kritik deutlich hervortreten lassen Die Deutungen gehen also vonmodernen Annahmen uumlber das Umfeld bzw die Gedankenwelt von Martianus aus

Im Kern handle es sich um bdquouna narrazione tersa e brillanteldquo verbunden mit einemDickicht an Verweisen Die Silen-Szene habe einen bdquocarattere colto e della dottrina e dellalingualdquo (Schievenin 1984 132) Das Fazit seiner Untersuchung formuliert Schievenin folgen-dermaszligen bdquoIl De nuptiis si rivela dunque opera di vasti orizzonti non solo per lrsquointento dida-scalico che la pervade e che ne determineragrave la fortuna ma anche per la costante presenza nellafabula della tradizione classica e dei suoi echildquo (ibid 136) Vgl zu dieser Stelle auch Bovey2003 275ndash288 ndash Den geschickten Umgang mit mehreren Quellen ndash erzaumlhlerisch wie seman-tisch ndash kann Schievenin auch fuumlr 7 725ndash727 nachweisen (Schievenin 2009e) So z B Relihan 1993 138 bdquoMartianus writes not an encyclopedia but a Menippean satirethat parodies encyclopedic knowledgeldquo

146 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

und weisen zudem meist nicht kleinschrittig auf wie der Interpret zu seiner (oftapodiktisch dargelegten) Ansicht gelangt

Nun folgt daraus noch nicht dass Martianus De nuptiis nicht als kritisierendeSatire konzipiert haumltte die Vielzahl der (wenn auch differierenden) modernenDeutungenweist ja darauf hin Zwei Uumlberlegungenwenn auch keine schlagendenBeweise lassen die Hypothese der parodierenden Satire unwahrscheinlich wer-den der Umfang von De nuptiis und seine Rezeption Eine Satire die beispiels-weise die Verbindung von Weltwissen und menschlicher Vervollkommnung in-frage stellt benoumltigt nicht noch eine umfassende Darlegung eben diesenWissensDies gilt besonders da diese Darlegung den Hauptteil des Werks ausmacht und ndashzumindest dem Umfang nach ndash die uumlbrigen Partien weit uumlberragt Eine Deutungvon De nuptiis als kritischer Satire muumlsste also besonders die Frage beantwortenzu welchem Zweck die umfangreichen Darstellungen der Freien Kuumlnste aufge-nommen sind (und nicht nur angedeutet werden)

Die Rezeption eignet sich zwar ebenfalls nicht zu sicheren Ruumlckschluumlssen aufdie originale Intention eines Werkes haumlufig bietet sie aber interessante EinblickeDie Martianus-Rezeption stellt sich bald ein Cassiodor beruft sich in seinen In-stitutiones auf ihn Dort erscheint Martianus nicht als Satiriker oder Zeitkritikersondern als Gelehrtersup3⁵⁴ In dieser Tradition wird Martianus auch im Mittelaltergelesen und rezipiertsup3⁵⁵

Aumlhnliches laumlsst sich fuumlr Boethiusrsquo Anknuumlpfen an die prosimetrische Form inder Ausgestaltung von Martianus sagen Boethius verfasst zweifelsfrei keine kri-tische Satire kann aber trotzdem an die Form und den Inhalt von De nuptiisproblemlos anknuumlpfen Sowohl der Form nach wie auch durch einzelne Zitatemacht er deutlich dass erDe nuptiis kennt und als eine seiner Vorlagen benutzt Esist zu bezweifeln dass Boethius in seinem Bemuumlhen um eine adaumlquatewerbendeDarstellung der Philosophie auf Form und Zitate des Martianus zuruumlckgegriffenhaumltte haumltte er nicht die Moumlglichkeit der gefahrlosen Uumlbernahme gesehen

Satirische Elemente als Mittel der BelehrungDer dritte Erklaumlrungsansatz fuumlr die Verbindung von Satire und Belehrung be-trachtet die Wahl Saturas als Figur und die Bezugnahme auf die Gattung zunaumlchst

Cassiod inst 2 2 17 Zur mittelalterlichen Martianus-Rezeption vgl bes Nuchelmans 1950 Lutz 1971 und 1976Willis 1973 sowie die Ausgaben und Literatur u a zu folgenden Werken Konrad von MureFabularius Hugo von Sankt Victor Didascalicon de studio legendi Johannes von SalisburyMetalogicon Kindermann kann weiterhin nachweisen dass De nuptiis auch durch seine Forminspirierend gewirkt hat (Kindermann 1969 61 f)

2 De nuptiis als literarisches Werk 147

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

als reine Fortsetzungder literarischen Form Fuumlr diese spezielle Formder Literaturdie menippeische Satire hat der russische Literaturwissenschaftler MichailBachtin Beobachtungen aufgestellt die auch fuumlr De nuptiis zutreffen Durch denRuumlckgriff auf zwei zentrale Konzepte Bachtins das Karnevaleske und die Dialo-gizitaumlt wird ein Verstaumlndnis von De nuptiis ermoumlglicht

Auf der Suche nach Vorlagen und Urformen der Gattung des Romans ins-besondere in der Form von Dostojewskis Romanen stieszlig Bachtin unter anderemauch auf die menippeische Satire die er bis in die Antike zuruumlckverfolgtesup3⁵⁶ Zuihren Vertretern zaumlhlt er unter anderem Varro Apuleius Petron Seneca oderLukiansup3⁵⁷ Martianus Capella wird nicht erwaumlhnt was aber nicht verwundernmuss da Bachtin keine Literaturgeschichte der menippeischen Satire schriebsup3⁵⁸

Kern der Uumlberlegungen Bachtins zurmenippeischen Satire ist das Konzept desKarnevals Unter Karneval versteht er folkloristische Feste waumlhrend deren diebestehende Ordnung verkehrt wird uumlbliche Regeln nicht mehr gelten Herr-schende gestuumlrzt und Machtlose maumlchtig werden ndash auf Zeit Die Karnevalisierungalso die Uumlbernahme der Kennzeichen dieses Festes in neue oder bestehende li-terarische Formen institutionalisiert diese Ausnahmesituation und loumlst sie vomkonkreten Fest Der so entstandene Text wird bdquozum karnevalesken Spiel an demder Autor und sein Publikum einverstaumlndlich teilhaben und das keines kalen-darisch oder institutionell abgesicherten Karnevalsrahmens mehr bedarfldquosup3⁵⁹

Diese Karnevalisierung fuumlhrt unter anderem zu einer Vielstimmigkeit vonMeinungen und Positionen im Text z B durch mehrere Figurenvon denen keinebevorzugt oder gar als autoritativ gekennzeichnet wird In dieser Dialogizitaumlt wirdkein allgemein guumlltiger Sinnmehr vermittelt sondern dieWahrheit suspendiertsup3⁶⁰

Dass der Bezug auf karnevalsartige Feste der Gattung menippeische Satire (inTeilen auch der Verssatire) eignet zeigt ein kurzer Blick auf wichtige Vertreter derTradition

Julians Symposion Caesares spielt zur Zeit der Saturnalien Die Bedeutungdieses Festes fuumlr das Werk wird dadurch verdeutlicht dass es den Handlungs-

Bachtin 1971 126ndash 135 Bachtin 1971 126 128 132f Kritik an den z T pauschalisierenden und verfaumllschenden Aussagen Bachtins uumlber antikeLiteratur oder an der ununterbrochenen Traditionslinie von der Antike bis in die Moderne (z BRelihan 1987 59 Lachmann 2006 23ndash25) muumlsste auch auf manche moderne Literaturwissen-schaftler in der Nachfolge Bachtins angewandt werden (vgl Branham 2005 6 wo es uumlberSenecas Apocolocyntosis heiszligt bdquoour only extant Menippean satire in Latinldquo) Teuber 1993 182 Eine gut verstaumlndliche Einfuumlhrung in das Konzept der Dialogizitaumlt im Sinne der bach-tinschen Terminologie bietet Sharland 2010 Einfuumlhrung (1ndash51)

148 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

rahmen fuumlr den in der Folge erzaumlhlten Mythos bildet Bereits im ersten Satz wirdauf das Fest und die Tradition Heiteres frei zu erzaumlhlen Bezug genommensup3⁶sup1

Auch Senecas Apocolocyntosis stellt einen engen Bezug zum Saturnalienfesther Das Werk spielt zwar nicht an den Saturnalien sondern am Todestag desClaudius im Oktober doch wird an zwei Stellen eine Verbindung zwischen derHerrschaft des verstorbenen Kaisers und den dargestellten Sitten waumlhrend derRegierungszeit mit dem Saturnalienfest gezogensup3⁶sup2 Manche Interpreten gehensogar davon aus dass die Apocolocyntosis an den Saturnalien des Jahres 54vorgetragen wurdesup3⁶sup3 Auch bei Petron und Horaz finden sich Bezugnahmen aufdie Saturnaliensup3⁶⁴

Ein zentrales Element des Saturnalienfestes liegt in der Suspension der uumlb-licherweise geltenden Normen und Wertesup3⁶⁵ Neben den anderen Elementen desFestes wie sie z B in Macrobiusrsquo Saturnalia (1 7ndash 10 1 24 22 f) beschriebenwerden (traditionelle Geschenke Festmahl fuumlr die Sklaven etc) hat gerade dieUmkehrung der Herrschaftsverhaumlltnisse im Haus Niederschlag in der Literaturgefunden

Gerade durch diese Rolleninversion treten einige wichtige gesellschaftlicheNormvorstellungen und Grundannahmen prominent hervor Dazu zaumlhlt das Be-wusstsein dass es eine befehlende und eine ausfuumlhrende Gruppe von Menschengibt oder dass im Prinzip ein Rollenwechsel moumlglich sein kann Alle Beteiligten

Ἐπειδὴ δίδωσιν ὁ θεὸς παίζειν ndash ἔστι γὰρ Κρόνια ndash hellip (sbquoDa der Gott das Scherzen erlaubt ndashes sind ja die Kronia helliplsquo Caes 1 = 306a Spanheim) Zur Frage ob es sich bei Caesares auch umdas Werk handle auf das zu Ende der Rede auf Koumlnig Helios verwiesen wird (Or in Sol reg 44 =157c Spanheim) vgl Muumlller in seiner Uumlbersetzung (39 ablehnend) und Lacombrade im Vorwortseiner Budeacute-Ausgabe (3 und 18 Anm 3) der aufgrund des Handschriftenbefundes Kronia auchals Titelbestandteil fuumlr die Caesares uumlbernimmt Es handelt sich um Sen apocol 8 1 (Claudius als Saturnalienprinz) und 12 2 (Herrschaftdes Claudius als andauerndes Saturnalienfest) ndash Dass Lukian nicht auf die Saturnalien alsRahmen fuumlr seine Werke zuruumlckgreift entwertet die Beobachtungen nicht Lukian musste auf-grund seines Selbstbewusstseins als satirischer Schriftsteller und aufgrund der Menge seinersatirischen Schriften nicht jedes Mal einen eigenen literarischen Rahmen herstellen in demeinzelne Dialoge stattfinden konnten Das Saturnalienfest selbst erscheint bei Lukian als Ge-genstand der Satire nicht als deren literarische Rahmung (Τὰ πρὸς Κρόνον) Zuerst bei Furneaux 1896 23 Anm 11 In der neueren Forschung vgl bes Nauta 1987Kritisch dazu u a Doumlpp 1993 159 f Petron 44 3 58 2 69 9 zu Horaz vgl z B serm 2 7 (libertas Decembris) Ein gelungenesBeispiel der Anpassung und Anwendung der bachtinschen Konzepte mit Ertrag fuumlr die Inter-pretation unter Einbezug von serm 2 7 bietet Sharland 2010 Distelrath 1999 114 Vgl weiterhin Versnel 1993 136ndash227 und Doumlpp 1993 Eine plastischeSchilderung der Rollenvertauschung bei der der Sklave dem Herrn die Leviten liest bietet Horserm 2 7

2 De nuptiis als literarisches Werk 149

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Herren wie Sklaven spielen also mit den Moumlglichkeiten einer alternativen Wirk-lichkeit

Das Besondere im Spiel mit den Moumlglichkeiten liegt aber in seiner zeitlichenBegrenzung Nach der Zeit des Ausnahmezustands gelten wieder die normalenimmer guumlltigen Regeln Die Rolleninversion erlaubt also ndash oder erzwingt gera-dezu ndash das Nachdenken uumlber bestimmte gesellschaftliche Normen und Wertvor-stellungen Durch die Ritualisierung und enge zeitliche Begrenzung ist darausjedoch keineswegs die Notwendigkeit entstanden die Verhaumlltnisse tatsaumlchlich zuhinterfragen oder gar zu aumlndern Daher lassen sich die Saturnalien auch als ein dieKonventionen bestaumlrkendes Fest verstehen Das Spiel mit der Moumlglichkeit eineranderen Gesellschaftsordnung hat durch seine Ritualisierung letztlich eine dieTradition legitimierende Funktion bekommen

In De nuptiis finden sich jedoch houmlchstens spaumlrliche Hinweise auf das Sa-turnalienfest Am ehesten weist das grob scherzende Agieren Saturas in diesenBereich Die bdquolangen Winternaumlchteldquo (1 2) koumlnnten (statt als Bezug auf Gellius) alsAnspielung auf das Saturnalienfest verstandenwerden ndash die Saturnalien finden inden laumlngsten Naumlchten uumlberhaupt statt seit der Kaiserzeit vom 17 bis 23 DezemberDies ndash wie die Spekulation uumlber eine spielerische etymologische Verbindung vonSatura und Saturnaliensup3⁶⁶ ndash ist aber insofern nicht von Belang da die Gattung alsGanze karnevaleske Zuumlge traumlgt und als gewissermaszligen institutionalisierter Kar-neval vom eigentlichen Fest losgeloumlst istsup3⁶⁷

Die Aufhebung der uumlblichen Ordnung (was Teuber im Ruumlckgriff auf Limina-litaumltskonzepte als praumlliminale Phase bezeichnet)sup3⁶⁸ beginnt mit der VorbereitungPhilologias zum Aufstieg in den Himmel Bereits das Erbrechen stellt eine mar-kante Umkehrung der alltaumlglichen Welt dar Statt sich Wissen anzueignen er-bricht Philologia es nun In der Goumltterversammlung auf der Milchstraszlige ist dieOrdnung sodann voumlllig verkehrt Philologia als Meisterin aller Disziplinen und

Zwar sind die einschlaumlgigen etymologischen Woumlrterbuumlcher skeptisch (v a WaldeHof-mann 2007 II 482 neutral ErnoutMeillet 2001 596) jedoch gibt es dahin gehende moderneDeutungen (aufgefuumlhrt bei WaldeHofmann 2007 II 482) und auch antike ParallelisierungenCic nat deor 2 64 Saturnus hellip est appellatus quod saturaretur annis (sbquoSaturn hellip wurde ergenannt weil er an Jahren gesaumlttigt istlsquo) Fulg myth 1 2 (p 17 16) a saturando Saturnus dictusest (sbquoDa er (die Menschen) saumlttigt wurde er Saturn genanntlsquo) Aug cons euang 1 23 35 Sa-turnus tamquam satur hellip νοῦς (sbquoSaturn gleichsam der gesaumlttigte hellip νοῦςlsquo) Vgl auch Gowers diedie etymologischen Verbindungen von satura Satyrspiel und Saturnalien untersucht (Gowers1993 109ndash 117) Sie kommt zu dem Befund dass keine Verbindung bestehe wohl aber verbin-dende Elemente identifiziert werden koumlnnten bdquocarnival licence parody uninhibited mockeryand excessive consumptionldquo (ibid 117) Vgl z B Teuber 1993 183 f Teuber 1993 183

150 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

bedeutende Lehrinstanz muss sich ihrerseits belehren lassen ndash mit dem Wissendas urspruumlnglich ihres war

Durch die Inversion wird die (vielleicht uumlblicherweise nicht prominente)Philologia in den Mittelpunkt geruumlckt und ihre zentrale Rolle im Wissenssystemtritt markant vor Augen Gleichzeitig kann darin eine leise Anfrage an ihre Lehr-autoritaumlt und eventuell auch ihre Eignung zur Lehre gesehen werden

Aufgrund des zeitlich begrenzten Rahmens der Verkehrung (diemit dem Endeder Vortraumlge voruumlber ist aber nicht explizit zuruumlckverwandelt wird) dessen Be-grenztheit durch Bezug auf die Form der menippeischen Satire ergaumlnzt werdenkann wird das System der Bildung und der Bildungsvermittlung jedoch nichtgrundsaumltzlich infrage gestellt Die Suspendierung Philologias ist temporaumlr

Dem Konzept der Dialogizitaumlt oder Mehrstimmigkeit folgend erklaumlrt sich auchdie Doppelung und Verunklarung der Erzaumlhlinstanz In den drei Dialogen indenen Satura und Martianus aufeinandertreffen behandeln sie die Frage desrichtigen Erzaumlhlens Dies beschraumlnkt sich nicht nur auf die Satire sondern umfasstalle auftretenden literarischen Formen Martianus und Satura sind sich uneinswie weit der Mythos reichen soll und ob eine Enzyklopaumldie trocken oder auchunterhaltsam erzaumlhlt werden soll (2 219ndash3 222) ob ein Symposion auch Zechenund Spaszlig vertraumlgt (8 803ndash810) oder ob und wie stark Satire Dinge vermischendarf (9 997ndash 1000)

Die unterschiedlichen Meinungen zu den Fragen werden zwar diskutiert undfuumlhren zu einem Ergebnis ndash der Erzaumlhlfluss versiegt ja an keiner Stelle oder setztneu an Allerdings entsteht in der Folge kein homogenes Werk und am Schlussmag keiner der beiden Erzaumlhler dafuumlr die Verantwortung uumlbernehmen Der Wi-derwillen sich zu dem Werk zu bekennen bedeutet aber gleichzeitig auch dassMartianus sich nicht festlegt welche Position er fuumlr die richtige haumllt Die Fragenach der rechten Art der Wissensvermittlung die auch in der Ent- und Inthroni-sierung Philologias anklang bleibt unbeantwortet

Schlieszliglich bringt der Blick auf die Aurelian-Vita aus der Historia Augustanoch einen weiteren Aspekt ein Parallel zur Aufteilung der Erzaumlhlinstanzen in Denuptiiswird der Erzaumlhlprozess in derHistoria Augusta aufmehrere AutorenverteiltWie zuerst Hermann Dessau und in der Folge Ronald Syme nachdruumlcklich gezeigthaben handelt es sich allerdings um nur einen Verfasser der uumlberdies auch inBezug auf die Abfassungszeit falsche Angaben gemacht hat und Quellen erfundenhatsup3⁶⁹ Insofern laumlsst sich der in der Historia Augusta gepraumlgte Begriff der

Auf den Charakter der Sammlung die Syme u a als bdquohoaxldquo bezeichnet (1983a 11 1983b13 1983c 219) die fingierten Autoren die manipulierten Quellen etc soll an dieser Stelle nurhingewiesen werden Vgl auch Cameron 2011 Kap 20 mit ausfuumlhrlicher Diskussion relevanterFragen

2 De nuptiis als literarisches Werk 151

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mythistoria der Vermischung von Mythischem und Historischem auch auf dieSammlung selbst anwendensup3⁷⁰

Als Menippee im engeren Sinne laumlsst sich weiterhin die Aurelian-Vita die 26Vita der Sammlung fassen und bezeichnenderweise spielt die Rahmenhandlungan denHilariasup3⁷sup1Wie zu den Saturnalien gehoumlren zu diesem Fest Scherze und ndash imRahmen von Maskierungen ndash Rollenwechselsup3⁷sup2

Noch in der rahmenden Einleitung zur Vita spielt sich folgender Dialog ab

1 et quoniam sermo nobis de Trebltellgtio Pollione qui a duobus Philippis usque ad divumClaudium et eius fratrem Quintillum imperatores tam claros quam obscuros memoriaeprodidit in eodem vehiculo fuit adserente Tiberiano quod Pollio multa incuriose multabreviter prodidisset me contra dicente neminem scriptorum quantum ad historiam pertinetnon aliquid esse mentitum prodente quin etiam in quo Livius in quo Sallustius in quoCornelius Tacitus in quo denique Trogus manifestis testibus convincerentur pedibus insententiam transitum faciens ac manum porrigens iocando[m] praeterea sbquoscribelsquo inquit sbquout

quae ille [scil Iunius Cordus] omnia exsequendo libros mythistoriis replevit talia scribendocum omnino rerum vilium aut nulla scribenda sint aut nimis pauca si tamen ex his morespossint animadverti qui re vera sciendi sunt hellip sed ex parte ut ex ea cetera colligantur(SHA Opil 1 5)

Bei der Anfuumlhrung von all diesen Informationen hat er die Buumlcher mit fabuloumlsen Ge-schichten angefuumlllt indem er Dinge von dieser Art schrieb wo doch uumlberhaupt keinenutzlosen Dinge geschrieben werden duumlrfen oder nur sehr wenige sofern daraus Verhal-tensweisen erkannt werden koumlnnen die wirklich wissenswert sind hellip aber zum Teil(schreibe ich) damit daraus das Andere gefolgert werden kann

quid Marius Maximus homo omnium verbosissimus qui et mythist[h]oricis se voluminibusinplicavit num ad istam descriptionem curamque descendit (SHA Quadr tyr 1 2)

Wie Hat sich Marius Maximus der groumlszligte Schwaumltzer vor dem Herrn der sich in seinenmythistorischen Werken verfangen hat etwa zu dieser Art der Darstellung und des sorg-faumlltigen Arbeitens herabgelassen

Hilaribus quibus omnia festa et fieri debere scimus et dici impletis sollemnibus vehiculo suome hellip Iunius Tiberianus accepit (SHA Aurelian 1 1)

An den Hilaria an denen alles zum Fest Gehoumlrende getan und gesagt werden muss wieman weiszlig empfing mich nach Erledigung der Zeremonien Iunius Tiberianus in seinemGefaumlhrt

Pausch bemerkt dieses besondere Datum zwar und erwaumlgt ob es sich um ein bdquoweitergehendesLesesignalldquo beispielsweise im Sinne karnevalesker Literatur handeln koumlnne verfolgt diese Spuraber nicht weiter (Pausch 2011 130 Anm 1) Herodian 1 10 5 ndash Einige Hinweise auf die Hilaria die im Kontext des Magna Mater-Festesam 25 Maumlrz gefeiert wurden bietet Fraser in seinem Kommentar zu Ovids Fasti (Fraser 1929244ndash248)

152 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

libet 2 securus quod velis dices habiturus mendaciorum comites quos historicae elo-quentiae miramur auctoreslsquo (SHA Aurelian 2 1ndash2)

1 Und weil unser Gespraumlch uumlber Trebellius Pollio der von den beiden Philippi bis zumvergoumlttlichten Claudius und dessen Bruder Quintillus gleichermaszligen uumlber beruumlhmte wieunbekannte Kaiser fuumlr die Nachwelt schrieb in derselben Saumlnfte stattfand behauptete erdass Pollio vieles ohne Sorgfalt und nur kurz dargelegt habe Ich erwiderte dass keinSchriftsteller sofern es um die Geschichte gehe nicht irgendwo gelogen habe und legtesodann dar worin sogar Livius Sallust Tacitus schlieszliglich sogar Trogus mit eindeutigenBelegen uumlberfuumlhrt werden koumlnnten Darauf sagte Tiberianus schlieszliglich scherzend indem ermeiner Meinung beipflichtete und mir seine Hand darbot bdquoSchreibe sowie du es fuumlr richtighaumlltst 2 Sage unbesorgt was du willst du wirst diejenigen als Gefaumlhrten fuumlr deine Taumlu-schungen haben die wir als Schoumlpfer historiographischer Beredsamkeit bewundernldquo

So sympathisch dieser Anspruch auch erscheinen mag ist er doch fuumlr das Ver-trauen in die Gattung der Geschichtsschreibung fatal Gerade in der Einleitungeiner Vita jedoch ndash zumal es der Fiktion nach die erste des Flavius Vopiscus Sy-racusius im Corpus der Historia Augusta ist ndash kann eine solche Anekdote ei-gentlich keinen Platz haben Sie erweckt beim Leser den Eindruck dass er dennachfolgend dargebotenen Informationen kein Vertrauen schenken duumlrfesup3⁷sup3

Die Parallelen zwischen der Historia Augusta insbesondere dem Vorgehen inder Vita Aureliani und De nuptiis liegen auf der Hand Verunklarung der Autor-schaft bzw der Erzaumlhlhaltung einerseits Erwecken von Zweifeln an der Glaub-wuumlrdigkeit des Dargebotenen andererseits

In der Historia Augusta sind die Inkongruenzen mit der Freude des Autors amliterarischen Spiel erklaumlrt worden Der Autor habe aus Freude am Fabulieren(vielleicht auchumein dafuumlr empfaumlngliches Publikum zu befriedigen) die Viten indieser Form verfasstsup3⁷⁴ Mag man dies fuumlr die Historia Augusta noch zugestehenderen Text uumlber einen laumlngeren Zeitraum vielleicht zunaumlchst ohne eine Gesamt-konzeption entstanden ist und auch sprachlich nicht herausragt stellt sich derSachverhalt fuumlr Martianusrsquo De nuptiis anders dar Das Werk hat durchaus einenliterarischen Anspruch und es folgt eindeutig einer vorab geplanten Gesamtan-lage Die Freude am Spiel mag vielleicht manches Detail beigesteuert haben fuumlrdie verschraumlnkte Anlage des Textes ist sie aber keine Erklaumlrung

Ganz anders ist der Anspruch zum Ende der Darstellung der Viten der bdquoDreiszligig Tyrannenldquoin dem der Autor beteuert seinem Werk mangele es zwar an literarischer Ausgefeiltheit nichtjedoch an Faktentreue da nunc cuivis libellum non tam diserte quam fideliter scriptum ndash sbquoGibnun dieses Buumlchleinwem du magst es ist nicht so sehr kunstvoll geschrieben wie es sachgetreuistlsquo (SHA Quadr tyr 33 8) Syme nennt dies bdquodeceit for its own sweet sakeldquo (1983c 217) Im gleichen Aufsatz spe-kuliert er auch uumlber das Interesse des Publikums an einer solchen Art von geistigem Spiel(ibid 221)

2 De nuptiis als literarisches Werk 153

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Es lohnt sich jedoch auch fuumlr die Historia Augusta einen Schritt weiter zugehen Ausgangspunkt dafuumlr ist die obige Beobachtungdass das literarische Spielder Historia Augusta nur durchschaut wer die Werke der historischen Literaturkennt Durch die Lektuumlre historiographischer Biographien bringt der Leser einebestimmte Leseerwartung also implizite Vorstellungen mit wie das Werk aus-sehen soll und wird Diese Erwartungen werden aber nicht oder nur teilweisebedient Formal gesehen weisen die Viten in der Historia Augusta zwar die Cha-rakteristika der Gattung auf ndash doch indem sie sie inhaltlich nicht adaumlquat aus-fuumlllen treten deren Konventionen vor Augen

Durch die uumlbermaumlszligige Verwendung falscher Verweise und erfundener Quel-len geraumlt zudem das Beglaubigungsverfahren historischer Texte in den Blick-punkt Der Leser erkennt anwelchen Stellenwelche Beglaubigungsmechanismenansetzen und auf welche Weise sie unterlaufen werden koumlnnen Uumlberspitzt lieszligesich behaupten DieHistoria Augusta verfolgt ein aufklaumlrerisches Interesse indemsie (spielerisch) aufzeigt welche Beglaubigungsverfahren die Geschichtsschrei-bung nutzt und wie sie manipuliert werden koumlnnen dadurch wird auch die Ma-nipulierbarkeit von Geschichte und Leser deutlich

In De nuptiis werden ebenfalls die Konventionen der Einzelgattungen ndash zu-mindest ansatzweise ndash hervorgehoben Dass kein perfektes Musterbeispiel derjeweiligen Einzelgattung entstehen kann liegt darin begruumlndet dass durch dieVerbindung der vier literarischen Genres keine oberflaumlchliche Konsistenz derFiktion entstehen kannVielmehr entstehen Bruumlche die ndash ebenso wie die Bruumlchein der Erzaumlhlhaltung ndash auch die Gattungskonventionen und ihre Annahmendeutlich werden lassen Dies gilt besonders fuumlr die Satire deren Vorgehen imKontrast zur eigentlichen Hochzeitshandlung aus dem Rahmen faumlllt und somitbesonderes Augenmerk erhaumllt Hinzu tritt mit der Figur Satura auch eine Perso-nifikation der Gattung die in theoretischen Diskussionen Annahmen und Vor-gehen mit Martianus eroumlrtert Grunduumlberlegungen der Gattung Satire werden sotheoretisch eroumlrtert und praktisch erprobt Gleiches giltwenn auch zT inwenigerdeutlicher Form auch fuumlr die anderen Formen Die Enzyklopaumldie in ihren langenMonologen wird durch Spott markiert die trockenen Kuumlnste werden probeweisedurch Allegorien zugaumlnglicher gemacht im Symposiondialog wird uumlberlegt in-wieweit uumlbliche Rollenmuster (der Zecher) einen Platz haben oder wie weit mandie fuumlr die Feier typischen Reden fuumlhren kann und immythischen Teil wird durchdie Gegenuumlberstellung mit dem handfesten Wissensbetrieb die Andersartigkeitdes Erzaumlhlens deutlich

So werden neben den Inhalten der Wissenschaften auch verschiedene lite-rarische Formen bewahrt Neben der reinen Anwendung und somit Tradierungwerden gleichzeitig auch die Mechanismen verdeutlicht deren sich die jeweilige

154 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Gattung bedient Somit wird ihr Funktionieren nachvollziehbar und in der Folgeauch nachahmbar

3 Zusammenfassung

Martianus weckt also durch die Wahl mehrerer gleichberechtigter Erzaumlhler diesomit das Erzaumlhlen unzuverlaumlssig werden lassen besonders aber durch dieUumlbernahme satirischer Gattungselemente ein Bewusstsein fuumlr die traditionellenGrundlagen desWissens- und Lehrsystems seiner Zeit ImGegensatz zur Satire diediese Fragen kategorisch stellt handelt es sich in De nuptiis um ein Spiel damitDer Satirebezug dient als Anknuumlpfung an die traditionellen Gattungsmerkmaleder menippeischen Satire Karnevaleske und Dialogizitaumlt

Durch die (temporaumlre) Rolleninversion richtet sich das Augenmerk aufPhilologia als Wissenszentrum und Wissensmittlerin und fordert zum Nach-denken daruumlber heraus Im Kern hinterfragt das Werk alle Bereiche die mit Bil-dung und Bildungsvermittlung zu tun haben Was sind die Inhalte wahrer Bil-dung Gibt es eine Einheit von Bildung Wie kann sie vermittelt werden

Allerdings zielt die Kritik nicht auf eine Aufloumlsung klassischer Bildungsinhalteund Vermittlungsformen Sie regt vielmehr durch Scherz und Bruumlche zumNachdenken uumlber diese Fragen an Dabei verzichtet Martianus auf eigene Vor-schlaumlge und Konzepte und festigt so gleichsam den traditionellen Bildungs-betrieb Das von ihm dargestellte Wissen wird kanonisiert und die Darstel-lungsform in langen Reden wird es auch Die mittelalterliche Rezeption von Denuptiis zeigt dies eindrucksvoll

Wissen umfasst dabei nicht nur das Faktenwissen der Vortraumlge sondern auchdas Wissen um bestimmte literarische Formen Durch die Verbindung von vierGattungen und die Doppelung der Erzaumlhlerfigur mit Reflexion uumlber angemessenesErzaumlhlen entstehen Inkonsistenzen die die Konventionen der einzelnen Gattun-gen hervortreten lassen Nicht alle Elementewerden auf dieseWeise deutlich aberMartianus bietet einen Ansatzpunkt die Fiktion auch unter der Fragestellung zulesen was einen Text der jeweiligen Gattung ausmacht ndash sowohl positiv wie ne-gativ formuliert

Mit seiner kreativen Konzeption und ihrer literarischen Umsetzung gelingt esMartianus eindrucksvoll Heiteres und Belehrendes zu verbindenwomit er an dieTradition Varros und die klassische antike Poetik anknuumlpft Es gelingt ihm daruumlberhinaus aber auchWissen zu vermitteln und die traditionellen Vorstellungen vonder Bedeutung dieses Wissens wie der Form seiner Vermittlung herauszustellenSpielerisch wird also gelehrt und hinterfragt nicht jedoch kategorisch kritisiertoder kuumlhn neu entworfen Gerade dadurch zeichnet sich Martianusrsquo De nuptiis

3 Zusammenfassung 155

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

tatsaumlchlich als nescioquid inopinum intactumque (sbquoetwas Ungewohntes und nochnie Gewagteslsquo 1 2) aus und macht es zu einem der bedeutendsten Buumlcher derSpaumltantike und zu einer interessanten Quelle fuumlr die Frage nach Bildungsvor-stellungen im fuumlnften Jahrhundert

156 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Page 10: Bildungsvorstellungen im 5. Jahrhundert n. Chr. (Macrobius, Martianus Capella und Sidonius Apollinaris) || III Martianus Capella, De nuptiis Philologiae et Mercurii

unkritischen Umgangmit seinen Quellensup2⁸⁰Meist liegt der Darstellungder Kuumlnstenicht jeweils eine Fachschrift zugrunde sondern sind mehrere Werke heran-gezogen und zusammengestelltsup2⁸sup1

Die Auswahl der Faumlcher erfolgt nicht willkuumlrlich Die Tradition der um-fassenden Bildung die sich hinter dem Begriff der ἐγκύκλιος παιδεία verbirgtsup2⁸sup2der von Martianus auch in lateinischer Uumlbersetzung verwendet wirdsup2⁸sup3 umfassteim Laufe der Jahrhunderte einen wechselnden Faumlcherkanon Im Kern waren je-doch immer sowohl sprachliche Faumlcher als auch im weiteren Sinne mathemati-sche Faumlcher darin vertretensup2⁸⁴ Die Siebenzahl war dabei nicht kanonisch eskonnten auch neun Faumlcher (Varro) dazugehoumlren oder ein nicht genau umrissenerFaumlcherkanon (Boethius)sup2⁸⁵

Gegenuumlber der Tradition stellt Martianusrsquo Faumlcherauswahl keine grundlegendeNeuerung dar Grammatik Rhetorik und Dialektik waren meist Bestandteil derumfassenden Bildung und auch Geometrie Arithmetik Astronomie und Musikgehoumlrten haumlufig dazusup2⁸⁶ Der Ausschluss weiterer Kuumlnste wie der Medizin und der

Vorlage ist an dieser Stelle Plinius (Plin nat 5 24f) Vgl Grebe 2000 354 Typisch ist dieEinschaumltzung Krapingers der De nuptiis ein niedriges fachliches Niveau bescheinigt (bdquoevidentesachliche Defiziteldquo Krapinger 1999 962) Vgl auch die Anrufung Minervas zu Beginn desQuadriviums 6 574 in der Martianus explizit um Inspiration in Bezug auf die griechischenKuumlnste bittet Ein Blick in den Similienapparat zeigt dass Martianus fuumlr das sechste Buch uumlber dieGeometrie hauptsaumlchlich auf drei Autoren zuruumlckgegriffen hat Solinus Plinius und Euklid Vglauch Willisrsquo Anmerkung in seiner Ausgabe non moris fuisse Martiano ut per integrum librumunum sequeretur auctorem (309) Sehr aufschlussreich ist beispielsweise die Untersuchung vonBarbara Ferreacute in der Einleitung zur Ausgabe (xxiv-xxvii) Vgl auch die Beitraumlge von Schievenin(2009a und 2009b) die neben der unmittelbaren Fragestellung auch eine weitere Einordnungbieten Einen konzisen und modernen Uumlberblick uumlber die Entwicklung des Konzeptes bietetRechenauer 1994 Die Monographie von Hadot (Hadot 2005) ist immer noch das Standardwerk 9 998 (disciplinae cyclicae) Hadot 2005 265ndash267 Marrou 1958a 2 Teil bes die Uumlbersicht 216ndash217 Rechenauer 1994Grebe 1999 37ndash50 Uumlber die Siebenzahl ihren Ursprung ihre Festlegung sowie ihre endguumlltige inhaltlicheFuumlllung ist bislang kein Konsens erzielt worden deutlich ist aber dass Martianus Capella undAugustin bei ihrer Kanonisierung und Ausgestaltung eine entscheidende Rolle gespielt habenbdquoLa question de lrsquoorigine du cycle des sept arts libeacuteraux est irreacutesolue et en partie insoluble maisles deux auteurs drsquoorigine africaine [Martianus Capella und Augustin] jouegraverent un rocircle con-sideacuterable dans le triomphe de ce programme drsquoeacutetude au moyen acircgeldquo (Zelzer 2003 249) ndash ZurNeunzahl der Faumlcher bei Varro als Anlehnung an die Musen vgl Huumlbner 2004 S die in Anm 284 genannte Literatur

2 De nuptiis als literarisches Werk 123

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Architektur wirdmit Verweis auf den fortgeschrittenenAbendund diemenschlich-praktische Seite der Faumlcher erklaumlrtsup2⁸⁷

Im Detail nimmt Martianus aber durchaus Aumlnderungen vor So geht es imneunten Buch von De nuptiis nicht um die Musik im Allgemeinen sondern um dieHarmonie Diese Umgewichtung steht sicher in Zusammenhang mit der verbin-denden und vereinigenden Grundkonzeption von De nuptiis die zu Beginn desersten Buches (1 1) durch den Hymnus auf Hymenaeus den verbindendenHochzeitsgott ausgedruumlckt wurdesup2⁸⁸ Unterstuumltzt wird diese Eigenwilligkeit durchdie praktische Darbietung von harmonischem Gesang der die theoretischenAusfuumlhrungen ergaumlnzt und steigert (9 911ndash919 9 996)

Auch bei der Behandlung der Geometrie in Buch 6 greift Martianus in dietraditionelle Darstellung des Wissens ein Anstatt die Ausfuumlhrungen auf geome-trische Fragen und Lehrsaumltze zu beschraumlnken erweitert Martianus sie um einenausfuumlhrlichen geographischen Teil der um einiges laumlnger ist als der geometrische(Geographie 6 586ndash703 Geometrie 6 705ndash723) Ferreacute erkennt dahinter vor al-lem ein literarisches Ziel Die vorhandene Stoffmenge zur Geometrie sei zu kleingewesen so dass Martianus sie habe erweitern muumlssen damit das sechste Buchnicht bedeutend kuumlrzer werde als die uumlbrigen Buumlchersup2⁸⁹

Veraumlndert Martianus also gelegentlich aus kompositorischen Gruumlnden dietraditionelle Darstellung der Kuumlnste so kann man dies auch in der Zusammen-fuumlhrung der vielen Spezialschriften in einemWerk erkennenUmfasst das Konzeptder ἐγκύκλιος παιδεία zwar einen breiten Faumlcherkanon an den sich Martianusauch weitgehend haumllt so ist die Darstellung aller Faumlcher in nur einem Werk un-gewoumlhnlich

Uumlblich war die Form der Abhandlung der die Beschaumlftigung mit einer Dis-ziplin zugrunde lag Als Beispiele kann auf nahezu alle antiken fachwissen-schaftlichen Schriften verwiesen werden Ausnahmen sind allein die Sammel-schriften die aber explizit andere Ziele verfolgen und keinen Fachbereichgruumlndlich bearbeiten

Diese Feststellung gilt auch fuumlr die anderen Autoren mit teilweise sbquoenzyklo-paumldischemlsquo Programm z B Augustin oder Boethius Augustins bdquoBildungspro-grammldquosup2⁹⁰ umfasste aumlhnliche Faumlcher wie Martianus sie versammelte doch ver-

9 890ndash891 Hadot nimmt an dass diese Disziplinen nicht per se als unwichtig angesehenoder in bewusster Abgrenzung von Varro ausgeschlossen worden seien sondern weil sie nichtzur bdquoSchau der goumlttlichen Weisheitenldquo fuumlhren wuumlrden (Hadot 2009 16) Zu dieser Stelle und zu dem im Hymnus ausgedruumlckten philosophisch-poetischen Pro-gramm vgl LeMoine 1972a 14 Stahl 1971 86 Relihan 1993 61 Schievenin 2009c So Ferreacute im Vorwort ihrer Ausgabe xlvi Den Begriff verwendet Studer 2007 522

124 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

fasste Augustin zu den einzelnen Disziplinen jeweils eine eigene Schrift (mit derFolge dass er nicht alle Faumlcher behandelt hatte als er das Projekt aufgab wohlaber einige Themen abgearbeitet und die Buumlcher erschienen waren)sup2⁹sup1 Aumlhnlichverhaumllt es sich mit Boethius der sich etwa einhundert Jahre spaumlter ebenfalls mitverschiedenen Wissensbereichen beschaumlftigte Trotz der Leistung des Martianussetzte Boethius sein Vorhaben aber so um dass er den verschiedenen Disziplineneinzelne Abhandlungen widmetesup2⁹sup2

Allein Varro hat seinem breiten Œuvre an Spezialschriften auch noch ein imengeren Sinne enzyklopaumldisches Werk zugefuumlgt die Disciplinae Darin beschaumlftigtsich Varro mit dem gleichen Faumlcherkanon wie Martianus (unter zusaumltzlicherAufnahme der Medizin und Architektur) Da das Werk aber verloren ist und auchnur spaumlrliche Testimonien vorhanden sind laumlsst sich nicht abschaumltzen inwieferntatsaumlchlich eine einheitliche Schrift vorgelegen hat und welches Ziel Varro mit ihrverfolgtesup2⁹sup3

MartianusrsquoWerkDe nuptiis ist die erste erhaltene Enzyklopaumldie der Antike undduumlrfte somit maszliggeblich zum heutigen Verstaumlndnis des Begriffs der Enzyklopaumldieals eines einzigenWerkes das alles Wissen enthaumllt beigetragen haben Der Grundfuumlr Martianusrsquo ungewoumlhnliches Vorgehen duumlrfte in dem augenscheinlichen Plander Verbindung aller Disziplinen liegen der auch zu Beginn des Werkes durch diePreisung des Hymenaeus ausgedruumlckt wirdsup2⁹⁴

Zu Augustins Plan vgl retract 1 6 (Per idem tempus quo Mediolani fui baptismum per-cepturus etiam disciplinarum libros conatus sum scribere ndash sbquoZu der Zeit als ich in Mailand balddie Taufe empfangen sollte habe ich versucht auch Buumlcher uumlber die Faumlcher zu schreibenlsquo)begonnen und teilweise erhalten sind gramm mus und evtl dialect Neben den Schriften zur Theologie und zur Logik sind die Schriften zur Arithmetik(arithm) zur Musik (mus) und zur Rhetorik (in top divis) zumindest teilweise erhalten Hinzukommen Uumlbersetzungen astronomicher und geometrischer Fachschriften Zu Boethiusrsquo Fach-schriften und seinem Programm vgl Chadwick 1981 69ndash107 Das spaumlrliche Wissen spiegelt auch die knappe Einfuumlhrung von Cardauns 2001 Sie um-fasst fuumlr die Disciplinae inklusive Literaturverweisen knapp zwei Seiten (77ndash78) und bietet wenigsichere Informationen Eine interessante gleichwohl stark negative Antwort auf die Zusammenstellung derKuumlnste in einem Werk bietet Voumlssing der damit gleichzeitig aber auch die Einzigartigkeit desVorgehens herausstellt bdquoWas in den mittelalterlichen Kloumlstern als Summe antiker Bildung galtwar wohl nur das Resultat der Selbstdarstellung eines ehemaligen Advokaten der dem gebil-deten Publikum seiner Stadt demonstrieren wollte dass er mehr konnte als plaumldieren und mehrwusste als der normale scholasticus den uumlberlieferten prestigetraumlchtigen Bildungsstoff allersieben artes ndash der uumlblicherweise nur in einzelnen Fachbuumlchern (und bezogen auf einzelneDisziplinen) praumlsentiert wurde ndash in einem Werk zusammenzufassen und einzubetten in einironisches literarisches Spiel So hoffte er beides zu haben den Ruhm der Bildung und den derparodistischen Distanzierung An eine spezifische Programmatik dachte er bei seiner Enzyklo-

2 De nuptiis als literarisches Werk 125

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Welches (philosophische oder literarische) Konzept dahinterstand und in-wieweit Martianus sein Vorhaben uumlberzeugend umsetzen konnte wird unter-schiedlich bewertetsup2⁹⁵Wie das Urteil auch ausfaumlllt gilt es doch zu beachten dassneben den enzyklopaumldischen Teilen mit ihrem traditionellen Inhalt in teils tra-ditioneller teils neuer Form auch andere narrative Strategien zum Einsatz kom-men die fuumlr eine umfassende Deutung und Bewertung ebenfalls beruumlcksichtigtwerden muumlssen

Literarisches SymposionEine andere Gattungstradition die fuumlr die Anlage von De nuptiis genannt werdenmuss ist die Form des literarischen Symposions In diesem Punkt besteht eineVerbindung zu Macrobiusrsquo Saturnalia deren Symposionform im entsprechendenKapitel untersucht worden istsup2⁹⁶

Auch inDe nuptiis lassen sich einige konstitutiveMerkmale eines literarischenSymposions aufzeigen Das Geschehen in den Buumlchern 3ndash9 spielt anlaumlsslich einerFeierlichkeit (der Hochzeit) an einem besonderen Ort (auf der Milchstraszlige)sup2⁹⁷ andem sich geladene Gaumlste (Goumltter Heroen etc) versammeln Den Vorsitz der Fei-erlichkeiten hat (gewissermaszligen als Symposiarch) Jupiter inne Es gibt zwar keineungeladenen Gaumlste doch Silen erfuumlllt die Rolle des Zechers und er verlaumlsst dieFeier vorzeitig (8 805) Auch die Liebe kommt nicht zu kurz indem Venus ihreReize spielen laumlsst (6 704) Voluptas mit Merkur flirtet (7 725ndash727) und Hymen-aeus mit seinem anzuumlglichen Gesang das Geschehen der Hochzeitsnacht zu-

paumldie ebenso wenig wie er seinen Platz im sbquoLehrplan des Abendlandeslsquo vorhersehen konnteldquo(Voumlssing 2008 404) Weit verbreitet ist die Ansicht Martianus habe eine Art Summe der antiken Gelehrsamkeiterstellt (Cristante im Vorwort seiner Ausgabe 27 Ferrarino 1969 2 Bovey 2003 20 Cristante2009 [3] Schievenin 2009a 77) Die gegensaumltzliche Position formuliert bereits Parker bdquo[I]t isclear that the seven arts were never supposed to include the whole circuit of human knowledgeMartianus Capellarsquos list was a reduction of Varrorsquos and Varrorsquos was not supposed to include allknowledgeldquo (Parker 1890 459) S o Kap II4 Dort werden auch die typischen Merkmale dieser literarischen Form vor-gestellt Die Milchstraszlige in der Darstellung bei Martianus greift zwei Aspekte auf die allerdingsschon lange vor ihm verbunden worden sind Einerseits ist die Milchstraszlige der Ort an den dieauszligergewoumlhnlichen Menschen nach ihrem Tod gelangen (Cic rep 6 16 Manil 1 758ndash800)andererseits ist auch die Vorstellung nicht ungewoumlhnlich dass dort der Wohnsitz der Goumltter zufinden sei (Ov met 1 170ndash 176 Manil 1 801ndash804) Bei Martianus versammeln sich dort dieGoumltter doch ist dies auch der Ort an den die vergoumlttlichte Philologia gelangt ndash abgesehen vonden uumlbrigen herausragenden Menschen die sich im Gefolge sbquoihrerlsquo Brautjungfer dort versam-meln

126 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mindest andeutet (9 902 f) wenn die Ausfuumlhrung auch nicht beschrieben wird(9 996)

Das auffaumllligsteMerkmal sind aber die Reden die gehaltenwerden Sie aumlhnelnzwar nicht dem Inhalt wohl aber der Form nach der monologischen Anlage derSymposiongespraumlche bei Platon oder (stellenweise) Macrobius Ebenso passt derInhalt Bildungswissen an sich zu einem Symposion auch wenn er hier sehrausfuumlhrlich und ohne Ruumlcksicht auf die primaumlren Adressaten die Goumltter prauml-sentiert wird Bei Platon sowie bei Martianus scheint der Inhalt der Gespraumlche imVorfeld noch nicht festzustehen wie die Auswahl der jeweils naumlchsten RednerindurchApoll (3 223 4 328 8 8109 891) bzw Paidia (7 728) oder die Diskussion umden Fortgang der Feier bzw die noch folgenden und auszuschlieszligenden Reden(= Kuumlnste) zu Beginn von Buch 9 zeigtsup2⁹⁸

Die Anordnung der Redebeitraumlge nach steigender Relevanz und die unter-brechungsfreie Praumlsentation der Reden erinnert ebenfalls ans platonische Sym-posion Schlieszliglich nimmt das Spiel mit der Erzaumlhlinstanz (Satura oder Martianus)die verschachtelte Erzaumlhlsituation bei Platon oder Macrobius mit ihren verschie-denen Berichtsebenen auf und formt sie umsup2⁹⁹

Mythisch-allegorische ErzaumlhlungZu den bereits genannten literarischen Vorlagen von De nuptiis tritt ein weiteresElement hinzu dessen Bedeutung und dessen eigene Vorlagen nur schwer zubestimmen sind

Besonders Shanzer weist in ihremKommentar zum ersten Buch vonDe nuptiiswiederholt auf die orphischen gnostischen und philosophisch-religioumlsen Ele-mente in den sehr bildhaften aber streckenweise schwer verstaumlndlichen erstenbeiden Buumlchern hinsup3⁰⁰ Eine umfassende Interpretation des Mythos bietet sie je-doch nicht Vielmehr beschraumlnkt sie sich auf Verweise zur Herkunft einzelnerMotive und auf die Deutung kuumlrzerer Passagen

Kupke kommt bei einer Musterung der verschiedenen mythischen Reminis-zenzen im zweiten Buch von De nuptiis zu der Feststellung dass eine eindeutige

Ein zentraler Unterschied besteht jedoch darin dass die Vortraumlge nicht von den Gaumlstengehalten werden sondern dass die Gaumlste also die Goumltter nur Zuhoumlrer sind waumlhrend die Kuumlnstereden Hierin erinnert De nuptiis eher an Julians Caesares in denen die versammelten Goumltter jaauch wenig sprechen wohl aber die roumlmischen Kaiser die ndash wenn auch um einiges knapper ndashihre Leistungen darstellen Ausfuumlhrlicher dazu im weiter unten folgenden Abschnitt uumlber die Erzaumlhlinstanzen Shanzer 1986c passim

2 De nuptiis als literarisches Werk 127

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

und kohaumlrente Decodierung aller Verweise undAnspielungen nichtmoumlglich seisup3⁰sup1Ihrer Ansicht nach ist es dem modernen Leser nurmehr moumlglich einzelnen Ver-weisen nachzugehen und sie aufzuzeigensup3⁰sup2

Trotz der benannten Schwierigkeiten darf bei allen Fragen nach literarischenVorlagen nicht vergessen werden dass De nuptiis vor allem (aber nicht aus-schlieszliglich) auch ein allegorisches Werk ist Die imposante Schilderung der vierFluumlsse in Buch 1 Apoll auf demParnass-Huumlgel die allegorischen Figuren undvieleweitere Elemente sind nicht nur kreative literarische Erfindungen sondern for-dern zu einer uumlbertragenen Lesart des Werkes auf Besonders die ersten beidenBuumlcher die den Mythos enthalten muumlssen aus diesem Blickwinkel gelesen undverstanden werden

Zu verweisen ist auszligerdem auf die Bezeichnung der Erzaumlhlung als fabula oderfabella Neben der naheliegenden Bedeutung von sbquoErzaumlhlung Geschichtelsquo imallgemeinen Sinn ist sicher auch an die Diskussion um die Berechtigung von fa-bulae in Macrobiusrsquo Somnium-Kommentar zu denken Dort verteidigt Macrobiussowohl Platon als auch Cicero gegen den Vorwurf fiktive Geschichten zu benut-zen um philosophische Wahrheiten zu verkuumlnden In bestimmten Faumlllen seidieses Vorgehen gerechtfertigt solange es sich um wahrhaftige und belehrendeErzaumlhlungen handlesup3⁰sup3 Diese Voraussetzung kann man auch fuumlr De nuptiis alserfuumlllt ansehen Da Martianus zudem dem Neuplatonismus aumlhnlich nahesteht wieMacrobiussup3⁰⁴ ist von einer bewussten Entscheidung zugunsten einer literarischenDarstellung auszugehen

Den einzigen Versuch einer umfassenden Deutung verschiedener Elementedes Mythos und der allegorischen Darstellung hat ndash unter Vernachlaumlssigung ei-niger Details ndash bislang Lenaz unternommen In der ausfuumlhrlichen Einleitungseines Kommentars zum zweiten Buch von De nuptiis untersucht er die philoso-phisch-religioumlsen Motive in diesem Buch und kann Verbindungen zur Myste-

Kupke 1998 154 Kupke 1998 159 Fuumlr den spaumltantiken und den mittelalterlichen Leser glaubt sie jedoch andie Moumlglichkeit der problemlosen Dekodierung Macr somn 1 2 21 vgl oben Anm 45 Gerade die neuplatonischen Elemente von De nuptiis sind verschiedentlich benannt wor-den auch wenn nicht immer eine einheitliche Deutung geboten wird Haumlufig genannt wird derAufstieg Philologias in den Himmel uumlber die Sphaumlrenstufen der mit einer bdquoRuumlckkehr der Seeleldquogleichgesetzt wird (z B Bovey 2003 11 Lenaz 1975 113 vgl auch Guillaumin 2008) Hinge-wiesen wird auch auf die drei Frauen die Merkur nicht heiraten wollen (Sophia Mantike undPsyche 1 6ndash7) und die drei Seelenteile darstellen sollen deren Summe aber letztlich Philologiaist (Lenaz 1975 107ndash 110) Dagegen vertritt Kupke die These die neuplatonischen Elementetruumlgen keine zusaumltzliche Sinnebene bei (Kupke 1998 153) kritisch aumluszligern sich BednařiacutekovaacutePetrovićovaacute 2010 7

128 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

rieninitiation zu platonischen Mysterien chaldaumlischen Orakeln magischenPraktiken und zur Theurgie nachweisen Im Deutungsteil verwirft er die ThesenNuchelmansrsquo und Mathonssup3⁰⁵ als zu kurz greifend Nuchelmans hatte in derHochzeit Philologias und Merkurs (mittelalterlicher Kommentar-Tradition fol-gend) eine Forderung von Martianus nach der Vereinigung von Wissen (Philo-logia) und Rhetorik (Merkur) gesehen Mathons Ansatz fuumlhrte den Verweis auf dieneuplatonische Wieder-Erinnerung und die Ruumlckkehr der Seele in dieses Modellein Ebenso wie bei Nuchelmans werden auch hier nur wenige Elemente desMythos interpretiertsup3⁰⁶

Lenazrsquo eigener Ansatzsup3⁰⁷ folgt den Uumlberlegungen Ferrarinossup3⁰⁸ und ergaumlnzt siemit einigen Hypothesen Im Kern kreise der Mythos des zweiten Buches um einedoppelte Vereinigung die (horizontale) Vereinigung allen irdischen Wissens inPhilologia mit Hilfe von Hymenaeus und die (vertikale) Vereinigung der goumlttlichenund menschlichen Sphaumlre mit Hilfe von Eros Hinzu treten Uumlberlegungen ob essich bei Philologia und Merkur eventuell um nur eine Entitaumlt handle die Seelewelche getrennt worden sei und nun wieder zusammenfinde

Diese Lesart integriert die meisten der mythischen und allegorischen Ele-mente und verbindet sie weitgehend schluumlssig zu einem umfassenden KonzeptAllerdings vernachlaumlssigt sie auch bestimmte EinzelbeobachtungenWieso steigtPhilologia vom Sphaumlrenrand wieder auf die Milchstraszlige hinab (2 200 2 206)Wieso werden ihr auf der Milchstraszlige die irdischen Kuumlnste vorgefuumlhrt die sieerbrechenmusste damit sie in den Himmel aufsteigen konnte (2 135 f)sup3⁰⁹ Bereitsdiese Fragen zeigen deutlich dass eine kohaumlrente plausible Aufloumlsung des Mythosnicht leicht moumlglich ist

Nuchelmans 1950 Mathon 1969 Lenaz 1975 105 Aumlhnliches gilt auch fuumlr Hadots Deutung Sie identifiziert Merkur mit demaumlgyptischen Gott Theuth auf den in De nuptiis 2 102 f angespielt wird und nennt ihn diebdquoPersonifizierung der goumlttlichen Vernunftldquo waumlhrend Philologia die Personifizierung dermenschlichen Vernunftseele in deren idealem Zustand darstelle Die sieben Wissenschaften unddie sieben mantischen Kuumlnste ermoumlglichten es der Seele bdquozu ihrem Ursprung dem intelligiblenBereich oder zu Gottldquo zuruumlckzukehren (Hadot 2009 21 f) Lenaz 1975 106ndash 119 Ferrarino 1969 Dieses Problem entfiele wenn man annaumlhme dass Martianus die Erzaumlhlung nur auf dieersten zwei Buumlcher angelegt habe und erst danach die Moumlglichkeit einer Verbindung mit der inden Buumlchern 3 bis 9 folgenden Enzyklopaumldie erkannt habe Dafuumlr gibt es zwar Hinweise (bes dieDiskussion um die FiktionalitaumltUnterhaltung) am Ende von Buch 2 und zu Beginn von Buch 3doch duumlrfte man annehmen dass Martianus den Grundkonflikt von zuruumlckgelassenem Wissenund erneut geschenktem Wissen erkannt und behoben haumltte

2 De nuptiis als literarisches Werk 129

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Weiterhin uumlberbetont der Versuch den Mythos allein aus sich heraus zu er-klaumlren den Stellenwert des zweiten Buches im Gesamtwerk Als Interpretations-rahmen zwar wichtig tritt er bei fortschreitender Lektuumlre hinter die praktischeDarstellung der sieben Kuumlnste zuruumlck Diese nehmen nicht nur mehr Raum einsondern uumlberlagern die Darstellung im zweiten Buch und reduzieren somit auchderen Bedeutung Der Mythos ist also einwichtiger keineswegs jedoch der einzigeBestandteil von De nuptiis

Menippeische SatireDas auffaumllligste literarische Kompositionselement von De nuptiis ist jedochzweifellos die Wahl des Prosimetrums die Mischung von Prosapartien mit me-trischen Einheiten Der uumlberwiegende Teil des Werks ist in Prosa gehalten inwelchen 33sup3sup1⁰ metrische Partien eingelegt sind Dabei sind die Gedichte nichtregelmaumlszligig uumlber das gesamte Werk verteilt sie finden sich uumlberwiegend an ex-ponierten Stellen besonders an den Buchanfaumlngen und Buchenden Bei denmetrischen Partien innerhalb eines Buches handelt es sich fast ausschlieszliglich umGoumltterreden

Die beobachtete unregelmaumlszligige Verteilung der metrischen Partien unter-scheidet sich deutlich von der Gestaltung wie sie Boethius wenige Jahrzehntespaumlter inDe consolatione Philosophiae einsetzt Dort sind diemetrischen Partien inHinblick auf die Gesamttextmenge haumlufiger und zudem gleichmaumlszligiger verteiltsup3sup1sup1

Damit haumlngt zusammen dass auch die literarisch-argumentative Funktion dermetrischen Teile z T von derjenigen bei Boethius abweicht Bei Boethius stehendie Gedichte im Argumentationszusammenhang und fuumlhren Gedanken fort oderbuumlndeln sie in praumlgnanter Ausdrucksweisesup3sup1sup2 Ein gutes Beispiel dafuumlr ist eine

Die Zaumlhlung umfasst die zusammenhaumlngenden metrischen Partien und zaumlhlt auch Ge-dichte mit unterschiedlichem Versmaszlig (z B die Gedichte der Musen) als eine Partie Vgl dazu besonders OrsquoDaly 1991 Kap 1 (bdquoThe poetics of the Consolationldquo) darin 19ndash22 zuMartianus Sprachliche Parallelen sind zusammengestellt im Index der Boethius-Ausgabe vonBieler (CCSL 94 116) diskutiert werden sie bei Pabst 1994 163ndash 168 Da Boethius das Werk desMartianus kannte kann man von einer gelungeneren Ausdifferenzierung der Ansaumltze des Mar-tianus sprechen Der Vergleich des Einsatzes der prosimetrischen Form bei Boethius gewinntdadurch an Gewicht Eine Mischung von Prosa und Poesie findet sich weiterhin bei Fulgentius inden Mythologiae ndash Zu Parallelen in den Werkanfaumlngen bei Martianus Fulgentius und Boethiusvgl Klingner 1921 114 Pabst 1994 der Fulgentiusrsquo Vorgehen durchaus als bdquoimitatio Martianaldquoversteht (162 134ndash 137) fuumlr Boethius in Martianus allerdings nur eine Quelle sieht bdquoThey contribute to the argument as it proceeds yet take a wider view with an authorityoutside and above the adjacent prose They possess their own thematic design which spans theentire workldquo (Crabbe 1981 260) bdquoDie Metra bilden Ruhe- und Houmlhepunkte im Werk haumlufig

130 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Stelle zu Beginn des vierten Buches Nachdem zunaumlchst allgemein erlaumlutert wirddass die Weisen vermoumlgen was sie wollen die Schlechten jedoch nicht(cons 4 1 131ndash140) folgt in Versen eine Reihe plastischer Beispiele fuumlr die These(cons 4 carm 2) bevor der Gedanke fortgesponnen wird (cons 4 3 1ndash4)

An anderen Stellen uumlbernehmen die metrischen Partien eine Gliederungs-funktion indem sie Gedanken abschlieszligen und durch die Unterbrechung Zeit zurErholung bieten So sagt Philosophia zu ihrem Schuumller Boethius

bdquosed uideo te iam dudum et pondere quaestionis oneratum et rationis prolixitate fatigatumaliquam carminis exspectare dulcedinem accipe igitur haustum quo refectus firmior inulteriora contendasldquo (Boeth cons 4 6 200‐203)

bdquoAber ich sehe dass du bereits vom Gewicht der Untersuchung belastet und von der Breiteder Beweisfuumlhrung erschoumlpft auf die suumlszlige Erholung eines Liedes wartest nimm also denTrank damit du solchermaszligen erfrischt kraumlftiger zu den weiteren Themen eilen kannstldquo

In dieser zweiten Funktion setzt auch Martianus die metrischen Partien ein Dabeisind sie nicht in die Prosadarstellung eingeschoben sondern markieren fastausschlieszliglich die Buchanfaumlnge und Buchenden Explizites Ziel ist die Belebungdes Werkes um eine angenehme Lektuumlre zu erleichternsup3sup1sup3 Dies widersprichtMartianusrsquoAnkuumlndigung nach der hinleitenden Erzaumlhlung in denBuumlchern 1 und 2keine fiktionalen Erzaumlhlungen mehr einfuumlgen zu wollen die Darstellung solleernst und dem Gegenstand angemessen sein

nunc ergo mythos terminatur infiuntartes libelli qui sequentes asserentnam fruge vera omne fictum dimoventet disciplinas annotabunt sobriaspro parte multa nec vetabunt ludicra (2 220)

Nun also hat der Mythos sein Ende erreicht es beginnen die Buumlcher die die nun anschlie-szligenden Kuumlnste darbieten Denn mit wahrhaftiger Ernte entfernen sie alles Erdichtete undzeichnen die Kuumlnste nuumlchtern auf verbieten jedoch nicht gelegentliche Unterhaltung

stehen sie am Ende von Einzelabschnitten wo sie diese dann rekapitulieren und fuumlr densbquoSchuumllerlsquo zusammenfassen Bisweilen kommt ihnen auch eine Uumlberleitungsfunktion zuldquo (Kin-dermann 1969 63) ndash Zur Gattung allgemein allerdings mit besonderem Fokus auf die mittel-alterliche Literatur vgl Pabst 1994 bes 105ndash 133 zum Prosimetrum bei Martianus und 158ndash 195bei Boethius sowie Dronke 1994 bes Kap 2 (bdquoAllegory and the mixed formldquo) So auch McDonough der im Kapitel bdquoThe function of the poetryldquo zu Recht (aber zu kurzgreifend) formuliert bdquoIn undertaking the compilation of his encyclopedia the main challenge toMartianus lay in maintaining the interest of his readers (and himself) in making palatable thearid factual account of the various disciplinesldquo (McDonough 1968 37)

2 De nuptiis als literarisches Werk 131

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Scheint es an dieser Stelle so als ob Mythos und Heiteres getrennte Dinge waumlrenzeigt der unmittelbare Fortgang zu Beginn von Buch 3 dass beide Begriffe letztlichAumlhnliches bezeichnen Hier am Beginn der Schilderung der freien Kuumlnste(3 221 f) erlaumlutert Martianus in einem weiteren Gedicht das als Dialog gestaltetist warum er von seinem Plan abweicht

Camena bringt Schmuck fuumlr das Werk mit (amicta fictis commenta ferre) AufMartianusrsquo Einwand keine Mythen mehr vorbringen zu wollen (mythi pulsi) er-widert sie es gehe nicht um Luumlge (nil mentiamur) sondern um Einkleidung(vestiantur Artes) ndash man koumlnne die Brautjungfern also die Allegorien der freienKuumlnste doch nicht nackt vorfuumlhren Daraufhin gibt sich Martianus geschlagenund die Handlung von Buch 3 beginnt

Abgesehen von der unterhaltenden Funktion die besonders durch die Ge-dichte an den Buchenden gewaumlhrleistet wird scheinen die metrischen Passagenfuumlr viele Forscher wahllos in das Werk eingestreut Typisch ist eine Aussage wieCrabbe sie trifft bdquoMartianus uses verse frequently at the beginning sometimes atthe end of books and erratically throughoutldquosup3sup1⁴

Natuumlrlich kann von einer systematischen Verteilung und einer argumenta-tionslogischen Anordnung wie bei Boethius nicht gesprochen werden Bei ge-nauerem Hinsehen wird jedoch deutlich dass die metrischen Abschnitte nichtwillkuumlrlich uumlber das Werk verstreut sindsup3sup1⁵

Die meisten metrischen Passagen finden sich in den Buumlchern 1 und 2 von Denuptiis Diese Buumlcher enthalten die einleitende Handlung die als fiktionale Er-zaumlhlung dargeboten wird Im Bericht von der Suche Merkurs nach der richtigenEhefrau und von Philologias Aufstieg in den Himmel finden sich neun metrischePassagen Es handelt sich dabei bis auf die drei Faumllle der an den Buchanfaumlngen(Buch 1) und Buchenden (Buch 1 und 2) stehenden Gedichte um Reden vonGoumlttern Diese fuumlhren die Handlung fort und dienen also nicht der Buumlndelung derGedanken oder der Erholung des Lesers Stattdessen scheint es Martianus darumzu gehen das Sprechen der Goumltter durch die metrische Gebundenheit als be-

Crabbe 1981 264 Eine Typisierung die z T von der Position der metrischen Passagenlosgeloumlst ist bietet McDonough seiner Ansicht nach sind die metrischen Partien hauptsaumlchlichfunktional bdquoThe poetry thus is primarily functional although this function varies from book tobookldquo (McDonough 1968 38) Als Funktionen benennt er fuumlr Buch 1 Handlungsfortfuumlhrung fuumlrBuch 2 Schmuck fuumlr Buch 3 Belehrung fuumlr den Rest Einfuumlhrung oder Entlassung derBrautjungfern oder Unmut uumlber Verzoumlgerung der Hochzeit Der Rest seien bdquooccasional piecesldquo(ibid 40) ndash Verspartien finden sich am Anfang der Buumlcher 1 2 3 4 5 6 7 und 9 sowie am Endeder Buumlcher 2 4 5 7 und 9 Die ungleiche Verwendung der Metra bei Boethius und Martianus laumlsst sich am besten alsEntwicklung verstehen wie es beispielsweise Kindermann (1969 60) tut Zur Kenntnis desMartianus bei Boethius vgl oben Anm 311

132 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

sonders zu markieren Dies gilt vor allem fuumlr markante Szenen zum Beispiel dieRede Jupiters in der Goumltterversammlung gegen Ende des ersten Buches (1 91ndash93)oder die orakelartige Auskunft Apolls (1 21 f)

Diese Beobachtung gilt daruumlber hinaus ebenso fuumlr die genannten Stellen inBuch 9 auch wenn es sich dort nicht um die Vorgeschichte oder einen weiterenliterarischen Rahmen handelt Jedoch ist eine Szene mit Goumlttergespraumlchen ein-geschoben in der die Goumltter unter anderem auch Verse verwenden Durch dieseReden in metrisch gebundener Form soll den entsprechenden Buumlchern also einehoumlhere Wuumlrde verliehen werden

Einen zweiten Fall stellen die Gedichte zu Beginn oder zu Ende eines Buchesin den Buumlchern 3 bis 9 dar In diesen Buumlchern praumlsentieren die Freien Kuumlnste ingeschlossenem Vortrag die Inhalte ihrer Wissenschaft Die Gedichte in einigenFaumlllen in auktorialer Erzaumlhlhaltung gestaltet uumlberbruumlcken die Fuge zwischen denBuumlchern und bieten eine Pause zwischen den langen Vortragspartien der Leserkann sich erholen Die Inhalte der Verspartien sind unterschiedlich es handeltsich zumeist um den Ein- oder Auszug einer Brautjungfer (4 327 4 423 f 8 8028 808 9 911ndash919) um die Fortfuumlhrung der Hochzeitshandlung (5 425 8 8059 888) um die Anrufung eines Gottes (6 567ndash574) oder um eine Wendung desAutors an den Leser (5 566 9 997ndash 1000)

Dieser Einsatz der Verspartien ist jedoch noch keine hinreichende Erklaumlrungfuumlr die Wahl des Prosimetrums Sie erklaumlrt sich besonders dadurch dass Marti-anus auf diese Weise sein Werk in die Traditionslinie von Texten einreiht die alsmenippeische Satiren bezeichnet werdensup3sup1⁶

Charakteristisch fuumlr diese spezielle Form der roumlmischen Satire ist der Wechselvon metrischen und prosaischen Partiensup3sup1⁷ Klassische lateinischsprachige Ver-treter der menippeischen Satire sind Varro (Saturae Menippeae) Seneca (Apo-colocyntosis) und Petron (Satyrikon) in der griechischen Literatur nutzen Lukianund Julian (Caesares) diese Form Inhaltlich lassen sich nur wenige Verbindungenzwischen den Werken ziehen und auch die Umsetzung der formalen Elemente istunterschiedlich Dies fuumlhrt sogar so weit dass sich moderne Forscher trotz derbereits antik bezeugten Bezeichnungder Gattung teilweise auszligerstande sehen dieGattung genauer zu definieren oder dass sie ihre Fragestellung losgeloumlst von derGattungstradition verfolgensup3sup1⁸ Dies macht die Verortung von De nuptiis in diesemGenre nicht leichter

Zur menippeischen Satire vgl Relihan 1993 Coffey 1996 Im Gegensatz dazu beschraumlnkt sich die Verssatire seit Horaz auf die Verwendung desHexameters So betont Scheible im Vorwort ihrer Studie zu den Gedichten in Boethiusrsquo de consolationedass sie Vorgaben der Tradition in Hinblick auf die Gedichte nicht beruumlcksichtige ndash sie lieszligen

2 De nuptiis als literarisches Werk 133

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Gelegentlich wird sogar die These vertreten dass sich das satirische ElementinDe nuptiis in dieser formalen Verbindung von Prosaund Poesie erschoumlpfesup3sup1⁹DerGattungsbegriff sbquomenippeische Satirelsquo waumlre dann identisch mit der BezeichnungsbquoProsimetrumlsquo Dem widersprechen jedoch verschiedene Beobachtungen derRuumlckgriff auf die Etymologie des Wortes satura die Bezugnahme auf Vertreter derGattung und das Auftreten einer Figur namens Satura sowie deren Agieren dasuumlber die rein formale aumluszligerliche Satireform hinausweist schlieszliglich die beson-dere Gestaltung der Erzaumlhlsituation Diese vier Elemente sollen im Folgendenherausgearbeitet werden

Etymologie ndash Dass Martianus sein Werk sehr wohl als Satire verstanden wissenwill wird an verschiedenen Stellen deutlich Dies geschieht zum Beispiel durchgelehrte Anspielungen auf die Terminologie der antiken Satire an prominenterStelle So heiszligt es in 9 998

[Satura] haec quippe loquax docta doctis aggeransfandis tacenda farcinat immiscuitMusas deosque disciplinas cyclicasgarrire agresti cruda finxit plasmate

So haumluft sie plappernd Gelehrtes auf Gelehrtes und stopft geheimes und bekanntes Wissenzusammen hatMusenundGoumltter vermischt undhat sich erdacht dass die enzyklopaumldischenDisziplinen in einem baumlurischen Machwerk unreifes Zeug daherplappern

Die Woumlrter farcinat und immiscuit verweisen auf das Zusammenstopfen undVermischen verschiedener Zutaten z B in einer Wurst oder Pastete Gleiches giltfuumlr die Woumlrtermiscillo und aggeranssup3sup2⁰ Ausgangspunkt fuumlr diese Terminologie istdie Etymologie desWortes sbquoSatirelsquo an sich bedeutet urspruumlnglich etwaswie sbquobunteMischunglsquosup3sup2sup1 Traditionell sind Anspielungen auf diese Etymologie in der satiri-

sich nicht feststellen (Scheible 1972 8) Vorhandene Untersuchungen beschreiben in der Regeldie Konstituenten der einzelnen Werke Aufgrund der geringen Zahl uumlberlieferter Werke und dergroszligen Unterschiede zwischen ihnen ist es jedoch schwierig die typischen Elemente der Gat-tung zu benennen Auch diese Arbeit schlieszligt sich dem beschreibenden Vorgehen an undvergleicht an einschlaumlgigen Stellen inwieweit die Beobachtungen auch fuumlr die Gattung typischsind So z B Coffey der die Mischung aus Prosa und Poesie bei Martianus als bdquomiscellanyldquobezeichnet und vor einer Verbindung von De nuptiis mit der Satire als problematisch warnt(Coffey 1996 959) Vgl Relihan 1993 14 ErnoutMeillet s v satur -ra -rum (2001 596) WaldeHofmann s v satura (2007 II482f) Der zentrale Hinweis auf eine Ableitung des Wortes aus dem kulinarischen Bereich findet

134 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

schen Literatur selten Allein in Juvenal findet sich ein Hinweis darauf gleichwohlmit leicht anderem Verstaumlndnis Er betrachtet die Zusammenstellung der Satirenals farrago also als Mischgericht nicht die einzelne Satiresup3sup2sup2

In diesen sehr bildlichen Wendungen trifft Martianus gleichzeitig eine Aus-sage uumlber sein Verstaumlndnis der Darstellung von Bildungswissen Bei ihm gibt eskeine vorverdauten und mundgerecht aufbereiteten Wissenspaumlckchen (wie Ma-crobius sie bietet)sup3sup2sup3 sondern rohe Kost (cruda) die ihre Zutaten d h die lite-rarischen oder inhaltlichen Urspruumlnge nicht leugnet LeMoine formuliert prauml-gnant bdquoBy calling attention to the literary functions these metaphors fulfillMartianus hellip raises questions about the principles of seamless synthesis andverbal regurgitation which Macrobius so effectively demonstratesldquosup3sup2⁴

Dass Martianus durch diese Art der Darstellung seine Autoritaumlt infrage stelle(bdquohellip reveal doubts about the competence of the cook and the quality of the edu-cational feastldquo)sup3sup2⁵ laumlsst sich jedoch nicht erkennen Schlieszliglich benennt er seinVorgehen explizit (scheitert also nicht an einem gesteckten Plan) und bietetgleichzeitig mit der Kritik an der klassischen Form der Wissensvermittlung eineMoumlglichkeit an wie nicht-vereinheitlichte Wissensvermittlung aussehen kannBeeintraumlchtigungen des Vertrauens zum Erzaumlhler und zu den Inhalten gibt esallerdings ndash jedoch aufgrund anderer Faktorensup3sup2⁶

Bezug auf andere Satiriker ndash Neben den Anspielungen auf die Etymologie derGattung Satire treten explizite Bezuumlge auf andere Autoren menippeischer Satirenauf Namentlich wird jedoch keiner der Vorgaumlnger genannt die Nennung Varroserfolgt ausschlieszliglich in den Vortraumlgen der Brautjungfern und bezieht sichuumlberwiegend auf Varros fachschriftstellerische Werke oder seinen Ruf als Enzy-klopaumldistsup3sup2⁷

sich beim Grammatiker Diomedes (Grammatici Latini 1 485) Ausgehend von dieser Passageeroumlrtert Petersmann die Etymologie mit besonderer Beruumlcksichtigung des Ursprungs des Wortessatura aus dem Kuumlchenbereich (Petersmann 1986) Iuv 1 86 nostri farrago libelli Vgl die Kommentare Morton Braund 1996 95 f undCourtney 1980 103 Vgl die Gleichnisse in der praefatio zu den Saturnalia (Sat praef 5ndash9) und die Ausfuumlh-rungen in Kap II1 sowie die dort aufgefuumlhrte Literatur LeMoine 1991 360 ibid S u die Abschnitte bdquoErzaumlhlinstanzenldquo und bdquoDeutungen der komplexen literarischen Formldquo 4 335 (die Gelehrsamkeit Varros vgl Cic ac 1 9 Aug civ 6 2) 5 517 (Nennung in einemZitat) 6 639 und 6 662 (Fragen der Geographie die Varro-Vorlage ist nicht bekannt) 9 928 (cfVarro rust 3 17 4) Vgl zum Verhaumlltnis von Martianus und Varro bes Bovey 2003 Kap 2 (bdquoLaquestion varronienneldquo) und Schievenin 2009f

2 De nuptiis als literarisches Werk 135

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Allerdings zitiert die Wendung ὄνος λύρας in 8 807 den Titel einer menip-peischen Satire Varrossup3sup2⁸ Die Wendung ist in der lateinischen Literatur ander-weitig nicht belegt weshalb davon auszugehen ist dass Martianus hier auf denrepublikanischen Satiriker direkt zuruumlckgriff Da die Wendung zudem im Streit-gespraumlch zwischenMartianus und Satura uumlber die angemessene Art des Erzaumlhlensder Geschichte faumlllt kommt ihrer Verwendung eine programmatische Aussage zuMartianus stellt sich und sein Werk also in die Nachfolge Varros und seiner Sa-tiren

Ein Bezug auf Lukian ist weniger sicher nachzuweisensup3sup2⁹ Allerdings gibt eseine motivische Uumlbernahme im zweiten Buch von De nuptiis Philologias Erbre-chen des Wissens das der Hochzeit vorausgeht hat eine Parallele in LukiansDialog Lexiphanes Der allzu (ein)gebildete Lexiphanes nimmt auf Draumlngen vonLycinus ein Brechmittel ein das ihm der Arzt Sopolis gibt Daraufhin erbricht eralle Woumlrter die er gelernt hat dies ist die Voraussetzung dafuumlr dass er nun an-gemessen belehrt werden kannsup3sup3⁰

Es handelt sich um die Fragmente Varro Men 348ndash369 In Fragment 349 findet sich dieWendung auch im Vers (si quis μελωδεῖν est ὄνος λύρας praesepibus se retineat forensibus ndashsbquower beim Gesang wiersquon Esel an der Harfe bloumld der bleib getrost im Stallmief seines Forumsdortlsquo [Uumlbs Krenkel]) Die Bezugnahme auf Varro ist umso wahrscheinlicher da Satura unmit-telbar zuvor sowohl Martianusrsquo berufliche Aufenthalte auf dem Forum erwaumlhnt und ein Wort-spiel mit seinem Namen Capella angestellt hat ndash der zwar nicht sbquoEsellsquo bedeutet wohl aber einHaustier (sbquoZiegelsquo)Vgl dazu Shanzer 1968c 38ndash40 Shanzer 1986a kritisch dazu Pabst 1994 168(m Lit) Folgt man Bovey handelt es sich bei der unmittelbar folgenden Wendung καιρὸν γνῶθιum einen weiteren Verweis auf den Titel einer Varro-Satire γνῶθι σεαυτόν (= Varr Men 199ndash210 vgl Bovey 2003 282ndash284) Naumlher liegt wohl dass Martianus Capella diese eigenstaumlndigeSentenz (vgl Diogenes Laertios I 79 der sie als Sentenz des Pittakos ausweist) aus einer anderenQuelle uumlbernommen hat Kindermann 1969 60 Shanzer geht davon aus dass Martianus Lukian kannte (Shanzer1986c 36) Zur Diskussion um Martianusrsquo Griechischkenntnisse vgl Cristante 2009 [5] undShanzer 1986c 4 die beide annehmen dass Martianus durchaus Griechisch beherrschteShanzer weist einige Stellen auf an denen Martianus woumlrtlich uumlbersetzt und schlieszligt aus derBeherrschung des Griechischen zu Recht auf einen gebildeten moumlglicherweise sogar akade-mischen Hintergrund von Martianus Lucian Lex 20f Andere antike Texte die das Erbrechen von Wissen als Teil des Reini-gungsprozesses beschreiben oder als Bild tradieren sind mir nicht bekannt Daher ist eswahrscheinlicher dass Martianus auf Lukian im Original zuruumlckgegriffen hat Zur vor-byzantinischen Rezeption Lukians vgl Nesselrath 1994 der spaumltantike Bezuumlge auf Lukian u abei Julian und Claudian aufzeigt ndash Einen Bezug auf Lukians Concilium deorum fuumlr moumlglich haumlltKrapinger 1999 962 ndash Anders gelagert sind Lucian cont 7 und Aug in Joh ev tract 36 1 Dortgeht es darum dass durch das Ausspeien Wissen weitergegeben wird was zum Bild der daserbrochene Wissen aufsammelnden Artes passt nicht jedoch zum Motiv der Reinigung

136 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Bezuumlge auszligerhalb der Uumlbernahme uumlblicher Gattungselemente lassen sich fuumlrSenecas Apocolocyntosis Petrons Satyricon oder Julians Caesares nicht konsta-tierensup3sup3sup1

Die Figur der Satura und ihr Handeln ndash Einer der deutlichsten Hinweise auf dieForm der Satire liegt im Auftreten einer Figur namens Satura Diese Figur wirdzunaumlchst von Martianus als Erzaumlhlinstanz eingefuumlhrt (1 2) von der er den Inhaltvon De nuptiis erfahren haben will Im Laufe des Werks gewinnt Satura aber anProfil und agiert zunehmend autonom

Aussagen uumlber Satura beruhen letztlich auf drei Stellen in De nuptiis (6 576ndash5798 806ndash8109997ndash999) und koumlnnen fast ausschlieszliglich aus der Formund derBotschaft ihrer eigenen Aumluszligerungen gewonnen werden An allen drei Stellendiskutiert Satura mit Martianus Ansonsten ist Satura zwar als praumlsent zu denkenwird aber nicht weiter thematisiert

Nach Martianusrsquo Anrufung Minervas zu Beginn des sechsten Buches mischtsich Satura in seine Uumlberlegungen ein welche Frauen er vor sich sehe Die Ein-mischung wird von Martianus als scherzend bezeichnet (iocabunda 6 576) dieEinmischung an sich als typisch fuumlr das Scherzen Saturas (ut lepidula est 6 576)Die Aumluszligerung Saturas beginnt mit Spott uumlber Martianusrsquo nur scheinbare KlugheitDurch falsche naumlchtliche Studien und besonders seine Anwaltstaumltigkeit habe erden Blick auf das Wichtige verloren und erkenne nun nicht einmal mehr Philo-sophia und Paideia Der Scherz wird jedoch alsbald von einem belehrendenTonfall abgeloumlst in dem Satura Martianus uumlber das Wesen der beiden Frauenaufklaumlrt

Satura tritt als Naumlchstes zu Beginn des achten Buches auf in der Folge derSilen-Szene Der angetrunkene Silen war eingeschlafen und durch Amor aufge-schreckt worden was die uumlbrigen Goumltter laut lachen lieszlig (8 803ndash805) DieseSchilderung provoziert bei SaturaWiderspruch da sie das Erzaumlhlte als unpassendfuumlr die Goumltterversammlung empfindet Ihre Kritik beginnt wieder bei der Persondes Martianus dessen Namen sie als passend zu seinem Wesen deutet (Capella ~sbquoZiegelsquo 8 806) Sodann fordert sie Martianus auf seine Possen zu unterlassenMartianus fuumlhlt sich gehoumlrig von Satura gemaszligregelt und gibt klein bei bemerktaber dass sie ansonsten mehr von Scherzen halte (alioquin lepidula 8 807) AlsSatura dann die Einfuumlhrungder eintretenden Brautjungfer in Versenvorbringt undMartianus wiederum seine Scherze (ludicra 8 808) vorhaumllt kann dieser nicht

Mit Julian verbindet Martianus immerhin die Ansiedlung der Goumltterversammlung auf derMilchstraszlige ndash Zur Rolle der Saturnalien vgl den Abschnitt bdquoDeutungen der komplexen litera-rischen Formldquo

2 De nuptiis als literarisches Werk 137

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mehr an sich halten und zahlt Satura ihre Kritik in gleicher Muumlnze heim Nacheinigem Spott uumlber Saturas Verse verteidigt nun Martianus das Recht auf Scherzgegen sie die an sich ndash nicht aber in De nuptiiswie es scheint ndash eigentlich fuumlr denScherz zustaumlndig waumlre und gibt ihr mit Martial (2 41 1) den Rat auch einmal zulachensup3sup3sup2

Ein letzter Schlagabtausch von Satura und Martianus erfolgt schlieszliglich amEnde des Werkes Wiederum streiten beide Figuren miteinander und halten sichmit Spott uumlber das Wesen des anderen nicht zuruumlck

Die Einfuumlhrung Saturas die ja nur in Verbindung ndash und das heiszligt Ausein-andersetzung ndash mit Martianus erscheint dient vornehmlich der deutlichenBenennung der Gattung und der Verstaumlndigung daruumlberwas den Charakter einessatirischen bzw des vorliegenden Werkes ausmache Erstaunlich ist dabei Mar-tianusrsquo Entwicklung der sich zunaumlchst gegen Unterhaltung im artes-Teil ausge-sprochen hatte diese spaumlter aber gegen den censorischen Eingriff Saturas imachten Buch verteidigt Noch erstaunlicher ist aber dass es gerade Satura ist diezur Beachtung des Decorums auffordert und Martianusrsquo vergleichsweise mildenScherz scharf tadelt

Erzaumlhlinstanzen ndash Die Frage nach der Erzaumlhlsituation bzw der Erzaumlhlerfigurgehoumlrt zu den grundlegenden Analysekriterien eines literarischenWerkes ebensowie die Konzipierung von Raumund Zeit Lassen sich die letzten beiden Punkte imHinblick auf De nuptiis hinreichend klaumlrensup3sup3sup3 so bietet die Erzaumlhlerfigur groumlszligereSchwierigkeiten

DassDe nuptiis zwei Erzaumlhlinstanzen hat scheint zu Beginn desWerkeswenigdramatisch In 1 2 verweist der Erzaumlhler Martianus gegenuumlber seinem Sohn dar-auf dass die folgende Geschichte (also der uumlberwiegende Teil von De nuptiis) ihm

Ride si sapis o puella ride Schievenin bietet eine gruumlndliche Analyse dieser Stelle auchmit Blick auf die inverse Vorlage Martials (plora si sapis o puella plora Mart 2 41) derwiederum auf Ovid (Ov ars 3 281 f) zuruumlckgreift (Schievenin 1984 bes 136 ausfuumlhrlich auchBovey 2003 275ndash288) Die Rahmenhandlung spielt in der erzaumlhlerischen Gegenwart und in einem unbestimmtenRaum der jedoch nicht auszligergewoumlhnlich ist es liegt nahe an Karthago und das Haus desMartianus Capella zu denken Die eigentliche Handlung spielt an z T unwirklichen Orten aufder Erde die zumeist nicht naumlher bestimmt sind (z B Philologias Herkunft) und auf derMilchstraszlige wobei die absolute Zeit nicht genannt wird aber aufeinanderfolgende Tage inihrem Ablauf erkannt werden koumlnnen Die Phantastik einzelner Szenen die meist auf alle-gorische Darstellungsweisen zuruumlckgeht verletzt jedoch nicht die raumlumliche oder zeitlichePlausibilitaumlt des Dargestellten Vgl dazu auch die Ausfuumlhrungen und grafischen Veranschau-lichungen LeMoines (1972a)

138 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

waumlhrend langer Winternaumlchte (eine Anspielung auf Gellius)sup3sup3⁴ von Satura be-richtet wurde Der antike wie moderne Leser duumlrfte sich wohl kaum daran stoszligensondernwird darin vor allem eine Inspiration des Autors durch Satura (auchwennes das zuvor noch nicht gab) erkennen Bei der Erwaumlhnung von Satura koumlnnte erHeiteres erwarten oder bunt gemischte Geschichten

Vollkommen verwirrt wird der Leser hingegen spaumltestens dann wenn er amEnde des Werkes in der Sphragis angekommen ist (9 997ndash 1000) Dort reflektiertMartianus sein literarisches Vorgehen in den vorausgegangenen neun Buumlcherngenauer gesagt distanziert er sich von der Form der Darstellung (Umfang Bunt-heit) und verweist auf die Verantwortung Saturas die die Geschichte erzaumlhlt habe

Habes anilem Martiane fabulam 997Miscillo lusit quam lucernis flamineSatura Pelasgos dum docere nititurArtes daggercagris vix amicas AtticisSic in novena decidit voluminahaec quippe loquax docta doctis aggerans 998fandis tacenda farcinat immiscuitMusas deosque disciplinas cyclicasgarrire agresti cruda finxit plasmate (9 997 f)

Da hast du Martianus eine Altweibergeschichte sie verfertigte im Spiel mit vermischterInspiration [d h in Prosa und Vers] bei Kerzenschein Saturawaumlhrend sie sich bemuumlhte diePelasger zu lehren die Kuumlnste die den Griechen kaum freundlich [d h neu] sindSo gelangte sie hinab bis zum neunten Buch haumluft plappernd Gelehrtes auf Gelehrtes undstopft geheimes und bekanntes Wissen zusammen hat Musen und Goumltter vermischt und hatsich erdacht dass die enzyklopaumldischen Disziplinen in einembaumlurischenMachwerk unreifesZeug daherplappern

So ungewoumlhnlich dieses Vorgehen auch ist ndash Martianus haumltte ja den Bericht Sa-turas als Grundlage nehmen und dann nach eigenem Geschmack umgestaltenkoumlnnen ndash wird es uumlbertroffen durch die Verteidigung Saturas Sie weist die Ver-antwortung fuumlr die Art der Erzaumlhlung von sich und verteidigt sichmit demHinweisauf Martianusrsquo intellektuelle Schwaumlche der sie die Ausfuumlhrungen habe anpassenmuumlssen

Vgl Gell praef 4 zur Erklaumlrung der Wahl des Titels Noctes Atticae fuumlr sein Werk

Sed quoniam longinquis per hiemem noctibus in agro sicuti dixi terrae Atticae commentationeshasce ludere ac facere exorsi sumus idcirco eas inscripsimus noctium esse Atticarum hellip

Aber weil wir in langen Naumlchten den Winter uumlber in Attika auf dem Landwie schon gesagtdiese Anmerkungen im Spiel und dann ernsthaft begonnen haben daher haben wir ihnenden Namen Attische Naumlchte gegeben hellip

2 De nuptiis als literarisches Werk 139

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

haec ipsa nauci rupta conscientia 999turgensque felle ac bili bdquomulta chlamydeprodire doctis approbanda cultibuspossemque comis utque e Martis curia[hellip]ab hoc creatum Pegaseum gurgitem 1000decente quando possem haurire poculoldquo (9 999 f)

Sie sagte aufgrund ihres Wissens um die Nichtigkeit (dieser Ausfuumlhrungen) verletztschwellend vor Bitterkeit und Zorn bdquoIch koumlnnte hier freundlich auftreten mit einem Gewandbekleidet lobenswert durchgelehrtes Verhaltenwie aus der VersammlungdesMars [Es folgtdie Schilderung der unguumlnstigen Anlagen von Martianus] ndash Wann koumlnnte ich mit ange-messenem Becher aus einem pegasischen Strom von ihm erschaffen schoumlpfenldquo

Somit hat das Werk das zu Beginn zwei hierarchisch geschiedene Erzaumlhler zuhaben scheint am Ende zwei Erzaumlhler die sich gleichberechtigt uumlber die Form dererzaumlhlten Geschichte streitensup3sup3⁵

Die Inkonsistenzen auf der Erzaumlhlebene setzen sich daruumlber hinaus fort HatteMartianus zu Beginn des Werks gesagt Satura habe ihm die Geschichte waumlhrendlangerWinternaumlchte erzaumlhlt so treten Satura undMartianus amEnde desWerks inder erzaumlhlerischen Gegenwart gemeinsam auf und sprechen beide nacheinanderzu Martianusrsquo Sohn

Weiterhin erscheinen Satura und Martianus innerhalb der Geschichte dieMartianus angeblichvon Satura gehoumlrt hatWaumlhrend die Goumltter denverschiedenenBrautjungfern lauschenwohnen auch SaturaundMartianus der Versammlungbeiund betrachten sie als unbeteiligte ZuschauerWie aus einer Theaterloge herauskommentieren und diskutieren sie das Geschehen das auf der bdquoGoumltterbuumlhneldquostattfindetsup3sup3⁶

Noch einen weitergehenden Schritt stellt die Silen-Szene zu Beginn des achtenBuches dar Im Anschluss an diese Szene beschwert sich Satura bei Martianus erkoumlnne die Goumltter nicht auf dieseWeise agieren lassen In der Folge entspinnt sich einGespraumlch in demMartianus seine Art des Erzaumlhlens gegen Satura verteidigt die fuumlreine zuruumlckhaltendere Darstellung plaumldiert (s o)Von der Fiktion dass Martianusseinem Sohn bloszligwiedergibtwas Satura ihm erzaumlhlt hat bleibt nichtmehr viel dieganze Szenerie ist ein Produkt der ErfindungdesMartianus gleichzeitigwohnt er ihraber gemeinsam mit Satura bei ist also Teil der Handlung

So bereits Pabst 1994 120 Anm 119 der allerdings auf eine Diskussion der Beobachtungverzichtet Es handelt sich um die Stellen zu Beginn des sechsten und des achten Buches die imvorigen Abschnitt bereits paraphrasiert wurden

140 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Diese Art der Spiels mit der Erzaumlhlerrolle wird von manchen modernen For-schern als ein wichtiges Merkmal der menippeischen Satire angesehen Hinzu-treten kann die Selbstherabsetzung des Erzaumlhlers die sich an seinemmangelndenWissen Stilbewusstsein Traditionsempfinden o auml entzuumlndetsup3sup3⁷ Folglich kanndie zunaumlchst befremdliche Brechung und Verzerrung als weiteres Merkmal derGattung menippeische Satire bestimmt werden

Aufgrund dieser Beobachtungen ist es zwingend in De nuptiis vor allem eineSatire zu sehen Auch der heiter-spoumlttische Charakter einiger Passagen zwischenden Vortraumlgen der Brautjungfern passt zum satirischen Anspruch Gelegentlicherscheint es jedoch fraglich ob es sich wirklich um satirische und nicht eher umkomische oder derbe Spaumlszlige handelt Die Szene in der Silen betrunken einschlaumlftund von den anderen Goumlttern verspottet wird (8 803ndash805) erinnert mit ihremSlapstick eher an den derben Spott der Komoumldie als an die Satire eines Varrosup3sup3⁸

22 Deutungen der komplexen literarischen Form

Wie laumlsst sich das Werk De nuptiis nun also formal beschreiben oder andersgefasstWie lassen sich die vier literarischen Traditionsstraumlnge zusammenfuumlhrenDass eine einheitliche Lesung zumindest versucht werden muss zeigt bereits dasLeitmotiv der Hochzeit ansup3sup3⁹

Im Kern handelt es sich bei MartianusrsquoWerk um eine Sammlung bedeutenderWissensschaumltze in einem einzigen Werk die darin systematisch ausgebreitetwerden Dies zeigt die Einteilung in verschiedene Disziplinen die ein ver-

Zur Erzaumlhlerrolle in der menippeischen Satire vgl u a Relihan 1993 und darin bes S 35 Mit der Aufnahme unterhaltsamer Elemente ginge Martianus sogar noch uumlber dieErwartungen an ein sbquosatirischeslsquo Werk hinaus Auch Boethius wird bescheinigt er erzaumlhle seineConsolatio bdquoper satiramldquo auch wenn bei ihm weder eine Figur Satura auftritt noch allzu vielHeiterkeit herrscht (Peiper zitiert in der Einleitung zu seiner Ausgabe S xxxi eine mittelalter-liche Boethius-Vita vgl Kindermann 1969 61)

hos libros [scil de consolatione Philosophiae] per satiram edidit imitatus videlicet mar-cianum felicem capellam qui prius libros De nuptiis philologiae et mercurii eadem speciepoematis conscripserathellip

Diese Buumlcher schrieb er als Satire freilich in Nachahmung des Marcianus Felix Capellader zuvor die Buumlcher uumlber die Hochzeit der Philologie mit Merkur in der gleichen Art vonGedicht verfasst hatte

Zum Motiv der Hochzeit das bereits programmatisch im eroumlffnenden Hymnus anHymenaeus erscheint vgl Schievenin 2009c und Cristante in der Einleitung seiner Ausgabe1987 3ndash 10

2 De nuptiis als literarisches Werk 141

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

gleichsweise leichtes Auffinden der Informationen erlaubtsup3⁴⁰ die Bedeutung wirdangesichts der Praumlsentation vor den Goumlttern auf der Milchstraszlige deutlich Alleinder Umfang dieser Vortraumlge die in sich auch nicht gestoumlrt oder gebrochenwerdenmarkiert dass es sich hier um das zentrale Charakteristikum des Werkes handelt

Den erzaumlhlerischen Anlass fuumlr diese Praumlsentation bietet eine Hochzeitsfeieralso ein Symposion hier ist die Gelegenheit fuumlr die groszligen Redebeitraumlge gegebenZudem bietet die SymposionformAnknuumlpfungspunkte fuumlr eine Rahmenhandlungdie zur Auflockerung der ebenso ausfuumlhrlichenwie trockenen Einzelreden genutztwird

Doch bleibt es ndash im Gegensatz z B zu Macrobius ndash nicht bei der bloszligenDarstellung der Wissensinhalte Hinzu tritt die allegorische Darstellung der Be-deutung von Wissen und von Fleiszlig beim Wissenserwerb in den ersten beidenBuumlchern Die praumlsentierten Inhalte der Buumlcher 3ndash9 (die Philologia ja bereits aufder Erde in Buch 2 besitzt) sindwichtig Sie sind nicht nur wichtig fuumlr das irdischeLeben (das wird nicht weiter thematisiert die explizit irdischen Wissenschaftenwie Architektur und Medizin werden sogar ausgeschlossen) ndash die Inhalte sindauch wichtig fuumlr die menschliche Vervollkommnung

Durch das angesammelte Wissen erreicht der Mensch zwar nicht die voll-kommene Erkenntnis (die erhaumllt auch Philologia nur ohne eigenes Zutun als sieauf der houmlchsten Himmelssphaumlre angekommen zum Vatergott in der jenseitigenGluumlckseligkeit betet) wohl aber ein goumlttergleiches Wissensup3⁴sup1 Der Wissenserwerbist gewissermaszligen die Voraussetzung dafuumlr dass der Mensch mit Hilfe einesgoumlttlichen Begleiters in den Himmel aufsteigen kann unsterblich wird und voll-kommene Einsicht erlangt

Die so weit kohaumlrente Verbindung der literarischen Traditionen laumlsst aller-dings den explizit satirischen Anspruch von De nuptiis auszliger Betracht durch denMartianus selbst das Werk primaumlr in die Gattung der Satire einordnet waumlhrendvergleichbare Bezuumlge zu anderen Gattungen fehlen Natuumlrlich lieszlige sich dieserprogrammatische Anspruch mit einem Verweis auf die Verwendung des Begriffszur Bezeichnung einer inhaltlich wie literarisch gemischten Form erklaumlren Dochgreift diese Erklaumlrung zu kurz da das Agieren Saturas die literarischen Passagendes Werks beinahe als Travestie erscheinen laumlsst (vgl oben zur Erzaumlhlerfigur) Einbildend-enzyklopaumldisches Werk kann sich allerdings nicht gefahrlos als Satire

So auch Englisch 1994 56 Die bdquoSystematik bei der Praumlsentationldquo erlaube einen leichtenZugriff auf die Informationen Mart Cap 2 201ndash205

142 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

praumlsentieren ohne Zweifel an der Glaubwuumlrdigkeit und Zuverlaumlssigkeit desWerkes und der praumlsentierten Inhalte zu weckensup3⁴sup2

Wenn Martianus auch die Konventionen der Gattung menippeische Satireaufnimmt und sein Werk also nur folgerichtig unter anderem eine unzuverlaumlssigeErzaumlhlsituation aufweist ist dies noch keine Erklaumlrung an sich Die regelkonformeUmsetzung gattungstypischer Anspruumlche erklaumlrt noch nicht die Wahl der Gattungan sich ndash einer Gattung die trotz ihrer Benennung als solche nicht zu denStandardformen und akzeptierten Gattungen zaumlhlte insbesondere nicht fuumlrLehrwerkesup3⁴sup3

Auch Martianusrsquo Verweis auf etwas bislang noch nicht Unternommenes(nescioquid inopinum intactumque 1 2) vermag den Widerspruch nicht zu loumlsenDie Wendung zeigt zwar dass Martianus die Ungewoumlhnlichkeit seines Ansatzesbewusst war (sofern sich die Phrase uumlberhaupt auf die Komposition des Werkesbezieht)sup3⁴⁴ beseitigt aber nicht das interpretatorische Problem ZuwelchemZweckverbindet Martianus also zwei so widerspruumlchliche Gattungen wie Enzyklopaumldieund Satiresup3⁴⁵

Drei Antwortansaumltze lassen sich grob umreiszligen 1 Die Verbindung ist nuraumluszligerlich bzw oberflaumlchlich 2 durch die Verbindung soll ein bestimmter Aspektparodiert und somit Spott und Kritik ausgesetzt werden 3 die Verbindung erfuumlllt

Dieses Problem hat bereits Westra in seinem Aufsatz bdquoThe juxtaposition of the ridiculousand the sublime in Martianus Capellaldquo benannt (Westra 1981) Allerdings beschraumlnkt sich auchdieser Aufsatz auf die Darstellung des Problems und die Zusammenstellung der Belege EineLoumlsung hat Westra nicht anzubieten ndash sein Aufsatz endet mit der eher apologetischen Bemer-kung das Eingestaumlndnis der Unvereinbarkeit von Satire und Lehrwerk durch Martianus in 9 997sei prima facie ein Spiel dahinter stecke jedoch die Absicht Problembewusstsein zu demon-strieren und Verantwortung fuumlr die unterlassene Loumlsung zu negieren bdquoEven though I would claim that prose and verse must be present in an ancient Menippeansatire it must be seen as one of a number of shocking juxtapositions of oppositesldquo (Relihan 198760) ndash In der Folge kann die prosimetrische Form durchaus auch Mittel belehrender Werkewerden vgl Pabst 1994 133 Denkbar (und wohl wahrscheinlich) waumlre auch dass damit die Inhalte besonders desMythos gemeint sind Der Verweis auf Unterhaltung fuumlhrt nicht zum Kern der Frage denn die satirische Formstellt mehr dar als reine Unterhaltung Auch das horazische Diktum ridentem dicere verum quidvetat ndashsbquolachend das Wahre zu sagen ndash was spricht dagegenlsquo (Hor serm 1 1 23) als Kern vonMartianusrsquo Satireverstaumlndnisses greift zu kurz ebenso wie vergleichbare Konzeptionen in derLiteratur Dort geht es bei Belehrung immer um einzelne philosophische Saumltze (nie beispiels-weise um die Vermittlung von Philosophie an sich) Folglich bezeichnet das bdquoverumldquo nichtkognitives Lernen sondern moralisches Der grundlegende Unterschied zur Konzeption desMartianus liegt somit auf der Hand Vgl zu diesem Aspekt im Allgemeinen z B Shanzer 1986c42 und im Speziellen u a Woytek 1986 339ndash345 Keulen 2009 bes Kap 2 und 3

2 De nuptiis als literarisches Werk 143

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

einen literarischen und belehrenden Zweck zugleich Aufgrund der komplexenSachlage und der unmittelbaren Bedeutung der Beantwortung der Frage nachdieser Verbindung fuumlr das Gesamtverstaumlndnis von De nuptiis werden alle Alter-nativen vorgestellt und bewertet

Rein formale Verbindung von Satire und EnzyklopaumldieEventuell laumlsst sich die Mischung aus enzyklopaumldischen und satirischen Ele-menten (mit den zur Satire gehoumlrigen Verspartien) als Sonderform der Varro-Re-zeption bei Martianus auffassenVarro von Reate verfasste sowohl umfangreicheFachliteratur als auch menippeische Satiren Fuumlr beides war er in der Antikebekannt und beruumlhmt ndash doch ist es wahrscheinlich dass Martianus die Werkebereits nicht mehr ndash oder allenfalls nur in Auszuumlgen ndash vorliegen hattesup3⁴⁶ Aus demWissen um die beiden Schaffensbereiche des republikanischen Autors die beideder Unterweisung dienen solltensup3⁴⁷ koumlnnte Martianus auf den Gedanken verfallensein die literarischen Formen und Inhalte in seinem Werk zu verbindensup3⁴⁸Vielleicht saszlig er auch einemMissverstaumlndnis auf indem ermeinte dass Varro seinsatirisches wie enzyklopaumldisches Koumlnnen in nur einem Werk demonstriert habeDies hieszlige jedoch dass Martianus sich der Problematik dieser Verbindung nicht

So aumluszligert sich beispielsweise Kindermann in den Vorstudien seiner Ausgabe der Conso-latio des Laurentius von Durham Er billigt Martianus nur eine sekundaumlre Varro-Kenntnis zu(Kindermann 1969 60) Entschieden verneint wird die Frage von Schievenin (2009f) und Hadotdie vor allem neuplatonische Quellen vermutet (Hadot 2005 149) Schneider jedoch nimmt andass sowohl Augustin als auch Martianus die Disciplinae noch vorliegen hatten (Schneider 1999109 f) und dass die Satiren-Exzerpte des Nonius Marcellus (fl um 400 in Afrika) ebenfalls ausdem Originaltext Varros angefertigt wurden (ibid 96 Anm 12) Abwaumlgend aumluszligert sich Huumlbner2004 passim Vgl Cic ac 1 8 (es spricht Varro)

et tamen in illis veteribus nostris quae Menippum imitati non interpretati quadam hilaritateconspersimus multa admixta ex intima philosophia multa dicta dialectice quae quo faciliusminus docti intellegerent iucunditate quadam ad legendum invitati

Jedoch findet sich in meinen fruumlhen Schriften die ich in kreativer Nachfolge (und nicht nurUumlbersetzung) Menipps mit einer gewissen Heiterkeit benetzt habe vieles aus den Kernbe-reichen der Philosophie beigemengt und vieles das nach Art der Dialektiker gesagt istdamit die weniger Gelehrten es leichter verstuumlnden nachdem sie durch eine Art von Scherzzur Lektuumlre ermuntert worden sind

Vielleicht hatte Martianus diese Stelle sogar im Kopf als er die Anlage von De nuptiis plante So z BWeinreich in der Einleitung zu seiner Uumlbersetzung roumlmischer Satiren bdquoMartianusCapella glaubte gewiszlig ein Varro redivivus zu sein sozusagen die Quintessenz des Gelehrten unddes Satirikersldquo (Weinreich 1962 XCIII) Ebenso Shanzer 1986c 42

144 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

bewusst gewesen sei ndash was ihm sicher nicht gerecht wird Auszligerdem wird so dieBezugnahme auf weitere formale Elemente der menippeischen Tradition und dieuumlbrigen Vorlaumlufer der Gattung mit anderer Konzeption (Lukian Julian) nichtausreichend beruumlcksichtigt

Ebenfalls beim Autor koumlnnte eine zweite Erklaumlrung ansetzen Im Zuge derAbfassung seiner Enzyklopaumldie hat sichMartianus nach horazischer Vorgabe (unddem Beispiel Varros)sup3⁴⁹ um Auflockerung und heitere Elemente bemuumlht Diespontanen Einfaumllle wurden ins Werk integriert und die sich daraus ergebendenInkonsistenzen entweder uumlbersehen oder billigend in Kauf genommen Beideswuumlrde gut zum klassisch negativen Martian-Bild in der Forschung passensup3⁵⁰Abgesehen davon dass Annahmen uumlber das Vorgehen beim Schreiben weitge-hend auf Spekulation beruhensup3⁵sup1 widersprechen drei Beobachtungen dieser Er-klaumlrung Erstens gelingt es Martianus De nuptiis uumlber neun Buumlcher vorauszu-planen so dass am Ende ein ndash zunaumlchst abgesehen von der Satire-Problematik ndashkohaumlrentes Werk entsteht Die Fuumllle der behandelten Themen Motive und lite-rarischen Elemente weist eher auf ein planvolles Arbeiten hin und macht es un-wahrscheinlich dass Martianus Probleme an dieser Stelle nicht wahrgenommenbzw nicht korrigiert haumltte Zweitens ist die Verbindungvon Satire und den anderenElementen nicht nur oberflaumlchlich so dass sie nachtraumlglich eingefuumlgt sein koumlnnteoder sich im Schreibprozess so ergeben haben koumlnnte Da bereits im zweitenKapitel des ersten Buches Satura eingefuumlhrt wirdwar sie von vornherein Teil des

Gemeint ist das beruumlhmte zunaumlchst nur fuumlr die Dichtung relevante prodesse aut delectare(Hor ars 333 f) zu Varro vgl die schon angefuumlhrte Stelle aus Cic ac Vgl z B die sehr bildliche Beschreibung von C S Lewis bdquo[hellip] this universe which hasproduced the bee-orchid and the giraffe has produced nothing stranger than Martianus Capella[hellip] the curiosity shop of his mind [hellip] a chaos beside which the work of Rabelais has unity andthat of Mandeville probabilityldquo (Lewis 1936 78 f) Gleiches gilt fuumlr Spekulationen uumlber eine andere Auffassung von Literatur und ihrenRegeln in Martianusrsquo Zeit oder Umfeld Einerseits kennen wir keine Texte die sich mit De nuptiisvergleichen lieszligen (was per se nichts beweist aber doch Indiziencharakter hat) andererseitshielten sich auch die spaumltantiken Autoren uumlblicherweise an die klassischen Vorgaben Ich teiledaher auch Schneiders Ansicht nicht der die Skepsis an dieser Verbindung allein der modernenLeseerfahrung zuschreibt bdquoWenn den Heutigen diese Kombination der forcierten Gelehrsamkeiteines Curriculums und der spielerisch-saloppen Causerie seltsam beruumlhren mag so waumlre dazuimmerhin schon an ein ciceronisches Dictum zu erinnern non est enim seiunctus iocus a phi-lologia (ad fam 16214) ndash sbquoSpieltrieb und Pedanterie diktieren und widersprechen sich nichtlsquo(sbquoErste Fruumlhschichtlsquo aus Grassrsquo sbquoHundejahrelsquo)ldquo (Schneider 1999 94 Anm 2) Der Verweis aufCicero traumlgt nichts zum Verstaumlndnis von Martianus bei Cicero geht es an der zitierten Stelle umden Ablauf des Tages mit seinem Schuumller der aus ernsteren und heitereren Abschnitten bestehtDaraus folgt nicht dass das Lernen mit Scherz verbunden ist ndash auszligerdem duumlrfte Cicero unteriocus (sbquo[urbaner] Scherzlsquo) anderes verstanden haben als Martianus in seiner Satura bietet

2 De nuptiis als literarisches Werk 145

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Kompositionsplans Drittens hat Schievenin gezeigt dass Martianus keineswegsoberflaumlchlich und eigenwillig arbeitet Durch eine gruumlndliche Untersuchung derSilen-Passage (8 803ndash805) kann er nachweisen dass Martianus ndash wie vieleAutoren vor ihm ndash uumlber ein umfangreiches literarisches Wissen verfuumlgte daraufbei der Abfassung seines Werkes zugreifen konnte und durch gezielte Anspie-lungen neue Bezuumlge herstelltesup3⁵sup2

Satire als Mittel der KritikWaumlhrend die antike Satire (im Gegensatz zur modernen) nicht zwangslaumlufig Kritikan Missstaumlnden uumlben wollte ist diese Moumlglichkeit umgekehrt auch nicht auszu-schlieszligen Martianus koumlnnte also bewusst eine solide Darstellung der Kuumlnste inliterarischem Gewandmit der Gattung der Satire verbunden haben um Zweifel ander Ernsthaftigkeit der uumlbrigen Teile des Werkes zu wecken Er wuumlrde somit einaufklaumlrerisches Interesse verfolgen das zugleich auch unterhaltsame Zuumlge traumlgt

Eine erste Schwierigkeit dieser Lesart von De nuptiis ergibt sich bereits bei derFrage nach dem Objekt der SatireWerden die Wissensinhalte in Zweifel gezogenoder nur die Art ihrer Vermittlung in langen Reden bzwTraktaten Soll der Glaubean die umfassende Einheit des Wissens kritisiert werden oder die Vorstellungsaumlmtliches Wissen lasse sich vermitteln gar kohaumlrent in einem Werksup3⁵sup3 Ist dieVorstellung dass Wissen goumlttlich mache parodiert oder nur die abwegige Vor-stellung dass auf einer Hochzeit solche Reden gehalten werden Oder richtet sichdie Kritik letztlich gegen die Auffassung Philologia als Vorbild zu sehen oder garals Mittlerin alles Wissens ja sogar als Mittlerin zwischen Menschen und Goumlttern

Aus der Tatsache dass das Objekt der Satire keineswegs leicht zu bestimmenist kann nicht gefolgert werden dass in De nuptiis keine Satire vorliege die be-stimmte Sachverhalte kritisiere Aber es kann durchaus gefolgert werden dass eskeine expliziten textinternen Merkmale gibt die das Lesen steuern und den Ge-genstand der Kritik deutlich hervortreten lassen Die Deutungen gehen also vonmodernen Annahmen uumlber das Umfeld bzw die Gedankenwelt von Martianus aus

Im Kern handle es sich um bdquouna narrazione tersa e brillanteldquo verbunden mit einemDickicht an Verweisen Die Silen-Szene habe einen bdquocarattere colto e della dottrina e dellalingualdquo (Schievenin 1984 132) Das Fazit seiner Untersuchung formuliert Schievenin folgen-dermaszligen bdquoIl De nuptiis si rivela dunque opera di vasti orizzonti non solo per lrsquointento dida-scalico che la pervade e che ne determineragrave la fortuna ma anche per la costante presenza nellafabula della tradizione classica e dei suoi echildquo (ibid 136) Vgl zu dieser Stelle auch Bovey2003 275ndash288 ndash Den geschickten Umgang mit mehreren Quellen ndash erzaumlhlerisch wie seman-tisch ndash kann Schievenin auch fuumlr 7 725ndash727 nachweisen (Schievenin 2009e) So z B Relihan 1993 138 bdquoMartianus writes not an encyclopedia but a Menippean satirethat parodies encyclopedic knowledgeldquo

146 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

und weisen zudem meist nicht kleinschrittig auf wie der Interpret zu seiner (oftapodiktisch dargelegten) Ansicht gelangt

Nun folgt daraus noch nicht dass Martianus De nuptiis nicht als kritisierendeSatire konzipiert haumltte die Vielzahl der (wenn auch differierenden) modernenDeutungenweist ja darauf hin Zwei Uumlberlegungenwenn auch keine schlagendenBeweise lassen die Hypothese der parodierenden Satire unwahrscheinlich wer-den der Umfang von De nuptiis und seine Rezeption Eine Satire die beispiels-weise die Verbindung von Weltwissen und menschlicher Vervollkommnung in-frage stellt benoumltigt nicht noch eine umfassende Darlegung eben diesenWissensDies gilt besonders da diese Darlegung den Hauptteil des Werks ausmacht und ndashzumindest dem Umfang nach ndash die uumlbrigen Partien weit uumlberragt Eine Deutungvon De nuptiis als kritischer Satire muumlsste also besonders die Frage beantwortenzu welchem Zweck die umfangreichen Darstellungen der Freien Kuumlnste aufge-nommen sind (und nicht nur angedeutet werden)

Die Rezeption eignet sich zwar ebenfalls nicht zu sicheren Ruumlckschluumlssen aufdie originale Intention eines Werkes haumlufig bietet sie aber interessante EinblickeDie Martianus-Rezeption stellt sich bald ein Cassiodor beruft sich in seinen In-stitutiones auf ihn Dort erscheint Martianus nicht als Satiriker oder Zeitkritikersondern als Gelehrtersup3⁵⁴ In dieser Tradition wird Martianus auch im Mittelaltergelesen und rezipiertsup3⁵⁵

Aumlhnliches laumlsst sich fuumlr Boethiusrsquo Anknuumlpfen an die prosimetrische Form inder Ausgestaltung von Martianus sagen Boethius verfasst zweifelsfrei keine kri-tische Satire kann aber trotzdem an die Form und den Inhalt von De nuptiisproblemlos anknuumlpfen Sowohl der Form nach wie auch durch einzelne Zitatemacht er deutlich dass erDe nuptiis kennt und als eine seiner Vorlagen benutzt Esist zu bezweifeln dass Boethius in seinem Bemuumlhen um eine adaumlquatewerbendeDarstellung der Philosophie auf Form und Zitate des Martianus zuruumlckgegriffenhaumltte haumltte er nicht die Moumlglichkeit der gefahrlosen Uumlbernahme gesehen

Satirische Elemente als Mittel der BelehrungDer dritte Erklaumlrungsansatz fuumlr die Verbindung von Satire und Belehrung be-trachtet die Wahl Saturas als Figur und die Bezugnahme auf die Gattung zunaumlchst

Cassiod inst 2 2 17 Zur mittelalterlichen Martianus-Rezeption vgl bes Nuchelmans 1950 Lutz 1971 und 1976Willis 1973 sowie die Ausgaben und Literatur u a zu folgenden Werken Konrad von MureFabularius Hugo von Sankt Victor Didascalicon de studio legendi Johannes von SalisburyMetalogicon Kindermann kann weiterhin nachweisen dass De nuptiis auch durch seine Forminspirierend gewirkt hat (Kindermann 1969 61 f)

2 De nuptiis als literarisches Werk 147

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

als reine Fortsetzungder literarischen Form Fuumlr diese spezielle Formder Literaturdie menippeische Satire hat der russische Literaturwissenschaftler MichailBachtin Beobachtungen aufgestellt die auch fuumlr De nuptiis zutreffen Durch denRuumlckgriff auf zwei zentrale Konzepte Bachtins das Karnevaleske und die Dialo-gizitaumlt wird ein Verstaumlndnis von De nuptiis ermoumlglicht

Auf der Suche nach Vorlagen und Urformen der Gattung des Romans ins-besondere in der Form von Dostojewskis Romanen stieszlig Bachtin unter anderemauch auf die menippeische Satire die er bis in die Antike zuruumlckverfolgtesup3⁵⁶ Zuihren Vertretern zaumlhlt er unter anderem Varro Apuleius Petron Seneca oderLukiansup3⁵⁷ Martianus Capella wird nicht erwaumlhnt was aber nicht verwundernmuss da Bachtin keine Literaturgeschichte der menippeischen Satire schriebsup3⁵⁸

Kern der Uumlberlegungen Bachtins zurmenippeischen Satire ist das Konzept desKarnevals Unter Karneval versteht er folkloristische Feste waumlhrend deren diebestehende Ordnung verkehrt wird uumlbliche Regeln nicht mehr gelten Herr-schende gestuumlrzt und Machtlose maumlchtig werden ndash auf Zeit Die Karnevalisierungalso die Uumlbernahme der Kennzeichen dieses Festes in neue oder bestehende li-terarische Formen institutionalisiert diese Ausnahmesituation und loumlst sie vomkonkreten Fest Der so entstandene Text wird bdquozum karnevalesken Spiel an demder Autor und sein Publikum einverstaumlndlich teilhaben und das keines kalen-darisch oder institutionell abgesicherten Karnevalsrahmens mehr bedarfldquosup3⁵⁹

Diese Karnevalisierung fuumlhrt unter anderem zu einer Vielstimmigkeit vonMeinungen und Positionen im Text z B durch mehrere Figurenvon denen keinebevorzugt oder gar als autoritativ gekennzeichnet wird In dieser Dialogizitaumlt wirdkein allgemein guumlltiger Sinnmehr vermittelt sondern dieWahrheit suspendiertsup3⁶⁰

Dass der Bezug auf karnevalsartige Feste der Gattung menippeische Satire (inTeilen auch der Verssatire) eignet zeigt ein kurzer Blick auf wichtige Vertreter derTradition

Julians Symposion Caesares spielt zur Zeit der Saturnalien Die Bedeutungdieses Festes fuumlr das Werk wird dadurch verdeutlicht dass es den Handlungs-

Bachtin 1971 126ndash 135 Bachtin 1971 126 128 132f Kritik an den z T pauschalisierenden und verfaumllschenden Aussagen Bachtins uumlber antikeLiteratur oder an der ununterbrochenen Traditionslinie von der Antike bis in die Moderne (z BRelihan 1987 59 Lachmann 2006 23ndash25) muumlsste auch auf manche moderne Literaturwissen-schaftler in der Nachfolge Bachtins angewandt werden (vgl Branham 2005 6 wo es uumlberSenecas Apocolocyntosis heiszligt bdquoour only extant Menippean satire in Latinldquo) Teuber 1993 182 Eine gut verstaumlndliche Einfuumlhrung in das Konzept der Dialogizitaumlt im Sinne der bach-tinschen Terminologie bietet Sharland 2010 Einfuumlhrung (1ndash51)

148 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

rahmen fuumlr den in der Folge erzaumlhlten Mythos bildet Bereits im ersten Satz wirdauf das Fest und die Tradition Heiteres frei zu erzaumlhlen Bezug genommensup3⁶sup1

Auch Senecas Apocolocyntosis stellt einen engen Bezug zum Saturnalienfesther Das Werk spielt zwar nicht an den Saturnalien sondern am Todestag desClaudius im Oktober doch wird an zwei Stellen eine Verbindung zwischen derHerrschaft des verstorbenen Kaisers und den dargestellten Sitten waumlhrend derRegierungszeit mit dem Saturnalienfest gezogensup3⁶sup2 Manche Interpreten gehensogar davon aus dass die Apocolocyntosis an den Saturnalien des Jahres 54vorgetragen wurdesup3⁶sup3 Auch bei Petron und Horaz finden sich Bezugnahmen aufdie Saturnaliensup3⁶⁴

Ein zentrales Element des Saturnalienfestes liegt in der Suspension der uumlb-licherweise geltenden Normen und Wertesup3⁶⁵ Neben den anderen Elementen desFestes wie sie z B in Macrobiusrsquo Saturnalia (1 7ndash 10 1 24 22 f) beschriebenwerden (traditionelle Geschenke Festmahl fuumlr die Sklaven etc) hat gerade dieUmkehrung der Herrschaftsverhaumlltnisse im Haus Niederschlag in der Literaturgefunden

Gerade durch diese Rolleninversion treten einige wichtige gesellschaftlicheNormvorstellungen und Grundannahmen prominent hervor Dazu zaumlhlt das Be-wusstsein dass es eine befehlende und eine ausfuumlhrende Gruppe von Menschengibt oder dass im Prinzip ein Rollenwechsel moumlglich sein kann Alle Beteiligten

Ἐπειδὴ δίδωσιν ὁ θεὸς παίζειν ndash ἔστι γὰρ Κρόνια ndash hellip (sbquoDa der Gott das Scherzen erlaubt ndashes sind ja die Kronia helliplsquo Caes 1 = 306a Spanheim) Zur Frage ob es sich bei Caesares auch umdas Werk handle auf das zu Ende der Rede auf Koumlnig Helios verwiesen wird (Or in Sol reg 44 =157c Spanheim) vgl Muumlller in seiner Uumlbersetzung (39 ablehnend) und Lacombrade im Vorwortseiner Budeacute-Ausgabe (3 und 18 Anm 3) der aufgrund des Handschriftenbefundes Kronia auchals Titelbestandteil fuumlr die Caesares uumlbernimmt Es handelt sich um Sen apocol 8 1 (Claudius als Saturnalienprinz) und 12 2 (Herrschaftdes Claudius als andauerndes Saturnalienfest) ndash Dass Lukian nicht auf die Saturnalien alsRahmen fuumlr seine Werke zuruumlckgreift entwertet die Beobachtungen nicht Lukian musste auf-grund seines Selbstbewusstseins als satirischer Schriftsteller und aufgrund der Menge seinersatirischen Schriften nicht jedes Mal einen eigenen literarischen Rahmen herstellen in demeinzelne Dialoge stattfinden konnten Das Saturnalienfest selbst erscheint bei Lukian als Ge-genstand der Satire nicht als deren literarische Rahmung (Τὰ πρὸς Κρόνον) Zuerst bei Furneaux 1896 23 Anm 11 In der neueren Forschung vgl bes Nauta 1987Kritisch dazu u a Doumlpp 1993 159 f Petron 44 3 58 2 69 9 zu Horaz vgl z B serm 2 7 (libertas Decembris) Ein gelungenesBeispiel der Anpassung und Anwendung der bachtinschen Konzepte mit Ertrag fuumlr die Inter-pretation unter Einbezug von serm 2 7 bietet Sharland 2010 Distelrath 1999 114 Vgl weiterhin Versnel 1993 136ndash227 und Doumlpp 1993 Eine plastischeSchilderung der Rollenvertauschung bei der der Sklave dem Herrn die Leviten liest bietet Horserm 2 7

2 De nuptiis als literarisches Werk 149

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Herren wie Sklaven spielen also mit den Moumlglichkeiten einer alternativen Wirk-lichkeit

Das Besondere im Spiel mit den Moumlglichkeiten liegt aber in seiner zeitlichenBegrenzung Nach der Zeit des Ausnahmezustands gelten wieder die normalenimmer guumlltigen Regeln Die Rolleninversion erlaubt also ndash oder erzwingt gera-dezu ndash das Nachdenken uumlber bestimmte gesellschaftliche Normen und Wertvor-stellungen Durch die Ritualisierung und enge zeitliche Begrenzung ist darausjedoch keineswegs die Notwendigkeit entstanden die Verhaumlltnisse tatsaumlchlich zuhinterfragen oder gar zu aumlndern Daher lassen sich die Saturnalien auch als ein dieKonventionen bestaumlrkendes Fest verstehen Das Spiel mit der Moumlglichkeit eineranderen Gesellschaftsordnung hat durch seine Ritualisierung letztlich eine dieTradition legitimierende Funktion bekommen

In De nuptiis finden sich jedoch houmlchstens spaumlrliche Hinweise auf das Sa-turnalienfest Am ehesten weist das grob scherzende Agieren Saturas in diesenBereich Die bdquolangen Winternaumlchteldquo (1 2) koumlnnten (statt als Bezug auf Gellius) alsAnspielung auf das Saturnalienfest verstandenwerden ndash die Saturnalien finden inden laumlngsten Naumlchten uumlberhaupt statt seit der Kaiserzeit vom 17 bis 23 DezemberDies ndash wie die Spekulation uumlber eine spielerische etymologische Verbindung vonSatura und Saturnaliensup3⁶⁶ ndash ist aber insofern nicht von Belang da die Gattung alsGanze karnevaleske Zuumlge traumlgt und als gewissermaszligen institutionalisierter Kar-neval vom eigentlichen Fest losgeloumlst istsup3⁶⁷

Die Aufhebung der uumlblichen Ordnung (was Teuber im Ruumlckgriff auf Limina-litaumltskonzepte als praumlliminale Phase bezeichnet)sup3⁶⁸ beginnt mit der VorbereitungPhilologias zum Aufstieg in den Himmel Bereits das Erbrechen stellt eine mar-kante Umkehrung der alltaumlglichen Welt dar Statt sich Wissen anzueignen er-bricht Philologia es nun In der Goumltterversammlung auf der Milchstraszlige ist dieOrdnung sodann voumlllig verkehrt Philologia als Meisterin aller Disziplinen und

Zwar sind die einschlaumlgigen etymologischen Woumlrterbuumlcher skeptisch (v a WaldeHof-mann 2007 II 482 neutral ErnoutMeillet 2001 596) jedoch gibt es dahin gehende moderneDeutungen (aufgefuumlhrt bei WaldeHofmann 2007 II 482) und auch antike ParallelisierungenCic nat deor 2 64 Saturnus hellip est appellatus quod saturaretur annis (sbquoSaturn hellip wurde ergenannt weil er an Jahren gesaumlttigt istlsquo) Fulg myth 1 2 (p 17 16) a saturando Saturnus dictusest (sbquoDa er (die Menschen) saumlttigt wurde er Saturn genanntlsquo) Aug cons euang 1 23 35 Sa-turnus tamquam satur hellip νοῦς (sbquoSaturn gleichsam der gesaumlttigte hellip νοῦςlsquo) Vgl auch Gowers diedie etymologischen Verbindungen von satura Satyrspiel und Saturnalien untersucht (Gowers1993 109ndash 117) Sie kommt zu dem Befund dass keine Verbindung bestehe wohl aber verbin-dende Elemente identifiziert werden koumlnnten bdquocarnival licence parody uninhibited mockeryand excessive consumptionldquo (ibid 117) Vgl z B Teuber 1993 183 f Teuber 1993 183

150 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

bedeutende Lehrinstanz muss sich ihrerseits belehren lassen ndash mit dem Wissendas urspruumlnglich ihres war

Durch die Inversion wird die (vielleicht uumlblicherweise nicht prominente)Philologia in den Mittelpunkt geruumlckt und ihre zentrale Rolle im Wissenssystemtritt markant vor Augen Gleichzeitig kann darin eine leise Anfrage an ihre Lehr-autoritaumlt und eventuell auch ihre Eignung zur Lehre gesehen werden

Aufgrund des zeitlich begrenzten Rahmens der Verkehrung (diemit dem Endeder Vortraumlge voruumlber ist aber nicht explizit zuruumlckverwandelt wird) dessen Be-grenztheit durch Bezug auf die Form der menippeischen Satire ergaumlnzt werdenkann wird das System der Bildung und der Bildungsvermittlung jedoch nichtgrundsaumltzlich infrage gestellt Die Suspendierung Philologias ist temporaumlr

Dem Konzept der Dialogizitaumlt oder Mehrstimmigkeit folgend erklaumlrt sich auchdie Doppelung und Verunklarung der Erzaumlhlinstanz In den drei Dialogen indenen Satura und Martianus aufeinandertreffen behandeln sie die Frage desrichtigen Erzaumlhlens Dies beschraumlnkt sich nicht nur auf die Satire sondern umfasstalle auftretenden literarischen Formen Martianus und Satura sind sich uneinswie weit der Mythos reichen soll und ob eine Enzyklopaumldie trocken oder auchunterhaltsam erzaumlhlt werden soll (2 219ndash3 222) ob ein Symposion auch Zechenund Spaszlig vertraumlgt (8 803ndash810) oder ob und wie stark Satire Dinge vermischendarf (9 997ndash 1000)

Die unterschiedlichen Meinungen zu den Fragen werden zwar diskutiert undfuumlhren zu einem Ergebnis ndash der Erzaumlhlfluss versiegt ja an keiner Stelle oder setztneu an Allerdings entsteht in der Folge kein homogenes Werk und am Schlussmag keiner der beiden Erzaumlhler dafuumlr die Verantwortung uumlbernehmen Der Wi-derwillen sich zu dem Werk zu bekennen bedeutet aber gleichzeitig auch dassMartianus sich nicht festlegt welche Position er fuumlr die richtige haumllt Die Fragenach der rechten Art der Wissensvermittlung die auch in der Ent- und Inthroni-sierung Philologias anklang bleibt unbeantwortet

Schlieszliglich bringt der Blick auf die Aurelian-Vita aus der Historia Augustanoch einen weiteren Aspekt ein Parallel zur Aufteilung der Erzaumlhlinstanzen in Denuptiiswird der Erzaumlhlprozess in derHistoria Augusta aufmehrere AutorenverteiltWie zuerst Hermann Dessau und in der Folge Ronald Syme nachdruumlcklich gezeigthaben handelt es sich allerdings um nur einen Verfasser der uumlberdies auch inBezug auf die Abfassungszeit falsche Angaben gemacht hat und Quellen erfundenhatsup3⁶⁹ Insofern laumlsst sich der in der Historia Augusta gepraumlgte Begriff der

Auf den Charakter der Sammlung die Syme u a als bdquohoaxldquo bezeichnet (1983a 11 1983b13 1983c 219) die fingierten Autoren die manipulierten Quellen etc soll an dieser Stelle nurhingewiesen werden Vgl auch Cameron 2011 Kap 20 mit ausfuumlhrlicher Diskussion relevanterFragen

2 De nuptiis als literarisches Werk 151

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mythistoria der Vermischung von Mythischem und Historischem auch auf dieSammlung selbst anwendensup3⁷⁰

Als Menippee im engeren Sinne laumlsst sich weiterhin die Aurelian-Vita die 26Vita der Sammlung fassen und bezeichnenderweise spielt die Rahmenhandlungan denHilariasup3⁷sup1Wie zu den Saturnalien gehoumlren zu diesem Fest Scherze und ndash imRahmen von Maskierungen ndash Rollenwechselsup3⁷sup2

Noch in der rahmenden Einleitung zur Vita spielt sich folgender Dialog ab

1 et quoniam sermo nobis de Trebltellgtio Pollione qui a duobus Philippis usque ad divumClaudium et eius fratrem Quintillum imperatores tam claros quam obscuros memoriaeprodidit in eodem vehiculo fuit adserente Tiberiano quod Pollio multa incuriose multabreviter prodidisset me contra dicente neminem scriptorum quantum ad historiam pertinetnon aliquid esse mentitum prodente quin etiam in quo Livius in quo Sallustius in quoCornelius Tacitus in quo denique Trogus manifestis testibus convincerentur pedibus insententiam transitum faciens ac manum porrigens iocando[m] praeterea sbquoscribelsquo inquit sbquout

quae ille [scil Iunius Cordus] omnia exsequendo libros mythistoriis replevit talia scribendocum omnino rerum vilium aut nulla scribenda sint aut nimis pauca si tamen ex his morespossint animadverti qui re vera sciendi sunt hellip sed ex parte ut ex ea cetera colligantur(SHA Opil 1 5)

Bei der Anfuumlhrung von all diesen Informationen hat er die Buumlcher mit fabuloumlsen Ge-schichten angefuumlllt indem er Dinge von dieser Art schrieb wo doch uumlberhaupt keinenutzlosen Dinge geschrieben werden duumlrfen oder nur sehr wenige sofern daraus Verhal-tensweisen erkannt werden koumlnnen die wirklich wissenswert sind hellip aber zum Teil(schreibe ich) damit daraus das Andere gefolgert werden kann

quid Marius Maximus homo omnium verbosissimus qui et mythist[h]oricis se voluminibusinplicavit num ad istam descriptionem curamque descendit (SHA Quadr tyr 1 2)

Wie Hat sich Marius Maximus der groumlszligte Schwaumltzer vor dem Herrn der sich in seinenmythistorischen Werken verfangen hat etwa zu dieser Art der Darstellung und des sorg-faumlltigen Arbeitens herabgelassen

Hilaribus quibus omnia festa et fieri debere scimus et dici impletis sollemnibus vehiculo suome hellip Iunius Tiberianus accepit (SHA Aurelian 1 1)

An den Hilaria an denen alles zum Fest Gehoumlrende getan und gesagt werden muss wieman weiszlig empfing mich nach Erledigung der Zeremonien Iunius Tiberianus in seinemGefaumlhrt

Pausch bemerkt dieses besondere Datum zwar und erwaumlgt ob es sich um ein bdquoweitergehendesLesesignalldquo beispielsweise im Sinne karnevalesker Literatur handeln koumlnne verfolgt diese Spuraber nicht weiter (Pausch 2011 130 Anm 1) Herodian 1 10 5 ndash Einige Hinweise auf die Hilaria die im Kontext des Magna Mater-Festesam 25 Maumlrz gefeiert wurden bietet Fraser in seinem Kommentar zu Ovids Fasti (Fraser 1929244ndash248)

152 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

libet 2 securus quod velis dices habiturus mendaciorum comites quos historicae elo-quentiae miramur auctoreslsquo (SHA Aurelian 2 1ndash2)

1 Und weil unser Gespraumlch uumlber Trebellius Pollio der von den beiden Philippi bis zumvergoumlttlichten Claudius und dessen Bruder Quintillus gleichermaszligen uumlber beruumlhmte wieunbekannte Kaiser fuumlr die Nachwelt schrieb in derselben Saumlnfte stattfand behauptete erdass Pollio vieles ohne Sorgfalt und nur kurz dargelegt habe Ich erwiderte dass keinSchriftsteller sofern es um die Geschichte gehe nicht irgendwo gelogen habe und legtesodann dar worin sogar Livius Sallust Tacitus schlieszliglich sogar Trogus mit eindeutigenBelegen uumlberfuumlhrt werden koumlnnten Darauf sagte Tiberianus schlieszliglich scherzend indem ermeiner Meinung beipflichtete und mir seine Hand darbot bdquoSchreibe sowie du es fuumlr richtighaumlltst 2 Sage unbesorgt was du willst du wirst diejenigen als Gefaumlhrten fuumlr deine Taumlu-schungen haben die wir als Schoumlpfer historiographischer Beredsamkeit bewundernldquo

So sympathisch dieser Anspruch auch erscheinen mag ist er doch fuumlr das Ver-trauen in die Gattung der Geschichtsschreibung fatal Gerade in der Einleitungeiner Vita jedoch ndash zumal es der Fiktion nach die erste des Flavius Vopiscus Sy-racusius im Corpus der Historia Augusta ist ndash kann eine solche Anekdote ei-gentlich keinen Platz haben Sie erweckt beim Leser den Eindruck dass er dennachfolgend dargebotenen Informationen kein Vertrauen schenken duumlrfesup3⁷sup3

Die Parallelen zwischen der Historia Augusta insbesondere dem Vorgehen inder Vita Aureliani und De nuptiis liegen auf der Hand Verunklarung der Autor-schaft bzw der Erzaumlhlhaltung einerseits Erwecken von Zweifeln an der Glaub-wuumlrdigkeit des Dargebotenen andererseits

In der Historia Augusta sind die Inkongruenzen mit der Freude des Autors amliterarischen Spiel erklaumlrt worden Der Autor habe aus Freude am Fabulieren(vielleicht auchumein dafuumlr empfaumlngliches Publikum zu befriedigen) die Viten indieser Form verfasstsup3⁷⁴ Mag man dies fuumlr die Historia Augusta noch zugestehenderen Text uumlber einen laumlngeren Zeitraum vielleicht zunaumlchst ohne eine Gesamt-konzeption entstanden ist und auch sprachlich nicht herausragt stellt sich derSachverhalt fuumlr Martianusrsquo De nuptiis anders dar Das Werk hat durchaus einenliterarischen Anspruch und es folgt eindeutig einer vorab geplanten Gesamtan-lage Die Freude am Spiel mag vielleicht manches Detail beigesteuert haben fuumlrdie verschraumlnkte Anlage des Textes ist sie aber keine Erklaumlrung

Ganz anders ist der Anspruch zum Ende der Darstellung der Viten der bdquoDreiszligig Tyrannenldquoin dem der Autor beteuert seinem Werk mangele es zwar an literarischer Ausgefeiltheit nichtjedoch an Faktentreue da nunc cuivis libellum non tam diserte quam fideliter scriptum ndash sbquoGibnun dieses Buumlchleinwem du magst es ist nicht so sehr kunstvoll geschrieben wie es sachgetreuistlsquo (SHA Quadr tyr 33 8) Syme nennt dies bdquodeceit for its own sweet sakeldquo (1983c 217) Im gleichen Aufsatz spe-kuliert er auch uumlber das Interesse des Publikums an einer solchen Art von geistigem Spiel(ibid 221)

2 De nuptiis als literarisches Werk 153

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Es lohnt sich jedoch auch fuumlr die Historia Augusta einen Schritt weiter zugehen Ausgangspunkt dafuumlr ist die obige Beobachtungdass das literarische Spielder Historia Augusta nur durchschaut wer die Werke der historischen Literaturkennt Durch die Lektuumlre historiographischer Biographien bringt der Leser einebestimmte Leseerwartung also implizite Vorstellungen mit wie das Werk aus-sehen soll und wird Diese Erwartungen werden aber nicht oder nur teilweisebedient Formal gesehen weisen die Viten in der Historia Augusta zwar die Cha-rakteristika der Gattung auf ndash doch indem sie sie inhaltlich nicht adaumlquat aus-fuumlllen treten deren Konventionen vor Augen

Durch die uumlbermaumlszligige Verwendung falscher Verweise und erfundener Quel-len geraumlt zudem das Beglaubigungsverfahren historischer Texte in den Blick-punkt Der Leser erkennt anwelchen Stellenwelche Beglaubigungsmechanismenansetzen und auf welche Weise sie unterlaufen werden koumlnnen Uumlberspitzt lieszligesich behaupten DieHistoria Augusta verfolgt ein aufklaumlrerisches Interesse indemsie (spielerisch) aufzeigt welche Beglaubigungsverfahren die Geschichtsschrei-bung nutzt und wie sie manipuliert werden koumlnnen dadurch wird auch die Ma-nipulierbarkeit von Geschichte und Leser deutlich

In De nuptiis werden ebenfalls die Konventionen der Einzelgattungen ndash zu-mindest ansatzweise ndash hervorgehoben Dass kein perfektes Musterbeispiel derjeweiligen Einzelgattung entstehen kann liegt darin begruumlndet dass durch dieVerbindung der vier literarischen Genres keine oberflaumlchliche Konsistenz derFiktion entstehen kannVielmehr entstehen Bruumlche die ndash ebenso wie die Bruumlchein der Erzaumlhlhaltung ndash auch die Gattungskonventionen und ihre Annahmendeutlich werden lassen Dies gilt besonders fuumlr die Satire deren Vorgehen imKontrast zur eigentlichen Hochzeitshandlung aus dem Rahmen faumlllt und somitbesonderes Augenmerk erhaumllt Hinzu tritt mit der Figur Satura auch eine Perso-nifikation der Gattung die in theoretischen Diskussionen Annahmen und Vor-gehen mit Martianus eroumlrtert Grunduumlberlegungen der Gattung Satire werden sotheoretisch eroumlrtert und praktisch erprobt Gleiches giltwenn auch zT inwenigerdeutlicher Form auch fuumlr die anderen Formen Die Enzyklopaumldie in ihren langenMonologen wird durch Spott markiert die trockenen Kuumlnste werden probeweisedurch Allegorien zugaumlnglicher gemacht im Symposiondialog wird uumlberlegt in-wieweit uumlbliche Rollenmuster (der Zecher) einen Platz haben oder wie weit mandie fuumlr die Feier typischen Reden fuumlhren kann und immythischen Teil wird durchdie Gegenuumlberstellung mit dem handfesten Wissensbetrieb die Andersartigkeitdes Erzaumlhlens deutlich

So werden neben den Inhalten der Wissenschaften auch verschiedene lite-rarische Formen bewahrt Neben der reinen Anwendung und somit Tradierungwerden gleichzeitig auch die Mechanismen verdeutlicht deren sich die jeweilige

154 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Gattung bedient Somit wird ihr Funktionieren nachvollziehbar und in der Folgeauch nachahmbar

3 Zusammenfassung

Martianus weckt also durch die Wahl mehrerer gleichberechtigter Erzaumlhler diesomit das Erzaumlhlen unzuverlaumlssig werden lassen besonders aber durch dieUumlbernahme satirischer Gattungselemente ein Bewusstsein fuumlr die traditionellenGrundlagen desWissens- und Lehrsystems seiner Zeit ImGegensatz zur Satire diediese Fragen kategorisch stellt handelt es sich in De nuptiis um ein Spiel damitDer Satirebezug dient als Anknuumlpfung an die traditionellen Gattungsmerkmaleder menippeischen Satire Karnevaleske und Dialogizitaumlt

Durch die (temporaumlre) Rolleninversion richtet sich das Augenmerk aufPhilologia als Wissenszentrum und Wissensmittlerin und fordert zum Nach-denken daruumlber heraus Im Kern hinterfragt das Werk alle Bereiche die mit Bil-dung und Bildungsvermittlung zu tun haben Was sind die Inhalte wahrer Bil-dung Gibt es eine Einheit von Bildung Wie kann sie vermittelt werden

Allerdings zielt die Kritik nicht auf eine Aufloumlsung klassischer Bildungsinhalteund Vermittlungsformen Sie regt vielmehr durch Scherz und Bruumlche zumNachdenken uumlber diese Fragen an Dabei verzichtet Martianus auf eigene Vor-schlaumlge und Konzepte und festigt so gleichsam den traditionellen Bildungs-betrieb Das von ihm dargestellte Wissen wird kanonisiert und die Darstel-lungsform in langen Reden wird es auch Die mittelalterliche Rezeption von Denuptiis zeigt dies eindrucksvoll

Wissen umfasst dabei nicht nur das Faktenwissen der Vortraumlge sondern auchdas Wissen um bestimmte literarische Formen Durch die Verbindung von vierGattungen und die Doppelung der Erzaumlhlerfigur mit Reflexion uumlber angemessenesErzaumlhlen entstehen Inkonsistenzen die die Konventionen der einzelnen Gattun-gen hervortreten lassen Nicht alle Elementewerden auf dieseWeise deutlich aberMartianus bietet einen Ansatzpunkt die Fiktion auch unter der Fragestellung zulesen was einen Text der jeweiligen Gattung ausmacht ndash sowohl positiv wie ne-gativ formuliert

Mit seiner kreativen Konzeption und ihrer literarischen Umsetzung gelingt esMartianus eindrucksvoll Heiteres und Belehrendes zu verbindenwomit er an dieTradition Varros und die klassische antike Poetik anknuumlpft Es gelingt ihm daruumlberhinaus aber auchWissen zu vermitteln und die traditionellen Vorstellungen vonder Bedeutung dieses Wissens wie der Form seiner Vermittlung herauszustellenSpielerisch wird also gelehrt und hinterfragt nicht jedoch kategorisch kritisiertoder kuumlhn neu entworfen Gerade dadurch zeichnet sich Martianusrsquo De nuptiis

3 Zusammenfassung 155

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

tatsaumlchlich als nescioquid inopinum intactumque (sbquoetwas Ungewohntes und nochnie Gewagteslsquo 1 2) aus und macht es zu einem der bedeutendsten Buumlcher derSpaumltantike und zu einer interessanten Quelle fuumlr die Frage nach Bildungsvor-stellungen im fuumlnften Jahrhundert

156 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Page 11: Bildungsvorstellungen im 5. Jahrhundert n. Chr. (Macrobius, Martianus Capella und Sidonius Apollinaris) || III Martianus Capella, De nuptiis Philologiae et Mercurii

Architektur wirdmit Verweis auf den fortgeschrittenenAbendund diemenschlich-praktische Seite der Faumlcher erklaumlrtsup2⁸⁷

Im Detail nimmt Martianus aber durchaus Aumlnderungen vor So geht es imneunten Buch von De nuptiis nicht um die Musik im Allgemeinen sondern um dieHarmonie Diese Umgewichtung steht sicher in Zusammenhang mit der verbin-denden und vereinigenden Grundkonzeption von De nuptiis die zu Beginn desersten Buches (1 1) durch den Hymnus auf Hymenaeus den verbindendenHochzeitsgott ausgedruumlckt wurdesup2⁸⁸ Unterstuumltzt wird diese Eigenwilligkeit durchdie praktische Darbietung von harmonischem Gesang der die theoretischenAusfuumlhrungen ergaumlnzt und steigert (9 911ndash919 9 996)

Auch bei der Behandlung der Geometrie in Buch 6 greift Martianus in dietraditionelle Darstellung des Wissens ein Anstatt die Ausfuumlhrungen auf geome-trische Fragen und Lehrsaumltze zu beschraumlnken erweitert Martianus sie um einenausfuumlhrlichen geographischen Teil der um einiges laumlnger ist als der geometrische(Geographie 6 586ndash703 Geometrie 6 705ndash723) Ferreacute erkennt dahinter vor al-lem ein literarisches Ziel Die vorhandene Stoffmenge zur Geometrie sei zu kleingewesen so dass Martianus sie habe erweitern muumlssen damit das sechste Buchnicht bedeutend kuumlrzer werde als die uumlbrigen Buumlchersup2⁸⁹

Veraumlndert Martianus also gelegentlich aus kompositorischen Gruumlnden dietraditionelle Darstellung der Kuumlnste so kann man dies auch in der Zusammen-fuumlhrung der vielen Spezialschriften in einemWerk erkennenUmfasst das Konzeptder ἐγκύκλιος παιδεία zwar einen breiten Faumlcherkanon an den sich Martianusauch weitgehend haumllt so ist die Darstellung aller Faumlcher in nur einem Werk un-gewoumlhnlich

Uumlblich war die Form der Abhandlung der die Beschaumlftigung mit einer Dis-ziplin zugrunde lag Als Beispiele kann auf nahezu alle antiken fachwissen-schaftlichen Schriften verwiesen werden Ausnahmen sind allein die Sammel-schriften die aber explizit andere Ziele verfolgen und keinen Fachbereichgruumlndlich bearbeiten

Diese Feststellung gilt auch fuumlr die anderen Autoren mit teilweise sbquoenzyklo-paumldischemlsquo Programm z B Augustin oder Boethius Augustins bdquoBildungspro-grammldquosup2⁹⁰ umfasste aumlhnliche Faumlcher wie Martianus sie versammelte doch ver-

9 890ndash891 Hadot nimmt an dass diese Disziplinen nicht per se als unwichtig angesehenoder in bewusster Abgrenzung von Varro ausgeschlossen worden seien sondern weil sie nichtzur bdquoSchau der goumlttlichen Weisheitenldquo fuumlhren wuumlrden (Hadot 2009 16) Zu dieser Stelle und zu dem im Hymnus ausgedruumlckten philosophisch-poetischen Pro-gramm vgl LeMoine 1972a 14 Stahl 1971 86 Relihan 1993 61 Schievenin 2009c So Ferreacute im Vorwort ihrer Ausgabe xlvi Den Begriff verwendet Studer 2007 522

124 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

fasste Augustin zu den einzelnen Disziplinen jeweils eine eigene Schrift (mit derFolge dass er nicht alle Faumlcher behandelt hatte als er das Projekt aufgab wohlaber einige Themen abgearbeitet und die Buumlcher erschienen waren)sup2⁹sup1 Aumlhnlichverhaumllt es sich mit Boethius der sich etwa einhundert Jahre spaumlter ebenfalls mitverschiedenen Wissensbereichen beschaumlftigte Trotz der Leistung des Martianussetzte Boethius sein Vorhaben aber so um dass er den verschiedenen Disziplineneinzelne Abhandlungen widmetesup2⁹sup2

Allein Varro hat seinem breiten Œuvre an Spezialschriften auch noch ein imengeren Sinne enzyklopaumldisches Werk zugefuumlgt die Disciplinae Darin beschaumlftigtsich Varro mit dem gleichen Faumlcherkanon wie Martianus (unter zusaumltzlicherAufnahme der Medizin und Architektur) Da das Werk aber verloren ist und auchnur spaumlrliche Testimonien vorhanden sind laumlsst sich nicht abschaumltzen inwieferntatsaumlchlich eine einheitliche Schrift vorgelegen hat und welches Ziel Varro mit ihrverfolgtesup2⁹sup3

MartianusrsquoWerkDe nuptiis ist die erste erhaltene Enzyklopaumldie der Antike undduumlrfte somit maszliggeblich zum heutigen Verstaumlndnis des Begriffs der Enzyklopaumldieals eines einzigenWerkes das alles Wissen enthaumllt beigetragen haben Der Grundfuumlr Martianusrsquo ungewoumlhnliches Vorgehen duumlrfte in dem augenscheinlichen Plander Verbindung aller Disziplinen liegen der auch zu Beginn des Werkes durch diePreisung des Hymenaeus ausgedruumlckt wirdsup2⁹⁴

Zu Augustins Plan vgl retract 1 6 (Per idem tempus quo Mediolani fui baptismum per-cepturus etiam disciplinarum libros conatus sum scribere ndash sbquoZu der Zeit als ich in Mailand balddie Taufe empfangen sollte habe ich versucht auch Buumlcher uumlber die Faumlcher zu schreibenlsquo)begonnen und teilweise erhalten sind gramm mus und evtl dialect Neben den Schriften zur Theologie und zur Logik sind die Schriften zur Arithmetik(arithm) zur Musik (mus) und zur Rhetorik (in top divis) zumindest teilweise erhalten Hinzukommen Uumlbersetzungen astronomicher und geometrischer Fachschriften Zu Boethiusrsquo Fach-schriften und seinem Programm vgl Chadwick 1981 69ndash107 Das spaumlrliche Wissen spiegelt auch die knappe Einfuumlhrung von Cardauns 2001 Sie um-fasst fuumlr die Disciplinae inklusive Literaturverweisen knapp zwei Seiten (77ndash78) und bietet wenigsichere Informationen Eine interessante gleichwohl stark negative Antwort auf die Zusammenstellung derKuumlnste in einem Werk bietet Voumlssing der damit gleichzeitig aber auch die Einzigartigkeit desVorgehens herausstellt bdquoWas in den mittelalterlichen Kloumlstern als Summe antiker Bildung galtwar wohl nur das Resultat der Selbstdarstellung eines ehemaligen Advokaten der dem gebil-deten Publikum seiner Stadt demonstrieren wollte dass er mehr konnte als plaumldieren und mehrwusste als der normale scholasticus den uumlberlieferten prestigetraumlchtigen Bildungsstoff allersieben artes ndash der uumlblicherweise nur in einzelnen Fachbuumlchern (und bezogen auf einzelneDisziplinen) praumlsentiert wurde ndash in einem Werk zusammenzufassen und einzubetten in einironisches literarisches Spiel So hoffte er beides zu haben den Ruhm der Bildung und den derparodistischen Distanzierung An eine spezifische Programmatik dachte er bei seiner Enzyklo-

2 De nuptiis als literarisches Werk 125

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Welches (philosophische oder literarische) Konzept dahinterstand und in-wieweit Martianus sein Vorhaben uumlberzeugend umsetzen konnte wird unter-schiedlich bewertetsup2⁹⁵Wie das Urteil auch ausfaumlllt gilt es doch zu beachten dassneben den enzyklopaumldischen Teilen mit ihrem traditionellen Inhalt in teils tra-ditioneller teils neuer Form auch andere narrative Strategien zum Einsatz kom-men die fuumlr eine umfassende Deutung und Bewertung ebenfalls beruumlcksichtigtwerden muumlssen

Literarisches SymposionEine andere Gattungstradition die fuumlr die Anlage von De nuptiis genannt werdenmuss ist die Form des literarischen Symposions In diesem Punkt besteht eineVerbindung zu Macrobiusrsquo Saturnalia deren Symposionform im entsprechendenKapitel untersucht worden istsup2⁹⁶

Auch inDe nuptiis lassen sich einige konstitutiveMerkmale eines literarischenSymposions aufzeigen Das Geschehen in den Buumlchern 3ndash9 spielt anlaumlsslich einerFeierlichkeit (der Hochzeit) an einem besonderen Ort (auf der Milchstraszlige)sup2⁹⁷ andem sich geladene Gaumlste (Goumltter Heroen etc) versammeln Den Vorsitz der Fei-erlichkeiten hat (gewissermaszligen als Symposiarch) Jupiter inne Es gibt zwar keineungeladenen Gaumlste doch Silen erfuumlllt die Rolle des Zechers und er verlaumlsst dieFeier vorzeitig (8 805) Auch die Liebe kommt nicht zu kurz indem Venus ihreReize spielen laumlsst (6 704) Voluptas mit Merkur flirtet (7 725ndash727) und Hymen-aeus mit seinem anzuumlglichen Gesang das Geschehen der Hochzeitsnacht zu-

paumldie ebenso wenig wie er seinen Platz im sbquoLehrplan des Abendlandeslsquo vorhersehen konnteldquo(Voumlssing 2008 404) Weit verbreitet ist die Ansicht Martianus habe eine Art Summe der antiken Gelehrsamkeiterstellt (Cristante im Vorwort seiner Ausgabe 27 Ferrarino 1969 2 Bovey 2003 20 Cristante2009 [3] Schievenin 2009a 77) Die gegensaumltzliche Position formuliert bereits Parker bdquo[I]t isclear that the seven arts were never supposed to include the whole circuit of human knowledgeMartianus Capellarsquos list was a reduction of Varrorsquos and Varrorsquos was not supposed to include allknowledgeldquo (Parker 1890 459) S o Kap II4 Dort werden auch die typischen Merkmale dieser literarischen Form vor-gestellt Die Milchstraszlige in der Darstellung bei Martianus greift zwei Aspekte auf die allerdingsschon lange vor ihm verbunden worden sind Einerseits ist die Milchstraszlige der Ort an den dieauszligergewoumlhnlichen Menschen nach ihrem Tod gelangen (Cic rep 6 16 Manil 1 758ndash800)andererseits ist auch die Vorstellung nicht ungewoumlhnlich dass dort der Wohnsitz der Goumltter zufinden sei (Ov met 1 170ndash 176 Manil 1 801ndash804) Bei Martianus versammeln sich dort dieGoumltter doch ist dies auch der Ort an den die vergoumlttlichte Philologia gelangt ndash abgesehen vonden uumlbrigen herausragenden Menschen die sich im Gefolge sbquoihrerlsquo Brautjungfer dort versam-meln

126 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mindest andeutet (9 902 f) wenn die Ausfuumlhrung auch nicht beschrieben wird(9 996)

Das auffaumllligsteMerkmal sind aber die Reden die gehaltenwerden Sie aumlhnelnzwar nicht dem Inhalt wohl aber der Form nach der monologischen Anlage derSymposiongespraumlche bei Platon oder (stellenweise) Macrobius Ebenso passt derInhalt Bildungswissen an sich zu einem Symposion auch wenn er hier sehrausfuumlhrlich und ohne Ruumlcksicht auf die primaumlren Adressaten die Goumltter prauml-sentiert wird Bei Platon sowie bei Martianus scheint der Inhalt der Gespraumlche imVorfeld noch nicht festzustehen wie die Auswahl der jeweils naumlchsten RednerindurchApoll (3 223 4 328 8 8109 891) bzw Paidia (7 728) oder die Diskussion umden Fortgang der Feier bzw die noch folgenden und auszuschlieszligenden Reden(= Kuumlnste) zu Beginn von Buch 9 zeigtsup2⁹⁸

Die Anordnung der Redebeitraumlge nach steigender Relevanz und die unter-brechungsfreie Praumlsentation der Reden erinnert ebenfalls ans platonische Sym-posion Schlieszliglich nimmt das Spiel mit der Erzaumlhlinstanz (Satura oder Martianus)die verschachtelte Erzaumlhlsituation bei Platon oder Macrobius mit ihren verschie-denen Berichtsebenen auf und formt sie umsup2⁹⁹

Mythisch-allegorische ErzaumlhlungZu den bereits genannten literarischen Vorlagen von De nuptiis tritt ein weiteresElement hinzu dessen Bedeutung und dessen eigene Vorlagen nur schwer zubestimmen sind

Besonders Shanzer weist in ihremKommentar zum ersten Buch vonDe nuptiiswiederholt auf die orphischen gnostischen und philosophisch-religioumlsen Ele-mente in den sehr bildhaften aber streckenweise schwer verstaumlndlichen erstenbeiden Buumlchern hinsup3⁰⁰ Eine umfassende Interpretation des Mythos bietet sie je-doch nicht Vielmehr beschraumlnkt sie sich auf Verweise zur Herkunft einzelnerMotive und auf die Deutung kuumlrzerer Passagen

Kupke kommt bei einer Musterung der verschiedenen mythischen Reminis-zenzen im zweiten Buch von De nuptiis zu der Feststellung dass eine eindeutige

Ein zentraler Unterschied besteht jedoch darin dass die Vortraumlge nicht von den Gaumlstengehalten werden sondern dass die Gaumlste also die Goumltter nur Zuhoumlrer sind waumlhrend die Kuumlnstereden Hierin erinnert De nuptiis eher an Julians Caesares in denen die versammelten Goumltter jaauch wenig sprechen wohl aber die roumlmischen Kaiser die ndash wenn auch um einiges knapper ndashihre Leistungen darstellen Ausfuumlhrlicher dazu im weiter unten folgenden Abschnitt uumlber die Erzaumlhlinstanzen Shanzer 1986c passim

2 De nuptiis als literarisches Werk 127

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

und kohaumlrente Decodierung aller Verweise undAnspielungen nichtmoumlglich seisup3⁰sup1Ihrer Ansicht nach ist es dem modernen Leser nurmehr moumlglich einzelnen Ver-weisen nachzugehen und sie aufzuzeigensup3⁰sup2

Trotz der benannten Schwierigkeiten darf bei allen Fragen nach literarischenVorlagen nicht vergessen werden dass De nuptiis vor allem (aber nicht aus-schlieszliglich) auch ein allegorisches Werk ist Die imposante Schilderung der vierFluumlsse in Buch 1 Apoll auf demParnass-Huumlgel die allegorischen Figuren undvieleweitere Elemente sind nicht nur kreative literarische Erfindungen sondern for-dern zu einer uumlbertragenen Lesart des Werkes auf Besonders die ersten beidenBuumlcher die den Mythos enthalten muumlssen aus diesem Blickwinkel gelesen undverstanden werden

Zu verweisen ist auszligerdem auf die Bezeichnung der Erzaumlhlung als fabula oderfabella Neben der naheliegenden Bedeutung von sbquoErzaumlhlung Geschichtelsquo imallgemeinen Sinn ist sicher auch an die Diskussion um die Berechtigung von fa-bulae in Macrobiusrsquo Somnium-Kommentar zu denken Dort verteidigt Macrobiussowohl Platon als auch Cicero gegen den Vorwurf fiktive Geschichten zu benut-zen um philosophische Wahrheiten zu verkuumlnden In bestimmten Faumlllen seidieses Vorgehen gerechtfertigt solange es sich um wahrhaftige und belehrendeErzaumlhlungen handlesup3⁰sup3 Diese Voraussetzung kann man auch fuumlr De nuptiis alserfuumlllt ansehen Da Martianus zudem dem Neuplatonismus aumlhnlich nahesteht wieMacrobiussup3⁰⁴ ist von einer bewussten Entscheidung zugunsten einer literarischenDarstellung auszugehen

Den einzigen Versuch einer umfassenden Deutung verschiedener Elementedes Mythos und der allegorischen Darstellung hat ndash unter Vernachlaumlssigung ei-niger Details ndash bislang Lenaz unternommen In der ausfuumlhrlichen Einleitungseines Kommentars zum zweiten Buch von De nuptiis untersucht er die philoso-phisch-religioumlsen Motive in diesem Buch und kann Verbindungen zur Myste-

Kupke 1998 154 Kupke 1998 159 Fuumlr den spaumltantiken und den mittelalterlichen Leser glaubt sie jedoch andie Moumlglichkeit der problemlosen Dekodierung Macr somn 1 2 21 vgl oben Anm 45 Gerade die neuplatonischen Elemente von De nuptiis sind verschiedentlich benannt wor-den auch wenn nicht immer eine einheitliche Deutung geboten wird Haumlufig genannt wird derAufstieg Philologias in den Himmel uumlber die Sphaumlrenstufen der mit einer bdquoRuumlckkehr der Seeleldquogleichgesetzt wird (z B Bovey 2003 11 Lenaz 1975 113 vgl auch Guillaumin 2008) Hinge-wiesen wird auch auf die drei Frauen die Merkur nicht heiraten wollen (Sophia Mantike undPsyche 1 6ndash7) und die drei Seelenteile darstellen sollen deren Summe aber letztlich Philologiaist (Lenaz 1975 107ndash 110) Dagegen vertritt Kupke die These die neuplatonischen Elementetruumlgen keine zusaumltzliche Sinnebene bei (Kupke 1998 153) kritisch aumluszligern sich BednařiacutekovaacutePetrovićovaacute 2010 7

128 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

rieninitiation zu platonischen Mysterien chaldaumlischen Orakeln magischenPraktiken und zur Theurgie nachweisen Im Deutungsteil verwirft er die ThesenNuchelmansrsquo und Mathonssup3⁰⁵ als zu kurz greifend Nuchelmans hatte in derHochzeit Philologias und Merkurs (mittelalterlicher Kommentar-Tradition fol-gend) eine Forderung von Martianus nach der Vereinigung von Wissen (Philo-logia) und Rhetorik (Merkur) gesehen Mathons Ansatz fuumlhrte den Verweis auf dieneuplatonische Wieder-Erinnerung und die Ruumlckkehr der Seele in dieses Modellein Ebenso wie bei Nuchelmans werden auch hier nur wenige Elemente desMythos interpretiertsup3⁰⁶

Lenazrsquo eigener Ansatzsup3⁰⁷ folgt den Uumlberlegungen Ferrarinossup3⁰⁸ und ergaumlnzt siemit einigen Hypothesen Im Kern kreise der Mythos des zweiten Buches um einedoppelte Vereinigung die (horizontale) Vereinigung allen irdischen Wissens inPhilologia mit Hilfe von Hymenaeus und die (vertikale) Vereinigung der goumlttlichenund menschlichen Sphaumlre mit Hilfe von Eros Hinzu treten Uumlberlegungen ob essich bei Philologia und Merkur eventuell um nur eine Entitaumlt handle die Seelewelche getrennt worden sei und nun wieder zusammenfinde

Diese Lesart integriert die meisten der mythischen und allegorischen Ele-mente und verbindet sie weitgehend schluumlssig zu einem umfassenden KonzeptAllerdings vernachlaumlssigt sie auch bestimmte EinzelbeobachtungenWieso steigtPhilologia vom Sphaumlrenrand wieder auf die Milchstraszlige hinab (2 200 2 206)Wieso werden ihr auf der Milchstraszlige die irdischen Kuumlnste vorgefuumlhrt die sieerbrechenmusste damit sie in den Himmel aufsteigen konnte (2 135 f)sup3⁰⁹ Bereitsdiese Fragen zeigen deutlich dass eine kohaumlrente plausible Aufloumlsung des Mythosnicht leicht moumlglich ist

Nuchelmans 1950 Mathon 1969 Lenaz 1975 105 Aumlhnliches gilt auch fuumlr Hadots Deutung Sie identifiziert Merkur mit demaumlgyptischen Gott Theuth auf den in De nuptiis 2 102 f angespielt wird und nennt ihn diebdquoPersonifizierung der goumlttlichen Vernunftldquo waumlhrend Philologia die Personifizierung dermenschlichen Vernunftseele in deren idealem Zustand darstelle Die sieben Wissenschaften unddie sieben mantischen Kuumlnste ermoumlglichten es der Seele bdquozu ihrem Ursprung dem intelligiblenBereich oder zu Gottldquo zuruumlckzukehren (Hadot 2009 21 f) Lenaz 1975 106ndash 119 Ferrarino 1969 Dieses Problem entfiele wenn man annaumlhme dass Martianus die Erzaumlhlung nur auf dieersten zwei Buumlcher angelegt habe und erst danach die Moumlglichkeit einer Verbindung mit der inden Buumlchern 3 bis 9 folgenden Enzyklopaumldie erkannt habe Dafuumlr gibt es zwar Hinweise (bes dieDiskussion um die FiktionalitaumltUnterhaltung) am Ende von Buch 2 und zu Beginn von Buch 3doch duumlrfte man annehmen dass Martianus den Grundkonflikt von zuruumlckgelassenem Wissenund erneut geschenktem Wissen erkannt und behoben haumltte

2 De nuptiis als literarisches Werk 129

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Weiterhin uumlberbetont der Versuch den Mythos allein aus sich heraus zu er-klaumlren den Stellenwert des zweiten Buches im Gesamtwerk Als Interpretations-rahmen zwar wichtig tritt er bei fortschreitender Lektuumlre hinter die praktischeDarstellung der sieben Kuumlnste zuruumlck Diese nehmen nicht nur mehr Raum einsondern uumlberlagern die Darstellung im zweiten Buch und reduzieren somit auchderen Bedeutung Der Mythos ist also einwichtiger keineswegs jedoch der einzigeBestandteil von De nuptiis

Menippeische SatireDas auffaumllligste literarische Kompositionselement von De nuptiis ist jedochzweifellos die Wahl des Prosimetrums die Mischung von Prosapartien mit me-trischen Einheiten Der uumlberwiegende Teil des Werks ist in Prosa gehalten inwelchen 33sup3sup1⁰ metrische Partien eingelegt sind Dabei sind die Gedichte nichtregelmaumlszligig uumlber das gesamte Werk verteilt sie finden sich uumlberwiegend an ex-ponierten Stellen besonders an den Buchanfaumlngen und Buchenden Bei denmetrischen Partien innerhalb eines Buches handelt es sich fast ausschlieszliglich umGoumltterreden

Die beobachtete unregelmaumlszligige Verteilung der metrischen Partien unter-scheidet sich deutlich von der Gestaltung wie sie Boethius wenige Jahrzehntespaumlter inDe consolatione Philosophiae einsetzt Dort sind diemetrischen Partien inHinblick auf die Gesamttextmenge haumlufiger und zudem gleichmaumlszligiger verteiltsup3sup1sup1

Damit haumlngt zusammen dass auch die literarisch-argumentative Funktion dermetrischen Teile z T von derjenigen bei Boethius abweicht Bei Boethius stehendie Gedichte im Argumentationszusammenhang und fuumlhren Gedanken fort oderbuumlndeln sie in praumlgnanter Ausdrucksweisesup3sup1sup2 Ein gutes Beispiel dafuumlr ist eine

Die Zaumlhlung umfasst die zusammenhaumlngenden metrischen Partien und zaumlhlt auch Ge-dichte mit unterschiedlichem Versmaszlig (z B die Gedichte der Musen) als eine Partie Vgl dazu besonders OrsquoDaly 1991 Kap 1 (bdquoThe poetics of the Consolationldquo) darin 19ndash22 zuMartianus Sprachliche Parallelen sind zusammengestellt im Index der Boethius-Ausgabe vonBieler (CCSL 94 116) diskutiert werden sie bei Pabst 1994 163ndash 168 Da Boethius das Werk desMartianus kannte kann man von einer gelungeneren Ausdifferenzierung der Ansaumltze des Mar-tianus sprechen Der Vergleich des Einsatzes der prosimetrischen Form bei Boethius gewinntdadurch an Gewicht Eine Mischung von Prosa und Poesie findet sich weiterhin bei Fulgentius inden Mythologiae ndash Zu Parallelen in den Werkanfaumlngen bei Martianus Fulgentius und Boethiusvgl Klingner 1921 114 Pabst 1994 der Fulgentiusrsquo Vorgehen durchaus als bdquoimitatio Martianaldquoversteht (162 134ndash 137) fuumlr Boethius in Martianus allerdings nur eine Quelle sieht bdquoThey contribute to the argument as it proceeds yet take a wider view with an authorityoutside and above the adjacent prose They possess their own thematic design which spans theentire workldquo (Crabbe 1981 260) bdquoDie Metra bilden Ruhe- und Houmlhepunkte im Werk haumlufig

130 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Stelle zu Beginn des vierten Buches Nachdem zunaumlchst allgemein erlaumlutert wirddass die Weisen vermoumlgen was sie wollen die Schlechten jedoch nicht(cons 4 1 131ndash140) folgt in Versen eine Reihe plastischer Beispiele fuumlr die These(cons 4 carm 2) bevor der Gedanke fortgesponnen wird (cons 4 3 1ndash4)

An anderen Stellen uumlbernehmen die metrischen Partien eine Gliederungs-funktion indem sie Gedanken abschlieszligen und durch die Unterbrechung Zeit zurErholung bieten So sagt Philosophia zu ihrem Schuumller Boethius

bdquosed uideo te iam dudum et pondere quaestionis oneratum et rationis prolixitate fatigatumaliquam carminis exspectare dulcedinem accipe igitur haustum quo refectus firmior inulteriora contendasldquo (Boeth cons 4 6 200‐203)

bdquoAber ich sehe dass du bereits vom Gewicht der Untersuchung belastet und von der Breiteder Beweisfuumlhrung erschoumlpft auf die suumlszlige Erholung eines Liedes wartest nimm also denTrank damit du solchermaszligen erfrischt kraumlftiger zu den weiteren Themen eilen kannstldquo

In dieser zweiten Funktion setzt auch Martianus die metrischen Partien ein Dabeisind sie nicht in die Prosadarstellung eingeschoben sondern markieren fastausschlieszliglich die Buchanfaumlnge und Buchenden Explizites Ziel ist die Belebungdes Werkes um eine angenehme Lektuumlre zu erleichternsup3sup1sup3 Dies widersprichtMartianusrsquoAnkuumlndigung nach der hinleitenden Erzaumlhlung in denBuumlchern 1 und 2keine fiktionalen Erzaumlhlungen mehr einfuumlgen zu wollen die Darstellung solleernst und dem Gegenstand angemessen sein

nunc ergo mythos terminatur infiuntartes libelli qui sequentes asserentnam fruge vera omne fictum dimoventet disciplinas annotabunt sobriaspro parte multa nec vetabunt ludicra (2 220)

Nun also hat der Mythos sein Ende erreicht es beginnen die Buumlcher die die nun anschlie-szligenden Kuumlnste darbieten Denn mit wahrhaftiger Ernte entfernen sie alles Erdichtete undzeichnen die Kuumlnste nuumlchtern auf verbieten jedoch nicht gelegentliche Unterhaltung

stehen sie am Ende von Einzelabschnitten wo sie diese dann rekapitulieren und fuumlr densbquoSchuumllerlsquo zusammenfassen Bisweilen kommt ihnen auch eine Uumlberleitungsfunktion zuldquo (Kin-dermann 1969 63) ndash Zur Gattung allgemein allerdings mit besonderem Fokus auf die mittel-alterliche Literatur vgl Pabst 1994 bes 105ndash 133 zum Prosimetrum bei Martianus und 158ndash 195bei Boethius sowie Dronke 1994 bes Kap 2 (bdquoAllegory and the mixed formldquo) So auch McDonough der im Kapitel bdquoThe function of the poetryldquo zu Recht (aber zu kurzgreifend) formuliert bdquoIn undertaking the compilation of his encyclopedia the main challenge toMartianus lay in maintaining the interest of his readers (and himself) in making palatable thearid factual account of the various disciplinesldquo (McDonough 1968 37)

2 De nuptiis als literarisches Werk 131

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Scheint es an dieser Stelle so als ob Mythos und Heiteres getrennte Dinge waumlrenzeigt der unmittelbare Fortgang zu Beginn von Buch 3 dass beide Begriffe letztlichAumlhnliches bezeichnen Hier am Beginn der Schilderung der freien Kuumlnste(3 221 f) erlaumlutert Martianus in einem weiteren Gedicht das als Dialog gestaltetist warum er von seinem Plan abweicht

Camena bringt Schmuck fuumlr das Werk mit (amicta fictis commenta ferre) AufMartianusrsquo Einwand keine Mythen mehr vorbringen zu wollen (mythi pulsi) er-widert sie es gehe nicht um Luumlge (nil mentiamur) sondern um Einkleidung(vestiantur Artes) ndash man koumlnne die Brautjungfern also die Allegorien der freienKuumlnste doch nicht nackt vorfuumlhren Daraufhin gibt sich Martianus geschlagenund die Handlung von Buch 3 beginnt

Abgesehen von der unterhaltenden Funktion die besonders durch die Ge-dichte an den Buchenden gewaumlhrleistet wird scheinen die metrischen Passagenfuumlr viele Forscher wahllos in das Werk eingestreut Typisch ist eine Aussage wieCrabbe sie trifft bdquoMartianus uses verse frequently at the beginning sometimes atthe end of books and erratically throughoutldquosup3sup1⁴

Natuumlrlich kann von einer systematischen Verteilung und einer argumenta-tionslogischen Anordnung wie bei Boethius nicht gesprochen werden Bei ge-nauerem Hinsehen wird jedoch deutlich dass die metrischen Abschnitte nichtwillkuumlrlich uumlber das Werk verstreut sindsup3sup1⁵

Die meisten metrischen Passagen finden sich in den Buumlchern 1 und 2 von Denuptiis Diese Buumlcher enthalten die einleitende Handlung die als fiktionale Er-zaumlhlung dargeboten wird Im Bericht von der Suche Merkurs nach der richtigenEhefrau und von Philologias Aufstieg in den Himmel finden sich neun metrischePassagen Es handelt sich dabei bis auf die drei Faumllle der an den Buchanfaumlngen(Buch 1) und Buchenden (Buch 1 und 2) stehenden Gedichte um Reden vonGoumlttern Diese fuumlhren die Handlung fort und dienen also nicht der Buumlndelung derGedanken oder der Erholung des Lesers Stattdessen scheint es Martianus darumzu gehen das Sprechen der Goumltter durch die metrische Gebundenheit als be-

Crabbe 1981 264 Eine Typisierung die z T von der Position der metrischen Passagenlosgeloumlst ist bietet McDonough seiner Ansicht nach sind die metrischen Partien hauptsaumlchlichfunktional bdquoThe poetry thus is primarily functional although this function varies from book tobookldquo (McDonough 1968 38) Als Funktionen benennt er fuumlr Buch 1 Handlungsfortfuumlhrung fuumlrBuch 2 Schmuck fuumlr Buch 3 Belehrung fuumlr den Rest Einfuumlhrung oder Entlassung derBrautjungfern oder Unmut uumlber Verzoumlgerung der Hochzeit Der Rest seien bdquooccasional piecesldquo(ibid 40) ndash Verspartien finden sich am Anfang der Buumlcher 1 2 3 4 5 6 7 und 9 sowie am Endeder Buumlcher 2 4 5 7 und 9 Die ungleiche Verwendung der Metra bei Boethius und Martianus laumlsst sich am besten alsEntwicklung verstehen wie es beispielsweise Kindermann (1969 60) tut Zur Kenntnis desMartianus bei Boethius vgl oben Anm 311

132 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

sonders zu markieren Dies gilt vor allem fuumlr markante Szenen zum Beispiel dieRede Jupiters in der Goumltterversammlung gegen Ende des ersten Buches (1 91ndash93)oder die orakelartige Auskunft Apolls (1 21 f)

Diese Beobachtung gilt daruumlber hinaus ebenso fuumlr die genannten Stellen inBuch 9 auch wenn es sich dort nicht um die Vorgeschichte oder einen weiterenliterarischen Rahmen handelt Jedoch ist eine Szene mit Goumlttergespraumlchen ein-geschoben in der die Goumltter unter anderem auch Verse verwenden Durch dieseReden in metrisch gebundener Form soll den entsprechenden Buumlchern also einehoumlhere Wuumlrde verliehen werden

Einen zweiten Fall stellen die Gedichte zu Beginn oder zu Ende eines Buchesin den Buumlchern 3 bis 9 dar In diesen Buumlchern praumlsentieren die Freien Kuumlnste ingeschlossenem Vortrag die Inhalte ihrer Wissenschaft Die Gedichte in einigenFaumlllen in auktorialer Erzaumlhlhaltung gestaltet uumlberbruumlcken die Fuge zwischen denBuumlchern und bieten eine Pause zwischen den langen Vortragspartien der Leserkann sich erholen Die Inhalte der Verspartien sind unterschiedlich es handeltsich zumeist um den Ein- oder Auszug einer Brautjungfer (4 327 4 423 f 8 8028 808 9 911ndash919) um die Fortfuumlhrung der Hochzeitshandlung (5 425 8 8059 888) um die Anrufung eines Gottes (6 567ndash574) oder um eine Wendung desAutors an den Leser (5 566 9 997ndash 1000)

Dieser Einsatz der Verspartien ist jedoch noch keine hinreichende Erklaumlrungfuumlr die Wahl des Prosimetrums Sie erklaumlrt sich besonders dadurch dass Marti-anus auf diese Weise sein Werk in die Traditionslinie von Texten einreiht die alsmenippeische Satiren bezeichnet werdensup3sup1⁶

Charakteristisch fuumlr diese spezielle Form der roumlmischen Satire ist der Wechselvon metrischen und prosaischen Partiensup3sup1⁷ Klassische lateinischsprachige Ver-treter der menippeischen Satire sind Varro (Saturae Menippeae) Seneca (Apo-colocyntosis) und Petron (Satyrikon) in der griechischen Literatur nutzen Lukianund Julian (Caesares) diese Form Inhaltlich lassen sich nur wenige Verbindungenzwischen den Werken ziehen und auch die Umsetzung der formalen Elemente istunterschiedlich Dies fuumlhrt sogar so weit dass sich moderne Forscher trotz derbereits antik bezeugten Bezeichnungder Gattung teilweise auszligerstande sehen dieGattung genauer zu definieren oder dass sie ihre Fragestellung losgeloumlst von derGattungstradition verfolgensup3sup1⁸ Dies macht die Verortung von De nuptiis in diesemGenre nicht leichter

Zur menippeischen Satire vgl Relihan 1993 Coffey 1996 Im Gegensatz dazu beschraumlnkt sich die Verssatire seit Horaz auf die Verwendung desHexameters So betont Scheible im Vorwort ihrer Studie zu den Gedichten in Boethiusrsquo de consolationedass sie Vorgaben der Tradition in Hinblick auf die Gedichte nicht beruumlcksichtige ndash sie lieszligen

2 De nuptiis als literarisches Werk 133

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Gelegentlich wird sogar die These vertreten dass sich das satirische ElementinDe nuptiis in dieser formalen Verbindung von Prosaund Poesie erschoumlpfesup3sup1⁹DerGattungsbegriff sbquomenippeische Satirelsquo waumlre dann identisch mit der BezeichnungsbquoProsimetrumlsquo Dem widersprechen jedoch verschiedene Beobachtungen derRuumlckgriff auf die Etymologie des Wortes satura die Bezugnahme auf Vertreter derGattung und das Auftreten einer Figur namens Satura sowie deren Agieren dasuumlber die rein formale aumluszligerliche Satireform hinausweist schlieszliglich die beson-dere Gestaltung der Erzaumlhlsituation Diese vier Elemente sollen im Folgendenherausgearbeitet werden

Etymologie ndash Dass Martianus sein Werk sehr wohl als Satire verstanden wissenwill wird an verschiedenen Stellen deutlich Dies geschieht zum Beispiel durchgelehrte Anspielungen auf die Terminologie der antiken Satire an prominenterStelle So heiszligt es in 9 998

[Satura] haec quippe loquax docta doctis aggeransfandis tacenda farcinat immiscuitMusas deosque disciplinas cyclicasgarrire agresti cruda finxit plasmate

So haumluft sie plappernd Gelehrtes auf Gelehrtes und stopft geheimes und bekanntes Wissenzusammen hatMusenundGoumltter vermischt undhat sich erdacht dass die enzyklopaumldischenDisziplinen in einem baumlurischen Machwerk unreifes Zeug daherplappern

Die Woumlrter farcinat und immiscuit verweisen auf das Zusammenstopfen undVermischen verschiedener Zutaten z B in einer Wurst oder Pastete Gleiches giltfuumlr die Woumlrtermiscillo und aggeranssup3sup2⁰ Ausgangspunkt fuumlr diese Terminologie istdie Etymologie desWortes sbquoSatirelsquo an sich bedeutet urspruumlnglich etwaswie sbquobunteMischunglsquosup3sup2sup1 Traditionell sind Anspielungen auf diese Etymologie in der satiri-

sich nicht feststellen (Scheible 1972 8) Vorhandene Untersuchungen beschreiben in der Regeldie Konstituenten der einzelnen Werke Aufgrund der geringen Zahl uumlberlieferter Werke und dergroszligen Unterschiede zwischen ihnen ist es jedoch schwierig die typischen Elemente der Gat-tung zu benennen Auch diese Arbeit schlieszligt sich dem beschreibenden Vorgehen an undvergleicht an einschlaumlgigen Stellen inwieweit die Beobachtungen auch fuumlr die Gattung typischsind So z B Coffey der die Mischung aus Prosa und Poesie bei Martianus als bdquomiscellanyldquobezeichnet und vor einer Verbindung von De nuptiis mit der Satire als problematisch warnt(Coffey 1996 959) Vgl Relihan 1993 14 ErnoutMeillet s v satur -ra -rum (2001 596) WaldeHofmann s v satura (2007 II482f) Der zentrale Hinweis auf eine Ableitung des Wortes aus dem kulinarischen Bereich findet

134 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

schen Literatur selten Allein in Juvenal findet sich ein Hinweis darauf gleichwohlmit leicht anderem Verstaumlndnis Er betrachtet die Zusammenstellung der Satirenals farrago also als Mischgericht nicht die einzelne Satiresup3sup2sup2

In diesen sehr bildlichen Wendungen trifft Martianus gleichzeitig eine Aus-sage uumlber sein Verstaumlndnis der Darstellung von Bildungswissen Bei ihm gibt eskeine vorverdauten und mundgerecht aufbereiteten Wissenspaumlckchen (wie Ma-crobius sie bietet)sup3sup2sup3 sondern rohe Kost (cruda) die ihre Zutaten d h die lite-rarischen oder inhaltlichen Urspruumlnge nicht leugnet LeMoine formuliert prauml-gnant bdquoBy calling attention to the literary functions these metaphors fulfillMartianus hellip raises questions about the principles of seamless synthesis andverbal regurgitation which Macrobius so effectively demonstratesldquosup3sup2⁴

Dass Martianus durch diese Art der Darstellung seine Autoritaumlt infrage stelle(bdquohellip reveal doubts about the competence of the cook and the quality of the edu-cational feastldquo)sup3sup2⁵ laumlsst sich jedoch nicht erkennen Schlieszliglich benennt er seinVorgehen explizit (scheitert also nicht an einem gesteckten Plan) und bietetgleichzeitig mit der Kritik an der klassischen Form der Wissensvermittlung eineMoumlglichkeit an wie nicht-vereinheitlichte Wissensvermittlung aussehen kannBeeintraumlchtigungen des Vertrauens zum Erzaumlhler und zu den Inhalten gibt esallerdings ndash jedoch aufgrund anderer Faktorensup3sup2⁶

Bezug auf andere Satiriker ndash Neben den Anspielungen auf die Etymologie derGattung Satire treten explizite Bezuumlge auf andere Autoren menippeischer Satirenauf Namentlich wird jedoch keiner der Vorgaumlnger genannt die Nennung Varroserfolgt ausschlieszliglich in den Vortraumlgen der Brautjungfern und bezieht sichuumlberwiegend auf Varros fachschriftstellerische Werke oder seinen Ruf als Enzy-klopaumldistsup3sup2⁷

sich beim Grammatiker Diomedes (Grammatici Latini 1 485) Ausgehend von dieser Passageeroumlrtert Petersmann die Etymologie mit besonderer Beruumlcksichtigung des Ursprungs des Wortessatura aus dem Kuumlchenbereich (Petersmann 1986) Iuv 1 86 nostri farrago libelli Vgl die Kommentare Morton Braund 1996 95 f undCourtney 1980 103 Vgl die Gleichnisse in der praefatio zu den Saturnalia (Sat praef 5ndash9) und die Ausfuumlh-rungen in Kap II1 sowie die dort aufgefuumlhrte Literatur LeMoine 1991 360 ibid S u die Abschnitte bdquoErzaumlhlinstanzenldquo und bdquoDeutungen der komplexen literarischen Formldquo 4 335 (die Gelehrsamkeit Varros vgl Cic ac 1 9 Aug civ 6 2) 5 517 (Nennung in einemZitat) 6 639 und 6 662 (Fragen der Geographie die Varro-Vorlage ist nicht bekannt) 9 928 (cfVarro rust 3 17 4) Vgl zum Verhaumlltnis von Martianus und Varro bes Bovey 2003 Kap 2 (bdquoLaquestion varronienneldquo) und Schievenin 2009f

2 De nuptiis als literarisches Werk 135

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Allerdings zitiert die Wendung ὄνος λύρας in 8 807 den Titel einer menip-peischen Satire Varrossup3sup2⁸ Die Wendung ist in der lateinischen Literatur ander-weitig nicht belegt weshalb davon auszugehen ist dass Martianus hier auf denrepublikanischen Satiriker direkt zuruumlckgriff Da die Wendung zudem im Streit-gespraumlch zwischenMartianus und Satura uumlber die angemessene Art des Erzaumlhlensder Geschichte faumlllt kommt ihrer Verwendung eine programmatische Aussage zuMartianus stellt sich und sein Werk also in die Nachfolge Varros und seiner Sa-tiren

Ein Bezug auf Lukian ist weniger sicher nachzuweisensup3sup2⁹ Allerdings gibt eseine motivische Uumlbernahme im zweiten Buch von De nuptiis Philologias Erbre-chen des Wissens das der Hochzeit vorausgeht hat eine Parallele in LukiansDialog Lexiphanes Der allzu (ein)gebildete Lexiphanes nimmt auf Draumlngen vonLycinus ein Brechmittel ein das ihm der Arzt Sopolis gibt Daraufhin erbricht eralle Woumlrter die er gelernt hat dies ist die Voraussetzung dafuumlr dass er nun an-gemessen belehrt werden kannsup3sup3⁰

Es handelt sich um die Fragmente Varro Men 348ndash369 In Fragment 349 findet sich dieWendung auch im Vers (si quis μελωδεῖν est ὄνος λύρας praesepibus se retineat forensibus ndashsbquower beim Gesang wiersquon Esel an der Harfe bloumld der bleib getrost im Stallmief seines Forumsdortlsquo [Uumlbs Krenkel]) Die Bezugnahme auf Varro ist umso wahrscheinlicher da Satura unmit-telbar zuvor sowohl Martianusrsquo berufliche Aufenthalte auf dem Forum erwaumlhnt und ein Wort-spiel mit seinem Namen Capella angestellt hat ndash der zwar nicht sbquoEsellsquo bedeutet wohl aber einHaustier (sbquoZiegelsquo)Vgl dazu Shanzer 1968c 38ndash40 Shanzer 1986a kritisch dazu Pabst 1994 168(m Lit) Folgt man Bovey handelt es sich bei der unmittelbar folgenden Wendung καιρὸν γνῶθιum einen weiteren Verweis auf den Titel einer Varro-Satire γνῶθι σεαυτόν (= Varr Men 199ndash210 vgl Bovey 2003 282ndash284) Naumlher liegt wohl dass Martianus Capella diese eigenstaumlndigeSentenz (vgl Diogenes Laertios I 79 der sie als Sentenz des Pittakos ausweist) aus einer anderenQuelle uumlbernommen hat Kindermann 1969 60 Shanzer geht davon aus dass Martianus Lukian kannte (Shanzer1986c 36) Zur Diskussion um Martianusrsquo Griechischkenntnisse vgl Cristante 2009 [5] undShanzer 1986c 4 die beide annehmen dass Martianus durchaus Griechisch beherrschteShanzer weist einige Stellen auf an denen Martianus woumlrtlich uumlbersetzt und schlieszligt aus derBeherrschung des Griechischen zu Recht auf einen gebildeten moumlglicherweise sogar akade-mischen Hintergrund von Martianus Lucian Lex 20f Andere antike Texte die das Erbrechen von Wissen als Teil des Reini-gungsprozesses beschreiben oder als Bild tradieren sind mir nicht bekannt Daher ist eswahrscheinlicher dass Martianus auf Lukian im Original zuruumlckgegriffen hat Zur vor-byzantinischen Rezeption Lukians vgl Nesselrath 1994 der spaumltantike Bezuumlge auf Lukian u abei Julian und Claudian aufzeigt ndash Einen Bezug auf Lukians Concilium deorum fuumlr moumlglich haumlltKrapinger 1999 962 ndash Anders gelagert sind Lucian cont 7 und Aug in Joh ev tract 36 1 Dortgeht es darum dass durch das Ausspeien Wissen weitergegeben wird was zum Bild der daserbrochene Wissen aufsammelnden Artes passt nicht jedoch zum Motiv der Reinigung

136 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Bezuumlge auszligerhalb der Uumlbernahme uumlblicher Gattungselemente lassen sich fuumlrSenecas Apocolocyntosis Petrons Satyricon oder Julians Caesares nicht konsta-tierensup3sup3sup1

Die Figur der Satura und ihr Handeln ndash Einer der deutlichsten Hinweise auf dieForm der Satire liegt im Auftreten einer Figur namens Satura Diese Figur wirdzunaumlchst von Martianus als Erzaumlhlinstanz eingefuumlhrt (1 2) von der er den Inhaltvon De nuptiis erfahren haben will Im Laufe des Werks gewinnt Satura aber anProfil und agiert zunehmend autonom

Aussagen uumlber Satura beruhen letztlich auf drei Stellen in De nuptiis (6 576ndash5798 806ndash8109997ndash999) und koumlnnen fast ausschlieszliglich aus der Formund derBotschaft ihrer eigenen Aumluszligerungen gewonnen werden An allen drei Stellendiskutiert Satura mit Martianus Ansonsten ist Satura zwar als praumlsent zu denkenwird aber nicht weiter thematisiert

Nach Martianusrsquo Anrufung Minervas zu Beginn des sechsten Buches mischtsich Satura in seine Uumlberlegungen ein welche Frauen er vor sich sehe Die Ein-mischung wird von Martianus als scherzend bezeichnet (iocabunda 6 576) dieEinmischung an sich als typisch fuumlr das Scherzen Saturas (ut lepidula est 6 576)Die Aumluszligerung Saturas beginnt mit Spott uumlber Martianusrsquo nur scheinbare KlugheitDurch falsche naumlchtliche Studien und besonders seine Anwaltstaumltigkeit habe erden Blick auf das Wichtige verloren und erkenne nun nicht einmal mehr Philo-sophia und Paideia Der Scherz wird jedoch alsbald von einem belehrendenTonfall abgeloumlst in dem Satura Martianus uumlber das Wesen der beiden Frauenaufklaumlrt

Satura tritt als Naumlchstes zu Beginn des achten Buches auf in der Folge derSilen-Szene Der angetrunkene Silen war eingeschlafen und durch Amor aufge-schreckt worden was die uumlbrigen Goumltter laut lachen lieszlig (8 803ndash805) DieseSchilderung provoziert bei SaturaWiderspruch da sie das Erzaumlhlte als unpassendfuumlr die Goumltterversammlung empfindet Ihre Kritik beginnt wieder bei der Persondes Martianus dessen Namen sie als passend zu seinem Wesen deutet (Capella ~sbquoZiegelsquo 8 806) Sodann fordert sie Martianus auf seine Possen zu unterlassenMartianus fuumlhlt sich gehoumlrig von Satura gemaszligregelt und gibt klein bei bemerktaber dass sie ansonsten mehr von Scherzen halte (alioquin lepidula 8 807) AlsSatura dann die Einfuumlhrungder eintretenden Brautjungfer in Versenvorbringt undMartianus wiederum seine Scherze (ludicra 8 808) vorhaumllt kann dieser nicht

Mit Julian verbindet Martianus immerhin die Ansiedlung der Goumltterversammlung auf derMilchstraszlige ndash Zur Rolle der Saturnalien vgl den Abschnitt bdquoDeutungen der komplexen litera-rischen Formldquo

2 De nuptiis als literarisches Werk 137

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mehr an sich halten und zahlt Satura ihre Kritik in gleicher Muumlnze heim Nacheinigem Spott uumlber Saturas Verse verteidigt nun Martianus das Recht auf Scherzgegen sie die an sich ndash nicht aber in De nuptiiswie es scheint ndash eigentlich fuumlr denScherz zustaumlndig waumlre und gibt ihr mit Martial (2 41 1) den Rat auch einmal zulachensup3sup3sup2

Ein letzter Schlagabtausch von Satura und Martianus erfolgt schlieszliglich amEnde des Werkes Wiederum streiten beide Figuren miteinander und halten sichmit Spott uumlber das Wesen des anderen nicht zuruumlck

Die Einfuumlhrung Saturas die ja nur in Verbindung ndash und das heiszligt Ausein-andersetzung ndash mit Martianus erscheint dient vornehmlich der deutlichenBenennung der Gattung und der Verstaumlndigung daruumlberwas den Charakter einessatirischen bzw des vorliegenden Werkes ausmache Erstaunlich ist dabei Mar-tianusrsquo Entwicklung der sich zunaumlchst gegen Unterhaltung im artes-Teil ausge-sprochen hatte diese spaumlter aber gegen den censorischen Eingriff Saturas imachten Buch verteidigt Noch erstaunlicher ist aber dass es gerade Satura ist diezur Beachtung des Decorums auffordert und Martianusrsquo vergleichsweise mildenScherz scharf tadelt

Erzaumlhlinstanzen ndash Die Frage nach der Erzaumlhlsituation bzw der Erzaumlhlerfigurgehoumlrt zu den grundlegenden Analysekriterien eines literarischenWerkes ebensowie die Konzipierung von Raumund Zeit Lassen sich die letzten beiden Punkte imHinblick auf De nuptiis hinreichend klaumlrensup3sup3sup3 so bietet die Erzaumlhlerfigur groumlszligereSchwierigkeiten

DassDe nuptiis zwei Erzaumlhlinstanzen hat scheint zu Beginn desWerkeswenigdramatisch In 1 2 verweist der Erzaumlhler Martianus gegenuumlber seinem Sohn dar-auf dass die folgende Geschichte (also der uumlberwiegende Teil von De nuptiis) ihm

Ride si sapis o puella ride Schievenin bietet eine gruumlndliche Analyse dieser Stelle auchmit Blick auf die inverse Vorlage Martials (plora si sapis o puella plora Mart 2 41) derwiederum auf Ovid (Ov ars 3 281 f) zuruumlckgreift (Schievenin 1984 bes 136 ausfuumlhrlich auchBovey 2003 275ndash288) Die Rahmenhandlung spielt in der erzaumlhlerischen Gegenwart und in einem unbestimmtenRaum der jedoch nicht auszligergewoumlhnlich ist es liegt nahe an Karthago und das Haus desMartianus Capella zu denken Die eigentliche Handlung spielt an z T unwirklichen Orten aufder Erde die zumeist nicht naumlher bestimmt sind (z B Philologias Herkunft) und auf derMilchstraszlige wobei die absolute Zeit nicht genannt wird aber aufeinanderfolgende Tage inihrem Ablauf erkannt werden koumlnnen Die Phantastik einzelner Szenen die meist auf alle-gorische Darstellungsweisen zuruumlckgeht verletzt jedoch nicht die raumlumliche oder zeitlichePlausibilitaumlt des Dargestellten Vgl dazu auch die Ausfuumlhrungen und grafischen Veranschau-lichungen LeMoines (1972a)

138 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

waumlhrend langer Winternaumlchte (eine Anspielung auf Gellius)sup3sup3⁴ von Satura be-richtet wurde Der antike wie moderne Leser duumlrfte sich wohl kaum daran stoszligensondernwird darin vor allem eine Inspiration des Autors durch Satura (auchwennes das zuvor noch nicht gab) erkennen Bei der Erwaumlhnung von Satura koumlnnte erHeiteres erwarten oder bunt gemischte Geschichten

Vollkommen verwirrt wird der Leser hingegen spaumltestens dann wenn er amEnde des Werkes in der Sphragis angekommen ist (9 997ndash 1000) Dort reflektiertMartianus sein literarisches Vorgehen in den vorausgegangenen neun Buumlcherngenauer gesagt distanziert er sich von der Form der Darstellung (Umfang Bunt-heit) und verweist auf die Verantwortung Saturas die die Geschichte erzaumlhlt habe

Habes anilem Martiane fabulam 997Miscillo lusit quam lucernis flamineSatura Pelasgos dum docere nititurArtes daggercagris vix amicas AtticisSic in novena decidit voluminahaec quippe loquax docta doctis aggerans 998fandis tacenda farcinat immiscuitMusas deosque disciplinas cyclicasgarrire agresti cruda finxit plasmate (9 997 f)

Da hast du Martianus eine Altweibergeschichte sie verfertigte im Spiel mit vermischterInspiration [d h in Prosa und Vers] bei Kerzenschein Saturawaumlhrend sie sich bemuumlhte diePelasger zu lehren die Kuumlnste die den Griechen kaum freundlich [d h neu] sindSo gelangte sie hinab bis zum neunten Buch haumluft plappernd Gelehrtes auf Gelehrtes undstopft geheimes und bekanntes Wissen zusammen hat Musen und Goumltter vermischt und hatsich erdacht dass die enzyklopaumldischen Disziplinen in einembaumlurischenMachwerk unreifesZeug daherplappern

So ungewoumlhnlich dieses Vorgehen auch ist ndash Martianus haumltte ja den Bericht Sa-turas als Grundlage nehmen und dann nach eigenem Geschmack umgestaltenkoumlnnen ndash wird es uumlbertroffen durch die Verteidigung Saturas Sie weist die Ver-antwortung fuumlr die Art der Erzaumlhlung von sich und verteidigt sichmit demHinweisauf Martianusrsquo intellektuelle Schwaumlche der sie die Ausfuumlhrungen habe anpassenmuumlssen

Vgl Gell praef 4 zur Erklaumlrung der Wahl des Titels Noctes Atticae fuumlr sein Werk

Sed quoniam longinquis per hiemem noctibus in agro sicuti dixi terrae Atticae commentationeshasce ludere ac facere exorsi sumus idcirco eas inscripsimus noctium esse Atticarum hellip

Aber weil wir in langen Naumlchten den Winter uumlber in Attika auf dem Landwie schon gesagtdiese Anmerkungen im Spiel und dann ernsthaft begonnen haben daher haben wir ihnenden Namen Attische Naumlchte gegeben hellip

2 De nuptiis als literarisches Werk 139

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

haec ipsa nauci rupta conscientia 999turgensque felle ac bili bdquomulta chlamydeprodire doctis approbanda cultibuspossemque comis utque e Martis curia[hellip]ab hoc creatum Pegaseum gurgitem 1000decente quando possem haurire poculoldquo (9 999 f)

Sie sagte aufgrund ihres Wissens um die Nichtigkeit (dieser Ausfuumlhrungen) verletztschwellend vor Bitterkeit und Zorn bdquoIch koumlnnte hier freundlich auftreten mit einem Gewandbekleidet lobenswert durchgelehrtes Verhaltenwie aus der VersammlungdesMars [Es folgtdie Schilderung der unguumlnstigen Anlagen von Martianus] ndash Wann koumlnnte ich mit ange-messenem Becher aus einem pegasischen Strom von ihm erschaffen schoumlpfenldquo

Somit hat das Werk das zu Beginn zwei hierarchisch geschiedene Erzaumlhler zuhaben scheint am Ende zwei Erzaumlhler die sich gleichberechtigt uumlber die Form dererzaumlhlten Geschichte streitensup3sup3⁵

Die Inkonsistenzen auf der Erzaumlhlebene setzen sich daruumlber hinaus fort HatteMartianus zu Beginn des Werks gesagt Satura habe ihm die Geschichte waumlhrendlangerWinternaumlchte erzaumlhlt so treten Satura undMartianus amEnde desWerks inder erzaumlhlerischen Gegenwart gemeinsam auf und sprechen beide nacheinanderzu Martianusrsquo Sohn

Weiterhin erscheinen Satura und Martianus innerhalb der Geschichte dieMartianus angeblichvon Satura gehoumlrt hatWaumlhrend die Goumltter denverschiedenenBrautjungfern lauschenwohnen auch SaturaundMartianus der Versammlungbeiund betrachten sie als unbeteiligte ZuschauerWie aus einer Theaterloge herauskommentieren und diskutieren sie das Geschehen das auf der bdquoGoumltterbuumlhneldquostattfindetsup3sup3⁶

Noch einen weitergehenden Schritt stellt die Silen-Szene zu Beginn des achtenBuches dar Im Anschluss an diese Szene beschwert sich Satura bei Martianus erkoumlnne die Goumltter nicht auf dieseWeise agieren lassen In der Folge entspinnt sich einGespraumlch in demMartianus seine Art des Erzaumlhlens gegen Satura verteidigt die fuumlreine zuruumlckhaltendere Darstellung plaumldiert (s o)Von der Fiktion dass Martianusseinem Sohn bloszligwiedergibtwas Satura ihm erzaumlhlt hat bleibt nichtmehr viel dieganze Szenerie ist ein Produkt der ErfindungdesMartianus gleichzeitigwohnt er ihraber gemeinsam mit Satura bei ist also Teil der Handlung

So bereits Pabst 1994 120 Anm 119 der allerdings auf eine Diskussion der Beobachtungverzichtet Es handelt sich um die Stellen zu Beginn des sechsten und des achten Buches die imvorigen Abschnitt bereits paraphrasiert wurden

140 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Diese Art der Spiels mit der Erzaumlhlerrolle wird von manchen modernen For-schern als ein wichtiges Merkmal der menippeischen Satire angesehen Hinzu-treten kann die Selbstherabsetzung des Erzaumlhlers die sich an seinemmangelndenWissen Stilbewusstsein Traditionsempfinden o auml entzuumlndetsup3sup3⁷ Folglich kanndie zunaumlchst befremdliche Brechung und Verzerrung als weiteres Merkmal derGattung menippeische Satire bestimmt werden

Aufgrund dieser Beobachtungen ist es zwingend in De nuptiis vor allem eineSatire zu sehen Auch der heiter-spoumlttische Charakter einiger Passagen zwischenden Vortraumlgen der Brautjungfern passt zum satirischen Anspruch Gelegentlicherscheint es jedoch fraglich ob es sich wirklich um satirische und nicht eher umkomische oder derbe Spaumlszlige handelt Die Szene in der Silen betrunken einschlaumlftund von den anderen Goumlttern verspottet wird (8 803ndash805) erinnert mit ihremSlapstick eher an den derben Spott der Komoumldie als an die Satire eines Varrosup3sup3⁸

22 Deutungen der komplexen literarischen Form

Wie laumlsst sich das Werk De nuptiis nun also formal beschreiben oder andersgefasstWie lassen sich die vier literarischen Traditionsstraumlnge zusammenfuumlhrenDass eine einheitliche Lesung zumindest versucht werden muss zeigt bereits dasLeitmotiv der Hochzeit ansup3sup3⁹

Im Kern handelt es sich bei MartianusrsquoWerk um eine Sammlung bedeutenderWissensschaumltze in einem einzigen Werk die darin systematisch ausgebreitetwerden Dies zeigt die Einteilung in verschiedene Disziplinen die ein ver-

Zur Erzaumlhlerrolle in der menippeischen Satire vgl u a Relihan 1993 und darin bes S 35 Mit der Aufnahme unterhaltsamer Elemente ginge Martianus sogar noch uumlber dieErwartungen an ein sbquosatirischeslsquo Werk hinaus Auch Boethius wird bescheinigt er erzaumlhle seineConsolatio bdquoper satiramldquo auch wenn bei ihm weder eine Figur Satura auftritt noch allzu vielHeiterkeit herrscht (Peiper zitiert in der Einleitung zu seiner Ausgabe S xxxi eine mittelalter-liche Boethius-Vita vgl Kindermann 1969 61)

hos libros [scil de consolatione Philosophiae] per satiram edidit imitatus videlicet mar-cianum felicem capellam qui prius libros De nuptiis philologiae et mercurii eadem speciepoematis conscripserathellip

Diese Buumlcher schrieb er als Satire freilich in Nachahmung des Marcianus Felix Capellader zuvor die Buumlcher uumlber die Hochzeit der Philologie mit Merkur in der gleichen Art vonGedicht verfasst hatte

Zum Motiv der Hochzeit das bereits programmatisch im eroumlffnenden Hymnus anHymenaeus erscheint vgl Schievenin 2009c und Cristante in der Einleitung seiner Ausgabe1987 3ndash 10

2 De nuptiis als literarisches Werk 141

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

gleichsweise leichtes Auffinden der Informationen erlaubtsup3⁴⁰ die Bedeutung wirdangesichts der Praumlsentation vor den Goumlttern auf der Milchstraszlige deutlich Alleinder Umfang dieser Vortraumlge die in sich auch nicht gestoumlrt oder gebrochenwerdenmarkiert dass es sich hier um das zentrale Charakteristikum des Werkes handelt

Den erzaumlhlerischen Anlass fuumlr diese Praumlsentation bietet eine Hochzeitsfeieralso ein Symposion hier ist die Gelegenheit fuumlr die groszligen Redebeitraumlge gegebenZudem bietet die SymposionformAnknuumlpfungspunkte fuumlr eine Rahmenhandlungdie zur Auflockerung der ebenso ausfuumlhrlichenwie trockenen Einzelreden genutztwird

Doch bleibt es ndash im Gegensatz z B zu Macrobius ndash nicht bei der bloszligenDarstellung der Wissensinhalte Hinzu tritt die allegorische Darstellung der Be-deutung von Wissen und von Fleiszlig beim Wissenserwerb in den ersten beidenBuumlchern Die praumlsentierten Inhalte der Buumlcher 3ndash9 (die Philologia ja bereits aufder Erde in Buch 2 besitzt) sindwichtig Sie sind nicht nur wichtig fuumlr das irdischeLeben (das wird nicht weiter thematisiert die explizit irdischen Wissenschaftenwie Architektur und Medizin werden sogar ausgeschlossen) ndash die Inhalte sindauch wichtig fuumlr die menschliche Vervollkommnung

Durch das angesammelte Wissen erreicht der Mensch zwar nicht die voll-kommene Erkenntnis (die erhaumllt auch Philologia nur ohne eigenes Zutun als sieauf der houmlchsten Himmelssphaumlre angekommen zum Vatergott in der jenseitigenGluumlckseligkeit betet) wohl aber ein goumlttergleiches Wissensup3⁴sup1 Der Wissenserwerbist gewissermaszligen die Voraussetzung dafuumlr dass der Mensch mit Hilfe einesgoumlttlichen Begleiters in den Himmel aufsteigen kann unsterblich wird und voll-kommene Einsicht erlangt

Die so weit kohaumlrente Verbindung der literarischen Traditionen laumlsst aller-dings den explizit satirischen Anspruch von De nuptiis auszliger Betracht durch denMartianus selbst das Werk primaumlr in die Gattung der Satire einordnet waumlhrendvergleichbare Bezuumlge zu anderen Gattungen fehlen Natuumlrlich lieszlige sich dieserprogrammatische Anspruch mit einem Verweis auf die Verwendung des Begriffszur Bezeichnung einer inhaltlich wie literarisch gemischten Form erklaumlren Dochgreift diese Erklaumlrung zu kurz da das Agieren Saturas die literarischen Passagendes Werks beinahe als Travestie erscheinen laumlsst (vgl oben zur Erzaumlhlerfigur) Einbildend-enzyklopaumldisches Werk kann sich allerdings nicht gefahrlos als Satire

So auch Englisch 1994 56 Die bdquoSystematik bei der Praumlsentationldquo erlaube einen leichtenZugriff auf die Informationen Mart Cap 2 201ndash205

142 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

praumlsentieren ohne Zweifel an der Glaubwuumlrdigkeit und Zuverlaumlssigkeit desWerkes und der praumlsentierten Inhalte zu weckensup3⁴sup2

Wenn Martianus auch die Konventionen der Gattung menippeische Satireaufnimmt und sein Werk also nur folgerichtig unter anderem eine unzuverlaumlssigeErzaumlhlsituation aufweist ist dies noch keine Erklaumlrung an sich Die regelkonformeUmsetzung gattungstypischer Anspruumlche erklaumlrt noch nicht die Wahl der Gattungan sich ndash einer Gattung die trotz ihrer Benennung als solche nicht zu denStandardformen und akzeptierten Gattungen zaumlhlte insbesondere nicht fuumlrLehrwerkesup3⁴sup3

Auch Martianusrsquo Verweis auf etwas bislang noch nicht Unternommenes(nescioquid inopinum intactumque 1 2) vermag den Widerspruch nicht zu loumlsenDie Wendung zeigt zwar dass Martianus die Ungewoumlhnlichkeit seines Ansatzesbewusst war (sofern sich die Phrase uumlberhaupt auf die Komposition des Werkesbezieht)sup3⁴⁴ beseitigt aber nicht das interpretatorische Problem ZuwelchemZweckverbindet Martianus also zwei so widerspruumlchliche Gattungen wie Enzyklopaumldieund Satiresup3⁴⁵

Drei Antwortansaumltze lassen sich grob umreiszligen 1 Die Verbindung ist nuraumluszligerlich bzw oberflaumlchlich 2 durch die Verbindung soll ein bestimmter Aspektparodiert und somit Spott und Kritik ausgesetzt werden 3 die Verbindung erfuumlllt

Dieses Problem hat bereits Westra in seinem Aufsatz bdquoThe juxtaposition of the ridiculousand the sublime in Martianus Capellaldquo benannt (Westra 1981) Allerdings beschraumlnkt sich auchdieser Aufsatz auf die Darstellung des Problems und die Zusammenstellung der Belege EineLoumlsung hat Westra nicht anzubieten ndash sein Aufsatz endet mit der eher apologetischen Bemer-kung das Eingestaumlndnis der Unvereinbarkeit von Satire und Lehrwerk durch Martianus in 9 997sei prima facie ein Spiel dahinter stecke jedoch die Absicht Problembewusstsein zu demon-strieren und Verantwortung fuumlr die unterlassene Loumlsung zu negieren bdquoEven though I would claim that prose and verse must be present in an ancient Menippeansatire it must be seen as one of a number of shocking juxtapositions of oppositesldquo (Relihan 198760) ndash In der Folge kann die prosimetrische Form durchaus auch Mittel belehrender Werkewerden vgl Pabst 1994 133 Denkbar (und wohl wahrscheinlich) waumlre auch dass damit die Inhalte besonders desMythos gemeint sind Der Verweis auf Unterhaltung fuumlhrt nicht zum Kern der Frage denn die satirische Formstellt mehr dar als reine Unterhaltung Auch das horazische Diktum ridentem dicere verum quidvetat ndashsbquolachend das Wahre zu sagen ndash was spricht dagegenlsquo (Hor serm 1 1 23) als Kern vonMartianusrsquo Satireverstaumlndnisses greift zu kurz ebenso wie vergleichbare Konzeptionen in derLiteratur Dort geht es bei Belehrung immer um einzelne philosophische Saumltze (nie beispiels-weise um die Vermittlung von Philosophie an sich) Folglich bezeichnet das bdquoverumldquo nichtkognitives Lernen sondern moralisches Der grundlegende Unterschied zur Konzeption desMartianus liegt somit auf der Hand Vgl zu diesem Aspekt im Allgemeinen z B Shanzer 1986c42 und im Speziellen u a Woytek 1986 339ndash345 Keulen 2009 bes Kap 2 und 3

2 De nuptiis als literarisches Werk 143

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

einen literarischen und belehrenden Zweck zugleich Aufgrund der komplexenSachlage und der unmittelbaren Bedeutung der Beantwortung der Frage nachdieser Verbindung fuumlr das Gesamtverstaumlndnis von De nuptiis werden alle Alter-nativen vorgestellt und bewertet

Rein formale Verbindung von Satire und EnzyklopaumldieEventuell laumlsst sich die Mischung aus enzyklopaumldischen und satirischen Ele-menten (mit den zur Satire gehoumlrigen Verspartien) als Sonderform der Varro-Re-zeption bei Martianus auffassenVarro von Reate verfasste sowohl umfangreicheFachliteratur als auch menippeische Satiren Fuumlr beides war er in der Antikebekannt und beruumlhmt ndash doch ist es wahrscheinlich dass Martianus die Werkebereits nicht mehr ndash oder allenfalls nur in Auszuumlgen ndash vorliegen hattesup3⁴⁶ Aus demWissen um die beiden Schaffensbereiche des republikanischen Autors die beideder Unterweisung dienen solltensup3⁴⁷ koumlnnte Martianus auf den Gedanken verfallensein die literarischen Formen und Inhalte in seinem Werk zu verbindensup3⁴⁸Vielleicht saszlig er auch einemMissverstaumlndnis auf indem ermeinte dass Varro seinsatirisches wie enzyklopaumldisches Koumlnnen in nur einem Werk demonstriert habeDies hieszlige jedoch dass Martianus sich der Problematik dieser Verbindung nicht

So aumluszligert sich beispielsweise Kindermann in den Vorstudien seiner Ausgabe der Conso-latio des Laurentius von Durham Er billigt Martianus nur eine sekundaumlre Varro-Kenntnis zu(Kindermann 1969 60) Entschieden verneint wird die Frage von Schievenin (2009f) und Hadotdie vor allem neuplatonische Quellen vermutet (Hadot 2005 149) Schneider jedoch nimmt andass sowohl Augustin als auch Martianus die Disciplinae noch vorliegen hatten (Schneider 1999109 f) und dass die Satiren-Exzerpte des Nonius Marcellus (fl um 400 in Afrika) ebenfalls ausdem Originaltext Varros angefertigt wurden (ibid 96 Anm 12) Abwaumlgend aumluszligert sich Huumlbner2004 passim Vgl Cic ac 1 8 (es spricht Varro)

et tamen in illis veteribus nostris quae Menippum imitati non interpretati quadam hilaritateconspersimus multa admixta ex intima philosophia multa dicta dialectice quae quo faciliusminus docti intellegerent iucunditate quadam ad legendum invitati

Jedoch findet sich in meinen fruumlhen Schriften die ich in kreativer Nachfolge (und nicht nurUumlbersetzung) Menipps mit einer gewissen Heiterkeit benetzt habe vieles aus den Kernbe-reichen der Philosophie beigemengt und vieles das nach Art der Dialektiker gesagt istdamit die weniger Gelehrten es leichter verstuumlnden nachdem sie durch eine Art von Scherzzur Lektuumlre ermuntert worden sind

Vielleicht hatte Martianus diese Stelle sogar im Kopf als er die Anlage von De nuptiis plante So z BWeinreich in der Einleitung zu seiner Uumlbersetzung roumlmischer Satiren bdquoMartianusCapella glaubte gewiszlig ein Varro redivivus zu sein sozusagen die Quintessenz des Gelehrten unddes Satirikersldquo (Weinreich 1962 XCIII) Ebenso Shanzer 1986c 42

144 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

bewusst gewesen sei ndash was ihm sicher nicht gerecht wird Auszligerdem wird so dieBezugnahme auf weitere formale Elemente der menippeischen Tradition und dieuumlbrigen Vorlaumlufer der Gattung mit anderer Konzeption (Lukian Julian) nichtausreichend beruumlcksichtigt

Ebenfalls beim Autor koumlnnte eine zweite Erklaumlrung ansetzen Im Zuge derAbfassung seiner Enzyklopaumldie hat sichMartianus nach horazischer Vorgabe (unddem Beispiel Varros)sup3⁴⁹ um Auflockerung und heitere Elemente bemuumlht Diespontanen Einfaumllle wurden ins Werk integriert und die sich daraus ergebendenInkonsistenzen entweder uumlbersehen oder billigend in Kauf genommen Beideswuumlrde gut zum klassisch negativen Martian-Bild in der Forschung passensup3⁵⁰Abgesehen davon dass Annahmen uumlber das Vorgehen beim Schreiben weitge-hend auf Spekulation beruhensup3⁵sup1 widersprechen drei Beobachtungen dieser Er-klaumlrung Erstens gelingt es Martianus De nuptiis uumlber neun Buumlcher vorauszu-planen so dass am Ende ein ndash zunaumlchst abgesehen von der Satire-Problematik ndashkohaumlrentes Werk entsteht Die Fuumllle der behandelten Themen Motive und lite-rarischen Elemente weist eher auf ein planvolles Arbeiten hin und macht es un-wahrscheinlich dass Martianus Probleme an dieser Stelle nicht wahrgenommenbzw nicht korrigiert haumltte Zweitens ist die Verbindungvon Satire und den anderenElementen nicht nur oberflaumlchlich so dass sie nachtraumlglich eingefuumlgt sein koumlnnteoder sich im Schreibprozess so ergeben haben koumlnnte Da bereits im zweitenKapitel des ersten Buches Satura eingefuumlhrt wirdwar sie von vornherein Teil des

Gemeint ist das beruumlhmte zunaumlchst nur fuumlr die Dichtung relevante prodesse aut delectare(Hor ars 333 f) zu Varro vgl die schon angefuumlhrte Stelle aus Cic ac Vgl z B die sehr bildliche Beschreibung von C S Lewis bdquo[hellip] this universe which hasproduced the bee-orchid and the giraffe has produced nothing stranger than Martianus Capella[hellip] the curiosity shop of his mind [hellip] a chaos beside which the work of Rabelais has unity andthat of Mandeville probabilityldquo (Lewis 1936 78 f) Gleiches gilt fuumlr Spekulationen uumlber eine andere Auffassung von Literatur und ihrenRegeln in Martianusrsquo Zeit oder Umfeld Einerseits kennen wir keine Texte die sich mit De nuptiisvergleichen lieszligen (was per se nichts beweist aber doch Indiziencharakter hat) andererseitshielten sich auch die spaumltantiken Autoren uumlblicherweise an die klassischen Vorgaben Ich teiledaher auch Schneiders Ansicht nicht der die Skepsis an dieser Verbindung allein der modernenLeseerfahrung zuschreibt bdquoWenn den Heutigen diese Kombination der forcierten Gelehrsamkeiteines Curriculums und der spielerisch-saloppen Causerie seltsam beruumlhren mag so waumlre dazuimmerhin schon an ein ciceronisches Dictum zu erinnern non est enim seiunctus iocus a phi-lologia (ad fam 16214) ndash sbquoSpieltrieb und Pedanterie diktieren und widersprechen sich nichtlsquo(sbquoErste Fruumlhschichtlsquo aus Grassrsquo sbquoHundejahrelsquo)ldquo (Schneider 1999 94 Anm 2) Der Verweis aufCicero traumlgt nichts zum Verstaumlndnis von Martianus bei Cicero geht es an der zitierten Stelle umden Ablauf des Tages mit seinem Schuumller der aus ernsteren und heitereren Abschnitten bestehtDaraus folgt nicht dass das Lernen mit Scherz verbunden ist ndash auszligerdem duumlrfte Cicero unteriocus (sbquo[urbaner] Scherzlsquo) anderes verstanden haben als Martianus in seiner Satura bietet

2 De nuptiis als literarisches Werk 145

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Kompositionsplans Drittens hat Schievenin gezeigt dass Martianus keineswegsoberflaumlchlich und eigenwillig arbeitet Durch eine gruumlndliche Untersuchung derSilen-Passage (8 803ndash805) kann er nachweisen dass Martianus ndash wie vieleAutoren vor ihm ndash uumlber ein umfangreiches literarisches Wissen verfuumlgte daraufbei der Abfassung seines Werkes zugreifen konnte und durch gezielte Anspie-lungen neue Bezuumlge herstelltesup3⁵sup2

Satire als Mittel der KritikWaumlhrend die antike Satire (im Gegensatz zur modernen) nicht zwangslaumlufig Kritikan Missstaumlnden uumlben wollte ist diese Moumlglichkeit umgekehrt auch nicht auszu-schlieszligen Martianus koumlnnte also bewusst eine solide Darstellung der Kuumlnste inliterarischem Gewandmit der Gattung der Satire verbunden haben um Zweifel ander Ernsthaftigkeit der uumlbrigen Teile des Werkes zu wecken Er wuumlrde somit einaufklaumlrerisches Interesse verfolgen das zugleich auch unterhaltsame Zuumlge traumlgt

Eine erste Schwierigkeit dieser Lesart von De nuptiis ergibt sich bereits bei derFrage nach dem Objekt der SatireWerden die Wissensinhalte in Zweifel gezogenoder nur die Art ihrer Vermittlung in langen Reden bzwTraktaten Soll der Glaubean die umfassende Einheit des Wissens kritisiert werden oder die Vorstellungsaumlmtliches Wissen lasse sich vermitteln gar kohaumlrent in einem Werksup3⁵sup3 Ist dieVorstellung dass Wissen goumlttlich mache parodiert oder nur die abwegige Vor-stellung dass auf einer Hochzeit solche Reden gehalten werden Oder richtet sichdie Kritik letztlich gegen die Auffassung Philologia als Vorbild zu sehen oder garals Mittlerin alles Wissens ja sogar als Mittlerin zwischen Menschen und Goumlttern

Aus der Tatsache dass das Objekt der Satire keineswegs leicht zu bestimmenist kann nicht gefolgert werden dass in De nuptiis keine Satire vorliege die be-stimmte Sachverhalte kritisiere Aber es kann durchaus gefolgert werden dass eskeine expliziten textinternen Merkmale gibt die das Lesen steuern und den Ge-genstand der Kritik deutlich hervortreten lassen Die Deutungen gehen also vonmodernen Annahmen uumlber das Umfeld bzw die Gedankenwelt von Martianus aus

Im Kern handle es sich um bdquouna narrazione tersa e brillanteldquo verbunden mit einemDickicht an Verweisen Die Silen-Szene habe einen bdquocarattere colto e della dottrina e dellalingualdquo (Schievenin 1984 132) Das Fazit seiner Untersuchung formuliert Schievenin folgen-dermaszligen bdquoIl De nuptiis si rivela dunque opera di vasti orizzonti non solo per lrsquointento dida-scalico che la pervade e che ne determineragrave la fortuna ma anche per la costante presenza nellafabula della tradizione classica e dei suoi echildquo (ibid 136) Vgl zu dieser Stelle auch Bovey2003 275ndash288 ndash Den geschickten Umgang mit mehreren Quellen ndash erzaumlhlerisch wie seman-tisch ndash kann Schievenin auch fuumlr 7 725ndash727 nachweisen (Schievenin 2009e) So z B Relihan 1993 138 bdquoMartianus writes not an encyclopedia but a Menippean satirethat parodies encyclopedic knowledgeldquo

146 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

und weisen zudem meist nicht kleinschrittig auf wie der Interpret zu seiner (oftapodiktisch dargelegten) Ansicht gelangt

Nun folgt daraus noch nicht dass Martianus De nuptiis nicht als kritisierendeSatire konzipiert haumltte die Vielzahl der (wenn auch differierenden) modernenDeutungenweist ja darauf hin Zwei Uumlberlegungenwenn auch keine schlagendenBeweise lassen die Hypothese der parodierenden Satire unwahrscheinlich wer-den der Umfang von De nuptiis und seine Rezeption Eine Satire die beispiels-weise die Verbindung von Weltwissen und menschlicher Vervollkommnung in-frage stellt benoumltigt nicht noch eine umfassende Darlegung eben diesenWissensDies gilt besonders da diese Darlegung den Hauptteil des Werks ausmacht und ndashzumindest dem Umfang nach ndash die uumlbrigen Partien weit uumlberragt Eine Deutungvon De nuptiis als kritischer Satire muumlsste also besonders die Frage beantwortenzu welchem Zweck die umfangreichen Darstellungen der Freien Kuumlnste aufge-nommen sind (und nicht nur angedeutet werden)

Die Rezeption eignet sich zwar ebenfalls nicht zu sicheren Ruumlckschluumlssen aufdie originale Intention eines Werkes haumlufig bietet sie aber interessante EinblickeDie Martianus-Rezeption stellt sich bald ein Cassiodor beruft sich in seinen In-stitutiones auf ihn Dort erscheint Martianus nicht als Satiriker oder Zeitkritikersondern als Gelehrtersup3⁵⁴ In dieser Tradition wird Martianus auch im Mittelaltergelesen und rezipiertsup3⁵⁵

Aumlhnliches laumlsst sich fuumlr Boethiusrsquo Anknuumlpfen an die prosimetrische Form inder Ausgestaltung von Martianus sagen Boethius verfasst zweifelsfrei keine kri-tische Satire kann aber trotzdem an die Form und den Inhalt von De nuptiisproblemlos anknuumlpfen Sowohl der Form nach wie auch durch einzelne Zitatemacht er deutlich dass erDe nuptiis kennt und als eine seiner Vorlagen benutzt Esist zu bezweifeln dass Boethius in seinem Bemuumlhen um eine adaumlquatewerbendeDarstellung der Philosophie auf Form und Zitate des Martianus zuruumlckgegriffenhaumltte haumltte er nicht die Moumlglichkeit der gefahrlosen Uumlbernahme gesehen

Satirische Elemente als Mittel der BelehrungDer dritte Erklaumlrungsansatz fuumlr die Verbindung von Satire und Belehrung be-trachtet die Wahl Saturas als Figur und die Bezugnahme auf die Gattung zunaumlchst

Cassiod inst 2 2 17 Zur mittelalterlichen Martianus-Rezeption vgl bes Nuchelmans 1950 Lutz 1971 und 1976Willis 1973 sowie die Ausgaben und Literatur u a zu folgenden Werken Konrad von MureFabularius Hugo von Sankt Victor Didascalicon de studio legendi Johannes von SalisburyMetalogicon Kindermann kann weiterhin nachweisen dass De nuptiis auch durch seine Forminspirierend gewirkt hat (Kindermann 1969 61 f)

2 De nuptiis als literarisches Werk 147

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

als reine Fortsetzungder literarischen Form Fuumlr diese spezielle Formder Literaturdie menippeische Satire hat der russische Literaturwissenschaftler MichailBachtin Beobachtungen aufgestellt die auch fuumlr De nuptiis zutreffen Durch denRuumlckgriff auf zwei zentrale Konzepte Bachtins das Karnevaleske und die Dialo-gizitaumlt wird ein Verstaumlndnis von De nuptiis ermoumlglicht

Auf der Suche nach Vorlagen und Urformen der Gattung des Romans ins-besondere in der Form von Dostojewskis Romanen stieszlig Bachtin unter anderemauch auf die menippeische Satire die er bis in die Antike zuruumlckverfolgtesup3⁵⁶ Zuihren Vertretern zaumlhlt er unter anderem Varro Apuleius Petron Seneca oderLukiansup3⁵⁷ Martianus Capella wird nicht erwaumlhnt was aber nicht verwundernmuss da Bachtin keine Literaturgeschichte der menippeischen Satire schriebsup3⁵⁸

Kern der Uumlberlegungen Bachtins zurmenippeischen Satire ist das Konzept desKarnevals Unter Karneval versteht er folkloristische Feste waumlhrend deren diebestehende Ordnung verkehrt wird uumlbliche Regeln nicht mehr gelten Herr-schende gestuumlrzt und Machtlose maumlchtig werden ndash auf Zeit Die Karnevalisierungalso die Uumlbernahme der Kennzeichen dieses Festes in neue oder bestehende li-terarische Formen institutionalisiert diese Ausnahmesituation und loumlst sie vomkonkreten Fest Der so entstandene Text wird bdquozum karnevalesken Spiel an demder Autor und sein Publikum einverstaumlndlich teilhaben und das keines kalen-darisch oder institutionell abgesicherten Karnevalsrahmens mehr bedarfldquosup3⁵⁹

Diese Karnevalisierung fuumlhrt unter anderem zu einer Vielstimmigkeit vonMeinungen und Positionen im Text z B durch mehrere Figurenvon denen keinebevorzugt oder gar als autoritativ gekennzeichnet wird In dieser Dialogizitaumlt wirdkein allgemein guumlltiger Sinnmehr vermittelt sondern dieWahrheit suspendiertsup3⁶⁰

Dass der Bezug auf karnevalsartige Feste der Gattung menippeische Satire (inTeilen auch der Verssatire) eignet zeigt ein kurzer Blick auf wichtige Vertreter derTradition

Julians Symposion Caesares spielt zur Zeit der Saturnalien Die Bedeutungdieses Festes fuumlr das Werk wird dadurch verdeutlicht dass es den Handlungs-

Bachtin 1971 126ndash 135 Bachtin 1971 126 128 132f Kritik an den z T pauschalisierenden und verfaumllschenden Aussagen Bachtins uumlber antikeLiteratur oder an der ununterbrochenen Traditionslinie von der Antike bis in die Moderne (z BRelihan 1987 59 Lachmann 2006 23ndash25) muumlsste auch auf manche moderne Literaturwissen-schaftler in der Nachfolge Bachtins angewandt werden (vgl Branham 2005 6 wo es uumlberSenecas Apocolocyntosis heiszligt bdquoour only extant Menippean satire in Latinldquo) Teuber 1993 182 Eine gut verstaumlndliche Einfuumlhrung in das Konzept der Dialogizitaumlt im Sinne der bach-tinschen Terminologie bietet Sharland 2010 Einfuumlhrung (1ndash51)

148 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

rahmen fuumlr den in der Folge erzaumlhlten Mythos bildet Bereits im ersten Satz wirdauf das Fest und die Tradition Heiteres frei zu erzaumlhlen Bezug genommensup3⁶sup1

Auch Senecas Apocolocyntosis stellt einen engen Bezug zum Saturnalienfesther Das Werk spielt zwar nicht an den Saturnalien sondern am Todestag desClaudius im Oktober doch wird an zwei Stellen eine Verbindung zwischen derHerrschaft des verstorbenen Kaisers und den dargestellten Sitten waumlhrend derRegierungszeit mit dem Saturnalienfest gezogensup3⁶sup2 Manche Interpreten gehensogar davon aus dass die Apocolocyntosis an den Saturnalien des Jahres 54vorgetragen wurdesup3⁶sup3 Auch bei Petron und Horaz finden sich Bezugnahmen aufdie Saturnaliensup3⁶⁴

Ein zentrales Element des Saturnalienfestes liegt in der Suspension der uumlb-licherweise geltenden Normen und Wertesup3⁶⁵ Neben den anderen Elementen desFestes wie sie z B in Macrobiusrsquo Saturnalia (1 7ndash 10 1 24 22 f) beschriebenwerden (traditionelle Geschenke Festmahl fuumlr die Sklaven etc) hat gerade dieUmkehrung der Herrschaftsverhaumlltnisse im Haus Niederschlag in der Literaturgefunden

Gerade durch diese Rolleninversion treten einige wichtige gesellschaftlicheNormvorstellungen und Grundannahmen prominent hervor Dazu zaumlhlt das Be-wusstsein dass es eine befehlende und eine ausfuumlhrende Gruppe von Menschengibt oder dass im Prinzip ein Rollenwechsel moumlglich sein kann Alle Beteiligten

Ἐπειδὴ δίδωσιν ὁ θεὸς παίζειν ndash ἔστι γὰρ Κρόνια ndash hellip (sbquoDa der Gott das Scherzen erlaubt ndashes sind ja die Kronia helliplsquo Caes 1 = 306a Spanheim) Zur Frage ob es sich bei Caesares auch umdas Werk handle auf das zu Ende der Rede auf Koumlnig Helios verwiesen wird (Or in Sol reg 44 =157c Spanheim) vgl Muumlller in seiner Uumlbersetzung (39 ablehnend) und Lacombrade im Vorwortseiner Budeacute-Ausgabe (3 und 18 Anm 3) der aufgrund des Handschriftenbefundes Kronia auchals Titelbestandteil fuumlr die Caesares uumlbernimmt Es handelt sich um Sen apocol 8 1 (Claudius als Saturnalienprinz) und 12 2 (Herrschaftdes Claudius als andauerndes Saturnalienfest) ndash Dass Lukian nicht auf die Saturnalien alsRahmen fuumlr seine Werke zuruumlckgreift entwertet die Beobachtungen nicht Lukian musste auf-grund seines Selbstbewusstseins als satirischer Schriftsteller und aufgrund der Menge seinersatirischen Schriften nicht jedes Mal einen eigenen literarischen Rahmen herstellen in demeinzelne Dialoge stattfinden konnten Das Saturnalienfest selbst erscheint bei Lukian als Ge-genstand der Satire nicht als deren literarische Rahmung (Τὰ πρὸς Κρόνον) Zuerst bei Furneaux 1896 23 Anm 11 In der neueren Forschung vgl bes Nauta 1987Kritisch dazu u a Doumlpp 1993 159 f Petron 44 3 58 2 69 9 zu Horaz vgl z B serm 2 7 (libertas Decembris) Ein gelungenesBeispiel der Anpassung und Anwendung der bachtinschen Konzepte mit Ertrag fuumlr die Inter-pretation unter Einbezug von serm 2 7 bietet Sharland 2010 Distelrath 1999 114 Vgl weiterhin Versnel 1993 136ndash227 und Doumlpp 1993 Eine plastischeSchilderung der Rollenvertauschung bei der der Sklave dem Herrn die Leviten liest bietet Horserm 2 7

2 De nuptiis als literarisches Werk 149

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Herren wie Sklaven spielen also mit den Moumlglichkeiten einer alternativen Wirk-lichkeit

Das Besondere im Spiel mit den Moumlglichkeiten liegt aber in seiner zeitlichenBegrenzung Nach der Zeit des Ausnahmezustands gelten wieder die normalenimmer guumlltigen Regeln Die Rolleninversion erlaubt also ndash oder erzwingt gera-dezu ndash das Nachdenken uumlber bestimmte gesellschaftliche Normen und Wertvor-stellungen Durch die Ritualisierung und enge zeitliche Begrenzung ist darausjedoch keineswegs die Notwendigkeit entstanden die Verhaumlltnisse tatsaumlchlich zuhinterfragen oder gar zu aumlndern Daher lassen sich die Saturnalien auch als ein dieKonventionen bestaumlrkendes Fest verstehen Das Spiel mit der Moumlglichkeit eineranderen Gesellschaftsordnung hat durch seine Ritualisierung letztlich eine dieTradition legitimierende Funktion bekommen

In De nuptiis finden sich jedoch houmlchstens spaumlrliche Hinweise auf das Sa-turnalienfest Am ehesten weist das grob scherzende Agieren Saturas in diesenBereich Die bdquolangen Winternaumlchteldquo (1 2) koumlnnten (statt als Bezug auf Gellius) alsAnspielung auf das Saturnalienfest verstandenwerden ndash die Saturnalien finden inden laumlngsten Naumlchten uumlberhaupt statt seit der Kaiserzeit vom 17 bis 23 DezemberDies ndash wie die Spekulation uumlber eine spielerische etymologische Verbindung vonSatura und Saturnaliensup3⁶⁶ ndash ist aber insofern nicht von Belang da die Gattung alsGanze karnevaleske Zuumlge traumlgt und als gewissermaszligen institutionalisierter Kar-neval vom eigentlichen Fest losgeloumlst istsup3⁶⁷

Die Aufhebung der uumlblichen Ordnung (was Teuber im Ruumlckgriff auf Limina-litaumltskonzepte als praumlliminale Phase bezeichnet)sup3⁶⁸ beginnt mit der VorbereitungPhilologias zum Aufstieg in den Himmel Bereits das Erbrechen stellt eine mar-kante Umkehrung der alltaumlglichen Welt dar Statt sich Wissen anzueignen er-bricht Philologia es nun In der Goumltterversammlung auf der Milchstraszlige ist dieOrdnung sodann voumlllig verkehrt Philologia als Meisterin aller Disziplinen und

Zwar sind die einschlaumlgigen etymologischen Woumlrterbuumlcher skeptisch (v a WaldeHof-mann 2007 II 482 neutral ErnoutMeillet 2001 596) jedoch gibt es dahin gehende moderneDeutungen (aufgefuumlhrt bei WaldeHofmann 2007 II 482) und auch antike ParallelisierungenCic nat deor 2 64 Saturnus hellip est appellatus quod saturaretur annis (sbquoSaturn hellip wurde ergenannt weil er an Jahren gesaumlttigt istlsquo) Fulg myth 1 2 (p 17 16) a saturando Saturnus dictusest (sbquoDa er (die Menschen) saumlttigt wurde er Saturn genanntlsquo) Aug cons euang 1 23 35 Sa-turnus tamquam satur hellip νοῦς (sbquoSaturn gleichsam der gesaumlttigte hellip νοῦςlsquo) Vgl auch Gowers diedie etymologischen Verbindungen von satura Satyrspiel und Saturnalien untersucht (Gowers1993 109ndash 117) Sie kommt zu dem Befund dass keine Verbindung bestehe wohl aber verbin-dende Elemente identifiziert werden koumlnnten bdquocarnival licence parody uninhibited mockeryand excessive consumptionldquo (ibid 117) Vgl z B Teuber 1993 183 f Teuber 1993 183

150 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

bedeutende Lehrinstanz muss sich ihrerseits belehren lassen ndash mit dem Wissendas urspruumlnglich ihres war

Durch die Inversion wird die (vielleicht uumlblicherweise nicht prominente)Philologia in den Mittelpunkt geruumlckt und ihre zentrale Rolle im Wissenssystemtritt markant vor Augen Gleichzeitig kann darin eine leise Anfrage an ihre Lehr-autoritaumlt und eventuell auch ihre Eignung zur Lehre gesehen werden

Aufgrund des zeitlich begrenzten Rahmens der Verkehrung (diemit dem Endeder Vortraumlge voruumlber ist aber nicht explizit zuruumlckverwandelt wird) dessen Be-grenztheit durch Bezug auf die Form der menippeischen Satire ergaumlnzt werdenkann wird das System der Bildung und der Bildungsvermittlung jedoch nichtgrundsaumltzlich infrage gestellt Die Suspendierung Philologias ist temporaumlr

Dem Konzept der Dialogizitaumlt oder Mehrstimmigkeit folgend erklaumlrt sich auchdie Doppelung und Verunklarung der Erzaumlhlinstanz In den drei Dialogen indenen Satura und Martianus aufeinandertreffen behandeln sie die Frage desrichtigen Erzaumlhlens Dies beschraumlnkt sich nicht nur auf die Satire sondern umfasstalle auftretenden literarischen Formen Martianus und Satura sind sich uneinswie weit der Mythos reichen soll und ob eine Enzyklopaumldie trocken oder auchunterhaltsam erzaumlhlt werden soll (2 219ndash3 222) ob ein Symposion auch Zechenund Spaszlig vertraumlgt (8 803ndash810) oder ob und wie stark Satire Dinge vermischendarf (9 997ndash 1000)

Die unterschiedlichen Meinungen zu den Fragen werden zwar diskutiert undfuumlhren zu einem Ergebnis ndash der Erzaumlhlfluss versiegt ja an keiner Stelle oder setztneu an Allerdings entsteht in der Folge kein homogenes Werk und am Schlussmag keiner der beiden Erzaumlhler dafuumlr die Verantwortung uumlbernehmen Der Wi-derwillen sich zu dem Werk zu bekennen bedeutet aber gleichzeitig auch dassMartianus sich nicht festlegt welche Position er fuumlr die richtige haumllt Die Fragenach der rechten Art der Wissensvermittlung die auch in der Ent- und Inthroni-sierung Philologias anklang bleibt unbeantwortet

Schlieszliglich bringt der Blick auf die Aurelian-Vita aus der Historia Augustanoch einen weiteren Aspekt ein Parallel zur Aufteilung der Erzaumlhlinstanzen in Denuptiiswird der Erzaumlhlprozess in derHistoria Augusta aufmehrere AutorenverteiltWie zuerst Hermann Dessau und in der Folge Ronald Syme nachdruumlcklich gezeigthaben handelt es sich allerdings um nur einen Verfasser der uumlberdies auch inBezug auf die Abfassungszeit falsche Angaben gemacht hat und Quellen erfundenhatsup3⁶⁹ Insofern laumlsst sich der in der Historia Augusta gepraumlgte Begriff der

Auf den Charakter der Sammlung die Syme u a als bdquohoaxldquo bezeichnet (1983a 11 1983b13 1983c 219) die fingierten Autoren die manipulierten Quellen etc soll an dieser Stelle nurhingewiesen werden Vgl auch Cameron 2011 Kap 20 mit ausfuumlhrlicher Diskussion relevanterFragen

2 De nuptiis als literarisches Werk 151

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mythistoria der Vermischung von Mythischem und Historischem auch auf dieSammlung selbst anwendensup3⁷⁰

Als Menippee im engeren Sinne laumlsst sich weiterhin die Aurelian-Vita die 26Vita der Sammlung fassen und bezeichnenderweise spielt die Rahmenhandlungan denHilariasup3⁷sup1Wie zu den Saturnalien gehoumlren zu diesem Fest Scherze und ndash imRahmen von Maskierungen ndash Rollenwechselsup3⁷sup2

Noch in der rahmenden Einleitung zur Vita spielt sich folgender Dialog ab

1 et quoniam sermo nobis de Trebltellgtio Pollione qui a duobus Philippis usque ad divumClaudium et eius fratrem Quintillum imperatores tam claros quam obscuros memoriaeprodidit in eodem vehiculo fuit adserente Tiberiano quod Pollio multa incuriose multabreviter prodidisset me contra dicente neminem scriptorum quantum ad historiam pertinetnon aliquid esse mentitum prodente quin etiam in quo Livius in quo Sallustius in quoCornelius Tacitus in quo denique Trogus manifestis testibus convincerentur pedibus insententiam transitum faciens ac manum porrigens iocando[m] praeterea sbquoscribelsquo inquit sbquout

quae ille [scil Iunius Cordus] omnia exsequendo libros mythistoriis replevit talia scribendocum omnino rerum vilium aut nulla scribenda sint aut nimis pauca si tamen ex his morespossint animadverti qui re vera sciendi sunt hellip sed ex parte ut ex ea cetera colligantur(SHA Opil 1 5)

Bei der Anfuumlhrung von all diesen Informationen hat er die Buumlcher mit fabuloumlsen Ge-schichten angefuumlllt indem er Dinge von dieser Art schrieb wo doch uumlberhaupt keinenutzlosen Dinge geschrieben werden duumlrfen oder nur sehr wenige sofern daraus Verhal-tensweisen erkannt werden koumlnnen die wirklich wissenswert sind hellip aber zum Teil(schreibe ich) damit daraus das Andere gefolgert werden kann

quid Marius Maximus homo omnium verbosissimus qui et mythist[h]oricis se voluminibusinplicavit num ad istam descriptionem curamque descendit (SHA Quadr tyr 1 2)

Wie Hat sich Marius Maximus der groumlszligte Schwaumltzer vor dem Herrn der sich in seinenmythistorischen Werken verfangen hat etwa zu dieser Art der Darstellung und des sorg-faumlltigen Arbeitens herabgelassen

Hilaribus quibus omnia festa et fieri debere scimus et dici impletis sollemnibus vehiculo suome hellip Iunius Tiberianus accepit (SHA Aurelian 1 1)

An den Hilaria an denen alles zum Fest Gehoumlrende getan und gesagt werden muss wieman weiszlig empfing mich nach Erledigung der Zeremonien Iunius Tiberianus in seinemGefaumlhrt

Pausch bemerkt dieses besondere Datum zwar und erwaumlgt ob es sich um ein bdquoweitergehendesLesesignalldquo beispielsweise im Sinne karnevalesker Literatur handeln koumlnne verfolgt diese Spuraber nicht weiter (Pausch 2011 130 Anm 1) Herodian 1 10 5 ndash Einige Hinweise auf die Hilaria die im Kontext des Magna Mater-Festesam 25 Maumlrz gefeiert wurden bietet Fraser in seinem Kommentar zu Ovids Fasti (Fraser 1929244ndash248)

152 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

libet 2 securus quod velis dices habiturus mendaciorum comites quos historicae elo-quentiae miramur auctoreslsquo (SHA Aurelian 2 1ndash2)

1 Und weil unser Gespraumlch uumlber Trebellius Pollio der von den beiden Philippi bis zumvergoumlttlichten Claudius und dessen Bruder Quintillus gleichermaszligen uumlber beruumlhmte wieunbekannte Kaiser fuumlr die Nachwelt schrieb in derselben Saumlnfte stattfand behauptete erdass Pollio vieles ohne Sorgfalt und nur kurz dargelegt habe Ich erwiderte dass keinSchriftsteller sofern es um die Geschichte gehe nicht irgendwo gelogen habe und legtesodann dar worin sogar Livius Sallust Tacitus schlieszliglich sogar Trogus mit eindeutigenBelegen uumlberfuumlhrt werden koumlnnten Darauf sagte Tiberianus schlieszliglich scherzend indem ermeiner Meinung beipflichtete und mir seine Hand darbot bdquoSchreibe sowie du es fuumlr richtighaumlltst 2 Sage unbesorgt was du willst du wirst diejenigen als Gefaumlhrten fuumlr deine Taumlu-schungen haben die wir als Schoumlpfer historiographischer Beredsamkeit bewundernldquo

So sympathisch dieser Anspruch auch erscheinen mag ist er doch fuumlr das Ver-trauen in die Gattung der Geschichtsschreibung fatal Gerade in der Einleitungeiner Vita jedoch ndash zumal es der Fiktion nach die erste des Flavius Vopiscus Sy-racusius im Corpus der Historia Augusta ist ndash kann eine solche Anekdote ei-gentlich keinen Platz haben Sie erweckt beim Leser den Eindruck dass er dennachfolgend dargebotenen Informationen kein Vertrauen schenken duumlrfesup3⁷sup3

Die Parallelen zwischen der Historia Augusta insbesondere dem Vorgehen inder Vita Aureliani und De nuptiis liegen auf der Hand Verunklarung der Autor-schaft bzw der Erzaumlhlhaltung einerseits Erwecken von Zweifeln an der Glaub-wuumlrdigkeit des Dargebotenen andererseits

In der Historia Augusta sind die Inkongruenzen mit der Freude des Autors amliterarischen Spiel erklaumlrt worden Der Autor habe aus Freude am Fabulieren(vielleicht auchumein dafuumlr empfaumlngliches Publikum zu befriedigen) die Viten indieser Form verfasstsup3⁷⁴ Mag man dies fuumlr die Historia Augusta noch zugestehenderen Text uumlber einen laumlngeren Zeitraum vielleicht zunaumlchst ohne eine Gesamt-konzeption entstanden ist und auch sprachlich nicht herausragt stellt sich derSachverhalt fuumlr Martianusrsquo De nuptiis anders dar Das Werk hat durchaus einenliterarischen Anspruch und es folgt eindeutig einer vorab geplanten Gesamtan-lage Die Freude am Spiel mag vielleicht manches Detail beigesteuert haben fuumlrdie verschraumlnkte Anlage des Textes ist sie aber keine Erklaumlrung

Ganz anders ist der Anspruch zum Ende der Darstellung der Viten der bdquoDreiszligig Tyrannenldquoin dem der Autor beteuert seinem Werk mangele es zwar an literarischer Ausgefeiltheit nichtjedoch an Faktentreue da nunc cuivis libellum non tam diserte quam fideliter scriptum ndash sbquoGibnun dieses Buumlchleinwem du magst es ist nicht so sehr kunstvoll geschrieben wie es sachgetreuistlsquo (SHA Quadr tyr 33 8) Syme nennt dies bdquodeceit for its own sweet sakeldquo (1983c 217) Im gleichen Aufsatz spe-kuliert er auch uumlber das Interesse des Publikums an einer solchen Art von geistigem Spiel(ibid 221)

2 De nuptiis als literarisches Werk 153

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Es lohnt sich jedoch auch fuumlr die Historia Augusta einen Schritt weiter zugehen Ausgangspunkt dafuumlr ist die obige Beobachtungdass das literarische Spielder Historia Augusta nur durchschaut wer die Werke der historischen Literaturkennt Durch die Lektuumlre historiographischer Biographien bringt der Leser einebestimmte Leseerwartung also implizite Vorstellungen mit wie das Werk aus-sehen soll und wird Diese Erwartungen werden aber nicht oder nur teilweisebedient Formal gesehen weisen die Viten in der Historia Augusta zwar die Cha-rakteristika der Gattung auf ndash doch indem sie sie inhaltlich nicht adaumlquat aus-fuumlllen treten deren Konventionen vor Augen

Durch die uumlbermaumlszligige Verwendung falscher Verweise und erfundener Quel-len geraumlt zudem das Beglaubigungsverfahren historischer Texte in den Blick-punkt Der Leser erkennt anwelchen Stellenwelche Beglaubigungsmechanismenansetzen und auf welche Weise sie unterlaufen werden koumlnnen Uumlberspitzt lieszligesich behaupten DieHistoria Augusta verfolgt ein aufklaumlrerisches Interesse indemsie (spielerisch) aufzeigt welche Beglaubigungsverfahren die Geschichtsschrei-bung nutzt und wie sie manipuliert werden koumlnnen dadurch wird auch die Ma-nipulierbarkeit von Geschichte und Leser deutlich

In De nuptiis werden ebenfalls die Konventionen der Einzelgattungen ndash zu-mindest ansatzweise ndash hervorgehoben Dass kein perfektes Musterbeispiel derjeweiligen Einzelgattung entstehen kann liegt darin begruumlndet dass durch dieVerbindung der vier literarischen Genres keine oberflaumlchliche Konsistenz derFiktion entstehen kannVielmehr entstehen Bruumlche die ndash ebenso wie die Bruumlchein der Erzaumlhlhaltung ndash auch die Gattungskonventionen und ihre Annahmendeutlich werden lassen Dies gilt besonders fuumlr die Satire deren Vorgehen imKontrast zur eigentlichen Hochzeitshandlung aus dem Rahmen faumlllt und somitbesonderes Augenmerk erhaumllt Hinzu tritt mit der Figur Satura auch eine Perso-nifikation der Gattung die in theoretischen Diskussionen Annahmen und Vor-gehen mit Martianus eroumlrtert Grunduumlberlegungen der Gattung Satire werden sotheoretisch eroumlrtert und praktisch erprobt Gleiches giltwenn auch zT inwenigerdeutlicher Form auch fuumlr die anderen Formen Die Enzyklopaumldie in ihren langenMonologen wird durch Spott markiert die trockenen Kuumlnste werden probeweisedurch Allegorien zugaumlnglicher gemacht im Symposiondialog wird uumlberlegt in-wieweit uumlbliche Rollenmuster (der Zecher) einen Platz haben oder wie weit mandie fuumlr die Feier typischen Reden fuumlhren kann und immythischen Teil wird durchdie Gegenuumlberstellung mit dem handfesten Wissensbetrieb die Andersartigkeitdes Erzaumlhlens deutlich

So werden neben den Inhalten der Wissenschaften auch verschiedene lite-rarische Formen bewahrt Neben der reinen Anwendung und somit Tradierungwerden gleichzeitig auch die Mechanismen verdeutlicht deren sich die jeweilige

154 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Gattung bedient Somit wird ihr Funktionieren nachvollziehbar und in der Folgeauch nachahmbar

3 Zusammenfassung

Martianus weckt also durch die Wahl mehrerer gleichberechtigter Erzaumlhler diesomit das Erzaumlhlen unzuverlaumlssig werden lassen besonders aber durch dieUumlbernahme satirischer Gattungselemente ein Bewusstsein fuumlr die traditionellenGrundlagen desWissens- und Lehrsystems seiner Zeit ImGegensatz zur Satire diediese Fragen kategorisch stellt handelt es sich in De nuptiis um ein Spiel damitDer Satirebezug dient als Anknuumlpfung an die traditionellen Gattungsmerkmaleder menippeischen Satire Karnevaleske und Dialogizitaumlt

Durch die (temporaumlre) Rolleninversion richtet sich das Augenmerk aufPhilologia als Wissenszentrum und Wissensmittlerin und fordert zum Nach-denken daruumlber heraus Im Kern hinterfragt das Werk alle Bereiche die mit Bil-dung und Bildungsvermittlung zu tun haben Was sind die Inhalte wahrer Bil-dung Gibt es eine Einheit von Bildung Wie kann sie vermittelt werden

Allerdings zielt die Kritik nicht auf eine Aufloumlsung klassischer Bildungsinhalteund Vermittlungsformen Sie regt vielmehr durch Scherz und Bruumlche zumNachdenken uumlber diese Fragen an Dabei verzichtet Martianus auf eigene Vor-schlaumlge und Konzepte und festigt so gleichsam den traditionellen Bildungs-betrieb Das von ihm dargestellte Wissen wird kanonisiert und die Darstel-lungsform in langen Reden wird es auch Die mittelalterliche Rezeption von Denuptiis zeigt dies eindrucksvoll

Wissen umfasst dabei nicht nur das Faktenwissen der Vortraumlge sondern auchdas Wissen um bestimmte literarische Formen Durch die Verbindung von vierGattungen und die Doppelung der Erzaumlhlerfigur mit Reflexion uumlber angemessenesErzaumlhlen entstehen Inkonsistenzen die die Konventionen der einzelnen Gattun-gen hervortreten lassen Nicht alle Elementewerden auf dieseWeise deutlich aberMartianus bietet einen Ansatzpunkt die Fiktion auch unter der Fragestellung zulesen was einen Text der jeweiligen Gattung ausmacht ndash sowohl positiv wie ne-gativ formuliert

Mit seiner kreativen Konzeption und ihrer literarischen Umsetzung gelingt esMartianus eindrucksvoll Heiteres und Belehrendes zu verbindenwomit er an dieTradition Varros und die klassische antike Poetik anknuumlpft Es gelingt ihm daruumlberhinaus aber auchWissen zu vermitteln und die traditionellen Vorstellungen vonder Bedeutung dieses Wissens wie der Form seiner Vermittlung herauszustellenSpielerisch wird also gelehrt und hinterfragt nicht jedoch kategorisch kritisiertoder kuumlhn neu entworfen Gerade dadurch zeichnet sich Martianusrsquo De nuptiis

3 Zusammenfassung 155

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

tatsaumlchlich als nescioquid inopinum intactumque (sbquoetwas Ungewohntes und nochnie Gewagteslsquo 1 2) aus und macht es zu einem der bedeutendsten Buumlcher derSpaumltantike und zu einer interessanten Quelle fuumlr die Frage nach Bildungsvor-stellungen im fuumlnften Jahrhundert

156 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Page 12: Bildungsvorstellungen im 5. Jahrhundert n. Chr. (Macrobius, Martianus Capella und Sidonius Apollinaris) || III Martianus Capella, De nuptiis Philologiae et Mercurii

fasste Augustin zu den einzelnen Disziplinen jeweils eine eigene Schrift (mit derFolge dass er nicht alle Faumlcher behandelt hatte als er das Projekt aufgab wohlaber einige Themen abgearbeitet und die Buumlcher erschienen waren)sup2⁹sup1 Aumlhnlichverhaumllt es sich mit Boethius der sich etwa einhundert Jahre spaumlter ebenfalls mitverschiedenen Wissensbereichen beschaumlftigte Trotz der Leistung des Martianussetzte Boethius sein Vorhaben aber so um dass er den verschiedenen Disziplineneinzelne Abhandlungen widmetesup2⁹sup2

Allein Varro hat seinem breiten Œuvre an Spezialschriften auch noch ein imengeren Sinne enzyklopaumldisches Werk zugefuumlgt die Disciplinae Darin beschaumlftigtsich Varro mit dem gleichen Faumlcherkanon wie Martianus (unter zusaumltzlicherAufnahme der Medizin und Architektur) Da das Werk aber verloren ist und auchnur spaumlrliche Testimonien vorhanden sind laumlsst sich nicht abschaumltzen inwieferntatsaumlchlich eine einheitliche Schrift vorgelegen hat und welches Ziel Varro mit ihrverfolgtesup2⁹sup3

MartianusrsquoWerkDe nuptiis ist die erste erhaltene Enzyklopaumldie der Antike undduumlrfte somit maszliggeblich zum heutigen Verstaumlndnis des Begriffs der Enzyklopaumldieals eines einzigenWerkes das alles Wissen enthaumllt beigetragen haben Der Grundfuumlr Martianusrsquo ungewoumlhnliches Vorgehen duumlrfte in dem augenscheinlichen Plander Verbindung aller Disziplinen liegen der auch zu Beginn des Werkes durch diePreisung des Hymenaeus ausgedruumlckt wirdsup2⁹⁴

Zu Augustins Plan vgl retract 1 6 (Per idem tempus quo Mediolani fui baptismum per-cepturus etiam disciplinarum libros conatus sum scribere ndash sbquoZu der Zeit als ich in Mailand balddie Taufe empfangen sollte habe ich versucht auch Buumlcher uumlber die Faumlcher zu schreibenlsquo)begonnen und teilweise erhalten sind gramm mus und evtl dialect Neben den Schriften zur Theologie und zur Logik sind die Schriften zur Arithmetik(arithm) zur Musik (mus) und zur Rhetorik (in top divis) zumindest teilweise erhalten Hinzukommen Uumlbersetzungen astronomicher und geometrischer Fachschriften Zu Boethiusrsquo Fach-schriften und seinem Programm vgl Chadwick 1981 69ndash107 Das spaumlrliche Wissen spiegelt auch die knappe Einfuumlhrung von Cardauns 2001 Sie um-fasst fuumlr die Disciplinae inklusive Literaturverweisen knapp zwei Seiten (77ndash78) und bietet wenigsichere Informationen Eine interessante gleichwohl stark negative Antwort auf die Zusammenstellung derKuumlnste in einem Werk bietet Voumlssing der damit gleichzeitig aber auch die Einzigartigkeit desVorgehens herausstellt bdquoWas in den mittelalterlichen Kloumlstern als Summe antiker Bildung galtwar wohl nur das Resultat der Selbstdarstellung eines ehemaligen Advokaten der dem gebil-deten Publikum seiner Stadt demonstrieren wollte dass er mehr konnte als plaumldieren und mehrwusste als der normale scholasticus den uumlberlieferten prestigetraumlchtigen Bildungsstoff allersieben artes ndash der uumlblicherweise nur in einzelnen Fachbuumlchern (und bezogen auf einzelneDisziplinen) praumlsentiert wurde ndash in einem Werk zusammenzufassen und einzubetten in einironisches literarisches Spiel So hoffte er beides zu haben den Ruhm der Bildung und den derparodistischen Distanzierung An eine spezifische Programmatik dachte er bei seiner Enzyklo-

2 De nuptiis als literarisches Werk 125

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Welches (philosophische oder literarische) Konzept dahinterstand und in-wieweit Martianus sein Vorhaben uumlberzeugend umsetzen konnte wird unter-schiedlich bewertetsup2⁹⁵Wie das Urteil auch ausfaumlllt gilt es doch zu beachten dassneben den enzyklopaumldischen Teilen mit ihrem traditionellen Inhalt in teils tra-ditioneller teils neuer Form auch andere narrative Strategien zum Einsatz kom-men die fuumlr eine umfassende Deutung und Bewertung ebenfalls beruumlcksichtigtwerden muumlssen

Literarisches SymposionEine andere Gattungstradition die fuumlr die Anlage von De nuptiis genannt werdenmuss ist die Form des literarischen Symposions In diesem Punkt besteht eineVerbindung zu Macrobiusrsquo Saturnalia deren Symposionform im entsprechendenKapitel untersucht worden istsup2⁹⁶

Auch inDe nuptiis lassen sich einige konstitutiveMerkmale eines literarischenSymposions aufzeigen Das Geschehen in den Buumlchern 3ndash9 spielt anlaumlsslich einerFeierlichkeit (der Hochzeit) an einem besonderen Ort (auf der Milchstraszlige)sup2⁹⁷ andem sich geladene Gaumlste (Goumltter Heroen etc) versammeln Den Vorsitz der Fei-erlichkeiten hat (gewissermaszligen als Symposiarch) Jupiter inne Es gibt zwar keineungeladenen Gaumlste doch Silen erfuumlllt die Rolle des Zechers und er verlaumlsst dieFeier vorzeitig (8 805) Auch die Liebe kommt nicht zu kurz indem Venus ihreReize spielen laumlsst (6 704) Voluptas mit Merkur flirtet (7 725ndash727) und Hymen-aeus mit seinem anzuumlglichen Gesang das Geschehen der Hochzeitsnacht zu-

paumldie ebenso wenig wie er seinen Platz im sbquoLehrplan des Abendlandeslsquo vorhersehen konnteldquo(Voumlssing 2008 404) Weit verbreitet ist die Ansicht Martianus habe eine Art Summe der antiken Gelehrsamkeiterstellt (Cristante im Vorwort seiner Ausgabe 27 Ferrarino 1969 2 Bovey 2003 20 Cristante2009 [3] Schievenin 2009a 77) Die gegensaumltzliche Position formuliert bereits Parker bdquo[I]t isclear that the seven arts were never supposed to include the whole circuit of human knowledgeMartianus Capellarsquos list was a reduction of Varrorsquos and Varrorsquos was not supposed to include allknowledgeldquo (Parker 1890 459) S o Kap II4 Dort werden auch die typischen Merkmale dieser literarischen Form vor-gestellt Die Milchstraszlige in der Darstellung bei Martianus greift zwei Aspekte auf die allerdingsschon lange vor ihm verbunden worden sind Einerseits ist die Milchstraszlige der Ort an den dieauszligergewoumlhnlichen Menschen nach ihrem Tod gelangen (Cic rep 6 16 Manil 1 758ndash800)andererseits ist auch die Vorstellung nicht ungewoumlhnlich dass dort der Wohnsitz der Goumltter zufinden sei (Ov met 1 170ndash 176 Manil 1 801ndash804) Bei Martianus versammeln sich dort dieGoumltter doch ist dies auch der Ort an den die vergoumlttlichte Philologia gelangt ndash abgesehen vonden uumlbrigen herausragenden Menschen die sich im Gefolge sbquoihrerlsquo Brautjungfer dort versam-meln

126 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mindest andeutet (9 902 f) wenn die Ausfuumlhrung auch nicht beschrieben wird(9 996)

Das auffaumllligsteMerkmal sind aber die Reden die gehaltenwerden Sie aumlhnelnzwar nicht dem Inhalt wohl aber der Form nach der monologischen Anlage derSymposiongespraumlche bei Platon oder (stellenweise) Macrobius Ebenso passt derInhalt Bildungswissen an sich zu einem Symposion auch wenn er hier sehrausfuumlhrlich und ohne Ruumlcksicht auf die primaumlren Adressaten die Goumltter prauml-sentiert wird Bei Platon sowie bei Martianus scheint der Inhalt der Gespraumlche imVorfeld noch nicht festzustehen wie die Auswahl der jeweils naumlchsten RednerindurchApoll (3 223 4 328 8 8109 891) bzw Paidia (7 728) oder die Diskussion umden Fortgang der Feier bzw die noch folgenden und auszuschlieszligenden Reden(= Kuumlnste) zu Beginn von Buch 9 zeigtsup2⁹⁸

Die Anordnung der Redebeitraumlge nach steigender Relevanz und die unter-brechungsfreie Praumlsentation der Reden erinnert ebenfalls ans platonische Sym-posion Schlieszliglich nimmt das Spiel mit der Erzaumlhlinstanz (Satura oder Martianus)die verschachtelte Erzaumlhlsituation bei Platon oder Macrobius mit ihren verschie-denen Berichtsebenen auf und formt sie umsup2⁹⁹

Mythisch-allegorische ErzaumlhlungZu den bereits genannten literarischen Vorlagen von De nuptiis tritt ein weiteresElement hinzu dessen Bedeutung und dessen eigene Vorlagen nur schwer zubestimmen sind

Besonders Shanzer weist in ihremKommentar zum ersten Buch vonDe nuptiiswiederholt auf die orphischen gnostischen und philosophisch-religioumlsen Ele-mente in den sehr bildhaften aber streckenweise schwer verstaumlndlichen erstenbeiden Buumlchern hinsup3⁰⁰ Eine umfassende Interpretation des Mythos bietet sie je-doch nicht Vielmehr beschraumlnkt sie sich auf Verweise zur Herkunft einzelnerMotive und auf die Deutung kuumlrzerer Passagen

Kupke kommt bei einer Musterung der verschiedenen mythischen Reminis-zenzen im zweiten Buch von De nuptiis zu der Feststellung dass eine eindeutige

Ein zentraler Unterschied besteht jedoch darin dass die Vortraumlge nicht von den Gaumlstengehalten werden sondern dass die Gaumlste also die Goumltter nur Zuhoumlrer sind waumlhrend die Kuumlnstereden Hierin erinnert De nuptiis eher an Julians Caesares in denen die versammelten Goumltter jaauch wenig sprechen wohl aber die roumlmischen Kaiser die ndash wenn auch um einiges knapper ndashihre Leistungen darstellen Ausfuumlhrlicher dazu im weiter unten folgenden Abschnitt uumlber die Erzaumlhlinstanzen Shanzer 1986c passim

2 De nuptiis als literarisches Werk 127

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

und kohaumlrente Decodierung aller Verweise undAnspielungen nichtmoumlglich seisup3⁰sup1Ihrer Ansicht nach ist es dem modernen Leser nurmehr moumlglich einzelnen Ver-weisen nachzugehen und sie aufzuzeigensup3⁰sup2

Trotz der benannten Schwierigkeiten darf bei allen Fragen nach literarischenVorlagen nicht vergessen werden dass De nuptiis vor allem (aber nicht aus-schlieszliglich) auch ein allegorisches Werk ist Die imposante Schilderung der vierFluumlsse in Buch 1 Apoll auf demParnass-Huumlgel die allegorischen Figuren undvieleweitere Elemente sind nicht nur kreative literarische Erfindungen sondern for-dern zu einer uumlbertragenen Lesart des Werkes auf Besonders die ersten beidenBuumlcher die den Mythos enthalten muumlssen aus diesem Blickwinkel gelesen undverstanden werden

Zu verweisen ist auszligerdem auf die Bezeichnung der Erzaumlhlung als fabula oderfabella Neben der naheliegenden Bedeutung von sbquoErzaumlhlung Geschichtelsquo imallgemeinen Sinn ist sicher auch an die Diskussion um die Berechtigung von fa-bulae in Macrobiusrsquo Somnium-Kommentar zu denken Dort verteidigt Macrobiussowohl Platon als auch Cicero gegen den Vorwurf fiktive Geschichten zu benut-zen um philosophische Wahrheiten zu verkuumlnden In bestimmten Faumlllen seidieses Vorgehen gerechtfertigt solange es sich um wahrhaftige und belehrendeErzaumlhlungen handlesup3⁰sup3 Diese Voraussetzung kann man auch fuumlr De nuptiis alserfuumlllt ansehen Da Martianus zudem dem Neuplatonismus aumlhnlich nahesteht wieMacrobiussup3⁰⁴ ist von einer bewussten Entscheidung zugunsten einer literarischenDarstellung auszugehen

Den einzigen Versuch einer umfassenden Deutung verschiedener Elementedes Mythos und der allegorischen Darstellung hat ndash unter Vernachlaumlssigung ei-niger Details ndash bislang Lenaz unternommen In der ausfuumlhrlichen Einleitungseines Kommentars zum zweiten Buch von De nuptiis untersucht er die philoso-phisch-religioumlsen Motive in diesem Buch und kann Verbindungen zur Myste-

Kupke 1998 154 Kupke 1998 159 Fuumlr den spaumltantiken und den mittelalterlichen Leser glaubt sie jedoch andie Moumlglichkeit der problemlosen Dekodierung Macr somn 1 2 21 vgl oben Anm 45 Gerade die neuplatonischen Elemente von De nuptiis sind verschiedentlich benannt wor-den auch wenn nicht immer eine einheitliche Deutung geboten wird Haumlufig genannt wird derAufstieg Philologias in den Himmel uumlber die Sphaumlrenstufen der mit einer bdquoRuumlckkehr der Seeleldquogleichgesetzt wird (z B Bovey 2003 11 Lenaz 1975 113 vgl auch Guillaumin 2008) Hinge-wiesen wird auch auf die drei Frauen die Merkur nicht heiraten wollen (Sophia Mantike undPsyche 1 6ndash7) und die drei Seelenteile darstellen sollen deren Summe aber letztlich Philologiaist (Lenaz 1975 107ndash 110) Dagegen vertritt Kupke die These die neuplatonischen Elementetruumlgen keine zusaumltzliche Sinnebene bei (Kupke 1998 153) kritisch aumluszligern sich BednařiacutekovaacutePetrovićovaacute 2010 7

128 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

rieninitiation zu platonischen Mysterien chaldaumlischen Orakeln magischenPraktiken und zur Theurgie nachweisen Im Deutungsteil verwirft er die ThesenNuchelmansrsquo und Mathonssup3⁰⁵ als zu kurz greifend Nuchelmans hatte in derHochzeit Philologias und Merkurs (mittelalterlicher Kommentar-Tradition fol-gend) eine Forderung von Martianus nach der Vereinigung von Wissen (Philo-logia) und Rhetorik (Merkur) gesehen Mathons Ansatz fuumlhrte den Verweis auf dieneuplatonische Wieder-Erinnerung und die Ruumlckkehr der Seele in dieses Modellein Ebenso wie bei Nuchelmans werden auch hier nur wenige Elemente desMythos interpretiertsup3⁰⁶

Lenazrsquo eigener Ansatzsup3⁰⁷ folgt den Uumlberlegungen Ferrarinossup3⁰⁸ und ergaumlnzt siemit einigen Hypothesen Im Kern kreise der Mythos des zweiten Buches um einedoppelte Vereinigung die (horizontale) Vereinigung allen irdischen Wissens inPhilologia mit Hilfe von Hymenaeus und die (vertikale) Vereinigung der goumlttlichenund menschlichen Sphaumlre mit Hilfe von Eros Hinzu treten Uumlberlegungen ob essich bei Philologia und Merkur eventuell um nur eine Entitaumlt handle die Seelewelche getrennt worden sei und nun wieder zusammenfinde

Diese Lesart integriert die meisten der mythischen und allegorischen Ele-mente und verbindet sie weitgehend schluumlssig zu einem umfassenden KonzeptAllerdings vernachlaumlssigt sie auch bestimmte EinzelbeobachtungenWieso steigtPhilologia vom Sphaumlrenrand wieder auf die Milchstraszlige hinab (2 200 2 206)Wieso werden ihr auf der Milchstraszlige die irdischen Kuumlnste vorgefuumlhrt die sieerbrechenmusste damit sie in den Himmel aufsteigen konnte (2 135 f)sup3⁰⁹ Bereitsdiese Fragen zeigen deutlich dass eine kohaumlrente plausible Aufloumlsung des Mythosnicht leicht moumlglich ist

Nuchelmans 1950 Mathon 1969 Lenaz 1975 105 Aumlhnliches gilt auch fuumlr Hadots Deutung Sie identifiziert Merkur mit demaumlgyptischen Gott Theuth auf den in De nuptiis 2 102 f angespielt wird und nennt ihn diebdquoPersonifizierung der goumlttlichen Vernunftldquo waumlhrend Philologia die Personifizierung dermenschlichen Vernunftseele in deren idealem Zustand darstelle Die sieben Wissenschaften unddie sieben mantischen Kuumlnste ermoumlglichten es der Seele bdquozu ihrem Ursprung dem intelligiblenBereich oder zu Gottldquo zuruumlckzukehren (Hadot 2009 21 f) Lenaz 1975 106ndash 119 Ferrarino 1969 Dieses Problem entfiele wenn man annaumlhme dass Martianus die Erzaumlhlung nur auf dieersten zwei Buumlcher angelegt habe und erst danach die Moumlglichkeit einer Verbindung mit der inden Buumlchern 3 bis 9 folgenden Enzyklopaumldie erkannt habe Dafuumlr gibt es zwar Hinweise (bes dieDiskussion um die FiktionalitaumltUnterhaltung) am Ende von Buch 2 und zu Beginn von Buch 3doch duumlrfte man annehmen dass Martianus den Grundkonflikt von zuruumlckgelassenem Wissenund erneut geschenktem Wissen erkannt und behoben haumltte

2 De nuptiis als literarisches Werk 129

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Weiterhin uumlberbetont der Versuch den Mythos allein aus sich heraus zu er-klaumlren den Stellenwert des zweiten Buches im Gesamtwerk Als Interpretations-rahmen zwar wichtig tritt er bei fortschreitender Lektuumlre hinter die praktischeDarstellung der sieben Kuumlnste zuruumlck Diese nehmen nicht nur mehr Raum einsondern uumlberlagern die Darstellung im zweiten Buch und reduzieren somit auchderen Bedeutung Der Mythos ist also einwichtiger keineswegs jedoch der einzigeBestandteil von De nuptiis

Menippeische SatireDas auffaumllligste literarische Kompositionselement von De nuptiis ist jedochzweifellos die Wahl des Prosimetrums die Mischung von Prosapartien mit me-trischen Einheiten Der uumlberwiegende Teil des Werks ist in Prosa gehalten inwelchen 33sup3sup1⁰ metrische Partien eingelegt sind Dabei sind die Gedichte nichtregelmaumlszligig uumlber das gesamte Werk verteilt sie finden sich uumlberwiegend an ex-ponierten Stellen besonders an den Buchanfaumlngen und Buchenden Bei denmetrischen Partien innerhalb eines Buches handelt es sich fast ausschlieszliglich umGoumltterreden

Die beobachtete unregelmaumlszligige Verteilung der metrischen Partien unter-scheidet sich deutlich von der Gestaltung wie sie Boethius wenige Jahrzehntespaumlter inDe consolatione Philosophiae einsetzt Dort sind diemetrischen Partien inHinblick auf die Gesamttextmenge haumlufiger und zudem gleichmaumlszligiger verteiltsup3sup1sup1

Damit haumlngt zusammen dass auch die literarisch-argumentative Funktion dermetrischen Teile z T von derjenigen bei Boethius abweicht Bei Boethius stehendie Gedichte im Argumentationszusammenhang und fuumlhren Gedanken fort oderbuumlndeln sie in praumlgnanter Ausdrucksweisesup3sup1sup2 Ein gutes Beispiel dafuumlr ist eine

Die Zaumlhlung umfasst die zusammenhaumlngenden metrischen Partien und zaumlhlt auch Ge-dichte mit unterschiedlichem Versmaszlig (z B die Gedichte der Musen) als eine Partie Vgl dazu besonders OrsquoDaly 1991 Kap 1 (bdquoThe poetics of the Consolationldquo) darin 19ndash22 zuMartianus Sprachliche Parallelen sind zusammengestellt im Index der Boethius-Ausgabe vonBieler (CCSL 94 116) diskutiert werden sie bei Pabst 1994 163ndash 168 Da Boethius das Werk desMartianus kannte kann man von einer gelungeneren Ausdifferenzierung der Ansaumltze des Mar-tianus sprechen Der Vergleich des Einsatzes der prosimetrischen Form bei Boethius gewinntdadurch an Gewicht Eine Mischung von Prosa und Poesie findet sich weiterhin bei Fulgentius inden Mythologiae ndash Zu Parallelen in den Werkanfaumlngen bei Martianus Fulgentius und Boethiusvgl Klingner 1921 114 Pabst 1994 der Fulgentiusrsquo Vorgehen durchaus als bdquoimitatio Martianaldquoversteht (162 134ndash 137) fuumlr Boethius in Martianus allerdings nur eine Quelle sieht bdquoThey contribute to the argument as it proceeds yet take a wider view with an authorityoutside and above the adjacent prose They possess their own thematic design which spans theentire workldquo (Crabbe 1981 260) bdquoDie Metra bilden Ruhe- und Houmlhepunkte im Werk haumlufig

130 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Stelle zu Beginn des vierten Buches Nachdem zunaumlchst allgemein erlaumlutert wirddass die Weisen vermoumlgen was sie wollen die Schlechten jedoch nicht(cons 4 1 131ndash140) folgt in Versen eine Reihe plastischer Beispiele fuumlr die These(cons 4 carm 2) bevor der Gedanke fortgesponnen wird (cons 4 3 1ndash4)

An anderen Stellen uumlbernehmen die metrischen Partien eine Gliederungs-funktion indem sie Gedanken abschlieszligen und durch die Unterbrechung Zeit zurErholung bieten So sagt Philosophia zu ihrem Schuumller Boethius

bdquosed uideo te iam dudum et pondere quaestionis oneratum et rationis prolixitate fatigatumaliquam carminis exspectare dulcedinem accipe igitur haustum quo refectus firmior inulteriora contendasldquo (Boeth cons 4 6 200‐203)

bdquoAber ich sehe dass du bereits vom Gewicht der Untersuchung belastet und von der Breiteder Beweisfuumlhrung erschoumlpft auf die suumlszlige Erholung eines Liedes wartest nimm also denTrank damit du solchermaszligen erfrischt kraumlftiger zu den weiteren Themen eilen kannstldquo

In dieser zweiten Funktion setzt auch Martianus die metrischen Partien ein Dabeisind sie nicht in die Prosadarstellung eingeschoben sondern markieren fastausschlieszliglich die Buchanfaumlnge und Buchenden Explizites Ziel ist die Belebungdes Werkes um eine angenehme Lektuumlre zu erleichternsup3sup1sup3 Dies widersprichtMartianusrsquoAnkuumlndigung nach der hinleitenden Erzaumlhlung in denBuumlchern 1 und 2keine fiktionalen Erzaumlhlungen mehr einfuumlgen zu wollen die Darstellung solleernst und dem Gegenstand angemessen sein

nunc ergo mythos terminatur infiuntartes libelli qui sequentes asserentnam fruge vera omne fictum dimoventet disciplinas annotabunt sobriaspro parte multa nec vetabunt ludicra (2 220)

Nun also hat der Mythos sein Ende erreicht es beginnen die Buumlcher die die nun anschlie-szligenden Kuumlnste darbieten Denn mit wahrhaftiger Ernte entfernen sie alles Erdichtete undzeichnen die Kuumlnste nuumlchtern auf verbieten jedoch nicht gelegentliche Unterhaltung

stehen sie am Ende von Einzelabschnitten wo sie diese dann rekapitulieren und fuumlr densbquoSchuumllerlsquo zusammenfassen Bisweilen kommt ihnen auch eine Uumlberleitungsfunktion zuldquo (Kin-dermann 1969 63) ndash Zur Gattung allgemein allerdings mit besonderem Fokus auf die mittel-alterliche Literatur vgl Pabst 1994 bes 105ndash 133 zum Prosimetrum bei Martianus und 158ndash 195bei Boethius sowie Dronke 1994 bes Kap 2 (bdquoAllegory and the mixed formldquo) So auch McDonough der im Kapitel bdquoThe function of the poetryldquo zu Recht (aber zu kurzgreifend) formuliert bdquoIn undertaking the compilation of his encyclopedia the main challenge toMartianus lay in maintaining the interest of his readers (and himself) in making palatable thearid factual account of the various disciplinesldquo (McDonough 1968 37)

2 De nuptiis als literarisches Werk 131

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Scheint es an dieser Stelle so als ob Mythos und Heiteres getrennte Dinge waumlrenzeigt der unmittelbare Fortgang zu Beginn von Buch 3 dass beide Begriffe letztlichAumlhnliches bezeichnen Hier am Beginn der Schilderung der freien Kuumlnste(3 221 f) erlaumlutert Martianus in einem weiteren Gedicht das als Dialog gestaltetist warum er von seinem Plan abweicht

Camena bringt Schmuck fuumlr das Werk mit (amicta fictis commenta ferre) AufMartianusrsquo Einwand keine Mythen mehr vorbringen zu wollen (mythi pulsi) er-widert sie es gehe nicht um Luumlge (nil mentiamur) sondern um Einkleidung(vestiantur Artes) ndash man koumlnne die Brautjungfern also die Allegorien der freienKuumlnste doch nicht nackt vorfuumlhren Daraufhin gibt sich Martianus geschlagenund die Handlung von Buch 3 beginnt

Abgesehen von der unterhaltenden Funktion die besonders durch die Ge-dichte an den Buchenden gewaumlhrleistet wird scheinen die metrischen Passagenfuumlr viele Forscher wahllos in das Werk eingestreut Typisch ist eine Aussage wieCrabbe sie trifft bdquoMartianus uses verse frequently at the beginning sometimes atthe end of books and erratically throughoutldquosup3sup1⁴

Natuumlrlich kann von einer systematischen Verteilung und einer argumenta-tionslogischen Anordnung wie bei Boethius nicht gesprochen werden Bei ge-nauerem Hinsehen wird jedoch deutlich dass die metrischen Abschnitte nichtwillkuumlrlich uumlber das Werk verstreut sindsup3sup1⁵

Die meisten metrischen Passagen finden sich in den Buumlchern 1 und 2 von Denuptiis Diese Buumlcher enthalten die einleitende Handlung die als fiktionale Er-zaumlhlung dargeboten wird Im Bericht von der Suche Merkurs nach der richtigenEhefrau und von Philologias Aufstieg in den Himmel finden sich neun metrischePassagen Es handelt sich dabei bis auf die drei Faumllle der an den Buchanfaumlngen(Buch 1) und Buchenden (Buch 1 und 2) stehenden Gedichte um Reden vonGoumlttern Diese fuumlhren die Handlung fort und dienen also nicht der Buumlndelung derGedanken oder der Erholung des Lesers Stattdessen scheint es Martianus darumzu gehen das Sprechen der Goumltter durch die metrische Gebundenheit als be-

Crabbe 1981 264 Eine Typisierung die z T von der Position der metrischen Passagenlosgeloumlst ist bietet McDonough seiner Ansicht nach sind die metrischen Partien hauptsaumlchlichfunktional bdquoThe poetry thus is primarily functional although this function varies from book tobookldquo (McDonough 1968 38) Als Funktionen benennt er fuumlr Buch 1 Handlungsfortfuumlhrung fuumlrBuch 2 Schmuck fuumlr Buch 3 Belehrung fuumlr den Rest Einfuumlhrung oder Entlassung derBrautjungfern oder Unmut uumlber Verzoumlgerung der Hochzeit Der Rest seien bdquooccasional piecesldquo(ibid 40) ndash Verspartien finden sich am Anfang der Buumlcher 1 2 3 4 5 6 7 und 9 sowie am Endeder Buumlcher 2 4 5 7 und 9 Die ungleiche Verwendung der Metra bei Boethius und Martianus laumlsst sich am besten alsEntwicklung verstehen wie es beispielsweise Kindermann (1969 60) tut Zur Kenntnis desMartianus bei Boethius vgl oben Anm 311

132 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

sonders zu markieren Dies gilt vor allem fuumlr markante Szenen zum Beispiel dieRede Jupiters in der Goumltterversammlung gegen Ende des ersten Buches (1 91ndash93)oder die orakelartige Auskunft Apolls (1 21 f)

Diese Beobachtung gilt daruumlber hinaus ebenso fuumlr die genannten Stellen inBuch 9 auch wenn es sich dort nicht um die Vorgeschichte oder einen weiterenliterarischen Rahmen handelt Jedoch ist eine Szene mit Goumlttergespraumlchen ein-geschoben in der die Goumltter unter anderem auch Verse verwenden Durch dieseReden in metrisch gebundener Form soll den entsprechenden Buumlchern also einehoumlhere Wuumlrde verliehen werden

Einen zweiten Fall stellen die Gedichte zu Beginn oder zu Ende eines Buchesin den Buumlchern 3 bis 9 dar In diesen Buumlchern praumlsentieren die Freien Kuumlnste ingeschlossenem Vortrag die Inhalte ihrer Wissenschaft Die Gedichte in einigenFaumlllen in auktorialer Erzaumlhlhaltung gestaltet uumlberbruumlcken die Fuge zwischen denBuumlchern und bieten eine Pause zwischen den langen Vortragspartien der Leserkann sich erholen Die Inhalte der Verspartien sind unterschiedlich es handeltsich zumeist um den Ein- oder Auszug einer Brautjungfer (4 327 4 423 f 8 8028 808 9 911ndash919) um die Fortfuumlhrung der Hochzeitshandlung (5 425 8 8059 888) um die Anrufung eines Gottes (6 567ndash574) oder um eine Wendung desAutors an den Leser (5 566 9 997ndash 1000)

Dieser Einsatz der Verspartien ist jedoch noch keine hinreichende Erklaumlrungfuumlr die Wahl des Prosimetrums Sie erklaumlrt sich besonders dadurch dass Marti-anus auf diese Weise sein Werk in die Traditionslinie von Texten einreiht die alsmenippeische Satiren bezeichnet werdensup3sup1⁶

Charakteristisch fuumlr diese spezielle Form der roumlmischen Satire ist der Wechselvon metrischen und prosaischen Partiensup3sup1⁷ Klassische lateinischsprachige Ver-treter der menippeischen Satire sind Varro (Saturae Menippeae) Seneca (Apo-colocyntosis) und Petron (Satyrikon) in der griechischen Literatur nutzen Lukianund Julian (Caesares) diese Form Inhaltlich lassen sich nur wenige Verbindungenzwischen den Werken ziehen und auch die Umsetzung der formalen Elemente istunterschiedlich Dies fuumlhrt sogar so weit dass sich moderne Forscher trotz derbereits antik bezeugten Bezeichnungder Gattung teilweise auszligerstande sehen dieGattung genauer zu definieren oder dass sie ihre Fragestellung losgeloumlst von derGattungstradition verfolgensup3sup1⁸ Dies macht die Verortung von De nuptiis in diesemGenre nicht leichter

Zur menippeischen Satire vgl Relihan 1993 Coffey 1996 Im Gegensatz dazu beschraumlnkt sich die Verssatire seit Horaz auf die Verwendung desHexameters So betont Scheible im Vorwort ihrer Studie zu den Gedichten in Boethiusrsquo de consolationedass sie Vorgaben der Tradition in Hinblick auf die Gedichte nicht beruumlcksichtige ndash sie lieszligen

2 De nuptiis als literarisches Werk 133

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Gelegentlich wird sogar die These vertreten dass sich das satirische ElementinDe nuptiis in dieser formalen Verbindung von Prosaund Poesie erschoumlpfesup3sup1⁹DerGattungsbegriff sbquomenippeische Satirelsquo waumlre dann identisch mit der BezeichnungsbquoProsimetrumlsquo Dem widersprechen jedoch verschiedene Beobachtungen derRuumlckgriff auf die Etymologie des Wortes satura die Bezugnahme auf Vertreter derGattung und das Auftreten einer Figur namens Satura sowie deren Agieren dasuumlber die rein formale aumluszligerliche Satireform hinausweist schlieszliglich die beson-dere Gestaltung der Erzaumlhlsituation Diese vier Elemente sollen im Folgendenherausgearbeitet werden

Etymologie ndash Dass Martianus sein Werk sehr wohl als Satire verstanden wissenwill wird an verschiedenen Stellen deutlich Dies geschieht zum Beispiel durchgelehrte Anspielungen auf die Terminologie der antiken Satire an prominenterStelle So heiszligt es in 9 998

[Satura] haec quippe loquax docta doctis aggeransfandis tacenda farcinat immiscuitMusas deosque disciplinas cyclicasgarrire agresti cruda finxit plasmate

So haumluft sie plappernd Gelehrtes auf Gelehrtes und stopft geheimes und bekanntes Wissenzusammen hatMusenundGoumltter vermischt undhat sich erdacht dass die enzyklopaumldischenDisziplinen in einem baumlurischen Machwerk unreifes Zeug daherplappern

Die Woumlrter farcinat und immiscuit verweisen auf das Zusammenstopfen undVermischen verschiedener Zutaten z B in einer Wurst oder Pastete Gleiches giltfuumlr die Woumlrtermiscillo und aggeranssup3sup2⁰ Ausgangspunkt fuumlr diese Terminologie istdie Etymologie desWortes sbquoSatirelsquo an sich bedeutet urspruumlnglich etwaswie sbquobunteMischunglsquosup3sup2sup1 Traditionell sind Anspielungen auf diese Etymologie in der satiri-

sich nicht feststellen (Scheible 1972 8) Vorhandene Untersuchungen beschreiben in der Regeldie Konstituenten der einzelnen Werke Aufgrund der geringen Zahl uumlberlieferter Werke und dergroszligen Unterschiede zwischen ihnen ist es jedoch schwierig die typischen Elemente der Gat-tung zu benennen Auch diese Arbeit schlieszligt sich dem beschreibenden Vorgehen an undvergleicht an einschlaumlgigen Stellen inwieweit die Beobachtungen auch fuumlr die Gattung typischsind So z B Coffey der die Mischung aus Prosa und Poesie bei Martianus als bdquomiscellanyldquobezeichnet und vor einer Verbindung von De nuptiis mit der Satire als problematisch warnt(Coffey 1996 959) Vgl Relihan 1993 14 ErnoutMeillet s v satur -ra -rum (2001 596) WaldeHofmann s v satura (2007 II482f) Der zentrale Hinweis auf eine Ableitung des Wortes aus dem kulinarischen Bereich findet

134 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

schen Literatur selten Allein in Juvenal findet sich ein Hinweis darauf gleichwohlmit leicht anderem Verstaumlndnis Er betrachtet die Zusammenstellung der Satirenals farrago also als Mischgericht nicht die einzelne Satiresup3sup2sup2

In diesen sehr bildlichen Wendungen trifft Martianus gleichzeitig eine Aus-sage uumlber sein Verstaumlndnis der Darstellung von Bildungswissen Bei ihm gibt eskeine vorverdauten und mundgerecht aufbereiteten Wissenspaumlckchen (wie Ma-crobius sie bietet)sup3sup2sup3 sondern rohe Kost (cruda) die ihre Zutaten d h die lite-rarischen oder inhaltlichen Urspruumlnge nicht leugnet LeMoine formuliert prauml-gnant bdquoBy calling attention to the literary functions these metaphors fulfillMartianus hellip raises questions about the principles of seamless synthesis andverbal regurgitation which Macrobius so effectively demonstratesldquosup3sup2⁴

Dass Martianus durch diese Art der Darstellung seine Autoritaumlt infrage stelle(bdquohellip reveal doubts about the competence of the cook and the quality of the edu-cational feastldquo)sup3sup2⁵ laumlsst sich jedoch nicht erkennen Schlieszliglich benennt er seinVorgehen explizit (scheitert also nicht an einem gesteckten Plan) und bietetgleichzeitig mit der Kritik an der klassischen Form der Wissensvermittlung eineMoumlglichkeit an wie nicht-vereinheitlichte Wissensvermittlung aussehen kannBeeintraumlchtigungen des Vertrauens zum Erzaumlhler und zu den Inhalten gibt esallerdings ndash jedoch aufgrund anderer Faktorensup3sup2⁶

Bezug auf andere Satiriker ndash Neben den Anspielungen auf die Etymologie derGattung Satire treten explizite Bezuumlge auf andere Autoren menippeischer Satirenauf Namentlich wird jedoch keiner der Vorgaumlnger genannt die Nennung Varroserfolgt ausschlieszliglich in den Vortraumlgen der Brautjungfern und bezieht sichuumlberwiegend auf Varros fachschriftstellerische Werke oder seinen Ruf als Enzy-klopaumldistsup3sup2⁷

sich beim Grammatiker Diomedes (Grammatici Latini 1 485) Ausgehend von dieser Passageeroumlrtert Petersmann die Etymologie mit besonderer Beruumlcksichtigung des Ursprungs des Wortessatura aus dem Kuumlchenbereich (Petersmann 1986) Iuv 1 86 nostri farrago libelli Vgl die Kommentare Morton Braund 1996 95 f undCourtney 1980 103 Vgl die Gleichnisse in der praefatio zu den Saturnalia (Sat praef 5ndash9) und die Ausfuumlh-rungen in Kap II1 sowie die dort aufgefuumlhrte Literatur LeMoine 1991 360 ibid S u die Abschnitte bdquoErzaumlhlinstanzenldquo und bdquoDeutungen der komplexen literarischen Formldquo 4 335 (die Gelehrsamkeit Varros vgl Cic ac 1 9 Aug civ 6 2) 5 517 (Nennung in einemZitat) 6 639 und 6 662 (Fragen der Geographie die Varro-Vorlage ist nicht bekannt) 9 928 (cfVarro rust 3 17 4) Vgl zum Verhaumlltnis von Martianus und Varro bes Bovey 2003 Kap 2 (bdquoLaquestion varronienneldquo) und Schievenin 2009f

2 De nuptiis als literarisches Werk 135

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Allerdings zitiert die Wendung ὄνος λύρας in 8 807 den Titel einer menip-peischen Satire Varrossup3sup2⁸ Die Wendung ist in der lateinischen Literatur ander-weitig nicht belegt weshalb davon auszugehen ist dass Martianus hier auf denrepublikanischen Satiriker direkt zuruumlckgriff Da die Wendung zudem im Streit-gespraumlch zwischenMartianus und Satura uumlber die angemessene Art des Erzaumlhlensder Geschichte faumlllt kommt ihrer Verwendung eine programmatische Aussage zuMartianus stellt sich und sein Werk also in die Nachfolge Varros und seiner Sa-tiren

Ein Bezug auf Lukian ist weniger sicher nachzuweisensup3sup2⁹ Allerdings gibt eseine motivische Uumlbernahme im zweiten Buch von De nuptiis Philologias Erbre-chen des Wissens das der Hochzeit vorausgeht hat eine Parallele in LukiansDialog Lexiphanes Der allzu (ein)gebildete Lexiphanes nimmt auf Draumlngen vonLycinus ein Brechmittel ein das ihm der Arzt Sopolis gibt Daraufhin erbricht eralle Woumlrter die er gelernt hat dies ist die Voraussetzung dafuumlr dass er nun an-gemessen belehrt werden kannsup3sup3⁰

Es handelt sich um die Fragmente Varro Men 348ndash369 In Fragment 349 findet sich dieWendung auch im Vers (si quis μελωδεῖν est ὄνος λύρας praesepibus se retineat forensibus ndashsbquower beim Gesang wiersquon Esel an der Harfe bloumld der bleib getrost im Stallmief seines Forumsdortlsquo [Uumlbs Krenkel]) Die Bezugnahme auf Varro ist umso wahrscheinlicher da Satura unmit-telbar zuvor sowohl Martianusrsquo berufliche Aufenthalte auf dem Forum erwaumlhnt und ein Wort-spiel mit seinem Namen Capella angestellt hat ndash der zwar nicht sbquoEsellsquo bedeutet wohl aber einHaustier (sbquoZiegelsquo)Vgl dazu Shanzer 1968c 38ndash40 Shanzer 1986a kritisch dazu Pabst 1994 168(m Lit) Folgt man Bovey handelt es sich bei der unmittelbar folgenden Wendung καιρὸν γνῶθιum einen weiteren Verweis auf den Titel einer Varro-Satire γνῶθι σεαυτόν (= Varr Men 199ndash210 vgl Bovey 2003 282ndash284) Naumlher liegt wohl dass Martianus Capella diese eigenstaumlndigeSentenz (vgl Diogenes Laertios I 79 der sie als Sentenz des Pittakos ausweist) aus einer anderenQuelle uumlbernommen hat Kindermann 1969 60 Shanzer geht davon aus dass Martianus Lukian kannte (Shanzer1986c 36) Zur Diskussion um Martianusrsquo Griechischkenntnisse vgl Cristante 2009 [5] undShanzer 1986c 4 die beide annehmen dass Martianus durchaus Griechisch beherrschteShanzer weist einige Stellen auf an denen Martianus woumlrtlich uumlbersetzt und schlieszligt aus derBeherrschung des Griechischen zu Recht auf einen gebildeten moumlglicherweise sogar akade-mischen Hintergrund von Martianus Lucian Lex 20f Andere antike Texte die das Erbrechen von Wissen als Teil des Reini-gungsprozesses beschreiben oder als Bild tradieren sind mir nicht bekannt Daher ist eswahrscheinlicher dass Martianus auf Lukian im Original zuruumlckgegriffen hat Zur vor-byzantinischen Rezeption Lukians vgl Nesselrath 1994 der spaumltantike Bezuumlge auf Lukian u abei Julian und Claudian aufzeigt ndash Einen Bezug auf Lukians Concilium deorum fuumlr moumlglich haumlltKrapinger 1999 962 ndash Anders gelagert sind Lucian cont 7 und Aug in Joh ev tract 36 1 Dortgeht es darum dass durch das Ausspeien Wissen weitergegeben wird was zum Bild der daserbrochene Wissen aufsammelnden Artes passt nicht jedoch zum Motiv der Reinigung

136 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Bezuumlge auszligerhalb der Uumlbernahme uumlblicher Gattungselemente lassen sich fuumlrSenecas Apocolocyntosis Petrons Satyricon oder Julians Caesares nicht konsta-tierensup3sup3sup1

Die Figur der Satura und ihr Handeln ndash Einer der deutlichsten Hinweise auf dieForm der Satire liegt im Auftreten einer Figur namens Satura Diese Figur wirdzunaumlchst von Martianus als Erzaumlhlinstanz eingefuumlhrt (1 2) von der er den Inhaltvon De nuptiis erfahren haben will Im Laufe des Werks gewinnt Satura aber anProfil und agiert zunehmend autonom

Aussagen uumlber Satura beruhen letztlich auf drei Stellen in De nuptiis (6 576ndash5798 806ndash8109997ndash999) und koumlnnen fast ausschlieszliglich aus der Formund derBotschaft ihrer eigenen Aumluszligerungen gewonnen werden An allen drei Stellendiskutiert Satura mit Martianus Ansonsten ist Satura zwar als praumlsent zu denkenwird aber nicht weiter thematisiert

Nach Martianusrsquo Anrufung Minervas zu Beginn des sechsten Buches mischtsich Satura in seine Uumlberlegungen ein welche Frauen er vor sich sehe Die Ein-mischung wird von Martianus als scherzend bezeichnet (iocabunda 6 576) dieEinmischung an sich als typisch fuumlr das Scherzen Saturas (ut lepidula est 6 576)Die Aumluszligerung Saturas beginnt mit Spott uumlber Martianusrsquo nur scheinbare KlugheitDurch falsche naumlchtliche Studien und besonders seine Anwaltstaumltigkeit habe erden Blick auf das Wichtige verloren und erkenne nun nicht einmal mehr Philo-sophia und Paideia Der Scherz wird jedoch alsbald von einem belehrendenTonfall abgeloumlst in dem Satura Martianus uumlber das Wesen der beiden Frauenaufklaumlrt

Satura tritt als Naumlchstes zu Beginn des achten Buches auf in der Folge derSilen-Szene Der angetrunkene Silen war eingeschlafen und durch Amor aufge-schreckt worden was die uumlbrigen Goumltter laut lachen lieszlig (8 803ndash805) DieseSchilderung provoziert bei SaturaWiderspruch da sie das Erzaumlhlte als unpassendfuumlr die Goumltterversammlung empfindet Ihre Kritik beginnt wieder bei der Persondes Martianus dessen Namen sie als passend zu seinem Wesen deutet (Capella ~sbquoZiegelsquo 8 806) Sodann fordert sie Martianus auf seine Possen zu unterlassenMartianus fuumlhlt sich gehoumlrig von Satura gemaszligregelt und gibt klein bei bemerktaber dass sie ansonsten mehr von Scherzen halte (alioquin lepidula 8 807) AlsSatura dann die Einfuumlhrungder eintretenden Brautjungfer in Versenvorbringt undMartianus wiederum seine Scherze (ludicra 8 808) vorhaumllt kann dieser nicht

Mit Julian verbindet Martianus immerhin die Ansiedlung der Goumltterversammlung auf derMilchstraszlige ndash Zur Rolle der Saturnalien vgl den Abschnitt bdquoDeutungen der komplexen litera-rischen Formldquo

2 De nuptiis als literarisches Werk 137

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mehr an sich halten und zahlt Satura ihre Kritik in gleicher Muumlnze heim Nacheinigem Spott uumlber Saturas Verse verteidigt nun Martianus das Recht auf Scherzgegen sie die an sich ndash nicht aber in De nuptiiswie es scheint ndash eigentlich fuumlr denScherz zustaumlndig waumlre und gibt ihr mit Martial (2 41 1) den Rat auch einmal zulachensup3sup3sup2

Ein letzter Schlagabtausch von Satura und Martianus erfolgt schlieszliglich amEnde des Werkes Wiederum streiten beide Figuren miteinander und halten sichmit Spott uumlber das Wesen des anderen nicht zuruumlck

Die Einfuumlhrung Saturas die ja nur in Verbindung ndash und das heiszligt Ausein-andersetzung ndash mit Martianus erscheint dient vornehmlich der deutlichenBenennung der Gattung und der Verstaumlndigung daruumlberwas den Charakter einessatirischen bzw des vorliegenden Werkes ausmache Erstaunlich ist dabei Mar-tianusrsquo Entwicklung der sich zunaumlchst gegen Unterhaltung im artes-Teil ausge-sprochen hatte diese spaumlter aber gegen den censorischen Eingriff Saturas imachten Buch verteidigt Noch erstaunlicher ist aber dass es gerade Satura ist diezur Beachtung des Decorums auffordert und Martianusrsquo vergleichsweise mildenScherz scharf tadelt

Erzaumlhlinstanzen ndash Die Frage nach der Erzaumlhlsituation bzw der Erzaumlhlerfigurgehoumlrt zu den grundlegenden Analysekriterien eines literarischenWerkes ebensowie die Konzipierung von Raumund Zeit Lassen sich die letzten beiden Punkte imHinblick auf De nuptiis hinreichend klaumlrensup3sup3sup3 so bietet die Erzaumlhlerfigur groumlszligereSchwierigkeiten

DassDe nuptiis zwei Erzaumlhlinstanzen hat scheint zu Beginn desWerkeswenigdramatisch In 1 2 verweist der Erzaumlhler Martianus gegenuumlber seinem Sohn dar-auf dass die folgende Geschichte (also der uumlberwiegende Teil von De nuptiis) ihm

Ride si sapis o puella ride Schievenin bietet eine gruumlndliche Analyse dieser Stelle auchmit Blick auf die inverse Vorlage Martials (plora si sapis o puella plora Mart 2 41) derwiederum auf Ovid (Ov ars 3 281 f) zuruumlckgreift (Schievenin 1984 bes 136 ausfuumlhrlich auchBovey 2003 275ndash288) Die Rahmenhandlung spielt in der erzaumlhlerischen Gegenwart und in einem unbestimmtenRaum der jedoch nicht auszligergewoumlhnlich ist es liegt nahe an Karthago und das Haus desMartianus Capella zu denken Die eigentliche Handlung spielt an z T unwirklichen Orten aufder Erde die zumeist nicht naumlher bestimmt sind (z B Philologias Herkunft) und auf derMilchstraszlige wobei die absolute Zeit nicht genannt wird aber aufeinanderfolgende Tage inihrem Ablauf erkannt werden koumlnnen Die Phantastik einzelner Szenen die meist auf alle-gorische Darstellungsweisen zuruumlckgeht verletzt jedoch nicht die raumlumliche oder zeitlichePlausibilitaumlt des Dargestellten Vgl dazu auch die Ausfuumlhrungen und grafischen Veranschau-lichungen LeMoines (1972a)

138 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

waumlhrend langer Winternaumlchte (eine Anspielung auf Gellius)sup3sup3⁴ von Satura be-richtet wurde Der antike wie moderne Leser duumlrfte sich wohl kaum daran stoszligensondernwird darin vor allem eine Inspiration des Autors durch Satura (auchwennes das zuvor noch nicht gab) erkennen Bei der Erwaumlhnung von Satura koumlnnte erHeiteres erwarten oder bunt gemischte Geschichten

Vollkommen verwirrt wird der Leser hingegen spaumltestens dann wenn er amEnde des Werkes in der Sphragis angekommen ist (9 997ndash 1000) Dort reflektiertMartianus sein literarisches Vorgehen in den vorausgegangenen neun Buumlcherngenauer gesagt distanziert er sich von der Form der Darstellung (Umfang Bunt-heit) und verweist auf die Verantwortung Saturas die die Geschichte erzaumlhlt habe

Habes anilem Martiane fabulam 997Miscillo lusit quam lucernis flamineSatura Pelasgos dum docere nititurArtes daggercagris vix amicas AtticisSic in novena decidit voluminahaec quippe loquax docta doctis aggerans 998fandis tacenda farcinat immiscuitMusas deosque disciplinas cyclicasgarrire agresti cruda finxit plasmate (9 997 f)

Da hast du Martianus eine Altweibergeschichte sie verfertigte im Spiel mit vermischterInspiration [d h in Prosa und Vers] bei Kerzenschein Saturawaumlhrend sie sich bemuumlhte diePelasger zu lehren die Kuumlnste die den Griechen kaum freundlich [d h neu] sindSo gelangte sie hinab bis zum neunten Buch haumluft plappernd Gelehrtes auf Gelehrtes undstopft geheimes und bekanntes Wissen zusammen hat Musen und Goumltter vermischt und hatsich erdacht dass die enzyklopaumldischen Disziplinen in einembaumlurischenMachwerk unreifesZeug daherplappern

So ungewoumlhnlich dieses Vorgehen auch ist ndash Martianus haumltte ja den Bericht Sa-turas als Grundlage nehmen und dann nach eigenem Geschmack umgestaltenkoumlnnen ndash wird es uumlbertroffen durch die Verteidigung Saturas Sie weist die Ver-antwortung fuumlr die Art der Erzaumlhlung von sich und verteidigt sichmit demHinweisauf Martianusrsquo intellektuelle Schwaumlche der sie die Ausfuumlhrungen habe anpassenmuumlssen

Vgl Gell praef 4 zur Erklaumlrung der Wahl des Titels Noctes Atticae fuumlr sein Werk

Sed quoniam longinquis per hiemem noctibus in agro sicuti dixi terrae Atticae commentationeshasce ludere ac facere exorsi sumus idcirco eas inscripsimus noctium esse Atticarum hellip

Aber weil wir in langen Naumlchten den Winter uumlber in Attika auf dem Landwie schon gesagtdiese Anmerkungen im Spiel und dann ernsthaft begonnen haben daher haben wir ihnenden Namen Attische Naumlchte gegeben hellip

2 De nuptiis als literarisches Werk 139

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

haec ipsa nauci rupta conscientia 999turgensque felle ac bili bdquomulta chlamydeprodire doctis approbanda cultibuspossemque comis utque e Martis curia[hellip]ab hoc creatum Pegaseum gurgitem 1000decente quando possem haurire poculoldquo (9 999 f)

Sie sagte aufgrund ihres Wissens um die Nichtigkeit (dieser Ausfuumlhrungen) verletztschwellend vor Bitterkeit und Zorn bdquoIch koumlnnte hier freundlich auftreten mit einem Gewandbekleidet lobenswert durchgelehrtes Verhaltenwie aus der VersammlungdesMars [Es folgtdie Schilderung der unguumlnstigen Anlagen von Martianus] ndash Wann koumlnnte ich mit ange-messenem Becher aus einem pegasischen Strom von ihm erschaffen schoumlpfenldquo

Somit hat das Werk das zu Beginn zwei hierarchisch geschiedene Erzaumlhler zuhaben scheint am Ende zwei Erzaumlhler die sich gleichberechtigt uumlber die Form dererzaumlhlten Geschichte streitensup3sup3⁵

Die Inkonsistenzen auf der Erzaumlhlebene setzen sich daruumlber hinaus fort HatteMartianus zu Beginn des Werks gesagt Satura habe ihm die Geschichte waumlhrendlangerWinternaumlchte erzaumlhlt so treten Satura undMartianus amEnde desWerks inder erzaumlhlerischen Gegenwart gemeinsam auf und sprechen beide nacheinanderzu Martianusrsquo Sohn

Weiterhin erscheinen Satura und Martianus innerhalb der Geschichte dieMartianus angeblichvon Satura gehoumlrt hatWaumlhrend die Goumltter denverschiedenenBrautjungfern lauschenwohnen auch SaturaundMartianus der Versammlungbeiund betrachten sie als unbeteiligte ZuschauerWie aus einer Theaterloge herauskommentieren und diskutieren sie das Geschehen das auf der bdquoGoumltterbuumlhneldquostattfindetsup3sup3⁶

Noch einen weitergehenden Schritt stellt die Silen-Szene zu Beginn des achtenBuches dar Im Anschluss an diese Szene beschwert sich Satura bei Martianus erkoumlnne die Goumltter nicht auf dieseWeise agieren lassen In der Folge entspinnt sich einGespraumlch in demMartianus seine Art des Erzaumlhlens gegen Satura verteidigt die fuumlreine zuruumlckhaltendere Darstellung plaumldiert (s o)Von der Fiktion dass Martianusseinem Sohn bloszligwiedergibtwas Satura ihm erzaumlhlt hat bleibt nichtmehr viel dieganze Szenerie ist ein Produkt der ErfindungdesMartianus gleichzeitigwohnt er ihraber gemeinsam mit Satura bei ist also Teil der Handlung

So bereits Pabst 1994 120 Anm 119 der allerdings auf eine Diskussion der Beobachtungverzichtet Es handelt sich um die Stellen zu Beginn des sechsten und des achten Buches die imvorigen Abschnitt bereits paraphrasiert wurden

140 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Diese Art der Spiels mit der Erzaumlhlerrolle wird von manchen modernen For-schern als ein wichtiges Merkmal der menippeischen Satire angesehen Hinzu-treten kann die Selbstherabsetzung des Erzaumlhlers die sich an seinemmangelndenWissen Stilbewusstsein Traditionsempfinden o auml entzuumlndetsup3sup3⁷ Folglich kanndie zunaumlchst befremdliche Brechung und Verzerrung als weiteres Merkmal derGattung menippeische Satire bestimmt werden

Aufgrund dieser Beobachtungen ist es zwingend in De nuptiis vor allem eineSatire zu sehen Auch der heiter-spoumlttische Charakter einiger Passagen zwischenden Vortraumlgen der Brautjungfern passt zum satirischen Anspruch Gelegentlicherscheint es jedoch fraglich ob es sich wirklich um satirische und nicht eher umkomische oder derbe Spaumlszlige handelt Die Szene in der Silen betrunken einschlaumlftund von den anderen Goumlttern verspottet wird (8 803ndash805) erinnert mit ihremSlapstick eher an den derben Spott der Komoumldie als an die Satire eines Varrosup3sup3⁸

22 Deutungen der komplexen literarischen Form

Wie laumlsst sich das Werk De nuptiis nun also formal beschreiben oder andersgefasstWie lassen sich die vier literarischen Traditionsstraumlnge zusammenfuumlhrenDass eine einheitliche Lesung zumindest versucht werden muss zeigt bereits dasLeitmotiv der Hochzeit ansup3sup3⁹

Im Kern handelt es sich bei MartianusrsquoWerk um eine Sammlung bedeutenderWissensschaumltze in einem einzigen Werk die darin systematisch ausgebreitetwerden Dies zeigt die Einteilung in verschiedene Disziplinen die ein ver-

Zur Erzaumlhlerrolle in der menippeischen Satire vgl u a Relihan 1993 und darin bes S 35 Mit der Aufnahme unterhaltsamer Elemente ginge Martianus sogar noch uumlber dieErwartungen an ein sbquosatirischeslsquo Werk hinaus Auch Boethius wird bescheinigt er erzaumlhle seineConsolatio bdquoper satiramldquo auch wenn bei ihm weder eine Figur Satura auftritt noch allzu vielHeiterkeit herrscht (Peiper zitiert in der Einleitung zu seiner Ausgabe S xxxi eine mittelalter-liche Boethius-Vita vgl Kindermann 1969 61)

hos libros [scil de consolatione Philosophiae] per satiram edidit imitatus videlicet mar-cianum felicem capellam qui prius libros De nuptiis philologiae et mercurii eadem speciepoematis conscripserathellip

Diese Buumlcher schrieb er als Satire freilich in Nachahmung des Marcianus Felix Capellader zuvor die Buumlcher uumlber die Hochzeit der Philologie mit Merkur in der gleichen Art vonGedicht verfasst hatte

Zum Motiv der Hochzeit das bereits programmatisch im eroumlffnenden Hymnus anHymenaeus erscheint vgl Schievenin 2009c und Cristante in der Einleitung seiner Ausgabe1987 3ndash 10

2 De nuptiis als literarisches Werk 141

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

gleichsweise leichtes Auffinden der Informationen erlaubtsup3⁴⁰ die Bedeutung wirdangesichts der Praumlsentation vor den Goumlttern auf der Milchstraszlige deutlich Alleinder Umfang dieser Vortraumlge die in sich auch nicht gestoumlrt oder gebrochenwerdenmarkiert dass es sich hier um das zentrale Charakteristikum des Werkes handelt

Den erzaumlhlerischen Anlass fuumlr diese Praumlsentation bietet eine Hochzeitsfeieralso ein Symposion hier ist die Gelegenheit fuumlr die groszligen Redebeitraumlge gegebenZudem bietet die SymposionformAnknuumlpfungspunkte fuumlr eine Rahmenhandlungdie zur Auflockerung der ebenso ausfuumlhrlichenwie trockenen Einzelreden genutztwird

Doch bleibt es ndash im Gegensatz z B zu Macrobius ndash nicht bei der bloszligenDarstellung der Wissensinhalte Hinzu tritt die allegorische Darstellung der Be-deutung von Wissen und von Fleiszlig beim Wissenserwerb in den ersten beidenBuumlchern Die praumlsentierten Inhalte der Buumlcher 3ndash9 (die Philologia ja bereits aufder Erde in Buch 2 besitzt) sindwichtig Sie sind nicht nur wichtig fuumlr das irdischeLeben (das wird nicht weiter thematisiert die explizit irdischen Wissenschaftenwie Architektur und Medizin werden sogar ausgeschlossen) ndash die Inhalte sindauch wichtig fuumlr die menschliche Vervollkommnung

Durch das angesammelte Wissen erreicht der Mensch zwar nicht die voll-kommene Erkenntnis (die erhaumllt auch Philologia nur ohne eigenes Zutun als sieauf der houmlchsten Himmelssphaumlre angekommen zum Vatergott in der jenseitigenGluumlckseligkeit betet) wohl aber ein goumlttergleiches Wissensup3⁴sup1 Der Wissenserwerbist gewissermaszligen die Voraussetzung dafuumlr dass der Mensch mit Hilfe einesgoumlttlichen Begleiters in den Himmel aufsteigen kann unsterblich wird und voll-kommene Einsicht erlangt

Die so weit kohaumlrente Verbindung der literarischen Traditionen laumlsst aller-dings den explizit satirischen Anspruch von De nuptiis auszliger Betracht durch denMartianus selbst das Werk primaumlr in die Gattung der Satire einordnet waumlhrendvergleichbare Bezuumlge zu anderen Gattungen fehlen Natuumlrlich lieszlige sich dieserprogrammatische Anspruch mit einem Verweis auf die Verwendung des Begriffszur Bezeichnung einer inhaltlich wie literarisch gemischten Form erklaumlren Dochgreift diese Erklaumlrung zu kurz da das Agieren Saturas die literarischen Passagendes Werks beinahe als Travestie erscheinen laumlsst (vgl oben zur Erzaumlhlerfigur) Einbildend-enzyklopaumldisches Werk kann sich allerdings nicht gefahrlos als Satire

So auch Englisch 1994 56 Die bdquoSystematik bei der Praumlsentationldquo erlaube einen leichtenZugriff auf die Informationen Mart Cap 2 201ndash205

142 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

praumlsentieren ohne Zweifel an der Glaubwuumlrdigkeit und Zuverlaumlssigkeit desWerkes und der praumlsentierten Inhalte zu weckensup3⁴sup2

Wenn Martianus auch die Konventionen der Gattung menippeische Satireaufnimmt und sein Werk also nur folgerichtig unter anderem eine unzuverlaumlssigeErzaumlhlsituation aufweist ist dies noch keine Erklaumlrung an sich Die regelkonformeUmsetzung gattungstypischer Anspruumlche erklaumlrt noch nicht die Wahl der Gattungan sich ndash einer Gattung die trotz ihrer Benennung als solche nicht zu denStandardformen und akzeptierten Gattungen zaumlhlte insbesondere nicht fuumlrLehrwerkesup3⁴sup3

Auch Martianusrsquo Verweis auf etwas bislang noch nicht Unternommenes(nescioquid inopinum intactumque 1 2) vermag den Widerspruch nicht zu loumlsenDie Wendung zeigt zwar dass Martianus die Ungewoumlhnlichkeit seines Ansatzesbewusst war (sofern sich die Phrase uumlberhaupt auf die Komposition des Werkesbezieht)sup3⁴⁴ beseitigt aber nicht das interpretatorische Problem ZuwelchemZweckverbindet Martianus also zwei so widerspruumlchliche Gattungen wie Enzyklopaumldieund Satiresup3⁴⁵

Drei Antwortansaumltze lassen sich grob umreiszligen 1 Die Verbindung ist nuraumluszligerlich bzw oberflaumlchlich 2 durch die Verbindung soll ein bestimmter Aspektparodiert und somit Spott und Kritik ausgesetzt werden 3 die Verbindung erfuumlllt

Dieses Problem hat bereits Westra in seinem Aufsatz bdquoThe juxtaposition of the ridiculousand the sublime in Martianus Capellaldquo benannt (Westra 1981) Allerdings beschraumlnkt sich auchdieser Aufsatz auf die Darstellung des Problems und die Zusammenstellung der Belege EineLoumlsung hat Westra nicht anzubieten ndash sein Aufsatz endet mit der eher apologetischen Bemer-kung das Eingestaumlndnis der Unvereinbarkeit von Satire und Lehrwerk durch Martianus in 9 997sei prima facie ein Spiel dahinter stecke jedoch die Absicht Problembewusstsein zu demon-strieren und Verantwortung fuumlr die unterlassene Loumlsung zu negieren bdquoEven though I would claim that prose and verse must be present in an ancient Menippeansatire it must be seen as one of a number of shocking juxtapositions of oppositesldquo (Relihan 198760) ndash In der Folge kann die prosimetrische Form durchaus auch Mittel belehrender Werkewerden vgl Pabst 1994 133 Denkbar (und wohl wahrscheinlich) waumlre auch dass damit die Inhalte besonders desMythos gemeint sind Der Verweis auf Unterhaltung fuumlhrt nicht zum Kern der Frage denn die satirische Formstellt mehr dar als reine Unterhaltung Auch das horazische Diktum ridentem dicere verum quidvetat ndashsbquolachend das Wahre zu sagen ndash was spricht dagegenlsquo (Hor serm 1 1 23) als Kern vonMartianusrsquo Satireverstaumlndnisses greift zu kurz ebenso wie vergleichbare Konzeptionen in derLiteratur Dort geht es bei Belehrung immer um einzelne philosophische Saumltze (nie beispiels-weise um die Vermittlung von Philosophie an sich) Folglich bezeichnet das bdquoverumldquo nichtkognitives Lernen sondern moralisches Der grundlegende Unterschied zur Konzeption desMartianus liegt somit auf der Hand Vgl zu diesem Aspekt im Allgemeinen z B Shanzer 1986c42 und im Speziellen u a Woytek 1986 339ndash345 Keulen 2009 bes Kap 2 und 3

2 De nuptiis als literarisches Werk 143

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

einen literarischen und belehrenden Zweck zugleich Aufgrund der komplexenSachlage und der unmittelbaren Bedeutung der Beantwortung der Frage nachdieser Verbindung fuumlr das Gesamtverstaumlndnis von De nuptiis werden alle Alter-nativen vorgestellt und bewertet

Rein formale Verbindung von Satire und EnzyklopaumldieEventuell laumlsst sich die Mischung aus enzyklopaumldischen und satirischen Ele-menten (mit den zur Satire gehoumlrigen Verspartien) als Sonderform der Varro-Re-zeption bei Martianus auffassenVarro von Reate verfasste sowohl umfangreicheFachliteratur als auch menippeische Satiren Fuumlr beides war er in der Antikebekannt und beruumlhmt ndash doch ist es wahrscheinlich dass Martianus die Werkebereits nicht mehr ndash oder allenfalls nur in Auszuumlgen ndash vorliegen hattesup3⁴⁶ Aus demWissen um die beiden Schaffensbereiche des republikanischen Autors die beideder Unterweisung dienen solltensup3⁴⁷ koumlnnte Martianus auf den Gedanken verfallensein die literarischen Formen und Inhalte in seinem Werk zu verbindensup3⁴⁸Vielleicht saszlig er auch einemMissverstaumlndnis auf indem ermeinte dass Varro seinsatirisches wie enzyklopaumldisches Koumlnnen in nur einem Werk demonstriert habeDies hieszlige jedoch dass Martianus sich der Problematik dieser Verbindung nicht

So aumluszligert sich beispielsweise Kindermann in den Vorstudien seiner Ausgabe der Conso-latio des Laurentius von Durham Er billigt Martianus nur eine sekundaumlre Varro-Kenntnis zu(Kindermann 1969 60) Entschieden verneint wird die Frage von Schievenin (2009f) und Hadotdie vor allem neuplatonische Quellen vermutet (Hadot 2005 149) Schneider jedoch nimmt andass sowohl Augustin als auch Martianus die Disciplinae noch vorliegen hatten (Schneider 1999109 f) und dass die Satiren-Exzerpte des Nonius Marcellus (fl um 400 in Afrika) ebenfalls ausdem Originaltext Varros angefertigt wurden (ibid 96 Anm 12) Abwaumlgend aumluszligert sich Huumlbner2004 passim Vgl Cic ac 1 8 (es spricht Varro)

et tamen in illis veteribus nostris quae Menippum imitati non interpretati quadam hilaritateconspersimus multa admixta ex intima philosophia multa dicta dialectice quae quo faciliusminus docti intellegerent iucunditate quadam ad legendum invitati

Jedoch findet sich in meinen fruumlhen Schriften die ich in kreativer Nachfolge (und nicht nurUumlbersetzung) Menipps mit einer gewissen Heiterkeit benetzt habe vieles aus den Kernbe-reichen der Philosophie beigemengt und vieles das nach Art der Dialektiker gesagt istdamit die weniger Gelehrten es leichter verstuumlnden nachdem sie durch eine Art von Scherzzur Lektuumlre ermuntert worden sind

Vielleicht hatte Martianus diese Stelle sogar im Kopf als er die Anlage von De nuptiis plante So z BWeinreich in der Einleitung zu seiner Uumlbersetzung roumlmischer Satiren bdquoMartianusCapella glaubte gewiszlig ein Varro redivivus zu sein sozusagen die Quintessenz des Gelehrten unddes Satirikersldquo (Weinreich 1962 XCIII) Ebenso Shanzer 1986c 42

144 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

bewusst gewesen sei ndash was ihm sicher nicht gerecht wird Auszligerdem wird so dieBezugnahme auf weitere formale Elemente der menippeischen Tradition und dieuumlbrigen Vorlaumlufer der Gattung mit anderer Konzeption (Lukian Julian) nichtausreichend beruumlcksichtigt

Ebenfalls beim Autor koumlnnte eine zweite Erklaumlrung ansetzen Im Zuge derAbfassung seiner Enzyklopaumldie hat sichMartianus nach horazischer Vorgabe (unddem Beispiel Varros)sup3⁴⁹ um Auflockerung und heitere Elemente bemuumlht Diespontanen Einfaumllle wurden ins Werk integriert und die sich daraus ergebendenInkonsistenzen entweder uumlbersehen oder billigend in Kauf genommen Beideswuumlrde gut zum klassisch negativen Martian-Bild in der Forschung passensup3⁵⁰Abgesehen davon dass Annahmen uumlber das Vorgehen beim Schreiben weitge-hend auf Spekulation beruhensup3⁵sup1 widersprechen drei Beobachtungen dieser Er-klaumlrung Erstens gelingt es Martianus De nuptiis uumlber neun Buumlcher vorauszu-planen so dass am Ende ein ndash zunaumlchst abgesehen von der Satire-Problematik ndashkohaumlrentes Werk entsteht Die Fuumllle der behandelten Themen Motive und lite-rarischen Elemente weist eher auf ein planvolles Arbeiten hin und macht es un-wahrscheinlich dass Martianus Probleme an dieser Stelle nicht wahrgenommenbzw nicht korrigiert haumltte Zweitens ist die Verbindungvon Satire und den anderenElementen nicht nur oberflaumlchlich so dass sie nachtraumlglich eingefuumlgt sein koumlnnteoder sich im Schreibprozess so ergeben haben koumlnnte Da bereits im zweitenKapitel des ersten Buches Satura eingefuumlhrt wirdwar sie von vornherein Teil des

Gemeint ist das beruumlhmte zunaumlchst nur fuumlr die Dichtung relevante prodesse aut delectare(Hor ars 333 f) zu Varro vgl die schon angefuumlhrte Stelle aus Cic ac Vgl z B die sehr bildliche Beschreibung von C S Lewis bdquo[hellip] this universe which hasproduced the bee-orchid and the giraffe has produced nothing stranger than Martianus Capella[hellip] the curiosity shop of his mind [hellip] a chaos beside which the work of Rabelais has unity andthat of Mandeville probabilityldquo (Lewis 1936 78 f) Gleiches gilt fuumlr Spekulationen uumlber eine andere Auffassung von Literatur und ihrenRegeln in Martianusrsquo Zeit oder Umfeld Einerseits kennen wir keine Texte die sich mit De nuptiisvergleichen lieszligen (was per se nichts beweist aber doch Indiziencharakter hat) andererseitshielten sich auch die spaumltantiken Autoren uumlblicherweise an die klassischen Vorgaben Ich teiledaher auch Schneiders Ansicht nicht der die Skepsis an dieser Verbindung allein der modernenLeseerfahrung zuschreibt bdquoWenn den Heutigen diese Kombination der forcierten Gelehrsamkeiteines Curriculums und der spielerisch-saloppen Causerie seltsam beruumlhren mag so waumlre dazuimmerhin schon an ein ciceronisches Dictum zu erinnern non est enim seiunctus iocus a phi-lologia (ad fam 16214) ndash sbquoSpieltrieb und Pedanterie diktieren und widersprechen sich nichtlsquo(sbquoErste Fruumlhschichtlsquo aus Grassrsquo sbquoHundejahrelsquo)ldquo (Schneider 1999 94 Anm 2) Der Verweis aufCicero traumlgt nichts zum Verstaumlndnis von Martianus bei Cicero geht es an der zitierten Stelle umden Ablauf des Tages mit seinem Schuumller der aus ernsteren und heitereren Abschnitten bestehtDaraus folgt nicht dass das Lernen mit Scherz verbunden ist ndash auszligerdem duumlrfte Cicero unteriocus (sbquo[urbaner] Scherzlsquo) anderes verstanden haben als Martianus in seiner Satura bietet

2 De nuptiis als literarisches Werk 145

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Kompositionsplans Drittens hat Schievenin gezeigt dass Martianus keineswegsoberflaumlchlich und eigenwillig arbeitet Durch eine gruumlndliche Untersuchung derSilen-Passage (8 803ndash805) kann er nachweisen dass Martianus ndash wie vieleAutoren vor ihm ndash uumlber ein umfangreiches literarisches Wissen verfuumlgte daraufbei der Abfassung seines Werkes zugreifen konnte und durch gezielte Anspie-lungen neue Bezuumlge herstelltesup3⁵sup2

Satire als Mittel der KritikWaumlhrend die antike Satire (im Gegensatz zur modernen) nicht zwangslaumlufig Kritikan Missstaumlnden uumlben wollte ist diese Moumlglichkeit umgekehrt auch nicht auszu-schlieszligen Martianus koumlnnte also bewusst eine solide Darstellung der Kuumlnste inliterarischem Gewandmit der Gattung der Satire verbunden haben um Zweifel ander Ernsthaftigkeit der uumlbrigen Teile des Werkes zu wecken Er wuumlrde somit einaufklaumlrerisches Interesse verfolgen das zugleich auch unterhaltsame Zuumlge traumlgt

Eine erste Schwierigkeit dieser Lesart von De nuptiis ergibt sich bereits bei derFrage nach dem Objekt der SatireWerden die Wissensinhalte in Zweifel gezogenoder nur die Art ihrer Vermittlung in langen Reden bzwTraktaten Soll der Glaubean die umfassende Einheit des Wissens kritisiert werden oder die Vorstellungsaumlmtliches Wissen lasse sich vermitteln gar kohaumlrent in einem Werksup3⁵sup3 Ist dieVorstellung dass Wissen goumlttlich mache parodiert oder nur die abwegige Vor-stellung dass auf einer Hochzeit solche Reden gehalten werden Oder richtet sichdie Kritik letztlich gegen die Auffassung Philologia als Vorbild zu sehen oder garals Mittlerin alles Wissens ja sogar als Mittlerin zwischen Menschen und Goumlttern

Aus der Tatsache dass das Objekt der Satire keineswegs leicht zu bestimmenist kann nicht gefolgert werden dass in De nuptiis keine Satire vorliege die be-stimmte Sachverhalte kritisiere Aber es kann durchaus gefolgert werden dass eskeine expliziten textinternen Merkmale gibt die das Lesen steuern und den Ge-genstand der Kritik deutlich hervortreten lassen Die Deutungen gehen also vonmodernen Annahmen uumlber das Umfeld bzw die Gedankenwelt von Martianus aus

Im Kern handle es sich um bdquouna narrazione tersa e brillanteldquo verbunden mit einemDickicht an Verweisen Die Silen-Szene habe einen bdquocarattere colto e della dottrina e dellalingualdquo (Schievenin 1984 132) Das Fazit seiner Untersuchung formuliert Schievenin folgen-dermaszligen bdquoIl De nuptiis si rivela dunque opera di vasti orizzonti non solo per lrsquointento dida-scalico che la pervade e che ne determineragrave la fortuna ma anche per la costante presenza nellafabula della tradizione classica e dei suoi echildquo (ibid 136) Vgl zu dieser Stelle auch Bovey2003 275ndash288 ndash Den geschickten Umgang mit mehreren Quellen ndash erzaumlhlerisch wie seman-tisch ndash kann Schievenin auch fuumlr 7 725ndash727 nachweisen (Schievenin 2009e) So z B Relihan 1993 138 bdquoMartianus writes not an encyclopedia but a Menippean satirethat parodies encyclopedic knowledgeldquo

146 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

und weisen zudem meist nicht kleinschrittig auf wie der Interpret zu seiner (oftapodiktisch dargelegten) Ansicht gelangt

Nun folgt daraus noch nicht dass Martianus De nuptiis nicht als kritisierendeSatire konzipiert haumltte die Vielzahl der (wenn auch differierenden) modernenDeutungenweist ja darauf hin Zwei Uumlberlegungenwenn auch keine schlagendenBeweise lassen die Hypothese der parodierenden Satire unwahrscheinlich wer-den der Umfang von De nuptiis und seine Rezeption Eine Satire die beispiels-weise die Verbindung von Weltwissen und menschlicher Vervollkommnung in-frage stellt benoumltigt nicht noch eine umfassende Darlegung eben diesenWissensDies gilt besonders da diese Darlegung den Hauptteil des Werks ausmacht und ndashzumindest dem Umfang nach ndash die uumlbrigen Partien weit uumlberragt Eine Deutungvon De nuptiis als kritischer Satire muumlsste also besonders die Frage beantwortenzu welchem Zweck die umfangreichen Darstellungen der Freien Kuumlnste aufge-nommen sind (und nicht nur angedeutet werden)

Die Rezeption eignet sich zwar ebenfalls nicht zu sicheren Ruumlckschluumlssen aufdie originale Intention eines Werkes haumlufig bietet sie aber interessante EinblickeDie Martianus-Rezeption stellt sich bald ein Cassiodor beruft sich in seinen In-stitutiones auf ihn Dort erscheint Martianus nicht als Satiriker oder Zeitkritikersondern als Gelehrtersup3⁵⁴ In dieser Tradition wird Martianus auch im Mittelaltergelesen und rezipiertsup3⁵⁵

Aumlhnliches laumlsst sich fuumlr Boethiusrsquo Anknuumlpfen an die prosimetrische Form inder Ausgestaltung von Martianus sagen Boethius verfasst zweifelsfrei keine kri-tische Satire kann aber trotzdem an die Form und den Inhalt von De nuptiisproblemlos anknuumlpfen Sowohl der Form nach wie auch durch einzelne Zitatemacht er deutlich dass erDe nuptiis kennt und als eine seiner Vorlagen benutzt Esist zu bezweifeln dass Boethius in seinem Bemuumlhen um eine adaumlquatewerbendeDarstellung der Philosophie auf Form und Zitate des Martianus zuruumlckgegriffenhaumltte haumltte er nicht die Moumlglichkeit der gefahrlosen Uumlbernahme gesehen

Satirische Elemente als Mittel der BelehrungDer dritte Erklaumlrungsansatz fuumlr die Verbindung von Satire und Belehrung be-trachtet die Wahl Saturas als Figur und die Bezugnahme auf die Gattung zunaumlchst

Cassiod inst 2 2 17 Zur mittelalterlichen Martianus-Rezeption vgl bes Nuchelmans 1950 Lutz 1971 und 1976Willis 1973 sowie die Ausgaben und Literatur u a zu folgenden Werken Konrad von MureFabularius Hugo von Sankt Victor Didascalicon de studio legendi Johannes von SalisburyMetalogicon Kindermann kann weiterhin nachweisen dass De nuptiis auch durch seine Forminspirierend gewirkt hat (Kindermann 1969 61 f)

2 De nuptiis als literarisches Werk 147

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

als reine Fortsetzungder literarischen Form Fuumlr diese spezielle Formder Literaturdie menippeische Satire hat der russische Literaturwissenschaftler MichailBachtin Beobachtungen aufgestellt die auch fuumlr De nuptiis zutreffen Durch denRuumlckgriff auf zwei zentrale Konzepte Bachtins das Karnevaleske und die Dialo-gizitaumlt wird ein Verstaumlndnis von De nuptiis ermoumlglicht

Auf der Suche nach Vorlagen und Urformen der Gattung des Romans ins-besondere in der Form von Dostojewskis Romanen stieszlig Bachtin unter anderemauch auf die menippeische Satire die er bis in die Antike zuruumlckverfolgtesup3⁵⁶ Zuihren Vertretern zaumlhlt er unter anderem Varro Apuleius Petron Seneca oderLukiansup3⁵⁷ Martianus Capella wird nicht erwaumlhnt was aber nicht verwundernmuss da Bachtin keine Literaturgeschichte der menippeischen Satire schriebsup3⁵⁸

Kern der Uumlberlegungen Bachtins zurmenippeischen Satire ist das Konzept desKarnevals Unter Karneval versteht er folkloristische Feste waumlhrend deren diebestehende Ordnung verkehrt wird uumlbliche Regeln nicht mehr gelten Herr-schende gestuumlrzt und Machtlose maumlchtig werden ndash auf Zeit Die Karnevalisierungalso die Uumlbernahme der Kennzeichen dieses Festes in neue oder bestehende li-terarische Formen institutionalisiert diese Ausnahmesituation und loumlst sie vomkonkreten Fest Der so entstandene Text wird bdquozum karnevalesken Spiel an demder Autor und sein Publikum einverstaumlndlich teilhaben und das keines kalen-darisch oder institutionell abgesicherten Karnevalsrahmens mehr bedarfldquosup3⁵⁹

Diese Karnevalisierung fuumlhrt unter anderem zu einer Vielstimmigkeit vonMeinungen und Positionen im Text z B durch mehrere Figurenvon denen keinebevorzugt oder gar als autoritativ gekennzeichnet wird In dieser Dialogizitaumlt wirdkein allgemein guumlltiger Sinnmehr vermittelt sondern dieWahrheit suspendiertsup3⁶⁰

Dass der Bezug auf karnevalsartige Feste der Gattung menippeische Satire (inTeilen auch der Verssatire) eignet zeigt ein kurzer Blick auf wichtige Vertreter derTradition

Julians Symposion Caesares spielt zur Zeit der Saturnalien Die Bedeutungdieses Festes fuumlr das Werk wird dadurch verdeutlicht dass es den Handlungs-

Bachtin 1971 126ndash 135 Bachtin 1971 126 128 132f Kritik an den z T pauschalisierenden und verfaumllschenden Aussagen Bachtins uumlber antikeLiteratur oder an der ununterbrochenen Traditionslinie von der Antike bis in die Moderne (z BRelihan 1987 59 Lachmann 2006 23ndash25) muumlsste auch auf manche moderne Literaturwissen-schaftler in der Nachfolge Bachtins angewandt werden (vgl Branham 2005 6 wo es uumlberSenecas Apocolocyntosis heiszligt bdquoour only extant Menippean satire in Latinldquo) Teuber 1993 182 Eine gut verstaumlndliche Einfuumlhrung in das Konzept der Dialogizitaumlt im Sinne der bach-tinschen Terminologie bietet Sharland 2010 Einfuumlhrung (1ndash51)

148 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

rahmen fuumlr den in der Folge erzaumlhlten Mythos bildet Bereits im ersten Satz wirdauf das Fest und die Tradition Heiteres frei zu erzaumlhlen Bezug genommensup3⁶sup1

Auch Senecas Apocolocyntosis stellt einen engen Bezug zum Saturnalienfesther Das Werk spielt zwar nicht an den Saturnalien sondern am Todestag desClaudius im Oktober doch wird an zwei Stellen eine Verbindung zwischen derHerrschaft des verstorbenen Kaisers und den dargestellten Sitten waumlhrend derRegierungszeit mit dem Saturnalienfest gezogensup3⁶sup2 Manche Interpreten gehensogar davon aus dass die Apocolocyntosis an den Saturnalien des Jahres 54vorgetragen wurdesup3⁶sup3 Auch bei Petron und Horaz finden sich Bezugnahmen aufdie Saturnaliensup3⁶⁴

Ein zentrales Element des Saturnalienfestes liegt in der Suspension der uumlb-licherweise geltenden Normen und Wertesup3⁶⁵ Neben den anderen Elementen desFestes wie sie z B in Macrobiusrsquo Saturnalia (1 7ndash 10 1 24 22 f) beschriebenwerden (traditionelle Geschenke Festmahl fuumlr die Sklaven etc) hat gerade dieUmkehrung der Herrschaftsverhaumlltnisse im Haus Niederschlag in der Literaturgefunden

Gerade durch diese Rolleninversion treten einige wichtige gesellschaftlicheNormvorstellungen und Grundannahmen prominent hervor Dazu zaumlhlt das Be-wusstsein dass es eine befehlende und eine ausfuumlhrende Gruppe von Menschengibt oder dass im Prinzip ein Rollenwechsel moumlglich sein kann Alle Beteiligten

Ἐπειδὴ δίδωσιν ὁ θεὸς παίζειν ndash ἔστι γὰρ Κρόνια ndash hellip (sbquoDa der Gott das Scherzen erlaubt ndashes sind ja die Kronia helliplsquo Caes 1 = 306a Spanheim) Zur Frage ob es sich bei Caesares auch umdas Werk handle auf das zu Ende der Rede auf Koumlnig Helios verwiesen wird (Or in Sol reg 44 =157c Spanheim) vgl Muumlller in seiner Uumlbersetzung (39 ablehnend) und Lacombrade im Vorwortseiner Budeacute-Ausgabe (3 und 18 Anm 3) der aufgrund des Handschriftenbefundes Kronia auchals Titelbestandteil fuumlr die Caesares uumlbernimmt Es handelt sich um Sen apocol 8 1 (Claudius als Saturnalienprinz) und 12 2 (Herrschaftdes Claudius als andauerndes Saturnalienfest) ndash Dass Lukian nicht auf die Saturnalien alsRahmen fuumlr seine Werke zuruumlckgreift entwertet die Beobachtungen nicht Lukian musste auf-grund seines Selbstbewusstseins als satirischer Schriftsteller und aufgrund der Menge seinersatirischen Schriften nicht jedes Mal einen eigenen literarischen Rahmen herstellen in demeinzelne Dialoge stattfinden konnten Das Saturnalienfest selbst erscheint bei Lukian als Ge-genstand der Satire nicht als deren literarische Rahmung (Τὰ πρὸς Κρόνον) Zuerst bei Furneaux 1896 23 Anm 11 In der neueren Forschung vgl bes Nauta 1987Kritisch dazu u a Doumlpp 1993 159 f Petron 44 3 58 2 69 9 zu Horaz vgl z B serm 2 7 (libertas Decembris) Ein gelungenesBeispiel der Anpassung und Anwendung der bachtinschen Konzepte mit Ertrag fuumlr die Inter-pretation unter Einbezug von serm 2 7 bietet Sharland 2010 Distelrath 1999 114 Vgl weiterhin Versnel 1993 136ndash227 und Doumlpp 1993 Eine plastischeSchilderung der Rollenvertauschung bei der der Sklave dem Herrn die Leviten liest bietet Horserm 2 7

2 De nuptiis als literarisches Werk 149

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Herren wie Sklaven spielen also mit den Moumlglichkeiten einer alternativen Wirk-lichkeit

Das Besondere im Spiel mit den Moumlglichkeiten liegt aber in seiner zeitlichenBegrenzung Nach der Zeit des Ausnahmezustands gelten wieder die normalenimmer guumlltigen Regeln Die Rolleninversion erlaubt also ndash oder erzwingt gera-dezu ndash das Nachdenken uumlber bestimmte gesellschaftliche Normen und Wertvor-stellungen Durch die Ritualisierung und enge zeitliche Begrenzung ist darausjedoch keineswegs die Notwendigkeit entstanden die Verhaumlltnisse tatsaumlchlich zuhinterfragen oder gar zu aumlndern Daher lassen sich die Saturnalien auch als ein dieKonventionen bestaumlrkendes Fest verstehen Das Spiel mit der Moumlglichkeit eineranderen Gesellschaftsordnung hat durch seine Ritualisierung letztlich eine dieTradition legitimierende Funktion bekommen

In De nuptiis finden sich jedoch houmlchstens spaumlrliche Hinweise auf das Sa-turnalienfest Am ehesten weist das grob scherzende Agieren Saturas in diesenBereich Die bdquolangen Winternaumlchteldquo (1 2) koumlnnten (statt als Bezug auf Gellius) alsAnspielung auf das Saturnalienfest verstandenwerden ndash die Saturnalien finden inden laumlngsten Naumlchten uumlberhaupt statt seit der Kaiserzeit vom 17 bis 23 DezemberDies ndash wie die Spekulation uumlber eine spielerische etymologische Verbindung vonSatura und Saturnaliensup3⁶⁶ ndash ist aber insofern nicht von Belang da die Gattung alsGanze karnevaleske Zuumlge traumlgt und als gewissermaszligen institutionalisierter Kar-neval vom eigentlichen Fest losgeloumlst istsup3⁶⁷

Die Aufhebung der uumlblichen Ordnung (was Teuber im Ruumlckgriff auf Limina-litaumltskonzepte als praumlliminale Phase bezeichnet)sup3⁶⁸ beginnt mit der VorbereitungPhilologias zum Aufstieg in den Himmel Bereits das Erbrechen stellt eine mar-kante Umkehrung der alltaumlglichen Welt dar Statt sich Wissen anzueignen er-bricht Philologia es nun In der Goumltterversammlung auf der Milchstraszlige ist dieOrdnung sodann voumlllig verkehrt Philologia als Meisterin aller Disziplinen und

Zwar sind die einschlaumlgigen etymologischen Woumlrterbuumlcher skeptisch (v a WaldeHof-mann 2007 II 482 neutral ErnoutMeillet 2001 596) jedoch gibt es dahin gehende moderneDeutungen (aufgefuumlhrt bei WaldeHofmann 2007 II 482) und auch antike ParallelisierungenCic nat deor 2 64 Saturnus hellip est appellatus quod saturaretur annis (sbquoSaturn hellip wurde ergenannt weil er an Jahren gesaumlttigt istlsquo) Fulg myth 1 2 (p 17 16) a saturando Saturnus dictusest (sbquoDa er (die Menschen) saumlttigt wurde er Saturn genanntlsquo) Aug cons euang 1 23 35 Sa-turnus tamquam satur hellip νοῦς (sbquoSaturn gleichsam der gesaumlttigte hellip νοῦςlsquo) Vgl auch Gowers diedie etymologischen Verbindungen von satura Satyrspiel und Saturnalien untersucht (Gowers1993 109ndash 117) Sie kommt zu dem Befund dass keine Verbindung bestehe wohl aber verbin-dende Elemente identifiziert werden koumlnnten bdquocarnival licence parody uninhibited mockeryand excessive consumptionldquo (ibid 117) Vgl z B Teuber 1993 183 f Teuber 1993 183

150 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

bedeutende Lehrinstanz muss sich ihrerseits belehren lassen ndash mit dem Wissendas urspruumlnglich ihres war

Durch die Inversion wird die (vielleicht uumlblicherweise nicht prominente)Philologia in den Mittelpunkt geruumlckt und ihre zentrale Rolle im Wissenssystemtritt markant vor Augen Gleichzeitig kann darin eine leise Anfrage an ihre Lehr-autoritaumlt und eventuell auch ihre Eignung zur Lehre gesehen werden

Aufgrund des zeitlich begrenzten Rahmens der Verkehrung (diemit dem Endeder Vortraumlge voruumlber ist aber nicht explizit zuruumlckverwandelt wird) dessen Be-grenztheit durch Bezug auf die Form der menippeischen Satire ergaumlnzt werdenkann wird das System der Bildung und der Bildungsvermittlung jedoch nichtgrundsaumltzlich infrage gestellt Die Suspendierung Philologias ist temporaumlr

Dem Konzept der Dialogizitaumlt oder Mehrstimmigkeit folgend erklaumlrt sich auchdie Doppelung und Verunklarung der Erzaumlhlinstanz In den drei Dialogen indenen Satura und Martianus aufeinandertreffen behandeln sie die Frage desrichtigen Erzaumlhlens Dies beschraumlnkt sich nicht nur auf die Satire sondern umfasstalle auftretenden literarischen Formen Martianus und Satura sind sich uneinswie weit der Mythos reichen soll und ob eine Enzyklopaumldie trocken oder auchunterhaltsam erzaumlhlt werden soll (2 219ndash3 222) ob ein Symposion auch Zechenund Spaszlig vertraumlgt (8 803ndash810) oder ob und wie stark Satire Dinge vermischendarf (9 997ndash 1000)

Die unterschiedlichen Meinungen zu den Fragen werden zwar diskutiert undfuumlhren zu einem Ergebnis ndash der Erzaumlhlfluss versiegt ja an keiner Stelle oder setztneu an Allerdings entsteht in der Folge kein homogenes Werk und am Schlussmag keiner der beiden Erzaumlhler dafuumlr die Verantwortung uumlbernehmen Der Wi-derwillen sich zu dem Werk zu bekennen bedeutet aber gleichzeitig auch dassMartianus sich nicht festlegt welche Position er fuumlr die richtige haumllt Die Fragenach der rechten Art der Wissensvermittlung die auch in der Ent- und Inthroni-sierung Philologias anklang bleibt unbeantwortet

Schlieszliglich bringt der Blick auf die Aurelian-Vita aus der Historia Augustanoch einen weiteren Aspekt ein Parallel zur Aufteilung der Erzaumlhlinstanzen in Denuptiiswird der Erzaumlhlprozess in derHistoria Augusta aufmehrere AutorenverteiltWie zuerst Hermann Dessau und in der Folge Ronald Syme nachdruumlcklich gezeigthaben handelt es sich allerdings um nur einen Verfasser der uumlberdies auch inBezug auf die Abfassungszeit falsche Angaben gemacht hat und Quellen erfundenhatsup3⁶⁹ Insofern laumlsst sich der in der Historia Augusta gepraumlgte Begriff der

Auf den Charakter der Sammlung die Syme u a als bdquohoaxldquo bezeichnet (1983a 11 1983b13 1983c 219) die fingierten Autoren die manipulierten Quellen etc soll an dieser Stelle nurhingewiesen werden Vgl auch Cameron 2011 Kap 20 mit ausfuumlhrlicher Diskussion relevanterFragen

2 De nuptiis als literarisches Werk 151

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mythistoria der Vermischung von Mythischem und Historischem auch auf dieSammlung selbst anwendensup3⁷⁰

Als Menippee im engeren Sinne laumlsst sich weiterhin die Aurelian-Vita die 26Vita der Sammlung fassen und bezeichnenderweise spielt die Rahmenhandlungan denHilariasup3⁷sup1Wie zu den Saturnalien gehoumlren zu diesem Fest Scherze und ndash imRahmen von Maskierungen ndash Rollenwechselsup3⁷sup2

Noch in der rahmenden Einleitung zur Vita spielt sich folgender Dialog ab

1 et quoniam sermo nobis de Trebltellgtio Pollione qui a duobus Philippis usque ad divumClaudium et eius fratrem Quintillum imperatores tam claros quam obscuros memoriaeprodidit in eodem vehiculo fuit adserente Tiberiano quod Pollio multa incuriose multabreviter prodidisset me contra dicente neminem scriptorum quantum ad historiam pertinetnon aliquid esse mentitum prodente quin etiam in quo Livius in quo Sallustius in quoCornelius Tacitus in quo denique Trogus manifestis testibus convincerentur pedibus insententiam transitum faciens ac manum porrigens iocando[m] praeterea sbquoscribelsquo inquit sbquout

quae ille [scil Iunius Cordus] omnia exsequendo libros mythistoriis replevit talia scribendocum omnino rerum vilium aut nulla scribenda sint aut nimis pauca si tamen ex his morespossint animadverti qui re vera sciendi sunt hellip sed ex parte ut ex ea cetera colligantur(SHA Opil 1 5)

Bei der Anfuumlhrung von all diesen Informationen hat er die Buumlcher mit fabuloumlsen Ge-schichten angefuumlllt indem er Dinge von dieser Art schrieb wo doch uumlberhaupt keinenutzlosen Dinge geschrieben werden duumlrfen oder nur sehr wenige sofern daraus Verhal-tensweisen erkannt werden koumlnnen die wirklich wissenswert sind hellip aber zum Teil(schreibe ich) damit daraus das Andere gefolgert werden kann

quid Marius Maximus homo omnium verbosissimus qui et mythist[h]oricis se voluminibusinplicavit num ad istam descriptionem curamque descendit (SHA Quadr tyr 1 2)

Wie Hat sich Marius Maximus der groumlszligte Schwaumltzer vor dem Herrn der sich in seinenmythistorischen Werken verfangen hat etwa zu dieser Art der Darstellung und des sorg-faumlltigen Arbeitens herabgelassen

Hilaribus quibus omnia festa et fieri debere scimus et dici impletis sollemnibus vehiculo suome hellip Iunius Tiberianus accepit (SHA Aurelian 1 1)

An den Hilaria an denen alles zum Fest Gehoumlrende getan und gesagt werden muss wieman weiszlig empfing mich nach Erledigung der Zeremonien Iunius Tiberianus in seinemGefaumlhrt

Pausch bemerkt dieses besondere Datum zwar und erwaumlgt ob es sich um ein bdquoweitergehendesLesesignalldquo beispielsweise im Sinne karnevalesker Literatur handeln koumlnne verfolgt diese Spuraber nicht weiter (Pausch 2011 130 Anm 1) Herodian 1 10 5 ndash Einige Hinweise auf die Hilaria die im Kontext des Magna Mater-Festesam 25 Maumlrz gefeiert wurden bietet Fraser in seinem Kommentar zu Ovids Fasti (Fraser 1929244ndash248)

152 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

libet 2 securus quod velis dices habiturus mendaciorum comites quos historicae elo-quentiae miramur auctoreslsquo (SHA Aurelian 2 1ndash2)

1 Und weil unser Gespraumlch uumlber Trebellius Pollio der von den beiden Philippi bis zumvergoumlttlichten Claudius und dessen Bruder Quintillus gleichermaszligen uumlber beruumlhmte wieunbekannte Kaiser fuumlr die Nachwelt schrieb in derselben Saumlnfte stattfand behauptete erdass Pollio vieles ohne Sorgfalt und nur kurz dargelegt habe Ich erwiderte dass keinSchriftsteller sofern es um die Geschichte gehe nicht irgendwo gelogen habe und legtesodann dar worin sogar Livius Sallust Tacitus schlieszliglich sogar Trogus mit eindeutigenBelegen uumlberfuumlhrt werden koumlnnten Darauf sagte Tiberianus schlieszliglich scherzend indem ermeiner Meinung beipflichtete und mir seine Hand darbot bdquoSchreibe sowie du es fuumlr richtighaumlltst 2 Sage unbesorgt was du willst du wirst diejenigen als Gefaumlhrten fuumlr deine Taumlu-schungen haben die wir als Schoumlpfer historiographischer Beredsamkeit bewundernldquo

So sympathisch dieser Anspruch auch erscheinen mag ist er doch fuumlr das Ver-trauen in die Gattung der Geschichtsschreibung fatal Gerade in der Einleitungeiner Vita jedoch ndash zumal es der Fiktion nach die erste des Flavius Vopiscus Sy-racusius im Corpus der Historia Augusta ist ndash kann eine solche Anekdote ei-gentlich keinen Platz haben Sie erweckt beim Leser den Eindruck dass er dennachfolgend dargebotenen Informationen kein Vertrauen schenken duumlrfesup3⁷sup3

Die Parallelen zwischen der Historia Augusta insbesondere dem Vorgehen inder Vita Aureliani und De nuptiis liegen auf der Hand Verunklarung der Autor-schaft bzw der Erzaumlhlhaltung einerseits Erwecken von Zweifeln an der Glaub-wuumlrdigkeit des Dargebotenen andererseits

In der Historia Augusta sind die Inkongruenzen mit der Freude des Autors amliterarischen Spiel erklaumlrt worden Der Autor habe aus Freude am Fabulieren(vielleicht auchumein dafuumlr empfaumlngliches Publikum zu befriedigen) die Viten indieser Form verfasstsup3⁷⁴ Mag man dies fuumlr die Historia Augusta noch zugestehenderen Text uumlber einen laumlngeren Zeitraum vielleicht zunaumlchst ohne eine Gesamt-konzeption entstanden ist und auch sprachlich nicht herausragt stellt sich derSachverhalt fuumlr Martianusrsquo De nuptiis anders dar Das Werk hat durchaus einenliterarischen Anspruch und es folgt eindeutig einer vorab geplanten Gesamtan-lage Die Freude am Spiel mag vielleicht manches Detail beigesteuert haben fuumlrdie verschraumlnkte Anlage des Textes ist sie aber keine Erklaumlrung

Ganz anders ist der Anspruch zum Ende der Darstellung der Viten der bdquoDreiszligig Tyrannenldquoin dem der Autor beteuert seinem Werk mangele es zwar an literarischer Ausgefeiltheit nichtjedoch an Faktentreue da nunc cuivis libellum non tam diserte quam fideliter scriptum ndash sbquoGibnun dieses Buumlchleinwem du magst es ist nicht so sehr kunstvoll geschrieben wie es sachgetreuistlsquo (SHA Quadr tyr 33 8) Syme nennt dies bdquodeceit for its own sweet sakeldquo (1983c 217) Im gleichen Aufsatz spe-kuliert er auch uumlber das Interesse des Publikums an einer solchen Art von geistigem Spiel(ibid 221)

2 De nuptiis als literarisches Werk 153

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Es lohnt sich jedoch auch fuumlr die Historia Augusta einen Schritt weiter zugehen Ausgangspunkt dafuumlr ist die obige Beobachtungdass das literarische Spielder Historia Augusta nur durchschaut wer die Werke der historischen Literaturkennt Durch die Lektuumlre historiographischer Biographien bringt der Leser einebestimmte Leseerwartung also implizite Vorstellungen mit wie das Werk aus-sehen soll und wird Diese Erwartungen werden aber nicht oder nur teilweisebedient Formal gesehen weisen die Viten in der Historia Augusta zwar die Cha-rakteristika der Gattung auf ndash doch indem sie sie inhaltlich nicht adaumlquat aus-fuumlllen treten deren Konventionen vor Augen

Durch die uumlbermaumlszligige Verwendung falscher Verweise und erfundener Quel-len geraumlt zudem das Beglaubigungsverfahren historischer Texte in den Blick-punkt Der Leser erkennt anwelchen Stellenwelche Beglaubigungsmechanismenansetzen und auf welche Weise sie unterlaufen werden koumlnnen Uumlberspitzt lieszligesich behaupten DieHistoria Augusta verfolgt ein aufklaumlrerisches Interesse indemsie (spielerisch) aufzeigt welche Beglaubigungsverfahren die Geschichtsschrei-bung nutzt und wie sie manipuliert werden koumlnnen dadurch wird auch die Ma-nipulierbarkeit von Geschichte und Leser deutlich

In De nuptiis werden ebenfalls die Konventionen der Einzelgattungen ndash zu-mindest ansatzweise ndash hervorgehoben Dass kein perfektes Musterbeispiel derjeweiligen Einzelgattung entstehen kann liegt darin begruumlndet dass durch dieVerbindung der vier literarischen Genres keine oberflaumlchliche Konsistenz derFiktion entstehen kannVielmehr entstehen Bruumlche die ndash ebenso wie die Bruumlchein der Erzaumlhlhaltung ndash auch die Gattungskonventionen und ihre Annahmendeutlich werden lassen Dies gilt besonders fuumlr die Satire deren Vorgehen imKontrast zur eigentlichen Hochzeitshandlung aus dem Rahmen faumlllt und somitbesonderes Augenmerk erhaumllt Hinzu tritt mit der Figur Satura auch eine Perso-nifikation der Gattung die in theoretischen Diskussionen Annahmen und Vor-gehen mit Martianus eroumlrtert Grunduumlberlegungen der Gattung Satire werden sotheoretisch eroumlrtert und praktisch erprobt Gleiches giltwenn auch zT inwenigerdeutlicher Form auch fuumlr die anderen Formen Die Enzyklopaumldie in ihren langenMonologen wird durch Spott markiert die trockenen Kuumlnste werden probeweisedurch Allegorien zugaumlnglicher gemacht im Symposiondialog wird uumlberlegt in-wieweit uumlbliche Rollenmuster (der Zecher) einen Platz haben oder wie weit mandie fuumlr die Feier typischen Reden fuumlhren kann und immythischen Teil wird durchdie Gegenuumlberstellung mit dem handfesten Wissensbetrieb die Andersartigkeitdes Erzaumlhlens deutlich

So werden neben den Inhalten der Wissenschaften auch verschiedene lite-rarische Formen bewahrt Neben der reinen Anwendung und somit Tradierungwerden gleichzeitig auch die Mechanismen verdeutlicht deren sich die jeweilige

154 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Gattung bedient Somit wird ihr Funktionieren nachvollziehbar und in der Folgeauch nachahmbar

3 Zusammenfassung

Martianus weckt also durch die Wahl mehrerer gleichberechtigter Erzaumlhler diesomit das Erzaumlhlen unzuverlaumlssig werden lassen besonders aber durch dieUumlbernahme satirischer Gattungselemente ein Bewusstsein fuumlr die traditionellenGrundlagen desWissens- und Lehrsystems seiner Zeit ImGegensatz zur Satire diediese Fragen kategorisch stellt handelt es sich in De nuptiis um ein Spiel damitDer Satirebezug dient als Anknuumlpfung an die traditionellen Gattungsmerkmaleder menippeischen Satire Karnevaleske und Dialogizitaumlt

Durch die (temporaumlre) Rolleninversion richtet sich das Augenmerk aufPhilologia als Wissenszentrum und Wissensmittlerin und fordert zum Nach-denken daruumlber heraus Im Kern hinterfragt das Werk alle Bereiche die mit Bil-dung und Bildungsvermittlung zu tun haben Was sind die Inhalte wahrer Bil-dung Gibt es eine Einheit von Bildung Wie kann sie vermittelt werden

Allerdings zielt die Kritik nicht auf eine Aufloumlsung klassischer Bildungsinhalteund Vermittlungsformen Sie regt vielmehr durch Scherz und Bruumlche zumNachdenken uumlber diese Fragen an Dabei verzichtet Martianus auf eigene Vor-schlaumlge und Konzepte und festigt so gleichsam den traditionellen Bildungs-betrieb Das von ihm dargestellte Wissen wird kanonisiert und die Darstel-lungsform in langen Reden wird es auch Die mittelalterliche Rezeption von Denuptiis zeigt dies eindrucksvoll

Wissen umfasst dabei nicht nur das Faktenwissen der Vortraumlge sondern auchdas Wissen um bestimmte literarische Formen Durch die Verbindung von vierGattungen und die Doppelung der Erzaumlhlerfigur mit Reflexion uumlber angemessenesErzaumlhlen entstehen Inkonsistenzen die die Konventionen der einzelnen Gattun-gen hervortreten lassen Nicht alle Elementewerden auf dieseWeise deutlich aberMartianus bietet einen Ansatzpunkt die Fiktion auch unter der Fragestellung zulesen was einen Text der jeweiligen Gattung ausmacht ndash sowohl positiv wie ne-gativ formuliert

Mit seiner kreativen Konzeption und ihrer literarischen Umsetzung gelingt esMartianus eindrucksvoll Heiteres und Belehrendes zu verbindenwomit er an dieTradition Varros und die klassische antike Poetik anknuumlpft Es gelingt ihm daruumlberhinaus aber auchWissen zu vermitteln und die traditionellen Vorstellungen vonder Bedeutung dieses Wissens wie der Form seiner Vermittlung herauszustellenSpielerisch wird also gelehrt und hinterfragt nicht jedoch kategorisch kritisiertoder kuumlhn neu entworfen Gerade dadurch zeichnet sich Martianusrsquo De nuptiis

3 Zusammenfassung 155

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

tatsaumlchlich als nescioquid inopinum intactumque (sbquoetwas Ungewohntes und nochnie Gewagteslsquo 1 2) aus und macht es zu einem der bedeutendsten Buumlcher derSpaumltantike und zu einer interessanten Quelle fuumlr die Frage nach Bildungsvor-stellungen im fuumlnften Jahrhundert

156 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Page 13: Bildungsvorstellungen im 5. Jahrhundert n. Chr. (Macrobius, Martianus Capella und Sidonius Apollinaris) || III Martianus Capella, De nuptiis Philologiae et Mercurii

Welches (philosophische oder literarische) Konzept dahinterstand und in-wieweit Martianus sein Vorhaben uumlberzeugend umsetzen konnte wird unter-schiedlich bewertetsup2⁹⁵Wie das Urteil auch ausfaumlllt gilt es doch zu beachten dassneben den enzyklopaumldischen Teilen mit ihrem traditionellen Inhalt in teils tra-ditioneller teils neuer Form auch andere narrative Strategien zum Einsatz kom-men die fuumlr eine umfassende Deutung und Bewertung ebenfalls beruumlcksichtigtwerden muumlssen

Literarisches SymposionEine andere Gattungstradition die fuumlr die Anlage von De nuptiis genannt werdenmuss ist die Form des literarischen Symposions In diesem Punkt besteht eineVerbindung zu Macrobiusrsquo Saturnalia deren Symposionform im entsprechendenKapitel untersucht worden istsup2⁹⁶

Auch inDe nuptiis lassen sich einige konstitutiveMerkmale eines literarischenSymposions aufzeigen Das Geschehen in den Buumlchern 3ndash9 spielt anlaumlsslich einerFeierlichkeit (der Hochzeit) an einem besonderen Ort (auf der Milchstraszlige)sup2⁹⁷ andem sich geladene Gaumlste (Goumltter Heroen etc) versammeln Den Vorsitz der Fei-erlichkeiten hat (gewissermaszligen als Symposiarch) Jupiter inne Es gibt zwar keineungeladenen Gaumlste doch Silen erfuumlllt die Rolle des Zechers und er verlaumlsst dieFeier vorzeitig (8 805) Auch die Liebe kommt nicht zu kurz indem Venus ihreReize spielen laumlsst (6 704) Voluptas mit Merkur flirtet (7 725ndash727) und Hymen-aeus mit seinem anzuumlglichen Gesang das Geschehen der Hochzeitsnacht zu-

paumldie ebenso wenig wie er seinen Platz im sbquoLehrplan des Abendlandeslsquo vorhersehen konnteldquo(Voumlssing 2008 404) Weit verbreitet ist die Ansicht Martianus habe eine Art Summe der antiken Gelehrsamkeiterstellt (Cristante im Vorwort seiner Ausgabe 27 Ferrarino 1969 2 Bovey 2003 20 Cristante2009 [3] Schievenin 2009a 77) Die gegensaumltzliche Position formuliert bereits Parker bdquo[I]t isclear that the seven arts were never supposed to include the whole circuit of human knowledgeMartianus Capellarsquos list was a reduction of Varrorsquos and Varrorsquos was not supposed to include allknowledgeldquo (Parker 1890 459) S o Kap II4 Dort werden auch die typischen Merkmale dieser literarischen Form vor-gestellt Die Milchstraszlige in der Darstellung bei Martianus greift zwei Aspekte auf die allerdingsschon lange vor ihm verbunden worden sind Einerseits ist die Milchstraszlige der Ort an den dieauszligergewoumlhnlichen Menschen nach ihrem Tod gelangen (Cic rep 6 16 Manil 1 758ndash800)andererseits ist auch die Vorstellung nicht ungewoumlhnlich dass dort der Wohnsitz der Goumltter zufinden sei (Ov met 1 170ndash 176 Manil 1 801ndash804) Bei Martianus versammeln sich dort dieGoumltter doch ist dies auch der Ort an den die vergoumlttlichte Philologia gelangt ndash abgesehen vonden uumlbrigen herausragenden Menschen die sich im Gefolge sbquoihrerlsquo Brautjungfer dort versam-meln

126 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mindest andeutet (9 902 f) wenn die Ausfuumlhrung auch nicht beschrieben wird(9 996)

Das auffaumllligsteMerkmal sind aber die Reden die gehaltenwerden Sie aumlhnelnzwar nicht dem Inhalt wohl aber der Form nach der monologischen Anlage derSymposiongespraumlche bei Platon oder (stellenweise) Macrobius Ebenso passt derInhalt Bildungswissen an sich zu einem Symposion auch wenn er hier sehrausfuumlhrlich und ohne Ruumlcksicht auf die primaumlren Adressaten die Goumltter prauml-sentiert wird Bei Platon sowie bei Martianus scheint der Inhalt der Gespraumlche imVorfeld noch nicht festzustehen wie die Auswahl der jeweils naumlchsten RednerindurchApoll (3 223 4 328 8 8109 891) bzw Paidia (7 728) oder die Diskussion umden Fortgang der Feier bzw die noch folgenden und auszuschlieszligenden Reden(= Kuumlnste) zu Beginn von Buch 9 zeigtsup2⁹⁸

Die Anordnung der Redebeitraumlge nach steigender Relevanz und die unter-brechungsfreie Praumlsentation der Reden erinnert ebenfalls ans platonische Sym-posion Schlieszliglich nimmt das Spiel mit der Erzaumlhlinstanz (Satura oder Martianus)die verschachtelte Erzaumlhlsituation bei Platon oder Macrobius mit ihren verschie-denen Berichtsebenen auf und formt sie umsup2⁹⁹

Mythisch-allegorische ErzaumlhlungZu den bereits genannten literarischen Vorlagen von De nuptiis tritt ein weiteresElement hinzu dessen Bedeutung und dessen eigene Vorlagen nur schwer zubestimmen sind

Besonders Shanzer weist in ihremKommentar zum ersten Buch vonDe nuptiiswiederholt auf die orphischen gnostischen und philosophisch-religioumlsen Ele-mente in den sehr bildhaften aber streckenweise schwer verstaumlndlichen erstenbeiden Buumlchern hinsup3⁰⁰ Eine umfassende Interpretation des Mythos bietet sie je-doch nicht Vielmehr beschraumlnkt sie sich auf Verweise zur Herkunft einzelnerMotive und auf die Deutung kuumlrzerer Passagen

Kupke kommt bei einer Musterung der verschiedenen mythischen Reminis-zenzen im zweiten Buch von De nuptiis zu der Feststellung dass eine eindeutige

Ein zentraler Unterschied besteht jedoch darin dass die Vortraumlge nicht von den Gaumlstengehalten werden sondern dass die Gaumlste also die Goumltter nur Zuhoumlrer sind waumlhrend die Kuumlnstereden Hierin erinnert De nuptiis eher an Julians Caesares in denen die versammelten Goumltter jaauch wenig sprechen wohl aber die roumlmischen Kaiser die ndash wenn auch um einiges knapper ndashihre Leistungen darstellen Ausfuumlhrlicher dazu im weiter unten folgenden Abschnitt uumlber die Erzaumlhlinstanzen Shanzer 1986c passim

2 De nuptiis als literarisches Werk 127

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

und kohaumlrente Decodierung aller Verweise undAnspielungen nichtmoumlglich seisup3⁰sup1Ihrer Ansicht nach ist es dem modernen Leser nurmehr moumlglich einzelnen Ver-weisen nachzugehen und sie aufzuzeigensup3⁰sup2

Trotz der benannten Schwierigkeiten darf bei allen Fragen nach literarischenVorlagen nicht vergessen werden dass De nuptiis vor allem (aber nicht aus-schlieszliglich) auch ein allegorisches Werk ist Die imposante Schilderung der vierFluumlsse in Buch 1 Apoll auf demParnass-Huumlgel die allegorischen Figuren undvieleweitere Elemente sind nicht nur kreative literarische Erfindungen sondern for-dern zu einer uumlbertragenen Lesart des Werkes auf Besonders die ersten beidenBuumlcher die den Mythos enthalten muumlssen aus diesem Blickwinkel gelesen undverstanden werden

Zu verweisen ist auszligerdem auf die Bezeichnung der Erzaumlhlung als fabula oderfabella Neben der naheliegenden Bedeutung von sbquoErzaumlhlung Geschichtelsquo imallgemeinen Sinn ist sicher auch an die Diskussion um die Berechtigung von fa-bulae in Macrobiusrsquo Somnium-Kommentar zu denken Dort verteidigt Macrobiussowohl Platon als auch Cicero gegen den Vorwurf fiktive Geschichten zu benut-zen um philosophische Wahrheiten zu verkuumlnden In bestimmten Faumlllen seidieses Vorgehen gerechtfertigt solange es sich um wahrhaftige und belehrendeErzaumlhlungen handlesup3⁰sup3 Diese Voraussetzung kann man auch fuumlr De nuptiis alserfuumlllt ansehen Da Martianus zudem dem Neuplatonismus aumlhnlich nahesteht wieMacrobiussup3⁰⁴ ist von einer bewussten Entscheidung zugunsten einer literarischenDarstellung auszugehen

Den einzigen Versuch einer umfassenden Deutung verschiedener Elementedes Mythos und der allegorischen Darstellung hat ndash unter Vernachlaumlssigung ei-niger Details ndash bislang Lenaz unternommen In der ausfuumlhrlichen Einleitungseines Kommentars zum zweiten Buch von De nuptiis untersucht er die philoso-phisch-religioumlsen Motive in diesem Buch und kann Verbindungen zur Myste-

Kupke 1998 154 Kupke 1998 159 Fuumlr den spaumltantiken und den mittelalterlichen Leser glaubt sie jedoch andie Moumlglichkeit der problemlosen Dekodierung Macr somn 1 2 21 vgl oben Anm 45 Gerade die neuplatonischen Elemente von De nuptiis sind verschiedentlich benannt wor-den auch wenn nicht immer eine einheitliche Deutung geboten wird Haumlufig genannt wird derAufstieg Philologias in den Himmel uumlber die Sphaumlrenstufen der mit einer bdquoRuumlckkehr der Seeleldquogleichgesetzt wird (z B Bovey 2003 11 Lenaz 1975 113 vgl auch Guillaumin 2008) Hinge-wiesen wird auch auf die drei Frauen die Merkur nicht heiraten wollen (Sophia Mantike undPsyche 1 6ndash7) und die drei Seelenteile darstellen sollen deren Summe aber letztlich Philologiaist (Lenaz 1975 107ndash 110) Dagegen vertritt Kupke die These die neuplatonischen Elementetruumlgen keine zusaumltzliche Sinnebene bei (Kupke 1998 153) kritisch aumluszligern sich BednařiacutekovaacutePetrovićovaacute 2010 7

128 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

rieninitiation zu platonischen Mysterien chaldaumlischen Orakeln magischenPraktiken und zur Theurgie nachweisen Im Deutungsteil verwirft er die ThesenNuchelmansrsquo und Mathonssup3⁰⁵ als zu kurz greifend Nuchelmans hatte in derHochzeit Philologias und Merkurs (mittelalterlicher Kommentar-Tradition fol-gend) eine Forderung von Martianus nach der Vereinigung von Wissen (Philo-logia) und Rhetorik (Merkur) gesehen Mathons Ansatz fuumlhrte den Verweis auf dieneuplatonische Wieder-Erinnerung und die Ruumlckkehr der Seele in dieses Modellein Ebenso wie bei Nuchelmans werden auch hier nur wenige Elemente desMythos interpretiertsup3⁰⁶

Lenazrsquo eigener Ansatzsup3⁰⁷ folgt den Uumlberlegungen Ferrarinossup3⁰⁸ und ergaumlnzt siemit einigen Hypothesen Im Kern kreise der Mythos des zweiten Buches um einedoppelte Vereinigung die (horizontale) Vereinigung allen irdischen Wissens inPhilologia mit Hilfe von Hymenaeus und die (vertikale) Vereinigung der goumlttlichenund menschlichen Sphaumlre mit Hilfe von Eros Hinzu treten Uumlberlegungen ob essich bei Philologia und Merkur eventuell um nur eine Entitaumlt handle die Seelewelche getrennt worden sei und nun wieder zusammenfinde

Diese Lesart integriert die meisten der mythischen und allegorischen Ele-mente und verbindet sie weitgehend schluumlssig zu einem umfassenden KonzeptAllerdings vernachlaumlssigt sie auch bestimmte EinzelbeobachtungenWieso steigtPhilologia vom Sphaumlrenrand wieder auf die Milchstraszlige hinab (2 200 2 206)Wieso werden ihr auf der Milchstraszlige die irdischen Kuumlnste vorgefuumlhrt die sieerbrechenmusste damit sie in den Himmel aufsteigen konnte (2 135 f)sup3⁰⁹ Bereitsdiese Fragen zeigen deutlich dass eine kohaumlrente plausible Aufloumlsung des Mythosnicht leicht moumlglich ist

Nuchelmans 1950 Mathon 1969 Lenaz 1975 105 Aumlhnliches gilt auch fuumlr Hadots Deutung Sie identifiziert Merkur mit demaumlgyptischen Gott Theuth auf den in De nuptiis 2 102 f angespielt wird und nennt ihn diebdquoPersonifizierung der goumlttlichen Vernunftldquo waumlhrend Philologia die Personifizierung dermenschlichen Vernunftseele in deren idealem Zustand darstelle Die sieben Wissenschaften unddie sieben mantischen Kuumlnste ermoumlglichten es der Seele bdquozu ihrem Ursprung dem intelligiblenBereich oder zu Gottldquo zuruumlckzukehren (Hadot 2009 21 f) Lenaz 1975 106ndash 119 Ferrarino 1969 Dieses Problem entfiele wenn man annaumlhme dass Martianus die Erzaumlhlung nur auf dieersten zwei Buumlcher angelegt habe und erst danach die Moumlglichkeit einer Verbindung mit der inden Buumlchern 3 bis 9 folgenden Enzyklopaumldie erkannt habe Dafuumlr gibt es zwar Hinweise (bes dieDiskussion um die FiktionalitaumltUnterhaltung) am Ende von Buch 2 und zu Beginn von Buch 3doch duumlrfte man annehmen dass Martianus den Grundkonflikt von zuruumlckgelassenem Wissenund erneut geschenktem Wissen erkannt und behoben haumltte

2 De nuptiis als literarisches Werk 129

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Weiterhin uumlberbetont der Versuch den Mythos allein aus sich heraus zu er-klaumlren den Stellenwert des zweiten Buches im Gesamtwerk Als Interpretations-rahmen zwar wichtig tritt er bei fortschreitender Lektuumlre hinter die praktischeDarstellung der sieben Kuumlnste zuruumlck Diese nehmen nicht nur mehr Raum einsondern uumlberlagern die Darstellung im zweiten Buch und reduzieren somit auchderen Bedeutung Der Mythos ist also einwichtiger keineswegs jedoch der einzigeBestandteil von De nuptiis

Menippeische SatireDas auffaumllligste literarische Kompositionselement von De nuptiis ist jedochzweifellos die Wahl des Prosimetrums die Mischung von Prosapartien mit me-trischen Einheiten Der uumlberwiegende Teil des Werks ist in Prosa gehalten inwelchen 33sup3sup1⁰ metrische Partien eingelegt sind Dabei sind die Gedichte nichtregelmaumlszligig uumlber das gesamte Werk verteilt sie finden sich uumlberwiegend an ex-ponierten Stellen besonders an den Buchanfaumlngen und Buchenden Bei denmetrischen Partien innerhalb eines Buches handelt es sich fast ausschlieszliglich umGoumltterreden

Die beobachtete unregelmaumlszligige Verteilung der metrischen Partien unter-scheidet sich deutlich von der Gestaltung wie sie Boethius wenige Jahrzehntespaumlter inDe consolatione Philosophiae einsetzt Dort sind diemetrischen Partien inHinblick auf die Gesamttextmenge haumlufiger und zudem gleichmaumlszligiger verteiltsup3sup1sup1

Damit haumlngt zusammen dass auch die literarisch-argumentative Funktion dermetrischen Teile z T von derjenigen bei Boethius abweicht Bei Boethius stehendie Gedichte im Argumentationszusammenhang und fuumlhren Gedanken fort oderbuumlndeln sie in praumlgnanter Ausdrucksweisesup3sup1sup2 Ein gutes Beispiel dafuumlr ist eine

Die Zaumlhlung umfasst die zusammenhaumlngenden metrischen Partien und zaumlhlt auch Ge-dichte mit unterschiedlichem Versmaszlig (z B die Gedichte der Musen) als eine Partie Vgl dazu besonders OrsquoDaly 1991 Kap 1 (bdquoThe poetics of the Consolationldquo) darin 19ndash22 zuMartianus Sprachliche Parallelen sind zusammengestellt im Index der Boethius-Ausgabe vonBieler (CCSL 94 116) diskutiert werden sie bei Pabst 1994 163ndash 168 Da Boethius das Werk desMartianus kannte kann man von einer gelungeneren Ausdifferenzierung der Ansaumltze des Mar-tianus sprechen Der Vergleich des Einsatzes der prosimetrischen Form bei Boethius gewinntdadurch an Gewicht Eine Mischung von Prosa und Poesie findet sich weiterhin bei Fulgentius inden Mythologiae ndash Zu Parallelen in den Werkanfaumlngen bei Martianus Fulgentius und Boethiusvgl Klingner 1921 114 Pabst 1994 der Fulgentiusrsquo Vorgehen durchaus als bdquoimitatio Martianaldquoversteht (162 134ndash 137) fuumlr Boethius in Martianus allerdings nur eine Quelle sieht bdquoThey contribute to the argument as it proceeds yet take a wider view with an authorityoutside and above the adjacent prose They possess their own thematic design which spans theentire workldquo (Crabbe 1981 260) bdquoDie Metra bilden Ruhe- und Houmlhepunkte im Werk haumlufig

130 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Stelle zu Beginn des vierten Buches Nachdem zunaumlchst allgemein erlaumlutert wirddass die Weisen vermoumlgen was sie wollen die Schlechten jedoch nicht(cons 4 1 131ndash140) folgt in Versen eine Reihe plastischer Beispiele fuumlr die These(cons 4 carm 2) bevor der Gedanke fortgesponnen wird (cons 4 3 1ndash4)

An anderen Stellen uumlbernehmen die metrischen Partien eine Gliederungs-funktion indem sie Gedanken abschlieszligen und durch die Unterbrechung Zeit zurErholung bieten So sagt Philosophia zu ihrem Schuumller Boethius

bdquosed uideo te iam dudum et pondere quaestionis oneratum et rationis prolixitate fatigatumaliquam carminis exspectare dulcedinem accipe igitur haustum quo refectus firmior inulteriora contendasldquo (Boeth cons 4 6 200‐203)

bdquoAber ich sehe dass du bereits vom Gewicht der Untersuchung belastet und von der Breiteder Beweisfuumlhrung erschoumlpft auf die suumlszlige Erholung eines Liedes wartest nimm also denTrank damit du solchermaszligen erfrischt kraumlftiger zu den weiteren Themen eilen kannstldquo

In dieser zweiten Funktion setzt auch Martianus die metrischen Partien ein Dabeisind sie nicht in die Prosadarstellung eingeschoben sondern markieren fastausschlieszliglich die Buchanfaumlnge und Buchenden Explizites Ziel ist die Belebungdes Werkes um eine angenehme Lektuumlre zu erleichternsup3sup1sup3 Dies widersprichtMartianusrsquoAnkuumlndigung nach der hinleitenden Erzaumlhlung in denBuumlchern 1 und 2keine fiktionalen Erzaumlhlungen mehr einfuumlgen zu wollen die Darstellung solleernst und dem Gegenstand angemessen sein

nunc ergo mythos terminatur infiuntartes libelli qui sequentes asserentnam fruge vera omne fictum dimoventet disciplinas annotabunt sobriaspro parte multa nec vetabunt ludicra (2 220)

Nun also hat der Mythos sein Ende erreicht es beginnen die Buumlcher die die nun anschlie-szligenden Kuumlnste darbieten Denn mit wahrhaftiger Ernte entfernen sie alles Erdichtete undzeichnen die Kuumlnste nuumlchtern auf verbieten jedoch nicht gelegentliche Unterhaltung

stehen sie am Ende von Einzelabschnitten wo sie diese dann rekapitulieren und fuumlr densbquoSchuumllerlsquo zusammenfassen Bisweilen kommt ihnen auch eine Uumlberleitungsfunktion zuldquo (Kin-dermann 1969 63) ndash Zur Gattung allgemein allerdings mit besonderem Fokus auf die mittel-alterliche Literatur vgl Pabst 1994 bes 105ndash 133 zum Prosimetrum bei Martianus und 158ndash 195bei Boethius sowie Dronke 1994 bes Kap 2 (bdquoAllegory and the mixed formldquo) So auch McDonough der im Kapitel bdquoThe function of the poetryldquo zu Recht (aber zu kurzgreifend) formuliert bdquoIn undertaking the compilation of his encyclopedia the main challenge toMartianus lay in maintaining the interest of his readers (and himself) in making palatable thearid factual account of the various disciplinesldquo (McDonough 1968 37)

2 De nuptiis als literarisches Werk 131

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Scheint es an dieser Stelle so als ob Mythos und Heiteres getrennte Dinge waumlrenzeigt der unmittelbare Fortgang zu Beginn von Buch 3 dass beide Begriffe letztlichAumlhnliches bezeichnen Hier am Beginn der Schilderung der freien Kuumlnste(3 221 f) erlaumlutert Martianus in einem weiteren Gedicht das als Dialog gestaltetist warum er von seinem Plan abweicht

Camena bringt Schmuck fuumlr das Werk mit (amicta fictis commenta ferre) AufMartianusrsquo Einwand keine Mythen mehr vorbringen zu wollen (mythi pulsi) er-widert sie es gehe nicht um Luumlge (nil mentiamur) sondern um Einkleidung(vestiantur Artes) ndash man koumlnne die Brautjungfern also die Allegorien der freienKuumlnste doch nicht nackt vorfuumlhren Daraufhin gibt sich Martianus geschlagenund die Handlung von Buch 3 beginnt

Abgesehen von der unterhaltenden Funktion die besonders durch die Ge-dichte an den Buchenden gewaumlhrleistet wird scheinen die metrischen Passagenfuumlr viele Forscher wahllos in das Werk eingestreut Typisch ist eine Aussage wieCrabbe sie trifft bdquoMartianus uses verse frequently at the beginning sometimes atthe end of books and erratically throughoutldquosup3sup1⁴

Natuumlrlich kann von einer systematischen Verteilung und einer argumenta-tionslogischen Anordnung wie bei Boethius nicht gesprochen werden Bei ge-nauerem Hinsehen wird jedoch deutlich dass die metrischen Abschnitte nichtwillkuumlrlich uumlber das Werk verstreut sindsup3sup1⁵

Die meisten metrischen Passagen finden sich in den Buumlchern 1 und 2 von Denuptiis Diese Buumlcher enthalten die einleitende Handlung die als fiktionale Er-zaumlhlung dargeboten wird Im Bericht von der Suche Merkurs nach der richtigenEhefrau und von Philologias Aufstieg in den Himmel finden sich neun metrischePassagen Es handelt sich dabei bis auf die drei Faumllle der an den Buchanfaumlngen(Buch 1) und Buchenden (Buch 1 und 2) stehenden Gedichte um Reden vonGoumlttern Diese fuumlhren die Handlung fort und dienen also nicht der Buumlndelung derGedanken oder der Erholung des Lesers Stattdessen scheint es Martianus darumzu gehen das Sprechen der Goumltter durch die metrische Gebundenheit als be-

Crabbe 1981 264 Eine Typisierung die z T von der Position der metrischen Passagenlosgeloumlst ist bietet McDonough seiner Ansicht nach sind die metrischen Partien hauptsaumlchlichfunktional bdquoThe poetry thus is primarily functional although this function varies from book tobookldquo (McDonough 1968 38) Als Funktionen benennt er fuumlr Buch 1 Handlungsfortfuumlhrung fuumlrBuch 2 Schmuck fuumlr Buch 3 Belehrung fuumlr den Rest Einfuumlhrung oder Entlassung derBrautjungfern oder Unmut uumlber Verzoumlgerung der Hochzeit Der Rest seien bdquooccasional piecesldquo(ibid 40) ndash Verspartien finden sich am Anfang der Buumlcher 1 2 3 4 5 6 7 und 9 sowie am Endeder Buumlcher 2 4 5 7 und 9 Die ungleiche Verwendung der Metra bei Boethius und Martianus laumlsst sich am besten alsEntwicklung verstehen wie es beispielsweise Kindermann (1969 60) tut Zur Kenntnis desMartianus bei Boethius vgl oben Anm 311

132 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

sonders zu markieren Dies gilt vor allem fuumlr markante Szenen zum Beispiel dieRede Jupiters in der Goumltterversammlung gegen Ende des ersten Buches (1 91ndash93)oder die orakelartige Auskunft Apolls (1 21 f)

Diese Beobachtung gilt daruumlber hinaus ebenso fuumlr die genannten Stellen inBuch 9 auch wenn es sich dort nicht um die Vorgeschichte oder einen weiterenliterarischen Rahmen handelt Jedoch ist eine Szene mit Goumlttergespraumlchen ein-geschoben in der die Goumltter unter anderem auch Verse verwenden Durch dieseReden in metrisch gebundener Form soll den entsprechenden Buumlchern also einehoumlhere Wuumlrde verliehen werden

Einen zweiten Fall stellen die Gedichte zu Beginn oder zu Ende eines Buchesin den Buumlchern 3 bis 9 dar In diesen Buumlchern praumlsentieren die Freien Kuumlnste ingeschlossenem Vortrag die Inhalte ihrer Wissenschaft Die Gedichte in einigenFaumlllen in auktorialer Erzaumlhlhaltung gestaltet uumlberbruumlcken die Fuge zwischen denBuumlchern und bieten eine Pause zwischen den langen Vortragspartien der Leserkann sich erholen Die Inhalte der Verspartien sind unterschiedlich es handeltsich zumeist um den Ein- oder Auszug einer Brautjungfer (4 327 4 423 f 8 8028 808 9 911ndash919) um die Fortfuumlhrung der Hochzeitshandlung (5 425 8 8059 888) um die Anrufung eines Gottes (6 567ndash574) oder um eine Wendung desAutors an den Leser (5 566 9 997ndash 1000)

Dieser Einsatz der Verspartien ist jedoch noch keine hinreichende Erklaumlrungfuumlr die Wahl des Prosimetrums Sie erklaumlrt sich besonders dadurch dass Marti-anus auf diese Weise sein Werk in die Traditionslinie von Texten einreiht die alsmenippeische Satiren bezeichnet werdensup3sup1⁶

Charakteristisch fuumlr diese spezielle Form der roumlmischen Satire ist der Wechselvon metrischen und prosaischen Partiensup3sup1⁷ Klassische lateinischsprachige Ver-treter der menippeischen Satire sind Varro (Saturae Menippeae) Seneca (Apo-colocyntosis) und Petron (Satyrikon) in der griechischen Literatur nutzen Lukianund Julian (Caesares) diese Form Inhaltlich lassen sich nur wenige Verbindungenzwischen den Werken ziehen und auch die Umsetzung der formalen Elemente istunterschiedlich Dies fuumlhrt sogar so weit dass sich moderne Forscher trotz derbereits antik bezeugten Bezeichnungder Gattung teilweise auszligerstande sehen dieGattung genauer zu definieren oder dass sie ihre Fragestellung losgeloumlst von derGattungstradition verfolgensup3sup1⁸ Dies macht die Verortung von De nuptiis in diesemGenre nicht leichter

Zur menippeischen Satire vgl Relihan 1993 Coffey 1996 Im Gegensatz dazu beschraumlnkt sich die Verssatire seit Horaz auf die Verwendung desHexameters So betont Scheible im Vorwort ihrer Studie zu den Gedichten in Boethiusrsquo de consolationedass sie Vorgaben der Tradition in Hinblick auf die Gedichte nicht beruumlcksichtige ndash sie lieszligen

2 De nuptiis als literarisches Werk 133

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Gelegentlich wird sogar die These vertreten dass sich das satirische ElementinDe nuptiis in dieser formalen Verbindung von Prosaund Poesie erschoumlpfesup3sup1⁹DerGattungsbegriff sbquomenippeische Satirelsquo waumlre dann identisch mit der BezeichnungsbquoProsimetrumlsquo Dem widersprechen jedoch verschiedene Beobachtungen derRuumlckgriff auf die Etymologie des Wortes satura die Bezugnahme auf Vertreter derGattung und das Auftreten einer Figur namens Satura sowie deren Agieren dasuumlber die rein formale aumluszligerliche Satireform hinausweist schlieszliglich die beson-dere Gestaltung der Erzaumlhlsituation Diese vier Elemente sollen im Folgendenherausgearbeitet werden

Etymologie ndash Dass Martianus sein Werk sehr wohl als Satire verstanden wissenwill wird an verschiedenen Stellen deutlich Dies geschieht zum Beispiel durchgelehrte Anspielungen auf die Terminologie der antiken Satire an prominenterStelle So heiszligt es in 9 998

[Satura] haec quippe loquax docta doctis aggeransfandis tacenda farcinat immiscuitMusas deosque disciplinas cyclicasgarrire agresti cruda finxit plasmate

So haumluft sie plappernd Gelehrtes auf Gelehrtes und stopft geheimes und bekanntes Wissenzusammen hatMusenundGoumltter vermischt undhat sich erdacht dass die enzyklopaumldischenDisziplinen in einem baumlurischen Machwerk unreifes Zeug daherplappern

Die Woumlrter farcinat und immiscuit verweisen auf das Zusammenstopfen undVermischen verschiedener Zutaten z B in einer Wurst oder Pastete Gleiches giltfuumlr die Woumlrtermiscillo und aggeranssup3sup2⁰ Ausgangspunkt fuumlr diese Terminologie istdie Etymologie desWortes sbquoSatirelsquo an sich bedeutet urspruumlnglich etwaswie sbquobunteMischunglsquosup3sup2sup1 Traditionell sind Anspielungen auf diese Etymologie in der satiri-

sich nicht feststellen (Scheible 1972 8) Vorhandene Untersuchungen beschreiben in der Regeldie Konstituenten der einzelnen Werke Aufgrund der geringen Zahl uumlberlieferter Werke und dergroszligen Unterschiede zwischen ihnen ist es jedoch schwierig die typischen Elemente der Gat-tung zu benennen Auch diese Arbeit schlieszligt sich dem beschreibenden Vorgehen an undvergleicht an einschlaumlgigen Stellen inwieweit die Beobachtungen auch fuumlr die Gattung typischsind So z B Coffey der die Mischung aus Prosa und Poesie bei Martianus als bdquomiscellanyldquobezeichnet und vor einer Verbindung von De nuptiis mit der Satire als problematisch warnt(Coffey 1996 959) Vgl Relihan 1993 14 ErnoutMeillet s v satur -ra -rum (2001 596) WaldeHofmann s v satura (2007 II482f) Der zentrale Hinweis auf eine Ableitung des Wortes aus dem kulinarischen Bereich findet

134 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

schen Literatur selten Allein in Juvenal findet sich ein Hinweis darauf gleichwohlmit leicht anderem Verstaumlndnis Er betrachtet die Zusammenstellung der Satirenals farrago also als Mischgericht nicht die einzelne Satiresup3sup2sup2

In diesen sehr bildlichen Wendungen trifft Martianus gleichzeitig eine Aus-sage uumlber sein Verstaumlndnis der Darstellung von Bildungswissen Bei ihm gibt eskeine vorverdauten und mundgerecht aufbereiteten Wissenspaumlckchen (wie Ma-crobius sie bietet)sup3sup2sup3 sondern rohe Kost (cruda) die ihre Zutaten d h die lite-rarischen oder inhaltlichen Urspruumlnge nicht leugnet LeMoine formuliert prauml-gnant bdquoBy calling attention to the literary functions these metaphors fulfillMartianus hellip raises questions about the principles of seamless synthesis andverbal regurgitation which Macrobius so effectively demonstratesldquosup3sup2⁴

Dass Martianus durch diese Art der Darstellung seine Autoritaumlt infrage stelle(bdquohellip reveal doubts about the competence of the cook and the quality of the edu-cational feastldquo)sup3sup2⁵ laumlsst sich jedoch nicht erkennen Schlieszliglich benennt er seinVorgehen explizit (scheitert also nicht an einem gesteckten Plan) und bietetgleichzeitig mit der Kritik an der klassischen Form der Wissensvermittlung eineMoumlglichkeit an wie nicht-vereinheitlichte Wissensvermittlung aussehen kannBeeintraumlchtigungen des Vertrauens zum Erzaumlhler und zu den Inhalten gibt esallerdings ndash jedoch aufgrund anderer Faktorensup3sup2⁶

Bezug auf andere Satiriker ndash Neben den Anspielungen auf die Etymologie derGattung Satire treten explizite Bezuumlge auf andere Autoren menippeischer Satirenauf Namentlich wird jedoch keiner der Vorgaumlnger genannt die Nennung Varroserfolgt ausschlieszliglich in den Vortraumlgen der Brautjungfern und bezieht sichuumlberwiegend auf Varros fachschriftstellerische Werke oder seinen Ruf als Enzy-klopaumldistsup3sup2⁷

sich beim Grammatiker Diomedes (Grammatici Latini 1 485) Ausgehend von dieser Passageeroumlrtert Petersmann die Etymologie mit besonderer Beruumlcksichtigung des Ursprungs des Wortessatura aus dem Kuumlchenbereich (Petersmann 1986) Iuv 1 86 nostri farrago libelli Vgl die Kommentare Morton Braund 1996 95 f undCourtney 1980 103 Vgl die Gleichnisse in der praefatio zu den Saturnalia (Sat praef 5ndash9) und die Ausfuumlh-rungen in Kap II1 sowie die dort aufgefuumlhrte Literatur LeMoine 1991 360 ibid S u die Abschnitte bdquoErzaumlhlinstanzenldquo und bdquoDeutungen der komplexen literarischen Formldquo 4 335 (die Gelehrsamkeit Varros vgl Cic ac 1 9 Aug civ 6 2) 5 517 (Nennung in einemZitat) 6 639 und 6 662 (Fragen der Geographie die Varro-Vorlage ist nicht bekannt) 9 928 (cfVarro rust 3 17 4) Vgl zum Verhaumlltnis von Martianus und Varro bes Bovey 2003 Kap 2 (bdquoLaquestion varronienneldquo) und Schievenin 2009f

2 De nuptiis als literarisches Werk 135

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Allerdings zitiert die Wendung ὄνος λύρας in 8 807 den Titel einer menip-peischen Satire Varrossup3sup2⁸ Die Wendung ist in der lateinischen Literatur ander-weitig nicht belegt weshalb davon auszugehen ist dass Martianus hier auf denrepublikanischen Satiriker direkt zuruumlckgriff Da die Wendung zudem im Streit-gespraumlch zwischenMartianus und Satura uumlber die angemessene Art des Erzaumlhlensder Geschichte faumlllt kommt ihrer Verwendung eine programmatische Aussage zuMartianus stellt sich und sein Werk also in die Nachfolge Varros und seiner Sa-tiren

Ein Bezug auf Lukian ist weniger sicher nachzuweisensup3sup2⁹ Allerdings gibt eseine motivische Uumlbernahme im zweiten Buch von De nuptiis Philologias Erbre-chen des Wissens das der Hochzeit vorausgeht hat eine Parallele in LukiansDialog Lexiphanes Der allzu (ein)gebildete Lexiphanes nimmt auf Draumlngen vonLycinus ein Brechmittel ein das ihm der Arzt Sopolis gibt Daraufhin erbricht eralle Woumlrter die er gelernt hat dies ist die Voraussetzung dafuumlr dass er nun an-gemessen belehrt werden kannsup3sup3⁰

Es handelt sich um die Fragmente Varro Men 348ndash369 In Fragment 349 findet sich dieWendung auch im Vers (si quis μελωδεῖν est ὄνος λύρας praesepibus se retineat forensibus ndashsbquower beim Gesang wiersquon Esel an der Harfe bloumld der bleib getrost im Stallmief seines Forumsdortlsquo [Uumlbs Krenkel]) Die Bezugnahme auf Varro ist umso wahrscheinlicher da Satura unmit-telbar zuvor sowohl Martianusrsquo berufliche Aufenthalte auf dem Forum erwaumlhnt und ein Wort-spiel mit seinem Namen Capella angestellt hat ndash der zwar nicht sbquoEsellsquo bedeutet wohl aber einHaustier (sbquoZiegelsquo)Vgl dazu Shanzer 1968c 38ndash40 Shanzer 1986a kritisch dazu Pabst 1994 168(m Lit) Folgt man Bovey handelt es sich bei der unmittelbar folgenden Wendung καιρὸν γνῶθιum einen weiteren Verweis auf den Titel einer Varro-Satire γνῶθι σεαυτόν (= Varr Men 199ndash210 vgl Bovey 2003 282ndash284) Naumlher liegt wohl dass Martianus Capella diese eigenstaumlndigeSentenz (vgl Diogenes Laertios I 79 der sie als Sentenz des Pittakos ausweist) aus einer anderenQuelle uumlbernommen hat Kindermann 1969 60 Shanzer geht davon aus dass Martianus Lukian kannte (Shanzer1986c 36) Zur Diskussion um Martianusrsquo Griechischkenntnisse vgl Cristante 2009 [5] undShanzer 1986c 4 die beide annehmen dass Martianus durchaus Griechisch beherrschteShanzer weist einige Stellen auf an denen Martianus woumlrtlich uumlbersetzt und schlieszligt aus derBeherrschung des Griechischen zu Recht auf einen gebildeten moumlglicherweise sogar akade-mischen Hintergrund von Martianus Lucian Lex 20f Andere antike Texte die das Erbrechen von Wissen als Teil des Reini-gungsprozesses beschreiben oder als Bild tradieren sind mir nicht bekannt Daher ist eswahrscheinlicher dass Martianus auf Lukian im Original zuruumlckgegriffen hat Zur vor-byzantinischen Rezeption Lukians vgl Nesselrath 1994 der spaumltantike Bezuumlge auf Lukian u abei Julian und Claudian aufzeigt ndash Einen Bezug auf Lukians Concilium deorum fuumlr moumlglich haumlltKrapinger 1999 962 ndash Anders gelagert sind Lucian cont 7 und Aug in Joh ev tract 36 1 Dortgeht es darum dass durch das Ausspeien Wissen weitergegeben wird was zum Bild der daserbrochene Wissen aufsammelnden Artes passt nicht jedoch zum Motiv der Reinigung

136 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Bezuumlge auszligerhalb der Uumlbernahme uumlblicher Gattungselemente lassen sich fuumlrSenecas Apocolocyntosis Petrons Satyricon oder Julians Caesares nicht konsta-tierensup3sup3sup1

Die Figur der Satura und ihr Handeln ndash Einer der deutlichsten Hinweise auf dieForm der Satire liegt im Auftreten einer Figur namens Satura Diese Figur wirdzunaumlchst von Martianus als Erzaumlhlinstanz eingefuumlhrt (1 2) von der er den Inhaltvon De nuptiis erfahren haben will Im Laufe des Werks gewinnt Satura aber anProfil und agiert zunehmend autonom

Aussagen uumlber Satura beruhen letztlich auf drei Stellen in De nuptiis (6 576ndash5798 806ndash8109997ndash999) und koumlnnen fast ausschlieszliglich aus der Formund derBotschaft ihrer eigenen Aumluszligerungen gewonnen werden An allen drei Stellendiskutiert Satura mit Martianus Ansonsten ist Satura zwar als praumlsent zu denkenwird aber nicht weiter thematisiert

Nach Martianusrsquo Anrufung Minervas zu Beginn des sechsten Buches mischtsich Satura in seine Uumlberlegungen ein welche Frauen er vor sich sehe Die Ein-mischung wird von Martianus als scherzend bezeichnet (iocabunda 6 576) dieEinmischung an sich als typisch fuumlr das Scherzen Saturas (ut lepidula est 6 576)Die Aumluszligerung Saturas beginnt mit Spott uumlber Martianusrsquo nur scheinbare KlugheitDurch falsche naumlchtliche Studien und besonders seine Anwaltstaumltigkeit habe erden Blick auf das Wichtige verloren und erkenne nun nicht einmal mehr Philo-sophia und Paideia Der Scherz wird jedoch alsbald von einem belehrendenTonfall abgeloumlst in dem Satura Martianus uumlber das Wesen der beiden Frauenaufklaumlrt

Satura tritt als Naumlchstes zu Beginn des achten Buches auf in der Folge derSilen-Szene Der angetrunkene Silen war eingeschlafen und durch Amor aufge-schreckt worden was die uumlbrigen Goumltter laut lachen lieszlig (8 803ndash805) DieseSchilderung provoziert bei SaturaWiderspruch da sie das Erzaumlhlte als unpassendfuumlr die Goumltterversammlung empfindet Ihre Kritik beginnt wieder bei der Persondes Martianus dessen Namen sie als passend zu seinem Wesen deutet (Capella ~sbquoZiegelsquo 8 806) Sodann fordert sie Martianus auf seine Possen zu unterlassenMartianus fuumlhlt sich gehoumlrig von Satura gemaszligregelt und gibt klein bei bemerktaber dass sie ansonsten mehr von Scherzen halte (alioquin lepidula 8 807) AlsSatura dann die Einfuumlhrungder eintretenden Brautjungfer in Versenvorbringt undMartianus wiederum seine Scherze (ludicra 8 808) vorhaumllt kann dieser nicht

Mit Julian verbindet Martianus immerhin die Ansiedlung der Goumltterversammlung auf derMilchstraszlige ndash Zur Rolle der Saturnalien vgl den Abschnitt bdquoDeutungen der komplexen litera-rischen Formldquo

2 De nuptiis als literarisches Werk 137

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mehr an sich halten und zahlt Satura ihre Kritik in gleicher Muumlnze heim Nacheinigem Spott uumlber Saturas Verse verteidigt nun Martianus das Recht auf Scherzgegen sie die an sich ndash nicht aber in De nuptiiswie es scheint ndash eigentlich fuumlr denScherz zustaumlndig waumlre und gibt ihr mit Martial (2 41 1) den Rat auch einmal zulachensup3sup3sup2

Ein letzter Schlagabtausch von Satura und Martianus erfolgt schlieszliglich amEnde des Werkes Wiederum streiten beide Figuren miteinander und halten sichmit Spott uumlber das Wesen des anderen nicht zuruumlck

Die Einfuumlhrung Saturas die ja nur in Verbindung ndash und das heiszligt Ausein-andersetzung ndash mit Martianus erscheint dient vornehmlich der deutlichenBenennung der Gattung und der Verstaumlndigung daruumlberwas den Charakter einessatirischen bzw des vorliegenden Werkes ausmache Erstaunlich ist dabei Mar-tianusrsquo Entwicklung der sich zunaumlchst gegen Unterhaltung im artes-Teil ausge-sprochen hatte diese spaumlter aber gegen den censorischen Eingriff Saturas imachten Buch verteidigt Noch erstaunlicher ist aber dass es gerade Satura ist diezur Beachtung des Decorums auffordert und Martianusrsquo vergleichsweise mildenScherz scharf tadelt

Erzaumlhlinstanzen ndash Die Frage nach der Erzaumlhlsituation bzw der Erzaumlhlerfigurgehoumlrt zu den grundlegenden Analysekriterien eines literarischenWerkes ebensowie die Konzipierung von Raumund Zeit Lassen sich die letzten beiden Punkte imHinblick auf De nuptiis hinreichend klaumlrensup3sup3sup3 so bietet die Erzaumlhlerfigur groumlszligereSchwierigkeiten

DassDe nuptiis zwei Erzaumlhlinstanzen hat scheint zu Beginn desWerkeswenigdramatisch In 1 2 verweist der Erzaumlhler Martianus gegenuumlber seinem Sohn dar-auf dass die folgende Geschichte (also der uumlberwiegende Teil von De nuptiis) ihm

Ride si sapis o puella ride Schievenin bietet eine gruumlndliche Analyse dieser Stelle auchmit Blick auf die inverse Vorlage Martials (plora si sapis o puella plora Mart 2 41) derwiederum auf Ovid (Ov ars 3 281 f) zuruumlckgreift (Schievenin 1984 bes 136 ausfuumlhrlich auchBovey 2003 275ndash288) Die Rahmenhandlung spielt in der erzaumlhlerischen Gegenwart und in einem unbestimmtenRaum der jedoch nicht auszligergewoumlhnlich ist es liegt nahe an Karthago und das Haus desMartianus Capella zu denken Die eigentliche Handlung spielt an z T unwirklichen Orten aufder Erde die zumeist nicht naumlher bestimmt sind (z B Philologias Herkunft) und auf derMilchstraszlige wobei die absolute Zeit nicht genannt wird aber aufeinanderfolgende Tage inihrem Ablauf erkannt werden koumlnnen Die Phantastik einzelner Szenen die meist auf alle-gorische Darstellungsweisen zuruumlckgeht verletzt jedoch nicht die raumlumliche oder zeitlichePlausibilitaumlt des Dargestellten Vgl dazu auch die Ausfuumlhrungen und grafischen Veranschau-lichungen LeMoines (1972a)

138 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

waumlhrend langer Winternaumlchte (eine Anspielung auf Gellius)sup3sup3⁴ von Satura be-richtet wurde Der antike wie moderne Leser duumlrfte sich wohl kaum daran stoszligensondernwird darin vor allem eine Inspiration des Autors durch Satura (auchwennes das zuvor noch nicht gab) erkennen Bei der Erwaumlhnung von Satura koumlnnte erHeiteres erwarten oder bunt gemischte Geschichten

Vollkommen verwirrt wird der Leser hingegen spaumltestens dann wenn er amEnde des Werkes in der Sphragis angekommen ist (9 997ndash 1000) Dort reflektiertMartianus sein literarisches Vorgehen in den vorausgegangenen neun Buumlcherngenauer gesagt distanziert er sich von der Form der Darstellung (Umfang Bunt-heit) und verweist auf die Verantwortung Saturas die die Geschichte erzaumlhlt habe

Habes anilem Martiane fabulam 997Miscillo lusit quam lucernis flamineSatura Pelasgos dum docere nititurArtes daggercagris vix amicas AtticisSic in novena decidit voluminahaec quippe loquax docta doctis aggerans 998fandis tacenda farcinat immiscuitMusas deosque disciplinas cyclicasgarrire agresti cruda finxit plasmate (9 997 f)

Da hast du Martianus eine Altweibergeschichte sie verfertigte im Spiel mit vermischterInspiration [d h in Prosa und Vers] bei Kerzenschein Saturawaumlhrend sie sich bemuumlhte diePelasger zu lehren die Kuumlnste die den Griechen kaum freundlich [d h neu] sindSo gelangte sie hinab bis zum neunten Buch haumluft plappernd Gelehrtes auf Gelehrtes undstopft geheimes und bekanntes Wissen zusammen hat Musen und Goumltter vermischt und hatsich erdacht dass die enzyklopaumldischen Disziplinen in einembaumlurischenMachwerk unreifesZeug daherplappern

So ungewoumlhnlich dieses Vorgehen auch ist ndash Martianus haumltte ja den Bericht Sa-turas als Grundlage nehmen und dann nach eigenem Geschmack umgestaltenkoumlnnen ndash wird es uumlbertroffen durch die Verteidigung Saturas Sie weist die Ver-antwortung fuumlr die Art der Erzaumlhlung von sich und verteidigt sichmit demHinweisauf Martianusrsquo intellektuelle Schwaumlche der sie die Ausfuumlhrungen habe anpassenmuumlssen

Vgl Gell praef 4 zur Erklaumlrung der Wahl des Titels Noctes Atticae fuumlr sein Werk

Sed quoniam longinquis per hiemem noctibus in agro sicuti dixi terrae Atticae commentationeshasce ludere ac facere exorsi sumus idcirco eas inscripsimus noctium esse Atticarum hellip

Aber weil wir in langen Naumlchten den Winter uumlber in Attika auf dem Landwie schon gesagtdiese Anmerkungen im Spiel und dann ernsthaft begonnen haben daher haben wir ihnenden Namen Attische Naumlchte gegeben hellip

2 De nuptiis als literarisches Werk 139

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

haec ipsa nauci rupta conscientia 999turgensque felle ac bili bdquomulta chlamydeprodire doctis approbanda cultibuspossemque comis utque e Martis curia[hellip]ab hoc creatum Pegaseum gurgitem 1000decente quando possem haurire poculoldquo (9 999 f)

Sie sagte aufgrund ihres Wissens um die Nichtigkeit (dieser Ausfuumlhrungen) verletztschwellend vor Bitterkeit und Zorn bdquoIch koumlnnte hier freundlich auftreten mit einem Gewandbekleidet lobenswert durchgelehrtes Verhaltenwie aus der VersammlungdesMars [Es folgtdie Schilderung der unguumlnstigen Anlagen von Martianus] ndash Wann koumlnnte ich mit ange-messenem Becher aus einem pegasischen Strom von ihm erschaffen schoumlpfenldquo

Somit hat das Werk das zu Beginn zwei hierarchisch geschiedene Erzaumlhler zuhaben scheint am Ende zwei Erzaumlhler die sich gleichberechtigt uumlber die Form dererzaumlhlten Geschichte streitensup3sup3⁵

Die Inkonsistenzen auf der Erzaumlhlebene setzen sich daruumlber hinaus fort HatteMartianus zu Beginn des Werks gesagt Satura habe ihm die Geschichte waumlhrendlangerWinternaumlchte erzaumlhlt so treten Satura undMartianus amEnde desWerks inder erzaumlhlerischen Gegenwart gemeinsam auf und sprechen beide nacheinanderzu Martianusrsquo Sohn

Weiterhin erscheinen Satura und Martianus innerhalb der Geschichte dieMartianus angeblichvon Satura gehoumlrt hatWaumlhrend die Goumltter denverschiedenenBrautjungfern lauschenwohnen auch SaturaundMartianus der Versammlungbeiund betrachten sie als unbeteiligte ZuschauerWie aus einer Theaterloge herauskommentieren und diskutieren sie das Geschehen das auf der bdquoGoumltterbuumlhneldquostattfindetsup3sup3⁶

Noch einen weitergehenden Schritt stellt die Silen-Szene zu Beginn des achtenBuches dar Im Anschluss an diese Szene beschwert sich Satura bei Martianus erkoumlnne die Goumltter nicht auf dieseWeise agieren lassen In der Folge entspinnt sich einGespraumlch in demMartianus seine Art des Erzaumlhlens gegen Satura verteidigt die fuumlreine zuruumlckhaltendere Darstellung plaumldiert (s o)Von der Fiktion dass Martianusseinem Sohn bloszligwiedergibtwas Satura ihm erzaumlhlt hat bleibt nichtmehr viel dieganze Szenerie ist ein Produkt der ErfindungdesMartianus gleichzeitigwohnt er ihraber gemeinsam mit Satura bei ist also Teil der Handlung

So bereits Pabst 1994 120 Anm 119 der allerdings auf eine Diskussion der Beobachtungverzichtet Es handelt sich um die Stellen zu Beginn des sechsten und des achten Buches die imvorigen Abschnitt bereits paraphrasiert wurden

140 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Diese Art der Spiels mit der Erzaumlhlerrolle wird von manchen modernen For-schern als ein wichtiges Merkmal der menippeischen Satire angesehen Hinzu-treten kann die Selbstherabsetzung des Erzaumlhlers die sich an seinemmangelndenWissen Stilbewusstsein Traditionsempfinden o auml entzuumlndetsup3sup3⁷ Folglich kanndie zunaumlchst befremdliche Brechung und Verzerrung als weiteres Merkmal derGattung menippeische Satire bestimmt werden

Aufgrund dieser Beobachtungen ist es zwingend in De nuptiis vor allem eineSatire zu sehen Auch der heiter-spoumlttische Charakter einiger Passagen zwischenden Vortraumlgen der Brautjungfern passt zum satirischen Anspruch Gelegentlicherscheint es jedoch fraglich ob es sich wirklich um satirische und nicht eher umkomische oder derbe Spaumlszlige handelt Die Szene in der Silen betrunken einschlaumlftund von den anderen Goumlttern verspottet wird (8 803ndash805) erinnert mit ihremSlapstick eher an den derben Spott der Komoumldie als an die Satire eines Varrosup3sup3⁸

22 Deutungen der komplexen literarischen Form

Wie laumlsst sich das Werk De nuptiis nun also formal beschreiben oder andersgefasstWie lassen sich die vier literarischen Traditionsstraumlnge zusammenfuumlhrenDass eine einheitliche Lesung zumindest versucht werden muss zeigt bereits dasLeitmotiv der Hochzeit ansup3sup3⁹

Im Kern handelt es sich bei MartianusrsquoWerk um eine Sammlung bedeutenderWissensschaumltze in einem einzigen Werk die darin systematisch ausgebreitetwerden Dies zeigt die Einteilung in verschiedene Disziplinen die ein ver-

Zur Erzaumlhlerrolle in der menippeischen Satire vgl u a Relihan 1993 und darin bes S 35 Mit der Aufnahme unterhaltsamer Elemente ginge Martianus sogar noch uumlber dieErwartungen an ein sbquosatirischeslsquo Werk hinaus Auch Boethius wird bescheinigt er erzaumlhle seineConsolatio bdquoper satiramldquo auch wenn bei ihm weder eine Figur Satura auftritt noch allzu vielHeiterkeit herrscht (Peiper zitiert in der Einleitung zu seiner Ausgabe S xxxi eine mittelalter-liche Boethius-Vita vgl Kindermann 1969 61)

hos libros [scil de consolatione Philosophiae] per satiram edidit imitatus videlicet mar-cianum felicem capellam qui prius libros De nuptiis philologiae et mercurii eadem speciepoematis conscripserathellip

Diese Buumlcher schrieb er als Satire freilich in Nachahmung des Marcianus Felix Capellader zuvor die Buumlcher uumlber die Hochzeit der Philologie mit Merkur in der gleichen Art vonGedicht verfasst hatte

Zum Motiv der Hochzeit das bereits programmatisch im eroumlffnenden Hymnus anHymenaeus erscheint vgl Schievenin 2009c und Cristante in der Einleitung seiner Ausgabe1987 3ndash 10

2 De nuptiis als literarisches Werk 141

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

gleichsweise leichtes Auffinden der Informationen erlaubtsup3⁴⁰ die Bedeutung wirdangesichts der Praumlsentation vor den Goumlttern auf der Milchstraszlige deutlich Alleinder Umfang dieser Vortraumlge die in sich auch nicht gestoumlrt oder gebrochenwerdenmarkiert dass es sich hier um das zentrale Charakteristikum des Werkes handelt

Den erzaumlhlerischen Anlass fuumlr diese Praumlsentation bietet eine Hochzeitsfeieralso ein Symposion hier ist die Gelegenheit fuumlr die groszligen Redebeitraumlge gegebenZudem bietet die SymposionformAnknuumlpfungspunkte fuumlr eine Rahmenhandlungdie zur Auflockerung der ebenso ausfuumlhrlichenwie trockenen Einzelreden genutztwird

Doch bleibt es ndash im Gegensatz z B zu Macrobius ndash nicht bei der bloszligenDarstellung der Wissensinhalte Hinzu tritt die allegorische Darstellung der Be-deutung von Wissen und von Fleiszlig beim Wissenserwerb in den ersten beidenBuumlchern Die praumlsentierten Inhalte der Buumlcher 3ndash9 (die Philologia ja bereits aufder Erde in Buch 2 besitzt) sindwichtig Sie sind nicht nur wichtig fuumlr das irdischeLeben (das wird nicht weiter thematisiert die explizit irdischen Wissenschaftenwie Architektur und Medizin werden sogar ausgeschlossen) ndash die Inhalte sindauch wichtig fuumlr die menschliche Vervollkommnung

Durch das angesammelte Wissen erreicht der Mensch zwar nicht die voll-kommene Erkenntnis (die erhaumllt auch Philologia nur ohne eigenes Zutun als sieauf der houmlchsten Himmelssphaumlre angekommen zum Vatergott in der jenseitigenGluumlckseligkeit betet) wohl aber ein goumlttergleiches Wissensup3⁴sup1 Der Wissenserwerbist gewissermaszligen die Voraussetzung dafuumlr dass der Mensch mit Hilfe einesgoumlttlichen Begleiters in den Himmel aufsteigen kann unsterblich wird und voll-kommene Einsicht erlangt

Die so weit kohaumlrente Verbindung der literarischen Traditionen laumlsst aller-dings den explizit satirischen Anspruch von De nuptiis auszliger Betracht durch denMartianus selbst das Werk primaumlr in die Gattung der Satire einordnet waumlhrendvergleichbare Bezuumlge zu anderen Gattungen fehlen Natuumlrlich lieszlige sich dieserprogrammatische Anspruch mit einem Verweis auf die Verwendung des Begriffszur Bezeichnung einer inhaltlich wie literarisch gemischten Form erklaumlren Dochgreift diese Erklaumlrung zu kurz da das Agieren Saturas die literarischen Passagendes Werks beinahe als Travestie erscheinen laumlsst (vgl oben zur Erzaumlhlerfigur) Einbildend-enzyklopaumldisches Werk kann sich allerdings nicht gefahrlos als Satire

So auch Englisch 1994 56 Die bdquoSystematik bei der Praumlsentationldquo erlaube einen leichtenZugriff auf die Informationen Mart Cap 2 201ndash205

142 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

praumlsentieren ohne Zweifel an der Glaubwuumlrdigkeit und Zuverlaumlssigkeit desWerkes und der praumlsentierten Inhalte zu weckensup3⁴sup2

Wenn Martianus auch die Konventionen der Gattung menippeische Satireaufnimmt und sein Werk also nur folgerichtig unter anderem eine unzuverlaumlssigeErzaumlhlsituation aufweist ist dies noch keine Erklaumlrung an sich Die regelkonformeUmsetzung gattungstypischer Anspruumlche erklaumlrt noch nicht die Wahl der Gattungan sich ndash einer Gattung die trotz ihrer Benennung als solche nicht zu denStandardformen und akzeptierten Gattungen zaumlhlte insbesondere nicht fuumlrLehrwerkesup3⁴sup3

Auch Martianusrsquo Verweis auf etwas bislang noch nicht Unternommenes(nescioquid inopinum intactumque 1 2) vermag den Widerspruch nicht zu loumlsenDie Wendung zeigt zwar dass Martianus die Ungewoumlhnlichkeit seines Ansatzesbewusst war (sofern sich die Phrase uumlberhaupt auf die Komposition des Werkesbezieht)sup3⁴⁴ beseitigt aber nicht das interpretatorische Problem ZuwelchemZweckverbindet Martianus also zwei so widerspruumlchliche Gattungen wie Enzyklopaumldieund Satiresup3⁴⁵

Drei Antwortansaumltze lassen sich grob umreiszligen 1 Die Verbindung ist nuraumluszligerlich bzw oberflaumlchlich 2 durch die Verbindung soll ein bestimmter Aspektparodiert und somit Spott und Kritik ausgesetzt werden 3 die Verbindung erfuumlllt

Dieses Problem hat bereits Westra in seinem Aufsatz bdquoThe juxtaposition of the ridiculousand the sublime in Martianus Capellaldquo benannt (Westra 1981) Allerdings beschraumlnkt sich auchdieser Aufsatz auf die Darstellung des Problems und die Zusammenstellung der Belege EineLoumlsung hat Westra nicht anzubieten ndash sein Aufsatz endet mit der eher apologetischen Bemer-kung das Eingestaumlndnis der Unvereinbarkeit von Satire und Lehrwerk durch Martianus in 9 997sei prima facie ein Spiel dahinter stecke jedoch die Absicht Problembewusstsein zu demon-strieren und Verantwortung fuumlr die unterlassene Loumlsung zu negieren bdquoEven though I would claim that prose and verse must be present in an ancient Menippeansatire it must be seen as one of a number of shocking juxtapositions of oppositesldquo (Relihan 198760) ndash In der Folge kann die prosimetrische Form durchaus auch Mittel belehrender Werkewerden vgl Pabst 1994 133 Denkbar (und wohl wahrscheinlich) waumlre auch dass damit die Inhalte besonders desMythos gemeint sind Der Verweis auf Unterhaltung fuumlhrt nicht zum Kern der Frage denn die satirische Formstellt mehr dar als reine Unterhaltung Auch das horazische Diktum ridentem dicere verum quidvetat ndashsbquolachend das Wahre zu sagen ndash was spricht dagegenlsquo (Hor serm 1 1 23) als Kern vonMartianusrsquo Satireverstaumlndnisses greift zu kurz ebenso wie vergleichbare Konzeptionen in derLiteratur Dort geht es bei Belehrung immer um einzelne philosophische Saumltze (nie beispiels-weise um die Vermittlung von Philosophie an sich) Folglich bezeichnet das bdquoverumldquo nichtkognitives Lernen sondern moralisches Der grundlegende Unterschied zur Konzeption desMartianus liegt somit auf der Hand Vgl zu diesem Aspekt im Allgemeinen z B Shanzer 1986c42 und im Speziellen u a Woytek 1986 339ndash345 Keulen 2009 bes Kap 2 und 3

2 De nuptiis als literarisches Werk 143

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

einen literarischen und belehrenden Zweck zugleich Aufgrund der komplexenSachlage und der unmittelbaren Bedeutung der Beantwortung der Frage nachdieser Verbindung fuumlr das Gesamtverstaumlndnis von De nuptiis werden alle Alter-nativen vorgestellt und bewertet

Rein formale Verbindung von Satire und EnzyklopaumldieEventuell laumlsst sich die Mischung aus enzyklopaumldischen und satirischen Ele-menten (mit den zur Satire gehoumlrigen Verspartien) als Sonderform der Varro-Re-zeption bei Martianus auffassenVarro von Reate verfasste sowohl umfangreicheFachliteratur als auch menippeische Satiren Fuumlr beides war er in der Antikebekannt und beruumlhmt ndash doch ist es wahrscheinlich dass Martianus die Werkebereits nicht mehr ndash oder allenfalls nur in Auszuumlgen ndash vorliegen hattesup3⁴⁶ Aus demWissen um die beiden Schaffensbereiche des republikanischen Autors die beideder Unterweisung dienen solltensup3⁴⁷ koumlnnte Martianus auf den Gedanken verfallensein die literarischen Formen und Inhalte in seinem Werk zu verbindensup3⁴⁸Vielleicht saszlig er auch einemMissverstaumlndnis auf indem ermeinte dass Varro seinsatirisches wie enzyklopaumldisches Koumlnnen in nur einem Werk demonstriert habeDies hieszlige jedoch dass Martianus sich der Problematik dieser Verbindung nicht

So aumluszligert sich beispielsweise Kindermann in den Vorstudien seiner Ausgabe der Conso-latio des Laurentius von Durham Er billigt Martianus nur eine sekundaumlre Varro-Kenntnis zu(Kindermann 1969 60) Entschieden verneint wird die Frage von Schievenin (2009f) und Hadotdie vor allem neuplatonische Quellen vermutet (Hadot 2005 149) Schneider jedoch nimmt andass sowohl Augustin als auch Martianus die Disciplinae noch vorliegen hatten (Schneider 1999109 f) und dass die Satiren-Exzerpte des Nonius Marcellus (fl um 400 in Afrika) ebenfalls ausdem Originaltext Varros angefertigt wurden (ibid 96 Anm 12) Abwaumlgend aumluszligert sich Huumlbner2004 passim Vgl Cic ac 1 8 (es spricht Varro)

et tamen in illis veteribus nostris quae Menippum imitati non interpretati quadam hilaritateconspersimus multa admixta ex intima philosophia multa dicta dialectice quae quo faciliusminus docti intellegerent iucunditate quadam ad legendum invitati

Jedoch findet sich in meinen fruumlhen Schriften die ich in kreativer Nachfolge (und nicht nurUumlbersetzung) Menipps mit einer gewissen Heiterkeit benetzt habe vieles aus den Kernbe-reichen der Philosophie beigemengt und vieles das nach Art der Dialektiker gesagt istdamit die weniger Gelehrten es leichter verstuumlnden nachdem sie durch eine Art von Scherzzur Lektuumlre ermuntert worden sind

Vielleicht hatte Martianus diese Stelle sogar im Kopf als er die Anlage von De nuptiis plante So z BWeinreich in der Einleitung zu seiner Uumlbersetzung roumlmischer Satiren bdquoMartianusCapella glaubte gewiszlig ein Varro redivivus zu sein sozusagen die Quintessenz des Gelehrten unddes Satirikersldquo (Weinreich 1962 XCIII) Ebenso Shanzer 1986c 42

144 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

bewusst gewesen sei ndash was ihm sicher nicht gerecht wird Auszligerdem wird so dieBezugnahme auf weitere formale Elemente der menippeischen Tradition und dieuumlbrigen Vorlaumlufer der Gattung mit anderer Konzeption (Lukian Julian) nichtausreichend beruumlcksichtigt

Ebenfalls beim Autor koumlnnte eine zweite Erklaumlrung ansetzen Im Zuge derAbfassung seiner Enzyklopaumldie hat sichMartianus nach horazischer Vorgabe (unddem Beispiel Varros)sup3⁴⁹ um Auflockerung und heitere Elemente bemuumlht Diespontanen Einfaumllle wurden ins Werk integriert und die sich daraus ergebendenInkonsistenzen entweder uumlbersehen oder billigend in Kauf genommen Beideswuumlrde gut zum klassisch negativen Martian-Bild in der Forschung passensup3⁵⁰Abgesehen davon dass Annahmen uumlber das Vorgehen beim Schreiben weitge-hend auf Spekulation beruhensup3⁵sup1 widersprechen drei Beobachtungen dieser Er-klaumlrung Erstens gelingt es Martianus De nuptiis uumlber neun Buumlcher vorauszu-planen so dass am Ende ein ndash zunaumlchst abgesehen von der Satire-Problematik ndashkohaumlrentes Werk entsteht Die Fuumllle der behandelten Themen Motive und lite-rarischen Elemente weist eher auf ein planvolles Arbeiten hin und macht es un-wahrscheinlich dass Martianus Probleme an dieser Stelle nicht wahrgenommenbzw nicht korrigiert haumltte Zweitens ist die Verbindungvon Satire und den anderenElementen nicht nur oberflaumlchlich so dass sie nachtraumlglich eingefuumlgt sein koumlnnteoder sich im Schreibprozess so ergeben haben koumlnnte Da bereits im zweitenKapitel des ersten Buches Satura eingefuumlhrt wirdwar sie von vornherein Teil des

Gemeint ist das beruumlhmte zunaumlchst nur fuumlr die Dichtung relevante prodesse aut delectare(Hor ars 333 f) zu Varro vgl die schon angefuumlhrte Stelle aus Cic ac Vgl z B die sehr bildliche Beschreibung von C S Lewis bdquo[hellip] this universe which hasproduced the bee-orchid and the giraffe has produced nothing stranger than Martianus Capella[hellip] the curiosity shop of his mind [hellip] a chaos beside which the work of Rabelais has unity andthat of Mandeville probabilityldquo (Lewis 1936 78 f) Gleiches gilt fuumlr Spekulationen uumlber eine andere Auffassung von Literatur und ihrenRegeln in Martianusrsquo Zeit oder Umfeld Einerseits kennen wir keine Texte die sich mit De nuptiisvergleichen lieszligen (was per se nichts beweist aber doch Indiziencharakter hat) andererseitshielten sich auch die spaumltantiken Autoren uumlblicherweise an die klassischen Vorgaben Ich teiledaher auch Schneiders Ansicht nicht der die Skepsis an dieser Verbindung allein der modernenLeseerfahrung zuschreibt bdquoWenn den Heutigen diese Kombination der forcierten Gelehrsamkeiteines Curriculums und der spielerisch-saloppen Causerie seltsam beruumlhren mag so waumlre dazuimmerhin schon an ein ciceronisches Dictum zu erinnern non est enim seiunctus iocus a phi-lologia (ad fam 16214) ndash sbquoSpieltrieb und Pedanterie diktieren und widersprechen sich nichtlsquo(sbquoErste Fruumlhschichtlsquo aus Grassrsquo sbquoHundejahrelsquo)ldquo (Schneider 1999 94 Anm 2) Der Verweis aufCicero traumlgt nichts zum Verstaumlndnis von Martianus bei Cicero geht es an der zitierten Stelle umden Ablauf des Tages mit seinem Schuumller der aus ernsteren und heitereren Abschnitten bestehtDaraus folgt nicht dass das Lernen mit Scherz verbunden ist ndash auszligerdem duumlrfte Cicero unteriocus (sbquo[urbaner] Scherzlsquo) anderes verstanden haben als Martianus in seiner Satura bietet

2 De nuptiis als literarisches Werk 145

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Kompositionsplans Drittens hat Schievenin gezeigt dass Martianus keineswegsoberflaumlchlich und eigenwillig arbeitet Durch eine gruumlndliche Untersuchung derSilen-Passage (8 803ndash805) kann er nachweisen dass Martianus ndash wie vieleAutoren vor ihm ndash uumlber ein umfangreiches literarisches Wissen verfuumlgte daraufbei der Abfassung seines Werkes zugreifen konnte und durch gezielte Anspie-lungen neue Bezuumlge herstelltesup3⁵sup2

Satire als Mittel der KritikWaumlhrend die antike Satire (im Gegensatz zur modernen) nicht zwangslaumlufig Kritikan Missstaumlnden uumlben wollte ist diese Moumlglichkeit umgekehrt auch nicht auszu-schlieszligen Martianus koumlnnte also bewusst eine solide Darstellung der Kuumlnste inliterarischem Gewandmit der Gattung der Satire verbunden haben um Zweifel ander Ernsthaftigkeit der uumlbrigen Teile des Werkes zu wecken Er wuumlrde somit einaufklaumlrerisches Interesse verfolgen das zugleich auch unterhaltsame Zuumlge traumlgt

Eine erste Schwierigkeit dieser Lesart von De nuptiis ergibt sich bereits bei derFrage nach dem Objekt der SatireWerden die Wissensinhalte in Zweifel gezogenoder nur die Art ihrer Vermittlung in langen Reden bzwTraktaten Soll der Glaubean die umfassende Einheit des Wissens kritisiert werden oder die Vorstellungsaumlmtliches Wissen lasse sich vermitteln gar kohaumlrent in einem Werksup3⁵sup3 Ist dieVorstellung dass Wissen goumlttlich mache parodiert oder nur die abwegige Vor-stellung dass auf einer Hochzeit solche Reden gehalten werden Oder richtet sichdie Kritik letztlich gegen die Auffassung Philologia als Vorbild zu sehen oder garals Mittlerin alles Wissens ja sogar als Mittlerin zwischen Menschen und Goumlttern

Aus der Tatsache dass das Objekt der Satire keineswegs leicht zu bestimmenist kann nicht gefolgert werden dass in De nuptiis keine Satire vorliege die be-stimmte Sachverhalte kritisiere Aber es kann durchaus gefolgert werden dass eskeine expliziten textinternen Merkmale gibt die das Lesen steuern und den Ge-genstand der Kritik deutlich hervortreten lassen Die Deutungen gehen also vonmodernen Annahmen uumlber das Umfeld bzw die Gedankenwelt von Martianus aus

Im Kern handle es sich um bdquouna narrazione tersa e brillanteldquo verbunden mit einemDickicht an Verweisen Die Silen-Szene habe einen bdquocarattere colto e della dottrina e dellalingualdquo (Schievenin 1984 132) Das Fazit seiner Untersuchung formuliert Schievenin folgen-dermaszligen bdquoIl De nuptiis si rivela dunque opera di vasti orizzonti non solo per lrsquointento dida-scalico che la pervade e che ne determineragrave la fortuna ma anche per la costante presenza nellafabula della tradizione classica e dei suoi echildquo (ibid 136) Vgl zu dieser Stelle auch Bovey2003 275ndash288 ndash Den geschickten Umgang mit mehreren Quellen ndash erzaumlhlerisch wie seman-tisch ndash kann Schievenin auch fuumlr 7 725ndash727 nachweisen (Schievenin 2009e) So z B Relihan 1993 138 bdquoMartianus writes not an encyclopedia but a Menippean satirethat parodies encyclopedic knowledgeldquo

146 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

und weisen zudem meist nicht kleinschrittig auf wie der Interpret zu seiner (oftapodiktisch dargelegten) Ansicht gelangt

Nun folgt daraus noch nicht dass Martianus De nuptiis nicht als kritisierendeSatire konzipiert haumltte die Vielzahl der (wenn auch differierenden) modernenDeutungenweist ja darauf hin Zwei Uumlberlegungenwenn auch keine schlagendenBeweise lassen die Hypothese der parodierenden Satire unwahrscheinlich wer-den der Umfang von De nuptiis und seine Rezeption Eine Satire die beispiels-weise die Verbindung von Weltwissen und menschlicher Vervollkommnung in-frage stellt benoumltigt nicht noch eine umfassende Darlegung eben diesenWissensDies gilt besonders da diese Darlegung den Hauptteil des Werks ausmacht und ndashzumindest dem Umfang nach ndash die uumlbrigen Partien weit uumlberragt Eine Deutungvon De nuptiis als kritischer Satire muumlsste also besonders die Frage beantwortenzu welchem Zweck die umfangreichen Darstellungen der Freien Kuumlnste aufge-nommen sind (und nicht nur angedeutet werden)

Die Rezeption eignet sich zwar ebenfalls nicht zu sicheren Ruumlckschluumlssen aufdie originale Intention eines Werkes haumlufig bietet sie aber interessante EinblickeDie Martianus-Rezeption stellt sich bald ein Cassiodor beruft sich in seinen In-stitutiones auf ihn Dort erscheint Martianus nicht als Satiriker oder Zeitkritikersondern als Gelehrtersup3⁵⁴ In dieser Tradition wird Martianus auch im Mittelaltergelesen und rezipiertsup3⁵⁵

Aumlhnliches laumlsst sich fuumlr Boethiusrsquo Anknuumlpfen an die prosimetrische Form inder Ausgestaltung von Martianus sagen Boethius verfasst zweifelsfrei keine kri-tische Satire kann aber trotzdem an die Form und den Inhalt von De nuptiisproblemlos anknuumlpfen Sowohl der Form nach wie auch durch einzelne Zitatemacht er deutlich dass erDe nuptiis kennt und als eine seiner Vorlagen benutzt Esist zu bezweifeln dass Boethius in seinem Bemuumlhen um eine adaumlquatewerbendeDarstellung der Philosophie auf Form und Zitate des Martianus zuruumlckgegriffenhaumltte haumltte er nicht die Moumlglichkeit der gefahrlosen Uumlbernahme gesehen

Satirische Elemente als Mittel der BelehrungDer dritte Erklaumlrungsansatz fuumlr die Verbindung von Satire und Belehrung be-trachtet die Wahl Saturas als Figur und die Bezugnahme auf die Gattung zunaumlchst

Cassiod inst 2 2 17 Zur mittelalterlichen Martianus-Rezeption vgl bes Nuchelmans 1950 Lutz 1971 und 1976Willis 1973 sowie die Ausgaben und Literatur u a zu folgenden Werken Konrad von MureFabularius Hugo von Sankt Victor Didascalicon de studio legendi Johannes von SalisburyMetalogicon Kindermann kann weiterhin nachweisen dass De nuptiis auch durch seine Forminspirierend gewirkt hat (Kindermann 1969 61 f)

2 De nuptiis als literarisches Werk 147

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

als reine Fortsetzungder literarischen Form Fuumlr diese spezielle Formder Literaturdie menippeische Satire hat der russische Literaturwissenschaftler MichailBachtin Beobachtungen aufgestellt die auch fuumlr De nuptiis zutreffen Durch denRuumlckgriff auf zwei zentrale Konzepte Bachtins das Karnevaleske und die Dialo-gizitaumlt wird ein Verstaumlndnis von De nuptiis ermoumlglicht

Auf der Suche nach Vorlagen und Urformen der Gattung des Romans ins-besondere in der Form von Dostojewskis Romanen stieszlig Bachtin unter anderemauch auf die menippeische Satire die er bis in die Antike zuruumlckverfolgtesup3⁵⁶ Zuihren Vertretern zaumlhlt er unter anderem Varro Apuleius Petron Seneca oderLukiansup3⁵⁷ Martianus Capella wird nicht erwaumlhnt was aber nicht verwundernmuss da Bachtin keine Literaturgeschichte der menippeischen Satire schriebsup3⁵⁸

Kern der Uumlberlegungen Bachtins zurmenippeischen Satire ist das Konzept desKarnevals Unter Karneval versteht er folkloristische Feste waumlhrend deren diebestehende Ordnung verkehrt wird uumlbliche Regeln nicht mehr gelten Herr-schende gestuumlrzt und Machtlose maumlchtig werden ndash auf Zeit Die Karnevalisierungalso die Uumlbernahme der Kennzeichen dieses Festes in neue oder bestehende li-terarische Formen institutionalisiert diese Ausnahmesituation und loumlst sie vomkonkreten Fest Der so entstandene Text wird bdquozum karnevalesken Spiel an demder Autor und sein Publikum einverstaumlndlich teilhaben und das keines kalen-darisch oder institutionell abgesicherten Karnevalsrahmens mehr bedarfldquosup3⁵⁹

Diese Karnevalisierung fuumlhrt unter anderem zu einer Vielstimmigkeit vonMeinungen und Positionen im Text z B durch mehrere Figurenvon denen keinebevorzugt oder gar als autoritativ gekennzeichnet wird In dieser Dialogizitaumlt wirdkein allgemein guumlltiger Sinnmehr vermittelt sondern dieWahrheit suspendiertsup3⁶⁰

Dass der Bezug auf karnevalsartige Feste der Gattung menippeische Satire (inTeilen auch der Verssatire) eignet zeigt ein kurzer Blick auf wichtige Vertreter derTradition

Julians Symposion Caesares spielt zur Zeit der Saturnalien Die Bedeutungdieses Festes fuumlr das Werk wird dadurch verdeutlicht dass es den Handlungs-

Bachtin 1971 126ndash 135 Bachtin 1971 126 128 132f Kritik an den z T pauschalisierenden und verfaumllschenden Aussagen Bachtins uumlber antikeLiteratur oder an der ununterbrochenen Traditionslinie von der Antike bis in die Moderne (z BRelihan 1987 59 Lachmann 2006 23ndash25) muumlsste auch auf manche moderne Literaturwissen-schaftler in der Nachfolge Bachtins angewandt werden (vgl Branham 2005 6 wo es uumlberSenecas Apocolocyntosis heiszligt bdquoour only extant Menippean satire in Latinldquo) Teuber 1993 182 Eine gut verstaumlndliche Einfuumlhrung in das Konzept der Dialogizitaumlt im Sinne der bach-tinschen Terminologie bietet Sharland 2010 Einfuumlhrung (1ndash51)

148 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

rahmen fuumlr den in der Folge erzaumlhlten Mythos bildet Bereits im ersten Satz wirdauf das Fest und die Tradition Heiteres frei zu erzaumlhlen Bezug genommensup3⁶sup1

Auch Senecas Apocolocyntosis stellt einen engen Bezug zum Saturnalienfesther Das Werk spielt zwar nicht an den Saturnalien sondern am Todestag desClaudius im Oktober doch wird an zwei Stellen eine Verbindung zwischen derHerrschaft des verstorbenen Kaisers und den dargestellten Sitten waumlhrend derRegierungszeit mit dem Saturnalienfest gezogensup3⁶sup2 Manche Interpreten gehensogar davon aus dass die Apocolocyntosis an den Saturnalien des Jahres 54vorgetragen wurdesup3⁶sup3 Auch bei Petron und Horaz finden sich Bezugnahmen aufdie Saturnaliensup3⁶⁴

Ein zentrales Element des Saturnalienfestes liegt in der Suspension der uumlb-licherweise geltenden Normen und Wertesup3⁶⁵ Neben den anderen Elementen desFestes wie sie z B in Macrobiusrsquo Saturnalia (1 7ndash 10 1 24 22 f) beschriebenwerden (traditionelle Geschenke Festmahl fuumlr die Sklaven etc) hat gerade dieUmkehrung der Herrschaftsverhaumlltnisse im Haus Niederschlag in der Literaturgefunden

Gerade durch diese Rolleninversion treten einige wichtige gesellschaftlicheNormvorstellungen und Grundannahmen prominent hervor Dazu zaumlhlt das Be-wusstsein dass es eine befehlende und eine ausfuumlhrende Gruppe von Menschengibt oder dass im Prinzip ein Rollenwechsel moumlglich sein kann Alle Beteiligten

Ἐπειδὴ δίδωσιν ὁ θεὸς παίζειν ndash ἔστι γὰρ Κρόνια ndash hellip (sbquoDa der Gott das Scherzen erlaubt ndashes sind ja die Kronia helliplsquo Caes 1 = 306a Spanheim) Zur Frage ob es sich bei Caesares auch umdas Werk handle auf das zu Ende der Rede auf Koumlnig Helios verwiesen wird (Or in Sol reg 44 =157c Spanheim) vgl Muumlller in seiner Uumlbersetzung (39 ablehnend) und Lacombrade im Vorwortseiner Budeacute-Ausgabe (3 und 18 Anm 3) der aufgrund des Handschriftenbefundes Kronia auchals Titelbestandteil fuumlr die Caesares uumlbernimmt Es handelt sich um Sen apocol 8 1 (Claudius als Saturnalienprinz) und 12 2 (Herrschaftdes Claudius als andauerndes Saturnalienfest) ndash Dass Lukian nicht auf die Saturnalien alsRahmen fuumlr seine Werke zuruumlckgreift entwertet die Beobachtungen nicht Lukian musste auf-grund seines Selbstbewusstseins als satirischer Schriftsteller und aufgrund der Menge seinersatirischen Schriften nicht jedes Mal einen eigenen literarischen Rahmen herstellen in demeinzelne Dialoge stattfinden konnten Das Saturnalienfest selbst erscheint bei Lukian als Ge-genstand der Satire nicht als deren literarische Rahmung (Τὰ πρὸς Κρόνον) Zuerst bei Furneaux 1896 23 Anm 11 In der neueren Forschung vgl bes Nauta 1987Kritisch dazu u a Doumlpp 1993 159 f Petron 44 3 58 2 69 9 zu Horaz vgl z B serm 2 7 (libertas Decembris) Ein gelungenesBeispiel der Anpassung und Anwendung der bachtinschen Konzepte mit Ertrag fuumlr die Inter-pretation unter Einbezug von serm 2 7 bietet Sharland 2010 Distelrath 1999 114 Vgl weiterhin Versnel 1993 136ndash227 und Doumlpp 1993 Eine plastischeSchilderung der Rollenvertauschung bei der der Sklave dem Herrn die Leviten liest bietet Horserm 2 7

2 De nuptiis als literarisches Werk 149

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Herren wie Sklaven spielen also mit den Moumlglichkeiten einer alternativen Wirk-lichkeit

Das Besondere im Spiel mit den Moumlglichkeiten liegt aber in seiner zeitlichenBegrenzung Nach der Zeit des Ausnahmezustands gelten wieder die normalenimmer guumlltigen Regeln Die Rolleninversion erlaubt also ndash oder erzwingt gera-dezu ndash das Nachdenken uumlber bestimmte gesellschaftliche Normen und Wertvor-stellungen Durch die Ritualisierung und enge zeitliche Begrenzung ist darausjedoch keineswegs die Notwendigkeit entstanden die Verhaumlltnisse tatsaumlchlich zuhinterfragen oder gar zu aumlndern Daher lassen sich die Saturnalien auch als ein dieKonventionen bestaumlrkendes Fest verstehen Das Spiel mit der Moumlglichkeit eineranderen Gesellschaftsordnung hat durch seine Ritualisierung letztlich eine dieTradition legitimierende Funktion bekommen

In De nuptiis finden sich jedoch houmlchstens spaumlrliche Hinweise auf das Sa-turnalienfest Am ehesten weist das grob scherzende Agieren Saturas in diesenBereich Die bdquolangen Winternaumlchteldquo (1 2) koumlnnten (statt als Bezug auf Gellius) alsAnspielung auf das Saturnalienfest verstandenwerden ndash die Saturnalien finden inden laumlngsten Naumlchten uumlberhaupt statt seit der Kaiserzeit vom 17 bis 23 DezemberDies ndash wie die Spekulation uumlber eine spielerische etymologische Verbindung vonSatura und Saturnaliensup3⁶⁶ ndash ist aber insofern nicht von Belang da die Gattung alsGanze karnevaleske Zuumlge traumlgt und als gewissermaszligen institutionalisierter Kar-neval vom eigentlichen Fest losgeloumlst istsup3⁶⁷

Die Aufhebung der uumlblichen Ordnung (was Teuber im Ruumlckgriff auf Limina-litaumltskonzepte als praumlliminale Phase bezeichnet)sup3⁶⁸ beginnt mit der VorbereitungPhilologias zum Aufstieg in den Himmel Bereits das Erbrechen stellt eine mar-kante Umkehrung der alltaumlglichen Welt dar Statt sich Wissen anzueignen er-bricht Philologia es nun In der Goumltterversammlung auf der Milchstraszlige ist dieOrdnung sodann voumlllig verkehrt Philologia als Meisterin aller Disziplinen und

Zwar sind die einschlaumlgigen etymologischen Woumlrterbuumlcher skeptisch (v a WaldeHof-mann 2007 II 482 neutral ErnoutMeillet 2001 596) jedoch gibt es dahin gehende moderneDeutungen (aufgefuumlhrt bei WaldeHofmann 2007 II 482) und auch antike ParallelisierungenCic nat deor 2 64 Saturnus hellip est appellatus quod saturaretur annis (sbquoSaturn hellip wurde ergenannt weil er an Jahren gesaumlttigt istlsquo) Fulg myth 1 2 (p 17 16) a saturando Saturnus dictusest (sbquoDa er (die Menschen) saumlttigt wurde er Saturn genanntlsquo) Aug cons euang 1 23 35 Sa-turnus tamquam satur hellip νοῦς (sbquoSaturn gleichsam der gesaumlttigte hellip νοῦςlsquo) Vgl auch Gowers diedie etymologischen Verbindungen von satura Satyrspiel und Saturnalien untersucht (Gowers1993 109ndash 117) Sie kommt zu dem Befund dass keine Verbindung bestehe wohl aber verbin-dende Elemente identifiziert werden koumlnnten bdquocarnival licence parody uninhibited mockeryand excessive consumptionldquo (ibid 117) Vgl z B Teuber 1993 183 f Teuber 1993 183

150 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

bedeutende Lehrinstanz muss sich ihrerseits belehren lassen ndash mit dem Wissendas urspruumlnglich ihres war

Durch die Inversion wird die (vielleicht uumlblicherweise nicht prominente)Philologia in den Mittelpunkt geruumlckt und ihre zentrale Rolle im Wissenssystemtritt markant vor Augen Gleichzeitig kann darin eine leise Anfrage an ihre Lehr-autoritaumlt und eventuell auch ihre Eignung zur Lehre gesehen werden

Aufgrund des zeitlich begrenzten Rahmens der Verkehrung (diemit dem Endeder Vortraumlge voruumlber ist aber nicht explizit zuruumlckverwandelt wird) dessen Be-grenztheit durch Bezug auf die Form der menippeischen Satire ergaumlnzt werdenkann wird das System der Bildung und der Bildungsvermittlung jedoch nichtgrundsaumltzlich infrage gestellt Die Suspendierung Philologias ist temporaumlr

Dem Konzept der Dialogizitaumlt oder Mehrstimmigkeit folgend erklaumlrt sich auchdie Doppelung und Verunklarung der Erzaumlhlinstanz In den drei Dialogen indenen Satura und Martianus aufeinandertreffen behandeln sie die Frage desrichtigen Erzaumlhlens Dies beschraumlnkt sich nicht nur auf die Satire sondern umfasstalle auftretenden literarischen Formen Martianus und Satura sind sich uneinswie weit der Mythos reichen soll und ob eine Enzyklopaumldie trocken oder auchunterhaltsam erzaumlhlt werden soll (2 219ndash3 222) ob ein Symposion auch Zechenund Spaszlig vertraumlgt (8 803ndash810) oder ob und wie stark Satire Dinge vermischendarf (9 997ndash 1000)

Die unterschiedlichen Meinungen zu den Fragen werden zwar diskutiert undfuumlhren zu einem Ergebnis ndash der Erzaumlhlfluss versiegt ja an keiner Stelle oder setztneu an Allerdings entsteht in der Folge kein homogenes Werk und am Schlussmag keiner der beiden Erzaumlhler dafuumlr die Verantwortung uumlbernehmen Der Wi-derwillen sich zu dem Werk zu bekennen bedeutet aber gleichzeitig auch dassMartianus sich nicht festlegt welche Position er fuumlr die richtige haumllt Die Fragenach der rechten Art der Wissensvermittlung die auch in der Ent- und Inthroni-sierung Philologias anklang bleibt unbeantwortet

Schlieszliglich bringt der Blick auf die Aurelian-Vita aus der Historia Augustanoch einen weiteren Aspekt ein Parallel zur Aufteilung der Erzaumlhlinstanzen in Denuptiiswird der Erzaumlhlprozess in derHistoria Augusta aufmehrere AutorenverteiltWie zuerst Hermann Dessau und in der Folge Ronald Syme nachdruumlcklich gezeigthaben handelt es sich allerdings um nur einen Verfasser der uumlberdies auch inBezug auf die Abfassungszeit falsche Angaben gemacht hat und Quellen erfundenhatsup3⁶⁹ Insofern laumlsst sich der in der Historia Augusta gepraumlgte Begriff der

Auf den Charakter der Sammlung die Syme u a als bdquohoaxldquo bezeichnet (1983a 11 1983b13 1983c 219) die fingierten Autoren die manipulierten Quellen etc soll an dieser Stelle nurhingewiesen werden Vgl auch Cameron 2011 Kap 20 mit ausfuumlhrlicher Diskussion relevanterFragen

2 De nuptiis als literarisches Werk 151

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mythistoria der Vermischung von Mythischem und Historischem auch auf dieSammlung selbst anwendensup3⁷⁰

Als Menippee im engeren Sinne laumlsst sich weiterhin die Aurelian-Vita die 26Vita der Sammlung fassen und bezeichnenderweise spielt die Rahmenhandlungan denHilariasup3⁷sup1Wie zu den Saturnalien gehoumlren zu diesem Fest Scherze und ndash imRahmen von Maskierungen ndash Rollenwechselsup3⁷sup2

Noch in der rahmenden Einleitung zur Vita spielt sich folgender Dialog ab

1 et quoniam sermo nobis de Trebltellgtio Pollione qui a duobus Philippis usque ad divumClaudium et eius fratrem Quintillum imperatores tam claros quam obscuros memoriaeprodidit in eodem vehiculo fuit adserente Tiberiano quod Pollio multa incuriose multabreviter prodidisset me contra dicente neminem scriptorum quantum ad historiam pertinetnon aliquid esse mentitum prodente quin etiam in quo Livius in quo Sallustius in quoCornelius Tacitus in quo denique Trogus manifestis testibus convincerentur pedibus insententiam transitum faciens ac manum porrigens iocando[m] praeterea sbquoscribelsquo inquit sbquout

quae ille [scil Iunius Cordus] omnia exsequendo libros mythistoriis replevit talia scribendocum omnino rerum vilium aut nulla scribenda sint aut nimis pauca si tamen ex his morespossint animadverti qui re vera sciendi sunt hellip sed ex parte ut ex ea cetera colligantur(SHA Opil 1 5)

Bei der Anfuumlhrung von all diesen Informationen hat er die Buumlcher mit fabuloumlsen Ge-schichten angefuumlllt indem er Dinge von dieser Art schrieb wo doch uumlberhaupt keinenutzlosen Dinge geschrieben werden duumlrfen oder nur sehr wenige sofern daraus Verhal-tensweisen erkannt werden koumlnnen die wirklich wissenswert sind hellip aber zum Teil(schreibe ich) damit daraus das Andere gefolgert werden kann

quid Marius Maximus homo omnium verbosissimus qui et mythist[h]oricis se voluminibusinplicavit num ad istam descriptionem curamque descendit (SHA Quadr tyr 1 2)

Wie Hat sich Marius Maximus der groumlszligte Schwaumltzer vor dem Herrn der sich in seinenmythistorischen Werken verfangen hat etwa zu dieser Art der Darstellung und des sorg-faumlltigen Arbeitens herabgelassen

Hilaribus quibus omnia festa et fieri debere scimus et dici impletis sollemnibus vehiculo suome hellip Iunius Tiberianus accepit (SHA Aurelian 1 1)

An den Hilaria an denen alles zum Fest Gehoumlrende getan und gesagt werden muss wieman weiszlig empfing mich nach Erledigung der Zeremonien Iunius Tiberianus in seinemGefaumlhrt

Pausch bemerkt dieses besondere Datum zwar und erwaumlgt ob es sich um ein bdquoweitergehendesLesesignalldquo beispielsweise im Sinne karnevalesker Literatur handeln koumlnne verfolgt diese Spuraber nicht weiter (Pausch 2011 130 Anm 1) Herodian 1 10 5 ndash Einige Hinweise auf die Hilaria die im Kontext des Magna Mater-Festesam 25 Maumlrz gefeiert wurden bietet Fraser in seinem Kommentar zu Ovids Fasti (Fraser 1929244ndash248)

152 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

libet 2 securus quod velis dices habiturus mendaciorum comites quos historicae elo-quentiae miramur auctoreslsquo (SHA Aurelian 2 1ndash2)

1 Und weil unser Gespraumlch uumlber Trebellius Pollio der von den beiden Philippi bis zumvergoumlttlichten Claudius und dessen Bruder Quintillus gleichermaszligen uumlber beruumlhmte wieunbekannte Kaiser fuumlr die Nachwelt schrieb in derselben Saumlnfte stattfand behauptete erdass Pollio vieles ohne Sorgfalt und nur kurz dargelegt habe Ich erwiderte dass keinSchriftsteller sofern es um die Geschichte gehe nicht irgendwo gelogen habe und legtesodann dar worin sogar Livius Sallust Tacitus schlieszliglich sogar Trogus mit eindeutigenBelegen uumlberfuumlhrt werden koumlnnten Darauf sagte Tiberianus schlieszliglich scherzend indem ermeiner Meinung beipflichtete und mir seine Hand darbot bdquoSchreibe sowie du es fuumlr richtighaumlltst 2 Sage unbesorgt was du willst du wirst diejenigen als Gefaumlhrten fuumlr deine Taumlu-schungen haben die wir als Schoumlpfer historiographischer Beredsamkeit bewundernldquo

So sympathisch dieser Anspruch auch erscheinen mag ist er doch fuumlr das Ver-trauen in die Gattung der Geschichtsschreibung fatal Gerade in der Einleitungeiner Vita jedoch ndash zumal es der Fiktion nach die erste des Flavius Vopiscus Sy-racusius im Corpus der Historia Augusta ist ndash kann eine solche Anekdote ei-gentlich keinen Platz haben Sie erweckt beim Leser den Eindruck dass er dennachfolgend dargebotenen Informationen kein Vertrauen schenken duumlrfesup3⁷sup3

Die Parallelen zwischen der Historia Augusta insbesondere dem Vorgehen inder Vita Aureliani und De nuptiis liegen auf der Hand Verunklarung der Autor-schaft bzw der Erzaumlhlhaltung einerseits Erwecken von Zweifeln an der Glaub-wuumlrdigkeit des Dargebotenen andererseits

In der Historia Augusta sind die Inkongruenzen mit der Freude des Autors amliterarischen Spiel erklaumlrt worden Der Autor habe aus Freude am Fabulieren(vielleicht auchumein dafuumlr empfaumlngliches Publikum zu befriedigen) die Viten indieser Form verfasstsup3⁷⁴ Mag man dies fuumlr die Historia Augusta noch zugestehenderen Text uumlber einen laumlngeren Zeitraum vielleicht zunaumlchst ohne eine Gesamt-konzeption entstanden ist und auch sprachlich nicht herausragt stellt sich derSachverhalt fuumlr Martianusrsquo De nuptiis anders dar Das Werk hat durchaus einenliterarischen Anspruch und es folgt eindeutig einer vorab geplanten Gesamtan-lage Die Freude am Spiel mag vielleicht manches Detail beigesteuert haben fuumlrdie verschraumlnkte Anlage des Textes ist sie aber keine Erklaumlrung

Ganz anders ist der Anspruch zum Ende der Darstellung der Viten der bdquoDreiszligig Tyrannenldquoin dem der Autor beteuert seinem Werk mangele es zwar an literarischer Ausgefeiltheit nichtjedoch an Faktentreue da nunc cuivis libellum non tam diserte quam fideliter scriptum ndash sbquoGibnun dieses Buumlchleinwem du magst es ist nicht so sehr kunstvoll geschrieben wie es sachgetreuistlsquo (SHA Quadr tyr 33 8) Syme nennt dies bdquodeceit for its own sweet sakeldquo (1983c 217) Im gleichen Aufsatz spe-kuliert er auch uumlber das Interesse des Publikums an einer solchen Art von geistigem Spiel(ibid 221)

2 De nuptiis als literarisches Werk 153

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Es lohnt sich jedoch auch fuumlr die Historia Augusta einen Schritt weiter zugehen Ausgangspunkt dafuumlr ist die obige Beobachtungdass das literarische Spielder Historia Augusta nur durchschaut wer die Werke der historischen Literaturkennt Durch die Lektuumlre historiographischer Biographien bringt der Leser einebestimmte Leseerwartung also implizite Vorstellungen mit wie das Werk aus-sehen soll und wird Diese Erwartungen werden aber nicht oder nur teilweisebedient Formal gesehen weisen die Viten in der Historia Augusta zwar die Cha-rakteristika der Gattung auf ndash doch indem sie sie inhaltlich nicht adaumlquat aus-fuumlllen treten deren Konventionen vor Augen

Durch die uumlbermaumlszligige Verwendung falscher Verweise und erfundener Quel-len geraumlt zudem das Beglaubigungsverfahren historischer Texte in den Blick-punkt Der Leser erkennt anwelchen Stellenwelche Beglaubigungsmechanismenansetzen und auf welche Weise sie unterlaufen werden koumlnnen Uumlberspitzt lieszligesich behaupten DieHistoria Augusta verfolgt ein aufklaumlrerisches Interesse indemsie (spielerisch) aufzeigt welche Beglaubigungsverfahren die Geschichtsschrei-bung nutzt und wie sie manipuliert werden koumlnnen dadurch wird auch die Ma-nipulierbarkeit von Geschichte und Leser deutlich

In De nuptiis werden ebenfalls die Konventionen der Einzelgattungen ndash zu-mindest ansatzweise ndash hervorgehoben Dass kein perfektes Musterbeispiel derjeweiligen Einzelgattung entstehen kann liegt darin begruumlndet dass durch dieVerbindung der vier literarischen Genres keine oberflaumlchliche Konsistenz derFiktion entstehen kannVielmehr entstehen Bruumlche die ndash ebenso wie die Bruumlchein der Erzaumlhlhaltung ndash auch die Gattungskonventionen und ihre Annahmendeutlich werden lassen Dies gilt besonders fuumlr die Satire deren Vorgehen imKontrast zur eigentlichen Hochzeitshandlung aus dem Rahmen faumlllt und somitbesonderes Augenmerk erhaumllt Hinzu tritt mit der Figur Satura auch eine Perso-nifikation der Gattung die in theoretischen Diskussionen Annahmen und Vor-gehen mit Martianus eroumlrtert Grunduumlberlegungen der Gattung Satire werden sotheoretisch eroumlrtert und praktisch erprobt Gleiches giltwenn auch zT inwenigerdeutlicher Form auch fuumlr die anderen Formen Die Enzyklopaumldie in ihren langenMonologen wird durch Spott markiert die trockenen Kuumlnste werden probeweisedurch Allegorien zugaumlnglicher gemacht im Symposiondialog wird uumlberlegt in-wieweit uumlbliche Rollenmuster (der Zecher) einen Platz haben oder wie weit mandie fuumlr die Feier typischen Reden fuumlhren kann und immythischen Teil wird durchdie Gegenuumlberstellung mit dem handfesten Wissensbetrieb die Andersartigkeitdes Erzaumlhlens deutlich

So werden neben den Inhalten der Wissenschaften auch verschiedene lite-rarische Formen bewahrt Neben der reinen Anwendung und somit Tradierungwerden gleichzeitig auch die Mechanismen verdeutlicht deren sich die jeweilige

154 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Gattung bedient Somit wird ihr Funktionieren nachvollziehbar und in der Folgeauch nachahmbar

3 Zusammenfassung

Martianus weckt also durch die Wahl mehrerer gleichberechtigter Erzaumlhler diesomit das Erzaumlhlen unzuverlaumlssig werden lassen besonders aber durch dieUumlbernahme satirischer Gattungselemente ein Bewusstsein fuumlr die traditionellenGrundlagen desWissens- und Lehrsystems seiner Zeit ImGegensatz zur Satire diediese Fragen kategorisch stellt handelt es sich in De nuptiis um ein Spiel damitDer Satirebezug dient als Anknuumlpfung an die traditionellen Gattungsmerkmaleder menippeischen Satire Karnevaleske und Dialogizitaumlt

Durch die (temporaumlre) Rolleninversion richtet sich das Augenmerk aufPhilologia als Wissenszentrum und Wissensmittlerin und fordert zum Nach-denken daruumlber heraus Im Kern hinterfragt das Werk alle Bereiche die mit Bil-dung und Bildungsvermittlung zu tun haben Was sind die Inhalte wahrer Bil-dung Gibt es eine Einheit von Bildung Wie kann sie vermittelt werden

Allerdings zielt die Kritik nicht auf eine Aufloumlsung klassischer Bildungsinhalteund Vermittlungsformen Sie regt vielmehr durch Scherz und Bruumlche zumNachdenken uumlber diese Fragen an Dabei verzichtet Martianus auf eigene Vor-schlaumlge und Konzepte und festigt so gleichsam den traditionellen Bildungs-betrieb Das von ihm dargestellte Wissen wird kanonisiert und die Darstel-lungsform in langen Reden wird es auch Die mittelalterliche Rezeption von Denuptiis zeigt dies eindrucksvoll

Wissen umfasst dabei nicht nur das Faktenwissen der Vortraumlge sondern auchdas Wissen um bestimmte literarische Formen Durch die Verbindung von vierGattungen und die Doppelung der Erzaumlhlerfigur mit Reflexion uumlber angemessenesErzaumlhlen entstehen Inkonsistenzen die die Konventionen der einzelnen Gattun-gen hervortreten lassen Nicht alle Elementewerden auf dieseWeise deutlich aberMartianus bietet einen Ansatzpunkt die Fiktion auch unter der Fragestellung zulesen was einen Text der jeweiligen Gattung ausmacht ndash sowohl positiv wie ne-gativ formuliert

Mit seiner kreativen Konzeption und ihrer literarischen Umsetzung gelingt esMartianus eindrucksvoll Heiteres und Belehrendes zu verbindenwomit er an dieTradition Varros und die klassische antike Poetik anknuumlpft Es gelingt ihm daruumlberhinaus aber auchWissen zu vermitteln und die traditionellen Vorstellungen vonder Bedeutung dieses Wissens wie der Form seiner Vermittlung herauszustellenSpielerisch wird also gelehrt und hinterfragt nicht jedoch kategorisch kritisiertoder kuumlhn neu entworfen Gerade dadurch zeichnet sich Martianusrsquo De nuptiis

3 Zusammenfassung 155

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

tatsaumlchlich als nescioquid inopinum intactumque (sbquoetwas Ungewohntes und nochnie Gewagteslsquo 1 2) aus und macht es zu einem der bedeutendsten Buumlcher derSpaumltantike und zu einer interessanten Quelle fuumlr die Frage nach Bildungsvor-stellungen im fuumlnften Jahrhundert

156 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Page 14: Bildungsvorstellungen im 5. Jahrhundert n. Chr. (Macrobius, Martianus Capella und Sidonius Apollinaris) || III Martianus Capella, De nuptiis Philologiae et Mercurii

mindest andeutet (9 902 f) wenn die Ausfuumlhrung auch nicht beschrieben wird(9 996)

Das auffaumllligsteMerkmal sind aber die Reden die gehaltenwerden Sie aumlhnelnzwar nicht dem Inhalt wohl aber der Form nach der monologischen Anlage derSymposiongespraumlche bei Platon oder (stellenweise) Macrobius Ebenso passt derInhalt Bildungswissen an sich zu einem Symposion auch wenn er hier sehrausfuumlhrlich und ohne Ruumlcksicht auf die primaumlren Adressaten die Goumltter prauml-sentiert wird Bei Platon sowie bei Martianus scheint der Inhalt der Gespraumlche imVorfeld noch nicht festzustehen wie die Auswahl der jeweils naumlchsten RednerindurchApoll (3 223 4 328 8 8109 891) bzw Paidia (7 728) oder die Diskussion umden Fortgang der Feier bzw die noch folgenden und auszuschlieszligenden Reden(= Kuumlnste) zu Beginn von Buch 9 zeigtsup2⁹⁸

Die Anordnung der Redebeitraumlge nach steigender Relevanz und die unter-brechungsfreie Praumlsentation der Reden erinnert ebenfalls ans platonische Sym-posion Schlieszliglich nimmt das Spiel mit der Erzaumlhlinstanz (Satura oder Martianus)die verschachtelte Erzaumlhlsituation bei Platon oder Macrobius mit ihren verschie-denen Berichtsebenen auf und formt sie umsup2⁹⁹

Mythisch-allegorische ErzaumlhlungZu den bereits genannten literarischen Vorlagen von De nuptiis tritt ein weiteresElement hinzu dessen Bedeutung und dessen eigene Vorlagen nur schwer zubestimmen sind

Besonders Shanzer weist in ihremKommentar zum ersten Buch vonDe nuptiiswiederholt auf die orphischen gnostischen und philosophisch-religioumlsen Ele-mente in den sehr bildhaften aber streckenweise schwer verstaumlndlichen erstenbeiden Buumlchern hinsup3⁰⁰ Eine umfassende Interpretation des Mythos bietet sie je-doch nicht Vielmehr beschraumlnkt sie sich auf Verweise zur Herkunft einzelnerMotive und auf die Deutung kuumlrzerer Passagen

Kupke kommt bei einer Musterung der verschiedenen mythischen Reminis-zenzen im zweiten Buch von De nuptiis zu der Feststellung dass eine eindeutige

Ein zentraler Unterschied besteht jedoch darin dass die Vortraumlge nicht von den Gaumlstengehalten werden sondern dass die Gaumlste also die Goumltter nur Zuhoumlrer sind waumlhrend die Kuumlnstereden Hierin erinnert De nuptiis eher an Julians Caesares in denen die versammelten Goumltter jaauch wenig sprechen wohl aber die roumlmischen Kaiser die ndash wenn auch um einiges knapper ndashihre Leistungen darstellen Ausfuumlhrlicher dazu im weiter unten folgenden Abschnitt uumlber die Erzaumlhlinstanzen Shanzer 1986c passim

2 De nuptiis als literarisches Werk 127

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

und kohaumlrente Decodierung aller Verweise undAnspielungen nichtmoumlglich seisup3⁰sup1Ihrer Ansicht nach ist es dem modernen Leser nurmehr moumlglich einzelnen Ver-weisen nachzugehen und sie aufzuzeigensup3⁰sup2

Trotz der benannten Schwierigkeiten darf bei allen Fragen nach literarischenVorlagen nicht vergessen werden dass De nuptiis vor allem (aber nicht aus-schlieszliglich) auch ein allegorisches Werk ist Die imposante Schilderung der vierFluumlsse in Buch 1 Apoll auf demParnass-Huumlgel die allegorischen Figuren undvieleweitere Elemente sind nicht nur kreative literarische Erfindungen sondern for-dern zu einer uumlbertragenen Lesart des Werkes auf Besonders die ersten beidenBuumlcher die den Mythos enthalten muumlssen aus diesem Blickwinkel gelesen undverstanden werden

Zu verweisen ist auszligerdem auf die Bezeichnung der Erzaumlhlung als fabula oderfabella Neben der naheliegenden Bedeutung von sbquoErzaumlhlung Geschichtelsquo imallgemeinen Sinn ist sicher auch an die Diskussion um die Berechtigung von fa-bulae in Macrobiusrsquo Somnium-Kommentar zu denken Dort verteidigt Macrobiussowohl Platon als auch Cicero gegen den Vorwurf fiktive Geschichten zu benut-zen um philosophische Wahrheiten zu verkuumlnden In bestimmten Faumlllen seidieses Vorgehen gerechtfertigt solange es sich um wahrhaftige und belehrendeErzaumlhlungen handlesup3⁰sup3 Diese Voraussetzung kann man auch fuumlr De nuptiis alserfuumlllt ansehen Da Martianus zudem dem Neuplatonismus aumlhnlich nahesteht wieMacrobiussup3⁰⁴ ist von einer bewussten Entscheidung zugunsten einer literarischenDarstellung auszugehen

Den einzigen Versuch einer umfassenden Deutung verschiedener Elementedes Mythos und der allegorischen Darstellung hat ndash unter Vernachlaumlssigung ei-niger Details ndash bislang Lenaz unternommen In der ausfuumlhrlichen Einleitungseines Kommentars zum zweiten Buch von De nuptiis untersucht er die philoso-phisch-religioumlsen Motive in diesem Buch und kann Verbindungen zur Myste-

Kupke 1998 154 Kupke 1998 159 Fuumlr den spaumltantiken und den mittelalterlichen Leser glaubt sie jedoch andie Moumlglichkeit der problemlosen Dekodierung Macr somn 1 2 21 vgl oben Anm 45 Gerade die neuplatonischen Elemente von De nuptiis sind verschiedentlich benannt wor-den auch wenn nicht immer eine einheitliche Deutung geboten wird Haumlufig genannt wird derAufstieg Philologias in den Himmel uumlber die Sphaumlrenstufen der mit einer bdquoRuumlckkehr der Seeleldquogleichgesetzt wird (z B Bovey 2003 11 Lenaz 1975 113 vgl auch Guillaumin 2008) Hinge-wiesen wird auch auf die drei Frauen die Merkur nicht heiraten wollen (Sophia Mantike undPsyche 1 6ndash7) und die drei Seelenteile darstellen sollen deren Summe aber letztlich Philologiaist (Lenaz 1975 107ndash 110) Dagegen vertritt Kupke die These die neuplatonischen Elementetruumlgen keine zusaumltzliche Sinnebene bei (Kupke 1998 153) kritisch aumluszligern sich BednařiacutekovaacutePetrovićovaacute 2010 7

128 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

rieninitiation zu platonischen Mysterien chaldaumlischen Orakeln magischenPraktiken und zur Theurgie nachweisen Im Deutungsteil verwirft er die ThesenNuchelmansrsquo und Mathonssup3⁰⁵ als zu kurz greifend Nuchelmans hatte in derHochzeit Philologias und Merkurs (mittelalterlicher Kommentar-Tradition fol-gend) eine Forderung von Martianus nach der Vereinigung von Wissen (Philo-logia) und Rhetorik (Merkur) gesehen Mathons Ansatz fuumlhrte den Verweis auf dieneuplatonische Wieder-Erinnerung und die Ruumlckkehr der Seele in dieses Modellein Ebenso wie bei Nuchelmans werden auch hier nur wenige Elemente desMythos interpretiertsup3⁰⁶

Lenazrsquo eigener Ansatzsup3⁰⁷ folgt den Uumlberlegungen Ferrarinossup3⁰⁸ und ergaumlnzt siemit einigen Hypothesen Im Kern kreise der Mythos des zweiten Buches um einedoppelte Vereinigung die (horizontale) Vereinigung allen irdischen Wissens inPhilologia mit Hilfe von Hymenaeus und die (vertikale) Vereinigung der goumlttlichenund menschlichen Sphaumlre mit Hilfe von Eros Hinzu treten Uumlberlegungen ob essich bei Philologia und Merkur eventuell um nur eine Entitaumlt handle die Seelewelche getrennt worden sei und nun wieder zusammenfinde

Diese Lesart integriert die meisten der mythischen und allegorischen Ele-mente und verbindet sie weitgehend schluumlssig zu einem umfassenden KonzeptAllerdings vernachlaumlssigt sie auch bestimmte EinzelbeobachtungenWieso steigtPhilologia vom Sphaumlrenrand wieder auf die Milchstraszlige hinab (2 200 2 206)Wieso werden ihr auf der Milchstraszlige die irdischen Kuumlnste vorgefuumlhrt die sieerbrechenmusste damit sie in den Himmel aufsteigen konnte (2 135 f)sup3⁰⁹ Bereitsdiese Fragen zeigen deutlich dass eine kohaumlrente plausible Aufloumlsung des Mythosnicht leicht moumlglich ist

Nuchelmans 1950 Mathon 1969 Lenaz 1975 105 Aumlhnliches gilt auch fuumlr Hadots Deutung Sie identifiziert Merkur mit demaumlgyptischen Gott Theuth auf den in De nuptiis 2 102 f angespielt wird und nennt ihn diebdquoPersonifizierung der goumlttlichen Vernunftldquo waumlhrend Philologia die Personifizierung dermenschlichen Vernunftseele in deren idealem Zustand darstelle Die sieben Wissenschaften unddie sieben mantischen Kuumlnste ermoumlglichten es der Seele bdquozu ihrem Ursprung dem intelligiblenBereich oder zu Gottldquo zuruumlckzukehren (Hadot 2009 21 f) Lenaz 1975 106ndash 119 Ferrarino 1969 Dieses Problem entfiele wenn man annaumlhme dass Martianus die Erzaumlhlung nur auf dieersten zwei Buumlcher angelegt habe und erst danach die Moumlglichkeit einer Verbindung mit der inden Buumlchern 3 bis 9 folgenden Enzyklopaumldie erkannt habe Dafuumlr gibt es zwar Hinweise (bes dieDiskussion um die FiktionalitaumltUnterhaltung) am Ende von Buch 2 und zu Beginn von Buch 3doch duumlrfte man annehmen dass Martianus den Grundkonflikt von zuruumlckgelassenem Wissenund erneut geschenktem Wissen erkannt und behoben haumltte

2 De nuptiis als literarisches Werk 129

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Weiterhin uumlberbetont der Versuch den Mythos allein aus sich heraus zu er-klaumlren den Stellenwert des zweiten Buches im Gesamtwerk Als Interpretations-rahmen zwar wichtig tritt er bei fortschreitender Lektuumlre hinter die praktischeDarstellung der sieben Kuumlnste zuruumlck Diese nehmen nicht nur mehr Raum einsondern uumlberlagern die Darstellung im zweiten Buch und reduzieren somit auchderen Bedeutung Der Mythos ist also einwichtiger keineswegs jedoch der einzigeBestandteil von De nuptiis

Menippeische SatireDas auffaumllligste literarische Kompositionselement von De nuptiis ist jedochzweifellos die Wahl des Prosimetrums die Mischung von Prosapartien mit me-trischen Einheiten Der uumlberwiegende Teil des Werks ist in Prosa gehalten inwelchen 33sup3sup1⁰ metrische Partien eingelegt sind Dabei sind die Gedichte nichtregelmaumlszligig uumlber das gesamte Werk verteilt sie finden sich uumlberwiegend an ex-ponierten Stellen besonders an den Buchanfaumlngen und Buchenden Bei denmetrischen Partien innerhalb eines Buches handelt es sich fast ausschlieszliglich umGoumltterreden

Die beobachtete unregelmaumlszligige Verteilung der metrischen Partien unter-scheidet sich deutlich von der Gestaltung wie sie Boethius wenige Jahrzehntespaumlter inDe consolatione Philosophiae einsetzt Dort sind diemetrischen Partien inHinblick auf die Gesamttextmenge haumlufiger und zudem gleichmaumlszligiger verteiltsup3sup1sup1

Damit haumlngt zusammen dass auch die literarisch-argumentative Funktion dermetrischen Teile z T von derjenigen bei Boethius abweicht Bei Boethius stehendie Gedichte im Argumentationszusammenhang und fuumlhren Gedanken fort oderbuumlndeln sie in praumlgnanter Ausdrucksweisesup3sup1sup2 Ein gutes Beispiel dafuumlr ist eine

Die Zaumlhlung umfasst die zusammenhaumlngenden metrischen Partien und zaumlhlt auch Ge-dichte mit unterschiedlichem Versmaszlig (z B die Gedichte der Musen) als eine Partie Vgl dazu besonders OrsquoDaly 1991 Kap 1 (bdquoThe poetics of the Consolationldquo) darin 19ndash22 zuMartianus Sprachliche Parallelen sind zusammengestellt im Index der Boethius-Ausgabe vonBieler (CCSL 94 116) diskutiert werden sie bei Pabst 1994 163ndash 168 Da Boethius das Werk desMartianus kannte kann man von einer gelungeneren Ausdifferenzierung der Ansaumltze des Mar-tianus sprechen Der Vergleich des Einsatzes der prosimetrischen Form bei Boethius gewinntdadurch an Gewicht Eine Mischung von Prosa und Poesie findet sich weiterhin bei Fulgentius inden Mythologiae ndash Zu Parallelen in den Werkanfaumlngen bei Martianus Fulgentius und Boethiusvgl Klingner 1921 114 Pabst 1994 der Fulgentiusrsquo Vorgehen durchaus als bdquoimitatio Martianaldquoversteht (162 134ndash 137) fuumlr Boethius in Martianus allerdings nur eine Quelle sieht bdquoThey contribute to the argument as it proceeds yet take a wider view with an authorityoutside and above the adjacent prose They possess their own thematic design which spans theentire workldquo (Crabbe 1981 260) bdquoDie Metra bilden Ruhe- und Houmlhepunkte im Werk haumlufig

130 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Stelle zu Beginn des vierten Buches Nachdem zunaumlchst allgemein erlaumlutert wirddass die Weisen vermoumlgen was sie wollen die Schlechten jedoch nicht(cons 4 1 131ndash140) folgt in Versen eine Reihe plastischer Beispiele fuumlr die These(cons 4 carm 2) bevor der Gedanke fortgesponnen wird (cons 4 3 1ndash4)

An anderen Stellen uumlbernehmen die metrischen Partien eine Gliederungs-funktion indem sie Gedanken abschlieszligen und durch die Unterbrechung Zeit zurErholung bieten So sagt Philosophia zu ihrem Schuumller Boethius

bdquosed uideo te iam dudum et pondere quaestionis oneratum et rationis prolixitate fatigatumaliquam carminis exspectare dulcedinem accipe igitur haustum quo refectus firmior inulteriora contendasldquo (Boeth cons 4 6 200‐203)

bdquoAber ich sehe dass du bereits vom Gewicht der Untersuchung belastet und von der Breiteder Beweisfuumlhrung erschoumlpft auf die suumlszlige Erholung eines Liedes wartest nimm also denTrank damit du solchermaszligen erfrischt kraumlftiger zu den weiteren Themen eilen kannstldquo

In dieser zweiten Funktion setzt auch Martianus die metrischen Partien ein Dabeisind sie nicht in die Prosadarstellung eingeschoben sondern markieren fastausschlieszliglich die Buchanfaumlnge und Buchenden Explizites Ziel ist die Belebungdes Werkes um eine angenehme Lektuumlre zu erleichternsup3sup1sup3 Dies widersprichtMartianusrsquoAnkuumlndigung nach der hinleitenden Erzaumlhlung in denBuumlchern 1 und 2keine fiktionalen Erzaumlhlungen mehr einfuumlgen zu wollen die Darstellung solleernst und dem Gegenstand angemessen sein

nunc ergo mythos terminatur infiuntartes libelli qui sequentes asserentnam fruge vera omne fictum dimoventet disciplinas annotabunt sobriaspro parte multa nec vetabunt ludicra (2 220)

Nun also hat der Mythos sein Ende erreicht es beginnen die Buumlcher die die nun anschlie-szligenden Kuumlnste darbieten Denn mit wahrhaftiger Ernte entfernen sie alles Erdichtete undzeichnen die Kuumlnste nuumlchtern auf verbieten jedoch nicht gelegentliche Unterhaltung

stehen sie am Ende von Einzelabschnitten wo sie diese dann rekapitulieren und fuumlr densbquoSchuumllerlsquo zusammenfassen Bisweilen kommt ihnen auch eine Uumlberleitungsfunktion zuldquo (Kin-dermann 1969 63) ndash Zur Gattung allgemein allerdings mit besonderem Fokus auf die mittel-alterliche Literatur vgl Pabst 1994 bes 105ndash 133 zum Prosimetrum bei Martianus und 158ndash 195bei Boethius sowie Dronke 1994 bes Kap 2 (bdquoAllegory and the mixed formldquo) So auch McDonough der im Kapitel bdquoThe function of the poetryldquo zu Recht (aber zu kurzgreifend) formuliert bdquoIn undertaking the compilation of his encyclopedia the main challenge toMartianus lay in maintaining the interest of his readers (and himself) in making palatable thearid factual account of the various disciplinesldquo (McDonough 1968 37)

2 De nuptiis als literarisches Werk 131

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Scheint es an dieser Stelle so als ob Mythos und Heiteres getrennte Dinge waumlrenzeigt der unmittelbare Fortgang zu Beginn von Buch 3 dass beide Begriffe letztlichAumlhnliches bezeichnen Hier am Beginn der Schilderung der freien Kuumlnste(3 221 f) erlaumlutert Martianus in einem weiteren Gedicht das als Dialog gestaltetist warum er von seinem Plan abweicht

Camena bringt Schmuck fuumlr das Werk mit (amicta fictis commenta ferre) AufMartianusrsquo Einwand keine Mythen mehr vorbringen zu wollen (mythi pulsi) er-widert sie es gehe nicht um Luumlge (nil mentiamur) sondern um Einkleidung(vestiantur Artes) ndash man koumlnne die Brautjungfern also die Allegorien der freienKuumlnste doch nicht nackt vorfuumlhren Daraufhin gibt sich Martianus geschlagenund die Handlung von Buch 3 beginnt

Abgesehen von der unterhaltenden Funktion die besonders durch die Ge-dichte an den Buchenden gewaumlhrleistet wird scheinen die metrischen Passagenfuumlr viele Forscher wahllos in das Werk eingestreut Typisch ist eine Aussage wieCrabbe sie trifft bdquoMartianus uses verse frequently at the beginning sometimes atthe end of books and erratically throughoutldquosup3sup1⁴

Natuumlrlich kann von einer systematischen Verteilung und einer argumenta-tionslogischen Anordnung wie bei Boethius nicht gesprochen werden Bei ge-nauerem Hinsehen wird jedoch deutlich dass die metrischen Abschnitte nichtwillkuumlrlich uumlber das Werk verstreut sindsup3sup1⁵

Die meisten metrischen Passagen finden sich in den Buumlchern 1 und 2 von Denuptiis Diese Buumlcher enthalten die einleitende Handlung die als fiktionale Er-zaumlhlung dargeboten wird Im Bericht von der Suche Merkurs nach der richtigenEhefrau und von Philologias Aufstieg in den Himmel finden sich neun metrischePassagen Es handelt sich dabei bis auf die drei Faumllle der an den Buchanfaumlngen(Buch 1) und Buchenden (Buch 1 und 2) stehenden Gedichte um Reden vonGoumlttern Diese fuumlhren die Handlung fort und dienen also nicht der Buumlndelung derGedanken oder der Erholung des Lesers Stattdessen scheint es Martianus darumzu gehen das Sprechen der Goumltter durch die metrische Gebundenheit als be-

Crabbe 1981 264 Eine Typisierung die z T von der Position der metrischen Passagenlosgeloumlst ist bietet McDonough seiner Ansicht nach sind die metrischen Partien hauptsaumlchlichfunktional bdquoThe poetry thus is primarily functional although this function varies from book tobookldquo (McDonough 1968 38) Als Funktionen benennt er fuumlr Buch 1 Handlungsfortfuumlhrung fuumlrBuch 2 Schmuck fuumlr Buch 3 Belehrung fuumlr den Rest Einfuumlhrung oder Entlassung derBrautjungfern oder Unmut uumlber Verzoumlgerung der Hochzeit Der Rest seien bdquooccasional piecesldquo(ibid 40) ndash Verspartien finden sich am Anfang der Buumlcher 1 2 3 4 5 6 7 und 9 sowie am Endeder Buumlcher 2 4 5 7 und 9 Die ungleiche Verwendung der Metra bei Boethius und Martianus laumlsst sich am besten alsEntwicklung verstehen wie es beispielsweise Kindermann (1969 60) tut Zur Kenntnis desMartianus bei Boethius vgl oben Anm 311

132 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

sonders zu markieren Dies gilt vor allem fuumlr markante Szenen zum Beispiel dieRede Jupiters in der Goumltterversammlung gegen Ende des ersten Buches (1 91ndash93)oder die orakelartige Auskunft Apolls (1 21 f)

Diese Beobachtung gilt daruumlber hinaus ebenso fuumlr die genannten Stellen inBuch 9 auch wenn es sich dort nicht um die Vorgeschichte oder einen weiterenliterarischen Rahmen handelt Jedoch ist eine Szene mit Goumlttergespraumlchen ein-geschoben in der die Goumltter unter anderem auch Verse verwenden Durch dieseReden in metrisch gebundener Form soll den entsprechenden Buumlchern also einehoumlhere Wuumlrde verliehen werden

Einen zweiten Fall stellen die Gedichte zu Beginn oder zu Ende eines Buchesin den Buumlchern 3 bis 9 dar In diesen Buumlchern praumlsentieren die Freien Kuumlnste ingeschlossenem Vortrag die Inhalte ihrer Wissenschaft Die Gedichte in einigenFaumlllen in auktorialer Erzaumlhlhaltung gestaltet uumlberbruumlcken die Fuge zwischen denBuumlchern und bieten eine Pause zwischen den langen Vortragspartien der Leserkann sich erholen Die Inhalte der Verspartien sind unterschiedlich es handeltsich zumeist um den Ein- oder Auszug einer Brautjungfer (4 327 4 423 f 8 8028 808 9 911ndash919) um die Fortfuumlhrung der Hochzeitshandlung (5 425 8 8059 888) um die Anrufung eines Gottes (6 567ndash574) oder um eine Wendung desAutors an den Leser (5 566 9 997ndash 1000)

Dieser Einsatz der Verspartien ist jedoch noch keine hinreichende Erklaumlrungfuumlr die Wahl des Prosimetrums Sie erklaumlrt sich besonders dadurch dass Marti-anus auf diese Weise sein Werk in die Traditionslinie von Texten einreiht die alsmenippeische Satiren bezeichnet werdensup3sup1⁶

Charakteristisch fuumlr diese spezielle Form der roumlmischen Satire ist der Wechselvon metrischen und prosaischen Partiensup3sup1⁷ Klassische lateinischsprachige Ver-treter der menippeischen Satire sind Varro (Saturae Menippeae) Seneca (Apo-colocyntosis) und Petron (Satyrikon) in der griechischen Literatur nutzen Lukianund Julian (Caesares) diese Form Inhaltlich lassen sich nur wenige Verbindungenzwischen den Werken ziehen und auch die Umsetzung der formalen Elemente istunterschiedlich Dies fuumlhrt sogar so weit dass sich moderne Forscher trotz derbereits antik bezeugten Bezeichnungder Gattung teilweise auszligerstande sehen dieGattung genauer zu definieren oder dass sie ihre Fragestellung losgeloumlst von derGattungstradition verfolgensup3sup1⁸ Dies macht die Verortung von De nuptiis in diesemGenre nicht leichter

Zur menippeischen Satire vgl Relihan 1993 Coffey 1996 Im Gegensatz dazu beschraumlnkt sich die Verssatire seit Horaz auf die Verwendung desHexameters So betont Scheible im Vorwort ihrer Studie zu den Gedichten in Boethiusrsquo de consolationedass sie Vorgaben der Tradition in Hinblick auf die Gedichte nicht beruumlcksichtige ndash sie lieszligen

2 De nuptiis als literarisches Werk 133

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Gelegentlich wird sogar die These vertreten dass sich das satirische ElementinDe nuptiis in dieser formalen Verbindung von Prosaund Poesie erschoumlpfesup3sup1⁹DerGattungsbegriff sbquomenippeische Satirelsquo waumlre dann identisch mit der BezeichnungsbquoProsimetrumlsquo Dem widersprechen jedoch verschiedene Beobachtungen derRuumlckgriff auf die Etymologie des Wortes satura die Bezugnahme auf Vertreter derGattung und das Auftreten einer Figur namens Satura sowie deren Agieren dasuumlber die rein formale aumluszligerliche Satireform hinausweist schlieszliglich die beson-dere Gestaltung der Erzaumlhlsituation Diese vier Elemente sollen im Folgendenherausgearbeitet werden

Etymologie ndash Dass Martianus sein Werk sehr wohl als Satire verstanden wissenwill wird an verschiedenen Stellen deutlich Dies geschieht zum Beispiel durchgelehrte Anspielungen auf die Terminologie der antiken Satire an prominenterStelle So heiszligt es in 9 998

[Satura] haec quippe loquax docta doctis aggeransfandis tacenda farcinat immiscuitMusas deosque disciplinas cyclicasgarrire agresti cruda finxit plasmate

So haumluft sie plappernd Gelehrtes auf Gelehrtes und stopft geheimes und bekanntes Wissenzusammen hatMusenundGoumltter vermischt undhat sich erdacht dass die enzyklopaumldischenDisziplinen in einem baumlurischen Machwerk unreifes Zeug daherplappern

Die Woumlrter farcinat und immiscuit verweisen auf das Zusammenstopfen undVermischen verschiedener Zutaten z B in einer Wurst oder Pastete Gleiches giltfuumlr die Woumlrtermiscillo und aggeranssup3sup2⁰ Ausgangspunkt fuumlr diese Terminologie istdie Etymologie desWortes sbquoSatirelsquo an sich bedeutet urspruumlnglich etwaswie sbquobunteMischunglsquosup3sup2sup1 Traditionell sind Anspielungen auf diese Etymologie in der satiri-

sich nicht feststellen (Scheible 1972 8) Vorhandene Untersuchungen beschreiben in der Regeldie Konstituenten der einzelnen Werke Aufgrund der geringen Zahl uumlberlieferter Werke und dergroszligen Unterschiede zwischen ihnen ist es jedoch schwierig die typischen Elemente der Gat-tung zu benennen Auch diese Arbeit schlieszligt sich dem beschreibenden Vorgehen an undvergleicht an einschlaumlgigen Stellen inwieweit die Beobachtungen auch fuumlr die Gattung typischsind So z B Coffey der die Mischung aus Prosa und Poesie bei Martianus als bdquomiscellanyldquobezeichnet und vor einer Verbindung von De nuptiis mit der Satire als problematisch warnt(Coffey 1996 959) Vgl Relihan 1993 14 ErnoutMeillet s v satur -ra -rum (2001 596) WaldeHofmann s v satura (2007 II482f) Der zentrale Hinweis auf eine Ableitung des Wortes aus dem kulinarischen Bereich findet

134 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

schen Literatur selten Allein in Juvenal findet sich ein Hinweis darauf gleichwohlmit leicht anderem Verstaumlndnis Er betrachtet die Zusammenstellung der Satirenals farrago also als Mischgericht nicht die einzelne Satiresup3sup2sup2

In diesen sehr bildlichen Wendungen trifft Martianus gleichzeitig eine Aus-sage uumlber sein Verstaumlndnis der Darstellung von Bildungswissen Bei ihm gibt eskeine vorverdauten und mundgerecht aufbereiteten Wissenspaumlckchen (wie Ma-crobius sie bietet)sup3sup2sup3 sondern rohe Kost (cruda) die ihre Zutaten d h die lite-rarischen oder inhaltlichen Urspruumlnge nicht leugnet LeMoine formuliert prauml-gnant bdquoBy calling attention to the literary functions these metaphors fulfillMartianus hellip raises questions about the principles of seamless synthesis andverbal regurgitation which Macrobius so effectively demonstratesldquosup3sup2⁴

Dass Martianus durch diese Art der Darstellung seine Autoritaumlt infrage stelle(bdquohellip reveal doubts about the competence of the cook and the quality of the edu-cational feastldquo)sup3sup2⁵ laumlsst sich jedoch nicht erkennen Schlieszliglich benennt er seinVorgehen explizit (scheitert also nicht an einem gesteckten Plan) und bietetgleichzeitig mit der Kritik an der klassischen Form der Wissensvermittlung eineMoumlglichkeit an wie nicht-vereinheitlichte Wissensvermittlung aussehen kannBeeintraumlchtigungen des Vertrauens zum Erzaumlhler und zu den Inhalten gibt esallerdings ndash jedoch aufgrund anderer Faktorensup3sup2⁶

Bezug auf andere Satiriker ndash Neben den Anspielungen auf die Etymologie derGattung Satire treten explizite Bezuumlge auf andere Autoren menippeischer Satirenauf Namentlich wird jedoch keiner der Vorgaumlnger genannt die Nennung Varroserfolgt ausschlieszliglich in den Vortraumlgen der Brautjungfern und bezieht sichuumlberwiegend auf Varros fachschriftstellerische Werke oder seinen Ruf als Enzy-klopaumldistsup3sup2⁷

sich beim Grammatiker Diomedes (Grammatici Latini 1 485) Ausgehend von dieser Passageeroumlrtert Petersmann die Etymologie mit besonderer Beruumlcksichtigung des Ursprungs des Wortessatura aus dem Kuumlchenbereich (Petersmann 1986) Iuv 1 86 nostri farrago libelli Vgl die Kommentare Morton Braund 1996 95 f undCourtney 1980 103 Vgl die Gleichnisse in der praefatio zu den Saturnalia (Sat praef 5ndash9) und die Ausfuumlh-rungen in Kap II1 sowie die dort aufgefuumlhrte Literatur LeMoine 1991 360 ibid S u die Abschnitte bdquoErzaumlhlinstanzenldquo und bdquoDeutungen der komplexen literarischen Formldquo 4 335 (die Gelehrsamkeit Varros vgl Cic ac 1 9 Aug civ 6 2) 5 517 (Nennung in einemZitat) 6 639 und 6 662 (Fragen der Geographie die Varro-Vorlage ist nicht bekannt) 9 928 (cfVarro rust 3 17 4) Vgl zum Verhaumlltnis von Martianus und Varro bes Bovey 2003 Kap 2 (bdquoLaquestion varronienneldquo) und Schievenin 2009f

2 De nuptiis als literarisches Werk 135

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Allerdings zitiert die Wendung ὄνος λύρας in 8 807 den Titel einer menip-peischen Satire Varrossup3sup2⁸ Die Wendung ist in der lateinischen Literatur ander-weitig nicht belegt weshalb davon auszugehen ist dass Martianus hier auf denrepublikanischen Satiriker direkt zuruumlckgriff Da die Wendung zudem im Streit-gespraumlch zwischenMartianus und Satura uumlber die angemessene Art des Erzaumlhlensder Geschichte faumlllt kommt ihrer Verwendung eine programmatische Aussage zuMartianus stellt sich und sein Werk also in die Nachfolge Varros und seiner Sa-tiren

Ein Bezug auf Lukian ist weniger sicher nachzuweisensup3sup2⁹ Allerdings gibt eseine motivische Uumlbernahme im zweiten Buch von De nuptiis Philologias Erbre-chen des Wissens das der Hochzeit vorausgeht hat eine Parallele in LukiansDialog Lexiphanes Der allzu (ein)gebildete Lexiphanes nimmt auf Draumlngen vonLycinus ein Brechmittel ein das ihm der Arzt Sopolis gibt Daraufhin erbricht eralle Woumlrter die er gelernt hat dies ist die Voraussetzung dafuumlr dass er nun an-gemessen belehrt werden kannsup3sup3⁰

Es handelt sich um die Fragmente Varro Men 348ndash369 In Fragment 349 findet sich dieWendung auch im Vers (si quis μελωδεῖν est ὄνος λύρας praesepibus se retineat forensibus ndashsbquower beim Gesang wiersquon Esel an der Harfe bloumld der bleib getrost im Stallmief seines Forumsdortlsquo [Uumlbs Krenkel]) Die Bezugnahme auf Varro ist umso wahrscheinlicher da Satura unmit-telbar zuvor sowohl Martianusrsquo berufliche Aufenthalte auf dem Forum erwaumlhnt und ein Wort-spiel mit seinem Namen Capella angestellt hat ndash der zwar nicht sbquoEsellsquo bedeutet wohl aber einHaustier (sbquoZiegelsquo)Vgl dazu Shanzer 1968c 38ndash40 Shanzer 1986a kritisch dazu Pabst 1994 168(m Lit) Folgt man Bovey handelt es sich bei der unmittelbar folgenden Wendung καιρὸν γνῶθιum einen weiteren Verweis auf den Titel einer Varro-Satire γνῶθι σεαυτόν (= Varr Men 199ndash210 vgl Bovey 2003 282ndash284) Naumlher liegt wohl dass Martianus Capella diese eigenstaumlndigeSentenz (vgl Diogenes Laertios I 79 der sie als Sentenz des Pittakos ausweist) aus einer anderenQuelle uumlbernommen hat Kindermann 1969 60 Shanzer geht davon aus dass Martianus Lukian kannte (Shanzer1986c 36) Zur Diskussion um Martianusrsquo Griechischkenntnisse vgl Cristante 2009 [5] undShanzer 1986c 4 die beide annehmen dass Martianus durchaus Griechisch beherrschteShanzer weist einige Stellen auf an denen Martianus woumlrtlich uumlbersetzt und schlieszligt aus derBeherrschung des Griechischen zu Recht auf einen gebildeten moumlglicherweise sogar akade-mischen Hintergrund von Martianus Lucian Lex 20f Andere antike Texte die das Erbrechen von Wissen als Teil des Reini-gungsprozesses beschreiben oder als Bild tradieren sind mir nicht bekannt Daher ist eswahrscheinlicher dass Martianus auf Lukian im Original zuruumlckgegriffen hat Zur vor-byzantinischen Rezeption Lukians vgl Nesselrath 1994 der spaumltantike Bezuumlge auf Lukian u abei Julian und Claudian aufzeigt ndash Einen Bezug auf Lukians Concilium deorum fuumlr moumlglich haumlltKrapinger 1999 962 ndash Anders gelagert sind Lucian cont 7 und Aug in Joh ev tract 36 1 Dortgeht es darum dass durch das Ausspeien Wissen weitergegeben wird was zum Bild der daserbrochene Wissen aufsammelnden Artes passt nicht jedoch zum Motiv der Reinigung

136 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Bezuumlge auszligerhalb der Uumlbernahme uumlblicher Gattungselemente lassen sich fuumlrSenecas Apocolocyntosis Petrons Satyricon oder Julians Caesares nicht konsta-tierensup3sup3sup1

Die Figur der Satura und ihr Handeln ndash Einer der deutlichsten Hinweise auf dieForm der Satire liegt im Auftreten einer Figur namens Satura Diese Figur wirdzunaumlchst von Martianus als Erzaumlhlinstanz eingefuumlhrt (1 2) von der er den Inhaltvon De nuptiis erfahren haben will Im Laufe des Werks gewinnt Satura aber anProfil und agiert zunehmend autonom

Aussagen uumlber Satura beruhen letztlich auf drei Stellen in De nuptiis (6 576ndash5798 806ndash8109997ndash999) und koumlnnen fast ausschlieszliglich aus der Formund derBotschaft ihrer eigenen Aumluszligerungen gewonnen werden An allen drei Stellendiskutiert Satura mit Martianus Ansonsten ist Satura zwar als praumlsent zu denkenwird aber nicht weiter thematisiert

Nach Martianusrsquo Anrufung Minervas zu Beginn des sechsten Buches mischtsich Satura in seine Uumlberlegungen ein welche Frauen er vor sich sehe Die Ein-mischung wird von Martianus als scherzend bezeichnet (iocabunda 6 576) dieEinmischung an sich als typisch fuumlr das Scherzen Saturas (ut lepidula est 6 576)Die Aumluszligerung Saturas beginnt mit Spott uumlber Martianusrsquo nur scheinbare KlugheitDurch falsche naumlchtliche Studien und besonders seine Anwaltstaumltigkeit habe erden Blick auf das Wichtige verloren und erkenne nun nicht einmal mehr Philo-sophia und Paideia Der Scherz wird jedoch alsbald von einem belehrendenTonfall abgeloumlst in dem Satura Martianus uumlber das Wesen der beiden Frauenaufklaumlrt

Satura tritt als Naumlchstes zu Beginn des achten Buches auf in der Folge derSilen-Szene Der angetrunkene Silen war eingeschlafen und durch Amor aufge-schreckt worden was die uumlbrigen Goumltter laut lachen lieszlig (8 803ndash805) DieseSchilderung provoziert bei SaturaWiderspruch da sie das Erzaumlhlte als unpassendfuumlr die Goumltterversammlung empfindet Ihre Kritik beginnt wieder bei der Persondes Martianus dessen Namen sie als passend zu seinem Wesen deutet (Capella ~sbquoZiegelsquo 8 806) Sodann fordert sie Martianus auf seine Possen zu unterlassenMartianus fuumlhlt sich gehoumlrig von Satura gemaszligregelt und gibt klein bei bemerktaber dass sie ansonsten mehr von Scherzen halte (alioquin lepidula 8 807) AlsSatura dann die Einfuumlhrungder eintretenden Brautjungfer in Versenvorbringt undMartianus wiederum seine Scherze (ludicra 8 808) vorhaumllt kann dieser nicht

Mit Julian verbindet Martianus immerhin die Ansiedlung der Goumltterversammlung auf derMilchstraszlige ndash Zur Rolle der Saturnalien vgl den Abschnitt bdquoDeutungen der komplexen litera-rischen Formldquo

2 De nuptiis als literarisches Werk 137

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mehr an sich halten und zahlt Satura ihre Kritik in gleicher Muumlnze heim Nacheinigem Spott uumlber Saturas Verse verteidigt nun Martianus das Recht auf Scherzgegen sie die an sich ndash nicht aber in De nuptiiswie es scheint ndash eigentlich fuumlr denScherz zustaumlndig waumlre und gibt ihr mit Martial (2 41 1) den Rat auch einmal zulachensup3sup3sup2

Ein letzter Schlagabtausch von Satura und Martianus erfolgt schlieszliglich amEnde des Werkes Wiederum streiten beide Figuren miteinander und halten sichmit Spott uumlber das Wesen des anderen nicht zuruumlck

Die Einfuumlhrung Saturas die ja nur in Verbindung ndash und das heiszligt Ausein-andersetzung ndash mit Martianus erscheint dient vornehmlich der deutlichenBenennung der Gattung und der Verstaumlndigung daruumlberwas den Charakter einessatirischen bzw des vorliegenden Werkes ausmache Erstaunlich ist dabei Mar-tianusrsquo Entwicklung der sich zunaumlchst gegen Unterhaltung im artes-Teil ausge-sprochen hatte diese spaumlter aber gegen den censorischen Eingriff Saturas imachten Buch verteidigt Noch erstaunlicher ist aber dass es gerade Satura ist diezur Beachtung des Decorums auffordert und Martianusrsquo vergleichsweise mildenScherz scharf tadelt

Erzaumlhlinstanzen ndash Die Frage nach der Erzaumlhlsituation bzw der Erzaumlhlerfigurgehoumlrt zu den grundlegenden Analysekriterien eines literarischenWerkes ebensowie die Konzipierung von Raumund Zeit Lassen sich die letzten beiden Punkte imHinblick auf De nuptiis hinreichend klaumlrensup3sup3sup3 so bietet die Erzaumlhlerfigur groumlszligereSchwierigkeiten

DassDe nuptiis zwei Erzaumlhlinstanzen hat scheint zu Beginn desWerkeswenigdramatisch In 1 2 verweist der Erzaumlhler Martianus gegenuumlber seinem Sohn dar-auf dass die folgende Geschichte (also der uumlberwiegende Teil von De nuptiis) ihm

Ride si sapis o puella ride Schievenin bietet eine gruumlndliche Analyse dieser Stelle auchmit Blick auf die inverse Vorlage Martials (plora si sapis o puella plora Mart 2 41) derwiederum auf Ovid (Ov ars 3 281 f) zuruumlckgreift (Schievenin 1984 bes 136 ausfuumlhrlich auchBovey 2003 275ndash288) Die Rahmenhandlung spielt in der erzaumlhlerischen Gegenwart und in einem unbestimmtenRaum der jedoch nicht auszligergewoumlhnlich ist es liegt nahe an Karthago und das Haus desMartianus Capella zu denken Die eigentliche Handlung spielt an z T unwirklichen Orten aufder Erde die zumeist nicht naumlher bestimmt sind (z B Philologias Herkunft) und auf derMilchstraszlige wobei die absolute Zeit nicht genannt wird aber aufeinanderfolgende Tage inihrem Ablauf erkannt werden koumlnnen Die Phantastik einzelner Szenen die meist auf alle-gorische Darstellungsweisen zuruumlckgeht verletzt jedoch nicht die raumlumliche oder zeitlichePlausibilitaumlt des Dargestellten Vgl dazu auch die Ausfuumlhrungen und grafischen Veranschau-lichungen LeMoines (1972a)

138 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

waumlhrend langer Winternaumlchte (eine Anspielung auf Gellius)sup3sup3⁴ von Satura be-richtet wurde Der antike wie moderne Leser duumlrfte sich wohl kaum daran stoszligensondernwird darin vor allem eine Inspiration des Autors durch Satura (auchwennes das zuvor noch nicht gab) erkennen Bei der Erwaumlhnung von Satura koumlnnte erHeiteres erwarten oder bunt gemischte Geschichten

Vollkommen verwirrt wird der Leser hingegen spaumltestens dann wenn er amEnde des Werkes in der Sphragis angekommen ist (9 997ndash 1000) Dort reflektiertMartianus sein literarisches Vorgehen in den vorausgegangenen neun Buumlcherngenauer gesagt distanziert er sich von der Form der Darstellung (Umfang Bunt-heit) und verweist auf die Verantwortung Saturas die die Geschichte erzaumlhlt habe

Habes anilem Martiane fabulam 997Miscillo lusit quam lucernis flamineSatura Pelasgos dum docere nititurArtes daggercagris vix amicas AtticisSic in novena decidit voluminahaec quippe loquax docta doctis aggerans 998fandis tacenda farcinat immiscuitMusas deosque disciplinas cyclicasgarrire agresti cruda finxit plasmate (9 997 f)

Da hast du Martianus eine Altweibergeschichte sie verfertigte im Spiel mit vermischterInspiration [d h in Prosa und Vers] bei Kerzenschein Saturawaumlhrend sie sich bemuumlhte diePelasger zu lehren die Kuumlnste die den Griechen kaum freundlich [d h neu] sindSo gelangte sie hinab bis zum neunten Buch haumluft plappernd Gelehrtes auf Gelehrtes undstopft geheimes und bekanntes Wissen zusammen hat Musen und Goumltter vermischt und hatsich erdacht dass die enzyklopaumldischen Disziplinen in einembaumlurischenMachwerk unreifesZeug daherplappern

So ungewoumlhnlich dieses Vorgehen auch ist ndash Martianus haumltte ja den Bericht Sa-turas als Grundlage nehmen und dann nach eigenem Geschmack umgestaltenkoumlnnen ndash wird es uumlbertroffen durch die Verteidigung Saturas Sie weist die Ver-antwortung fuumlr die Art der Erzaumlhlung von sich und verteidigt sichmit demHinweisauf Martianusrsquo intellektuelle Schwaumlche der sie die Ausfuumlhrungen habe anpassenmuumlssen

Vgl Gell praef 4 zur Erklaumlrung der Wahl des Titels Noctes Atticae fuumlr sein Werk

Sed quoniam longinquis per hiemem noctibus in agro sicuti dixi terrae Atticae commentationeshasce ludere ac facere exorsi sumus idcirco eas inscripsimus noctium esse Atticarum hellip

Aber weil wir in langen Naumlchten den Winter uumlber in Attika auf dem Landwie schon gesagtdiese Anmerkungen im Spiel und dann ernsthaft begonnen haben daher haben wir ihnenden Namen Attische Naumlchte gegeben hellip

2 De nuptiis als literarisches Werk 139

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

haec ipsa nauci rupta conscientia 999turgensque felle ac bili bdquomulta chlamydeprodire doctis approbanda cultibuspossemque comis utque e Martis curia[hellip]ab hoc creatum Pegaseum gurgitem 1000decente quando possem haurire poculoldquo (9 999 f)

Sie sagte aufgrund ihres Wissens um die Nichtigkeit (dieser Ausfuumlhrungen) verletztschwellend vor Bitterkeit und Zorn bdquoIch koumlnnte hier freundlich auftreten mit einem Gewandbekleidet lobenswert durchgelehrtes Verhaltenwie aus der VersammlungdesMars [Es folgtdie Schilderung der unguumlnstigen Anlagen von Martianus] ndash Wann koumlnnte ich mit ange-messenem Becher aus einem pegasischen Strom von ihm erschaffen schoumlpfenldquo

Somit hat das Werk das zu Beginn zwei hierarchisch geschiedene Erzaumlhler zuhaben scheint am Ende zwei Erzaumlhler die sich gleichberechtigt uumlber die Form dererzaumlhlten Geschichte streitensup3sup3⁵

Die Inkonsistenzen auf der Erzaumlhlebene setzen sich daruumlber hinaus fort HatteMartianus zu Beginn des Werks gesagt Satura habe ihm die Geschichte waumlhrendlangerWinternaumlchte erzaumlhlt so treten Satura undMartianus amEnde desWerks inder erzaumlhlerischen Gegenwart gemeinsam auf und sprechen beide nacheinanderzu Martianusrsquo Sohn

Weiterhin erscheinen Satura und Martianus innerhalb der Geschichte dieMartianus angeblichvon Satura gehoumlrt hatWaumlhrend die Goumltter denverschiedenenBrautjungfern lauschenwohnen auch SaturaundMartianus der Versammlungbeiund betrachten sie als unbeteiligte ZuschauerWie aus einer Theaterloge herauskommentieren und diskutieren sie das Geschehen das auf der bdquoGoumltterbuumlhneldquostattfindetsup3sup3⁶

Noch einen weitergehenden Schritt stellt die Silen-Szene zu Beginn des achtenBuches dar Im Anschluss an diese Szene beschwert sich Satura bei Martianus erkoumlnne die Goumltter nicht auf dieseWeise agieren lassen In der Folge entspinnt sich einGespraumlch in demMartianus seine Art des Erzaumlhlens gegen Satura verteidigt die fuumlreine zuruumlckhaltendere Darstellung plaumldiert (s o)Von der Fiktion dass Martianusseinem Sohn bloszligwiedergibtwas Satura ihm erzaumlhlt hat bleibt nichtmehr viel dieganze Szenerie ist ein Produkt der ErfindungdesMartianus gleichzeitigwohnt er ihraber gemeinsam mit Satura bei ist also Teil der Handlung

So bereits Pabst 1994 120 Anm 119 der allerdings auf eine Diskussion der Beobachtungverzichtet Es handelt sich um die Stellen zu Beginn des sechsten und des achten Buches die imvorigen Abschnitt bereits paraphrasiert wurden

140 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Diese Art der Spiels mit der Erzaumlhlerrolle wird von manchen modernen For-schern als ein wichtiges Merkmal der menippeischen Satire angesehen Hinzu-treten kann die Selbstherabsetzung des Erzaumlhlers die sich an seinemmangelndenWissen Stilbewusstsein Traditionsempfinden o auml entzuumlndetsup3sup3⁷ Folglich kanndie zunaumlchst befremdliche Brechung und Verzerrung als weiteres Merkmal derGattung menippeische Satire bestimmt werden

Aufgrund dieser Beobachtungen ist es zwingend in De nuptiis vor allem eineSatire zu sehen Auch der heiter-spoumlttische Charakter einiger Passagen zwischenden Vortraumlgen der Brautjungfern passt zum satirischen Anspruch Gelegentlicherscheint es jedoch fraglich ob es sich wirklich um satirische und nicht eher umkomische oder derbe Spaumlszlige handelt Die Szene in der Silen betrunken einschlaumlftund von den anderen Goumlttern verspottet wird (8 803ndash805) erinnert mit ihremSlapstick eher an den derben Spott der Komoumldie als an die Satire eines Varrosup3sup3⁸

22 Deutungen der komplexen literarischen Form

Wie laumlsst sich das Werk De nuptiis nun also formal beschreiben oder andersgefasstWie lassen sich die vier literarischen Traditionsstraumlnge zusammenfuumlhrenDass eine einheitliche Lesung zumindest versucht werden muss zeigt bereits dasLeitmotiv der Hochzeit ansup3sup3⁹

Im Kern handelt es sich bei MartianusrsquoWerk um eine Sammlung bedeutenderWissensschaumltze in einem einzigen Werk die darin systematisch ausgebreitetwerden Dies zeigt die Einteilung in verschiedene Disziplinen die ein ver-

Zur Erzaumlhlerrolle in der menippeischen Satire vgl u a Relihan 1993 und darin bes S 35 Mit der Aufnahme unterhaltsamer Elemente ginge Martianus sogar noch uumlber dieErwartungen an ein sbquosatirischeslsquo Werk hinaus Auch Boethius wird bescheinigt er erzaumlhle seineConsolatio bdquoper satiramldquo auch wenn bei ihm weder eine Figur Satura auftritt noch allzu vielHeiterkeit herrscht (Peiper zitiert in der Einleitung zu seiner Ausgabe S xxxi eine mittelalter-liche Boethius-Vita vgl Kindermann 1969 61)

hos libros [scil de consolatione Philosophiae] per satiram edidit imitatus videlicet mar-cianum felicem capellam qui prius libros De nuptiis philologiae et mercurii eadem speciepoematis conscripserathellip

Diese Buumlcher schrieb er als Satire freilich in Nachahmung des Marcianus Felix Capellader zuvor die Buumlcher uumlber die Hochzeit der Philologie mit Merkur in der gleichen Art vonGedicht verfasst hatte

Zum Motiv der Hochzeit das bereits programmatisch im eroumlffnenden Hymnus anHymenaeus erscheint vgl Schievenin 2009c und Cristante in der Einleitung seiner Ausgabe1987 3ndash 10

2 De nuptiis als literarisches Werk 141

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

gleichsweise leichtes Auffinden der Informationen erlaubtsup3⁴⁰ die Bedeutung wirdangesichts der Praumlsentation vor den Goumlttern auf der Milchstraszlige deutlich Alleinder Umfang dieser Vortraumlge die in sich auch nicht gestoumlrt oder gebrochenwerdenmarkiert dass es sich hier um das zentrale Charakteristikum des Werkes handelt

Den erzaumlhlerischen Anlass fuumlr diese Praumlsentation bietet eine Hochzeitsfeieralso ein Symposion hier ist die Gelegenheit fuumlr die groszligen Redebeitraumlge gegebenZudem bietet die SymposionformAnknuumlpfungspunkte fuumlr eine Rahmenhandlungdie zur Auflockerung der ebenso ausfuumlhrlichenwie trockenen Einzelreden genutztwird

Doch bleibt es ndash im Gegensatz z B zu Macrobius ndash nicht bei der bloszligenDarstellung der Wissensinhalte Hinzu tritt die allegorische Darstellung der Be-deutung von Wissen und von Fleiszlig beim Wissenserwerb in den ersten beidenBuumlchern Die praumlsentierten Inhalte der Buumlcher 3ndash9 (die Philologia ja bereits aufder Erde in Buch 2 besitzt) sindwichtig Sie sind nicht nur wichtig fuumlr das irdischeLeben (das wird nicht weiter thematisiert die explizit irdischen Wissenschaftenwie Architektur und Medizin werden sogar ausgeschlossen) ndash die Inhalte sindauch wichtig fuumlr die menschliche Vervollkommnung

Durch das angesammelte Wissen erreicht der Mensch zwar nicht die voll-kommene Erkenntnis (die erhaumllt auch Philologia nur ohne eigenes Zutun als sieauf der houmlchsten Himmelssphaumlre angekommen zum Vatergott in der jenseitigenGluumlckseligkeit betet) wohl aber ein goumlttergleiches Wissensup3⁴sup1 Der Wissenserwerbist gewissermaszligen die Voraussetzung dafuumlr dass der Mensch mit Hilfe einesgoumlttlichen Begleiters in den Himmel aufsteigen kann unsterblich wird und voll-kommene Einsicht erlangt

Die so weit kohaumlrente Verbindung der literarischen Traditionen laumlsst aller-dings den explizit satirischen Anspruch von De nuptiis auszliger Betracht durch denMartianus selbst das Werk primaumlr in die Gattung der Satire einordnet waumlhrendvergleichbare Bezuumlge zu anderen Gattungen fehlen Natuumlrlich lieszlige sich dieserprogrammatische Anspruch mit einem Verweis auf die Verwendung des Begriffszur Bezeichnung einer inhaltlich wie literarisch gemischten Form erklaumlren Dochgreift diese Erklaumlrung zu kurz da das Agieren Saturas die literarischen Passagendes Werks beinahe als Travestie erscheinen laumlsst (vgl oben zur Erzaumlhlerfigur) Einbildend-enzyklopaumldisches Werk kann sich allerdings nicht gefahrlos als Satire

So auch Englisch 1994 56 Die bdquoSystematik bei der Praumlsentationldquo erlaube einen leichtenZugriff auf die Informationen Mart Cap 2 201ndash205

142 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

praumlsentieren ohne Zweifel an der Glaubwuumlrdigkeit und Zuverlaumlssigkeit desWerkes und der praumlsentierten Inhalte zu weckensup3⁴sup2

Wenn Martianus auch die Konventionen der Gattung menippeische Satireaufnimmt und sein Werk also nur folgerichtig unter anderem eine unzuverlaumlssigeErzaumlhlsituation aufweist ist dies noch keine Erklaumlrung an sich Die regelkonformeUmsetzung gattungstypischer Anspruumlche erklaumlrt noch nicht die Wahl der Gattungan sich ndash einer Gattung die trotz ihrer Benennung als solche nicht zu denStandardformen und akzeptierten Gattungen zaumlhlte insbesondere nicht fuumlrLehrwerkesup3⁴sup3

Auch Martianusrsquo Verweis auf etwas bislang noch nicht Unternommenes(nescioquid inopinum intactumque 1 2) vermag den Widerspruch nicht zu loumlsenDie Wendung zeigt zwar dass Martianus die Ungewoumlhnlichkeit seines Ansatzesbewusst war (sofern sich die Phrase uumlberhaupt auf die Komposition des Werkesbezieht)sup3⁴⁴ beseitigt aber nicht das interpretatorische Problem ZuwelchemZweckverbindet Martianus also zwei so widerspruumlchliche Gattungen wie Enzyklopaumldieund Satiresup3⁴⁵

Drei Antwortansaumltze lassen sich grob umreiszligen 1 Die Verbindung ist nuraumluszligerlich bzw oberflaumlchlich 2 durch die Verbindung soll ein bestimmter Aspektparodiert und somit Spott und Kritik ausgesetzt werden 3 die Verbindung erfuumlllt

Dieses Problem hat bereits Westra in seinem Aufsatz bdquoThe juxtaposition of the ridiculousand the sublime in Martianus Capellaldquo benannt (Westra 1981) Allerdings beschraumlnkt sich auchdieser Aufsatz auf die Darstellung des Problems und die Zusammenstellung der Belege EineLoumlsung hat Westra nicht anzubieten ndash sein Aufsatz endet mit der eher apologetischen Bemer-kung das Eingestaumlndnis der Unvereinbarkeit von Satire und Lehrwerk durch Martianus in 9 997sei prima facie ein Spiel dahinter stecke jedoch die Absicht Problembewusstsein zu demon-strieren und Verantwortung fuumlr die unterlassene Loumlsung zu negieren bdquoEven though I would claim that prose and verse must be present in an ancient Menippeansatire it must be seen as one of a number of shocking juxtapositions of oppositesldquo (Relihan 198760) ndash In der Folge kann die prosimetrische Form durchaus auch Mittel belehrender Werkewerden vgl Pabst 1994 133 Denkbar (und wohl wahrscheinlich) waumlre auch dass damit die Inhalte besonders desMythos gemeint sind Der Verweis auf Unterhaltung fuumlhrt nicht zum Kern der Frage denn die satirische Formstellt mehr dar als reine Unterhaltung Auch das horazische Diktum ridentem dicere verum quidvetat ndashsbquolachend das Wahre zu sagen ndash was spricht dagegenlsquo (Hor serm 1 1 23) als Kern vonMartianusrsquo Satireverstaumlndnisses greift zu kurz ebenso wie vergleichbare Konzeptionen in derLiteratur Dort geht es bei Belehrung immer um einzelne philosophische Saumltze (nie beispiels-weise um die Vermittlung von Philosophie an sich) Folglich bezeichnet das bdquoverumldquo nichtkognitives Lernen sondern moralisches Der grundlegende Unterschied zur Konzeption desMartianus liegt somit auf der Hand Vgl zu diesem Aspekt im Allgemeinen z B Shanzer 1986c42 und im Speziellen u a Woytek 1986 339ndash345 Keulen 2009 bes Kap 2 und 3

2 De nuptiis als literarisches Werk 143

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

einen literarischen und belehrenden Zweck zugleich Aufgrund der komplexenSachlage und der unmittelbaren Bedeutung der Beantwortung der Frage nachdieser Verbindung fuumlr das Gesamtverstaumlndnis von De nuptiis werden alle Alter-nativen vorgestellt und bewertet

Rein formale Verbindung von Satire und EnzyklopaumldieEventuell laumlsst sich die Mischung aus enzyklopaumldischen und satirischen Ele-menten (mit den zur Satire gehoumlrigen Verspartien) als Sonderform der Varro-Re-zeption bei Martianus auffassenVarro von Reate verfasste sowohl umfangreicheFachliteratur als auch menippeische Satiren Fuumlr beides war er in der Antikebekannt und beruumlhmt ndash doch ist es wahrscheinlich dass Martianus die Werkebereits nicht mehr ndash oder allenfalls nur in Auszuumlgen ndash vorliegen hattesup3⁴⁶ Aus demWissen um die beiden Schaffensbereiche des republikanischen Autors die beideder Unterweisung dienen solltensup3⁴⁷ koumlnnte Martianus auf den Gedanken verfallensein die literarischen Formen und Inhalte in seinem Werk zu verbindensup3⁴⁸Vielleicht saszlig er auch einemMissverstaumlndnis auf indem ermeinte dass Varro seinsatirisches wie enzyklopaumldisches Koumlnnen in nur einem Werk demonstriert habeDies hieszlige jedoch dass Martianus sich der Problematik dieser Verbindung nicht

So aumluszligert sich beispielsweise Kindermann in den Vorstudien seiner Ausgabe der Conso-latio des Laurentius von Durham Er billigt Martianus nur eine sekundaumlre Varro-Kenntnis zu(Kindermann 1969 60) Entschieden verneint wird die Frage von Schievenin (2009f) und Hadotdie vor allem neuplatonische Quellen vermutet (Hadot 2005 149) Schneider jedoch nimmt andass sowohl Augustin als auch Martianus die Disciplinae noch vorliegen hatten (Schneider 1999109 f) und dass die Satiren-Exzerpte des Nonius Marcellus (fl um 400 in Afrika) ebenfalls ausdem Originaltext Varros angefertigt wurden (ibid 96 Anm 12) Abwaumlgend aumluszligert sich Huumlbner2004 passim Vgl Cic ac 1 8 (es spricht Varro)

et tamen in illis veteribus nostris quae Menippum imitati non interpretati quadam hilaritateconspersimus multa admixta ex intima philosophia multa dicta dialectice quae quo faciliusminus docti intellegerent iucunditate quadam ad legendum invitati

Jedoch findet sich in meinen fruumlhen Schriften die ich in kreativer Nachfolge (und nicht nurUumlbersetzung) Menipps mit einer gewissen Heiterkeit benetzt habe vieles aus den Kernbe-reichen der Philosophie beigemengt und vieles das nach Art der Dialektiker gesagt istdamit die weniger Gelehrten es leichter verstuumlnden nachdem sie durch eine Art von Scherzzur Lektuumlre ermuntert worden sind

Vielleicht hatte Martianus diese Stelle sogar im Kopf als er die Anlage von De nuptiis plante So z BWeinreich in der Einleitung zu seiner Uumlbersetzung roumlmischer Satiren bdquoMartianusCapella glaubte gewiszlig ein Varro redivivus zu sein sozusagen die Quintessenz des Gelehrten unddes Satirikersldquo (Weinreich 1962 XCIII) Ebenso Shanzer 1986c 42

144 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

bewusst gewesen sei ndash was ihm sicher nicht gerecht wird Auszligerdem wird so dieBezugnahme auf weitere formale Elemente der menippeischen Tradition und dieuumlbrigen Vorlaumlufer der Gattung mit anderer Konzeption (Lukian Julian) nichtausreichend beruumlcksichtigt

Ebenfalls beim Autor koumlnnte eine zweite Erklaumlrung ansetzen Im Zuge derAbfassung seiner Enzyklopaumldie hat sichMartianus nach horazischer Vorgabe (unddem Beispiel Varros)sup3⁴⁹ um Auflockerung und heitere Elemente bemuumlht Diespontanen Einfaumllle wurden ins Werk integriert und die sich daraus ergebendenInkonsistenzen entweder uumlbersehen oder billigend in Kauf genommen Beideswuumlrde gut zum klassisch negativen Martian-Bild in der Forschung passensup3⁵⁰Abgesehen davon dass Annahmen uumlber das Vorgehen beim Schreiben weitge-hend auf Spekulation beruhensup3⁵sup1 widersprechen drei Beobachtungen dieser Er-klaumlrung Erstens gelingt es Martianus De nuptiis uumlber neun Buumlcher vorauszu-planen so dass am Ende ein ndash zunaumlchst abgesehen von der Satire-Problematik ndashkohaumlrentes Werk entsteht Die Fuumllle der behandelten Themen Motive und lite-rarischen Elemente weist eher auf ein planvolles Arbeiten hin und macht es un-wahrscheinlich dass Martianus Probleme an dieser Stelle nicht wahrgenommenbzw nicht korrigiert haumltte Zweitens ist die Verbindungvon Satire und den anderenElementen nicht nur oberflaumlchlich so dass sie nachtraumlglich eingefuumlgt sein koumlnnteoder sich im Schreibprozess so ergeben haben koumlnnte Da bereits im zweitenKapitel des ersten Buches Satura eingefuumlhrt wirdwar sie von vornherein Teil des

Gemeint ist das beruumlhmte zunaumlchst nur fuumlr die Dichtung relevante prodesse aut delectare(Hor ars 333 f) zu Varro vgl die schon angefuumlhrte Stelle aus Cic ac Vgl z B die sehr bildliche Beschreibung von C S Lewis bdquo[hellip] this universe which hasproduced the bee-orchid and the giraffe has produced nothing stranger than Martianus Capella[hellip] the curiosity shop of his mind [hellip] a chaos beside which the work of Rabelais has unity andthat of Mandeville probabilityldquo (Lewis 1936 78 f) Gleiches gilt fuumlr Spekulationen uumlber eine andere Auffassung von Literatur und ihrenRegeln in Martianusrsquo Zeit oder Umfeld Einerseits kennen wir keine Texte die sich mit De nuptiisvergleichen lieszligen (was per se nichts beweist aber doch Indiziencharakter hat) andererseitshielten sich auch die spaumltantiken Autoren uumlblicherweise an die klassischen Vorgaben Ich teiledaher auch Schneiders Ansicht nicht der die Skepsis an dieser Verbindung allein der modernenLeseerfahrung zuschreibt bdquoWenn den Heutigen diese Kombination der forcierten Gelehrsamkeiteines Curriculums und der spielerisch-saloppen Causerie seltsam beruumlhren mag so waumlre dazuimmerhin schon an ein ciceronisches Dictum zu erinnern non est enim seiunctus iocus a phi-lologia (ad fam 16214) ndash sbquoSpieltrieb und Pedanterie diktieren und widersprechen sich nichtlsquo(sbquoErste Fruumlhschichtlsquo aus Grassrsquo sbquoHundejahrelsquo)ldquo (Schneider 1999 94 Anm 2) Der Verweis aufCicero traumlgt nichts zum Verstaumlndnis von Martianus bei Cicero geht es an der zitierten Stelle umden Ablauf des Tages mit seinem Schuumller der aus ernsteren und heitereren Abschnitten bestehtDaraus folgt nicht dass das Lernen mit Scherz verbunden ist ndash auszligerdem duumlrfte Cicero unteriocus (sbquo[urbaner] Scherzlsquo) anderes verstanden haben als Martianus in seiner Satura bietet

2 De nuptiis als literarisches Werk 145

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Kompositionsplans Drittens hat Schievenin gezeigt dass Martianus keineswegsoberflaumlchlich und eigenwillig arbeitet Durch eine gruumlndliche Untersuchung derSilen-Passage (8 803ndash805) kann er nachweisen dass Martianus ndash wie vieleAutoren vor ihm ndash uumlber ein umfangreiches literarisches Wissen verfuumlgte daraufbei der Abfassung seines Werkes zugreifen konnte und durch gezielte Anspie-lungen neue Bezuumlge herstelltesup3⁵sup2

Satire als Mittel der KritikWaumlhrend die antike Satire (im Gegensatz zur modernen) nicht zwangslaumlufig Kritikan Missstaumlnden uumlben wollte ist diese Moumlglichkeit umgekehrt auch nicht auszu-schlieszligen Martianus koumlnnte also bewusst eine solide Darstellung der Kuumlnste inliterarischem Gewandmit der Gattung der Satire verbunden haben um Zweifel ander Ernsthaftigkeit der uumlbrigen Teile des Werkes zu wecken Er wuumlrde somit einaufklaumlrerisches Interesse verfolgen das zugleich auch unterhaltsame Zuumlge traumlgt

Eine erste Schwierigkeit dieser Lesart von De nuptiis ergibt sich bereits bei derFrage nach dem Objekt der SatireWerden die Wissensinhalte in Zweifel gezogenoder nur die Art ihrer Vermittlung in langen Reden bzwTraktaten Soll der Glaubean die umfassende Einheit des Wissens kritisiert werden oder die Vorstellungsaumlmtliches Wissen lasse sich vermitteln gar kohaumlrent in einem Werksup3⁵sup3 Ist dieVorstellung dass Wissen goumlttlich mache parodiert oder nur die abwegige Vor-stellung dass auf einer Hochzeit solche Reden gehalten werden Oder richtet sichdie Kritik letztlich gegen die Auffassung Philologia als Vorbild zu sehen oder garals Mittlerin alles Wissens ja sogar als Mittlerin zwischen Menschen und Goumlttern

Aus der Tatsache dass das Objekt der Satire keineswegs leicht zu bestimmenist kann nicht gefolgert werden dass in De nuptiis keine Satire vorliege die be-stimmte Sachverhalte kritisiere Aber es kann durchaus gefolgert werden dass eskeine expliziten textinternen Merkmale gibt die das Lesen steuern und den Ge-genstand der Kritik deutlich hervortreten lassen Die Deutungen gehen also vonmodernen Annahmen uumlber das Umfeld bzw die Gedankenwelt von Martianus aus

Im Kern handle es sich um bdquouna narrazione tersa e brillanteldquo verbunden mit einemDickicht an Verweisen Die Silen-Szene habe einen bdquocarattere colto e della dottrina e dellalingualdquo (Schievenin 1984 132) Das Fazit seiner Untersuchung formuliert Schievenin folgen-dermaszligen bdquoIl De nuptiis si rivela dunque opera di vasti orizzonti non solo per lrsquointento dida-scalico che la pervade e che ne determineragrave la fortuna ma anche per la costante presenza nellafabula della tradizione classica e dei suoi echildquo (ibid 136) Vgl zu dieser Stelle auch Bovey2003 275ndash288 ndash Den geschickten Umgang mit mehreren Quellen ndash erzaumlhlerisch wie seman-tisch ndash kann Schievenin auch fuumlr 7 725ndash727 nachweisen (Schievenin 2009e) So z B Relihan 1993 138 bdquoMartianus writes not an encyclopedia but a Menippean satirethat parodies encyclopedic knowledgeldquo

146 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

und weisen zudem meist nicht kleinschrittig auf wie der Interpret zu seiner (oftapodiktisch dargelegten) Ansicht gelangt

Nun folgt daraus noch nicht dass Martianus De nuptiis nicht als kritisierendeSatire konzipiert haumltte die Vielzahl der (wenn auch differierenden) modernenDeutungenweist ja darauf hin Zwei Uumlberlegungenwenn auch keine schlagendenBeweise lassen die Hypothese der parodierenden Satire unwahrscheinlich wer-den der Umfang von De nuptiis und seine Rezeption Eine Satire die beispiels-weise die Verbindung von Weltwissen und menschlicher Vervollkommnung in-frage stellt benoumltigt nicht noch eine umfassende Darlegung eben diesenWissensDies gilt besonders da diese Darlegung den Hauptteil des Werks ausmacht und ndashzumindest dem Umfang nach ndash die uumlbrigen Partien weit uumlberragt Eine Deutungvon De nuptiis als kritischer Satire muumlsste also besonders die Frage beantwortenzu welchem Zweck die umfangreichen Darstellungen der Freien Kuumlnste aufge-nommen sind (und nicht nur angedeutet werden)

Die Rezeption eignet sich zwar ebenfalls nicht zu sicheren Ruumlckschluumlssen aufdie originale Intention eines Werkes haumlufig bietet sie aber interessante EinblickeDie Martianus-Rezeption stellt sich bald ein Cassiodor beruft sich in seinen In-stitutiones auf ihn Dort erscheint Martianus nicht als Satiriker oder Zeitkritikersondern als Gelehrtersup3⁵⁴ In dieser Tradition wird Martianus auch im Mittelaltergelesen und rezipiertsup3⁵⁵

Aumlhnliches laumlsst sich fuumlr Boethiusrsquo Anknuumlpfen an die prosimetrische Form inder Ausgestaltung von Martianus sagen Boethius verfasst zweifelsfrei keine kri-tische Satire kann aber trotzdem an die Form und den Inhalt von De nuptiisproblemlos anknuumlpfen Sowohl der Form nach wie auch durch einzelne Zitatemacht er deutlich dass erDe nuptiis kennt und als eine seiner Vorlagen benutzt Esist zu bezweifeln dass Boethius in seinem Bemuumlhen um eine adaumlquatewerbendeDarstellung der Philosophie auf Form und Zitate des Martianus zuruumlckgegriffenhaumltte haumltte er nicht die Moumlglichkeit der gefahrlosen Uumlbernahme gesehen

Satirische Elemente als Mittel der BelehrungDer dritte Erklaumlrungsansatz fuumlr die Verbindung von Satire und Belehrung be-trachtet die Wahl Saturas als Figur und die Bezugnahme auf die Gattung zunaumlchst

Cassiod inst 2 2 17 Zur mittelalterlichen Martianus-Rezeption vgl bes Nuchelmans 1950 Lutz 1971 und 1976Willis 1973 sowie die Ausgaben und Literatur u a zu folgenden Werken Konrad von MureFabularius Hugo von Sankt Victor Didascalicon de studio legendi Johannes von SalisburyMetalogicon Kindermann kann weiterhin nachweisen dass De nuptiis auch durch seine Forminspirierend gewirkt hat (Kindermann 1969 61 f)

2 De nuptiis als literarisches Werk 147

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

als reine Fortsetzungder literarischen Form Fuumlr diese spezielle Formder Literaturdie menippeische Satire hat der russische Literaturwissenschaftler MichailBachtin Beobachtungen aufgestellt die auch fuumlr De nuptiis zutreffen Durch denRuumlckgriff auf zwei zentrale Konzepte Bachtins das Karnevaleske und die Dialo-gizitaumlt wird ein Verstaumlndnis von De nuptiis ermoumlglicht

Auf der Suche nach Vorlagen und Urformen der Gattung des Romans ins-besondere in der Form von Dostojewskis Romanen stieszlig Bachtin unter anderemauch auf die menippeische Satire die er bis in die Antike zuruumlckverfolgtesup3⁵⁶ Zuihren Vertretern zaumlhlt er unter anderem Varro Apuleius Petron Seneca oderLukiansup3⁵⁷ Martianus Capella wird nicht erwaumlhnt was aber nicht verwundernmuss da Bachtin keine Literaturgeschichte der menippeischen Satire schriebsup3⁵⁸

Kern der Uumlberlegungen Bachtins zurmenippeischen Satire ist das Konzept desKarnevals Unter Karneval versteht er folkloristische Feste waumlhrend deren diebestehende Ordnung verkehrt wird uumlbliche Regeln nicht mehr gelten Herr-schende gestuumlrzt und Machtlose maumlchtig werden ndash auf Zeit Die Karnevalisierungalso die Uumlbernahme der Kennzeichen dieses Festes in neue oder bestehende li-terarische Formen institutionalisiert diese Ausnahmesituation und loumlst sie vomkonkreten Fest Der so entstandene Text wird bdquozum karnevalesken Spiel an demder Autor und sein Publikum einverstaumlndlich teilhaben und das keines kalen-darisch oder institutionell abgesicherten Karnevalsrahmens mehr bedarfldquosup3⁵⁹

Diese Karnevalisierung fuumlhrt unter anderem zu einer Vielstimmigkeit vonMeinungen und Positionen im Text z B durch mehrere Figurenvon denen keinebevorzugt oder gar als autoritativ gekennzeichnet wird In dieser Dialogizitaumlt wirdkein allgemein guumlltiger Sinnmehr vermittelt sondern dieWahrheit suspendiertsup3⁶⁰

Dass der Bezug auf karnevalsartige Feste der Gattung menippeische Satire (inTeilen auch der Verssatire) eignet zeigt ein kurzer Blick auf wichtige Vertreter derTradition

Julians Symposion Caesares spielt zur Zeit der Saturnalien Die Bedeutungdieses Festes fuumlr das Werk wird dadurch verdeutlicht dass es den Handlungs-

Bachtin 1971 126ndash 135 Bachtin 1971 126 128 132f Kritik an den z T pauschalisierenden und verfaumllschenden Aussagen Bachtins uumlber antikeLiteratur oder an der ununterbrochenen Traditionslinie von der Antike bis in die Moderne (z BRelihan 1987 59 Lachmann 2006 23ndash25) muumlsste auch auf manche moderne Literaturwissen-schaftler in der Nachfolge Bachtins angewandt werden (vgl Branham 2005 6 wo es uumlberSenecas Apocolocyntosis heiszligt bdquoour only extant Menippean satire in Latinldquo) Teuber 1993 182 Eine gut verstaumlndliche Einfuumlhrung in das Konzept der Dialogizitaumlt im Sinne der bach-tinschen Terminologie bietet Sharland 2010 Einfuumlhrung (1ndash51)

148 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

rahmen fuumlr den in der Folge erzaumlhlten Mythos bildet Bereits im ersten Satz wirdauf das Fest und die Tradition Heiteres frei zu erzaumlhlen Bezug genommensup3⁶sup1

Auch Senecas Apocolocyntosis stellt einen engen Bezug zum Saturnalienfesther Das Werk spielt zwar nicht an den Saturnalien sondern am Todestag desClaudius im Oktober doch wird an zwei Stellen eine Verbindung zwischen derHerrschaft des verstorbenen Kaisers und den dargestellten Sitten waumlhrend derRegierungszeit mit dem Saturnalienfest gezogensup3⁶sup2 Manche Interpreten gehensogar davon aus dass die Apocolocyntosis an den Saturnalien des Jahres 54vorgetragen wurdesup3⁶sup3 Auch bei Petron und Horaz finden sich Bezugnahmen aufdie Saturnaliensup3⁶⁴

Ein zentrales Element des Saturnalienfestes liegt in der Suspension der uumlb-licherweise geltenden Normen und Wertesup3⁶⁵ Neben den anderen Elementen desFestes wie sie z B in Macrobiusrsquo Saturnalia (1 7ndash 10 1 24 22 f) beschriebenwerden (traditionelle Geschenke Festmahl fuumlr die Sklaven etc) hat gerade dieUmkehrung der Herrschaftsverhaumlltnisse im Haus Niederschlag in der Literaturgefunden

Gerade durch diese Rolleninversion treten einige wichtige gesellschaftlicheNormvorstellungen und Grundannahmen prominent hervor Dazu zaumlhlt das Be-wusstsein dass es eine befehlende und eine ausfuumlhrende Gruppe von Menschengibt oder dass im Prinzip ein Rollenwechsel moumlglich sein kann Alle Beteiligten

Ἐπειδὴ δίδωσιν ὁ θεὸς παίζειν ndash ἔστι γὰρ Κρόνια ndash hellip (sbquoDa der Gott das Scherzen erlaubt ndashes sind ja die Kronia helliplsquo Caes 1 = 306a Spanheim) Zur Frage ob es sich bei Caesares auch umdas Werk handle auf das zu Ende der Rede auf Koumlnig Helios verwiesen wird (Or in Sol reg 44 =157c Spanheim) vgl Muumlller in seiner Uumlbersetzung (39 ablehnend) und Lacombrade im Vorwortseiner Budeacute-Ausgabe (3 und 18 Anm 3) der aufgrund des Handschriftenbefundes Kronia auchals Titelbestandteil fuumlr die Caesares uumlbernimmt Es handelt sich um Sen apocol 8 1 (Claudius als Saturnalienprinz) und 12 2 (Herrschaftdes Claudius als andauerndes Saturnalienfest) ndash Dass Lukian nicht auf die Saturnalien alsRahmen fuumlr seine Werke zuruumlckgreift entwertet die Beobachtungen nicht Lukian musste auf-grund seines Selbstbewusstseins als satirischer Schriftsteller und aufgrund der Menge seinersatirischen Schriften nicht jedes Mal einen eigenen literarischen Rahmen herstellen in demeinzelne Dialoge stattfinden konnten Das Saturnalienfest selbst erscheint bei Lukian als Ge-genstand der Satire nicht als deren literarische Rahmung (Τὰ πρὸς Κρόνον) Zuerst bei Furneaux 1896 23 Anm 11 In der neueren Forschung vgl bes Nauta 1987Kritisch dazu u a Doumlpp 1993 159 f Petron 44 3 58 2 69 9 zu Horaz vgl z B serm 2 7 (libertas Decembris) Ein gelungenesBeispiel der Anpassung und Anwendung der bachtinschen Konzepte mit Ertrag fuumlr die Inter-pretation unter Einbezug von serm 2 7 bietet Sharland 2010 Distelrath 1999 114 Vgl weiterhin Versnel 1993 136ndash227 und Doumlpp 1993 Eine plastischeSchilderung der Rollenvertauschung bei der der Sklave dem Herrn die Leviten liest bietet Horserm 2 7

2 De nuptiis als literarisches Werk 149

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Herren wie Sklaven spielen also mit den Moumlglichkeiten einer alternativen Wirk-lichkeit

Das Besondere im Spiel mit den Moumlglichkeiten liegt aber in seiner zeitlichenBegrenzung Nach der Zeit des Ausnahmezustands gelten wieder die normalenimmer guumlltigen Regeln Die Rolleninversion erlaubt also ndash oder erzwingt gera-dezu ndash das Nachdenken uumlber bestimmte gesellschaftliche Normen und Wertvor-stellungen Durch die Ritualisierung und enge zeitliche Begrenzung ist darausjedoch keineswegs die Notwendigkeit entstanden die Verhaumlltnisse tatsaumlchlich zuhinterfragen oder gar zu aumlndern Daher lassen sich die Saturnalien auch als ein dieKonventionen bestaumlrkendes Fest verstehen Das Spiel mit der Moumlglichkeit eineranderen Gesellschaftsordnung hat durch seine Ritualisierung letztlich eine dieTradition legitimierende Funktion bekommen

In De nuptiis finden sich jedoch houmlchstens spaumlrliche Hinweise auf das Sa-turnalienfest Am ehesten weist das grob scherzende Agieren Saturas in diesenBereich Die bdquolangen Winternaumlchteldquo (1 2) koumlnnten (statt als Bezug auf Gellius) alsAnspielung auf das Saturnalienfest verstandenwerden ndash die Saturnalien finden inden laumlngsten Naumlchten uumlberhaupt statt seit der Kaiserzeit vom 17 bis 23 DezemberDies ndash wie die Spekulation uumlber eine spielerische etymologische Verbindung vonSatura und Saturnaliensup3⁶⁶ ndash ist aber insofern nicht von Belang da die Gattung alsGanze karnevaleske Zuumlge traumlgt und als gewissermaszligen institutionalisierter Kar-neval vom eigentlichen Fest losgeloumlst istsup3⁶⁷

Die Aufhebung der uumlblichen Ordnung (was Teuber im Ruumlckgriff auf Limina-litaumltskonzepte als praumlliminale Phase bezeichnet)sup3⁶⁸ beginnt mit der VorbereitungPhilologias zum Aufstieg in den Himmel Bereits das Erbrechen stellt eine mar-kante Umkehrung der alltaumlglichen Welt dar Statt sich Wissen anzueignen er-bricht Philologia es nun In der Goumltterversammlung auf der Milchstraszlige ist dieOrdnung sodann voumlllig verkehrt Philologia als Meisterin aller Disziplinen und

Zwar sind die einschlaumlgigen etymologischen Woumlrterbuumlcher skeptisch (v a WaldeHof-mann 2007 II 482 neutral ErnoutMeillet 2001 596) jedoch gibt es dahin gehende moderneDeutungen (aufgefuumlhrt bei WaldeHofmann 2007 II 482) und auch antike ParallelisierungenCic nat deor 2 64 Saturnus hellip est appellatus quod saturaretur annis (sbquoSaturn hellip wurde ergenannt weil er an Jahren gesaumlttigt istlsquo) Fulg myth 1 2 (p 17 16) a saturando Saturnus dictusest (sbquoDa er (die Menschen) saumlttigt wurde er Saturn genanntlsquo) Aug cons euang 1 23 35 Sa-turnus tamquam satur hellip νοῦς (sbquoSaturn gleichsam der gesaumlttigte hellip νοῦςlsquo) Vgl auch Gowers diedie etymologischen Verbindungen von satura Satyrspiel und Saturnalien untersucht (Gowers1993 109ndash 117) Sie kommt zu dem Befund dass keine Verbindung bestehe wohl aber verbin-dende Elemente identifiziert werden koumlnnten bdquocarnival licence parody uninhibited mockeryand excessive consumptionldquo (ibid 117) Vgl z B Teuber 1993 183 f Teuber 1993 183

150 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

bedeutende Lehrinstanz muss sich ihrerseits belehren lassen ndash mit dem Wissendas urspruumlnglich ihres war

Durch die Inversion wird die (vielleicht uumlblicherweise nicht prominente)Philologia in den Mittelpunkt geruumlckt und ihre zentrale Rolle im Wissenssystemtritt markant vor Augen Gleichzeitig kann darin eine leise Anfrage an ihre Lehr-autoritaumlt und eventuell auch ihre Eignung zur Lehre gesehen werden

Aufgrund des zeitlich begrenzten Rahmens der Verkehrung (diemit dem Endeder Vortraumlge voruumlber ist aber nicht explizit zuruumlckverwandelt wird) dessen Be-grenztheit durch Bezug auf die Form der menippeischen Satire ergaumlnzt werdenkann wird das System der Bildung und der Bildungsvermittlung jedoch nichtgrundsaumltzlich infrage gestellt Die Suspendierung Philologias ist temporaumlr

Dem Konzept der Dialogizitaumlt oder Mehrstimmigkeit folgend erklaumlrt sich auchdie Doppelung und Verunklarung der Erzaumlhlinstanz In den drei Dialogen indenen Satura und Martianus aufeinandertreffen behandeln sie die Frage desrichtigen Erzaumlhlens Dies beschraumlnkt sich nicht nur auf die Satire sondern umfasstalle auftretenden literarischen Formen Martianus und Satura sind sich uneinswie weit der Mythos reichen soll und ob eine Enzyklopaumldie trocken oder auchunterhaltsam erzaumlhlt werden soll (2 219ndash3 222) ob ein Symposion auch Zechenund Spaszlig vertraumlgt (8 803ndash810) oder ob und wie stark Satire Dinge vermischendarf (9 997ndash 1000)

Die unterschiedlichen Meinungen zu den Fragen werden zwar diskutiert undfuumlhren zu einem Ergebnis ndash der Erzaumlhlfluss versiegt ja an keiner Stelle oder setztneu an Allerdings entsteht in der Folge kein homogenes Werk und am Schlussmag keiner der beiden Erzaumlhler dafuumlr die Verantwortung uumlbernehmen Der Wi-derwillen sich zu dem Werk zu bekennen bedeutet aber gleichzeitig auch dassMartianus sich nicht festlegt welche Position er fuumlr die richtige haumllt Die Fragenach der rechten Art der Wissensvermittlung die auch in der Ent- und Inthroni-sierung Philologias anklang bleibt unbeantwortet

Schlieszliglich bringt der Blick auf die Aurelian-Vita aus der Historia Augustanoch einen weiteren Aspekt ein Parallel zur Aufteilung der Erzaumlhlinstanzen in Denuptiiswird der Erzaumlhlprozess in derHistoria Augusta aufmehrere AutorenverteiltWie zuerst Hermann Dessau und in der Folge Ronald Syme nachdruumlcklich gezeigthaben handelt es sich allerdings um nur einen Verfasser der uumlberdies auch inBezug auf die Abfassungszeit falsche Angaben gemacht hat und Quellen erfundenhatsup3⁶⁹ Insofern laumlsst sich der in der Historia Augusta gepraumlgte Begriff der

Auf den Charakter der Sammlung die Syme u a als bdquohoaxldquo bezeichnet (1983a 11 1983b13 1983c 219) die fingierten Autoren die manipulierten Quellen etc soll an dieser Stelle nurhingewiesen werden Vgl auch Cameron 2011 Kap 20 mit ausfuumlhrlicher Diskussion relevanterFragen

2 De nuptiis als literarisches Werk 151

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mythistoria der Vermischung von Mythischem und Historischem auch auf dieSammlung selbst anwendensup3⁷⁰

Als Menippee im engeren Sinne laumlsst sich weiterhin die Aurelian-Vita die 26Vita der Sammlung fassen und bezeichnenderweise spielt die Rahmenhandlungan denHilariasup3⁷sup1Wie zu den Saturnalien gehoumlren zu diesem Fest Scherze und ndash imRahmen von Maskierungen ndash Rollenwechselsup3⁷sup2

Noch in der rahmenden Einleitung zur Vita spielt sich folgender Dialog ab

1 et quoniam sermo nobis de Trebltellgtio Pollione qui a duobus Philippis usque ad divumClaudium et eius fratrem Quintillum imperatores tam claros quam obscuros memoriaeprodidit in eodem vehiculo fuit adserente Tiberiano quod Pollio multa incuriose multabreviter prodidisset me contra dicente neminem scriptorum quantum ad historiam pertinetnon aliquid esse mentitum prodente quin etiam in quo Livius in quo Sallustius in quoCornelius Tacitus in quo denique Trogus manifestis testibus convincerentur pedibus insententiam transitum faciens ac manum porrigens iocando[m] praeterea sbquoscribelsquo inquit sbquout

quae ille [scil Iunius Cordus] omnia exsequendo libros mythistoriis replevit talia scribendocum omnino rerum vilium aut nulla scribenda sint aut nimis pauca si tamen ex his morespossint animadverti qui re vera sciendi sunt hellip sed ex parte ut ex ea cetera colligantur(SHA Opil 1 5)

Bei der Anfuumlhrung von all diesen Informationen hat er die Buumlcher mit fabuloumlsen Ge-schichten angefuumlllt indem er Dinge von dieser Art schrieb wo doch uumlberhaupt keinenutzlosen Dinge geschrieben werden duumlrfen oder nur sehr wenige sofern daraus Verhal-tensweisen erkannt werden koumlnnen die wirklich wissenswert sind hellip aber zum Teil(schreibe ich) damit daraus das Andere gefolgert werden kann

quid Marius Maximus homo omnium verbosissimus qui et mythist[h]oricis se voluminibusinplicavit num ad istam descriptionem curamque descendit (SHA Quadr tyr 1 2)

Wie Hat sich Marius Maximus der groumlszligte Schwaumltzer vor dem Herrn der sich in seinenmythistorischen Werken verfangen hat etwa zu dieser Art der Darstellung und des sorg-faumlltigen Arbeitens herabgelassen

Hilaribus quibus omnia festa et fieri debere scimus et dici impletis sollemnibus vehiculo suome hellip Iunius Tiberianus accepit (SHA Aurelian 1 1)

An den Hilaria an denen alles zum Fest Gehoumlrende getan und gesagt werden muss wieman weiszlig empfing mich nach Erledigung der Zeremonien Iunius Tiberianus in seinemGefaumlhrt

Pausch bemerkt dieses besondere Datum zwar und erwaumlgt ob es sich um ein bdquoweitergehendesLesesignalldquo beispielsweise im Sinne karnevalesker Literatur handeln koumlnne verfolgt diese Spuraber nicht weiter (Pausch 2011 130 Anm 1) Herodian 1 10 5 ndash Einige Hinweise auf die Hilaria die im Kontext des Magna Mater-Festesam 25 Maumlrz gefeiert wurden bietet Fraser in seinem Kommentar zu Ovids Fasti (Fraser 1929244ndash248)

152 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

libet 2 securus quod velis dices habiturus mendaciorum comites quos historicae elo-quentiae miramur auctoreslsquo (SHA Aurelian 2 1ndash2)

1 Und weil unser Gespraumlch uumlber Trebellius Pollio der von den beiden Philippi bis zumvergoumlttlichten Claudius und dessen Bruder Quintillus gleichermaszligen uumlber beruumlhmte wieunbekannte Kaiser fuumlr die Nachwelt schrieb in derselben Saumlnfte stattfand behauptete erdass Pollio vieles ohne Sorgfalt und nur kurz dargelegt habe Ich erwiderte dass keinSchriftsteller sofern es um die Geschichte gehe nicht irgendwo gelogen habe und legtesodann dar worin sogar Livius Sallust Tacitus schlieszliglich sogar Trogus mit eindeutigenBelegen uumlberfuumlhrt werden koumlnnten Darauf sagte Tiberianus schlieszliglich scherzend indem ermeiner Meinung beipflichtete und mir seine Hand darbot bdquoSchreibe sowie du es fuumlr richtighaumlltst 2 Sage unbesorgt was du willst du wirst diejenigen als Gefaumlhrten fuumlr deine Taumlu-schungen haben die wir als Schoumlpfer historiographischer Beredsamkeit bewundernldquo

So sympathisch dieser Anspruch auch erscheinen mag ist er doch fuumlr das Ver-trauen in die Gattung der Geschichtsschreibung fatal Gerade in der Einleitungeiner Vita jedoch ndash zumal es der Fiktion nach die erste des Flavius Vopiscus Sy-racusius im Corpus der Historia Augusta ist ndash kann eine solche Anekdote ei-gentlich keinen Platz haben Sie erweckt beim Leser den Eindruck dass er dennachfolgend dargebotenen Informationen kein Vertrauen schenken duumlrfesup3⁷sup3

Die Parallelen zwischen der Historia Augusta insbesondere dem Vorgehen inder Vita Aureliani und De nuptiis liegen auf der Hand Verunklarung der Autor-schaft bzw der Erzaumlhlhaltung einerseits Erwecken von Zweifeln an der Glaub-wuumlrdigkeit des Dargebotenen andererseits

In der Historia Augusta sind die Inkongruenzen mit der Freude des Autors amliterarischen Spiel erklaumlrt worden Der Autor habe aus Freude am Fabulieren(vielleicht auchumein dafuumlr empfaumlngliches Publikum zu befriedigen) die Viten indieser Form verfasstsup3⁷⁴ Mag man dies fuumlr die Historia Augusta noch zugestehenderen Text uumlber einen laumlngeren Zeitraum vielleicht zunaumlchst ohne eine Gesamt-konzeption entstanden ist und auch sprachlich nicht herausragt stellt sich derSachverhalt fuumlr Martianusrsquo De nuptiis anders dar Das Werk hat durchaus einenliterarischen Anspruch und es folgt eindeutig einer vorab geplanten Gesamtan-lage Die Freude am Spiel mag vielleicht manches Detail beigesteuert haben fuumlrdie verschraumlnkte Anlage des Textes ist sie aber keine Erklaumlrung

Ganz anders ist der Anspruch zum Ende der Darstellung der Viten der bdquoDreiszligig Tyrannenldquoin dem der Autor beteuert seinem Werk mangele es zwar an literarischer Ausgefeiltheit nichtjedoch an Faktentreue da nunc cuivis libellum non tam diserte quam fideliter scriptum ndash sbquoGibnun dieses Buumlchleinwem du magst es ist nicht so sehr kunstvoll geschrieben wie es sachgetreuistlsquo (SHA Quadr tyr 33 8) Syme nennt dies bdquodeceit for its own sweet sakeldquo (1983c 217) Im gleichen Aufsatz spe-kuliert er auch uumlber das Interesse des Publikums an einer solchen Art von geistigem Spiel(ibid 221)

2 De nuptiis als literarisches Werk 153

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Es lohnt sich jedoch auch fuumlr die Historia Augusta einen Schritt weiter zugehen Ausgangspunkt dafuumlr ist die obige Beobachtungdass das literarische Spielder Historia Augusta nur durchschaut wer die Werke der historischen Literaturkennt Durch die Lektuumlre historiographischer Biographien bringt der Leser einebestimmte Leseerwartung also implizite Vorstellungen mit wie das Werk aus-sehen soll und wird Diese Erwartungen werden aber nicht oder nur teilweisebedient Formal gesehen weisen die Viten in der Historia Augusta zwar die Cha-rakteristika der Gattung auf ndash doch indem sie sie inhaltlich nicht adaumlquat aus-fuumlllen treten deren Konventionen vor Augen

Durch die uumlbermaumlszligige Verwendung falscher Verweise und erfundener Quel-len geraumlt zudem das Beglaubigungsverfahren historischer Texte in den Blick-punkt Der Leser erkennt anwelchen Stellenwelche Beglaubigungsmechanismenansetzen und auf welche Weise sie unterlaufen werden koumlnnen Uumlberspitzt lieszligesich behaupten DieHistoria Augusta verfolgt ein aufklaumlrerisches Interesse indemsie (spielerisch) aufzeigt welche Beglaubigungsverfahren die Geschichtsschrei-bung nutzt und wie sie manipuliert werden koumlnnen dadurch wird auch die Ma-nipulierbarkeit von Geschichte und Leser deutlich

In De nuptiis werden ebenfalls die Konventionen der Einzelgattungen ndash zu-mindest ansatzweise ndash hervorgehoben Dass kein perfektes Musterbeispiel derjeweiligen Einzelgattung entstehen kann liegt darin begruumlndet dass durch dieVerbindung der vier literarischen Genres keine oberflaumlchliche Konsistenz derFiktion entstehen kannVielmehr entstehen Bruumlche die ndash ebenso wie die Bruumlchein der Erzaumlhlhaltung ndash auch die Gattungskonventionen und ihre Annahmendeutlich werden lassen Dies gilt besonders fuumlr die Satire deren Vorgehen imKontrast zur eigentlichen Hochzeitshandlung aus dem Rahmen faumlllt und somitbesonderes Augenmerk erhaumllt Hinzu tritt mit der Figur Satura auch eine Perso-nifikation der Gattung die in theoretischen Diskussionen Annahmen und Vor-gehen mit Martianus eroumlrtert Grunduumlberlegungen der Gattung Satire werden sotheoretisch eroumlrtert und praktisch erprobt Gleiches giltwenn auch zT inwenigerdeutlicher Form auch fuumlr die anderen Formen Die Enzyklopaumldie in ihren langenMonologen wird durch Spott markiert die trockenen Kuumlnste werden probeweisedurch Allegorien zugaumlnglicher gemacht im Symposiondialog wird uumlberlegt in-wieweit uumlbliche Rollenmuster (der Zecher) einen Platz haben oder wie weit mandie fuumlr die Feier typischen Reden fuumlhren kann und immythischen Teil wird durchdie Gegenuumlberstellung mit dem handfesten Wissensbetrieb die Andersartigkeitdes Erzaumlhlens deutlich

So werden neben den Inhalten der Wissenschaften auch verschiedene lite-rarische Formen bewahrt Neben der reinen Anwendung und somit Tradierungwerden gleichzeitig auch die Mechanismen verdeutlicht deren sich die jeweilige

154 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Gattung bedient Somit wird ihr Funktionieren nachvollziehbar und in der Folgeauch nachahmbar

3 Zusammenfassung

Martianus weckt also durch die Wahl mehrerer gleichberechtigter Erzaumlhler diesomit das Erzaumlhlen unzuverlaumlssig werden lassen besonders aber durch dieUumlbernahme satirischer Gattungselemente ein Bewusstsein fuumlr die traditionellenGrundlagen desWissens- und Lehrsystems seiner Zeit ImGegensatz zur Satire diediese Fragen kategorisch stellt handelt es sich in De nuptiis um ein Spiel damitDer Satirebezug dient als Anknuumlpfung an die traditionellen Gattungsmerkmaleder menippeischen Satire Karnevaleske und Dialogizitaumlt

Durch die (temporaumlre) Rolleninversion richtet sich das Augenmerk aufPhilologia als Wissenszentrum und Wissensmittlerin und fordert zum Nach-denken daruumlber heraus Im Kern hinterfragt das Werk alle Bereiche die mit Bil-dung und Bildungsvermittlung zu tun haben Was sind die Inhalte wahrer Bil-dung Gibt es eine Einheit von Bildung Wie kann sie vermittelt werden

Allerdings zielt die Kritik nicht auf eine Aufloumlsung klassischer Bildungsinhalteund Vermittlungsformen Sie regt vielmehr durch Scherz und Bruumlche zumNachdenken uumlber diese Fragen an Dabei verzichtet Martianus auf eigene Vor-schlaumlge und Konzepte und festigt so gleichsam den traditionellen Bildungs-betrieb Das von ihm dargestellte Wissen wird kanonisiert und die Darstel-lungsform in langen Reden wird es auch Die mittelalterliche Rezeption von Denuptiis zeigt dies eindrucksvoll

Wissen umfasst dabei nicht nur das Faktenwissen der Vortraumlge sondern auchdas Wissen um bestimmte literarische Formen Durch die Verbindung von vierGattungen und die Doppelung der Erzaumlhlerfigur mit Reflexion uumlber angemessenesErzaumlhlen entstehen Inkonsistenzen die die Konventionen der einzelnen Gattun-gen hervortreten lassen Nicht alle Elementewerden auf dieseWeise deutlich aberMartianus bietet einen Ansatzpunkt die Fiktion auch unter der Fragestellung zulesen was einen Text der jeweiligen Gattung ausmacht ndash sowohl positiv wie ne-gativ formuliert

Mit seiner kreativen Konzeption und ihrer literarischen Umsetzung gelingt esMartianus eindrucksvoll Heiteres und Belehrendes zu verbindenwomit er an dieTradition Varros und die klassische antike Poetik anknuumlpft Es gelingt ihm daruumlberhinaus aber auchWissen zu vermitteln und die traditionellen Vorstellungen vonder Bedeutung dieses Wissens wie der Form seiner Vermittlung herauszustellenSpielerisch wird also gelehrt und hinterfragt nicht jedoch kategorisch kritisiertoder kuumlhn neu entworfen Gerade dadurch zeichnet sich Martianusrsquo De nuptiis

3 Zusammenfassung 155

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

tatsaumlchlich als nescioquid inopinum intactumque (sbquoetwas Ungewohntes und nochnie Gewagteslsquo 1 2) aus und macht es zu einem der bedeutendsten Buumlcher derSpaumltantike und zu einer interessanten Quelle fuumlr die Frage nach Bildungsvor-stellungen im fuumlnften Jahrhundert

156 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Page 15: Bildungsvorstellungen im 5. Jahrhundert n. Chr. (Macrobius, Martianus Capella und Sidonius Apollinaris) || III Martianus Capella, De nuptiis Philologiae et Mercurii

und kohaumlrente Decodierung aller Verweise undAnspielungen nichtmoumlglich seisup3⁰sup1Ihrer Ansicht nach ist es dem modernen Leser nurmehr moumlglich einzelnen Ver-weisen nachzugehen und sie aufzuzeigensup3⁰sup2

Trotz der benannten Schwierigkeiten darf bei allen Fragen nach literarischenVorlagen nicht vergessen werden dass De nuptiis vor allem (aber nicht aus-schlieszliglich) auch ein allegorisches Werk ist Die imposante Schilderung der vierFluumlsse in Buch 1 Apoll auf demParnass-Huumlgel die allegorischen Figuren undvieleweitere Elemente sind nicht nur kreative literarische Erfindungen sondern for-dern zu einer uumlbertragenen Lesart des Werkes auf Besonders die ersten beidenBuumlcher die den Mythos enthalten muumlssen aus diesem Blickwinkel gelesen undverstanden werden

Zu verweisen ist auszligerdem auf die Bezeichnung der Erzaumlhlung als fabula oderfabella Neben der naheliegenden Bedeutung von sbquoErzaumlhlung Geschichtelsquo imallgemeinen Sinn ist sicher auch an die Diskussion um die Berechtigung von fa-bulae in Macrobiusrsquo Somnium-Kommentar zu denken Dort verteidigt Macrobiussowohl Platon als auch Cicero gegen den Vorwurf fiktive Geschichten zu benut-zen um philosophische Wahrheiten zu verkuumlnden In bestimmten Faumlllen seidieses Vorgehen gerechtfertigt solange es sich um wahrhaftige und belehrendeErzaumlhlungen handlesup3⁰sup3 Diese Voraussetzung kann man auch fuumlr De nuptiis alserfuumlllt ansehen Da Martianus zudem dem Neuplatonismus aumlhnlich nahesteht wieMacrobiussup3⁰⁴ ist von einer bewussten Entscheidung zugunsten einer literarischenDarstellung auszugehen

Den einzigen Versuch einer umfassenden Deutung verschiedener Elementedes Mythos und der allegorischen Darstellung hat ndash unter Vernachlaumlssigung ei-niger Details ndash bislang Lenaz unternommen In der ausfuumlhrlichen Einleitungseines Kommentars zum zweiten Buch von De nuptiis untersucht er die philoso-phisch-religioumlsen Motive in diesem Buch und kann Verbindungen zur Myste-

Kupke 1998 154 Kupke 1998 159 Fuumlr den spaumltantiken und den mittelalterlichen Leser glaubt sie jedoch andie Moumlglichkeit der problemlosen Dekodierung Macr somn 1 2 21 vgl oben Anm 45 Gerade die neuplatonischen Elemente von De nuptiis sind verschiedentlich benannt wor-den auch wenn nicht immer eine einheitliche Deutung geboten wird Haumlufig genannt wird derAufstieg Philologias in den Himmel uumlber die Sphaumlrenstufen der mit einer bdquoRuumlckkehr der Seeleldquogleichgesetzt wird (z B Bovey 2003 11 Lenaz 1975 113 vgl auch Guillaumin 2008) Hinge-wiesen wird auch auf die drei Frauen die Merkur nicht heiraten wollen (Sophia Mantike undPsyche 1 6ndash7) und die drei Seelenteile darstellen sollen deren Summe aber letztlich Philologiaist (Lenaz 1975 107ndash 110) Dagegen vertritt Kupke die These die neuplatonischen Elementetruumlgen keine zusaumltzliche Sinnebene bei (Kupke 1998 153) kritisch aumluszligern sich BednařiacutekovaacutePetrovićovaacute 2010 7

128 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

rieninitiation zu platonischen Mysterien chaldaumlischen Orakeln magischenPraktiken und zur Theurgie nachweisen Im Deutungsteil verwirft er die ThesenNuchelmansrsquo und Mathonssup3⁰⁵ als zu kurz greifend Nuchelmans hatte in derHochzeit Philologias und Merkurs (mittelalterlicher Kommentar-Tradition fol-gend) eine Forderung von Martianus nach der Vereinigung von Wissen (Philo-logia) und Rhetorik (Merkur) gesehen Mathons Ansatz fuumlhrte den Verweis auf dieneuplatonische Wieder-Erinnerung und die Ruumlckkehr der Seele in dieses Modellein Ebenso wie bei Nuchelmans werden auch hier nur wenige Elemente desMythos interpretiertsup3⁰⁶

Lenazrsquo eigener Ansatzsup3⁰⁷ folgt den Uumlberlegungen Ferrarinossup3⁰⁸ und ergaumlnzt siemit einigen Hypothesen Im Kern kreise der Mythos des zweiten Buches um einedoppelte Vereinigung die (horizontale) Vereinigung allen irdischen Wissens inPhilologia mit Hilfe von Hymenaeus und die (vertikale) Vereinigung der goumlttlichenund menschlichen Sphaumlre mit Hilfe von Eros Hinzu treten Uumlberlegungen ob essich bei Philologia und Merkur eventuell um nur eine Entitaumlt handle die Seelewelche getrennt worden sei und nun wieder zusammenfinde

Diese Lesart integriert die meisten der mythischen und allegorischen Ele-mente und verbindet sie weitgehend schluumlssig zu einem umfassenden KonzeptAllerdings vernachlaumlssigt sie auch bestimmte EinzelbeobachtungenWieso steigtPhilologia vom Sphaumlrenrand wieder auf die Milchstraszlige hinab (2 200 2 206)Wieso werden ihr auf der Milchstraszlige die irdischen Kuumlnste vorgefuumlhrt die sieerbrechenmusste damit sie in den Himmel aufsteigen konnte (2 135 f)sup3⁰⁹ Bereitsdiese Fragen zeigen deutlich dass eine kohaumlrente plausible Aufloumlsung des Mythosnicht leicht moumlglich ist

Nuchelmans 1950 Mathon 1969 Lenaz 1975 105 Aumlhnliches gilt auch fuumlr Hadots Deutung Sie identifiziert Merkur mit demaumlgyptischen Gott Theuth auf den in De nuptiis 2 102 f angespielt wird und nennt ihn diebdquoPersonifizierung der goumlttlichen Vernunftldquo waumlhrend Philologia die Personifizierung dermenschlichen Vernunftseele in deren idealem Zustand darstelle Die sieben Wissenschaften unddie sieben mantischen Kuumlnste ermoumlglichten es der Seele bdquozu ihrem Ursprung dem intelligiblenBereich oder zu Gottldquo zuruumlckzukehren (Hadot 2009 21 f) Lenaz 1975 106ndash 119 Ferrarino 1969 Dieses Problem entfiele wenn man annaumlhme dass Martianus die Erzaumlhlung nur auf dieersten zwei Buumlcher angelegt habe und erst danach die Moumlglichkeit einer Verbindung mit der inden Buumlchern 3 bis 9 folgenden Enzyklopaumldie erkannt habe Dafuumlr gibt es zwar Hinweise (bes dieDiskussion um die FiktionalitaumltUnterhaltung) am Ende von Buch 2 und zu Beginn von Buch 3doch duumlrfte man annehmen dass Martianus den Grundkonflikt von zuruumlckgelassenem Wissenund erneut geschenktem Wissen erkannt und behoben haumltte

2 De nuptiis als literarisches Werk 129

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Weiterhin uumlberbetont der Versuch den Mythos allein aus sich heraus zu er-klaumlren den Stellenwert des zweiten Buches im Gesamtwerk Als Interpretations-rahmen zwar wichtig tritt er bei fortschreitender Lektuumlre hinter die praktischeDarstellung der sieben Kuumlnste zuruumlck Diese nehmen nicht nur mehr Raum einsondern uumlberlagern die Darstellung im zweiten Buch und reduzieren somit auchderen Bedeutung Der Mythos ist also einwichtiger keineswegs jedoch der einzigeBestandteil von De nuptiis

Menippeische SatireDas auffaumllligste literarische Kompositionselement von De nuptiis ist jedochzweifellos die Wahl des Prosimetrums die Mischung von Prosapartien mit me-trischen Einheiten Der uumlberwiegende Teil des Werks ist in Prosa gehalten inwelchen 33sup3sup1⁰ metrische Partien eingelegt sind Dabei sind die Gedichte nichtregelmaumlszligig uumlber das gesamte Werk verteilt sie finden sich uumlberwiegend an ex-ponierten Stellen besonders an den Buchanfaumlngen und Buchenden Bei denmetrischen Partien innerhalb eines Buches handelt es sich fast ausschlieszliglich umGoumltterreden

Die beobachtete unregelmaumlszligige Verteilung der metrischen Partien unter-scheidet sich deutlich von der Gestaltung wie sie Boethius wenige Jahrzehntespaumlter inDe consolatione Philosophiae einsetzt Dort sind diemetrischen Partien inHinblick auf die Gesamttextmenge haumlufiger und zudem gleichmaumlszligiger verteiltsup3sup1sup1

Damit haumlngt zusammen dass auch die literarisch-argumentative Funktion dermetrischen Teile z T von derjenigen bei Boethius abweicht Bei Boethius stehendie Gedichte im Argumentationszusammenhang und fuumlhren Gedanken fort oderbuumlndeln sie in praumlgnanter Ausdrucksweisesup3sup1sup2 Ein gutes Beispiel dafuumlr ist eine

Die Zaumlhlung umfasst die zusammenhaumlngenden metrischen Partien und zaumlhlt auch Ge-dichte mit unterschiedlichem Versmaszlig (z B die Gedichte der Musen) als eine Partie Vgl dazu besonders OrsquoDaly 1991 Kap 1 (bdquoThe poetics of the Consolationldquo) darin 19ndash22 zuMartianus Sprachliche Parallelen sind zusammengestellt im Index der Boethius-Ausgabe vonBieler (CCSL 94 116) diskutiert werden sie bei Pabst 1994 163ndash 168 Da Boethius das Werk desMartianus kannte kann man von einer gelungeneren Ausdifferenzierung der Ansaumltze des Mar-tianus sprechen Der Vergleich des Einsatzes der prosimetrischen Form bei Boethius gewinntdadurch an Gewicht Eine Mischung von Prosa und Poesie findet sich weiterhin bei Fulgentius inden Mythologiae ndash Zu Parallelen in den Werkanfaumlngen bei Martianus Fulgentius und Boethiusvgl Klingner 1921 114 Pabst 1994 der Fulgentiusrsquo Vorgehen durchaus als bdquoimitatio Martianaldquoversteht (162 134ndash 137) fuumlr Boethius in Martianus allerdings nur eine Quelle sieht bdquoThey contribute to the argument as it proceeds yet take a wider view with an authorityoutside and above the adjacent prose They possess their own thematic design which spans theentire workldquo (Crabbe 1981 260) bdquoDie Metra bilden Ruhe- und Houmlhepunkte im Werk haumlufig

130 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Stelle zu Beginn des vierten Buches Nachdem zunaumlchst allgemein erlaumlutert wirddass die Weisen vermoumlgen was sie wollen die Schlechten jedoch nicht(cons 4 1 131ndash140) folgt in Versen eine Reihe plastischer Beispiele fuumlr die These(cons 4 carm 2) bevor der Gedanke fortgesponnen wird (cons 4 3 1ndash4)

An anderen Stellen uumlbernehmen die metrischen Partien eine Gliederungs-funktion indem sie Gedanken abschlieszligen und durch die Unterbrechung Zeit zurErholung bieten So sagt Philosophia zu ihrem Schuumller Boethius

bdquosed uideo te iam dudum et pondere quaestionis oneratum et rationis prolixitate fatigatumaliquam carminis exspectare dulcedinem accipe igitur haustum quo refectus firmior inulteriora contendasldquo (Boeth cons 4 6 200‐203)

bdquoAber ich sehe dass du bereits vom Gewicht der Untersuchung belastet und von der Breiteder Beweisfuumlhrung erschoumlpft auf die suumlszlige Erholung eines Liedes wartest nimm also denTrank damit du solchermaszligen erfrischt kraumlftiger zu den weiteren Themen eilen kannstldquo

In dieser zweiten Funktion setzt auch Martianus die metrischen Partien ein Dabeisind sie nicht in die Prosadarstellung eingeschoben sondern markieren fastausschlieszliglich die Buchanfaumlnge und Buchenden Explizites Ziel ist die Belebungdes Werkes um eine angenehme Lektuumlre zu erleichternsup3sup1sup3 Dies widersprichtMartianusrsquoAnkuumlndigung nach der hinleitenden Erzaumlhlung in denBuumlchern 1 und 2keine fiktionalen Erzaumlhlungen mehr einfuumlgen zu wollen die Darstellung solleernst und dem Gegenstand angemessen sein

nunc ergo mythos terminatur infiuntartes libelli qui sequentes asserentnam fruge vera omne fictum dimoventet disciplinas annotabunt sobriaspro parte multa nec vetabunt ludicra (2 220)

Nun also hat der Mythos sein Ende erreicht es beginnen die Buumlcher die die nun anschlie-szligenden Kuumlnste darbieten Denn mit wahrhaftiger Ernte entfernen sie alles Erdichtete undzeichnen die Kuumlnste nuumlchtern auf verbieten jedoch nicht gelegentliche Unterhaltung

stehen sie am Ende von Einzelabschnitten wo sie diese dann rekapitulieren und fuumlr densbquoSchuumllerlsquo zusammenfassen Bisweilen kommt ihnen auch eine Uumlberleitungsfunktion zuldquo (Kin-dermann 1969 63) ndash Zur Gattung allgemein allerdings mit besonderem Fokus auf die mittel-alterliche Literatur vgl Pabst 1994 bes 105ndash 133 zum Prosimetrum bei Martianus und 158ndash 195bei Boethius sowie Dronke 1994 bes Kap 2 (bdquoAllegory and the mixed formldquo) So auch McDonough der im Kapitel bdquoThe function of the poetryldquo zu Recht (aber zu kurzgreifend) formuliert bdquoIn undertaking the compilation of his encyclopedia the main challenge toMartianus lay in maintaining the interest of his readers (and himself) in making palatable thearid factual account of the various disciplinesldquo (McDonough 1968 37)

2 De nuptiis als literarisches Werk 131

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Scheint es an dieser Stelle so als ob Mythos und Heiteres getrennte Dinge waumlrenzeigt der unmittelbare Fortgang zu Beginn von Buch 3 dass beide Begriffe letztlichAumlhnliches bezeichnen Hier am Beginn der Schilderung der freien Kuumlnste(3 221 f) erlaumlutert Martianus in einem weiteren Gedicht das als Dialog gestaltetist warum er von seinem Plan abweicht

Camena bringt Schmuck fuumlr das Werk mit (amicta fictis commenta ferre) AufMartianusrsquo Einwand keine Mythen mehr vorbringen zu wollen (mythi pulsi) er-widert sie es gehe nicht um Luumlge (nil mentiamur) sondern um Einkleidung(vestiantur Artes) ndash man koumlnne die Brautjungfern also die Allegorien der freienKuumlnste doch nicht nackt vorfuumlhren Daraufhin gibt sich Martianus geschlagenund die Handlung von Buch 3 beginnt

Abgesehen von der unterhaltenden Funktion die besonders durch die Ge-dichte an den Buchenden gewaumlhrleistet wird scheinen die metrischen Passagenfuumlr viele Forscher wahllos in das Werk eingestreut Typisch ist eine Aussage wieCrabbe sie trifft bdquoMartianus uses verse frequently at the beginning sometimes atthe end of books and erratically throughoutldquosup3sup1⁴

Natuumlrlich kann von einer systematischen Verteilung und einer argumenta-tionslogischen Anordnung wie bei Boethius nicht gesprochen werden Bei ge-nauerem Hinsehen wird jedoch deutlich dass die metrischen Abschnitte nichtwillkuumlrlich uumlber das Werk verstreut sindsup3sup1⁵

Die meisten metrischen Passagen finden sich in den Buumlchern 1 und 2 von Denuptiis Diese Buumlcher enthalten die einleitende Handlung die als fiktionale Er-zaumlhlung dargeboten wird Im Bericht von der Suche Merkurs nach der richtigenEhefrau und von Philologias Aufstieg in den Himmel finden sich neun metrischePassagen Es handelt sich dabei bis auf die drei Faumllle der an den Buchanfaumlngen(Buch 1) und Buchenden (Buch 1 und 2) stehenden Gedichte um Reden vonGoumlttern Diese fuumlhren die Handlung fort und dienen also nicht der Buumlndelung derGedanken oder der Erholung des Lesers Stattdessen scheint es Martianus darumzu gehen das Sprechen der Goumltter durch die metrische Gebundenheit als be-

Crabbe 1981 264 Eine Typisierung die z T von der Position der metrischen Passagenlosgeloumlst ist bietet McDonough seiner Ansicht nach sind die metrischen Partien hauptsaumlchlichfunktional bdquoThe poetry thus is primarily functional although this function varies from book tobookldquo (McDonough 1968 38) Als Funktionen benennt er fuumlr Buch 1 Handlungsfortfuumlhrung fuumlrBuch 2 Schmuck fuumlr Buch 3 Belehrung fuumlr den Rest Einfuumlhrung oder Entlassung derBrautjungfern oder Unmut uumlber Verzoumlgerung der Hochzeit Der Rest seien bdquooccasional piecesldquo(ibid 40) ndash Verspartien finden sich am Anfang der Buumlcher 1 2 3 4 5 6 7 und 9 sowie am Endeder Buumlcher 2 4 5 7 und 9 Die ungleiche Verwendung der Metra bei Boethius und Martianus laumlsst sich am besten alsEntwicklung verstehen wie es beispielsweise Kindermann (1969 60) tut Zur Kenntnis desMartianus bei Boethius vgl oben Anm 311

132 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

sonders zu markieren Dies gilt vor allem fuumlr markante Szenen zum Beispiel dieRede Jupiters in der Goumltterversammlung gegen Ende des ersten Buches (1 91ndash93)oder die orakelartige Auskunft Apolls (1 21 f)

Diese Beobachtung gilt daruumlber hinaus ebenso fuumlr die genannten Stellen inBuch 9 auch wenn es sich dort nicht um die Vorgeschichte oder einen weiterenliterarischen Rahmen handelt Jedoch ist eine Szene mit Goumlttergespraumlchen ein-geschoben in der die Goumltter unter anderem auch Verse verwenden Durch dieseReden in metrisch gebundener Form soll den entsprechenden Buumlchern also einehoumlhere Wuumlrde verliehen werden

Einen zweiten Fall stellen die Gedichte zu Beginn oder zu Ende eines Buchesin den Buumlchern 3 bis 9 dar In diesen Buumlchern praumlsentieren die Freien Kuumlnste ingeschlossenem Vortrag die Inhalte ihrer Wissenschaft Die Gedichte in einigenFaumlllen in auktorialer Erzaumlhlhaltung gestaltet uumlberbruumlcken die Fuge zwischen denBuumlchern und bieten eine Pause zwischen den langen Vortragspartien der Leserkann sich erholen Die Inhalte der Verspartien sind unterschiedlich es handeltsich zumeist um den Ein- oder Auszug einer Brautjungfer (4 327 4 423 f 8 8028 808 9 911ndash919) um die Fortfuumlhrung der Hochzeitshandlung (5 425 8 8059 888) um die Anrufung eines Gottes (6 567ndash574) oder um eine Wendung desAutors an den Leser (5 566 9 997ndash 1000)

Dieser Einsatz der Verspartien ist jedoch noch keine hinreichende Erklaumlrungfuumlr die Wahl des Prosimetrums Sie erklaumlrt sich besonders dadurch dass Marti-anus auf diese Weise sein Werk in die Traditionslinie von Texten einreiht die alsmenippeische Satiren bezeichnet werdensup3sup1⁶

Charakteristisch fuumlr diese spezielle Form der roumlmischen Satire ist der Wechselvon metrischen und prosaischen Partiensup3sup1⁷ Klassische lateinischsprachige Ver-treter der menippeischen Satire sind Varro (Saturae Menippeae) Seneca (Apo-colocyntosis) und Petron (Satyrikon) in der griechischen Literatur nutzen Lukianund Julian (Caesares) diese Form Inhaltlich lassen sich nur wenige Verbindungenzwischen den Werken ziehen und auch die Umsetzung der formalen Elemente istunterschiedlich Dies fuumlhrt sogar so weit dass sich moderne Forscher trotz derbereits antik bezeugten Bezeichnungder Gattung teilweise auszligerstande sehen dieGattung genauer zu definieren oder dass sie ihre Fragestellung losgeloumlst von derGattungstradition verfolgensup3sup1⁸ Dies macht die Verortung von De nuptiis in diesemGenre nicht leichter

Zur menippeischen Satire vgl Relihan 1993 Coffey 1996 Im Gegensatz dazu beschraumlnkt sich die Verssatire seit Horaz auf die Verwendung desHexameters So betont Scheible im Vorwort ihrer Studie zu den Gedichten in Boethiusrsquo de consolationedass sie Vorgaben der Tradition in Hinblick auf die Gedichte nicht beruumlcksichtige ndash sie lieszligen

2 De nuptiis als literarisches Werk 133

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Gelegentlich wird sogar die These vertreten dass sich das satirische ElementinDe nuptiis in dieser formalen Verbindung von Prosaund Poesie erschoumlpfesup3sup1⁹DerGattungsbegriff sbquomenippeische Satirelsquo waumlre dann identisch mit der BezeichnungsbquoProsimetrumlsquo Dem widersprechen jedoch verschiedene Beobachtungen derRuumlckgriff auf die Etymologie des Wortes satura die Bezugnahme auf Vertreter derGattung und das Auftreten einer Figur namens Satura sowie deren Agieren dasuumlber die rein formale aumluszligerliche Satireform hinausweist schlieszliglich die beson-dere Gestaltung der Erzaumlhlsituation Diese vier Elemente sollen im Folgendenherausgearbeitet werden

Etymologie ndash Dass Martianus sein Werk sehr wohl als Satire verstanden wissenwill wird an verschiedenen Stellen deutlich Dies geschieht zum Beispiel durchgelehrte Anspielungen auf die Terminologie der antiken Satire an prominenterStelle So heiszligt es in 9 998

[Satura] haec quippe loquax docta doctis aggeransfandis tacenda farcinat immiscuitMusas deosque disciplinas cyclicasgarrire agresti cruda finxit plasmate

So haumluft sie plappernd Gelehrtes auf Gelehrtes und stopft geheimes und bekanntes Wissenzusammen hatMusenundGoumltter vermischt undhat sich erdacht dass die enzyklopaumldischenDisziplinen in einem baumlurischen Machwerk unreifes Zeug daherplappern

Die Woumlrter farcinat und immiscuit verweisen auf das Zusammenstopfen undVermischen verschiedener Zutaten z B in einer Wurst oder Pastete Gleiches giltfuumlr die Woumlrtermiscillo und aggeranssup3sup2⁰ Ausgangspunkt fuumlr diese Terminologie istdie Etymologie desWortes sbquoSatirelsquo an sich bedeutet urspruumlnglich etwaswie sbquobunteMischunglsquosup3sup2sup1 Traditionell sind Anspielungen auf diese Etymologie in der satiri-

sich nicht feststellen (Scheible 1972 8) Vorhandene Untersuchungen beschreiben in der Regeldie Konstituenten der einzelnen Werke Aufgrund der geringen Zahl uumlberlieferter Werke und dergroszligen Unterschiede zwischen ihnen ist es jedoch schwierig die typischen Elemente der Gat-tung zu benennen Auch diese Arbeit schlieszligt sich dem beschreibenden Vorgehen an undvergleicht an einschlaumlgigen Stellen inwieweit die Beobachtungen auch fuumlr die Gattung typischsind So z B Coffey der die Mischung aus Prosa und Poesie bei Martianus als bdquomiscellanyldquobezeichnet und vor einer Verbindung von De nuptiis mit der Satire als problematisch warnt(Coffey 1996 959) Vgl Relihan 1993 14 ErnoutMeillet s v satur -ra -rum (2001 596) WaldeHofmann s v satura (2007 II482f) Der zentrale Hinweis auf eine Ableitung des Wortes aus dem kulinarischen Bereich findet

134 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

schen Literatur selten Allein in Juvenal findet sich ein Hinweis darauf gleichwohlmit leicht anderem Verstaumlndnis Er betrachtet die Zusammenstellung der Satirenals farrago also als Mischgericht nicht die einzelne Satiresup3sup2sup2

In diesen sehr bildlichen Wendungen trifft Martianus gleichzeitig eine Aus-sage uumlber sein Verstaumlndnis der Darstellung von Bildungswissen Bei ihm gibt eskeine vorverdauten und mundgerecht aufbereiteten Wissenspaumlckchen (wie Ma-crobius sie bietet)sup3sup2sup3 sondern rohe Kost (cruda) die ihre Zutaten d h die lite-rarischen oder inhaltlichen Urspruumlnge nicht leugnet LeMoine formuliert prauml-gnant bdquoBy calling attention to the literary functions these metaphors fulfillMartianus hellip raises questions about the principles of seamless synthesis andverbal regurgitation which Macrobius so effectively demonstratesldquosup3sup2⁴

Dass Martianus durch diese Art der Darstellung seine Autoritaumlt infrage stelle(bdquohellip reveal doubts about the competence of the cook and the quality of the edu-cational feastldquo)sup3sup2⁵ laumlsst sich jedoch nicht erkennen Schlieszliglich benennt er seinVorgehen explizit (scheitert also nicht an einem gesteckten Plan) und bietetgleichzeitig mit der Kritik an der klassischen Form der Wissensvermittlung eineMoumlglichkeit an wie nicht-vereinheitlichte Wissensvermittlung aussehen kannBeeintraumlchtigungen des Vertrauens zum Erzaumlhler und zu den Inhalten gibt esallerdings ndash jedoch aufgrund anderer Faktorensup3sup2⁶

Bezug auf andere Satiriker ndash Neben den Anspielungen auf die Etymologie derGattung Satire treten explizite Bezuumlge auf andere Autoren menippeischer Satirenauf Namentlich wird jedoch keiner der Vorgaumlnger genannt die Nennung Varroserfolgt ausschlieszliglich in den Vortraumlgen der Brautjungfern und bezieht sichuumlberwiegend auf Varros fachschriftstellerische Werke oder seinen Ruf als Enzy-klopaumldistsup3sup2⁷

sich beim Grammatiker Diomedes (Grammatici Latini 1 485) Ausgehend von dieser Passageeroumlrtert Petersmann die Etymologie mit besonderer Beruumlcksichtigung des Ursprungs des Wortessatura aus dem Kuumlchenbereich (Petersmann 1986) Iuv 1 86 nostri farrago libelli Vgl die Kommentare Morton Braund 1996 95 f undCourtney 1980 103 Vgl die Gleichnisse in der praefatio zu den Saturnalia (Sat praef 5ndash9) und die Ausfuumlh-rungen in Kap II1 sowie die dort aufgefuumlhrte Literatur LeMoine 1991 360 ibid S u die Abschnitte bdquoErzaumlhlinstanzenldquo und bdquoDeutungen der komplexen literarischen Formldquo 4 335 (die Gelehrsamkeit Varros vgl Cic ac 1 9 Aug civ 6 2) 5 517 (Nennung in einemZitat) 6 639 und 6 662 (Fragen der Geographie die Varro-Vorlage ist nicht bekannt) 9 928 (cfVarro rust 3 17 4) Vgl zum Verhaumlltnis von Martianus und Varro bes Bovey 2003 Kap 2 (bdquoLaquestion varronienneldquo) und Schievenin 2009f

2 De nuptiis als literarisches Werk 135

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Allerdings zitiert die Wendung ὄνος λύρας in 8 807 den Titel einer menip-peischen Satire Varrossup3sup2⁸ Die Wendung ist in der lateinischen Literatur ander-weitig nicht belegt weshalb davon auszugehen ist dass Martianus hier auf denrepublikanischen Satiriker direkt zuruumlckgriff Da die Wendung zudem im Streit-gespraumlch zwischenMartianus und Satura uumlber die angemessene Art des Erzaumlhlensder Geschichte faumlllt kommt ihrer Verwendung eine programmatische Aussage zuMartianus stellt sich und sein Werk also in die Nachfolge Varros und seiner Sa-tiren

Ein Bezug auf Lukian ist weniger sicher nachzuweisensup3sup2⁹ Allerdings gibt eseine motivische Uumlbernahme im zweiten Buch von De nuptiis Philologias Erbre-chen des Wissens das der Hochzeit vorausgeht hat eine Parallele in LukiansDialog Lexiphanes Der allzu (ein)gebildete Lexiphanes nimmt auf Draumlngen vonLycinus ein Brechmittel ein das ihm der Arzt Sopolis gibt Daraufhin erbricht eralle Woumlrter die er gelernt hat dies ist die Voraussetzung dafuumlr dass er nun an-gemessen belehrt werden kannsup3sup3⁰

Es handelt sich um die Fragmente Varro Men 348ndash369 In Fragment 349 findet sich dieWendung auch im Vers (si quis μελωδεῖν est ὄνος λύρας praesepibus se retineat forensibus ndashsbquower beim Gesang wiersquon Esel an der Harfe bloumld der bleib getrost im Stallmief seines Forumsdortlsquo [Uumlbs Krenkel]) Die Bezugnahme auf Varro ist umso wahrscheinlicher da Satura unmit-telbar zuvor sowohl Martianusrsquo berufliche Aufenthalte auf dem Forum erwaumlhnt und ein Wort-spiel mit seinem Namen Capella angestellt hat ndash der zwar nicht sbquoEsellsquo bedeutet wohl aber einHaustier (sbquoZiegelsquo)Vgl dazu Shanzer 1968c 38ndash40 Shanzer 1986a kritisch dazu Pabst 1994 168(m Lit) Folgt man Bovey handelt es sich bei der unmittelbar folgenden Wendung καιρὸν γνῶθιum einen weiteren Verweis auf den Titel einer Varro-Satire γνῶθι σεαυτόν (= Varr Men 199ndash210 vgl Bovey 2003 282ndash284) Naumlher liegt wohl dass Martianus Capella diese eigenstaumlndigeSentenz (vgl Diogenes Laertios I 79 der sie als Sentenz des Pittakos ausweist) aus einer anderenQuelle uumlbernommen hat Kindermann 1969 60 Shanzer geht davon aus dass Martianus Lukian kannte (Shanzer1986c 36) Zur Diskussion um Martianusrsquo Griechischkenntnisse vgl Cristante 2009 [5] undShanzer 1986c 4 die beide annehmen dass Martianus durchaus Griechisch beherrschteShanzer weist einige Stellen auf an denen Martianus woumlrtlich uumlbersetzt und schlieszligt aus derBeherrschung des Griechischen zu Recht auf einen gebildeten moumlglicherweise sogar akade-mischen Hintergrund von Martianus Lucian Lex 20f Andere antike Texte die das Erbrechen von Wissen als Teil des Reini-gungsprozesses beschreiben oder als Bild tradieren sind mir nicht bekannt Daher ist eswahrscheinlicher dass Martianus auf Lukian im Original zuruumlckgegriffen hat Zur vor-byzantinischen Rezeption Lukians vgl Nesselrath 1994 der spaumltantike Bezuumlge auf Lukian u abei Julian und Claudian aufzeigt ndash Einen Bezug auf Lukians Concilium deorum fuumlr moumlglich haumlltKrapinger 1999 962 ndash Anders gelagert sind Lucian cont 7 und Aug in Joh ev tract 36 1 Dortgeht es darum dass durch das Ausspeien Wissen weitergegeben wird was zum Bild der daserbrochene Wissen aufsammelnden Artes passt nicht jedoch zum Motiv der Reinigung

136 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Bezuumlge auszligerhalb der Uumlbernahme uumlblicher Gattungselemente lassen sich fuumlrSenecas Apocolocyntosis Petrons Satyricon oder Julians Caesares nicht konsta-tierensup3sup3sup1

Die Figur der Satura und ihr Handeln ndash Einer der deutlichsten Hinweise auf dieForm der Satire liegt im Auftreten einer Figur namens Satura Diese Figur wirdzunaumlchst von Martianus als Erzaumlhlinstanz eingefuumlhrt (1 2) von der er den Inhaltvon De nuptiis erfahren haben will Im Laufe des Werks gewinnt Satura aber anProfil und agiert zunehmend autonom

Aussagen uumlber Satura beruhen letztlich auf drei Stellen in De nuptiis (6 576ndash5798 806ndash8109997ndash999) und koumlnnen fast ausschlieszliglich aus der Formund derBotschaft ihrer eigenen Aumluszligerungen gewonnen werden An allen drei Stellendiskutiert Satura mit Martianus Ansonsten ist Satura zwar als praumlsent zu denkenwird aber nicht weiter thematisiert

Nach Martianusrsquo Anrufung Minervas zu Beginn des sechsten Buches mischtsich Satura in seine Uumlberlegungen ein welche Frauen er vor sich sehe Die Ein-mischung wird von Martianus als scherzend bezeichnet (iocabunda 6 576) dieEinmischung an sich als typisch fuumlr das Scherzen Saturas (ut lepidula est 6 576)Die Aumluszligerung Saturas beginnt mit Spott uumlber Martianusrsquo nur scheinbare KlugheitDurch falsche naumlchtliche Studien und besonders seine Anwaltstaumltigkeit habe erden Blick auf das Wichtige verloren und erkenne nun nicht einmal mehr Philo-sophia und Paideia Der Scherz wird jedoch alsbald von einem belehrendenTonfall abgeloumlst in dem Satura Martianus uumlber das Wesen der beiden Frauenaufklaumlrt

Satura tritt als Naumlchstes zu Beginn des achten Buches auf in der Folge derSilen-Szene Der angetrunkene Silen war eingeschlafen und durch Amor aufge-schreckt worden was die uumlbrigen Goumltter laut lachen lieszlig (8 803ndash805) DieseSchilderung provoziert bei SaturaWiderspruch da sie das Erzaumlhlte als unpassendfuumlr die Goumltterversammlung empfindet Ihre Kritik beginnt wieder bei der Persondes Martianus dessen Namen sie als passend zu seinem Wesen deutet (Capella ~sbquoZiegelsquo 8 806) Sodann fordert sie Martianus auf seine Possen zu unterlassenMartianus fuumlhlt sich gehoumlrig von Satura gemaszligregelt und gibt klein bei bemerktaber dass sie ansonsten mehr von Scherzen halte (alioquin lepidula 8 807) AlsSatura dann die Einfuumlhrungder eintretenden Brautjungfer in Versenvorbringt undMartianus wiederum seine Scherze (ludicra 8 808) vorhaumllt kann dieser nicht

Mit Julian verbindet Martianus immerhin die Ansiedlung der Goumltterversammlung auf derMilchstraszlige ndash Zur Rolle der Saturnalien vgl den Abschnitt bdquoDeutungen der komplexen litera-rischen Formldquo

2 De nuptiis als literarisches Werk 137

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mehr an sich halten und zahlt Satura ihre Kritik in gleicher Muumlnze heim Nacheinigem Spott uumlber Saturas Verse verteidigt nun Martianus das Recht auf Scherzgegen sie die an sich ndash nicht aber in De nuptiiswie es scheint ndash eigentlich fuumlr denScherz zustaumlndig waumlre und gibt ihr mit Martial (2 41 1) den Rat auch einmal zulachensup3sup3sup2

Ein letzter Schlagabtausch von Satura und Martianus erfolgt schlieszliglich amEnde des Werkes Wiederum streiten beide Figuren miteinander und halten sichmit Spott uumlber das Wesen des anderen nicht zuruumlck

Die Einfuumlhrung Saturas die ja nur in Verbindung ndash und das heiszligt Ausein-andersetzung ndash mit Martianus erscheint dient vornehmlich der deutlichenBenennung der Gattung und der Verstaumlndigung daruumlberwas den Charakter einessatirischen bzw des vorliegenden Werkes ausmache Erstaunlich ist dabei Mar-tianusrsquo Entwicklung der sich zunaumlchst gegen Unterhaltung im artes-Teil ausge-sprochen hatte diese spaumlter aber gegen den censorischen Eingriff Saturas imachten Buch verteidigt Noch erstaunlicher ist aber dass es gerade Satura ist diezur Beachtung des Decorums auffordert und Martianusrsquo vergleichsweise mildenScherz scharf tadelt

Erzaumlhlinstanzen ndash Die Frage nach der Erzaumlhlsituation bzw der Erzaumlhlerfigurgehoumlrt zu den grundlegenden Analysekriterien eines literarischenWerkes ebensowie die Konzipierung von Raumund Zeit Lassen sich die letzten beiden Punkte imHinblick auf De nuptiis hinreichend klaumlrensup3sup3sup3 so bietet die Erzaumlhlerfigur groumlszligereSchwierigkeiten

DassDe nuptiis zwei Erzaumlhlinstanzen hat scheint zu Beginn desWerkeswenigdramatisch In 1 2 verweist der Erzaumlhler Martianus gegenuumlber seinem Sohn dar-auf dass die folgende Geschichte (also der uumlberwiegende Teil von De nuptiis) ihm

Ride si sapis o puella ride Schievenin bietet eine gruumlndliche Analyse dieser Stelle auchmit Blick auf die inverse Vorlage Martials (plora si sapis o puella plora Mart 2 41) derwiederum auf Ovid (Ov ars 3 281 f) zuruumlckgreift (Schievenin 1984 bes 136 ausfuumlhrlich auchBovey 2003 275ndash288) Die Rahmenhandlung spielt in der erzaumlhlerischen Gegenwart und in einem unbestimmtenRaum der jedoch nicht auszligergewoumlhnlich ist es liegt nahe an Karthago und das Haus desMartianus Capella zu denken Die eigentliche Handlung spielt an z T unwirklichen Orten aufder Erde die zumeist nicht naumlher bestimmt sind (z B Philologias Herkunft) und auf derMilchstraszlige wobei die absolute Zeit nicht genannt wird aber aufeinanderfolgende Tage inihrem Ablauf erkannt werden koumlnnen Die Phantastik einzelner Szenen die meist auf alle-gorische Darstellungsweisen zuruumlckgeht verletzt jedoch nicht die raumlumliche oder zeitlichePlausibilitaumlt des Dargestellten Vgl dazu auch die Ausfuumlhrungen und grafischen Veranschau-lichungen LeMoines (1972a)

138 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

waumlhrend langer Winternaumlchte (eine Anspielung auf Gellius)sup3sup3⁴ von Satura be-richtet wurde Der antike wie moderne Leser duumlrfte sich wohl kaum daran stoszligensondernwird darin vor allem eine Inspiration des Autors durch Satura (auchwennes das zuvor noch nicht gab) erkennen Bei der Erwaumlhnung von Satura koumlnnte erHeiteres erwarten oder bunt gemischte Geschichten

Vollkommen verwirrt wird der Leser hingegen spaumltestens dann wenn er amEnde des Werkes in der Sphragis angekommen ist (9 997ndash 1000) Dort reflektiertMartianus sein literarisches Vorgehen in den vorausgegangenen neun Buumlcherngenauer gesagt distanziert er sich von der Form der Darstellung (Umfang Bunt-heit) und verweist auf die Verantwortung Saturas die die Geschichte erzaumlhlt habe

Habes anilem Martiane fabulam 997Miscillo lusit quam lucernis flamineSatura Pelasgos dum docere nititurArtes daggercagris vix amicas AtticisSic in novena decidit voluminahaec quippe loquax docta doctis aggerans 998fandis tacenda farcinat immiscuitMusas deosque disciplinas cyclicasgarrire agresti cruda finxit plasmate (9 997 f)

Da hast du Martianus eine Altweibergeschichte sie verfertigte im Spiel mit vermischterInspiration [d h in Prosa und Vers] bei Kerzenschein Saturawaumlhrend sie sich bemuumlhte diePelasger zu lehren die Kuumlnste die den Griechen kaum freundlich [d h neu] sindSo gelangte sie hinab bis zum neunten Buch haumluft plappernd Gelehrtes auf Gelehrtes undstopft geheimes und bekanntes Wissen zusammen hat Musen und Goumltter vermischt und hatsich erdacht dass die enzyklopaumldischen Disziplinen in einembaumlurischenMachwerk unreifesZeug daherplappern

So ungewoumlhnlich dieses Vorgehen auch ist ndash Martianus haumltte ja den Bericht Sa-turas als Grundlage nehmen und dann nach eigenem Geschmack umgestaltenkoumlnnen ndash wird es uumlbertroffen durch die Verteidigung Saturas Sie weist die Ver-antwortung fuumlr die Art der Erzaumlhlung von sich und verteidigt sichmit demHinweisauf Martianusrsquo intellektuelle Schwaumlche der sie die Ausfuumlhrungen habe anpassenmuumlssen

Vgl Gell praef 4 zur Erklaumlrung der Wahl des Titels Noctes Atticae fuumlr sein Werk

Sed quoniam longinquis per hiemem noctibus in agro sicuti dixi terrae Atticae commentationeshasce ludere ac facere exorsi sumus idcirco eas inscripsimus noctium esse Atticarum hellip

Aber weil wir in langen Naumlchten den Winter uumlber in Attika auf dem Landwie schon gesagtdiese Anmerkungen im Spiel und dann ernsthaft begonnen haben daher haben wir ihnenden Namen Attische Naumlchte gegeben hellip

2 De nuptiis als literarisches Werk 139

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

haec ipsa nauci rupta conscientia 999turgensque felle ac bili bdquomulta chlamydeprodire doctis approbanda cultibuspossemque comis utque e Martis curia[hellip]ab hoc creatum Pegaseum gurgitem 1000decente quando possem haurire poculoldquo (9 999 f)

Sie sagte aufgrund ihres Wissens um die Nichtigkeit (dieser Ausfuumlhrungen) verletztschwellend vor Bitterkeit und Zorn bdquoIch koumlnnte hier freundlich auftreten mit einem Gewandbekleidet lobenswert durchgelehrtes Verhaltenwie aus der VersammlungdesMars [Es folgtdie Schilderung der unguumlnstigen Anlagen von Martianus] ndash Wann koumlnnte ich mit ange-messenem Becher aus einem pegasischen Strom von ihm erschaffen schoumlpfenldquo

Somit hat das Werk das zu Beginn zwei hierarchisch geschiedene Erzaumlhler zuhaben scheint am Ende zwei Erzaumlhler die sich gleichberechtigt uumlber die Form dererzaumlhlten Geschichte streitensup3sup3⁵

Die Inkonsistenzen auf der Erzaumlhlebene setzen sich daruumlber hinaus fort HatteMartianus zu Beginn des Werks gesagt Satura habe ihm die Geschichte waumlhrendlangerWinternaumlchte erzaumlhlt so treten Satura undMartianus amEnde desWerks inder erzaumlhlerischen Gegenwart gemeinsam auf und sprechen beide nacheinanderzu Martianusrsquo Sohn

Weiterhin erscheinen Satura und Martianus innerhalb der Geschichte dieMartianus angeblichvon Satura gehoumlrt hatWaumlhrend die Goumltter denverschiedenenBrautjungfern lauschenwohnen auch SaturaundMartianus der Versammlungbeiund betrachten sie als unbeteiligte ZuschauerWie aus einer Theaterloge herauskommentieren und diskutieren sie das Geschehen das auf der bdquoGoumltterbuumlhneldquostattfindetsup3sup3⁶

Noch einen weitergehenden Schritt stellt die Silen-Szene zu Beginn des achtenBuches dar Im Anschluss an diese Szene beschwert sich Satura bei Martianus erkoumlnne die Goumltter nicht auf dieseWeise agieren lassen In der Folge entspinnt sich einGespraumlch in demMartianus seine Art des Erzaumlhlens gegen Satura verteidigt die fuumlreine zuruumlckhaltendere Darstellung plaumldiert (s o)Von der Fiktion dass Martianusseinem Sohn bloszligwiedergibtwas Satura ihm erzaumlhlt hat bleibt nichtmehr viel dieganze Szenerie ist ein Produkt der ErfindungdesMartianus gleichzeitigwohnt er ihraber gemeinsam mit Satura bei ist also Teil der Handlung

So bereits Pabst 1994 120 Anm 119 der allerdings auf eine Diskussion der Beobachtungverzichtet Es handelt sich um die Stellen zu Beginn des sechsten und des achten Buches die imvorigen Abschnitt bereits paraphrasiert wurden

140 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Diese Art der Spiels mit der Erzaumlhlerrolle wird von manchen modernen For-schern als ein wichtiges Merkmal der menippeischen Satire angesehen Hinzu-treten kann die Selbstherabsetzung des Erzaumlhlers die sich an seinemmangelndenWissen Stilbewusstsein Traditionsempfinden o auml entzuumlndetsup3sup3⁷ Folglich kanndie zunaumlchst befremdliche Brechung und Verzerrung als weiteres Merkmal derGattung menippeische Satire bestimmt werden

Aufgrund dieser Beobachtungen ist es zwingend in De nuptiis vor allem eineSatire zu sehen Auch der heiter-spoumlttische Charakter einiger Passagen zwischenden Vortraumlgen der Brautjungfern passt zum satirischen Anspruch Gelegentlicherscheint es jedoch fraglich ob es sich wirklich um satirische und nicht eher umkomische oder derbe Spaumlszlige handelt Die Szene in der Silen betrunken einschlaumlftund von den anderen Goumlttern verspottet wird (8 803ndash805) erinnert mit ihremSlapstick eher an den derben Spott der Komoumldie als an die Satire eines Varrosup3sup3⁸

22 Deutungen der komplexen literarischen Form

Wie laumlsst sich das Werk De nuptiis nun also formal beschreiben oder andersgefasstWie lassen sich die vier literarischen Traditionsstraumlnge zusammenfuumlhrenDass eine einheitliche Lesung zumindest versucht werden muss zeigt bereits dasLeitmotiv der Hochzeit ansup3sup3⁹

Im Kern handelt es sich bei MartianusrsquoWerk um eine Sammlung bedeutenderWissensschaumltze in einem einzigen Werk die darin systematisch ausgebreitetwerden Dies zeigt die Einteilung in verschiedene Disziplinen die ein ver-

Zur Erzaumlhlerrolle in der menippeischen Satire vgl u a Relihan 1993 und darin bes S 35 Mit der Aufnahme unterhaltsamer Elemente ginge Martianus sogar noch uumlber dieErwartungen an ein sbquosatirischeslsquo Werk hinaus Auch Boethius wird bescheinigt er erzaumlhle seineConsolatio bdquoper satiramldquo auch wenn bei ihm weder eine Figur Satura auftritt noch allzu vielHeiterkeit herrscht (Peiper zitiert in der Einleitung zu seiner Ausgabe S xxxi eine mittelalter-liche Boethius-Vita vgl Kindermann 1969 61)

hos libros [scil de consolatione Philosophiae] per satiram edidit imitatus videlicet mar-cianum felicem capellam qui prius libros De nuptiis philologiae et mercurii eadem speciepoematis conscripserathellip

Diese Buumlcher schrieb er als Satire freilich in Nachahmung des Marcianus Felix Capellader zuvor die Buumlcher uumlber die Hochzeit der Philologie mit Merkur in der gleichen Art vonGedicht verfasst hatte

Zum Motiv der Hochzeit das bereits programmatisch im eroumlffnenden Hymnus anHymenaeus erscheint vgl Schievenin 2009c und Cristante in der Einleitung seiner Ausgabe1987 3ndash 10

2 De nuptiis als literarisches Werk 141

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

gleichsweise leichtes Auffinden der Informationen erlaubtsup3⁴⁰ die Bedeutung wirdangesichts der Praumlsentation vor den Goumlttern auf der Milchstraszlige deutlich Alleinder Umfang dieser Vortraumlge die in sich auch nicht gestoumlrt oder gebrochenwerdenmarkiert dass es sich hier um das zentrale Charakteristikum des Werkes handelt

Den erzaumlhlerischen Anlass fuumlr diese Praumlsentation bietet eine Hochzeitsfeieralso ein Symposion hier ist die Gelegenheit fuumlr die groszligen Redebeitraumlge gegebenZudem bietet die SymposionformAnknuumlpfungspunkte fuumlr eine Rahmenhandlungdie zur Auflockerung der ebenso ausfuumlhrlichenwie trockenen Einzelreden genutztwird

Doch bleibt es ndash im Gegensatz z B zu Macrobius ndash nicht bei der bloszligenDarstellung der Wissensinhalte Hinzu tritt die allegorische Darstellung der Be-deutung von Wissen und von Fleiszlig beim Wissenserwerb in den ersten beidenBuumlchern Die praumlsentierten Inhalte der Buumlcher 3ndash9 (die Philologia ja bereits aufder Erde in Buch 2 besitzt) sindwichtig Sie sind nicht nur wichtig fuumlr das irdischeLeben (das wird nicht weiter thematisiert die explizit irdischen Wissenschaftenwie Architektur und Medizin werden sogar ausgeschlossen) ndash die Inhalte sindauch wichtig fuumlr die menschliche Vervollkommnung

Durch das angesammelte Wissen erreicht der Mensch zwar nicht die voll-kommene Erkenntnis (die erhaumllt auch Philologia nur ohne eigenes Zutun als sieauf der houmlchsten Himmelssphaumlre angekommen zum Vatergott in der jenseitigenGluumlckseligkeit betet) wohl aber ein goumlttergleiches Wissensup3⁴sup1 Der Wissenserwerbist gewissermaszligen die Voraussetzung dafuumlr dass der Mensch mit Hilfe einesgoumlttlichen Begleiters in den Himmel aufsteigen kann unsterblich wird und voll-kommene Einsicht erlangt

Die so weit kohaumlrente Verbindung der literarischen Traditionen laumlsst aller-dings den explizit satirischen Anspruch von De nuptiis auszliger Betracht durch denMartianus selbst das Werk primaumlr in die Gattung der Satire einordnet waumlhrendvergleichbare Bezuumlge zu anderen Gattungen fehlen Natuumlrlich lieszlige sich dieserprogrammatische Anspruch mit einem Verweis auf die Verwendung des Begriffszur Bezeichnung einer inhaltlich wie literarisch gemischten Form erklaumlren Dochgreift diese Erklaumlrung zu kurz da das Agieren Saturas die literarischen Passagendes Werks beinahe als Travestie erscheinen laumlsst (vgl oben zur Erzaumlhlerfigur) Einbildend-enzyklopaumldisches Werk kann sich allerdings nicht gefahrlos als Satire

So auch Englisch 1994 56 Die bdquoSystematik bei der Praumlsentationldquo erlaube einen leichtenZugriff auf die Informationen Mart Cap 2 201ndash205

142 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

praumlsentieren ohne Zweifel an der Glaubwuumlrdigkeit und Zuverlaumlssigkeit desWerkes und der praumlsentierten Inhalte zu weckensup3⁴sup2

Wenn Martianus auch die Konventionen der Gattung menippeische Satireaufnimmt und sein Werk also nur folgerichtig unter anderem eine unzuverlaumlssigeErzaumlhlsituation aufweist ist dies noch keine Erklaumlrung an sich Die regelkonformeUmsetzung gattungstypischer Anspruumlche erklaumlrt noch nicht die Wahl der Gattungan sich ndash einer Gattung die trotz ihrer Benennung als solche nicht zu denStandardformen und akzeptierten Gattungen zaumlhlte insbesondere nicht fuumlrLehrwerkesup3⁴sup3

Auch Martianusrsquo Verweis auf etwas bislang noch nicht Unternommenes(nescioquid inopinum intactumque 1 2) vermag den Widerspruch nicht zu loumlsenDie Wendung zeigt zwar dass Martianus die Ungewoumlhnlichkeit seines Ansatzesbewusst war (sofern sich die Phrase uumlberhaupt auf die Komposition des Werkesbezieht)sup3⁴⁴ beseitigt aber nicht das interpretatorische Problem ZuwelchemZweckverbindet Martianus also zwei so widerspruumlchliche Gattungen wie Enzyklopaumldieund Satiresup3⁴⁵

Drei Antwortansaumltze lassen sich grob umreiszligen 1 Die Verbindung ist nuraumluszligerlich bzw oberflaumlchlich 2 durch die Verbindung soll ein bestimmter Aspektparodiert und somit Spott und Kritik ausgesetzt werden 3 die Verbindung erfuumlllt

Dieses Problem hat bereits Westra in seinem Aufsatz bdquoThe juxtaposition of the ridiculousand the sublime in Martianus Capellaldquo benannt (Westra 1981) Allerdings beschraumlnkt sich auchdieser Aufsatz auf die Darstellung des Problems und die Zusammenstellung der Belege EineLoumlsung hat Westra nicht anzubieten ndash sein Aufsatz endet mit der eher apologetischen Bemer-kung das Eingestaumlndnis der Unvereinbarkeit von Satire und Lehrwerk durch Martianus in 9 997sei prima facie ein Spiel dahinter stecke jedoch die Absicht Problembewusstsein zu demon-strieren und Verantwortung fuumlr die unterlassene Loumlsung zu negieren bdquoEven though I would claim that prose and verse must be present in an ancient Menippeansatire it must be seen as one of a number of shocking juxtapositions of oppositesldquo (Relihan 198760) ndash In der Folge kann die prosimetrische Form durchaus auch Mittel belehrender Werkewerden vgl Pabst 1994 133 Denkbar (und wohl wahrscheinlich) waumlre auch dass damit die Inhalte besonders desMythos gemeint sind Der Verweis auf Unterhaltung fuumlhrt nicht zum Kern der Frage denn die satirische Formstellt mehr dar als reine Unterhaltung Auch das horazische Diktum ridentem dicere verum quidvetat ndashsbquolachend das Wahre zu sagen ndash was spricht dagegenlsquo (Hor serm 1 1 23) als Kern vonMartianusrsquo Satireverstaumlndnisses greift zu kurz ebenso wie vergleichbare Konzeptionen in derLiteratur Dort geht es bei Belehrung immer um einzelne philosophische Saumltze (nie beispiels-weise um die Vermittlung von Philosophie an sich) Folglich bezeichnet das bdquoverumldquo nichtkognitives Lernen sondern moralisches Der grundlegende Unterschied zur Konzeption desMartianus liegt somit auf der Hand Vgl zu diesem Aspekt im Allgemeinen z B Shanzer 1986c42 und im Speziellen u a Woytek 1986 339ndash345 Keulen 2009 bes Kap 2 und 3

2 De nuptiis als literarisches Werk 143

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

einen literarischen und belehrenden Zweck zugleich Aufgrund der komplexenSachlage und der unmittelbaren Bedeutung der Beantwortung der Frage nachdieser Verbindung fuumlr das Gesamtverstaumlndnis von De nuptiis werden alle Alter-nativen vorgestellt und bewertet

Rein formale Verbindung von Satire und EnzyklopaumldieEventuell laumlsst sich die Mischung aus enzyklopaumldischen und satirischen Ele-menten (mit den zur Satire gehoumlrigen Verspartien) als Sonderform der Varro-Re-zeption bei Martianus auffassenVarro von Reate verfasste sowohl umfangreicheFachliteratur als auch menippeische Satiren Fuumlr beides war er in der Antikebekannt und beruumlhmt ndash doch ist es wahrscheinlich dass Martianus die Werkebereits nicht mehr ndash oder allenfalls nur in Auszuumlgen ndash vorliegen hattesup3⁴⁶ Aus demWissen um die beiden Schaffensbereiche des republikanischen Autors die beideder Unterweisung dienen solltensup3⁴⁷ koumlnnte Martianus auf den Gedanken verfallensein die literarischen Formen und Inhalte in seinem Werk zu verbindensup3⁴⁸Vielleicht saszlig er auch einemMissverstaumlndnis auf indem ermeinte dass Varro seinsatirisches wie enzyklopaumldisches Koumlnnen in nur einem Werk demonstriert habeDies hieszlige jedoch dass Martianus sich der Problematik dieser Verbindung nicht

So aumluszligert sich beispielsweise Kindermann in den Vorstudien seiner Ausgabe der Conso-latio des Laurentius von Durham Er billigt Martianus nur eine sekundaumlre Varro-Kenntnis zu(Kindermann 1969 60) Entschieden verneint wird die Frage von Schievenin (2009f) und Hadotdie vor allem neuplatonische Quellen vermutet (Hadot 2005 149) Schneider jedoch nimmt andass sowohl Augustin als auch Martianus die Disciplinae noch vorliegen hatten (Schneider 1999109 f) und dass die Satiren-Exzerpte des Nonius Marcellus (fl um 400 in Afrika) ebenfalls ausdem Originaltext Varros angefertigt wurden (ibid 96 Anm 12) Abwaumlgend aumluszligert sich Huumlbner2004 passim Vgl Cic ac 1 8 (es spricht Varro)

et tamen in illis veteribus nostris quae Menippum imitati non interpretati quadam hilaritateconspersimus multa admixta ex intima philosophia multa dicta dialectice quae quo faciliusminus docti intellegerent iucunditate quadam ad legendum invitati

Jedoch findet sich in meinen fruumlhen Schriften die ich in kreativer Nachfolge (und nicht nurUumlbersetzung) Menipps mit einer gewissen Heiterkeit benetzt habe vieles aus den Kernbe-reichen der Philosophie beigemengt und vieles das nach Art der Dialektiker gesagt istdamit die weniger Gelehrten es leichter verstuumlnden nachdem sie durch eine Art von Scherzzur Lektuumlre ermuntert worden sind

Vielleicht hatte Martianus diese Stelle sogar im Kopf als er die Anlage von De nuptiis plante So z BWeinreich in der Einleitung zu seiner Uumlbersetzung roumlmischer Satiren bdquoMartianusCapella glaubte gewiszlig ein Varro redivivus zu sein sozusagen die Quintessenz des Gelehrten unddes Satirikersldquo (Weinreich 1962 XCIII) Ebenso Shanzer 1986c 42

144 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

bewusst gewesen sei ndash was ihm sicher nicht gerecht wird Auszligerdem wird so dieBezugnahme auf weitere formale Elemente der menippeischen Tradition und dieuumlbrigen Vorlaumlufer der Gattung mit anderer Konzeption (Lukian Julian) nichtausreichend beruumlcksichtigt

Ebenfalls beim Autor koumlnnte eine zweite Erklaumlrung ansetzen Im Zuge derAbfassung seiner Enzyklopaumldie hat sichMartianus nach horazischer Vorgabe (unddem Beispiel Varros)sup3⁴⁹ um Auflockerung und heitere Elemente bemuumlht Diespontanen Einfaumllle wurden ins Werk integriert und die sich daraus ergebendenInkonsistenzen entweder uumlbersehen oder billigend in Kauf genommen Beideswuumlrde gut zum klassisch negativen Martian-Bild in der Forschung passensup3⁵⁰Abgesehen davon dass Annahmen uumlber das Vorgehen beim Schreiben weitge-hend auf Spekulation beruhensup3⁵sup1 widersprechen drei Beobachtungen dieser Er-klaumlrung Erstens gelingt es Martianus De nuptiis uumlber neun Buumlcher vorauszu-planen so dass am Ende ein ndash zunaumlchst abgesehen von der Satire-Problematik ndashkohaumlrentes Werk entsteht Die Fuumllle der behandelten Themen Motive und lite-rarischen Elemente weist eher auf ein planvolles Arbeiten hin und macht es un-wahrscheinlich dass Martianus Probleme an dieser Stelle nicht wahrgenommenbzw nicht korrigiert haumltte Zweitens ist die Verbindungvon Satire und den anderenElementen nicht nur oberflaumlchlich so dass sie nachtraumlglich eingefuumlgt sein koumlnnteoder sich im Schreibprozess so ergeben haben koumlnnte Da bereits im zweitenKapitel des ersten Buches Satura eingefuumlhrt wirdwar sie von vornherein Teil des

Gemeint ist das beruumlhmte zunaumlchst nur fuumlr die Dichtung relevante prodesse aut delectare(Hor ars 333 f) zu Varro vgl die schon angefuumlhrte Stelle aus Cic ac Vgl z B die sehr bildliche Beschreibung von C S Lewis bdquo[hellip] this universe which hasproduced the bee-orchid and the giraffe has produced nothing stranger than Martianus Capella[hellip] the curiosity shop of his mind [hellip] a chaos beside which the work of Rabelais has unity andthat of Mandeville probabilityldquo (Lewis 1936 78 f) Gleiches gilt fuumlr Spekulationen uumlber eine andere Auffassung von Literatur und ihrenRegeln in Martianusrsquo Zeit oder Umfeld Einerseits kennen wir keine Texte die sich mit De nuptiisvergleichen lieszligen (was per se nichts beweist aber doch Indiziencharakter hat) andererseitshielten sich auch die spaumltantiken Autoren uumlblicherweise an die klassischen Vorgaben Ich teiledaher auch Schneiders Ansicht nicht der die Skepsis an dieser Verbindung allein der modernenLeseerfahrung zuschreibt bdquoWenn den Heutigen diese Kombination der forcierten Gelehrsamkeiteines Curriculums und der spielerisch-saloppen Causerie seltsam beruumlhren mag so waumlre dazuimmerhin schon an ein ciceronisches Dictum zu erinnern non est enim seiunctus iocus a phi-lologia (ad fam 16214) ndash sbquoSpieltrieb und Pedanterie diktieren und widersprechen sich nichtlsquo(sbquoErste Fruumlhschichtlsquo aus Grassrsquo sbquoHundejahrelsquo)ldquo (Schneider 1999 94 Anm 2) Der Verweis aufCicero traumlgt nichts zum Verstaumlndnis von Martianus bei Cicero geht es an der zitierten Stelle umden Ablauf des Tages mit seinem Schuumller der aus ernsteren und heitereren Abschnitten bestehtDaraus folgt nicht dass das Lernen mit Scherz verbunden ist ndash auszligerdem duumlrfte Cicero unteriocus (sbquo[urbaner] Scherzlsquo) anderes verstanden haben als Martianus in seiner Satura bietet

2 De nuptiis als literarisches Werk 145

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Kompositionsplans Drittens hat Schievenin gezeigt dass Martianus keineswegsoberflaumlchlich und eigenwillig arbeitet Durch eine gruumlndliche Untersuchung derSilen-Passage (8 803ndash805) kann er nachweisen dass Martianus ndash wie vieleAutoren vor ihm ndash uumlber ein umfangreiches literarisches Wissen verfuumlgte daraufbei der Abfassung seines Werkes zugreifen konnte und durch gezielte Anspie-lungen neue Bezuumlge herstelltesup3⁵sup2

Satire als Mittel der KritikWaumlhrend die antike Satire (im Gegensatz zur modernen) nicht zwangslaumlufig Kritikan Missstaumlnden uumlben wollte ist diese Moumlglichkeit umgekehrt auch nicht auszu-schlieszligen Martianus koumlnnte also bewusst eine solide Darstellung der Kuumlnste inliterarischem Gewandmit der Gattung der Satire verbunden haben um Zweifel ander Ernsthaftigkeit der uumlbrigen Teile des Werkes zu wecken Er wuumlrde somit einaufklaumlrerisches Interesse verfolgen das zugleich auch unterhaltsame Zuumlge traumlgt

Eine erste Schwierigkeit dieser Lesart von De nuptiis ergibt sich bereits bei derFrage nach dem Objekt der SatireWerden die Wissensinhalte in Zweifel gezogenoder nur die Art ihrer Vermittlung in langen Reden bzwTraktaten Soll der Glaubean die umfassende Einheit des Wissens kritisiert werden oder die Vorstellungsaumlmtliches Wissen lasse sich vermitteln gar kohaumlrent in einem Werksup3⁵sup3 Ist dieVorstellung dass Wissen goumlttlich mache parodiert oder nur die abwegige Vor-stellung dass auf einer Hochzeit solche Reden gehalten werden Oder richtet sichdie Kritik letztlich gegen die Auffassung Philologia als Vorbild zu sehen oder garals Mittlerin alles Wissens ja sogar als Mittlerin zwischen Menschen und Goumlttern

Aus der Tatsache dass das Objekt der Satire keineswegs leicht zu bestimmenist kann nicht gefolgert werden dass in De nuptiis keine Satire vorliege die be-stimmte Sachverhalte kritisiere Aber es kann durchaus gefolgert werden dass eskeine expliziten textinternen Merkmale gibt die das Lesen steuern und den Ge-genstand der Kritik deutlich hervortreten lassen Die Deutungen gehen also vonmodernen Annahmen uumlber das Umfeld bzw die Gedankenwelt von Martianus aus

Im Kern handle es sich um bdquouna narrazione tersa e brillanteldquo verbunden mit einemDickicht an Verweisen Die Silen-Szene habe einen bdquocarattere colto e della dottrina e dellalingualdquo (Schievenin 1984 132) Das Fazit seiner Untersuchung formuliert Schievenin folgen-dermaszligen bdquoIl De nuptiis si rivela dunque opera di vasti orizzonti non solo per lrsquointento dida-scalico che la pervade e che ne determineragrave la fortuna ma anche per la costante presenza nellafabula della tradizione classica e dei suoi echildquo (ibid 136) Vgl zu dieser Stelle auch Bovey2003 275ndash288 ndash Den geschickten Umgang mit mehreren Quellen ndash erzaumlhlerisch wie seman-tisch ndash kann Schievenin auch fuumlr 7 725ndash727 nachweisen (Schievenin 2009e) So z B Relihan 1993 138 bdquoMartianus writes not an encyclopedia but a Menippean satirethat parodies encyclopedic knowledgeldquo

146 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

und weisen zudem meist nicht kleinschrittig auf wie der Interpret zu seiner (oftapodiktisch dargelegten) Ansicht gelangt

Nun folgt daraus noch nicht dass Martianus De nuptiis nicht als kritisierendeSatire konzipiert haumltte die Vielzahl der (wenn auch differierenden) modernenDeutungenweist ja darauf hin Zwei Uumlberlegungenwenn auch keine schlagendenBeweise lassen die Hypothese der parodierenden Satire unwahrscheinlich wer-den der Umfang von De nuptiis und seine Rezeption Eine Satire die beispiels-weise die Verbindung von Weltwissen und menschlicher Vervollkommnung in-frage stellt benoumltigt nicht noch eine umfassende Darlegung eben diesenWissensDies gilt besonders da diese Darlegung den Hauptteil des Werks ausmacht und ndashzumindest dem Umfang nach ndash die uumlbrigen Partien weit uumlberragt Eine Deutungvon De nuptiis als kritischer Satire muumlsste also besonders die Frage beantwortenzu welchem Zweck die umfangreichen Darstellungen der Freien Kuumlnste aufge-nommen sind (und nicht nur angedeutet werden)

Die Rezeption eignet sich zwar ebenfalls nicht zu sicheren Ruumlckschluumlssen aufdie originale Intention eines Werkes haumlufig bietet sie aber interessante EinblickeDie Martianus-Rezeption stellt sich bald ein Cassiodor beruft sich in seinen In-stitutiones auf ihn Dort erscheint Martianus nicht als Satiriker oder Zeitkritikersondern als Gelehrtersup3⁵⁴ In dieser Tradition wird Martianus auch im Mittelaltergelesen und rezipiertsup3⁵⁵

Aumlhnliches laumlsst sich fuumlr Boethiusrsquo Anknuumlpfen an die prosimetrische Form inder Ausgestaltung von Martianus sagen Boethius verfasst zweifelsfrei keine kri-tische Satire kann aber trotzdem an die Form und den Inhalt von De nuptiisproblemlos anknuumlpfen Sowohl der Form nach wie auch durch einzelne Zitatemacht er deutlich dass erDe nuptiis kennt und als eine seiner Vorlagen benutzt Esist zu bezweifeln dass Boethius in seinem Bemuumlhen um eine adaumlquatewerbendeDarstellung der Philosophie auf Form und Zitate des Martianus zuruumlckgegriffenhaumltte haumltte er nicht die Moumlglichkeit der gefahrlosen Uumlbernahme gesehen

Satirische Elemente als Mittel der BelehrungDer dritte Erklaumlrungsansatz fuumlr die Verbindung von Satire und Belehrung be-trachtet die Wahl Saturas als Figur und die Bezugnahme auf die Gattung zunaumlchst

Cassiod inst 2 2 17 Zur mittelalterlichen Martianus-Rezeption vgl bes Nuchelmans 1950 Lutz 1971 und 1976Willis 1973 sowie die Ausgaben und Literatur u a zu folgenden Werken Konrad von MureFabularius Hugo von Sankt Victor Didascalicon de studio legendi Johannes von SalisburyMetalogicon Kindermann kann weiterhin nachweisen dass De nuptiis auch durch seine Forminspirierend gewirkt hat (Kindermann 1969 61 f)

2 De nuptiis als literarisches Werk 147

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

als reine Fortsetzungder literarischen Form Fuumlr diese spezielle Formder Literaturdie menippeische Satire hat der russische Literaturwissenschaftler MichailBachtin Beobachtungen aufgestellt die auch fuumlr De nuptiis zutreffen Durch denRuumlckgriff auf zwei zentrale Konzepte Bachtins das Karnevaleske und die Dialo-gizitaumlt wird ein Verstaumlndnis von De nuptiis ermoumlglicht

Auf der Suche nach Vorlagen und Urformen der Gattung des Romans ins-besondere in der Form von Dostojewskis Romanen stieszlig Bachtin unter anderemauch auf die menippeische Satire die er bis in die Antike zuruumlckverfolgtesup3⁵⁶ Zuihren Vertretern zaumlhlt er unter anderem Varro Apuleius Petron Seneca oderLukiansup3⁵⁷ Martianus Capella wird nicht erwaumlhnt was aber nicht verwundernmuss da Bachtin keine Literaturgeschichte der menippeischen Satire schriebsup3⁵⁸

Kern der Uumlberlegungen Bachtins zurmenippeischen Satire ist das Konzept desKarnevals Unter Karneval versteht er folkloristische Feste waumlhrend deren diebestehende Ordnung verkehrt wird uumlbliche Regeln nicht mehr gelten Herr-schende gestuumlrzt und Machtlose maumlchtig werden ndash auf Zeit Die Karnevalisierungalso die Uumlbernahme der Kennzeichen dieses Festes in neue oder bestehende li-terarische Formen institutionalisiert diese Ausnahmesituation und loumlst sie vomkonkreten Fest Der so entstandene Text wird bdquozum karnevalesken Spiel an demder Autor und sein Publikum einverstaumlndlich teilhaben und das keines kalen-darisch oder institutionell abgesicherten Karnevalsrahmens mehr bedarfldquosup3⁵⁹

Diese Karnevalisierung fuumlhrt unter anderem zu einer Vielstimmigkeit vonMeinungen und Positionen im Text z B durch mehrere Figurenvon denen keinebevorzugt oder gar als autoritativ gekennzeichnet wird In dieser Dialogizitaumlt wirdkein allgemein guumlltiger Sinnmehr vermittelt sondern dieWahrheit suspendiertsup3⁶⁰

Dass der Bezug auf karnevalsartige Feste der Gattung menippeische Satire (inTeilen auch der Verssatire) eignet zeigt ein kurzer Blick auf wichtige Vertreter derTradition

Julians Symposion Caesares spielt zur Zeit der Saturnalien Die Bedeutungdieses Festes fuumlr das Werk wird dadurch verdeutlicht dass es den Handlungs-

Bachtin 1971 126ndash 135 Bachtin 1971 126 128 132f Kritik an den z T pauschalisierenden und verfaumllschenden Aussagen Bachtins uumlber antikeLiteratur oder an der ununterbrochenen Traditionslinie von der Antike bis in die Moderne (z BRelihan 1987 59 Lachmann 2006 23ndash25) muumlsste auch auf manche moderne Literaturwissen-schaftler in der Nachfolge Bachtins angewandt werden (vgl Branham 2005 6 wo es uumlberSenecas Apocolocyntosis heiszligt bdquoour only extant Menippean satire in Latinldquo) Teuber 1993 182 Eine gut verstaumlndliche Einfuumlhrung in das Konzept der Dialogizitaumlt im Sinne der bach-tinschen Terminologie bietet Sharland 2010 Einfuumlhrung (1ndash51)

148 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

rahmen fuumlr den in der Folge erzaumlhlten Mythos bildet Bereits im ersten Satz wirdauf das Fest und die Tradition Heiteres frei zu erzaumlhlen Bezug genommensup3⁶sup1

Auch Senecas Apocolocyntosis stellt einen engen Bezug zum Saturnalienfesther Das Werk spielt zwar nicht an den Saturnalien sondern am Todestag desClaudius im Oktober doch wird an zwei Stellen eine Verbindung zwischen derHerrschaft des verstorbenen Kaisers und den dargestellten Sitten waumlhrend derRegierungszeit mit dem Saturnalienfest gezogensup3⁶sup2 Manche Interpreten gehensogar davon aus dass die Apocolocyntosis an den Saturnalien des Jahres 54vorgetragen wurdesup3⁶sup3 Auch bei Petron und Horaz finden sich Bezugnahmen aufdie Saturnaliensup3⁶⁴

Ein zentrales Element des Saturnalienfestes liegt in der Suspension der uumlb-licherweise geltenden Normen und Wertesup3⁶⁵ Neben den anderen Elementen desFestes wie sie z B in Macrobiusrsquo Saturnalia (1 7ndash 10 1 24 22 f) beschriebenwerden (traditionelle Geschenke Festmahl fuumlr die Sklaven etc) hat gerade dieUmkehrung der Herrschaftsverhaumlltnisse im Haus Niederschlag in der Literaturgefunden

Gerade durch diese Rolleninversion treten einige wichtige gesellschaftlicheNormvorstellungen und Grundannahmen prominent hervor Dazu zaumlhlt das Be-wusstsein dass es eine befehlende und eine ausfuumlhrende Gruppe von Menschengibt oder dass im Prinzip ein Rollenwechsel moumlglich sein kann Alle Beteiligten

Ἐπειδὴ δίδωσιν ὁ θεὸς παίζειν ndash ἔστι γὰρ Κρόνια ndash hellip (sbquoDa der Gott das Scherzen erlaubt ndashes sind ja die Kronia helliplsquo Caes 1 = 306a Spanheim) Zur Frage ob es sich bei Caesares auch umdas Werk handle auf das zu Ende der Rede auf Koumlnig Helios verwiesen wird (Or in Sol reg 44 =157c Spanheim) vgl Muumlller in seiner Uumlbersetzung (39 ablehnend) und Lacombrade im Vorwortseiner Budeacute-Ausgabe (3 und 18 Anm 3) der aufgrund des Handschriftenbefundes Kronia auchals Titelbestandteil fuumlr die Caesares uumlbernimmt Es handelt sich um Sen apocol 8 1 (Claudius als Saturnalienprinz) und 12 2 (Herrschaftdes Claudius als andauerndes Saturnalienfest) ndash Dass Lukian nicht auf die Saturnalien alsRahmen fuumlr seine Werke zuruumlckgreift entwertet die Beobachtungen nicht Lukian musste auf-grund seines Selbstbewusstseins als satirischer Schriftsteller und aufgrund der Menge seinersatirischen Schriften nicht jedes Mal einen eigenen literarischen Rahmen herstellen in demeinzelne Dialoge stattfinden konnten Das Saturnalienfest selbst erscheint bei Lukian als Ge-genstand der Satire nicht als deren literarische Rahmung (Τὰ πρὸς Κρόνον) Zuerst bei Furneaux 1896 23 Anm 11 In der neueren Forschung vgl bes Nauta 1987Kritisch dazu u a Doumlpp 1993 159 f Petron 44 3 58 2 69 9 zu Horaz vgl z B serm 2 7 (libertas Decembris) Ein gelungenesBeispiel der Anpassung und Anwendung der bachtinschen Konzepte mit Ertrag fuumlr die Inter-pretation unter Einbezug von serm 2 7 bietet Sharland 2010 Distelrath 1999 114 Vgl weiterhin Versnel 1993 136ndash227 und Doumlpp 1993 Eine plastischeSchilderung der Rollenvertauschung bei der der Sklave dem Herrn die Leviten liest bietet Horserm 2 7

2 De nuptiis als literarisches Werk 149

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Herren wie Sklaven spielen also mit den Moumlglichkeiten einer alternativen Wirk-lichkeit

Das Besondere im Spiel mit den Moumlglichkeiten liegt aber in seiner zeitlichenBegrenzung Nach der Zeit des Ausnahmezustands gelten wieder die normalenimmer guumlltigen Regeln Die Rolleninversion erlaubt also ndash oder erzwingt gera-dezu ndash das Nachdenken uumlber bestimmte gesellschaftliche Normen und Wertvor-stellungen Durch die Ritualisierung und enge zeitliche Begrenzung ist darausjedoch keineswegs die Notwendigkeit entstanden die Verhaumlltnisse tatsaumlchlich zuhinterfragen oder gar zu aumlndern Daher lassen sich die Saturnalien auch als ein dieKonventionen bestaumlrkendes Fest verstehen Das Spiel mit der Moumlglichkeit eineranderen Gesellschaftsordnung hat durch seine Ritualisierung letztlich eine dieTradition legitimierende Funktion bekommen

In De nuptiis finden sich jedoch houmlchstens spaumlrliche Hinweise auf das Sa-turnalienfest Am ehesten weist das grob scherzende Agieren Saturas in diesenBereich Die bdquolangen Winternaumlchteldquo (1 2) koumlnnten (statt als Bezug auf Gellius) alsAnspielung auf das Saturnalienfest verstandenwerden ndash die Saturnalien finden inden laumlngsten Naumlchten uumlberhaupt statt seit der Kaiserzeit vom 17 bis 23 DezemberDies ndash wie die Spekulation uumlber eine spielerische etymologische Verbindung vonSatura und Saturnaliensup3⁶⁶ ndash ist aber insofern nicht von Belang da die Gattung alsGanze karnevaleske Zuumlge traumlgt und als gewissermaszligen institutionalisierter Kar-neval vom eigentlichen Fest losgeloumlst istsup3⁶⁷

Die Aufhebung der uumlblichen Ordnung (was Teuber im Ruumlckgriff auf Limina-litaumltskonzepte als praumlliminale Phase bezeichnet)sup3⁶⁸ beginnt mit der VorbereitungPhilologias zum Aufstieg in den Himmel Bereits das Erbrechen stellt eine mar-kante Umkehrung der alltaumlglichen Welt dar Statt sich Wissen anzueignen er-bricht Philologia es nun In der Goumltterversammlung auf der Milchstraszlige ist dieOrdnung sodann voumlllig verkehrt Philologia als Meisterin aller Disziplinen und

Zwar sind die einschlaumlgigen etymologischen Woumlrterbuumlcher skeptisch (v a WaldeHof-mann 2007 II 482 neutral ErnoutMeillet 2001 596) jedoch gibt es dahin gehende moderneDeutungen (aufgefuumlhrt bei WaldeHofmann 2007 II 482) und auch antike ParallelisierungenCic nat deor 2 64 Saturnus hellip est appellatus quod saturaretur annis (sbquoSaturn hellip wurde ergenannt weil er an Jahren gesaumlttigt istlsquo) Fulg myth 1 2 (p 17 16) a saturando Saturnus dictusest (sbquoDa er (die Menschen) saumlttigt wurde er Saturn genanntlsquo) Aug cons euang 1 23 35 Sa-turnus tamquam satur hellip νοῦς (sbquoSaturn gleichsam der gesaumlttigte hellip νοῦςlsquo) Vgl auch Gowers diedie etymologischen Verbindungen von satura Satyrspiel und Saturnalien untersucht (Gowers1993 109ndash 117) Sie kommt zu dem Befund dass keine Verbindung bestehe wohl aber verbin-dende Elemente identifiziert werden koumlnnten bdquocarnival licence parody uninhibited mockeryand excessive consumptionldquo (ibid 117) Vgl z B Teuber 1993 183 f Teuber 1993 183

150 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

bedeutende Lehrinstanz muss sich ihrerseits belehren lassen ndash mit dem Wissendas urspruumlnglich ihres war

Durch die Inversion wird die (vielleicht uumlblicherweise nicht prominente)Philologia in den Mittelpunkt geruumlckt und ihre zentrale Rolle im Wissenssystemtritt markant vor Augen Gleichzeitig kann darin eine leise Anfrage an ihre Lehr-autoritaumlt und eventuell auch ihre Eignung zur Lehre gesehen werden

Aufgrund des zeitlich begrenzten Rahmens der Verkehrung (diemit dem Endeder Vortraumlge voruumlber ist aber nicht explizit zuruumlckverwandelt wird) dessen Be-grenztheit durch Bezug auf die Form der menippeischen Satire ergaumlnzt werdenkann wird das System der Bildung und der Bildungsvermittlung jedoch nichtgrundsaumltzlich infrage gestellt Die Suspendierung Philologias ist temporaumlr

Dem Konzept der Dialogizitaumlt oder Mehrstimmigkeit folgend erklaumlrt sich auchdie Doppelung und Verunklarung der Erzaumlhlinstanz In den drei Dialogen indenen Satura und Martianus aufeinandertreffen behandeln sie die Frage desrichtigen Erzaumlhlens Dies beschraumlnkt sich nicht nur auf die Satire sondern umfasstalle auftretenden literarischen Formen Martianus und Satura sind sich uneinswie weit der Mythos reichen soll und ob eine Enzyklopaumldie trocken oder auchunterhaltsam erzaumlhlt werden soll (2 219ndash3 222) ob ein Symposion auch Zechenund Spaszlig vertraumlgt (8 803ndash810) oder ob und wie stark Satire Dinge vermischendarf (9 997ndash 1000)

Die unterschiedlichen Meinungen zu den Fragen werden zwar diskutiert undfuumlhren zu einem Ergebnis ndash der Erzaumlhlfluss versiegt ja an keiner Stelle oder setztneu an Allerdings entsteht in der Folge kein homogenes Werk und am Schlussmag keiner der beiden Erzaumlhler dafuumlr die Verantwortung uumlbernehmen Der Wi-derwillen sich zu dem Werk zu bekennen bedeutet aber gleichzeitig auch dassMartianus sich nicht festlegt welche Position er fuumlr die richtige haumllt Die Fragenach der rechten Art der Wissensvermittlung die auch in der Ent- und Inthroni-sierung Philologias anklang bleibt unbeantwortet

Schlieszliglich bringt der Blick auf die Aurelian-Vita aus der Historia Augustanoch einen weiteren Aspekt ein Parallel zur Aufteilung der Erzaumlhlinstanzen in Denuptiiswird der Erzaumlhlprozess in derHistoria Augusta aufmehrere AutorenverteiltWie zuerst Hermann Dessau und in der Folge Ronald Syme nachdruumlcklich gezeigthaben handelt es sich allerdings um nur einen Verfasser der uumlberdies auch inBezug auf die Abfassungszeit falsche Angaben gemacht hat und Quellen erfundenhatsup3⁶⁹ Insofern laumlsst sich der in der Historia Augusta gepraumlgte Begriff der

Auf den Charakter der Sammlung die Syme u a als bdquohoaxldquo bezeichnet (1983a 11 1983b13 1983c 219) die fingierten Autoren die manipulierten Quellen etc soll an dieser Stelle nurhingewiesen werden Vgl auch Cameron 2011 Kap 20 mit ausfuumlhrlicher Diskussion relevanterFragen

2 De nuptiis als literarisches Werk 151

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mythistoria der Vermischung von Mythischem und Historischem auch auf dieSammlung selbst anwendensup3⁷⁰

Als Menippee im engeren Sinne laumlsst sich weiterhin die Aurelian-Vita die 26Vita der Sammlung fassen und bezeichnenderweise spielt die Rahmenhandlungan denHilariasup3⁷sup1Wie zu den Saturnalien gehoumlren zu diesem Fest Scherze und ndash imRahmen von Maskierungen ndash Rollenwechselsup3⁷sup2

Noch in der rahmenden Einleitung zur Vita spielt sich folgender Dialog ab

1 et quoniam sermo nobis de Trebltellgtio Pollione qui a duobus Philippis usque ad divumClaudium et eius fratrem Quintillum imperatores tam claros quam obscuros memoriaeprodidit in eodem vehiculo fuit adserente Tiberiano quod Pollio multa incuriose multabreviter prodidisset me contra dicente neminem scriptorum quantum ad historiam pertinetnon aliquid esse mentitum prodente quin etiam in quo Livius in quo Sallustius in quoCornelius Tacitus in quo denique Trogus manifestis testibus convincerentur pedibus insententiam transitum faciens ac manum porrigens iocando[m] praeterea sbquoscribelsquo inquit sbquout

quae ille [scil Iunius Cordus] omnia exsequendo libros mythistoriis replevit talia scribendocum omnino rerum vilium aut nulla scribenda sint aut nimis pauca si tamen ex his morespossint animadverti qui re vera sciendi sunt hellip sed ex parte ut ex ea cetera colligantur(SHA Opil 1 5)

Bei der Anfuumlhrung von all diesen Informationen hat er die Buumlcher mit fabuloumlsen Ge-schichten angefuumlllt indem er Dinge von dieser Art schrieb wo doch uumlberhaupt keinenutzlosen Dinge geschrieben werden duumlrfen oder nur sehr wenige sofern daraus Verhal-tensweisen erkannt werden koumlnnen die wirklich wissenswert sind hellip aber zum Teil(schreibe ich) damit daraus das Andere gefolgert werden kann

quid Marius Maximus homo omnium verbosissimus qui et mythist[h]oricis se voluminibusinplicavit num ad istam descriptionem curamque descendit (SHA Quadr tyr 1 2)

Wie Hat sich Marius Maximus der groumlszligte Schwaumltzer vor dem Herrn der sich in seinenmythistorischen Werken verfangen hat etwa zu dieser Art der Darstellung und des sorg-faumlltigen Arbeitens herabgelassen

Hilaribus quibus omnia festa et fieri debere scimus et dici impletis sollemnibus vehiculo suome hellip Iunius Tiberianus accepit (SHA Aurelian 1 1)

An den Hilaria an denen alles zum Fest Gehoumlrende getan und gesagt werden muss wieman weiszlig empfing mich nach Erledigung der Zeremonien Iunius Tiberianus in seinemGefaumlhrt

Pausch bemerkt dieses besondere Datum zwar und erwaumlgt ob es sich um ein bdquoweitergehendesLesesignalldquo beispielsweise im Sinne karnevalesker Literatur handeln koumlnne verfolgt diese Spuraber nicht weiter (Pausch 2011 130 Anm 1) Herodian 1 10 5 ndash Einige Hinweise auf die Hilaria die im Kontext des Magna Mater-Festesam 25 Maumlrz gefeiert wurden bietet Fraser in seinem Kommentar zu Ovids Fasti (Fraser 1929244ndash248)

152 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

libet 2 securus quod velis dices habiturus mendaciorum comites quos historicae elo-quentiae miramur auctoreslsquo (SHA Aurelian 2 1ndash2)

1 Und weil unser Gespraumlch uumlber Trebellius Pollio der von den beiden Philippi bis zumvergoumlttlichten Claudius und dessen Bruder Quintillus gleichermaszligen uumlber beruumlhmte wieunbekannte Kaiser fuumlr die Nachwelt schrieb in derselben Saumlnfte stattfand behauptete erdass Pollio vieles ohne Sorgfalt und nur kurz dargelegt habe Ich erwiderte dass keinSchriftsteller sofern es um die Geschichte gehe nicht irgendwo gelogen habe und legtesodann dar worin sogar Livius Sallust Tacitus schlieszliglich sogar Trogus mit eindeutigenBelegen uumlberfuumlhrt werden koumlnnten Darauf sagte Tiberianus schlieszliglich scherzend indem ermeiner Meinung beipflichtete und mir seine Hand darbot bdquoSchreibe sowie du es fuumlr richtighaumlltst 2 Sage unbesorgt was du willst du wirst diejenigen als Gefaumlhrten fuumlr deine Taumlu-schungen haben die wir als Schoumlpfer historiographischer Beredsamkeit bewundernldquo

So sympathisch dieser Anspruch auch erscheinen mag ist er doch fuumlr das Ver-trauen in die Gattung der Geschichtsschreibung fatal Gerade in der Einleitungeiner Vita jedoch ndash zumal es der Fiktion nach die erste des Flavius Vopiscus Sy-racusius im Corpus der Historia Augusta ist ndash kann eine solche Anekdote ei-gentlich keinen Platz haben Sie erweckt beim Leser den Eindruck dass er dennachfolgend dargebotenen Informationen kein Vertrauen schenken duumlrfesup3⁷sup3

Die Parallelen zwischen der Historia Augusta insbesondere dem Vorgehen inder Vita Aureliani und De nuptiis liegen auf der Hand Verunklarung der Autor-schaft bzw der Erzaumlhlhaltung einerseits Erwecken von Zweifeln an der Glaub-wuumlrdigkeit des Dargebotenen andererseits

In der Historia Augusta sind die Inkongruenzen mit der Freude des Autors amliterarischen Spiel erklaumlrt worden Der Autor habe aus Freude am Fabulieren(vielleicht auchumein dafuumlr empfaumlngliches Publikum zu befriedigen) die Viten indieser Form verfasstsup3⁷⁴ Mag man dies fuumlr die Historia Augusta noch zugestehenderen Text uumlber einen laumlngeren Zeitraum vielleicht zunaumlchst ohne eine Gesamt-konzeption entstanden ist und auch sprachlich nicht herausragt stellt sich derSachverhalt fuumlr Martianusrsquo De nuptiis anders dar Das Werk hat durchaus einenliterarischen Anspruch und es folgt eindeutig einer vorab geplanten Gesamtan-lage Die Freude am Spiel mag vielleicht manches Detail beigesteuert haben fuumlrdie verschraumlnkte Anlage des Textes ist sie aber keine Erklaumlrung

Ganz anders ist der Anspruch zum Ende der Darstellung der Viten der bdquoDreiszligig Tyrannenldquoin dem der Autor beteuert seinem Werk mangele es zwar an literarischer Ausgefeiltheit nichtjedoch an Faktentreue da nunc cuivis libellum non tam diserte quam fideliter scriptum ndash sbquoGibnun dieses Buumlchleinwem du magst es ist nicht so sehr kunstvoll geschrieben wie es sachgetreuistlsquo (SHA Quadr tyr 33 8) Syme nennt dies bdquodeceit for its own sweet sakeldquo (1983c 217) Im gleichen Aufsatz spe-kuliert er auch uumlber das Interesse des Publikums an einer solchen Art von geistigem Spiel(ibid 221)

2 De nuptiis als literarisches Werk 153

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Es lohnt sich jedoch auch fuumlr die Historia Augusta einen Schritt weiter zugehen Ausgangspunkt dafuumlr ist die obige Beobachtungdass das literarische Spielder Historia Augusta nur durchschaut wer die Werke der historischen Literaturkennt Durch die Lektuumlre historiographischer Biographien bringt der Leser einebestimmte Leseerwartung also implizite Vorstellungen mit wie das Werk aus-sehen soll und wird Diese Erwartungen werden aber nicht oder nur teilweisebedient Formal gesehen weisen die Viten in der Historia Augusta zwar die Cha-rakteristika der Gattung auf ndash doch indem sie sie inhaltlich nicht adaumlquat aus-fuumlllen treten deren Konventionen vor Augen

Durch die uumlbermaumlszligige Verwendung falscher Verweise und erfundener Quel-len geraumlt zudem das Beglaubigungsverfahren historischer Texte in den Blick-punkt Der Leser erkennt anwelchen Stellenwelche Beglaubigungsmechanismenansetzen und auf welche Weise sie unterlaufen werden koumlnnen Uumlberspitzt lieszligesich behaupten DieHistoria Augusta verfolgt ein aufklaumlrerisches Interesse indemsie (spielerisch) aufzeigt welche Beglaubigungsverfahren die Geschichtsschrei-bung nutzt und wie sie manipuliert werden koumlnnen dadurch wird auch die Ma-nipulierbarkeit von Geschichte und Leser deutlich

In De nuptiis werden ebenfalls die Konventionen der Einzelgattungen ndash zu-mindest ansatzweise ndash hervorgehoben Dass kein perfektes Musterbeispiel derjeweiligen Einzelgattung entstehen kann liegt darin begruumlndet dass durch dieVerbindung der vier literarischen Genres keine oberflaumlchliche Konsistenz derFiktion entstehen kannVielmehr entstehen Bruumlche die ndash ebenso wie die Bruumlchein der Erzaumlhlhaltung ndash auch die Gattungskonventionen und ihre Annahmendeutlich werden lassen Dies gilt besonders fuumlr die Satire deren Vorgehen imKontrast zur eigentlichen Hochzeitshandlung aus dem Rahmen faumlllt und somitbesonderes Augenmerk erhaumllt Hinzu tritt mit der Figur Satura auch eine Perso-nifikation der Gattung die in theoretischen Diskussionen Annahmen und Vor-gehen mit Martianus eroumlrtert Grunduumlberlegungen der Gattung Satire werden sotheoretisch eroumlrtert und praktisch erprobt Gleiches giltwenn auch zT inwenigerdeutlicher Form auch fuumlr die anderen Formen Die Enzyklopaumldie in ihren langenMonologen wird durch Spott markiert die trockenen Kuumlnste werden probeweisedurch Allegorien zugaumlnglicher gemacht im Symposiondialog wird uumlberlegt in-wieweit uumlbliche Rollenmuster (der Zecher) einen Platz haben oder wie weit mandie fuumlr die Feier typischen Reden fuumlhren kann und immythischen Teil wird durchdie Gegenuumlberstellung mit dem handfesten Wissensbetrieb die Andersartigkeitdes Erzaumlhlens deutlich

So werden neben den Inhalten der Wissenschaften auch verschiedene lite-rarische Formen bewahrt Neben der reinen Anwendung und somit Tradierungwerden gleichzeitig auch die Mechanismen verdeutlicht deren sich die jeweilige

154 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Gattung bedient Somit wird ihr Funktionieren nachvollziehbar und in der Folgeauch nachahmbar

3 Zusammenfassung

Martianus weckt also durch die Wahl mehrerer gleichberechtigter Erzaumlhler diesomit das Erzaumlhlen unzuverlaumlssig werden lassen besonders aber durch dieUumlbernahme satirischer Gattungselemente ein Bewusstsein fuumlr die traditionellenGrundlagen desWissens- und Lehrsystems seiner Zeit ImGegensatz zur Satire diediese Fragen kategorisch stellt handelt es sich in De nuptiis um ein Spiel damitDer Satirebezug dient als Anknuumlpfung an die traditionellen Gattungsmerkmaleder menippeischen Satire Karnevaleske und Dialogizitaumlt

Durch die (temporaumlre) Rolleninversion richtet sich das Augenmerk aufPhilologia als Wissenszentrum und Wissensmittlerin und fordert zum Nach-denken daruumlber heraus Im Kern hinterfragt das Werk alle Bereiche die mit Bil-dung und Bildungsvermittlung zu tun haben Was sind die Inhalte wahrer Bil-dung Gibt es eine Einheit von Bildung Wie kann sie vermittelt werden

Allerdings zielt die Kritik nicht auf eine Aufloumlsung klassischer Bildungsinhalteund Vermittlungsformen Sie regt vielmehr durch Scherz und Bruumlche zumNachdenken uumlber diese Fragen an Dabei verzichtet Martianus auf eigene Vor-schlaumlge und Konzepte und festigt so gleichsam den traditionellen Bildungs-betrieb Das von ihm dargestellte Wissen wird kanonisiert und die Darstel-lungsform in langen Reden wird es auch Die mittelalterliche Rezeption von Denuptiis zeigt dies eindrucksvoll

Wissen umfasst dabei nicht nur das Faktenwissen der Vortraumlge sondern auchdas Wissen um bestimmte literarische Formen Durch die Verbindung von vierGattungen und die Doppelung der Erzaumlhlerfigur mit Reflexion uumlber angemessenesErzaumlhlen entstehen Inkonsistenzen die die Konventionen der einzelnen Gattun-gen hervortreten lassen Nicht alle Elementewerden auf dieseWeise deutlich aberMartianus bietet einen Ansatzpunkt die Fiktion auch unter der Fragestellung zulesen was einen Text der jeweiligen Gattung ausmacht ndash sowohl positiv wie ne-gativ formuliert

Mit seiner kreativen Konzeption und ihrer literarischen Umsetzung gelingt esMartianus eindrucksvoll Heiteres und Belehrendes zu verbindenwomit er an dieTradition Varros und die klassische antike Poetik anknuumlpft Es gelingt ihm daruumlberhinaus aber auchWissen zu vermitteln und die traditionellen Vorstellungen vonder Bedeutung dieses Wissens wie der Form seiner Vermittlung herauszustellenSpielerisch wird also gelehrt und hinterfragt nicht jedoch kategorisch kritisiertoder kuumlhn neu entworfen Gerade dadurch zeichnet sich Martianusrsquo De nuptiis

3 Zusammenfassung 155

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

tatsaumlchlich als nescioquid inopinum intactumque (sbquoetwas Ungewohntes und nochnie Gewagteslsquo 1 2) aus und macht es zu einem der bedeutendsten Buumlcher derSpaumltantike und zu einer interessanten Quelle fuumlr die Frage nach Bildungsvor-stellungen im fuumlnften Jahrhundert

156 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Page 16: Bildungsvorstellungen im 5. Jahrhundert n. Chr. (Macrobius, Martianus Capella und Sidonius Apollinaris) || III Martianus Capella, De nuptiis Philologiae et Mercurii

rieninitiation zu platonischen Mysterien chaldaumlischen Orakeln magischenPraktiken und zur Theurgie nachweisen Im Deutungsteil verwirft er die ThesenNuchelmansrsquo und Mathonssup3⁰⁵ als zu kurz greifend Nuchelmans hatte in derHochzeit Philologias und Merkurs (mittelalterlicher Kommentar-Tradition fol-gend) eine Forderung von Martianus nach der Vereinigung von Wissen (Philo-logia) und Rhetorik (Merkur) gesehen Mathons Ansatz fuumlhrte den Verweis auf dieneuplatonische Wieder-Erinnerung und die Ruumlckkehr der Seele in dieses Modellein Ebenso wie bei Nuchelmans werden auch hier nur wenige Elemente desMythos interpretiertsup3⁰⁶

Lenazrsquo eigener Ansatzsup3⁰⁷ folgt den Uumlberlegungen Ferrarinossup3⁰⁸ und ergaumlnzt siemit einigen Hypothesen Im Kern kreise der Mythos des zweiten Buches um einedoppelte Vereinigung die (horizontale) Vereinigung allen irdischen Wissens inPhilologia mit Hilfe von Hymenaeus und die (vertikale) Vereinigung der goumlttlichenund menschlichen Sphaumlre mit Hilfe von Eros Hinzu treten Uumlberlegungen ob essich bei Philologia und Merkur eventuell um nur eine Entitaumlt handle die Seelewelche getrennt worden sei und nun wieder zusammenfinde

Diese Lesart integriert die meisten der mythischen und allegorischen Ele-mente und verbindet sie weitgehend schluumlssig zu einem umfassenden KonzeptAllerdings vernachlaumlssigt sie auch bestimmte EinzelbeobachtungenWieso steigtPhilologia vom Sphaumlrenrand wieder auf die Milchstraszlige hinab (2 200 2 206)Wieso werden ihr auf der Milchstraszlige die irdischen Kuumlnste vorgefuumlhrt die sieerbrechenmusste damit sie in den Himmel aufsteigen konnte (2 135 f)sup3⁰⁹ Bereitsdiese Fragen zeigen deutlich dass eine kohaumlrente plausible Aufloumlsung des Mythosnicht leicht moumlglich ist

Nuchelmans 1950 Mathon 1969 Lenaz 1975 105 Aumlhnliches gilt auch fuumlr Hadots Deutung Sie identifiziert Merkur mit demaumlgyptischen Gott Theuth auf den in De nuptiis 2 102 f angespielt wird und nennt ihn diebdquoPersonifizierung der goumlttlichen Vernunftldquo waumlhrend Philologia die Personifizierung dermenschlichen Vernunftseele in deren idealem Zustand darstelle Die sieben Wissenschaften unddie sieben mantischen Kuumlnste ermoumlglichten es der Seele bdquozu ihrem Ursprung dem intelligiblenBereich oder zu Gottldquo zuruumlckzukehren (Hadot 2009 21 f) Lenaz 1975 106ndash 119 Ferrarino 1969 Dieses Problem entfiele wenn man annaumlhme dass Martianus die Erzaumlhlung nur auf dieersten zwei Buumlcher angelegt habe und erst danach die Moumlglichkeit einer Verbindung mit der inden Buumlchern 3 bis 9 folgenden Enzyklopaumldie erkannt habe Dafuumlr gibt es zwar Hinweise (bes dieDiskussion um die FiktionalitaumltUnterhaltung) am Ende von Buch 2 und zu Beginn von Buch 3doch duumlrfte man annehmen dass Martianus den Grundkonflikt von zuruumlckgelassenem Wissenund erneut geschenktem Wissen erkannt und behoben haumltte

2 De nuptiis als literarisches Werk 129

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Weiterhin uumlberbetont der Versuch den Mythos allein aus sich heraus zu er-klaumlren den Stellenwert des zweiten Buches im Gesamtwerk Als Interpretations-rahmen zwar wichtig tritt er bei fortschreitender Lektuumlre hinter die praktischeDarstellung der sieben Kuumlnste zuruumlck Diese nehmen nicht nur mehr Raum einsondern uumlberlagern die Darstellung im zweiten Buch und reduzieren somit auchderen Bedeutung Der Mythos ist also einwichtiger keineswegs jedoch der einzigeBestandteil von De nuptiis

Menippeische SatireDas auffaumllligste literarische Kompositionselement von De nuptiis ist jedochzweifellos die Wahl des Prosimetrums die Mischung von Prosapartien mit me-trischen Einheiten Der uumlberwiegende Teil des Werks ist in Prosa gehalten inwelchen 33sup3sup1⁰ metrische Partien eingelegt sind Dabei sind die Gedichte nichtregelmaumlszligig uumlber das gesamte Werk verteilt sie finden sich uumlberwiegend an ex-ponierten Stellen besonders an den Buchanfaumlngen und Buchenden Bei denmetrischen Partien innerhalb eines Buches handelt es sich fast ausschlieszliglich umGoumltterreden

Die beobachtete unregelmaumlszligige Verteilung der metrischen Partien unter-scheidet sich deutlich von der Gestaltung wie sie Boethius wenige Jahrzehntespaumlter inDe consolatione Philosophiae einsetzt Dort sind diemetrischen Partien inHinblick auf die Gesamttextmenge haumlufiger und zudem gleichmaumlszligiger verteiltsup3sup1sup1

Damit haumlngt zusammen dass auch die literarisch-argumentative Funktion dermetrischen Teile z T von derjenigen bei Boethius abweicht Bei Boethius stehendie Gedichte im Argumentationszusammenhang und fuumlhren Gedanken fort oderbuumlndeln sie in praumlgnanter Ausdrucksweisesup3sup1sup2 Ein gutes Beispiel dafuumlr ist eine

Die Zaumlhlung umfasst die zusammenhaumlngenden metrischen Partien und zaumlhlt auch Ge-dichte mit unterschiedlichem Versmaszlig (z B die Gedichte der Musen) als eine Partie Vgl dazu besonders OrsquoDaly 1991 Kap 1 (bdquoThe poetics of the Consolationldquo) darin 19ndash22 zuMartianus Sprachliche Parallelen sind zusammengestellt im Index der Boethius-Ausgabe vonBieler (CCSL 94 116) diskutiert werden sie bei Pabst 1994 163ndash 168 Da Boethius das Werk desMartianus kannte kann man von einer gelungeneren Ausdifferenzierung der Ansaumltze des Mar-tianus sprechen Der Vergleich des Einsatzes der prosimetrischen Form bei Boethius gewinntdadurch an Gewicht Eine Mischung von Prosa und Poesie findet sich weiterhin bei Fulgentius inden Mythologiae ndash Zu Parallelen in den Werkanfaumlngen bei Martianus Fulgentius und Boethiusvgl Klingner 1921 114 Pabst 1994 der Fulgentiusrsquo Vorgehen durchaus als bdquoimitatio Martianaldquoversteht (162 134ndash 137) fuumlr Boethius in Martianus allerdings nur eine Quelle sieht bdquoThey contribute to the argument as it proceeds yet take a wider view with an authorityoutside and above the adjacent prose They possess their own thematic design which spans theentire workldquo (Crabbe 1981 260) bdquoDie Metra bilden Ruhe- und Houmlhepunkte im Werk haumlufig

130 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Stelle zu Beginn des vierten Buches Nachdem zunaumlchst allgemein erlaumlutert wirddass die Weisen vermoumlgen was sie wollen die Schlechten jedoch nicht(cons 4 1 131ndash140) folgt in Versen eine Reihe plastischer Beispiele fuumlr die These(cons 4 carm 2) bevor der Gedanke fortgesponnen wird (cons 4 3 1ndash4)

An anderen Stellen uumlbernehmen die metrischen Partien eine Gliederungs-funktion indem sie Gedanken abschlieszligen und durch die Unterbrechung Zeit zurErholung bieten So sagt Philosophia zu ihrem Schuumller Boethius

bdquosed uideo te iam dudum et pondere quaestionis oneratum et rationis prolixitate fatigatumaliquam carminis exspectare dulcedinem accipe igitur haustum quo refectus firmior inulteriora contendasldquo (Boeth cons 4 6 200‐203)

bdquoAber ich sehe dass du bereits vom Gewicht der Untersuchung belastet und von der Breiteder Beweisfuumlhrung erschoumlpft auf die suumlszlige Erholung eines Liedes wartest nimm also denTrank damit du solchermaszligen erfrischt kraumlftiger zu den weiteren Themen eilen kannstldquo

In dieser zweiten Funktion setzt auch Martianus die metrischen Partien ein Dabeisind sie nicht in die Prosadarstellung eingeschoben sondern markieren fastausschlieszliglich die Buchanfaumlnge und Buchenden Explizites Ziel ist die Belebungdes Werkes um eine angenehme Lektuumlre zu erleichternsup3sup1sup3 Dies widersprichtMartianusrsquoAnkuumlndigung nach der hinleitenden Erzaumlhlung in denBuumlchern 1 und 2keine fiktionalen Erzaumlhlungen mehr einfuumlgen zu wollen die Darstellung solleernst und dem Gegenstand angemessen sein

nunc ergo mythos terminatur infiuntartes libelli qui sequentes asserentnam fruge vera omne fictum dimoventet disciplinas annotabunt sobriaspro parte multa nec vetabunt ludicra (2 220)

Nun also hat der Mythos sein Ende erreicht es beginnen die Buumlcher die die nun anschlie-szligenden Kuumlnste darbieten Denn mit wahrhaftiger Ernte entfernen sie alles Erdichtete undzeichnen die Kuumlnste nuumlchtern auf verbieten jedoch nicht gelegentliche Unterhaltung

stehen sie am Ende von Einzelabschnitten wo sie diese dann rekapitulieren und fuumlr densbquoSchuumllerlsquo zusammenfassen Bisweilen kommt ihnen auch eine Uumlberleitungsfunktion zuldquo (Kin-dermann 1969 63) ndash Zur Gattung allgemein allerdings mit besonderem Fokus auf die mittel-alterliche Literatur vgl Pabst 1994 bes 105ndash 133 zum Prosimetrum bei Martianus und 158ndash 195bei Boethius sowie Dronke 1994 bes Kap 2 (bdquoAllegory and the mixed formldquo) So auch McDonough der im Kapitel bdquoThe function of the poetryldquo zu Recht (aber zu kurzgreifend) formuliert bdquoIn undertaking the compilation of his encyclopedia the main challenge toMartianus lay in maintaining the interest of his readers (and himself) in making palatable thearid factual account of the various disciplinesldquo (McDonough 1968 37)

2 De nuptiis als literarisches Werk 131

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Scheint es an dieser Stelle so als ob Mythos und Heiteres getrennte Dinge waumlrenzeigt der unmittelbare Fortgang zu Beginn von Buch 3 dass beide Begriffe letztlichAumlhnliches bezeichnen Hier am Beginn der Schilderung der freien Kuumlnste(3 221 f) erlaumlutert Martianus in einem weiteren Gedicht das als Dialog gestaltetist warum er von seinem Plan abweicht

Camena bringt Schmuck fuumlr das Werk mit (amicta fictis commenta ferre) AufMartianusrsquo Einwand keine Mythen mehr vorbringen zu wollen (mythi pulsi) er-widert sie es gehe nicht um Luumlge (nil mentiamur) sondern um Einkleidung(vestiantur Artes) ndash man koumlnne die Brautjungfern also die Allegorien der freienKuumlnste doch nicht nackt vorfuumlhren Daraufhin gibt sich Martianus geschlagenund die Handlung von Buch 3 beginnt

Abgesehen von der unterhaltenden Funktion die besonders durch die Ge-dichte an den Buchenden gewaumlhrleistet wird scheinen die metrischen Passagenfuumlr viele Forscher wahllos in das Werk eingestreut Typisch ist eine Aussage wieCrabbe sie trifft bdquoMartianus uses verse frequently at the beginning sometimes atthe end of books and erratically throughoutldquosup3sup1⁴

Natuumlrlich kann von einer systematischen Verteilung und einer argumenta-tionslogischen Anordnung wie bei Boethius nicht gesprochen werden Bei ge-nauerem Hinsehen wird jedoch deutlich dass die metrischen Abschnitte nichtwillkuumlrlich uumlber das Werk verstreut sindsup3sup1⁵

Die meisten metrischen Passagen finden sich in den Buumlchern 1 und 2 von Denuptiis Diese Buumlcher enthalten die einleitende Handlung die als fiktionale Er-zaumlhlung dargeboten wird Im Bericht von der Suche Merkurs nach der richtigenEhefrau und von Philologias Aufstieg in den Himmel finden sich neun metrischePassagen Es handelt sich dabei bis auf die drei Faumllle der an den Buchanfaumlngen(Buch 1) und Buchenden (Buch 1 und 2) stehenden Gedichte um Reden vonGoumlttern Diese fuumlhren die Handlung fort und dienen also nicht der Buumlndelung derGedanken oder der Erholung des Lesers Stattdessen scheint es Martianus darumzu gehen das Sprechen der Goumltter durch die metrische Gebundenheit als be-

Crabbe 1981 264 Eine Typisierung die z T von der Position der metrischen Passagenlosgeloumlst ist bietet McDonough seiner Ansicht nach sind die metrischen Partien hauptsaumlchlichfunktional bdquoThe poetry thus is primarily functional although this function varies from book tobookldquo (McDonough 1968 38) Als Funktionen benennt er fuumlr Buch 1 Handlungsfortfuumlhrung fuumlrBuch 2 Schmuck fuumlr Buch 3 Belehrung fuumlr den Rest Einfuumlhrung oder Entlassung derBrautjungfern oder Unmut uumlber Verzoumlgerung der Hochzeit Der Rest seien bdquooccasional piecesldquo(ibid 40) ndash Verspartien finden sich am Anfang der Buumlcher 1 2 3 4 5 6 7 und 9 sowie am Endeder Buumlcher 2 4 5 7 und 9 Die ungleiche Verwendung der Metra bei Boethius und Martianus laumlsst sich am besten alsEntwicklung verstehen wie es beispielsweise Kindermann (1969 60) tut Zur Kenntnis desMartianus bei Boethius vgl oben Anm 311

132 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

sonders zu markieren Dies gilt vor allem fuumlr markante Szenen zum Beispiel dieRede Jupiters in der Goumltterversammlung gegen Ende des ersten Buches (1 91ndash93)oder die orakelartige Auskunft Apolls (1 21 f)

Diese Beobachtung gilt daruumlber hinaus ebenso fuumlr die genannten Stellen inBuch 9 auch wenn es sich dort nicht um die Vorgeschichte oder einen weiterenliterarischen Rahmen handelt Jedoch ist eine Szene mit Goumlttergespraumlchen ein-geschoben in der die Goumltter unter anderem auch Verse verwenden Durch dieseReden in metrisch gebundener Form soll den entsprechenden Buumlchern also einehoumlhere Wuumlrde verliehen werden

Einen zweiten Fall stellen die Gedichte zu Beginn oder zu Ende eines Buchesin den Buumlchern 3 bis 9 dar In diesen Buumlchern praumlsentieren die Freien Kuumlnste ingeschlossenem Vortrag die Inhalte ihrer Wissenschaft Die Gedichte in einigenFaumlllen in auktorialer Erzaumlhlhaltung gestaltet uumlberbruumlcken die Fuge zwischen denBuumlchern und bieten eine Pause zwischen den langen Vortragspartien der Leserkann sich erholen Die Inhalte der Verspartien sind unterschiedlich es handeltsich zumeist um den Ein- oder Auszug einer Brautjungfer (4 327 4 423 f 8 8028 808 9 911ndash919) um die Fortfuumlhrung der Hochzeitshandlung (5 425 8 8059 888) um die Anrufung eines Gottes (6 567ndash574) oder um eine Wendung desAutors an den Leser (5 566 9 997ndash 1000)

Dieser Einsatz der Verspartien ist jedoch noch keine hinreichende Erklaumlrungfuumlr die Wahl des Prosimetrums Sie erklaumlrt sich besonders dadurch dass Marti-anus auf diese Weise sein Werk in die Traditionslinie von Texten einreiht die alsmenippeische Satiren bezeichnet werdensup3sup1⁶

Charakteristisch fuumlr diese spezielle Form der roumlmischen Satire ist der Wechselvon metrischen und prosaischen Partiensup3sup1⁷ Klassische lateinischsprachige Ver-treter der menippeischen Satire sind Varro (Saturae Menippeae) Seneca (Apo-colocyntosis) und Petron (Satyrikon) in der griechischen Literatur nutzen Lukianund Julian (Caesares) diese Form Inhaltlich lassen sich nur wenige Verbindungenzwischen den Werken ziehen und auch die Umsetzung der formalen Elemente istunterschiedlich Dies fuumlhrt sogar so weit dass sich moderne Forscher trotz derbereits antik bezeugten Bezeichnungder Gattung teilweise auszligerstande sehen dieGattung genauer zu definieren oder dass sie ihre Fragestellung losgeloumlst von derGattungstradition verfolgensup3sup1⁸ Dies macht die Verortung von De nuptiis in diesemGenre nicht leichter

Zur menippeischen Satire vgl Relihan 1993 Coffey 1996 Im Gegensatz dazu beschraumlnkt sich die Verssatire seit Horaz auf die Verwendung desHexameters So betont Scheible im Vorwort ihrer Studie zu den Gedichten in Boethiusrsquo de consolationedass sie Vorgaben der Tradition in Hinblick auf die Gedichte nicht beruumlcksichtige ndash sie lieszligen

2 De nuptiis als literarisches Werk 133

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Gelegentlich wird sogar die These vertreten dass sich das satirische ElementinDe nuptiis in dieser formalen Verbindung von Prosaund Poesie erschoumlpfesup3sup1⁹DerGattungsbegriff sbquomenippeische Satirelsquo waumlre dann identisch mit der BezeichnungsbquoProsimetrumlsquo Dem widersprechen jedoch verschiedene Beobachtungen derRuumlckgriff auf die Etymologie des Wortes satura die Bezugnahme auf Vertreter derGattung und das Auftreten einer Figur namens Satura sowie deren Agieren dasuumlber die rein formale aumluszligerliche Satireform hinausweist schlieszliglich die beson-dere Gestaltung der Erzaumlhlsituation Diese vier Elemente sollen im Folgendenherausgearbeitet werden

Etymologie ndash Dass Martianus sein Werk sehr wohl als Satire verstanden wissenwill wird an verschiedenen Stellen deutlich Dies geschieht zum Beispiel durchgelehrte Anspielungen auf die Terminologie der antiken Satire an prominenterStelle So heiszligt es in 9 998

[Satura] haec quippe loquax docta doctis aggeransfandis tacenda farcinat immiscuitMusas deosque disciplinas cyclicasgarrire agresti cruda finxit plasmate

So haumluft sie plappernd Gelehrtes auf Gelehrtes und stopft geheimes und bekanntes Wissenzusammen hatMusenundGoumltter vermischt undhat sich erdacht dass die enzyklopaumldischenDisziplinen in einem baumlurischen Machwerk unreifes Zeug daherplappern

Die Woumlrter farcinat und immiscuit verweisen auf das Zusammenstopfen undVermischen verschiedener Zutaten z B in einer Wurst oder Pastete Gleiches giltfuumlr die Woumlrtermiscillo und aggeranssup3sup2⁰ Ausgangspunkt fuumlr diese Terminologie istdie Etymologie desWortes sbquoSatirelsquo an sich bedeutet urspruumlnglich etwaswie sbquobunteMischunglsquosup3sup2sup1 Traditionell sind Anspielungen auf diese Etymologie in der satiri-

sich nicht feststellen (Scheible 1972 8) Vorhandene Untersuchungen beschreiben in der Regeldie Konstituenten der einzelnen Werke Aufgrund der geringen Zahl uumlberlieferter Werke und dergroszligen Unterschiede zwischen ihnen ist es jedoch schwierig die typischen Elemente der Gat-tung zu benennen Auch diese Arbeit schlieszligt sich dem beschreibenden Vorgehen an undvergleicht an einschlaumlgigen Stellen inwieweit die Beobachtungen auch fuumlr die Gattung typischsind So z B Coffey der die Mischung aus Prosa und Poesie bei Martianus als bdquomiscellanyldquobezeichnet und vor einer Verbindung von De nuptiis mit der Satire als problematisch warnt(Coffey 1996 959) Vgl Relihan 1993 14 ErnoutMeillet s v satur -ra -rum (2001 596) WaldeHofmann s v satura (2007 II482f) Der zentrale Hinweis auf eine Ableitung des Wortes aus dem kulinarischen Bereich findet

134 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

schen Literatur selten Allein in Juvenal findet sich ein Hinweis darauf gleichwohlmit leicht anderem Verstaumlndnis Er betrachtet die Zusammenstellung der Satirenals farrago also als Mischgericht nicht die einzelne Satiresup3sup2sup2

In diesen sehr bildlichen Wendungen trifft Martianus gleichzeitig eine Aus-sage uumlber sein Verstaumlndnis der Darstellung von Bildungswissen Bei ihm gibt eskeine vorverdauten und mundgerecht aufbereiteten Wissenspaumlckchen (wie Ma-crobius sie bietet)sup3sup2sup3 sondern rohe Kost (cruda) die ihre Zutaten d h die lite-rarischen oder inhaltlichen Urspruumlnge nicht leugnet LeMoine formuliert prauml-gnant bdquoBy calling attention to the literary functions these metaphors fulfillMartianus hellip raises questions about the principles of seamless synthesis andverbal regurgitation which Macrobius so effectively demonstratesldquosup3sup2⁴

Dass Martianus durch diese Art der Darstellung seine Autoritaumlt infrage stelle(bdquohellip reveal doubts about the competence of the cook and the quality of the edu-cational feastldquo)sup3sup2⁵ laumlsst sich jedoch nicht erkennen Schlieszliglich benennt er seinVorgehen explizit (scheitert also nicht an einem gesteckten Plan) und bietetgleichzeitig mit der Kritik an der klassischen Form der Wissensvermittlung eineMoumlglichkeit an wie nicht-vereinheitlichte Wissensvermittlung aussehen kannBeeintraumlchtigungen des Vertrauens zum Erzaumlhler und zu den Inhalten gibt esallerdings ndash jedoch aufgrund anderer Faktorensup3sup2⁶

Bezug auf andere Satiriker ndash Neben den Anspielungen auf die Etymologie derGattung Satire treten explizite Bezuumlge auf andere Autoren menippeischer Satirenauf Namentlich wird jedoch keiner der Vorgaumlnger genannt die Nennung Varroserfolgt ausschlieszliglich in den Vortraumlgen der Brautjungfern und bezieht sichuumlberwiegend auf Varros fachschriftstellerische Werke oder seinen Ruf als Enzy-klopaumldistsup3sup2⁷

sich beim Grammatiker Diomedes (Grammatici Latini 1 485) Ausgehend von dieser Passageeroumlrtert Petersmann die Etymologie mit besonderer Beruumlcksichtigung des Ursprungs des Wortessatura aus dem Kuumlchenbereich (Petersmann 1986) Iuv 1 86 nostri farrago libelli Vgl die Kommentare Morton Braund 1996 95 f undCourtney 1980 103 Vgl die Gleichnisse in der praefatio zu den Saturnalia (Sat praef 5ndash9) und die Ausfuumlh-rungen in Kap II1 sowie die dort aufgefuumlhrte Literatur LeMoine 1991 360 ibid S u die Abschnitte bdquoErzaumlhlinstanzenldquo und bdquoDeutungen der komplexen literarischen Formldquo 4 335 (die Gelehrsamkeit Varros vgl Cic ac 1 9 Aug civ 6 2) 5 517 (Nennung in einemZitat) 6 639 und 6 662 (Fragen der Geographie die Varro-Vorlage ist nicht bekannt) 9 928 (cfVarro rust 3 17 4) Vgl zum Verhaumlltnis von Martianus und Varro bes Bovey 2003 Kap 2 (bdquoLaquestion varronienneldquo) und Schievenin 2009f

2 De nuptiis als literarisches Werk 135

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Allerdings zitiert die Wendung ὄνος λύρας in 8 807 den Titel einer menip-peischen Satire Varrossup3sup2⁸ Die Wendung ist in der lateinischen Literatur ander-weitig nicht belegt weshalb davon auszugehen ist dass Martianus hier auf denrepublikanischen Satiriker direkt zuruumlckgriff Da die Wendung zudem im Streit-gespraumlch zwischenMartianus und Satura uumlber die angemessene Art des Erzaumlhlensder Geschichte faumlllt kommt ihrer Verwendung eine programmatische Aussage zuMartianus stellt sich und sein Werk also in die Nachfolge Varros und seiner Sa-tiren

Ein Bezug auf Lukian ist weniger sicher nachzuweisensup3sup2⁹ Allerdings gibt eseine motivische Uumlbernahme im zweiten Buch von De nuptiis Philologias Erbre-chen des Wissens das der Hochzeit vorausgeht hat eine Parallele in LukiansDialog Lexiphanes Der allzu (ein)gebildete Lexiphanes nimmt auf Draumlngen vonLycinus ein Brechmittel ein das ihm der Arzt Sopolis gibt Daraufhin erbricht eralle Woumlrter die er gelernt hat dies ist die Voraussetzung dafuumlr dass er nun an-gemessen belehrt werden kannsup3sup3⁰

Es handelt sich um die Fragmente Varro Men 348ndash369 In Fragment 349 findet sich dieWendung auch im Vers (si quis μελωδεῖν est ὄνος λύρας praesepibus se retineat forensibus ndashsbquower beim Gesang wiersquon Esel an der Harfe bloumld der bleib getrost im Stallmief seines Forumsdortlsquo [Uumlbs Krenkel]) Die Bezugnahme auf Varro ist umso wahrscheinlicher da Satura unmit-telbar zuvor sowohl Martianusrsquo berufliche Aufenthalte auf dem Forum erwaumlhnt und ein Wort-spiel mit seinem Namen Capella angestellt hat ndash der zwar nicht sbquoEsellsquo bedeutet wohl aber einHaustier (sbquoZiegelsquo)Vgl dazu Shanzer 1968c 38ndash40 Shanzer 1986a kritisch dazu Pabst 1994 168(m Lit) Folgt man Bovey handelt es sich bei der unmittelbar folgenden Wendung καιρὸν γνῶθιum einen weiteren Verweis auf den Titel einer Varro-Satire γνῶθι σεαυτόν (= Varr Men 199ndash210 vgl Bovey 2003 282ndash284) Naumlher liegt wohl dass Martianus Capella diese eigenstaumlndigeSentenz (vgl Diogenes Laertios I 79 der sie als Sentenz des Pittakos ausweist) aus einer anderenQuelle uumlbernommen hat Kindermann 1969 60 Shanzer geht davon aus dass Martianus Lukian kannte (Shanzer1986c 36) Zur Diskussion um Martianusrsquo Griechischkenntnisse vgl Cristante 2009 [5] undShanzer 1986c 4 die beide annehmen dass Martianus durchaus Griechisch beherrschteShanzer weist einige Stellen auf an denen Martianus woumlrtlich uumlbersetzt und schlieszligt aus derBeherrschung des Griechischen zu Recht auf einen gebildeten moumlglicherweise sogar akade-mischen Hintergrund von Martianus Lucian Lex 20f Andere antike Texte die das Erbrechen von Wissen als Teil des Reini-gungsprozesses beschreiben oder als Bild tradieren sind mir nicht bekannt Daher ist eswahrscheinlicher dass Martianus auf Lukian im Original zuruumlckgegriffen hat Zur vor-byzantinischen Rezeption Lukians vgl Nesselrath 1994 der spaumltantike Bezuumlge auf Lukian u abei Julian und Claudian aufzeigt ndash Einen Bezug auf Lukians Concilium deorum fuumlr moumlglich haumlltKrapinger 1999 962 ndash Anders gelagert sind Lucian cont 7 und Aug in Joh ev tract 36 1 Dortgeht es darum dass durch das Ausspeien Wissen weitergegeben wird was zum Bild der daserbrochene Wissen aufsammelnden Artes passt nicht jedoch zum Motiv der Reinigung

136 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Bezuumlge auszligerhalb der Uumlbernahme uumlblicher Gattungselemente lassen sich fuumlrSenecas Apocolocyntosis Petrons Satyricon oder Julians Caesares nicht konsta-tierensup3sup3sup1

Die Figur der Satura und ihr Handeln ndash Einer der deutlichsten Hinweise auf dieForm der Satire liegt im Auftreten einer Figur namens Satura Diese Figur wirdzunaumlchst von Martianus als Erzaumlhlinstanz eingefuumlhrt (1 2) von der er den Inhaltvon De nuptiis erfahren haben will Im Laufe des Werks gewinnt Satura aber anProfil und agiert zunehmend autonom

Aussagen uumlber Satura beruhen letztlich auf drei Stellen in De nuptiis (6 576ndash5798 806ndash8109997ndash999) und koumlnnen fast ausschlieszliglich aus der Formund derBotschaft ihrer eigenen Aumluszligerungen gewonnen werden An allen drei Stellendiskutiert Satura mit Martianus Ansonsten ist Satura zwar als praumlsent zu denkenwird aber nicht weiter thematisiert

Nach Martianusrsquo Anrufung Minervas zu Beginn des sechsten Buches mischtsich Satura in seine Uumlberlegungen ein welche Frauen er vor sich sehe Die Ein-mischung wird von Martianus als scherzend bezeichnet (iocabunda 6 576) dieEinmischung an sich als typisch fuumlr das Scherzen Saturas (ut lepidula est 6 576)Die Aumluszligerung Saturas beginnt mit Spott uumlber Martianusrsquo nur scheinbare KlugheitDurch falsche naumlchtliche Studien und besonders seine Anwaltstaumltigkeit habe erden Blick auf das Wichtige verloren und erkenne nun nicht einmal mehr Philo-sophia und Paideia Der Scherz wird jedoch alsbald von einem belehrendenTonfall abgeloumlst in dem Satura Martianus uumlber das Wesen der beiden Frauenaufklaumlrt

Satura tritt als Naumlchstes zu Beginn des achten Buches auf in der Folge derSilen-Szene Der angetrunkene Silen war eingeschlafen und durch Amor aufge-schreckt worden was die uumlbrigen Goumltter laut lachen lieszlig (8 803ndash805) DieseSchilderung provoziert bei SaturaWiderspruch da sie das Erzaumlhlte als unpassendfuumlr die Goumltterversammlung empfindet Ihre Kritik beginnt wieder bei der Persondes Martianus dessen Namen sie als passend zu seinem Wesen deutet (Capella ~sbquoZiegelsquo 8 806) Sodann fordert sie Martianus auf seine Possen zu unterlassenMartianus fuumlhlt sich gehoumlrig von Satura gemaszligregelt und gibt klein bei bemerktaber dass sie ansonsten mehr von Scherzen halte (alioquin lepidula 8 807) AlsSatura dann die Einfuumlhrungder eintretenden Brautjungfer in Versenvorbringt undMartianus wiederum seine Scherze (ludicra 8 808) vorhaumllt kann dieser nicht

Mit Julian verbindet Martianus immerhin die Ansiedlung der Goumltterversammlung auf derMilchstraszlige ndash Zur Rolle der Saturnalien vgl den Abschnitt bdquoDeutungen der komplexen litera-rischen Formldquo

2 De nuptiis als literarisches Werk 137

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mehr an sich halten und zahlt Satura ihre Kritik in gleicher Muumlnze heim Nacheinigem Spott uumlber Saturas Verse verteidigt nun Martianus das Recht auf Scherzgegen sie die an sich ndash nicht aber in De nuptiiswie es scheint ndash eigentlich fuumlr denScherz zustaumlndig waumlre und gibt ihr mit Martial (2 41 1) den Rat auch einmal zulachensup3sup3sup2

Ein letzter Schlagabtausch von Satura und Martianus erfolgt schlieszliglich amEnde des Werkes Wiederum streiten beide Figuren miteinander und halten sichmit Spott uumlber das Wesen des anderen nicht zuruumlck

Die Einfuumlhrung Saturas die ja nur in Verbindung ndash und das heiszligt Ausein-andersetzung ndash mit Martianus erscheint dient vornehmlich der deutlichenBenennung der Gattung und der Verstaumlndigung daruumlberwas den Charakter einessatirischen bzw des vorliegenden Werkes ausmache Erstaunlich ist dabei Mar-tianusrsquo Entwicklung der sich zunaumlchst gegen Unterhaltung im artes-Teil ausge-sprochen hatte diese spaumlter aber gegen den censorischen Eingriff Saturas imachten Buch verteidigt Noch erstaunlicher ist aber dass es gerade Satura ist diezur Beachtung des Decorums auffordert und Martianusrsquo vergleichsweise mildenScherz scharf tadelt

Erzaumlhlinstanzen ndash Die Frage nach der Erzaumlhlsituation bzw der Erzaumlhlerfigurgehoumlrt zu den grundlegenden Analysekriterien eines literarischenWerkes ebensowie die Konzipierung von Raumund Zeit Lassen sich die letzten beiden Punkte imHinblick auf De nuptiis hinreichend klaumlrensup3sup3sup3 so bietet die Erzaumlhlerfigur groumlszligereSchwierigkeiten

DassDe nuptiis zwei Erzaumlhlinstanzen hat scheint zu Beginn desWerkeswenigdramatisch In 1 2 verweist der Erzaumlhler Martianus gegenuumlber seinem Sohn dar-auf dass die folgende Geschichte (also der uumlberwiegende Teil von De nuptiis) ihm

Ride si sapis o puella ride Schievenin bietet eine gruumlndliche Analyse dieser Stelle auchmit Blick auf die inverse Vorlage Martials (plora si sapis o puella plora Mart 2 41) derwiederum auf Ovid (Ov ars 3 281 f) zuruumlckgreift (Schievenin 1984 bes 136 ausfuumlhrlich auchBovey 2003 275ndash288) Die Rahmenhandlung spielt in der erzaumlhlerischen Gegenwart und in einem unbestimmtenRaum der jedoch nicht auszligergewoumlhnlich ist es liegt nahe an Karthago und das Haus desMartianus Capella zu denken Die eigentliche Handlung spielt an z T unwirklichen Orten aufder Erde die zumeist nicht naumlher bestimmt sind (z B Philologias Herkunft) und auf derMilchstraszlige wobei die absolute Zeit nicht genannt wird aber aufeinanderfolgende Tage inihrem Ablauf erkannt werden koumlnnen Die Phantastik einzelner Szenen die meist auf alle-gorische Darstellungsweisen zuruumlckgeht verletzt jedoch nicht die raumlumliche oder zeitlichePlausibilitaumlt des Dargestellten Vgl dazu auch die Ausfuumlhrungen und grafischen Veranschau-lichungen LeMoines (1972a)

138 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

waumlhrend langer Winternaumlchte (eine Anspielung auf Gellius)sup3sup3⁴ von Satura be-richtet wurde Der antike wie moderne Leser duumlrfte sich wohl kaum daran stoszligensondernwird darin vor allem eine Inspiration des Autors durch Satura (auchwennes das zuvor noch nicht gab) erkennen Bei der Erwaumlhnung von Satura koumlnnte erHeiteres erwarten oder bunt gemischte Geschichten

Vollkommen verwirrt wird der Leser hingegen spaumltestens dann wenn er amEnde des Werkes in der Sphragis angekommen ist (9 997ndash 1000) Dort reflektiertMartianus sein literarisches Vorgehen in den vorausgegangenen neun Buumlcherngenauer gesagt distanziert er sich von der Form der Darstellung (Umfang Bunt-heit) und verweist auf die Verantwortung Saturas die die Geschichte erzaumlhlt habe

Habes anilem Martiane fabulam 997Miscillo lusit quam lucernis flamineSatura Pelasgos dum docere nititurArtes daggercagris vix amicas AtticisSic in novena decidit voluminahaec quippe loquax docta doctis aggerans 998fandis tacenda farcinat immiscuitMusas deosque disciplinas cyclicasgarrire agresti cruda finxit plasmate (9 997 f)

Da hast du Martianus eine Altweibergeschichte sie verfertigte im Spiel mit vermischterInspiration [d h in Prosa und Vers] bei Kerzenschein Saturawaumlhrend sie sich bemuumlhte diePelasger zu lehren die Kuumlnste die den Griechen kaum freundlich [d h neu] sindSo gelangte sie hinab bis zum neunten Buch haumluft plappernd Gelehrtes auf Gelehrtes undstopft geheimes und bekanntes Wissen zusammen hat Musen und Goumltter vermischt und hatsich erdacht dass die enzyklopaumldischen Disziplinen in einembaumlurischenMachwerk unreifesZeug daherplappern

So ungewoumlhnlich dieses Vorgehen auch ist ndash Martianus haumltte ja den Bericht Sa-turas als Grundlage nehmen und dann nach eigenem Geschmack umgestaltenkoumlnnen ndash wird es uumlbertroffen durch die Verteidigung Saturas Sie weist die Ver-antwortung fuumlr die Art der Erzaumlhlung von sich und verteidigt sichmit demHinweisauf Martianusrsquo intellektuelle Schwaumlche der sie die Ausfuumlhrungen habe anpassenmuumlssen

Vgl Gell praef 4 zur Erklaumlrung der Wahl des Titels Noctes Atticae fuumlr sein Werk

Sed quoniam longinquis per hiemem noctibus in agro sicuti dixi terrae Atticae commentationeshasce ludere ac facere exorsi sumus idcirco eas inscripsimus noctium esse Atticarum hellip

Aber weil wir in langen Naumlchten den Winter uumlber in Attika auf dem Landwie schon gesagtdiese Anmerkungen im Spiel und dann ernsthaft begonnen haben daher haben wir ihnenden Namen Attische Naumlchte gegeben hellip

2 De nuptiis als literarisches Werk 139

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

haec ipsa nauci rupta conscientia 999turgensque felle ac bili bdquomulta chlamydeprodire doctis approbanda cultibuspossemque comis utque e Martis curia[hellip]ab hoc creatum Pegaseum gurgitem 1000decente quando possem haurire poculoldquo (9 999 f)

Sie sagte aufgrund ihres Wissens um die Nichtigkeit (dieser Ausfuumlhrungen) verletztschwellend vor Bitterkeit und Zorn bdquoIch koumlnnte hier freundlich auftreten mit einem Gewandbekleidet lobenswert durchgelehrtes Verhaltenwie aus der VersammlungdesMars [Es folgtdie Schilderung der unguumlnstigen Anlagen von Martianus] ndash Wann koumlnnte ich mit ange-messenem Becher aus einem pegasischen Strom von ihm erschaffen schoumlpfenldquo

Somit hat das Werk das zu Beginn zwei hierarchisch geschiedene Erzaumlhler zuhaben scheint am Ende zwei Erzaumlhler die sich gleichberechtigt uumlber die Form dererzaumlhlten Geschichte streitensup3sup3⁵

Die Inkonsistenzen auf der Erzaumlhlebene setzen sich daruumlber hinaus fort HatteMartianus zu Beginn des Werks gesagt Satura habe ihm die Geschichte waumlhrendlangerWinternaumlchte erzaumlhlt so treten Satura undMartianus amEnde desWerks inder erzaumlhlerischen Gegenwart gemeinsam auf und sprechen beide nacheinanderzu Martianusrsquo Sohn

Weiterhin erscheinen Satura und Martianus innerhalb der Geschichte dieMartianus angeblichvon Satura gehoumlrt hatWaumlhrend die Goumltter denverschiedenenBrautjungfern lauschenwohnen auch SaturaundMartianus der Versammlungbeiund betrachten sie als unbeteiligte ZuschauerWie aus einer Theaterloge herauskommentieren und diskutieren sie das Geschehen das auf der bdquoGoumltterbuumlhneldquostattfindetsup3sup3⁶

Noch einen weitergehenden Schritt stellt die Silen-Szene zu Beginn des achtenBuches dar Im Anschluss an diese Szene beschwert sich Satura bei Martianus erkoumlnne die Goumltter nicht auf dieseWeise agieren lassen In der Folge entspinnt sich einGespraumlch in demMartianus seine Art des Erzaumlhlens gegen Satura verteidigt die fuumlreine zuruumlckhaltendere Darstellung plaumldiert (s o)Von der Fiktion dass Martianusseinem Sohn bloszligwiedergibtwas Satura ihm erzaumlhlt hat bleibt nichtmehr viel dieganze Szenerie ist ein Produkt der ErfindungdesMartianus gleichzeitigwohnt er ihraber gemeinsam mit Satura bei ist also Teil der Handlung

So bereits Pabst 1994 120 Anm 119 der allerdings auf eine Diskussion der Beobachtungverzichtet Es handelt sich um die Stellen zu Beginn des sechsten und des achten Buches die imvorigen Abschnitt bereits paraphrasiert wurden

140 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Diese Art der Spiels mit der Erzaumlhlerrolle wird von manchen modernen For-schern als ein wichtiges Merkmal der menippeischen Satire angesehen Hinzu-treten kann die Selbstherabsetzung des Erzaumlhlers die sich an seinemmangelndenWissen Stilbewusstsein Traditionsempfinden o auml entzuumlndetsup3sup3⁷ Folglich kanndie zunaumlchst befremdliche Brechung und Verzerrung als weiteres Merkmal derGattung menippeische Satire bestimmt werden

Aufgrund dieser Beobachtungen ist es zwingend in De nuptiis vor allem eineSatire zu sehen Auch der heiter-spoumlttische Charakter einiger Passagen zwischenden Vortraumlgen der Brautjungfern passt zum satirischen Anspruch Gelegentlicherscheint es jedoch fraglich ob es sich wirklich um satirische und nicht eher umkomische oder derbe Spaumlszlige handelt Die Szene in der Silen betrunken einschlaumlftund von den anderen Goumlttern verspottet wird (8 803ndash805) erinnert mit ihremSlapstick eher an den derben Spott der Komoumldie als an die Satire eines Varrosup3sup3⁸

22 Deutungen der komplexen literarischen Form

Wie laumlsst sich das Werk De nuptiis nun also formal beschreiben oder andersgefasstWie lassen sich die vier literarischen Traditionsstraumlnge zusammenfuumlhrenDass eine einheitliche Lesung zumindest versucht werden muss zeigt bereits dasLeitmotiv der Hochzeit ansup3sup3⁹

Im Kern handelt es sich bei MartianusrsquoWerk um eine Sammlung bedeutenderWissensschaumltze in einem einzigen Werk die darin systematisch ausgebreitetwerden Dies zeigt die Einteilung in verschiedene Disziplinen die ein ver-

Zur Erzaumlhlerrolle in der menippeischen Satire vgl u a Relihan 1993 und darin bes S 35 Mit der Aufnahme unterhaltsamer Elemente ginge Martianus sogar noch uumlber dieErwartungen an ein sbquosatirischeslsquo Werk hinaus Auch Boethius wird bescheinigt er erzaumlhle seineConsolatio bdquoper satiramldquo auch wenn bei ihm weder eine Figur Satura auftritt noch allzu vielHeiterkeit herrscht (Peiper zitiert in der Einleitung zu seiner Ausgabe S xxxi eine mittelalter-liche Boethius-Vita vgl Kindermann 1969 61)

hos libros [scil de consolatione Philosophiae] per satiram edidit imitatus videlicet mar-cianum felicem capellam qui prius libros De nuptiis philologiae et mercurii eadem speciepoematis conscripserathellip

Diese Buumlcher schrieb er als Satire freilich in Nachahmung des Marcianus Felix Capellader zuvor die Buumlcher uumlber die Hochzeit der Philologie mit Merkur in der gleichen Art vonGedicht verfasst hatte

Zum Motiv der Hochzeit das bereits programmatisch im eroumlffnenden Hymnus anHymenaeus erscheint vgl Schievenin 2009c und Cristante in der Einleitung seiner Ausgabe1987 3ndash 10

2 De nuptiis als literarisches Werk 141

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

gleichsweise leichtes Auffinden der Informationen erlaubtsup3⁴⁰ die Bedeutung wirdangesichts der Praumlsentation vor den Goumlttern auf der Milchstraszlige deutlich Alleinder Umfang dieser Vortraumlge die in sich auch nicht gestoumlrt oder gebrochenwerdenmarkiert dass es sich hier um das zentrale Charakteristikum des Werkes handelt

Den erzaumlhlerischen Anlass fuumlr diese Praumlsentation bietet eine Hochzeitsfeieralso ein Symposion hier ist die Gelegenheit fuumlr die groszligen Redebeitraumlge gegebenZudem bietet die SymposionformAnknuumlpfungspunkte fuumlr eine Rahmenhandlungdie zur Auflockerung der ebenso ausfuumlhrlichenwie trockenen Einzelreden genutztwird

Doch bleibt es ndash im Gegensatz z B zu Macrobius ndash nicht bei der bloszligenDarstellung der Wissensinhalte Hinzu tritt die allegorische Darstellung der Be-deutung von Wissen und von Fleiszlig beim Wissenserwerb in den ersten beidenBuumlchern Die praumlsentierten Inhalte der Buumlcher 3ndash9 (die Philologia ja bereits aufder Erde in Buch 2 besitzt) sindwichtig Sie sind nicht nur wichtig fuumlr das irdischeLeben (das wird nicht weiter thematisiert die explizit irdischen Wissenschaftenwie Architektur und Medizin werden sogar ausgeschlossen) ndash die Inhalte sindauch wichtig fuumlr die menschliche Vervollkommnung

Durch das angesammelte Wissen erreicht der Mensch zwar nicht die voll-kommene Erkenntnis (die erhaumllt auch Philologia nur ohne eigenes Zutun als sieauf der houmlchsten Himmelssphaumlre angekommen zum Vatergott in der jenseitigenGluumlckseligkeit betet) wohl aber ein goumlttergleiches Wissensup3⁴sup1 Der Wissenserwerbist gewissermaszligen die Voraussetzung dafuumlr dass der Mensch mit Hilfe einesgoumlttlichen Begleiters in den Himmel aufsteigen kann unsterblich wird und voll-kommene Einsicht erlangt

Die so weit kohaumlrente Verbindung der literarischen Traditionen laumlsst aller-dings den explizit satirischen Anspruch von De nuptiis auszliger Betracht durch denMartianus selbst das Werk primaumlr in die Gattung der Satire einordnet waumlhrendvergleichbare Bezuumlge zu anderen Gattungen fehlen Natuumlrlich lieszlige sich dieserprogrammatische Anspruch mit einem Verweis auf die Verwendung des Begriffszur Bezeichnung einer inhaltlich wie literarisch gemischten Form erklaumlren Dochgreift diese Erklaumlrung zu kurz da das Agieren Saturas die literarischen Passagendes Werks beinahe als Travestie erscheinen laumlsst (vgl oben zur Erzaumlhlerfigur) Einbildend-enzyklopaumldisches Werk kann sich allerdings nicht gefahrlos als Satire

So auch Englisch 1994 56 Die bdquoSystematik bei der Praumlsentationldquo erlaube einen leichtenZugriff auf die Informationen Mart Cap 2 201ndash205

142 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

praumlsentieren ohne Zweifel an der Glaubwuumlrdigkeit und Zuverlaumlssigkeit desWerkes und der praumlsentierten Inhalte zu weckensup3⁴sup2

Wenn Martianus auch die Konventionen der Gattung menippeische Satireaufnimmt und sein Werk also nur folgerichtig unter anderem eine unzuverlaumlssigeErzaumlhlsituation aufweist ist dies noch keine Erklaumlrung an sich Die regelkonformeUmsetzung gattungstypischer Anspruumlche erklaumlrt noch nicht die Wahl der Gattungan sich ndash einer Gattung die trotz ihrer Benennung als solche nicht zu denStandardformen und akzeptierten Gattungen zaumlhlte insbesondere nicht fuumlrLehrwerkesup3⁴sup3

Auch Martianusrsquo Verweis auf etwas bislang noch nicht Unternommenes(nescioquid inopinum intactumque 1 2) vermag den Widerspruch nicht zu loumlsenDie Wendung zeigt zwar dass Martianus die Ungewoumlhnlichkeit seines Ansatzesbewusst war (sofern sich die Phrase uumlberhaupt auf die Komposition des Werkesbezieht)sup3⁴⁴ beseitigt aber nicht das interpretatorische Problem ZuwelchemZweckverbindet Martianus also zwei so widerspruumlchliche Gattungen wie Enzyklopaumldieund Satiresup3⁴⁵

Drei Antwortansaumltze lassen sich grob umreiszligen 1 Die Verbindung ist nuraumluszligerlich bzw oberflaumlchlich 2 durch die Verbindung soll ein bestimmter Aspektparodiert und somit Spott und Kritik ausgesetzt werden 3 die Verbindung erfuumlllt

Dieses Problem hat bereits Westra in seinem Aufsatz bdquoThe juxtaposition of the ridiculousand the sublime in Martianus Capellaldquo benannt (Westra 1981) Allerdings beschraumlnkt sich auchdieser Aufsatz auf die Darstellung des Problems und die Zusammenstellung der Belege EineLoumlsung hat Westra nicht anzubieten ndash sein Aufsatz endet mit der eher apologetischen Bemer-kung das Eingestaumlndnis der Unvereinbarkeit von Satire und Lehrwerk durch Martianus in 9 997sei prima facie ein Spiel dahinter stecke jedoch die Absicht Problembewusstsein zu demon-strieren und Verantwortung fuumlr die unterlassene Loumlsung zu negieren bdquoEven though I would claim that prose and verse must be present in an ancient Menippeansatire it must be seen as one of a number of shocking juxtapositions of oppositesldquo (Relihan 198760) ndash In der Folge kann die prosimetrische Form durchaus auch Mittel belehrender Werkewerden vgl Pabst 1994 133 Denkbar (und wohl wahrscheinlich) waumlre auch dass damit die Inhalte besonders desMythos gemeint sind Der Verweis auf Unterhaltung fuumlhrt nicht zum Kern der Frage denn die satirische Formstellt mehr dar als reine Unterhaltung Auch das horazische Diktum ridentem dicere verum quidvetat ndashsbquolachend das Wahre zu sagen ndash was spricht dagegenlsquo (Hor serm 1 1 23) als Kern vonMartianusrsquo Satireverstaumlndnisses greift zu kurz ebenso wie vergleichbare Konzeptionen in derLiteratur Dort geht es bei Belehrung immer um einzelne philosophische Saumltze (nie beispiels-weise um die Vermittlung von Philosophie an sich) Folglich bezeichnet das bdquoverumldquo nichtkognitives Lernen sondern moralisches Der grundlegende Unterschied zur Konzeption desMartianus liegt somit auf der Hand Vgl zu diesem Aspekt im Allgemeinen z B Shanzer 1986c42 und im Speziellen u a Woytek 1986 339ndash345 Keulen 2009 bes Kap 2 und 3

2 De nuptiis als literarisches Werk 143

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

einen literarischen und belehrenden Zweck zugleich Aufgrund der komplexenSachlage und der unmittelbaren Bedeutung der Beantwortung der Frage nachdieser Verbindung fuumlr das Gesamtverstaumlndnis von De nuptiis werden alle Alter-nativen vorgestellt und bewertet

Rein formale Verbindung von Satire und EnzyklopaumldieEventuell laumlsst sich die Mischung aus enzyklopaumldischen und satirischen Ele-menten (mit den zur Satire gehoumlrigen Verspartien) als Sonderform der Varro-Re-zeption bei Martianus auffassenVarro von Reate verfasste sowohl umfangreicheFachliteratur als auch menippeische Satiren Fuumlr beides war er in der Antikebekannt und beruumlhmt ndash doch ist es wahrscheinlich dass Martianus die Werkebereits nicht mehr ndash oder allenfalls nur in Auszuumlgen ndash vorliegen hattesup3⁴⁶ Aus demWissen um die beiden Schaffensbereiche des republikanischen Autors die beideder Unterweisung dienen solltensup3⁴⁷ koumlnnte Martianus auf den Gedanken verfallensein die literarischen Formen und Inhalte in seinem Werk zu verbindensup3⁴⁸Vielleicht saszlig er auch einemMissverstaumlndnis auf indem ermeinte dass Varro seinsatirisches wie enzyklopaumldisches Koumlnnen in nur einem Werk demonstriert habeDies hieszlige jedoch dass Martianus sich der Problematik dieser Verbindung nicht

So aumluszligert sich beispielsweise Kindermann in den Vorstudien seiner Ausgabe der Conso-latio des Laurentius von Durham Er billigt Martianus nur eine sekundaumlre Varro-Kenntnis zu(Kindermann 1969 60) Entschieden verneint wird die Frage von Schievenin (2009f) und Hadotdie vor allem neuplatonische Quellen vermutet (Hadot 2005 149) Schneider jedoch nimmt andass sowohl Augustin als auch Martianus die Disciplinae noch vorliegen hatten (Schneider 1999109 f) und dass die Satiren-Exzerpte des Nonius Marcellus (fl um 400 in Afrika) ebenfalls ausdem Originaltext Varros angefertigt wurden (ibid 96 Anm 12) Abwaumlgend aumluszligert sich Huumlbner2004 passim Vgl Cic ac 1 8 (es spricht Varro)

et tamen in illis veteribus nostris quae Menippum imitati non interpretati quadam hilaritateconspersimus multa admixta ex intima philosophia multa dicta dialectice quae quo faciliusminus docti intellegerent iucunditate quadam ad legendum invitati

Jedoch findet sich in meinen fruumlhen Schriften die ich in kreativer Nachfolge (und nicht nurUumlbersetzung) Menipps mit einer gewissen Heiterkeit benetzt habe vieles aus den Kernbe-reichen der Philosophie beigemengt und vieles das nach Art der Dialektiker gesagt istdamit die weniger Gelehrten es leichter verstuumlnden nachdem sie durch eine Art von Scherzzur Lektuumlre ermuntert worden sind

Vielleicht hatte Martianus diese Stelle sogar im Kopf als er die Anlage von De nuptiis plante So z BWeinreich in der Einleitung zu seiner Uumlbersetzung roumlmischer Satiren bdquoMartianusCapella glaubte gewiszlig ein Varro redivivus zu sein sozusagen die Quintessenz des Gelehrten unddes Satirikersldquo (Weinreich 1962 XCIII) Ebenso Shanzer 1986c 42

144 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

bewusst gewesen sei ndash was ihm sicher nicht gerecht wird Auszligerdem wird so dieBezugnahme auf weitere formale Elemente der menippeischen Tradition und dieuumlbrigen Vorlaumlufer der Gattung mit anderer Konzeption (Lukian Julian) nichtausreichend beruumlcksichtigt

Ebenfalls beim Autor koumlnnte eine zweite Erklaumlrung ansetzen Im Zuge derAbfassung seiner Enzyklopaumldie hat sichMartianus nach horazischer Vorgabe (unddem Beispiel Varros)sup3⁴⁹ um Auflockerung und heitere Elemente bemuumlht Diespontanen Einfaumllle wurden ins Werk integriert und die sich daraus ergebendenInkonsistenzen entweder uumlbersehen oder billigend in Kauf genommen Beideswuumlrde gut zum klassisch negativen Martian-Bild in der Forschung passensup3⁵⁰Abgesehen davon dass Annahmen uumlber das Vorgehen beim Schreiben weitge-hend auf Spekulation beruhensup3⁵sup1 widersprechen drei Beobachtungen dieser Er-klaumlrung Erstens gelingt es Martianus De nuptiis uumlber neun Buumlcher vorauszu-planen so dass am Ende ein ndash zunaumlchst abgesehen von der Satire-Problematik ndashkohaumlrentes Werk entsteht Die Fuumllle der behandelten Themen Motive und lite-rarischen Elemente weist eher auf ein planvolles Arbeiten hin und macht es un-wahrscheinlich dass Martianus Probleme an dieser Stelle nicht wahrgenommenbzw nicht korrigiert haumltte Zweitens ist die Verbindungvon Satire und den anderenElementen nicht nur oberflaumlchlich so dass sie nachtraumlglich eingefuumlgt sein koumlnnteoder sich im Schreibprozess so ergeben haben koumlnnte Da bereits im zweitenKapitel des ersten Buches Satura eingefuumlhrt wirdwar sie von vornherein Teil des

Gemeint ist das beruumlhmte zunaumlchst nur fuumlr die Dichtung relevante prodesse aut delectare(Hor ars 333 f) zu Varro vgl die schon angefuumlhrte Stelle aus Cic ac Vgl z B die sehr bildliche Beschreibung von C S Lewis bdquo[hellip] this universe which hasproduced the bee-orchid and the giraffe has produced nothing stranger than Martianus Capella[hellip] the curiosity shop of his mind [hellip] a chaos beside which the work of Rabelais has unity andthat of Mandeville probabilityldquo (Lewis 1936 78 f) Gleiches gilt fuumlr Spekulationen uumlber eine andere Auffassung von Literatur und ihrenRegeln in Martianusrsquo Zeit oder Umfeld Einerseits kennen wir keine Texte die sich mit De nuptiisvergleichen lieszligen (was per se nichts beweist aber doch Indiziencharakter hat) andererseitshielten sich auch die spaumltantiken Autoren uumlblicherweise an die klassischen Vorgaben Ich teiledaher auch Schneiders Ansicht nicht der die Skepsis an dieser Verbindung allein der modernenLeseerfahrung zuschreibt bdquoWenn den Heutigen diese Kombination der forcierten Gelehrsamkeiteines Curriculums und der spielerisch-saloppen Causerie seltsam beruumlhren mag so waumlre dazuimmerhin schon an ein ciceronisches Dictum zu erinnern non est enim seiunctus iocus a phi-lologia (ad fam 16214) ndash sbquoSpieltrieb und Pedanterie diktieren und widersprechen sich nichtlsquo(sbquoErste Fruumlhschichtlsquo aus Grassrsquo sbquoHundejahrelsquo)ldquo (Schneider 1999 94 Anm 2) Der Verweis aufCicero traumlgt nichts zum Verstaumlndnis von Martianus bei Cicero geht es an der zitierten Stelle umden Ablauf des Tages mit seinem Schuumller der aus ernsteren und heitereren Abschnitten bestehtDaraus folgt nicht dass das Lernen mit Scherz verbunden ist ndash auszligerdem duumlrfte Cicero unteriocus (sbquo[urbaner] Scherzlsquo) anderes verstanden haben als Martianus in seiner Satura bietet

2 De nuptiis als literarisches Werk 145

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Kompositionsplans Drittens hat Schievenin gezeigt dass Martianus keineswegsoberflaumlchlich und eigenwillig arbeitet Durch eine gruumlndliche Untersuchung derSilen-Passage (8 803ndash805) kann er nachweisen dass Martianus ndash wie vieleAutoren vor ihm ndash uumlber ein umfangreiches literarisches Wissen verfuumlgte daraufbei der Abfassung seines Werkes zugreifen konnte und durch gezielte Anspie-lungen neue Bezuumlge herstelltesup3⁵sup2

Satire als Mittel der KritikWaumlhrend die antike Satire (im Gegensatz zur modernen) nicht zwangslaumlufig Kritikan Missstaumlnden uumlben wollte ist diese Moumlglichkeit umgekehrt auch nicht auszu-schlieszligen Martianus koumlnnte also bewusst eine solide Darstellung der Kuumlnste inliterarischem Gewandmit der Gattung der Satire verbunden haben um Zweifel ander Ernsthaftigkeit der uumlbrigen Teile des Werkes zu wecken Er wuumlrde somit einaufklaumlrerisches Interesse verfolgen das zugleich auch unterhaltsame Zuumlge traumlgt

Eine erste Schwierigkeit dieser Lesart von De nuptiis ergibt sich bereits bei derFrage nach dem Objekt der SatireWerden die Wissensinhalte in Zweifel gezogenoder nur die Art ihrer Vermittlung in langen Reden bzwTraktaten Soll der Glaubean die umfassende Einheit des Wissens kritisiert werden oder die Vorstellungsaumlmtliches Wissen lasse sich vermitteln gar kohaumlrent in einem Werksup3⁵sup3 Ist dieVorstellung dass Wissen goumlttlich mache parodiert oder nur die abwegige Vor-stellung dass auf einer Hochzeit solche Reden gehalten werden Oder richtet sichdie Kritik letztlich gegen die Auffassung Philologia als Vorbild zu sehen oder garals Mittlerin alles Wissens ja sogar als Mittlerin zwischen Menschen und Goumlttern

Aus der Tatsache dass das Objekt der Satire keineswegs leicht zu bestimmenist kann nicht gefolgert werden dass in De nuptiis keine Satire vorliege die be-stimmte Sachverhalte kritisiere Aber es kann durchaus gefolgert werden dass eskeine expliziten textinternen Merkmale gibt die das Lesen steuern und den Ge-genstand der Kritik deutlich hervortreten lassen Die Deutungen gehen also vonmodernen Annahmen uumlber das Umfeld bzw die Gedankenwelt von Martianus aus

Im Kern handle es sich um bdquouna narrazione tersa e brillanteldquo verbunden mit einemDickicht an Verweisen Die Silen-Szene habe einen bdquocarattere colto e della dottrina e dellalingualdquo (Schievenin 1984 132) Das Fazit seiner Untersuchung formuliert Schievenin folgen-dermaszligen bdquoIl De nuptiis si rivela dunque opera di vasti orizzonti non solo per lrsquointento dida-scalico che la pervade e che ne determineragrave la fortuna ma anche per la costante presenza nellafabula della tradizione classica e dei suoi echildquo (ibid 136) Vgl zu dieser Stelle auch Bovey2003 275ndash288 ndash Den geschickten Umgang mit mehreren Quellen ndash erzaumlhlerisch wie seman-tisch ndash kann Schievenin auch fuumlr 7 725ndash727 nachweisen (Schievenin 2009e) So z B Relihan 1993 138 bdquoMartianus writes not an encyclopedia but a Menippean satirethat parodies encyclopedic knowledgeldquo

146 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

und weisen zudem meist nicht kleinschrittig auf wie der Interpret zu seiner (oftapodiktisch dargelegten) Ansicht gelangt

Nun folgt daraus noch nicht dass Martianus De nuptiis nicht als kritisierendeSatire konzipiert haumltte die Vielzahl der (wenn auch differierenden) modernenDeutungenweist ja darauf hin Zwei Uumlberlegungenwenn auch keine schlagendenBeweise lassen die Hypothese der parodierenden Satire unwahrscheinlich wer-den der Umfang von De nuptiis und seine Rezeption Eine Satire die beispiels-weise die Verbindung von Weltwissen und menschlicher Vervollkommnung in-frage stellt benoumltigt nicht noch eine umfassende Darlegung eben diesenWissensDies gilt besonders da diese Darlegung den Hauptteil des Werks ausmacht und ndashzumindest dem Umfang nach ndash die uumlbrigen Partien weit uumlberragt Eine Deutungvon De nuptiis als kritischer Satire muumlsste also besonders die Frage beantwortenzu welchem Zweck die umfangreichen Darstellungen der Freien Kuumlnste aufge-nommen sind (und nicht nur angedeutet werden)

Die Rezeption eignet sich zwar ebenfalls nicht zu sicheren Ruumlckschluumlssen aufdie originale Intention eines Werkes haumlufig bietet sie aber interessante EinblickeDie Martianus-Rezeption stellt sich bald ein Cassiodor beruft sich in seinen In-stitutiones auf ihn Dort erscheint Martianus nicht als Satiriker oder Zeitkritikersondern als Gelehrtersup3⁵⁴ In dieser Tradition wird Martianus auch im Mittelaltergelesen und rezipiertsup3⁵⁵

Aumlhnliches laumlsst sich fuumlr Boethiusrsquo Anknuumlpfen an die prosimetrische Form inder Ausgestaltung von Martianus sagen Boethius verfasst zweifelsfrei keine kri-tische Satire kann aber trotzdem an die Form und den Inhalt von De nuptiisproblemlos anknuumlpfen Sowohl der Form nach wie auch durch einzelne Zitatemacht er deutlich dass erDe nuptiis kennt und als eine seiner Vorlagen benutzt Esist zu bezweifeln dass Boethius in seinem Bemuumlhen um eine adaumlquatewerbendeDarstellung der Philosophie auf Form und Zitate des Martianus zuruumlckgegriffenhaumltte haumltte er nicht die Moumlglichkeit der gefahrlosen Uumlbernahme gesehen

Satirische Elemente als Mittel der BelehrungDer dritte Erklaumlrungsansatz fuumlr die Verbindung von Satire und Belehrung be-trachtet die Wahl Saturas als Figur und die Bezugnahme auf die Gattung zunaumlchst

Cassiod inst 2 2 17 Zur mittelalterlichen Martianus-Rezeption vgl bes Nuchelmans 1950 Lutz 1971 und 1976Willis 1973 sowie die Ausgaben und Literatur u a zu folgenden Werken Konrad von MureFabularius Hugo von Sankt Victor Didascalicon de studio legendi Johannes von SalisburyMetalogicon Kindermann kann weiterhin nachweisen dass De nuptiis auch durch seine Forminspirierend gewirkt hat (Kindermann 1969 61 f)

2 De nuptiis als literarisches Werk 147

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

als reine Fortsetzungder literarischen Form Fuumlr diese spezielle Formder Literaturdie menippeische Satire hat der russische Literaturwissenschaftler MichailBachtin Beobachtungen aufgestellt die auch fuumlr De nuptiis zutreffen Durch denRuumlckgriff auf zwei zentrale Konzepte Bachtins das Karnevaleske und die Dialo-gizitaumlt wird ein Verstaumlndnis von De nuptiis ermoumlglicht

Auf der Suche nach Vorlagen und Urformen der Gattung des Romans ins-besondere in der Form von Dostojewskis Romanen stieszlig Bachtin unter anderemauch auf die menippeische Satire die er bis in die Antike zuruumlckverfolgtesup3⁵⁶ Zuihren Vertretern zaumlhlt er unter anderem Varro Apuleius Petron Seneca oderLukiansup3⁵⁷ Martianus Capella wird nicht erwaumlhnt was aber nicht verwundernmuss da Bachtin keine Literaturgeschichte der menippeischen Satire schriebsup3⁵⁸

Kern der Uumlberlegungen Bachtins zurmenippeischen Satire ist das Konzept desKarnevals Unter Karneval versteht er folkloristische Feste waumlhrend deren diebestehende Ordnung verkehrt wird uumlbliche Regeln nicht mehr gelten Herr-schende gestuumlrzt und Machtlose maumlchtig werden ndash auf Zeit Die Karnevalisierungalso die Uumlbernahme der Kennzeichen dieses Festes in neue oder bestehende li-terarische Formen institutionalisiert diese Ausnahmesituation und loumlst sie vomkonkreten Fest Der so entstandene Text wird bdquozum karnevalesken Spiel an demder Autor und sein Publikum einverstaumlndlich teilhaben und das keines kalen-darisch oder institutionell abgesicherten Karnevalsrahmens mehr bedarfldquosup3⁵⁹

Diese Karnevalisierung fuumlhrt unter anderem zu einer Vielstimmigkeit vonMeinungen und Positionen im Text z B durch mehrere Figurenvon denen keinebevorzugt oder gar als autoritativ gekennzeichnet wird In dieser Dialogizitaumlt wirdkein allgemein guumlltiger Sinnmehr vermittelt sondern dieWahrheit suspendiertsup3⁶⁰

Dass der Bezug auf karnevalsartige Feste der Gattung menippeische Satire (inTeilen auch der Verssatire) eignet zeigt ein kurzer Blick auf wichtige Vertreter derTradition

Julians Symposion Caesares spielt zur Zeit der Saturnalien Die Bedeutungdieses Festes fuumlr das Werk wird dadurch verdeutlicht dass es den Handlungs-

Bachtin 1971 126ndash 135 Bachtin 1971 126 128 132f Kritik an den z T pauschalisierenden und verfaumllschenden Aussagen Bachtins uumlber antikeLiteratur oder an der ununterbrochenen Traditionslinie von der Antike bis in die Moderne (z BRelihan 1987 59 Lachmann 2006 23ndash25) muumlsste auch auf manche moderne Literaturwissen-schaftler in der Nachfolge Bachtins angewandt werden (vgl Branham 2005 6 wo es uumlberSenecas Apocolocyntosis heiszligt bdquoour only extant Menippean satire in Latinldquo) Teuber 1993 182 Eine gut verstaumlndliche Einfuumlhrung in das Konzept der Dialogizitaumlt im Sinne der bach-tinschen Terminologie bietet Sharland 2010 Einfuumlhrung (1ndash51)

148 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

rahmen fuumlr den in der Folge erzaumlhlten Mythos bildet Bereits im ersten Satz wirdauf das Fest und die Tradition Heiteres frei zu erzaumlhlen Bezug genommensup3⁶sup1

Auch Senecas Apocolocyntosis stellt einen engen Bezug zum Saturnalienfesther Das Werk spielt zwar nicht an den Saturnalien sondern am Todestag desClaudius im Oktober doch wird an zwei Stellen eine Verbindung zwischen derHerrschaft des verstorbenen Kaisers und den dargestellten Sitten waumlhrend derRegierungszeit mit dem Saturnalienfest gezogensup3⁶sup2 Manche Interpreten gehensogar davon aus dass die Apocolocyntosis an den Saturnalien des Jahres 54vorgetragen wurdesup3⁶sup3 Auch bei Petron und Horaz finden sich Bezugnahmen aufdie Saturnaliensup3⁶⁴

Ein zentrales Element des Saturnalienfestes liegt in der Suspension der uumlb-licherweise geltenden Normen und Wertesup3⁶⁵ Neben den anderen Elementen desFestes wie sie z B in Macrobiusrsquo Saturnalia (1 7ndash 10 1 24 22 f) beschriebenwerden (traditionelle Geschenke Festmahl fuumlr die Sklaven etc) hat gerade dieUmkehrung der Herrschaftsverhaumlltnisse im Haus Niederschlag in der Literaturgefunden

Gerade durch diese Rolleninversion treten einige wichtige gesellschaftlicheNormvorstellungen und Grundannahmen prominent hervor Dazu zaumlhlt das Be-wusstsein dass es eine befehlende und eine ausfuumlhrende Gruppe von Menschengibt oder dass im Prinzip ein Rollenwechsel moumlglich sein kann Alle Beteiligten

Ἐπειδὴ δίδωσιν ὁ θεὸς παίζειν ndash ἔστι γὰρ Κρόνια ndash hellip (sbquoDa der Gott das Scherzen erlaubt ndashes sind ja die Kronia helliplsquo Caes 1 = 306a Spanheim) Zur Frage ob es sich bei Caesares auch umdas Werk handle auf das zu Ende der Rede auf Koumlnig Helios verwiesen wird (Or in Sol reg 44 =157c Spanheim) vgl Muumlller in seiner Uumlbersetzung (39 ablehnend) und Lacombrade im Vorwortseiner Budeacute-Ausgabe (3 und 18 Anm 3) der aufgrund des Handschriftenbefundes Kronia auchals Titelbestandteil fuumlr die Caesares uumlbernimmt Es handelt sich um Sen apocol 8 1 (Claudius als Saturnalienprinz) und 12 2 (Herrschaftdes Claudius als andauerndes Saturnalienfest) ndash Dass Lukian nicht auf die Saturnalien alsRahmen fuumlr seine Werke zuruumlckgreift entwertet die Beobachtungen nicht Lukian musste auf-grund seines Selbstbewusstseins als satirischer Schriftsteller und aufgrund der Menge seinersatirischen Schriften nicht jedes Mal einen eigenen literarischen Rahmen herstellen in demeinzelne Dialoge stattfinden konnten Das Saturnalienfest selbst erscheint bei Lukian als Ge-genstand der Satire nicht als deren literarische Rahmung (Τὰ πρὸς Κρόνον) Zuerst bei Furneaux 1896 23 Anm 11 In der neueren Forschung vgl bes Nauta 1987Kritisch dazu u a Doumlpp 1993 159 f Petron 44 3 58 2 69 9 zu Horaz vgl z B serm 2 7 (libertas Decembris) Ein gelungenesBeispiel der Anpassung und Anwendung der bachtinschen Konzepte mit Ertrag fuumlr die Inter-pretation unter Einbezug von serm 2 7 bietet Sharland 2010 Distelrath 1999 114 Vgl weiterhin Versnel 1993 136ndash227 und Doumlpp 1993 Eine plastischeSchilderung der Rollenvertauschung bei der der Sklave dem Herrn die Leviten liest bietet Horserm 2 7

2 De nuptiis als literarisches Werk 149

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Herren wie Sklaven spielen also mit den Moumlglichkeiten einer alternativen Wirk-lichkeit

Das Besondere im Spiel mit den Moumlglichkeiten liegt aber in seiner zeitlichenBegrenzung Nach der Zeit des Ausnahmezustands gelten wieder die normalenimmer guumlltigen Regeln Die Rolleninversion erlaubt also ndash oder erzwingt gera-dezu ndash das Nachdenken uumlber bestimmte gesellschaftliche Normen und Wertvor-stellungen Durch die Ritualisierung und enge zeitliche Begrenzung ist darausjedoch keineswegs die Notwendigkeit entstanden die Verhaumlltnisse tatsaumlchlich zuhinterfragen oder gar zu aumlndern Daher lassen sich die Saturnalien auch als ein dieKonventionen bestaumlrkendes Fest verstehen Das Spiel mit der Moumlglichkeit eineranderen Gesellschaftsordnung hat durch seine Ritualisierung letztlich eine dieTradition legitimierende Funktion bekommen

In De nuptiis finden sich jedoch houmlchstens spaumlrliche Hinweise auf das Sa-turnalienfest Am ehesten weist das grob scherzende Agieren Saturas in diesenBereich Die bdquolangen Winternaumlchteldquo (1 2) koumlnnten (statt als Bezug auf Gellius) alsAnspielung auf das Saturnalienfest verstandenwerden ndash die Saturnalien finden inden laumlngsten Naumlchten uumlberhaupt statt seit der Kaiserzeit vom 17 bis 23 DezemberDies ndash wie die Spekulation uumlber eine spielerische etymologische Verbindung vonSatura und Saturnaliensup3⁶⁶ ndash ist aber insofern nicht von Belang da die Gattung alsGanze karnevaleske Zuumlge traumlgt und als gewissermaszligen institutionalisierter Kar-neval vom eigentlichen Fest losgeloumlst istsup3⁶⁷

Die Aufhebung der uumlblichen Ordnung (was Teuber im Ruumlckgriff auf Limina-litaumltskonzepte als praumlliminale Phase bezeichnet)sup3⁶⁸ beginnt mit der VorbereitungPhilologias zum Aufstieg in den Himmel Bereits das Erbrechen stellt eine mar-kante Umkehrung der alltaumlglichen Welt dar Statt sich Wissen anzueignen er-bricht Philologia es nun In der Goumltterversammlung auf der Milchstraszlige ist dieOrdnung sodann voumlllig verkehrt Philologia als Meisterin aller Disziplinen und

Zwar sind die einschlaumlgigen etymologischen Woumlrterbuumlcher skeptisch (v a WaldeHof-mann 2007 II 482 neutral ErnoutMeillet 2001 596) jedoch gibt es dahin gehende moderneDeutungen (aufgefuumlhrt bei WaldeHofmann 2007 II 482) und auch antike ParallelisierungenCic nat deor 2 64 Saturnus hellip est appellatus quod saturaretur annis (sbquoSaturn hellip wurde ergenannt weil er an Jahren gesaumlttigt istlsquo) Fulg myth 1 2 (p 17 16) a saturando Saturnus dictusest (sbquoDa er (die Menschen) saumlttigt wurde er Saturn genanntlsquo) Aug cons euang 1 23 35 Sa-turnus tamquam satur hellip νοῦς (sbquoSaturn gleichsam der gesaumlttigte hellip νοῦςlsquo) Vgl auch Gowers diedie etymologischen Verbindungen von satura Satyrspiel und Saturnalien untersucht (Gowers1993 109ndash 117) Sie kommt zu dem Befund dass keine Verbindung bestehe wohl aber verbin-dende Elemente identifiziert werden koumlnnten bdquocarnival licence parody uninhibited mockeryand excessive consumptionldquo (ibid 117) Vgl z B Teuber 1993 183 f Teuber 1993 183

150 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

bedeutende Lehrinstanz muss sich ihrerseits belehren lassen ndash mit dem Wissendas urspruumlnglich ihres war

Durch die Inversion wird die (vielleicht uumlblicherweise nicht prominente)Philologia in den Mittelpunkt geruumlckt und ihre zentrale Rolle im Wissenssystemtritt markant vor Augen Gleichzeitig kann darin eine leise Anfrage an ihre Lehr-autoritaumlt und eventuell auch ihre Eignung zur Lehre gesehen werden

Aufgrund des zeitlich begrenzten Rahmens der Verkehrung (diemit dem Endeder Vortraumlge voruumlber ist aber nicht explizit zuruumlckverwandelt wird) dessen Be-grenztheit durch Bezug auf die Form der menippeischen Satire ergaumlnzt werdenkann wird das System der Bildung und der Bildungsvermittlung jedoch nichtgrundsaumltzlich infrage gestellt Die Suspendierung Philologias ist temporaumlr

Dem Konzept der Dialogizitaumlt oder Mehrstimmigkeit folgend erklaumlrt sich auchdie Doppelung und Verunklarung der Erzaumlhlinstanz In den drei Dialogen indenen Satura und Martianus aufeinandertreffen behandeln sie die Frage desrichtigen Erzaumlhlens Dies beschraumlnkt sich nicht nur auf die Satire sondern umfasstalle auftretenden literarischen Formen Martianus und Satura sind sich uneinswie weit der Mythos reichen soll und ob eine Enzyklopaumldie trocken oder auchunterhaltsam erzaumlhlt werden soll (2 219ndash3 222) ob ein Symposion auch Zechenund Spaszlig vertraumlgt (8 803ndash810) oder ob und wie stark Satire Dinge vermischendarf (9 997ndash 1000)

Die unterschiedlichen Meinungen zu den Fragen werden zwar diskutiert undfuumlhren zu einem Ergebnis ndash der Erzaumlhlfluss versiegt ja an keiner Stelle oder setztneu an Allerdings entsteht in der Folge kein homogenes Werk und am Schlussmag keiner der beiden Erzaumlhler dafuumlr die Verantwortung uumlbernehmen Der Wi-derwillen sich zu dem Werk zu bekennen bedeutet aber gleichzeitig auch dassMartianus sich nicht festlegt welche Position er fuumlr die richtige haumllt Die Fragenach der rechten Art der Wissensvermittlung die auch in der Ent- und Inthroni-sierung Philologias anklang bleibt unbeantwortet

Schlieszliglich bringt der Blick auf die Aurelian-Vita aus der Historia Augustanoch einen weiteren Aspekt ein Parallel zur Aufteilung der Erzaumlhlinstanzen in Denuptiiswird der Erzaumlhlprozess in derHistoria Augusta aufmehrere AutorenverteiltWie zuerst Hermann Dessau und in der Folge Ronald Syme nachdruumlcklich gezeigthaben handelt es sich allerdings um nur einen Verfasser der uumlberdies auch inBezug auf die Abfassungszeit falsche Angaben gemacht hat und Quellen erfundenhatsup3⁶⁹ Insofern laumlsst sich der in der Historia Augusta gepraumlgte Begriff der

Auf den Charakter der Sammlung die Syme u a als bdquohoaxldquo bezeichnet (1983a 11 1983b13 1983c 219) die fingierten Autoren die manipulierten Quellen etc soll an dieser Stelle nurhingewiesen werden Vgl auch Cameron 2011 Kap 20 mit ausfuumlhrlicher Diskussion relevanterFragen

2 De nuptiis als literarisches Werk 151

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mythistoria der Vermischung von Mythischem und Historischem auch auf dieSammlung selbst anwendensup3⁷⁰

Als Menippee im engeren Sinne laumlsst sich weiterhin die Aurelian-Vita die 26Vita der Sammlung fassen und bezeichnenderweise spielt die Rahmenhandlungan denHilariasup3⁷sup1Wie zu den Saturnalien gehoumlren zu diesem Fest Scherze und ndash imRahmen von Maskierungen ndash Rollenwechselsup3⁷sup2

Noch in der rahmenden Einleitung zur Vita spielt sich folgender Dialog ab

1 et quoniam sermo nobis de Trebltellgtio Pollione qui a duobus Philippis usque ad divumClaudium et eius fratrem Quintillum imperatores tam claros quam obscuros memoriaeprodidit in eodem vehiculo fuit adserente Tiberiano quod Pollio multa incuriose multabreviter prodidisset me contra dicente neminem scriptorum quantum ad historiam pertinetnon aliquid esse mentitum prodente quin etiam in quo Livius in quo Sallustius in quoCornelius Tacitus in quo denique Trogus manifestis testibus convincerentur pedibus insententiam transitum faciens ac manum porrigens iocando[m] praeterea sbquoscribelsquo inquit sbquout

quae ille [scil Iunius Cordus] omnia exsequendo libros mythistoriis replevit talia scribendocum omnino rerum vilium aut nulla scribenda sint aut nimis pauca si tamen ex his morespossint animadverti qui re vera sciendi sunt hellip sed ex parte ut ex ea cetera colligantur(SHA Opil 1 5)

Bei der Anfuumlhrung von all diesen Informationen hat er die Buumlcher mit fabuloumlsen Ge-schichten angefuumlllt indem er Dinge von dieser Art schrieb wo doch uumlberhaupt keinenutzlosen Dinge geschrieben werden duumlrfen oder nur sehr wenige sofern daraus Verhal-tensweisen erkannt werden koumlnnen die wirklich wissenswert sind hellip aber zum Teil(schreibe ich) damit daraus das Andere gefolgert werden kann

quid Marius Maximus homo omnium verbosissimus qui et mythist[h]oricis se voluminibusinplicavit num ad istam descriptionem curamque descendit (SHA Quadr tyr 1 2)

Wie Hat sich Marius Maximus der groumlszligte Schwaumltzer vor dem Herrn der sich in seinenmythistorischen Werken verfangen hat etwa zu dieser Art der Darstellung und des sorg-faumlltigen Arbeitens herabgelassen

Hilaribus quibus omnia festa et fieri debere scimus et dici impletis sollemnibus vehiculo suome hellip Iunius Tiberianus accepit (SHA Aurelian 1 1)

An den Hilaria an denen alles zum Fest Gehoumlrende getan und gesagt werden muss wieman weiszlig empfing mich nach Erledigung der Zeremonien Iunius Tiberianus in seinemGefaumlhrt

Pausch bemerkt dieses besondere Datum zwar und erwaumlgt ob es sich um ein bdquoweitergehendesLesesignalldquo beispielsweise im Sinne karnevalesker Literatur handeln koumlnne verfolgt diese Spuraber nicht weiter (Pausch 2011 130 Anm 1) Herodian 1 10 5 ndash Einige Hinweise auf die Hilaria die im Kontext des Magna Mater-Festesam 25 Maumlrz gefeiert wurden bietet Fraser in seinem Kommentar zu Ovids Fasti (Fraser 1929244ndash248)

152 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

libet 2 securus quod velis dices habiturus mendaciorum comites quos historicae elo-quentiae miramur auctoreslsquo (SHA Aurelian 2 1ndash2)

1 Und weil unser Gespraumlch uumlber Trebellius Pollio der von den beiden Philippi bis zumvergoumlttlichten Claudius und dessen Bruder Quintillus gleichermaszligen uumlber beruumlhmte wieunbekannte Kaiser fuumlr die Nachwelt schrieb in derselben Saumlnfte stattfand behauptete erdass Pollio vieles ohne Sorgfalt und nur kurz dargelegt habe Ich erwiderte dass keinSchriftsteller sofern es um die Geschichte gehe nicht irgendwo gelogen habe und legtesodann dar worin sogar Livius Sallust Tacitus schlieszliglich sogar Trogus mit eindeutigenBelegen uumlberfuumlhrt werden koumlnnten Darauf sagte Tiberianus schlieszliglich scherzend indem ermeiner Meinung beipflichtete und mir seine Hand darbot bdquoSchreibe sowie du es fuumlr richtighaumlltst 2 Sage unbesorgt was du willst du wirst diejenigen als Gefaumlhrten fuumlr deine Taumlu-schungen haben die wir als Schoumlpfer historiographischer Beredsamkeit bewundernldquo

So sympathisch dieser Anspruch auch erscheinen mag ist er doch fuumlr das Ver-trauen in die Gattung der Geschichtsschreibung fatal Gerade in der Einleitungeiner Vita jedoch ndash zumal es der Fiktion nach die erste des Flavius Vopiscus Sy-racusius im Corpus der Historia Augusta ist ndash kann eine solche Anekdote ei-gentlich keinen Platz haben Sie erweckt beim Leser den Eindruck dass er dennachfolgend dargebotenen Informationen kein Vertrauen schenken duumlrfesup3⁷sup3

Die Parallelen zwischen der Historia Augusta insbesondere dem Vorgehen inder Vita Aureliani und De nuptiis liegen auf der Hand Verunklarung der Autor-schaft bzw der Erzaumlhlhaltung einerseits Erwecken von Zweifeln an der Glaub-wuumlrdigkeit des Dargebotenen andererseits

In der Historia Augusta sind die Inkongruenzen mit der Freude des Autors amliterarischen Spiel erklaumlrt worden Der Autor habe aus Freude am Fabulieren(vielleicht auchumein dafuumlr empfaumlngliches Publikum zu befriedigen) die Viten indieser Form verfasstsup3⁷⁴ Mag man dies fuumlr die Historia Augusta noch zugestehenderen Text uumlber einen laumlngeren Zeitraum vielleicht zunaumlchst ohne eine Gesamt-konzeption entstanden ist und auch sprachlich nicht herausragt stellt sich derSachverhalt fuumlr Martianusrsquo De nuptiis anders dar Das Werk hat durchaus einenliterarischen Anspruch und es folgt eindeutig einer vorab geplanten Gesamtan-lage Die Freude am Spiel mag vielleicht manches Detail beigesteuert haben fuumlrdie verschraumlnkte Anlage des Textes ist sie aber keine Erklaumlrung

Ganz anders ist der Anspruch zum Ende der Darstellung der Viten der bdquoDreiszligig Tyrannenldquoin dem der Autor beteuert seinem Werk mangele es zwar an literarischer Ausgefeiltheit nichtjedoch an Faktentreue da nunc cuivis libellum non tam diserte quam fideliter scriptum ndash sbquoGibnun dieses Buumlchleinwem du magst es ist nicht so sehr kunstvoll geschrieben wie es sachgetreuistlsquo (SHA Quadr tyr 33 8) Syme nennt dies bdquodeceit for its own sweet sakeldquo (1983c 217) Im gleichen Aufsatz spe-kuliert er auch uumlber das Interesse des Publikums an einer solchen Art von geistigem Spiel(ibid 221)

2 De nuptiis als literarisches Werk 153

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Es lohnt sich jedoch auch fuumlr die Historia Augusta einen Schritt weiter zugehen Ausgangspunkt dafuumlr ist die obige Beobachtungdass das literarische Spielder Historia Augusta nur durchschaut wer die Werke der historischen Literaturkennt Durch die Lektuumlre historiographischer Biographien bringt der Leser einebestimmte Leseerwartung also implizite Vorstellungen mit wie das Werk aus-sehen soll und wird Diese Erwartungen werden aber nicht oder nur teilweisebedient Formal gesehen weisen die Viten in der Historia Augusta zwar die Cha-rakteristika der Gattung auf ndash doch indem sie sie inhaltlich nicht adaumlquat aus-fuumlllen treten deren Konventionen vor Augen

Durch die uumlbermaumlszligige Verwendung falscher Verweise und erfundener Quel-len geraumlt zudem das Beglaubigungsverfahren historischer Texte in den Blick-punkt Der Leser erkennt anwelchen Stellenwelche Beglaubigungsmechanismenansetzen und auf welche Weise sie unterlaufen werden koumlnnen Uumlberspitzt lieszligesich behaupten DieHistoria Augusta verfolgt ein aufklaumlrerisches Interesse indemsie (spielerisch) aufzeigt welche Beglaubigungsverfahren die Geschichtsschrei-bung nutzt und wie sie manipuliert werden koumlnnen dadurch wird auch die Ma-nipulierbarkeit von Geschichte und Leser deutlich

In De nuptiis werden ebenfalls die Konventionen der Einzelgattungen ndash zu-mindest ansatzweise ndash hervorgehoben Dass kein perfektes Musterbeispiel derjeweiligen Einzelgattung entstehen kann liegt darin begruumlndet dass durch dieVerbindung der vier literarischen Genres keine oberflaumlchliche Konsistenz derFiktion entstehen kannVielmehr entstehen Bruumlche die ndash ebenso wie die Bruumlchein der Erzaumlhlhaltung ndash auch die Gattungskonventionen und ihre Annahmendeutlich werden lassen Dies gilt besonders fuumlr die Satire deren Vorgehen imKontrast zur eigentlichen Hochzeitshandlung aus dem Rahmen faumlllt und somitbesonderes Augenmerk erhaumllt Hinzu tritt mit der Figur Satura auch eine Perso-nifikation der Gattung die in theoretischen Diskussionen Annahmen und Vor-gehen mit Martianus eroumlrtert Grunduumlberlegungen der Gattung Satire werden sotheoretisch eroumlrtert und praktisch erprobt Gleiches giltwenn auch zT inwenigerdeutlicher Form auch fuumlr die anderen Formen Die Enzyklopaumldie in ihren langenMonologen wird durch Spott markiert die trockenen Kuumlnste werden probeweisedurch Allegorien zugaumlnglicher gemacht im Symposiondialog wird uumlberlegt in-wieweit uumlbliche Rollenmuster (der Zecher) einen Platz haben oder wie weit mandie fuumlr die Feier typischen Reden fuumlhren kann und immythischen Teil wird durchdie Gegenuumlberstellung mit dem handfesten Wissensbetrieb die Andersartigkeitdes Erzaumlhlens deutlich

So werden neben den Inhalten der Wissenschaften auch verschiedene lite-rarische Formen bewahrt Neben der reinen Anwendung und somit Tradierungwerden gleichzeitig auch die Mechanismen verdeutlicht deren sich die jeweilige

154 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Gattung bedient Somit wird ihr Funktionieren nachvollziehbar und in der Folgeauch nachahmbar

3 Zusammenfassung

Martianus weckt also durch die Wahl mehrerer gleichberechtigter Erzaumlhler diesomit das Erzaumlhlen unzuverlaumlssig werden lassen besonders aber durch dieUumlbernahme satirischer Gattungselemente ein Bewusstsein fuumlr die traditionellenGrundlagen desWissens- und Lehrsystems seiner Zeit ImGegensatz zur Satire diediese Fragen kategorisch stellt handelt es sich in De nuptiis um ein Spiel damitDer Satirebezug dient als Anknuumlpfung an die traditionellen Gattungsmerkmaleder menippeischen Satire Karnevaleske und Dialogizitaumlt

Durch die (temporaumlre) Rolleninversion richtet sich das Augenmerk aufPhilologia als Wissenszentrum und Wissensmittlerin und fordert zum Nach-denken daruumlber heraus Im Kern hinterfragt das Werk alle Bereiche die mit Bil-dung und Bildungsvermittlung zu tun haben Was sind die Inhalte wahrer Bil-dung Gibt es eine Einheit von Bildung Wie kann sie vermittelt werden

Allerdings zielt die Kritik nicht auf eine Aufloumlsung klassischer Bildungsinhalteund Vermittlungsformen Sie regt vielmehr durch Scherz und Bruumlche zumNachdenken uumlber diese Fragen an Dabei verzichtet Martianus auf eigene Vor-schlaumlge und Konzepte und festigt so gleichsam den traditionellen Bildungs-betrieb Das von ihm dargestellte Wissen wird kanonisiert und die Darstel-lungsform in langen Reden wird es auch Die mittelalterliche Rezeption von Denuptiis zeigt dies eindrucksvoll

Wissen umfasst dabei nicht nur das Faktenwissen der Vortraumlge sondern auchdas Wissen um bestimmte literarische Formen Durch die Verbindung von vierGattungen und die Doppelung der Erzaumlhlerfigur mit Reflexion uumlber angemessenesErzaumlhlen entstehen Inkonsistenzen die die Konventionen der einzelnen Gattun-gen hervortreten lassen Nicht alle Elementewerden auf dieseWeise deutlich aberMartianus bietet einen Ansatzpunkt die Fiktion auch unter der Fragestellung zulesen was einen Text der jeweiligen Gattung ausmacht ndash sowohl positiv wie ne-gativ formuliert

Mit seiner kreativen Konzeption und ihrer literarischen Umsetzung gelingt esMartianus eindrucksvoll Heiteres und Belehrendes zu verbindenwomit er an dieTradition Varros und die klassische antike Poetik anknuumlpft Es gelingt ihm daruumlberhinaus aber auchWissen zu vermitteln und die traditionellen Vorstellungen vonder Bedeutung dieses Wissens wie der Form seiner Vermittlung herauszustellenSpielerisch wird also gelehrt und hinterfragt nicht jedoch kategorisch kritisiertoder kuumlhn neu entworfen Gerade dadurch zeichnet sich Martianusrsquo De nuptiis

3 Zusammenfassung 155

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

tatsaumlchlich als nescioquid inopinum intactumque (sbquoetwas Ungewohntes und nochnie Gewagteslsquo 1 2) aus und macht es zu einem der bedeutendsten Buumlcher derSpaumltantike und zu einer interessanten Quelle fuumlr die Frage nach Bildungsvor-stellungen im fuumlnften Jahrhundert

156 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Page 17: Bildungsvorstellungen im 5. Jahrhundert n. Chr. (Macrobius, Martianus Capella und Sidonius Apollinaris) || III Martianus Capella, De nuptiis Philologiae et Mercurii

Weiterhin uumlberbetont der Versuch den Mythos allein aus sich heraus zu er-klaumlren den Stellenwert des zweiten Buches im Gesamtwerk Als Interpretations-rahmen zwar wichtig tritt er bei fortschreitender Lektuumlre hinter die praktischeDarstellung der sieben Kuumlnste zuruumlck Diese nehmen nicht nur mehr Raum einsondern uumlberlagern die Darstellung im zweiten Buch und reduzieren somit auchderen Bedeutung Der Mythos ist also einwichtiger keineswegs jedoch der einzigeBestandteil von De nuptiis

Menippeische SatireDas auffaumllligste literarische Kompositionselement von De nuptiis ist jedochzweifellos die Wahl des Prosimetrums die Mischung von Prosapartien mit me-trischen Einheiten Der uumlberwiegende Teil des Werks ist in Prosa gehalten inwelchen 33sup3sup1⁰ metrische Partien eingelegt sind Dabei sind die Gedichte nichtregelmaumlszligig uumlber das gesamte Werk verteilt sie finden sich uumlberwiegend an ex-ponierten Stellen besonders an den Buchanfaumlngen und Buchenden Bei denmetrischen Partien innerhalb eines Buches handelt es sich fast ausschlieszliglich umGoumltterreden

Die beobachtete unregelmaumlszligige Verteilung der metrischen Partien unter-scheidet sich deutlich von der Gestaltung wie sie Boethius wenige Jahrzehntespaumlter inDe consolatione Philosophiae einsetzt Dort sind diemetrischen Partien inHinblick auf die Gesamttextmenge haumlufiger und zudem gleichmaumlszligiger verteiltsup3sup1sup1

Damit haumlngt zusammen dass auch die literarisch-argumentative Funktion dermetrischen Teile z T von derjenigen bei Boethius abweicht Bei Boethius stehendie Gedichte im Argumentationszusammenhang und fuumlhren Gedanken fort oderbuumlndeln sie in praumlgnanter Ausdrucksweisesup3sup1sup2 Ein gutes Beispiel dafuumlr ist eine

Die Zaumlhlung umfasst die zusammenhaumlngenden metrischen Partien und zaumlhlt auch Ge-dichte mit unterschiedlichem Versmaszlig (z B die Gedichte der Musen) als eine Partie Vgl dazu besonders OrsquoDaly 1991 Kap 1 (bdquoThe poetics of the Consolationldquo) darin 19ndash22 zuMartianus Sprachliche Parallelen sind zusammengestellt im Index der Boethius-Ausgabe vonBieler (CCSL 94 116) diskutiert werden sie bei Pabst 1994 163ndash 168 Da Boethius das Werk desMartianus kannte kann man von einer gelungeneren Ausdifferenzierung der Ansaumltze des Mar-tianus sprechen Der Vergleich des Einsatzes der prosimetrischen Form bei Boethius gewinntdadurch an Gewicht Eine Mischung von Prosa und Poesie findet sich weiterhin bei Fulgentius inden Mythologiae ndash Zu Parallelen in den Werkanfaumlngen bei Martianus Fulgentius und Boethiusvgl Klingner 1921 114 Pabst 1994 der Fulgentiusrsquo Vorgehen durchaus als bdquoimitatio Martianaldquoversteht (162 134ndash 137) fuumlr Boethius in Martianus allerdings nur eine Quelle sieht bdquoThey contribute to the argument as it proceeds yet take a wider view with an authorityoutside and above the adjacent prose They possess their own thematic design which spans theentire workldquo (Crabbe 1981 260) bdquoDie Metra bilden Ruhe- und Houmlhepunkte im Werk haumlufig

130 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Stelle zu Beginn des vierten Buches Nachdem zunaumlchst allgemein erlaumlutert wirddass die Weisen vermoumlgen was sie wollen die Schlechten jedoch nicht(cons 4 1 131ndash140) folgt in Versen eine Reihe plastischer Beispiele fuumlr die These(cons 4 carm 2) bevor der Gedanke fortgesponnen wird (cons 4 3 1ndash4)

An anderen Stellen uumlbernehmen die metrischen Partien eine Gliederungs-funktion indem sie Gedanken abschlieszligen und durch die Unterbrechung Zeit zurErholung bieten So sagt Philosophia zu ihrem Schuumller Boethius

bdquosed uideo te iam dudum et pondere quaestionis oneratum et rationis prolixitate fatigatumaliquam carminis exspectare dulcedinem accipe igitur haustum quo refectus firmior inulteriora contendasldquo (Boeth cons 4 6 200‐203)

bdquoAber ich sehe dass du bereits vom Gewicht der Untersuchung belastet und von der Breiteder Beweisfuumlhrung erschoumlpft auf die suumlszlige Erholung eines Liedes wartest nimm also denTrank damit du solchermaszligen erfrischt kraumlftiger zu den weiteren Themen eilen kannstldquo

In dieser zweiten Funktion setzt auch Martianus die metrischen Partien ein Dabeisind sie nicht in die Prosadarstellung eingeschoben sondern markieren fastausschlieszliglich die Buchanfaumlnge und Buchenden Explizites Ziel ist die Belebungdes Werkes um eine angenehme Lektuumlre zu erleichternsup3sup1sup3 Dies widersprichtMartianusrsquoAnkuumlndigung nach der hinleitenden Erzaumlhlung in denBuumlchern 1 und 2keine fiktionalen Erzaumlhlungen mehr einfuumlgen zu wollen die Darstellung solleernst und dem Gegenstand angemessen sein

nunc ergo mythos terminatur infiuntartes libelli qui sequentes asserentnam fruge vera omne fictum dimoventet disciplinas annotabunt sobriaspro parte multa nec vetabunt ludicra (2 220)

Nun also hat der Mythos sein Ende erreicht es beginnen die Buumlcher die die nun anschlie-szligenden Kuumlnste darbieten Denn mit wahrhaftiger Ernte entfernen sie alles Erdichtete undzeichnen die Kuumlnste nuumlchtern auf verbieten jedoch nicht gelegentliche Unterhaltung

stehen sie am Ende von Einzelabschnitten wo sie diese dann rekapitulieren und fuumlr densbquoSchuumllerlsquo zusammenfassen Bisweilen kommt ihnen auch eine Uumlberleitungsfunktion zuldquo (Kin-dermann 1969 63) ndash Zur Gattung allgemein allerdings mit besonderem Fokus auf die mittel-alterliche Literatur vgl Pabst 1994 bes 105ndash 133 zum Prosimetrum bei Martianus und 158ndash 195bei Boethius sowie Dronke 1994 bes Kap 2 (bdquoAllegory and the mixed formldquo) So auch McDonough der im Kapitel bdquoThe function of the poetryldquo zu Recht (aber zu kurzgreifend) formuliert bdquoIn undertaking the compilation of his encyclopedia the main challenge toMartianus lay in maintaining the interest of his readers (and himself) in making palatable thearid factual account of the various disciplinesldquo (McDonough 1968 37)

2 De nuptiis als literarisches Werk 131

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Scheint es an dieser Stelle so als ob Mythos und Heiteres getrennte Dinge waumlrenzeigt der unmittelbare Fortgang zu Beginn von Buch 3 dass beide Begriffe letztlichAumlhnliches bezeichnen Hier am Beginn der Schilderung der freien Kuumlnste(3 221 f) erlaumlutert Martianus in einem weiteren Gedicht das als Dialog gestaltetist warum er von seinem Plan abweicht

Camena bringt Schmuck fuumlr das Werk mit (amicta fictis commenta ferre) AufMartianusrsquo Einwand keine Mythen mehr vorbringen zu wollen (mythi pulsi) er-widert sie es gehe nicht um Luumlge (nil mentiamur) sondern um Einkleidung(vestiantur Artes) ndash man koumlnne die Brautjungfern also die Allegorien der freienKuumlnste doch nicht nackt vorfuumlhren Daraufhin gibt sich Martianus geschlagenund die Handlung von Buch 3 beginnt

Abgesehen von der unterhaltenden Funktion die besonders durch die Ge-dichte an den Buchenden gewaumlhrleistet wird scheinen die metrischen Passagenfuumlr viele Forscher wahllos in das Werk eingestreut Typisch ist eine Aussage wieCrabbe sie trifft bdquoMartianus uses verse frequently at the beginning sometimes atthe end of books and erratically throughoutldquosup3sup1⁴

Natuumlrlich kann von einer systematischen Verteilung und einer argumenta-tionslogischen Anordnung wie bei Boethius nicht gesprochen werden Bei ge-nauerem Hinsehen wird jedoch deutlich dass die metrischen Abschnitte nichtwillkuumlrlich uumlber das Werk verstreut sindsup3sup1⁵

Die meisten metrischen Passagen finden sich in den Buumlchern 1 und 2 von Denuptiis Diese Buumlcher enthalten die einleitende Handlung die als fiktionale Er-zaumlhlung dargeboten wird Im Bericht von der Suche Merkurs nach der richtigenEhefrau und von Philologias Aufstieg in den Himmel finden sich neun metrischePassagen Es handelt sich dabei bis auf die drei Faumllle der an den Buchanfaumlngen(Buch 1) und Buchenden (Buch 1 und 2) stehenden Gedichte um Reden vonGoumlttern Diese fuumlhren die Handlung fort und dienen also nicht der Buumlndelung derGedanken oder der Erholung des Lesers Stattdessen scheint es Martianus darumzu gehen das Sprechen der Goumltter durch die metrische Gebundenheit als be-

Crabbe 1981 264 Eine Typisierung die z T von der Position der metrischen Passagenlosgeloumlst ist bietet McDonough seiner Ansicht nach sind die metrischen Partien hauptsaumlchlichfunktional bdquoThe poetry thus is primarily functional although this function varies from book tobookldquo (McDonough 1968 38) Als Funktionen benennt er fuumlr Buch 1 Handlungsfortfuumlhrung fuumlrBuch 2 Schmuck fuumlr Buch 3 Belehrung fuumlr den Rest Einfuumlhrung oder Entlassung derBrautjungfern oder Unmut uumlber Verzoumlgerung der Hochzeit Der Rest seien bdquooccasional piecesldquo(ibid 40) ndash Verspartien finden sich am Anfang der Buumlcher 1 2 3 4 5 6 7 und 9 sowie am Endeder Buumlcher 2 4 5 7 und 9 Die ungleiche Verwendung der Metra bei Boethius und Martianus laumlsst sich am besten alsEntwicklung verstehen wie es beispielsweise Kindermann (1969 60) tut Zur Kenntnis desMartianus bei Boethius vgl oben Anm 311

132 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

sonders zu markieren Dies gilt vor allem fuumlr markante Szenen zum Beispiel dieRede Jupiters in der Goumltterversammlung gegen Ende des ersten Buches (1 91ndash93)oder die orakelartige Auskunft Apolls (1 21 f)

Diese Beobachtung gilt daruumlber hinaus ebenso fuumlr die genannten Stellen inBuch 9 auch wenn es sich dort nicht um die Vorgeschichte oder einen weiterenliterarischen Rahmen handelt Jedoch ist eine Szene mit Goumlttergespraumlchen ein-geschoben in der die Goumltter unter anderem auch Verse verwenden Durch dieseReden in metrisch gebundener Form soll den entsprechenden Buumlchern also einehoumlhere Wuumlrde verliehen werden

Einen zweiten Fall stellen die Gedichte zu Beginn oder zu Ende eines Buchesin den Buumlchern 3 bis 9 dar In diesen Buumlchern praumlsentieren die Freien Kuumlnste ingeschlossenem Vortrag die Inhalte ihrer Wissenschaft Die Gedichte in einigenFaumlllen in auktorialer Erzaumlhlhaltung gestaltet uumlberbruumlcken die Fuge zwischen denBuumlchern und bieten eine Pause zwischen den langen Vortragspartien der Leserkann sich erholen Die Inhalte der Verspartien sind unterschiedlich es handeltsich zumeist um den Ein- oder Auszug einer Brautjungfer (4 327 4 423 f 8 8028 808 9 911ndash919) um die Fortfuumlhrung der Hochzeitshandlung (5 425 8 8059 888) um die Anrufung eines Gottes (6 567ndash574) oder um eine Wendung desAutors an den Leser (5 566 9 997ndash 1000)

Dieser Einsatz der Verspartien ist jedoch noch keine hinreichende Erklaumlrungfuumlr die Wahl des Prosimetrums Sie erklaumlrt sich besonders dadurch dass Marti-anus auf diese Weise sein Werk in die Traditionslinie von Texten einreiht die alsmenippeische Satiren bezeichnet werdensup3sup1⁶

Charakteristisch fuumlr diese spezielle Form der roumlmischen Satire ist der Wechselvon metrischen und prosaischen Partiensup3sup1⁷ Klassische lateinischsprachige Ver-treter der menippeischen Satire sind Varro (Saturae Menippeae) Seneca (Apo-colocyntosis) und Petron (Satyrikon) in der griechischen Literatur nutzen Lukianund Julian (Caesares) diese Form Inhaltlich lassen sich nur wenige Verbindungenzwischen den Werken ziehen und auch die Umsetzung der formalen Elemente istunterschiedlich Dies fuumlhrt sogar so weit dass sich moderne Forscher trotz derbereits antik bezeugten Bezeichnungder Gattung teilweise auszligerstande sehen dieGattung genauer zu definieren oder dass sie ihre Fragestellung losgeloumlst von derGattungstradition verfolgensup3sup1⁸ Dies macht die Verortung von De nuptiis in diesemGenre nicht leichter

Zur menippeischen Satire vgl Relihan 1993 Coffey 1996 Im Gegensatz dazu beschraumlnkt sich die Verssatire seit Horaz auf die Verwendung desHexameters So betont Scheible im Vorwort ihrer Studie zu den Gedichten in Boethiusrsquo de consolationedass sie Vorgaben der Tradition in Hinblick auf die Gedichte nicht beruumlcksichtige ndash sie lieszligen

2 De nuptiis als literarisches Werk 133

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Gelegentlich wird sogar die These vertreten dass sich das satirische ElementinDe nuptiis in dieser formalen Verbindung von Prosaund Poesie erschoumlpfesup3sup1⁹DerGattungsbegriff sbquomenippeische Satirelsquo waumlre dann identisch mit der BezeichnungsbquoProsimetrumlsquo Dem widersprechen jedoch verschiedene Beobachtungen derRuumlckgriff auf die Etymologie des Wortes satura die Bezugnahme auf Vertreter derGattung und das Auftreten einer Figur namens Satura sowie deren Agieren dasuumlber die rein formale aumluszligerliche Satireform hinausweist schlieszliglich die beson-dere Gestaltung der Erzaumlhlsituation Diese vier Elemente sollen im Folgendenherausgearbeitet werden

Etymologie ndash Dass Martianus sein Werk sehr wohl als Satire verstanden wissenwill wird an verschiedenen Stellen deutlich Dies geschieht zum Beispiel durchgelehrte Anspielungen auf die Terminologie der antiken Satire an prominenterStelle So heiszligt es in 9 998

[Satura] haec quippe loquax docta doctis aggeransfandis tacenda farcinat immiscuitMusas deosque disciplinas cyclicasgarrire agresti cruda finxit plasmate

So haumluft sie plappernd Gelehrtes auf Gelehrtes und stopft geheimes und bekanntes Wissenzusammen hatMusenundGoumltter vermischt undhat sich erdacht dass die enzyklopaumldischenDisziplinen in einem baumlurischen Machwerk unreifes Zeug daherplappern

Die Woumlrter farcinat und immiscuit verweisen auf das Zusammenstopfen undVermischen verschiedener Zutaten z B in einer Wurst oder Pastete Gleiches giltfuumlr die Woumlrtermiscillo und aggeranssup3sup2⁰ Ausgangspunkt fuumlr diese Terminologie istdie Etymologie desWortes sbquoSatirelsquo an sich bedeutet urspruumlnglich etwaswie sbquobunteMischunglsquosup3sup2sup1 Traditionell sind Anspielungen auf diese Etymologie in der satiri-

sich nicht feststellen (Scheible 1972 8) Vorhandene Untersuchungen beschreiben in der Regeldie Konstituenten der einzelnen Werke Aufgrund der geringen Zahl uumlberlieferter Werke und dergroszligen Unterschiede zwischen ihnen ist es jedoch schwierig die typischen Elemente der Gat-tung zu benennen Auch diese Arbeit schlieszligt sich dem beschreibenden Vorgehen an undvergleicht an einschlaumlgigen Stellen inwieweit die Beobachtungen auch fuumlr die Gattung typischsind So z B Coffey der die Mischung aus Prosa und Poesie bei Martianus als bdquomiscellanyldquobezeichnet und vor einer Verbindung von De nuptiis mit der Satire als problematisch warnt(Coffey 1996 959) Vgl Relihan 1993 14 ErnoutMeillet s v satur -ra -rum (2001 596) WaldeHofmann s v satura (2007 II482f) Der zentrale Hinweis auf eine Ableitung des Wortes aus dem kulinarischen Bereich findet

134 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

schen Literatur selten Allein in Juvenal findet sich ein Hinweis darauf gleichwohlmit leicht anderem Verstaumlndnis Er betrachtet die Zusammenstellung der Satirenals farrago also als Mischgericht nicht die einzelne Satiresup3sup2sup2

In diesen sehr bildlichen Wendungen trifft Martianus gleichzeitig eine Aus-sage uumlber sein Verstaumlndnis der Darstellung von Bildungswissen Bei ihm gibt eskeine vorverdauten und mundgerecht aufbereiteten Wissenspaumlckchen (wie Ma-crobius sie bietet)sup3sup2sup3 sondern rohe Kost (cruda) die ihre Zutaten d h die lite-rarischen oder inhaltlichen Urspruumlnge nicht leugnet LeMoine formuliert prauml-gnant bdquoBy calling attention to the literary functions these metaphors fulfillMartianus hellip raises questions about the principles of seamless synthesis andverbal regurgitation which Macrobius so effectively demonstratesldquosup3sup2⁴

Dass Martianus durch diese Art der Darstellung seine Autoritaumlt infrage stelle(bdquohellip reveal doubts about the competence of the cook and the quality of the edu-cational feastldquo)sup3sup2⁵ laumlsst sich jedoch nicht erkennen Schlieszliglich benennt er seinVorgehen explizit (scheitert also nicht an einem gesteckten Plan) und bietetgleichzeitig mit der Kritik an der klassischen Form der Wissensvermittlung eineMoumlglichkeit an wie nicht-vereinheitlichte Wissensvermittlung aussehen kannBeeintraumlchtigungen des Vertrauens zum Erzaumlhler und zu den Inhalten gibt esallerdings ndash jedoch aufgrund anderer Faktorensup3sup2⁶

Bezug auf andere Satiriker ndash Neben den Anspielungen auf die Etymologie derGattung Satire treten explizite Bezuumlge auf andere Autoren menippeischer Satirenauf Namentlich wird jedoch keiner der Vorgaumlnger genannt die Nennung Varroserfolgt ausschlieszliglich in den Vortraumlgen der Brautjungfern und bezieht sichuumlberwiegend auf Varros fachschriftstellerische Werke oder seinen Ruf als Enzy-klopaumldistsup3sup2⁷

sich beim Grammatiker Diomedes (Grammatici Latini 1 485) Ausgehend von dieser Passageeroumlrtert Petersmann die Etymologie mit besonderer Beruumlcksichtigung des Ursprungs des Wortessatura aus dem Kuumlchenbereich (Petersmann 1986) Iuv 1 86 nostri farrago libelli Vgl die Kommentare Morton Braund 1996 95 f undCourtney 1980 103 Vgl die Gleichnisse in der praefatio zu den Saturnalia (Sat praef 5ndash9) und die Ausfuumlh-rungen in Kap II1 sowie die dort aufgefuumlhrte Literatur LeMoine 1991 360 ibid S u die Abschnitte bdquoErzaumlhlinstanzenldquo und bdquoDeutungen der komplexen literarischen Formldquo 4 335 (die Gelehrsamkeit Varros vgl Cic ac 1 9 Aug civ 6 2) 5 517 (Nennung in einemZitat) 6 639 und 6 662 (Fragen der Geographie die Varro-Vorlage ist nicht bekannt) 9 928 (cfVarro rust 3 17 4) Vgl zum Verhaumlltnis von Martianus und Varro bes Bovey 2003 Kap 2 (bdquoLaquestion varronienneldquo) und Schievenin 2009f

2 De nuptiis als literarisches Werk 135

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Allerdings zitiert die Wendung ὄνος λύρας in 8 807 den Titel einer menip-peischen Satire Varrossup3sup2⁸ Die Wendung ist in der lateinischen Literatur ander-weitig nicht belegt weshalb davon auszugehen ist dass Martianus hier auf denrepublikanischen Satiriker direkt zuruumlckgriff Da die Wendung zudem im Streit-gespraumlch zwischenMartianus und Satura uumlber die angemessene Art des Erzaumlhlensder Geschichte faumlllt kommt ihrer Verwendung eine programmatische Aussage zuMartianus stellt sich und sein Werk also in die Nachfolge Varros und seiner Sa-tiren

Ein Bezug auf Lukian ist weniger sicher nachzuweisensup3sup2⁹ Allerdings gibt eseine motivische Uumlbernahme im zweiten Buch von De nuptiis Philologias Erbre-chen des Wissens das der Hochzeit vorausgeht hat eine Parallele in LukiansDialog Lexiphanes Der allzu (ein)gebildete Lexiphanes nimmt auf Draumlngen vonLycinus ein Brechmittel ein das ihm der Arzt Sopolis gibt Daraufhin erbricht eralle Woumlrter die er gelernt hat dies ist die Voraussetzung dafuumlr dass er nun an-gemessen belehrt werden kannsup3sup3⁰

Es handelt sich um die Fragmente Varro Men 348ndash369 In Fragment 349 findet sich dieWendung auch im Vers (si quis μελωδεῖν est ὄνος λύρας praesepibus se retineat forensibus ndashsbquower beim Gesang wiersquon Esel an der Harfe bloumld der bleib getrost im Stallmief seines Forumsdortlsquo [Uumlbs Krenkel]) Die Bezugnahme auf Varro ist umso wahrscheinlicher da Satura unmit-telbar zuvor sowohl Martianusrsquo berufliche Aufenthalte auf dem Forum erwaumlhnt und ein Wort-spiel mit seinem Namen Capella angestellt hat ndash der zwar nicht sbquoEsellsquo bedeutet wohl aber einHaustier (sbquoZiegelsquo)Vgl dazu Shanzer 1968c 38ndash40 Shanzer 1986a kritisch dazu Pabst 1994 168(m Lit) Folgt man Bovey handelt es sich bei der unmittelbar folgenden Wendung καιρὸν γνῶθιum einen weiteren Verweis auf den Titel einer Varro-Satire γνῶθι σεαυτόν (= Varr Men 199ndash210 vgl Bovey 2003 282ndash284) Naumlher liegt wohl dass Martianus Capella diese eigenstaumlndigeSentenz (vgl Diogenes Laertios I 79 der sie als Sentenz des Pittakos ausweist) aus einer anderenQuelle uumlbernommen hat Kindermann 1969 60 Shanzer geht davon aus dass Martianus Lukian kannte (Shanzer1986c 36) Zur Diskussion um Martianusrsquo Griechischkenntnisse vgl Cristante 2009 [5] undShanzer 1986c 4 die beide annehmen dass Martianus durchaus Griechisch beherrschteShanzer weist einige Stellen auf an denen Martianus woumlrtlich uumlbersetzt und schlieszligt aus derBeherrschung des Griechischen zu Recht auf einen gebildeten moumlglicherweise sogar akade-mischen Hintergrund von Martianus Lucian Lex 20f Andere antike Texte die das Erbrechen von Wissen als Teil des Reini-gungsprozesses beschreiben oder als Bild tradieren sind mir nicht bekannt Daher ist eswahrscheinlicher dass Martianus auf Lukian im Original zuruumlckgegriffen hat Zur vor-byzantinischen Rezeption Lukians vgl Nesselrath 1994 der spaumltantike Bezuumlge auf Lukian u abei Julian und Claudian aufzeigt ndash Einen Bezug auf Lukians Concilium deorum fuumlr moumlglich haumlltKrapinger 1999 962 ndash Anders gelagert sind Lucian cont 7 und Aug in Joh ev tract 36 1 Dortgeht es darum dass durch das Ausspeien Wissen weitergegeben wird was zum Bild der daserbrochene Wissen aufsammelnden Artes passt nicht jedoch zum Motiv der Reinigung

136 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Bezuumlge auszligerhalb der Uumlbernahme uumlblicher Gattungselemente lassen sich fuumlrSenecas Apocolocyntosis Petrons Satyricon oder Julians Caesares nicht konsta-tierensup3sup3sup1

Die Figur der Satura und ihr Handeln ndash Einer der deutlichsten Hinweise auf dieForm der Satire liegt im Auftreten einer Figur namens Satura Diese Figur wirdzunaumlchst von Martianus als Erzaumlhlinstanz eingefuumlhrt (1 2) von der er den Inhaltvon De nuptiis erfahren haben will Im Laufe des Werks gewinnt Satura aber anProfil und agiert zunehmend autonom

Aussagen uumlber Satura beruhen letztlich auf drei Stellen in De nuptiis (6 576ndash5798 806ndash8109997ndash999) und koumlnnen fast ausschlieszliglich aus der Formund derBotschaft ihrer eigenen Aumluszligerungen gewonnen werden An allen drei Stellendiskutiert Satura mit Martianus Ansonsten ist Satura zwar als praumlsent zu denkenwird aber nicht weiter thematisiert

Nach Martianusrsquo Anrufung Minervas zu Beginn des sechsten Buches mischtsich Satura in seine Uumlberlegungen ein welche Frauen er vor sich sehe Die Ein-mischung wird von Martianus als scherzend bezeichnet (iocabunda 6 576) dieEinmischung an sich als typisch fuumlr das Scherzen Saturas (ut lepidula est 6 576)Die Aumluszligerung Saturas beginnt mit Spott uumlber Martianusrsquo nur scheinbare KlugheitDurch falsche naumlchtliche Studien und besonders seine Anwaltstaumltigkeit habe erden Blick auf das Wichtige verloren und erkenne nun nicht einmal mehr Philo-sophia und Paideia Der Scherz wird jedoch alsbald von einem belehrendenTonfall abgeloumlst in dem Satura Martianus uumlber das Wesen der beiden Frauenaufklaumlrt

Satura tritt als Naumlchstes zu Beginn des achten Buches auf in der Folge derSilen-Szene Der angetrunkene Silen war eingeschlafen und durch Amor aufge-schreckt worden was die uumlbrigen Goumltter laut lachen lieszlig (8 803ndash805) DieseSchilderung provoziert bei SaturaWiderspruch da sie das Erzaumlhlte als unpassendfuumlr die Goumltterversammlung empfindet Ihre Kritik beginnt wieder bei der Persondes Martianus dessen Namen sie als passend zu seinem Wesen deutet (Capella ~sbquoZiegelsquo 8 806) Sodann fordert sie Martianus auf seine Possen zu unterlassenMartianus fuumlhlt sich gehoumlrig von Satura gemaszligregelt und gibt klein bei bemerktaber dass sie ansonsten mehr von Scherzen halte (alioquin lepidula 8 807) AlsSatura dann die Einfuumlhrungder eintretenden Brautjungfer in Versenvorbringt undMartianus wiederum seine Scherze (ludicra 8 808) vorhaumllt kann dieser nicht

Mit Julian verbindet Martianus immerhin die Ansiedlung der Goumltterversammlung auf derMilchstraszlige ndash Zur Rolle der Saturnalien vgl den Abschnitt bdquoDeutungen der komplexen litera-rischen Formldquo

2 De nuptiis als literarisches Werk 137

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mehr an sich halten und zahlt Satura ihre Kritik in gleicher Muumlnze heim Nacheinigem Spott uumlber Saturas Verse verteidigt nun Martianus das Recht auf Scherzgegen sie die an sich ndash nicht aber in De nuptiiswie es scheint ndash eigentlich fuumlr denScherz zustaumlndig waumlre und gibt ihr mit Martial (2 41 1) den Rat auch einmal zulachensup3sup3sup2

Ein letzter Schlagabtausch von Satura und Martianus erfolgt schlieszliglich amEnde des Werkes Wiederum streiten beide Figuren miteinander und halten sichmit Spott uumlber das Wesen des anderen nicht zuruumlck

Die Einfuumlhrung Saturas die ja nur in Verbindung ndash und das heiszligt Ausein-andersetzung ndash mit Martianus erscheint dient vornehmlich der deutlichenBenennung der Gattung und der Verstaumlndigung daruumlberwas den Charakter einessatirischen bzw des vorliegenden Werkes ausmache Erstaunlich ist dabei Mar-tianusrsquo Entwicklung der sich zunaumlchst gegen Unterhaltung im artes-Teil ausge-sprochen hatte diese spaumlter aber gegen den censorischen Eingriff Saturas imachten Buch verteidigt Noch erstaunlicher ist aber dass es gerade Satura ist diezur Beachtung des Decorums auffordert und Martianusrsquo vergleichsweise mildenScherz scharf tadelt

Erzaumlhlinstanzen ndash Die Frage nach der Erzaumlhlsituation bzw der Erzaumlhlerfigurgehoumlrt zu den grundlegenden Analysekriterien eines literarischenWerkes ebensowie die Konzipierung von Raumund Zeit Lassen sich die letzten beiden Punkte imHinblick auf De nuptiis hinreichend klaumlrensup3sup3sup3 so bietet die Erzaumlhlerfigur groumlszligereSchwierigkeiten

DassDe nuptiis zwei Erzaumlhlinstanzen hat scheint zu Beginn desWerkeswenigdramatisch In 1 2 verweist der Erzaumlhler Martianus gegenuumlber seinem Sohn dar-auf dass die folgende Geschichte (also der uumlberwiegende Teil von De nuptiis) ihm

Ride si sapis o puella ride Schievenin bietet eine gruumlndliche Analyse dieser Stelle auchmit Blick auf die inverse Vorlage Martials (plora si sapis o puella plora Mart 2 41) derwiederum auf Ovid (Ov ars 3 281 f) zuruumlckgreift (Schievenin 1984 bes 136 ausfuumlhrlich auchBovey 2003 275ndash288) Die Rahmenhandlung spielt in der erzaumlhlerischen Gegenwart und in einem unbestimmtenRaum der jedoch nicht auszligergewoumlhnlich ist es liegt nahe an Karthago und das Haus desMartianus Capella zu denken Die eigentliche Handlung spielt an z T unwirklichen Orten aufder Erde die zumeist nicht naumlher bestimmt sind (z B Philologias Herkunft) und auf derMilchstraszlige wobei die absolute Zeit nicht genannt wird aber aufeinanderfolgende Tage inihrem Ablauf erkannt werden koumlnnen Die Phantastik einzelner Szenen die meist auf alle-gorische Darstellungsweisen zuruumlckgeht verletzt jedoch nicht die raumlumliche oder zeitlichePlausibilitaumlt des Dargestellten Vgl dazu auch die Ausfuumlhrungen und grafischen Veranschau-lichungen LeMoines (1972a)

138 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

waumlhrend langer Winternaumlchte (eine Anspielung auf Gellius)sup3sup3⁴ von Satura be-richtet wurde Der antike wie moderne Leser duumlrfte sich wohl kaum daran stoszligensondernwird darin vor allem eine Inspiration des Autors durch Satura (auchwennes das zuvor noch nicht gab) erkennen Bei der Erwaumlhnung von Satura koumlnnte erHeiteres erwarten oder bunt gemischte Geschichten

Vollkommen verwirrt wird der Leser hingegen spaumltestens dann wenn er amEnde des Werkes in der Sphragis angekommen ist (9 997ndash 1000) Dort reflektiertMartianus sein literarisches Vorgehen in den vorausgegangenen neun Buumlcherngenauer gesagt distanziert er sich von der Form der Darstellung (Umfang Bunt-heit) und verweist auf die Verantwortung Saturas die die Geschichte erzaumlhlt habe

Habes anilem Martiane fabulam 997Miscillo lusit quam lucernis flamineSatura Pelasgos dum docere nititurArtes daggercagris vix amicas AtticisSic in novena decidit voluminahaec quippe loquax docta doctis aggerans 998fandis tacenda farcinat immiscuitMusas deosque disciplinas cyclicasgarrire agresti cruda finxit plasmate (9 997 f)

Da hast du Martianus eine Altweibergeschichte sie verfertigte im Spiel mit vermischterInspiration [d h in Prosa und Vers] bei Kerzenschein Saturawaumlhrend sie sich bemuumlhte diePelasger zu lehren die Kuumlnste die den Griechen kaum freundlich [d h neu] sindSo gelangte sie hinab bis zum neunten Buch haumluft plappernd Gelehrtes auf Gelehrtes undstopft geheimes und bekanntes Wissen zusammen hat Musen und Goumltter vermischt und hatsich erdacht dass die enzyklopaumldischen Disziplinen in einembaumlurischenMachwerk unreifesZeug daherplappern

So ungewoumlhnlich dieses Vorgehen auch ist ndash Martianus haumltte ja den Bericht Sa-turas als Grundlage nehmen und dann nach eigenem Geschmack umgestaltenkoumlnnen ndash wird es uumlbertroffen durch die Verteidigung Saturas Sie weist die Ver-antwortung fuumlr die Art der Erzaumlhlung von sich und verteidigt sichmit demHinweisauf Martianusrsquo intellektuelle Schwaumlche der sie die Ausfuumlhrungen habe anpassenmuumlssen

Vgl Gell praef 4 zur Erklaumlrung der Wahl des Titels Noctes Atticae fuumlr sein Werk

Sed quoniam longinquis per hiemem noctibus in agro sicuti dixi terrae Atticae commentationeshasce ludere ac facere exorsi sumus idcirco eas inscripsimus noctium esse Atticarum hellip

Aber weil wir in langen Naumlchten den Winter uumlber in Attika auf dem Landwie schon gesagtdiese Anmerkungen im Spiel und dann ernsthaft begonnen haben daher haben wir ihnenden Namen Attische Naumlchte gegeben hellip

2 De nuptiis als literarisches Werk 139

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

haec ipsa nauci rupta conscientia 999turgensque felle ac bili bdquomulta chlamydeprodire doctis approbanda cultibuspossemque comis utque e Martis curia[hellip]ab hoc creatum Pegaseum gurgitem 1000decente quando possem haurire poculoldquo (9 999 f)

Sie sagte aufgrund ihres Wissens um die Nichtigkeit (dieser Ausfuumlhrungen) verletztschwellend vor Bitterkeit und Zorn bdquoIch koumlnnte hier freundlich auftreten mit einem Gewandbekleidet lobenswert durchgelehrtes Verhaltenwie aus der VersammlungdesMars [Es folgtdie Schilderung der unguumlnstigen Anlagen von Martianus] ndash Wann koumlnnte ich mit ange-messenem Becher aus einem pegasischen Strom von ihm erschaffen schoumlpfenldquo

Somit hat das Werk das zu Beginn zwei hierarchisch geschiedene Erzaumlhler zuhaben scheint am Ende zwei Erzaumlhler die sich gleichberechtigt uumlber die Form dererzaumlhlten Geschichte streitensup3sup3⁵

Die Inkonsistenzen auf der Erzaumlhlebene setzen sich daruumlber hinaus fort HatteMartianus zu Beginn des Werks gesagt Satura habe ihm die Geschichte waumlhrendlangerWinternaumlchte erzaumlhlt so treten Satura undMartianus amEnde desWerks inder erzaumlhlerischen Gegenwart gemeinsam auf und sprechen beide nacheinanderzu Martianusrsquo Sohn

Weiterhin erscheinen Satura und Martianus innerhalb der Geschichte dieMartianus angeblichvon Satura gehoumlrt hatWaumlhrend die Goumltter denverschiedenenBrautjungfern lauschenwohnen auch SaturaundMartianus der Versammlungbeiund betrachten sie als unbeteiligte ZuschauerWie aus einer Theaterloge herauskommentieren und diskutieren sie das Geschehen das auf der bdquoGoumltterbuumlhneldquostattfindetsup3sup3⁶

Noch einen weitergehenden Schritt stellt die Silen-Szene zu Beginn des achtenBuches dar Im Anschluss an diese Szene beschwert sich Satura bei Martianus erkoumlnne die Goumltter nicht auf dieseWeise agieren lassen In der Folge entspinnt sich einGespraumlch in demMartianus seine Art des Erzaumlhlens gegen Satura verteidigt die fuumlreine zuruumlckhaltendere Darstellung plaumldiert (s o)Von der Fiktion dass Martianusseinem Sohn bloszligwiedergibtwas Satura ihm erzaumlhlt hat bleibt nichtmehr viel dieganze Szenerie ist ein Produkt der ErfindungdesMartianus gleichzeitigwohnt er ihraber gemeinsam mit Satura bei ist also Teil der Handlung

So bereits Pabst 1994 120 Anm 119 der allerdings auf eine Diskussion der Beobachtungverzichtet Es handelt sich um die Stellen zu Beginn des sechsten und des achten Buches die imvorigen Abschnitt bereits paraphrasiert wurden

140 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Diese Art der Spiels mit der Erzaumlhlerrolle wird von manchen modernen For-schern als ein wichtiges Merkmal der menippeischen Satire angesehen Hinzu-treten kann die Selbstherabsetzung des Erzaumlhlers die sich an seinemmangelndenWissen Stilbewusstsein Traditionsempfinden o auml entzuumlndetsup3sup3⁷ Folglich kanndie zunaumlchst befremdliche Brechung und Verzerrung als weiteres Merkmal derGattung menippeische Satire bestimmt werden

Aufgrund dieser Beobachtungen ist es zwingend in De nuptiis vor allem eineSatire zu sehen Auch der heiter-spoumlttische Charakter einiger Passagen zwischenden Vortraumlgen der Brautjungfern passt zum satirischen Anspruch Gelegentlicherscheint es jedoch fraglich ob es sich wirklich um satirische und nicht eher umkomische oder derbe Spaumlszlige handelt Die Szene in der Silen betrunken einschlaumlftund von den anderen Goumlttern verspottet wird (8 803ndash805) erinnert mit ihremSlapstick eher an den derben Spott der Komoumldie als an die Satire eines Varrosup3sup3⁸

22 Deutungen der komplexen literarischen Form

Wie laumlsst sich das Werk De nuptiis nun also formal beschreiben oder andersgefasstWie lassen sich die vier literarischen Traditionsstraumlnge zusammenfuumlhrenDass eine einheitliche Lesung zumindest versucht werden muss zeigt bereits dasLeitmotiv der Hochzeit ansup3sup3⁹

Im Kern handelt es sich bei MartianusrsquoWerk um eine Sammlung bedeutenderWissensschaumltze in einem einzigen Werk die darin systematisch ausgebreitetwerden Dies zeigt die Einteilung in verschiedene Disziplinen die ein ver-

Zur Erzaumlhlerrolle in der menippeischen Satire vgl u a Relihan 1993 und darin bes S 35 Mit der Aufnahme unterhaltsamer Elemente ginge Martianus sogar noch uumlber dieErwartungen an ein sbquosatirischeslsquo Werk hinaus Auch Boethius wird bescheinigt er erzaumlhle seineConsolatio bdquoper satiramldquo auch wenn bei ihm weder eine Figur Satura auftritt noch allzu vielHeiterkeit herrscht (Peiper zitiert in der Einleitung zu seiner Ausgabe S xxxi eine mittelalter-liche Boethius-Vita vgl Kindermann 1969 61)

hos libros [scil de consolatione Philosophiae] per satiram edidit imitatus videlicet mar-cianum felicem capellam qui prius libros De nuptiis philologiae et mercurii eadem speciepoematis conscripserathellip

Diese Buumlcher schrieb er als Satire freilich in Nachahmung des Marcianus Felix Capellader zuvor die Buumlcher uumlber die Hochzeit der Philologie mit Merkur in der gleichen Art vonGedicht verfasst hatte

Zum Motiv der Hochzeit das bereits programmatisch im eroumlffnenden Hymnus anHymenaeus erscheint vgl Schievenin 2009c und Cristante in der Einleitung seiner Ausgabe1987 3ndash 10

2 De nuptiis als literarisches Werk 141

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

gleichsweise leichtes Auffinden der Informationen erlaubtsup3⁴⁰ die Bedeutung wirdangesichts der Praumlsentation vor den Goumlttern auf der Milchstraszlige deutlich Alleinder Umfang dieser Vortraumlge die in sich auch nicht gestoumlrt oder gebrochenwerdenmarkiert dass es sich hier um das zentrale Charakteristikum des Werkes handelt

Den erzaumlhlerischen Anlass fuumlr diese Praumlsentation bietet eine Hochzeitsfeieralso ein Symposion hier ist die Gelegenheit fuumlr die groszligen Redebeitraumlge gegebenZudem bietet die SymposionformAnknuumlpfungspunkte fuumlr eine Rahmenhandlungdie zur Auflockerung der ebenso ausfuumlhrlichenwie trockenen Einzelreden genutztwird

Doch bleibt es ndash im Gegensatz z B zu Macrobius ndash nicht bei der bloszligenDarstellung der Wissensinhalte Hinzu tritt die allegorische Darstellung der Be-deutung von Wissen und von Fleiszlig beim Wissenserwerb in den ersten beidenBuumlchern Die praumlsentierten Inhalte der Buumlcher 3ndash9 (die Philologia ja bereits aufder Erde in Buch 2 besitzt) sindwichtig Sie sind nicht nur wichtig fuumlr das irdischeLeben (das wird nicht weiter thematisiert die explizit irdischen Wissenschaftenwie Architektur und Medizin werden sogar ausgeschlossen) ndash die Inhalte sindauch wichtig fuumlr die menschliche Vervollkommnung

Durch das angesammelte Wissen erreicht der Mensch zwar nicht die voll-kommene Erkenntnis (die erhaumllt auch Philologia nur ohne eigenes Zutun als sieauf der houmlchsten Himmelssphaumlre angekommen zum Vatergott in der jenseitigenGluumlckseligkeit betet) wohl aber ein goumlttergleiches Wissensup3⁴sup1 Der Wissenserwerbist gewissermaszligen die Voraussetzung dafuumlr dass der Mensch mit Hilfe einesgoumlttlichen Begleiters in den Himmel aufsteigen kann unsterblich wird und voll-kommene Einsicht erlangt

Die so weit kohaumlrente Verbindung der literarischen Traditionen laumlsst aller-dings den explizit satirischen Anspruch von De nuptiis auszliger Betracht durch denMartianus selbst das Werk primaumlr in die Gattung der Satire einordnet waumlhrendvergleichbare Bezuumlge zu anderen Gattungen fehlen Natuumlrlich lieszlige sich dieserprogrammatische Anspruch mit einem Verweis auf die Verwendung des Begriffszur Bezeichnung einer inhaltlich wie literarisch gemischten Form erklaumlren Dochgreift diese Erklaumlrung zu kurz da das Agieren Saturas die literarischen Passagendes Werks beinahe als Travestie erscheinen laumlsst (vgl oben zur Erzaumlhlerfigur) Einbildend-enzyklopaumldisches Werk kann sich allerdings nicht gefahrlos als Satire

So auch Englisch 1994 56 Die bdquoSystematik bei der Praumlsentationldquo erlaube einen leichtenZugriff auf die Informationen Mart Cap 2 201ndash205

142 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

praumlsentieren ohne Zweifel an der Glaubwuumlrdigkeit und Zuverlaumlssigkeit desWerkes und der praumlsentierten Inhalte zu weckensup3⁴sup2

Wenn Martianus auch die Konventionen der Gattung menippeische Satireaufnimmt und sein Werk also nur folgerichtig unter anderem eine unzuverlaumlssigeErzaumlhlsituation aufweist ist dies noch keine Erklaumlrung an sich Die regelkonformeUmsetzung gattungstypischer Anspruumlche erklaumlrt noch nicht die Wahl der Gattungan sich ndash einer Gattung die trotz ihrer Benennung als solche nicht zu denStandardformen und akzeptierten Gattungen zaumlhlte insbesondere nicht fuumlrLehrwerkesup3⁴sup3

Auch Martianusrsquo Verweis auf etwas bislang noch nicht Unternommenes(nescioquid inopinum intactumque 1 2) vermag den Widerspruch nicht zu loumlsenDie Wendung zeigt zwar dass Martianus die Ungewoumlhnlichkeit seines Ansatzesbewusst war (sofern sich die Phrase uumlberhaupt auf die Komposition des Werkesbezieht)sup3⁴⁴ beseitigt aber nicht das interpretatorische Problem ZuwelchemZweckverbindet Martianus also zwei so widerspruumlchliche Gattungen wie Enzyklopaumldieund Satiresup3⁴⁵

Drei Antwortansaumltze lassen sich grob umreiszligen 1 Die Verbindung ist nuraumluszligerlich bzw oberflaumlchlich 2 durch die Verbindung soll ein bestimmter Aspektparodiert und somit Spott und Kritik ausgesetzt werden 3 die Verbindung erfuumlllt

Dieses Problem hat bereits Westra in seinem Aufsatz bdquoThe juxtaposition of the ridiculousand the sublime in Martianus Capellaldquo benannt (Westra 1981) Allerdings beschraumlnkt sich auchdieser Aufsatz auf die Darstellung des Problems und die Zusammenstellung der Belege EineLoumlsung hat Westra nicht anzubieten ndash sein Aufsatz endet mit der eher apologetischen Bemer-kung das Eingestaumlndnis der Unvereinbarkeit von Satire und Lehrwerk durch Martianus in 9 997sei prima facie ein Spiel dahinter stecke jedoch die Absicht Problembewusstsein zu demon-strieren und Verantwortung fuumlr die unterlassene Loumlsung zu negieren bdquoEven though I would claim that prose and verse must be present in an ancient Menippeansatire it must be seen as one of a number of shocking juxtapositions of oppositesldquo (Relihan 198760) ndash In der Folge kann die prosimetrische Form durchaus auch Mittel belehrender Werkewerden vgl Pabst 1994 133 Denkbar (und wohl wahrscheinlich) waumlre auch dass damit die Inhalte besonders desMythos gemeint sind Der Verweis auf Unterhaltung fuumlhrt nicht zum Kern der Frage denn die satirische Formstellt mehr dar als reine Unterhaltung Auch das horazische Diktum ridentem dicere verum quidvetat ndashsbquolachend das Wahre zu sagen ndash was spricht dagegenlsquo (Hor serm 1 1 23) als Kern vonMartianusrsquo Satireverstaumlndnisses greift zu kurz ebenso wie vergleichbare Konzeptionen in derLiteratur Dort geht es bei Belehrung immer um einzelne philosophische Saumltze (nie beispiels-weise um die Vermittlung von Philosophie an sich) Folglich bezeichnet das bdquoverumldquo nichtkognitives Lernen sondern moralisches Der grundlegende Unterschied zur Konzeption desMartianus liegt somit auf der Hand Vgl zu diesem Aspekt im Allgemeinen z B Shanzer 1986c42 und im Speziellen u a Woytek 1986 339ndash345 Keulen 2009 bes Kap 2 und 3

2 De nuptiis als literarisches Werk 143

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

einen literarischen und belehrenden Zweck zugleich Aufgrund der komplexenSachlage und der unmittelbaren Bedeutung der Beantwortung der Frage nachdieser Verbindung fuumlr das Gesamtverstaumlndnis von De nuptiis werden alle Alter-nativen vorgestellt und bewertet

Rein formale Verbindung von Satire und EnzyklopaumldieEventuell laumlsst sich die Mischung aus enzyklopaumldischen und satirischen Ele-menten (mit den zur Satire gehoumlrigen Verspartien) als Sonderform der Varro-Re-zeption bei Martianus auffassenVarro von Reate verfasste sowohl umfangreicheFachliteratur als auch menippeische Satiren Fuumlr beides war er in der Antikebekannt und beruumlhmt ndash doch ist es wahrscheinlich dass Martianus die Werkebereits nicht mehr ndash oder allenfalls nur in Auszuumlgen ndash vorliegen hattesup3⁴⁶ Aus demWissen um die beiden Schaffensbereiche des republikanischen Autors die beideder Unterweisung dienen solltensup3⁴⁷ koumlnnte Martianus auf den Gedanken verfallensein die literarischen Formen und Inhalte in seinem Werk zu verbindensup3⁴⁸Vielleicht saszlig er auch einemMissverstaumlndnis auf indem ermeinte dass Varro seinsatirisches wie enzyklopaumldisches Koumlnnen in nur einem Werk demonstriert habeDies hieszlige jedoch dass Martianus sich der Problematik dieser Verbindung nicht

So aumluszligert sich beispielsweise Kindermann in den Vorstudien seiner Ausgabe der Conso-latio des Laurentius von Durham Er billigt Martianus nur eine sekundaumlre Varro-Kenntnis zu(Kindermann 1969 60) Entschieden verneint wird die Frage von Schievenin (2009f) und Hadotdie vor allem neuplatonische Quellen vermutet (Hadot 2005 149) Schneider jedoch nimmt andass sowohl Augustin als auch Martianus die Disciplinae noch vorliegen hatten (Schneider 1999109 f) und dass die Satiren-Exzerpte des Nonius Marcellus (fl um 400 in Afrika) ebenfalls ausdem Originaltext Varros angefertigt wurden (ibid 96 Anm 12) Abwaumlgend aumluszligert sich Huumlbner2004 passim Vgl Cic ac 1 8 (es spricht Varro)

et tamen in illis veteribus nostris quae Menippum imitati non interpretati quadam hilaritateconspersimus multa admixta ex intima philosophia multa dicta dialectice quae quo faciliusminus docti intellegerent iucunditate quadam ad legendum invitati

Jedoch findet sich in meinen fruumlhen Schriften die ich in kreativer Nachfolge (und nicht nurUumlbersetzung) Menipps mit einer gewissen Heiterkeit benetzt habe vieles aus den Kernbe-reichen der Philosophie beigemengt und vieles das nach Art der Dialektiker gesagt istdamit die weniger Gelehrten es leichter verstuumlnden nachdem sie durch eine Art von Scherzzur Lektuumlre ermuntert worden sind

Vielleicht hatte Martianus diese Stelle sogar im Kopf als er die Anlage von De nuptiis plante So z BWeinreich in der Einleitung zu seiner Uumlbersetzung roumlmischer Satiren bdquoMartianusCapella glaubte gewiszlig ein Varro redivivus zu sein sozusagen die Quintessenz des Gelehrten unddes Satirikersldquo (Weinreich 1962 XCIII) Ebenso Shanzer 1986c 42

144 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

bewusst gewesen sei ndash was ihm sicher nicht gerecht wird Auszligerdem wird so dieBezugnahme auf weitere formale Elemente der menippeischen Tradition und dieuumlbrigen Vorlaumlufer der Gattung mit anderer Konzeption (Lukian Julian) nichtausreichend beruumlcksichtigt

Ebenfalls beim Autor koumlnnte eine zweite Erklaumlrung ansetzen Im Zuge derAbfassung seiner Enzyklopaumldie hat sichMartianus nach horazischer Vorgabe (unddem Beispiel Varros)sup3⁴⁹ um Auflockerung und heitere Elemente bemuumlht Diespontanen Einfaumllle wurden ins Werk integriert und die sich daraus ergebendenInkonsistenzen entweder uumlbersehen oder billigend in Kauf genommen Beideswuumlrde gut zum klassisch negativen Martian-Bild in der Forschung passensup3⁵⁰Abgesehen davon dass Annahmen uumlber das Vorgehen beim Schreiben weitge-hend auf Spekulation beruhensup3⁵sup1 widersprechen drei Beobachtungen dieser Er-klaumlrung Erstens gelingt es Martianus De nuptiis uumlber neun Buumlcher vorauszu-planen so dass am Ende ein ndash zunaumlchst abgesehen von der Satire-Problematik ndashkohaumlrentes Werk entsteht Die Fuumllle der behandelten Themen Motive und lite-rarischen Elemente weist eher auf ein planvolles Arbeiten hin und macht es un-wahrscheinlich dass Martianus Probleme an dieser Stelle nicht wahrgenommenbzw nicht korrigiert haumltte Zweitens ist die Verbindungvon Satire und den anderenElementen nicht nur oberflaumlchlich so dass sie nachtraumlglich eingefuumlgt sein koumlnnteoder sich im Schreibprozess so ergeben haben koumlnnte Da bereits im zweitenKapitel des ersten Buches Satura eingefuumlhrt wirdwar sie von vornherein Teil des

Gemeint ist das beruumlhmte zunaumlchst nur fuumlr die Dichtung relevante prodesse aut delectare(Hor ars 333 f) zu Varro vgl die schon angefuumlhrte Stelle aus Cic ac Vgl z B die sehr bildliche Beschreibung von C S Lewis bdquo[hellip] this universe which hasproduced the bee-orchid and the giraffe has produced nothing stranger than Martianus Capella[hellip] the curiosity shop of his mind [hellip] a chaos beside which the work of Rabelais has unity andthat of Mandeville probabilityldquo (Lewis 1936 78 f) Gleiches gilt fuumlr Spekulationen uumlber eine andere Auffassung von Literatur und ihrenRegeln in Martianusrsquo Zeit oder Umfeld Einerseits kennen wir keine Texte die sich mit De nuptiisvergleichen lieszligen (was per se nichts beweist aber doch Indiziencharakter hat) andererseitshielten sich auch die spaumltantiken Autoren uumlblicherweise an die klassischen Vorgaben Ich teiledaher auch Schneiders Ansicht nicht der die Skepsis an dieser Verbindung allein der modernenLeseerfahrung zuschreibt bdquoWenn den Heutigen diese Kombination der forcierten Gelehrsamkeiteines Curriculums und der spielerisch-saloppen Causerie seltsam beruumlhren mag so waumlre dazuimmerhin schon an ein ciceronisches Dictum zu erinnern non est enim seiunctus iocus a phi-lologia (ad fam 16214) ndash sbquoSpieltrieb und Pedanterie diktieren und widersprechen sich nichtlsquo(sbquoErste Fruumlhschichtlsquo aus Grassrsquo sbquoHundejahrelsquo)ldquo (Schneider 1999 94 Anm 2) Der Verweis aufCicero traumlgt nichts zum Verstaumlndnis von Martianus bei Cicero geht es an der zitierten Stelle umden Ablauf des Tages mit seinem Schuumller der aus ernsteren und heitereren Abschnitten bestehtDaraus folgt nicht dass das Lernen mit Scherz verbunden ist ndash auszligerdem duumlrfte Cicero unteriocus (sbquo[urbaner] Scherzlsquo) anderes verstanden haben als Martianus in seiner Satura bietet

2 De nuptiis als literarisches Werk 145

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Kompositionsplans Drittens hat Schievenin gezeigt dass Martianus keineswegsoberflaumlchlich und eigenwillig arbeitet Durch eine gruumlndliche Untersuchung derSilen-Passage (8 803ndash805) kann er nachweisen dass Martianus ndash wie vieleAutoren vor ihm ndash uumlber ein umfangreiches literarisches Wissen verfuumlgte daraufbei der Abfassung seines Werkes zugreifen konnte und durch gezielte Anspie-lungen neue Bezuumlge herstelltesup3⁵sup2

Satire als Mittel der KritikWaumlhrend die antike Satire (im Gegensatz zur modernen) nicht zwangslaumlufig Kritikan Missstaumlnden uumlben wollte ist diese Moumlglichkeit umgekehrt auch nicht auszu-schlieszligen Martianus koumlnnte also bewusst eine solide Darstellung der Kuumlnste inliterarischem Gewandmit der Gattung der Satire verbunden haben um Zweifel ander Ernsthaftigkeit der uumlbrigen Teile des Werkes zu wecken Er wuumlrde somit einaufklaumlrerisches Interesse verfolgen das zugleich auch unterhaltsame Zuumlge traumlgt

Eine erste Schwierigkeit dieser Lesart von De nuptiis ergibt sich bereits bei derFrage nach dem Objekt der SatireWerden die Wissensinhalte in Zweifel gezogenoder nur die Art ihrer Vermittlung in langen Reden bzwTraktaten Soll der Glaubean die umfassende Einheit des Wissens kritisiert werden oder die Vorstellungsaumlmtliches Wissen lasse sich vermitteln gar kohaumlrent in einem Werksup3⁵sup3 Ist dieVorstellung dass Wissen goumlttlich mache parodiert oder nur die abwegige Vor-stellung dass auf einer Hochzeit solche Reden gehalten werden Oder richtet sichdie Kritik letztlich gegen die Auffassung Philologia als Vorbild zu sehen oder garals Mittlerin alles Wissens ja sogar als Mittlerin zwischen Menschen und Goumlttern

Aus der Tatsache dass das Objekt der Satire keineswegs leicht zu bestimmenist kann nicht gefolgert werden dass in De nuptiis keine Satire vorliege die be-stimmte Sachverhalte kritisiere Aber es kann durchaus gefolgert werden dass eskeine expliziten textinternen Merkmale gibt die das Lesen steuern und den Ge-genstand der Kritik deutlich hervortreten lassen Die Deutungen gehen also vonmodernen Annahmen uumlber das Umfeld bzw die Gedankenwelt von Martianus aus

Im Kern handle es sich um bdquouna narrazione tersa e brillanteldquo verbunden mit einemDickicht an Verweisen Die Silen-Szene habe einen bdquocarattere colto e della dottrina e dellalingualdquo (Schievenin 1984 132) Das Fazit seiner Untersuchung formuliert Schievenin folgen-dermaszligen bdquoIl De nuptiis si rivela dunque opera di vasti orizzonti non solo per lrsquointento dida-scalico che la pervade e che ne determineragrave la fortuna ma anche per la costante presenza nellafabula della tradizione classica e dei suoi echildquo (ibid 136) Vgl zu dieser Stelle auch Bovey2003 275ndash288 ndash Den geschickten Umgang mit mehreren Quellen ndash erzaumlhlerisch wie seman-tisch ndash kann Schievenin auch fuumlr 7 725ndash727 nachweisen (Schievenin 2009e) So z B Relihan 1993 138 bdquoMartianus writes not an encyclopedia but a Menippean satirethat parodies encyclopedic knowledgeldquo

146 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

und weisen zudem meist nicht kleinschrittig auf wie der Interpret zu seiner (oftapodiktisch dargelegten) Ansicht gelangt

Nun folgt daraus noch nicht dass Martianus De nuptiis nicht als kritisierendeSatire konzipiert haumltte die Vielzahl der (wenn auch differierenden) modernenDeutungenweist ja darauf hin Zwei Uumlberlegungenwenn auch keine schlagendenBeweise lassen die Hypothese der parodierenden Satire unwahrscheinlich wer-den der Umfang von De nuptiis und seine Rezeption Eine Satire die beispiels-weise die Verbindung von Weltwissen und menschlicher Vervollkommnung in-frage stellt benoumltigt nicht noch eine umfassende Darlegung eben diesenWissensDies gilt besonders da diese Darlegung den Hauptteil des Werks ausmacht und ndashzumindest dem Umfang nach ndash die uumlbrigen Partien weit uumlberragt Eine Deutungvon De nuptiis als kritischer Satire muumlsste also besonders die Frage beantwortenzu welchem Zweck die umfangreichen Darstellungen der Freien Kuumlnste aufge-nommen sind (und nicht nur angedeutet werden)

Die Rezeption eignet sich zwar ebenfalls nicht zu sicheren Ruumlckschluumlssen aufdie originale Intention eines Werkes haumlufig bietet sie aber interessante EinblickeDie Martianus-Rezeption stellt sich bald ein Cassiodor beruft sich in seinen In-stitutiones auf ihn Dort erscheint Martianus nicht als Satiriker oder Zeitkritikersondern als Gelehrtersup3⁵⁴ In dieser Tradition wird Martianus auch im Mittelaltergelesen und rezipiertsup3⁵⁵

Aumlhnliches laumlsst sich fuumlr Boethiusrsquo Anknuumlpfen an die prosimetrische Form inder Ausgestaltung von Martianus sagen Boethius verfasst zweifelsfrei keine kri-tische Satire kann aber trotzdem an die Form und den Inhalt von De nuptiisproblemlos anknuumlpfen Sowohl der Form nach wie auch durch einzelne Zitatemacht er deutlich dass erDe nuptiis kennt und als eine seiner Vorlagen benutzt Esist zu bezweifeln dass Boethius in seinem Bemuumlhen um eine adaumlquatewerbendeDarstellung der Philosophie auf Form und Zitate des Martianus zuruumlckgegriffenhaumltte haumltte er nicht die Moumlglichkeit der gefahrlosen Uumlbernahme gesehen

Satirische Elemente als Mittel der BelehrungDer dritte Erklaumlrungsansatz fuumlr die Verbindung von Satire und Belehrung be-trachtet die Wahl Saturas als Figur und die Bezugnahme auf die Gattung zunaumlchst

Cassiod inst 2 2 17 Zur mittelalterlichen Martianus-Rezeption vgl bes Nuchelmans 1950 Lutz 1971 und 1976Willis 1973 sowie die Ausgaben und Literatur u a zu folgenden Werken Konrad von MureFabularius Hugo von Sankt Victor Didascalicon de studio legendi Johannes von SalisburyMetalogicon Kindermann kann weiterhin nachweisen dass De nuptiis auch durch seine Forminspirierend gewirkt hat (Kindermann 1969 61 f)

2 De nuptiis als literarisches Werk 147

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

als reine Fortsetzungder literarischen Form Fuumlr diese spezielle Formder Literaturdie menippeische Satire hat der russische Literaturwissenschaftler MichailBachtin Beobachtungen aufgestellt die auch fuumlr De nuptiis zutreffen Durch denRuumlckgriff auf zwei zentrale Konzepte Bachtins das Karnevaleske und die Dialo-gizitaumlt wird ein Verstaumlndnis von De nuptiis ermoumlglicht

Auf der Suche nach Vorlagen und Urformen der Gattung des Romans ins-besondere in der Form von Dostojewskis Romanen stieszlig Bachtin unter anderemauch auf die menippeische Satire die er bis in die Antike zuruumlckverfolgtesup3⁵⁶ Zuihren Vertretern zaumlhlt er unter anderem Varro Apuleius Petron Seneca oderLukiansup3⁵⁷ Martianus Capella wird nicht erwaumlhnt was aber nicht verwundernmuss da Bachtin keine Literaturgeschichte der menippeischen Satire schriebsup3⁵⁸

Kern der Uumlberlegungen Bachtins zurmenippeischen Satire ist das Konzept desKarnevals Unter Karneval versteht er folkloristische Feste waumlhrend deren diebestehende Ordnung verkehrt wird uumlbliche Regeln nicht mehr gelten Herr-schende gestuumlrzt und Machtlose maumlchtig werden ndash auf Zeit Die Karnevalisierungalso die Uumlbernahme der Kennzeichen dieses Festes in neue oder bestehende li-terarische Formen institutionalisiert diese Ausnahmesituation und loumlst sie vomkonkreten Fest Der so entstandene Text wird bdquozum karnevalesken Spiel an demder Autor und sein Publikum einverstaumlndlich teilhaben und das keines kalen-darisch oder institutionell abgesicherten Karnevalsrahmens mehr bedarfldquosup3⁵⁹

Diese Karnevalisierung fuumlhrt unter anderem zu einer Vielstimmigkeit vonMeinungen und Positionen im Text z B durch mehrere Figurenvon denen keinebevorzugt oder gar als autoritativ gekennzeichnet wird In dieser Dialogizitaumlt wirdkein allgemein guumlltiger Sinnmehr vermittelt sondern dieWahrheit suspendiertsup3⁶⁰

Dass der Bezug auf karnevalsartige Feste der Gattung menippeische Satire (inTeilen auch der Verssatire) eignet zeigt ein kurzer Blick auf wichtige Vertreter derTradition

Julians Symposion Caesares spielt zur Zeit der Saturnalien Die Bedeutungdieses Festes fuumlr das Werk wird dadurch verdeutlicht dass es den Handlungs-

Bachtin 1971 126ndash 135 Bachtin 1971 126 128 132f Kritik an den z T pauschalisierenden und verfaumllschenden Aussagen Bachtins uumlber antikeLiteratur oder an der ununterbrochenen Traditionslinie von der Antike bis in die Moderne (z BRelihan 1987 59 Lachmann 2006 23ndash25) muumlsste auch auf manche moderne Literaturwissen-schaftler in der Nachfolge Bachtins angewandt werden (vgl Branham 2005 6 wo es uumlberSenecas Apocolocyntosis heiszligt bdquoour only extant Menippean satire in Latinldquo) Teuber 1993 182 Eine gut verstaumlndliche Einfuumlhrung in das Konzept der Dialogizitaumlt im Sinne der bach-tinschen Terminologie bietet Sharland 2010 Einfuumlhrung (1ndash51)

148 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

rahmen fuumlr den in der Folge erzaumlhlten Mythos bildet Bereits im ersten Satz wirdauf das Fest und die Tradition Heiteres frei zu erzaumlhlen Bezug genommensup3⁶sup1

Auch Senecas Apocolocyntosis stellt einen engen Bezug zum Saturnalienfesther Das Werk spielt zwar nicht an den Saturnalien sondern am Todestag desClaudius im Oktober doch wird an zwei Stellen eine Verbindung zwischen derHerrschaft des verstorbenen Kaisers und den dargestellten Sitten waumlhrend derRegierungszeit mit dem Saturnalienfest gezogensup3⁶sup2 Manche Interpreten gehensogar davon aus dass die Apocolocyntosis an den Saturnalien des Jahres 54vorgetragen wurdesup3⁶sup3 Auch bei Petron und Horaz finden sich Bezugnahmen aufdie Saturnaliensup3⁶⁴

Ein zentrales Element des Saturnalienfestes liegt in der Suspension der uumlb-licherweise geltenden Normen und Wertesup3⁶⁵ Neben den anderen Elementen desFestes wie sie z B in Macrobiusrsquo Saturnalia (1 7ndash 10 1 24 22 f) beschriebenwerden (traditionelle Geschenke Festmahl fuumlr die Sklaven etc) hat gerade dieUmkehrung der Herrschaftsverhaumlltnisse im Haus Niederschlag in der Literaturgefunden

Gerade durch diese Rolleninversion treten einige wichtige gesellschaftlicheNormvorstellungen und Grundannahmen prominent hervor Dazu zaumlhlt das Be-wusstsein dass es eine befehlende und eine ausfuumlhrende Gruppe von Menschengibt oder dass im Prinzip ein Rollenwechsel moumlglich sein kann Alle Beteiligten

Ἐπειδὴ δίδωσιν ὁ θεὸς παίζειν ndash ἔστι γὰρ Κρόνια ndash hellip (sbquoDa der Gott das Scherzen erlaubt ndashes sind ja die Kronia helliplsquo Caes 1 = 306a Spanheim) Zur Frage ob es sich bei Caesares auch umdas Werk handle auf das zu Ende der Rede auf Koumlnig Helios verwiesen wird (Or in Sol reg 44 =157c Spanheim) vgl Muumlller in seiner Uumlbersetzung (39 ablehnend) und Lacombrade im Vorwortseiner Budeacute-Ausgabe (3 und 18 Anm 3) der aufgrund des Handschriftenbefundes Kronia auchals Titelbestandteil fuumlr die Caesares uumlbernimmt Es handelt sich um Sen apocol 8 1 (Claudius als Saturnalienprinz) und 12 2 (Herrschaftdes Claudius als andauerndes Saturnalienfest) ndash Dass Lukian nicht auf die Saturnalien alsRahmen fuumlr seine Werke zuruumlckgreift entwertet die Beobachtungen nicht Lukian musste auf-grund seines Selbstbewusstseins als satirischer Schriftsteller und aufgrund der Menge seinersatirischen Schriften nicht jedes Mal einen eigenen literarischen Rahmen herstellen in demeinzelne Dialoge stattfinden konnten Das Saturnalienfest selbst erscheint bei Lukian als Ge-genstand der Satire nicht als deren literarische Rahmung (Τὰ πρὸς Κρόνον) Zuerst bei Furneaux 1896 23 Anm 11 In der neueren Forschung vgl bes Nauta 1987Kritisch dazu u a Doumlpp 1993 159 f Petron 44 3 58 2 69 9 zu Horaz vgl z B serm 2 7 (libertas Decembris) Ein gelungenesBeispiel der Anpassung und Anwendung der bachtinschen Konzepte mit Ertrag fuumlr die Inter-pretation unter Einbezug von serm 2 7 bietet Sharland 2010 Distelrath 1999 114 Vgl weiterhin Versnel 1993 136ndash227 und Doumlpp 1993 Eine plastischeSchilderung der Rollenvertauschung bei der der Sklave dem Herrn die Leviten liest bietet Horserm 2 7

2 De nuptiis als literarisches Werk 149

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Herren wie Sklaven spielen also mit den Moumlglichkeiten einer alternativen Wirk-lichkeit

Das Besondere im Spiel mit den Moumlglichkeiten liegt aber in seiner zeitlichenBegrenzung Nach der Zeit des Ausnahmezustands gelten wieder die normalenimmer guumlltigen Regeln Die Rolleninversion erlaubt also ndash oder erzwingt gera-dezu ndash das Nachdenken uumlber bestimmte gesellschaftliche Normen und Wertvor-stellungen Durch die Ritualisierung und enge zeitliche Begrenzung ist darausjedoch keineswegs die Notwendigkeit entstanden die Verhaumlltnisse tatsaumlchlich zuhinterfragen oder gar zu aumlndern Daher lassen sich die Saturnalien auch als ein dieKonventionen bestaumlrkendes Fest verstehen Das Spiel mit der Moumlglichkeit eineranderen Gesellschaftsordnung hat durch seine Ritualisierung letztlich eine dieTradition legitimierende Funktion bekommen

In De nuptiis finden sich jedoch houmlchstens spaumlrliche Hinweise auf das Sa-turnalienfest Am ehesten weist das grob scherzende Agieren Saturas in diesenBereich Die bdquolangen Winternaumlchteldquo (1 2) koumlnnten (statt als Bezug auf Gellius) alsAnspielung auf das Saturnalienfest verstandenwerden ndash die Saturnalien finden inden laumlngsten Naumlchten uumlberhaupt statt seit der Kaiserzeit vom 17 bis 23 DezemberDies ndash wie die Spekulation uumlber eine spielerische etymologische Verbindung vonSatura und Saturnaliensup3⁶⁶ ndash ist aber insofern nicht von Belang da die Gattung alsGanze karnevaleske Zuumlge traumlgt und als gewissermaszligen institutionalisierter Kar-neval vom eigentlichen Fest losgeloumlst istsup3⁶⁷

Die Aufhebung der uumlblichen Ordnung (was Teuber im Ruumlckgriff auf Limina-litaumltskonzepte als praumlliminale Phase bezeichnet)sup3⁶⁸ beginnt mit der VorbereitungPhilologias zum Aufstieg in den Himmel Bereits das Erbrechen stellt eine mar-kante Umkehrung der alltaumlglichen Welt dar Statt sich Wissen anzueignen er-bricht Philologia es nun In der Goumltterversammlung auf der Milchstraszlige ist dieOrdnung sodann voumlllig verkehrt Philologia als Meisterin aller Disziplinen und

Zwar sind die einschlaumlgigen etymologischen Woumlrterbuumlcher skeptisch (v a WaldeHof-mann 2007 II 482 neutral ErnoutMeillet 2001 596) jedoch gibt es dahin gehende moderneDeutungen (aufgefuumlhrt bei WaldeHofmann 2007 II 482) und auch antike ParallelisierungenCic nat deor 2 64 Saturnus hellip est appellatus quod saturaretur annis (sbquoSaturn hellip wurde ergenannt weil er an Jahren gesaumlttigt istlsquo) Fulg myth 1 2 (p 17 16) a saturando Saturnus dictusest (sbquoDa er (die Menschen) saumlttigt wurde er Saturn genanntlsquo) Aug cons euang 1 23 35 Sa-turnus tamquam satur hellip νοῦς (sbquoSaturn gleichsam der gesaumlttigte hellip νοῦςlsquo) Vgl auch Gowers diedie etymologischen Verbindungen von satura Satyrspiel und Saturnalien untersucht (Gowers1993 109ndash 117) Sie kommt zu dem Befund dass keine Verbindung bestehe wohl aber verbin-dende Elemente identifiziert werden koumlnnten bdquocarnival licence parody uninhibited mockeryand excessive consumptionldquo (ibid 117) Vgl z B Teuber 1993 183 f Teuber 1993 183

150 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

bedeutende Lehrinstanz muss sich ihrerseits belehren lassen ndash mit dem Wissendas urspruumlnglich ihres war

Durch die Inversion wird die (vielleicht uumlblicherweise nicht prominente)Philologia in den Mittelpunkt geruumlckt und ihre zentrale Rolle im Wissenssystemtritt markant vor Augen Gleichzeitig kann darin eine leise Anfrage an ihre Lehr-autoritaumlt und eventuell auch ihre Eignung zur Lehre gesehen werden

Aufgrund des zeitlich begrenzten Rahmens der Verkehrung (diemit dem Endeder Vortraumlge voruumlber ist aber nicht explizit zuruumlckverwandelt wird) dessen Be-grenztheit durch Bezug auf die Form der menippeischen Satire ergaumlnzt werdenkann wird das System der Bildung und der Bildungsvermittlung jedoch nichtgrundsaumltzlich infrage gestellt Die Suspendierung Philologias ist temporaumlr

Dem Konzept der Dialogizitaumlt oder Mehrstimmigkeit folgend erklaumlrt sich auchdie Doppelung und Verunklarung der Erzaumlhlinstanz In den drei Dialogen indenen Satura und Martianus aufeinandertreffen behandeln sie die Frage desrichtigen Erzaumlhlens Dies beschraumlnkt sich nicht nur auf die Satire sondern umfasstalle auftretenden literarischen Formen Martianus und Satura sind sich uneinswie weit der Mythos reichen soll und ob eine Enzyklopaumldie trocken oder auchunterhaltsam erzaumlhlt werden soll (2 219ndash3 222) ob ein Symposion auch Zechenund Spaszlig vertraumlgt (8 803ndash810) oder ob und wie stark Satire Dinge vermischendarf (9 997ndash 1000)

Die unterschiedlichen Meinungen zu den Fragen werden zwar diskutiert undfuumlhren zu einem Ergebnis ndash der Erzaumlhlfluss versiegt ja an keiner Stelle oder setztneu an Allerdings entsteht in der Folge kein homogenes Werk und am Schlussmag keiner der beiden Erzaumlhler dafuumlr die Verantwortung uumlbernehmen Der Wi-derwillen sich zu dem Werk zu bekennen bedeutet aber gleichzeitig auch dassMartianus sich nicht festlegt welche Position er fuumlr die richtige haumllt Die Fragenach der rechten Art der Wissensvermittlung die auch in der Ent- und Inthroni-sierung Philologias anklang bleibt unbeantwortet

Schlieszliglich bringt der Blick auf die Aurelian-Vita aus der Historia Augustanoch einen weiteren Aspekt ein Parallel zur Aufteilung der Erzaumlhlinstanzen in Denuptiiswird der Erzaumlhlprozess in derHistoria Augusta aufmehrere AutorenverteiltWie zuerst Hermann Dessau und in der Folge Ronald Syme nachdruumlcklich gezeigthaben handelt es sich allerdings um nur einen Verfasser der uumlberdies auch inBezug auf die Abfassungszeit falsche Angaben gemacht hat und Quellen erfundenhatsup3⁶⁹ Insofern laumlsst sich der in der Historia Augusta gepraumlgte Begriff der

Auf den Charakter der Sammlung die Syme u a als bdquohoaxldquo bezeichnet (1983a 11 1983b13 1983c 219) die fingierten Autoren die manipulierten Quellen etc soll an dieser Stelle nurhingewiesen werden Vgl auch Cameron 2011 Kap 20 mit ausfuumlhrlicher Diskussion relevanterFragen

2 De nuptiis als literarisches Werk 151

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mythistoria der Vermischung von Mythischem und Historischem auch auf dieSammlung selbst anwendensup3⁷⁰

Als Menippee im engeren Sinne laumlsst sich weiterhin die Aurelian-Vita die 26Vita der Sammlung fassen und bezeichnenderweise spielt die Rahmenhandlungan denHilariasup3⁷sup1Wie zu den Saturnalien gehoumlren zu diesem Fest Scherze und ndash imRahmen von Maskierungen ndash Rollenwechselsup3⁷sup2

Noch in der rahmenden Einleitung zur Vita spielt sich folgender Dialog ab

1 et quoniam sermo nobis de Trebltellgtio Pollione qui a duobus Philippis usque ad divumClaudium et eius fratrem Quintillum imperatores tam claros quam obscuros memoriaeprodidit in eodem vehiculo fuit adserente Tiberiano quod Pollio multa incuriose multabreviter prodidisset me contra dicente neminem scriptorum quantum ad historiam pertinetnon aliquid esse mentitum prodente quin etiam in quo Livius in quo Sallustius in quoCornelius Tacitus in quo denique Trogus manifestis testibus convincerentur pedibus insententiam transitum faciens ac manum porrigens iocando[m] praeterea sbquoscribelsquo inquit sbquout

quae ille [scil Iunius Cordus] omnia exsequendo libros mythistoriis replevit talia scribendocum omnino rerum vilium aut nulla scribenda sint aut nimis pauca si tamen ex his morespossint animadverti qui re vera sciendi sunt hellip sed ex parte ut ex ea cetera colligantur(SHA Opil 1 5)

Bei der Anfuumlhrung von all diesen Informationen hat er die Buumlcher mit fabuloumlsen Ge-schichten angefuumlllt indem er Dinge von dieser Art schrieb wo doch uumlberhaupt keinenutzlosen Dinge geschrieben werden duumlrfen oder nur sehr wenige sofern daraus Verhal-tensweisen erkannt werden koumlnnen die wirklich wissenswert sind hellip aber zum Teil(schreibe ich) damit daraus das Andere gefolgert werden kann

quid Marius Maximus homo omnium verbosissimus qui et mythist[h]oricis se voluminibusinplicavit num ad istam descriptionem curamque descendit (SHA Quadr tyr 1 2)

Wie Hat sich Marius Maximus der groumlszligte Schwaumltzer vor dem Herrn der sich in seinenmythistorischen Werken verfangen hat etwa zu dieser Art der Darstellung und des sorg-faumlltigen Arbeitens herabgelassen

Hilaribus quibus omnia festa et fieri debere scimus et dici impletis sollemnibus vehiculo suome hellip Iunius Tiberianus accepit (SHA Aurelian 1 1)

An den Hilaria an denen alles zum Fest Gehoumlrende getan und gesagt werden muss wieman weiszlig empfing mich nach Erledigung der Zeremonien Iunius Tiberianus in seinemGefaumlhrt

Pausch bemerkt dieses besondere Datum zwar und erwaumlgt ob es sich um ein bdquoweitergehendesLesesignalldquo beispielsweise im Sinne karnevalesker Literatur handeln koumlnne verfolgt diese Spuraber nicht weiter (Pausch 2011 130 Anm 1) Herodian 1 10 5 ndash Einige Hinweise auf die Hilaria die im Kontext des Magna Mater-Festesam 25 Maumlrz gefeiert wurden bietet Fraser in seinem Kommentar zu Ovids Fasti (Fraser 1929244ndash248)

152 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

libet 2 securus quod velis dices habiturus mendaciorum comites quos historicae elo-quentiae miramur auctoreslsquo (SHA Aurelian 2 1ndash2)

1 Und weil unser Gespraumlch uumlber Trebellius Pollio der von den beiden Philippi bis zumvergoumlttlichten Claudius und dessen Bruder Quintillus gleichermaszligen uumlber beruumlhmte wieunbekannte Kaiser fuumlr die Nachwelt schrieb in derselben Saumlnfte stattfand behauptete erdass Pollio vieles ohne Sorgfalt und nur kurz dargelegt habe Ich erwiderte dass keinSchriftsteller sofern es um die Geschichte gehe nicht irgendwo gelogen habe und legtesodann dar worin sogar Livius Sallust Tacitus schlieszliglich sogar Trogus mit eindeutigenBelegen uumlberfuumlhrt werden koumlnnten Darauf sagte Tiberianus schlieszliglich scherzend indem ermeiner Meinung beipflichtete und mir seine Hand darbot bdquoSchreibe sowie du es fuumlr richtighaumlltst 2 Sage unbesorgt was du willst du wirst diejenigen als Gefaumlhrten fuumlr deine Taumlu-schungen haben die wir als Schoumlpfer historiographischer Beredsamkeit bewundernldquo

So sympathisch dieser Anspruch auch erscheinen mag ist er doch fuumlr das Ver-trauen in die Gattung der Geschichtsschreibung fatal Gerade in der Einleitungeiner Vita jedoch ndash zumal es der Fiktion nach die erste des Flavius Vopiscus Sy-racusius im Corpus der Historia Augusta ist ndash kann eine solche Anekdote ei-gentlich keinen Platz haben Sie erweckt beim Leser den Eindruck dass er dennachfolgend dargebotenen Informationen kein Vertrauen schenken duumlrfesup3⁷sup3

Die Parallelen zwischen der Historia Augusta insbesondere dem Vorgehen inder Vita Aureliani und De nuptiis liegen auf der Hand Verunklarung der Autor-schaft bzw der Erzaumlhlhaltung einerseits Erwecken von Zweifeln an der Glaub-wuumlrdigkeit des Dargebotenen andererseits

In der Historia Augusta sind die Inkongruenzen mit der Freude des Autors amliterarischen Spiel erklaumlrt worden Der Autor habe aus Freude am Fabulieren(vielleicht auchumein dafuumlr empfaumlngliches Publikum zu befriedigen) die Viten indieser Form verfasstsup3⁷⁴ Mag man dies fuumlr die Historia Augusta noch zugestehenderen Text uumlber einen laumlngeren Zeitraum vielleicht zunaumlchst ohne eine Gesamt-konzeption entstanden ist und auch sprachlich nicht herausragt stellt sich derSachverhalt fuumlr Martianusrsquo De nuptiis anders dar Das Werk hat durchaus einenliterarischen Anspruch und es folgt eindeutig einer vorab geplanten Gesamtan-lage Die Freude am Spiel mag vielleicht manches Detail beigesteuert haben fuumlrdie verschraumlnkte Anlage des Textes ist sie aber keine Erklaumlrung

Ganz anders ist der Anspruch zum Ende der Darstellung der Viten der bdquoDreiszligig Tyrannenldquoin dem der Autor beteuert seinem Werk mangele es zwar an literarischer Ausgefeiltheit nichtjedoch an Faktentreue da nunc cuivis libellum non tam diserte quam fideliter scriptum ndash sbquoGibnun dieses Buumlchleinwem du magst es ist nicht so sehr kunstvoll geschrieben wie es sachgetreuistlsquo (SHA Quadr tyr 33 8) Syme nennt dies bdquodeceit for its own sweet sakeldquo (1983c 217) Im gleichen Aufsatz spe-kuliert er auch uumlber das Interesse des Publikums an einer solchen Art von geistigem Spiel(ibid 221)

2 De nuptiis als literarisches Werk 153

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Es lohnt sich jedoch auch fuumlr die Historia Augusta einen Schritt weiter zugehen Ausgangspunkt dafuumlr ist die obige Beobachtungdass das literarische Spielder Historia Augusta nur durchschaut wer die Werke der historischen Literaturkennt Durch die Lektuumlre historiographischer Biographien bringt der Leser einebestimmte Leseerwartung also implizite Vorstellungen mit wie das Werk aus-sehen soll und wird Diese Erwartungen werden aber nicht oder nur teilweisebedient Formal gesehen weisen die Viten in der Historia Augusta zwar die Cha-rakteristika der Gattung auf ndash doch indem sie sie inhaltlich nicht adaumlquat aus-fuumlllen treten deren Konventionen vor Augen

Durch die uumlbermaumlszligige Verwendung falscher Verweise und erfundener Quel-len geraumlt zudem das Beglaubigungsverfahren historischer Texte in den Blick-punkt Der Leser erkennt anwelchen Stellenwelche Beglaubigungsmechanismenansetzen und auf welche Weise sie unterlaufen werden koumlnnen Uumlberspitzt lieszligesich behaupten DieHistoria Augusta verfolgt ein aufklaumlrerisches Interesse indemsie (spielerisch) aufzeigt welche Beglaubigungsverfahren die Geschichtsschrei-bung nutzt und wie sie manipuliert werden koumlnnen dadurch wird auch die Ma-nipulierbarkeit von Geschichte und Leser deutlich

In De nuptiis werden ebenfalls die Konventionen der Einzelgattungen ndash zu-mindest ansatzweise ndash hervorgehoben Dass kein perfektes Musterbeispiel derjeweiligen Einzelgattung entstehen kann liegt darin begruumlndet dass durch dieVerbindung der vier literarischen Genres keine oberflaumlchliche Konsistenz derFiktion entstehen kannVielmehr entstehen Bruumlche die ndash ebenso wie die Bruumlchein der Erzaumlhlhaltung ndash auch die Gattungskonventionen und ihre Annahmendeutlich werden lassen Dies gilt besonders fuumlr die Satire deren Vorgehen imKontrast zur eigentlichen Hochzeitshandlung aus dem Rahmen faumlllt und somitbesonderes Augenmerk erhaumllt Hinzu tritt mit der Figur Satura auch eine Perso-nifikation der Gattung die in theoretischen Diskussionen Annahmen und Vor-gehen mit Martianus eroumlrtert Grunduumlberlegungen der Gattung Satire werden sotheoretisch eroumlrtert und praktisch erprobt Gleiches giltwenn auch zT inwenigerdeutlicher Form auch fuumlr die anderen Formen Die Enzyklopaumldie in ihren langenMonologen wird durch Spott markiert die trockenen Kuumlnste werden probeweisedurch Allegorien zugaumlnglicher gemacht im Symposiondialog wird uumlberlegt in-wieweit uumlbliche Rollenmuster (der Zecher) einen Platz haben oder wie weit mandie fuumlr die Feier typischen Reden fuumlhren kann und immythischen Teil wird durchdie Gegenuumlberstellung mit dem handfesten Wissensbetrieb die Andersartigkeitdes Erzaumlhlens deutlich

So werden neben den Inhalten der Wissenschaften auch verschiedene lite-rarische Formen bewahrt Neben der reinen Anwendung und somit Tradierungwerden gleichzeitig auch die Mechanismen verdeutlicht deren sich die jeweilige

154 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Gattung bedient Somit wird ihr Funktionieren nachvollziehbar und in der Folgeauch nachahmbar

3 Zusammenfassung

Martianus weckt also durch die Wahl mehrerer gleichberechtigter Erzaumlhler diesomit das Erzaumlhlen unzuverlaumlssig werden lassen besonders aber durch dieUumlbernahme satirischer Gattungselemente ein Bewusstsein fuumlr die traditionellenGrundlagen desWissens- und Lehrsystems seiner Zeit ImGegensatz zur Satire diediese Fragen kategorisch stellt handelt es sich in De nuptiis um ein Spiel damitDer Satirebezug dient als Anknuumlpfung an die traditionellen Gattungsmerkmaleder menippeischen Satire Karnevaleske und Dialogizitaumlt

Durch die (temporaumlre) Rolleninversion richtet sich das Augenmerk aufPhilologia als Wissenszentrum und Wissensmittlerin und fordert zum Nach-denken daruumlber heraus Im Kern hinterfragt das Werk alle Bereiche die mit Bil-dung und Bildungsvermittlung zu tun haben Was sind die Inhalte wahrer Bil-dung Gibt es eine Einheit von Bildung Wie kann sie vermittelt werden

Allerdings zielt die Kritik nicht auf eine Aufloumlsung klassischer Bildungsinhalteund Vermittlungsformen Sie regt vielmehr durch Scherz und Bruumlche zumNachdenken uumlber diese Fragen an Dabei verzichtet Martianus auf eigene Vor-schlaumlge und Konzepte und festigt so gleichsam den traditionellen Bildungs-betrieb Das von ihm dargestellte Wissen wird kanonisiert und die Darstel-lungsform in langen Reden wird es auch Die mittelalterliche Rezeption von Denuptiis zeigt dies eindrucksvoll

Wissen umfasst dabei nicht nur das Faktenwissen der Vortraumlge sondern auchdas Wissen um bestimmte literarische Formen Durch die Verbindung von vierGattungen und die Doppelung der Erzaumlhlerfigur mit Reflexion uumlber angemessenesErzaumlhlen entstehen Inkonsistenzen die die Konventionen der einzelnen Gattun-gen hervortreten lassen Nicht alle Elementewerden auf dieseWeise deutlich aberMartianus bietet einen Ansatzpunkt die Fiktion auch unter der Fragestellung zulesen was einen Text der jeweiligen Gattung ausmacht ndash sowohl positiv wie ne-gativ formuliert

Mit seiner kreativen Konzeption und ihrer literarischen Umsetzung gelingt esMartianus eindrucksvoll Heiteres und Belehrendes zu verbindenwomit er an dieTradition Varros und die klassische antike Poetik anknuumlpft Es gelingt ihm daruumlberhinaus aber auchWissen zu vermitteln und die traditionellen Vorstellungen vonder Bedeutung dieses Wissens wie der Form seiner Vermittlung herauszustellenSpielerisch wird also gelehrt und hinterfragt nicht jedoch kategorisch kritisiertoder kuumlhn neu entworfen Gerade dadurch zeichnet sich Martianusrsquo De nuptiis

3 Zusammenfassung 155

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

tatsaumlchlich als nescioquid inopinum intactumque (sbquoetwas Ungewohntes und nochnie Gewagteslsquo 1 2) aus und macht es zu einem der bedeutendsten Buumlcher derSpaumltantike und zu einer interessanten Quelle fuumlr die Frage nach Bildungsvor-stellungen im fuumlnften Jahrhundert

156 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Page 18: Bildungsvorstellungen im 5. Jahrhundert n. Chr. (Macrobius, Martianus Capella und Sidonius Apollinaris) || III Martianus Capella, De nuptiis Philologiae et Mercurii

Stelle zu Beginn des vierten Buches Nachdem zunaumlchst allgemein erlaumlutert wirddass die Weisen vermoumlgen was sie wollen die Schlechten jedoch nicht(cons 4 1 131ndash140) folgt in Versen eine Reihe plastischer Beispiele fuumlr die These(cons 4 carm 2) bevor der Gedanke fortgesponnen wird (cons 4 3 1ndash4)

An anderen Stellen uumlbernehmen die metrischen Partien eine Gliederungs-funktion indem sie Gedanken abschlieszligen und durch die Unterbrechung Zeit zurErholung bieten So sagt Philosophia zu ihrem Schuumller Boethius

bdquosed uideo te iam dudum et pondere quaestionis oneratum et rationis prolixitate fatigatumaliquam carminis exspectare dulcedinem accipe igitur haustum quo refectus firmior inulteriora contendasldquo (Boeth cons 4 6 200‐203)

bdquoAber ich sehe dass du bereits vom Gewicht der Untersuchung belastet und von der Breiteder Beweisfuumlhrung erschoumlpft auf die suumlszlige Erholung eines Liedes wartest nimm also denTrank damit du solchermaszligen erfrischt kraumlftiger zu den weiteren Themen eilen kannstldquo

In dieser zweiten Funktion setzt auch Martianus die metrischen Partien ein Dabeisind sie nicht in die Prosadarstellung eingeschoben sondern markieren fastausschlieszliglich die Buchanfaumlnge und Buchenden Explizites Ziel ist die Belebungdes Werkes um eine angenehme Lektuumlre zu erleichternsup3sup1sup3 Dies widersprichtMartianusrsquoAnkuumlndigung nach der hinleitenden Erzaumlhlung in denBuumlchern 1 und 2keine fiktionalen Erzaumlhlungen mehr einfuumlgen zu wollen die Darstellung solleernst und dem Gegenstand angemessen sein

nunc ergo mythos terminatur infiuntartes libelli qui sequentes asserentnam fruge vera omne fictum dimoventet disciplinas annotabunt sobriaspro parte multa nec vetabunt ludicra (2 220)

Nun also hat der Mythos sein Ende erreicht es beginnen die Buumlcher die die nun anschlie-szligenden Kuumlnste darbieten Denn mit wahrhaftiger Ernte entfernen sie alles Erdichtete undzeichnen die Kuumlnste nuumlchtern auf verbieten jedoch nicht gelegentliche Unterhaltung

stehen sie am Ende von Einzelabschnitten wo sie diese dann rekapitulieren und fuumlr densbquoSchuumllerlsquo zusammenfassen Bisweilen kommt ihnen auch eine Uumlberleitungsfunktion zuldquo (Kin-dermann 1969 63) ndash Zur Gattung allgemein allerdings mit besonderem Fokus auf die mittel-alterliche Literatur vgl Pabst 1994 bes 105ndash 133 zum Prosimetrum bei Martianus und 158ndash 195bei Boethius sowie Dronke 1994 bes Kap 2 (bdquoAllegory and the mixed formldquo) So auch McDonough der im Kapitel bdquoThe function of the poetryldquo zu Recht (aber zu kurzgreifend) formuliert bdquoIn undertaking the compilation of his encyclopedia the main challenge toMartianus lay in maintaining the interest of his readers (and himself) in making palatable thearid factual account of the various disciplinesldquo (McDonough 1968 37)

2 De nuptiis als literarisches Werk 131

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Scheint es an dieser Stelle so als ob Mythos und Heiteres getrennte Dinge waumlrenzeigt der unmittelbare Fortgang zu Beginn von Buch 3 dass beide Begriffe letztlichAumlhnliches bezeichnen Hier am Beginn der Schilderung der freien Kuumlnste(3 221 f) erlaumlutert Martianus in einem weiteren Gedicht das als Dialog gestaltetist warum er von seinem Plan abweicht

Camena bringt Schmuck fuumlr das Werk mit (amicta fictis commenta ferre) AufMartianusrsquo Einwand keine Mythen mehr vorbringen zu wollen (mythi pulsi) er-widert sie es gehe nicht um Luumlge (nil mentiamur) sondern um Einkleidung(vestiantur Artes) ndash man koumlnne die Brautjungfern also die Allegorien der freienKuumlnste doch nicht nackt vorfuumlhren Daraufhin gibt sich Martianus geschlagenund die Handlung von Buch 3 beginnt

Abgesehen von der unterhaltenden Funktion die besonders durch die Ge-dichte an den Buchenden gewaumlhrleistet wird scheinen die metrischen Passagenfuumlr viele Forscher wahllos in das Werk eingestreut Typisch ist eine Aussage wieCrabbe sie trifft bdquoMartianus uses verse frequently at the beginning sometimes atthe end of books and erratically throughoutldquosup3sup1⁴

Natuumlrlich kann von einer systematischen Verteilung und einer argumenta-tionslogischen Anordnung wie bei Boethius nicht gesprochen werden Bei ge-nauerem Hinsehen wird jedoch deutlich dass die metrischen Abschnitte nichtwillkuumlrlich uumlber das Werk verstreut sindsup3sup1⁵

Die meisten metrischen Passagen finden sich in den Buumlchern 1 und 2 von Denuptiis Diese Buumlcher enthalten die einleitende Handlung die als fiktionale Er-zaumlhlung dargeboten wird Im Bericht von der Suche Merkurs nach der richtigenEhefrau und von Philologias Aufstieg in den Himmel finden sich neun metrischePassagen Es handelt sich dabei bis auf die drei Faumllle der an den Buchanfaumlngen(Buch 1) und Buchenden (Buch 1 und 2) stehenden Gedichte um Reden vonGoumlttern Diese fuumlhren die Handlung fort und dienen also nicht der Buumlndelung derGedanken oder der Erholung des Lesers Stattdessen scheint es Martianus darumzu gehen das Sprechen der Goumltter durch die metrische Gebundenheit als be-

Crabbe 1981 264 Eine Typisierung die z T von der Position der metrischen Passagenlosgeloumlst ist bietet McDonough seiner Ansicht nach sind die metrischen Partien hauptsaumlchlichfunktional bdquoThe poetry thus is primarily functional although this function varies from book tobookldquo (McDonough 1968 38) Als Funktionen benennt er fuumlr Buch 1 Handlungsfortfuumlhrung fuumlrBuch 2 Schmuck fuumlr Buch 3 Belehrung fuumlr den Rest Einfuumlhrung oder Entlassung derBrautjungfern oder Unmut uumlber Verzoumlgerung der Hochzeit Der Rest seien bdquooccasional piecesldquo(ibid 40) ndash Verspartien finden sich am Anfang der Buumlcher 1 2 3 4 5 6 7 und 9 sowie am Endeder Buumlcher 2 4 5 7 und 9 Die ungleiche Verwendung der Metra bei Boethius und Martianus laumlsst sich am besten alsEntwicklung verstehen wie es beispielsweise Kindermann (1969 60) tut Zur Kenntnis desMartianus bei Boethius vgl oben Anm 311

132 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

sonders zu markieren Dies gilt vor allem fuumlr markante Szenen zum Beispiel dieRede Jupiters in der Goumltterversammlung gegen Ende des ersten Buches (1 91ndash93)oder die orakelartige Auskunft Apolls (1 21 f)

Diese Beobachtung gilt daruumlber hinaus ebenso fuumlr die genannten Stellen inBuch 9 auch wenn es sich dort nicht um die Vorgeschichte oder einen weiterenliterarischen Rahmen handelt Jedoch ist eine Szene mit Goumlttergespraumlchen ein-geschoben in der die Goumltter unter anderem auch Verse verwenden Durch dieseReden in metrisch gebundener Form soll den entsprechenden Buumlchern also einehoumlhere Wuumlrde verliehen werden

Einen zweiten Fall stellen die Gedichte zu Beginn oder zu Ende eines Buchesin den Buumlchern 3 bis 9 dar In diesen Buumlchern praumlsentieren die Freien Kuumlnste ingeschlossenem Vortrag die Inhalte ihrer Wissenschaft Die Gedichte in einigenFaumlllen in auktorialer Erzaumlhlhaltung gestaltet uumlberbruumlcken die Fuge zwischen denBuumlchern und bieten eine Pause zwischen den langen Vortragspartien der Leserkann sich erholen Die Inhalte der Verspartien sind unterschiedlich es handeltsich zumeist um den Ein- oder Auszug einer Brautjungfer (4 327 4 423 f 8 8028 808 9 911ndash919) um die Fortfuumlhrung der Hochzeitshandlung (5 425 8 8059 888) um die Anrufung eines Gottes (6 567ndash574) oder um eine Wendung desAutors an den Leser (5 566 9 997ndash 1000)

Dieser Einsatz der Verspartien ist jedoch noch keine hinreichende Erklaumlrungfuumlr die Wahl des Prosimetrums Sie erklaumlrt sich besonders dadurch dass Marti-anus auf diese Weise sein Werk in die Traditionslinie von Texten einreiht die alsmenippeische Satiren bezeichnet werdensup3sup1⁶

Charakteristisch fuumlr diese spezielle Form der roumlmischen Satire ist der Wechselvon metrischen und prosaischen Partiensup3sup1⁷ Klassische lateinischsprachige Ver-treter der menippeischen Satire sind Varro (Saturae Menippeae) Seneca (Apo-colocyntosis) und Petron (Satyrikon) in der griechischen Literatur nutzen Lukianund Julian (Caesares) diese Form Inhaltlich lassen sich nur wenige Verbindungenzwischen den Werken ziehen und auch die Umsetzung der formalen Elemente istunterschiedlich Dies fuumlhrt sogar so weit dass sich moderne Forscher trotz derbereits antik bezeugten Bezeichnungder Gattung teilweise auszligerstande sehen dieGattung genauer zu definieren oder dass sie ihre Fragestellung losgeloumlst von derGattungstradition verfolgensup3sup1⁸ Dies macht die Verortung von De nuptiis in diesemGenre nicht leichter

Zur menippeischen Satire vgl Relihan 1993 Coffey 1996 Im Gegensatz dazu beschraumlnkt sich die Verssatire seit Horaz auf die Verwendung desHexameters So betont Scheible im Vorwort ihrer Studie zu den Gedichten in Boethiusrsquo de consolationedass sie Vorgaben der Tradition in Hinblick auf die Gedichte nicht beruumlcksichtige ndash sie lieszligen

2 De nuptiis als literarisches Werk 133

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Gelegentlich wird sogar die These vertreten dass sich das satirische ElementinDe nuptiis in dieser formalen Verbindung von Prosaund Poesie erschoumlpfesup3sup1⁹DerGattungsbegriff sbquomenippeische Satirelsquo waumlre dann identisch mit der BezeichnungsbquoProsimetrumlsquo Dem widersprechen jedoch verschiedene Beobachtungen derRuumlckgriff auf die Etymologie des Wortes satura die Bezugnahme auf Vertreter derGattung und das Auftreten einer Figur namens Satura sowie deren Agieren dasuumlber die rein formale aumluszligerliche Satireform hinausweist schlieszliglich die beson-dere Gestaltung der Erzaumlhlsituation Diese vier Elemente sollen im Folgendenherausgearbeitet werden

Etymologie ndash Dass Martianus sein Werk sehr wohl als Satire verstanden wissenwill wird an verschiedenen Stellen deutlich Dies geschieht zum Beispiel durchgelehrte Anspielungen auf die Terminologie der antiken Satire an prominenterStelle So heiszligt es in 9 998

[Satura] haec quippe loquax docta doctis aggeransfandis tacenda farcinat immiscuitMusas deosque disciplinas cyclicasgarrire agresti cruda finxit plasmate

So haumluft sie plappernd Gelehrtes auf Gelehrtes und stopft geheimes und bekanntes Wissenzusammen hatMusenundGoumltter vermischt undhat sich erdacht dass die enzyklopaumldischenDisziplinen in einem baumlurischen Machwerk unreifes Zeug daherplappern

Die Woumlrter farcinat und immiscuit verweisen auf das Zusammenstopfen undVermischen verschiedener Zutaten z B in einer Wurst oder Pastete Gleiches giltfuumlr die Woumlrtermiscillo und aggeranssup3sup2⁰ Ausgangspunkt fuumlr diese Terminologie istdie Etymologie desWortes sbquoSatirelsquo an sich bedeutet urspruumlnglich etwaswie sbquobunteMischunglsquosup3sup2sup1 Traditionell sind Anspielungen auf diese Etymologie in der satiri-

sich nicht feststellen (Scheible 1972 8) Vorhandene Untersuchungen beschreiben in der Regeldie Konstituenten der einzelnen Werke Aufgrund der geringen Zahl uumlberlieferter Werke und dergroszligen Unterschiede zwischen ihnen ist es jedoch schwierig die typischen Elemente der Gat-tung zu benennen Auch diese Arbeit schlieszligt sich dem beschreibenden Vorgehen an undvergleicht an einschlaumlgigen Stellen inwieweit die Beobachtungen auch fuumlr die Gattung typischsind So z B Coffey der die Mischung aus Prosa und Poesie bei Martianus als bdquomiscellanyldquobezeichnet und vor einer Verbindung von De nuptiis mit der Satire als problematisch warnt(Coffey 1996 959) Vgl Relihan 1993 14 ErnoutMeillet s v satur -ra -rum (2001 596) WaldeHofmann s v satura (2007 II482f) Der zentrale Hinweis auf eine Ableitung des Wortes aus dem kulinarischen Bereich findet

134 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

schen Literatur selten Allein in Juvenal findet sich ein Hinweis darauf gleichwohlmit leicht anderem Verstaumlndnis Er betrachtet die Zusammenstellung der Satirenals farrago also als Mischgericht nicht die einzelne Satiresup3sup2sup2

In diesen sehr bildlichen Wendungen trifft Martianus gleichzeitig eine Aus-sage uumlber sein Verstaumlndnis der Darstellung von Bildungswissen Bei ihm gibt eskeine vorverdauten und mundgerecht aufbereiteten Wissenspaumlckchen (wie Ma-crobius sie bietet)sup3sup2sup3 sondern rohe Kost (cruda) die ihre Zutaten d h die lite-rarischen oder inhaltlichen Urspruumlnge nicht leugnet LeMoine formuliert prauml-gnant bdquoBy calling attention to the literary functions these metaphors fulfillMartianus hellip raises questions about the principles of seamless synthesis andverbal regurgitation which Macrobius so effectively demonstratesldquosup3sup2⁴

Dass Martianus durch diese Art der Darstellung seine Autoritaumlt infrage stelle(bdquohellip reveal doubts about the competence of the cook and the quality of the edu-cational feastldquo)sup3sup2⁵ laumlsst sich jedoch nicht erkennen Schlieszliglich benennt er seinVorgehen explizit (scheitert also nicht an einem gesteckten Plan) und bietetgleichzeitig mit der Kritik an der klassischen Form der Wissensvermittlung eineMoumlglichkeit an wie nicht-vereinheitlichte Wissensvermittlung aussehen kannBeeintraumlchtigungen des Vertrauens zum Erzaumlhler und zu den Inhalten gibt esallerdings ndash jedoch aufgrund anderer Faktorensup3sup2⁶

Bezug auf andere Satiriker ndash Neben den Anspielungen auf die Etymologie derGattung Satire treten explizite Bezuumlge auf andere Autoren menippeischer Satirenauf Namentlich wird jedoch keiner der Vorgaumlnger genannt die Nennung Varroserfolgt ausschlieszliglich in den Vortraumlgen der Brautjungfern und bezieht sichuumlberwiegend auf Varros fachschriftstellerische Werke oder seinen Ruf als Enzy-klopaumldistsup3sup2⁷

sich beim Grammatiker Diomedes (Grammatici Latini 1 485) Ausgehend von dieser Passageeroumlrtert Petersmann die Etymologie mit besonderer Beruumlcksichtigung des Ursprungs des Wortessatura aus dem Kuumlchenbereich (Petersmann 1986) Iuv 1 86 nostri farrago libelli Vgl die Kommentare Morton Braund 1996 95 f undCourtney 1980 103 Vgl die Gleichnisse in der praefatio zu den Saturnalia (Sat praef 5ndash9) und die Ausfuumlh-rungen in Kap II1 sowie die dort aufgefuumlhrte Literatur LeMoine 1991 360 ibid S u die Abschnitte bdquoErzaumlhlinstanzenldquo und bdquoDeutungen der komplexen literarischen Formldquo 4 335 (die Gelehrsamkeit Varros vgl Cic ac 1 9 Aug civ 6 2) 5 517 (Nennung in einemZitat) 6 639 und 6 662 (Fragen der Geographie die Varro-Vorlage ist nicht bekannt) 9 928 (cfVarro rust 3 17 4) Vgl zum Verhaumlltnis von Martianus und Varro bes Bovey 2003 Kap 2 (bdquoLaquestion varronienneldquo) und Schievenin 2009f

2 De nuptiis als literarisches Werk 135

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Allerdings zitiert die Wendung ὄνος λύρας in 8 807 den Titel einer menip-peischen Satire Varrossup3sup2⁸ Die Wendung ist in der lateinischen Literatur ander-weitig nicht belegt weshalb davon auszugehen ist dass Martianus hier auf denrepublikanischen Satiriker direkt zuruumlckgriff Da die Wendung zudem im Streit-gespraumlch zwischenMartianus und Satura uumlber die angemessene Art des Erzaumlhlensder Geschichte faumlllt kommt ihrer Verwendung eine programmatische Aussage zuMartianus stellt sich und sein Werk also in die Nachfolge Varros und seiner Sa-tiren

Ein Bezug auf Lukian ist weniger sicher nachzuweisensup3sup2⁹ Allerdings gibt eseine motivische Uumlbernahme im zweiten Buch von De nuptiis Philologias Erbre-chen des Wissens das der Hochzeit vorausgeht hat eine Parallele in LukiansDialog Lexiphanes Der allzu (ein)gebildete Lexiphanes nimmt auf Draumlngen vonLycinus ein Brechmittel ein das ihm der Arzt Sopolis gibt Daraufhin erbricht eralle Woumlrter die er gelernt hat dies ist die Voraussetzung dafuumlr dass er nun an-gemessen belehrt werden kannsup3sup3⁰

Es handelt sich um die Fragmente Varro Men 348ndash369 In Fragment 349 findet sich dieWendung auch im Vers (si quis μελωδεῖν est ὄνος λύρας praesepibus se retineat forensibus ndashsbquower beim Gesang wiersquon Esel an der Harfe bloumld der bleib getrost im Stallmief seines Forumsdortlsquo [Uumlbs Krenkel]) Die Bezugnahme auf Varro ist umso wahrscheinlicher da Satura unmit-telbar zuvor sowohl Martianusrsquo berufliche Aufenthalte auf dem Forum erwaumlhnt und ein Wort-spiel mit seinem Namen Capella angestellt hat ndash der zwar nicht sbquoEsellsquo bedeutet wohl aber einHaustier (sbquoZiegelsquo)Vgl dazu Shanzer 1968c 38ndash40 Shanzer 1986a kritisch dazu Pabst 1994 168(m Lit) Folgt man Bovey handelt es sich bei der unmittelbar folgenden Wendung καιρὸν γνῶθιum einen weiteren Verweis auf den Titel einer Varro-Satire γνῶθι σεαυτόν (= Varr Men 199ndash210 vgl Bovey 2003 282ndash284) Naumlher liegt wohl dass Martianus Capella diese eigenstaumlndigeSentenz (vgl Diogenes Laertios I 79 der sie als Sentenz des Pittakos ausweist) aus einer anderenQuelle uumlbernommen hat Kindermann 1969 60 Shanzer geht davon aus dass Martianus Lukian kannte (Shanzer1986c 36) Zur Diskussion um Martianusrsquo Griechischkenntnisse vgl Cristante 2009 [5] undShanzer 1986c 4 die beide annehmen dass Martianus durchaus Griechisch beherrschteShanzer weist einige Stellen auf an denen Martianus woumlrtlich uumlbersetzt und schlieszligt aus derBeherrschung des Griechischen zu Recht auf einen gebildeten moumlglicherweise sogar akade-mischen Hintergrund von Martianus Lucian Lex 20f Andere antike Texte die das Erbrechen von Wissen als Teil des Reini-gungsprozesses beschreiben oder als Bild tradieren sind mir nicht bekannt Daher ist eswahrscheinlicher dass Martianus auf Lukian im Original zuruumlckgegriffen hat Zur vor-byzantinischen Rezeption Lukians vgl Nesselrath 1994 der spaumltantike Bezuumlge auf Lukian u abei Julian und Claudian aufzeigt ndash Einen Bezug auf Lukians Concilium deorum fuumlr moumlglich haumlltKrapinger 1999 962 ndash Anders gelagert sind Lucian cont 7 und Aug in Joh ev tract 36 1 Dortgeht es darum dass durch das Ausspeien Wissen weitergegeben wird was zum Bild der daserbrochene Wissen aufsammelnden Artes passt nicht jedoch zum Motiv der Reinigung

136 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Bezuumlge auszligerhalb der Uumlbernahme uumlblicher Gattungselemente lassen sich fuumlrSenecas Apocolocyntosis Petrons Satyricon oder Julians Caesares nicht konsta-tierensup3sup3sup1

Die Figur der Satura und ihr Handeln ndash Einer der deutlichsten Hinweise auf dieForm der Satire liegt im Auftreten einer Figur namens Satura Diese Figur wirdzunaumlchst von Martianus als Erzaumlhlinstanz eingefuumlhrt (1 2) von der er den Inhaltvon De nuptiis erfahren haben will Im Laufe des Werks gewinnt Satura aber anProfil und agiert zunehmend autonom

Aussagen uumlber Satura beruhen letztlich auf drei Stellen in De nuptiis (6 576ndash5798 806ndash8109997ndash999) und koumlnnen fast ausschlieszliglich aus der Formund derBotschaft ihrer eigenen Aumluszligerungen gewonnen werden An allen drei Stellendiskutiert Satura mit Martianus Ansonsten ist Satura zwar als praumlsent zu denkenwird aber nicht weiter thematisiert

Nach Martianusrsquo Anrufung Minervas zu Beginn des sechsten Buches mischtsich Satura in seine Uumlberlegungen ein welche Frauen er vor sich sehe Die Ein-mischung wird von Martianus als scherzend bezeichnet (iocabunda 6 576) dieEinmischung an sich als typisch fuumlr das Scherzen Saturas (ut lepidula est 6 576)Die Aumluszligerung Saturas beginnt mit Spott uumlber Martianusrsquo nur scheinbare KlugheitDurch falsche naumlchtliche Studien und besonders seine Anwaltstaumltigkeit habe erden Blick auf das Wichtige verloren und erkenne nun nicht einmal mehr Philo-sophia und Paideia Der Scherz wird jedoch alsbald von einem belehrendenTonfall abgeloumlst in dem Satura Martianus uumlber das Wesen der beiden Frauenaufklaumlrt

Satura tritt als Naumlchstes zu Beginn des achten Buches auf in der Folge derSilen-Szene Der angetrunkene Silen war eingeschlafen und durch Amor aufge-schreckt worden was die uumlbrigen Goumltter laut lachen lieszlig (8 803ndash805) DieseSchilderung provoziert bei SaturaWiderspruch da sie das Erzaumlhlte als unpassendfuumlr die Goumltterversammlung empfindet Ihre Kritik beginnt wieder bei der Persondes Martianus dessen Namen sie als passend zu seinem Wesen deutet (Capella ~sbquoZiegelsquo 8 806) Sodann fordert sie Martianus auf seine Possen zu unterlassenMartianus fuumlhlt sich gehoumlrig von Satura gemaszligregelt und gibt klein bei bemerktaber dass sie ansonsten mehr von Scherzen halte (alioquin lepidula 8 807) AlsSatura dann die Einfuumlhrungder eintretenden Brautjungfer in Versenvorbringt undMartianus wiederum seine Scherze (ludicra 8 808) vorhaumllt kann dieser nicht

Mit Julian verbindet Martianus immerhin die Ansiedlung der Goumltterversammlung auf derMilchstraszlige ndash Zur Rolle der Saturnalien vgl den Abschnitt bdquoDeutungen der komplexen litera-rischen Formldquo

2 De nuptiis als literarisches Werk 137

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mehr an sich halten und zahlt Satura ihre Kritik in gleicher Muumlnze heim Nacheinigem Spott uumlber Saturas Verse verteidigt nun Martianus das Recht auf Scherzgegen sie die an sich ndash nicht aber in De nuptiiswie es scheint ndash eigentlich fuumlr denScherz zustaumlndig waumlre und gibt ihr mit Martial (2 41 1) den Rat auch einmal zulachensup3sup3sup2

Ein letzter Schlagabtausch von Satura und Martianus erfolgt schlieszliglich amEnde des Werkes Wiederum streiten beide Figuren miteinander und halten sichmit Spott uumlber das Wesen des anderen nicht zuruumlck

Die Einfuumlhrung Saturas die ja nur in Verbindung ndash und das heiszligt Ausein-andersetzung ndash mit Martianus erscheint dient vornehmlich der deutlichenBenennung der Gattung und der Verstaumlndigung daruumlberwas den Charakter einessatirischen bzw des vorliegenden Werkes ausmache Erstaunlich ist dabei Mar-tianusrsquo Entwicklung der sich zunaumlchst gegen Unterhaltung im artes-Teil ausge-sprochen hatte diese spaumlter aber gegen den censorischen Eingriff Saturas imachten Buch verteidigt Noch erstaunlicher ist aber dass es gerade Satura ist diezur Beachtung des Decorums auffordert und Martianusrsquo vergleichsweise mildenScherz scharf tadelt

Erzaumlhlinstanzen ndash Die Frage nach der Erzaumlhlsituation bzw der Erzaumlhlerfigurgehoumlrt zu den grundlegenden Analysekriterien eines literarischenWerkes ebensowie die Konzipierung von Raumund Zeit Lassen sich die letzten beiden Punkte imHinblick auf De nuptiis hinreichend klaumlrensup3sup3sup3 so bietet die Erzaumlhlerfigur groumlszligereSchwierigkeiten

DassDe nuptiis zwei Erzaumlhlinstanzen hat scheint zu Beginn desWerkeswenigdramatisch In 1 2 verweist der Erzaumlhler Martianus gegenuumlber seinem Sohn dar-auf dass die folgende Geschichte (also der uumlberwiegende Teil von De nuptiis) ihm

Ride si sapis o puella ride Schievenin bietet eine gruumlndliche Analyse dieser Stelle auchmit Blick auf die inverse Vorlage Martials (plora si sapis o puella plora Mart 2 41) derwiederum auf Ovid (Ov ars 3 281 f) zuruumlckgreift (Schievenin 1984 bes 136 ausfuumlhrlich auchBovey 2003 275ndash288) Die Rahmenhandlung spielt in der erzaumlhlerischen Gegenwart und in einem unbestimmtenRaum der jedoch nicht auszligergewoumlhnlich ist es liegt nahe an Karthago und das Haus desMartianus Capella zu denken Die eigentliche Handlung spielt an z T unwirklichen Orten aufder Erde die zumeist nicht naumlher bestimmt sind (z B Philologias Herkunft) und auf derMilchstraszlige wobei die absolute Zeit nicht genannt wird aber aufeinanderfolgende Tage inihrem Ablauf erkannt werden koumlnnen Die Phantastik einzelner Szenen die meist auf alle-gorische Darstellungsweisen zuruumlckgeht verletzt jedoch nicht die raumlumliche oder zeitlichePlausibilitaumlt des Dargestellten Vgl dazu auch die Ausfuumlhrungen und grafischen Veranschau-lichungen LeMoines (1972a)

138 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

waumlhrend langer Winternaumlchte (eine Anspielung auf Gellius)sup3sup3⁴ von Satura be-richtet wurde Der antike wie moderne Leser duumlrfte sich wohl kaum daran stoszligensondernwird darin vor allem eine Inspiration des Autors durch Satura (auchwennes das zuvor noch nicht gab) erkennen Bei der Erwaumlhnung von Satura koumlnnte erHeiteres erwarten oder bunt gemischte Geschichten

Vollkommen verwirrt wird der Leser hingegen spaumltestens dann wenn er amEnde des Werkes in der Sphragis angekommen ist (9 997ndash 1000) Dort reflektiertMartianus sein literarisches Vorgehen in den vorausgegangenen neun Buumlcherngenauer gesagt distanziert er sich von der Form der Darstellung (Umfang Bunt-heit) und verweist auf die Verantwortung Saturas die die Geschichte erzaumlhlt habe

Habes anilem Martiane fabulam 997Miscillo lusit quam lucernis flamineSatura Pelasgos dum docere nititurArtes daggercagris vix amicas AtticisSic in novena decidit voluminahaec quippe loquax docta doctis aggerans 998fandis tacenda farcinat immiscuitMusas deosque disciplinas cyclicasgarrire agresti cruda finxit plasmate (9 997 f)

Da hast du Martianus eine Altweibergeschichte sie verfertigte im Spiel mit vermischterInspiration [d h in Prosa und Vers] bei Kerzenschein Saturawaumlhrend sie sich bemuumlhte diePelasger zu lehren die Kuumlnste die den Griechen kaum freundlich [d h neu] sindSo gelangte sie hinab bis zum neunten Buch haumluft plappernd Gelehrtes auf Gelehrtes undstopft geheimes und bekanntes Wissen zusammen hat Musen und Goumltter vermischt und hatsich erdacht dass die enzyklopaumldischen Disziplinen in einembaumlurischenMachwerk unreifesZeug daherplappern

So ungewoumlhnlich dieses Vorgehen auch ist ndash Martianus haumltte ja den Bericht Sa-turas als Grundlage nehmen und dann nach eigenem Geschmack umgestaltenkoumlnnen ndash wird es uumlbertroffen durch die Verteidigung Saturas Sie weist die Ver-antwortung fuumlr die Art der Erzaumlhlung von sich und verteidigt sichmit demHinweisauf Martianusrsquo intellektuelle Schwaumlche der sie die Ausfuumlhrungen habe anpassenmuumlssen

Vgl Gell praef 4 zur Erklaumlrung der Wahl des Titels Noctes Atticae fuumlr sein Werk

Sed quoniam longinquis per hiemem noctibus in agro sicuti dixi terrae Atticae commentationeshasce ludere ac facere exorsi sumus idcirco eas inscripsimus noctium esse Atticarum hellip

Aber weil wir in langen Naumlchten den Winter uumlber in Attika auf dem Landwie schon gesagtdiese Anmerkungen im Spiel und dann ernsthaft begonnen haben daher haben wir ihnenden Namen Attische Naumlchte gegeben hellip

2 De nuptiis als literarisches Werk 139

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

haec ipsa nauci rupta conscientia 999turgensque felle ac bili bdquomulta chlamydeprodire doctis approbanda cultibuspossemque comis utque e Martis curia[hellip]ab hoc creatum Pegaseum gurgitem 1000decente quando possem haurire poculoldquo (9 999 f)

Sie sagte aufgrund ihres Wissens um die Nichtigkeit (dieser Ausfuumlhrungen) verletztschwellend vor Bitterkeit und Zorn bdquoIch koumlnnte hier freundlich auftreten mit einem Gewandbekleidet lobenswert durchgelehrtes Verhaltenwie aus der VersammlungdesMars [Es folgtdie Schilderung der unguumlnstigen Anlagen von Martianus] ndash Wann koumlnnte ich mit ange-messenem Becher aus einem pegasischen Strom von ihm erschaffen schoumlpfenldquo

Somit hat das Werk das zu Beginn zwei hierarchisch geschiedene Erzaumlhler zuhaben scheint am Ende zwei Erzaumlhler die sich gleichberechtigt uumlber die Form dererzaumlhlten Geschichte streitensup3sup3⁵

Die Inkonsistenzen auf der Erzaumlhlebene setzen sich daruumlber hinaus fort HatteMartianus zu Beginn des Werks gesagt Satura habe ihm die Geschichte waumlhrendlangerWinternaumlchte erzaumlhlt so treten Satura undMartianus amEnde desWerks inder erzaumlhlerischen Gegenwart gemeinsam auf und sprechen beide nacheinanderzu Martianusrsquo Sohn

Weiterhin erscheinen Satura und Martianus innerhalb der Geschichte dieMartianus angeblichvon Satura gehoumlrt hatWaumlhrend die Goumltter denverschiedenenBrautjungfern lauschenwohnen auch SaturaundMartianus der Versammlungbeiund betrachten sie als unbeteiligte ZuschauerWie aus einer Theaterloge herauskommentieren und diskutieren sie das Geschehen das auf der bdquoGoumltterbuumlhneldquostattfindetsup3sup3⁶

Noch einen weitergehenden Schritt stellt die Silen-Szene zu Beginn des achtenBuches dar Im Anschluss an diese Szene beschwert sich Satura bei Martianus erkoumlnne die Goumltter nicht auf dieseWeise agieren lassen In der Folge entspinnt sich einGespraumlch in demMartianus seine Art des Erzaumlhlens gegen Satura verteidigt die fuumlreine zuruumlckhaltendere Darstellung plaumldiert (s o)Von der Fiktion dass Martianusseinem Sohn bloszligwiedergibtwas Satura ihm erzaumlhlt hat bleibt nichtmehr viel dieganze Szenerie ist ein Produkt der ErfindungdesMartianus gleichzeitigwohnt er ihraber gemeinsam mit Satura bei ist also Teil der Handlung

So bereits Pabst 1994 120 Anm 119 der allerdings auf eine Diskussion der Beobachtungverzichtet Es handelt sich um die Stellen zu Beginn des sechsten und des achten Buches die imvorigen Abschnitt bereits paraphrasiert wurden

140 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Diese Art der Spiels mit der Erzaumlhlerrolle wird von manchen modernen For-schern als ein wichtiges Merkmal der menippeischen Satire angesehen Hinzu-treten kann die Selbstherabsetzung des Erzaumlhlers die sich an seinemmangelndenWissen Stilbewusstsein Traditionsempfinden o auml entzuumlndetsup3sup3⁷ Folglich kanndie zunaumlchst befremdliche Brechung und Verzerrung als weiteres Merkmal derGattung menippeische Satire bestimmt werden

Aufgrund dieser Beobachtungen ist es zwingend in De nuptiis vor allem eineSatire zu sehen Auch der heiter-spoumlttische Charakter einiger Passagen zwischenden Vortraumlgen der Brautjungfern passt zum satirischen Anspruch Gelegentlicherscheint es jedoch fraglich ob es sich wirklich um satirische und nicht eher umkomische oder derbe Spaumlszlige handelt Die Szene in der Silen betrunken einschlaumlftund von den anderen Goumlttern verspottet wird (8 803ndash805) erinnert mit ihremSlapstick eher an den derben Spott der Komoumldie als an die Satire eines Varrosup3sup3⁸

22 Deutungen der komplexen literarischen Form

Wie laumlsst sich das Werk De nuptiis nun also formal beschreiben oder andersgefasstWie lassen sich die vier literarischen Traditionsstraumlnge zusammenfuumlhrenDass eine einheitliche Lesung zumindest versucht werden muss zeigt bereits dasLeitmotiv der Hochzeit ansup3sup3⁹

Im Kern handelt es sich bei MartianusrsquoWerk um eine Sammlung bedeutenderWissensschaumltze in einem einzigen Werk die darin systematisch ausgebreitetwerden Dies zeigt die Einteilung in verschiedene Disziplinen die ein ver-

Zur Erzaumlhlerrolle in der menippeischen Satire vgl u a Relihan 1993 und darin bes S 35 Mit der Aufnahme unterhaltsamer Elemente ginge Martianus sogar noch uumlber dieErwartungen an ein sbquosatirischeslsquo Werk hinaus Auch Boethius wird bescheinigt er erzaumlhle seineConsolatio bdquoper satiramldquo auch wenn bei ihm weder eine Figur Satura auftritt noch allzu vielHeiterkeit herrscht (Peiper zitiert in der Einleitung zu seiner Ausgabe S xxxi eine mittelalter-liche Boethius-Vita vgl Kindermann 1969 61)

hos libros [scil de consolatione Philosophiae] per satiram edidit imitatus videlicet mar-cianum felicem capellam qui prius libros De nuptiis philologiae et mercurii eadem speciepoematis conscripserathellip

Diese Buumlcher schrieb er als Satire freilich in Nachahmung des Marcianus Felix Capellader zuvor die Buumlcher uumlber die Hochzeit der Philologie mit Merkur in der gleichen Art vonGedicht verfasst hatte

Zum Motiv der Hochzeit das bereits programmatisch im eroumlffnenden Hymnus anHymenaeus erscheint vgl Schievenin 2009c und Cristante in der Einleitung seiner Ausgabe1987 3ndash 10

2 De nuptiis als literarisches Werk 141

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

gleichsweise leichtes Auffinden der Informationen erlaubtsup3⁴⁰ die Bedeutung wirdangesichts der Praumlsentation vor den Goumlttern auf der Milchstraszlige deutlich Alleinder Umfang dieser Vortraumlge die in sich auch nicht gestoumlrt oder gebrochenwerdenmarkiert dass es sich hier um das zentrale Charakteristikum des Werkes handelt

Den erzaumlhlerischen Anlass fuumlr diese Praumlsentation bietet eine Hochzeitsfeieralso ein Symposion hier ist die Gelegenheit fuumlr die groszligen Redebeitraumlge gegebenZudem bietet die SymposionformAnknuumlpfungspunkte fuumlr eine Rahmenhandlungdie zur Auflockerung der ebenso ausfuumlhrlichenwie trockenen Einzelreden genutztwird

Doch bleibt es ndash im Gegensatz z B zu Macrobius ndash nicht bei der bloszligenDarstellung der Wissensinhalte Hinzu tritt die allegorische Darstellung der Be-deutung von Wissen und von Fleiszlig beim Wissenserwerb in den ersten beidenBuumlchern Die praumlsentierten Inhalte der Buumlcher 3ndash9 (die Philologia ja bereits aufder Erde in Buch 2 besitzt) sindwichtig Sie sind nicht nur wichtig fuumlr das irdischeLeben (das wird nicht weiter thematisiert die explizit irdischen Wissenschaftenwie Architektur und Medizin werden sogar ausgeschlossen) ndash die Inhalte sindauch wichtig fuumlr die menschliche Vervollkommnung

Durch das angesammelte Wissen erreicht der Mensch zwar nicht die voll-kommene Erkenntnis (die erhaumllt auch Philologia nur ohne eigenes Zutun als sieauf der houmlchsten Himmelssphaumlre angekommen zum Vatergott in der jenseitigenGluumlckseligkeit betet) wohl aber ein goumlttergleiches Wissensup3⁴sup1 Der Wissenserwerbist gewissermaszligen die Voraussetzung dafuumlr dass der Mensch mit Hilfe einesgoumlttlichen Begleiters in den Himmel aufsteigen kann unsterblich wird und voll-kommene Einsicht erlangt

Die so weit kohaumlrente Verbindung der literarischen Traditionen laumlsst aller-dings den explizit satirischen Anspruch von De nuptiis auszliger Betracht durch denMartianus selbst das Werk primaumlr in die Gattung der Satire einordnet waumlhrendvergleichbare Bezuumlge zu anderen Gattungen fehlen Natuumlrlich lieszlige sich dieserprogrammatische Anspruch mit einem Verweis auf die Verwendung des Begriffszur Bezeichnung einer inhaltlich wie literarisch gemischten Form erklaumlren Dochgreift diese Erklaumlrung zu kurz da das Agieren Saturas die literarischen Passagendes Werks beinahe als Travestie erscheinen laumlsst (vgl oben zur Erzaumlhlerfigur) Einbildend-enzyklopaumldisches Werk kann sich allerdings nicht gefahrlos als Satire

So auch Englisch 1994 56 Die bdquoSystematik bei der Praumlsentationldquo erlaube einen leichtenZugriff auf die Informationen Mart Cap 2 201ndash205

142 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

praumlsentieren ohne Zweifel an der Glaubwuumlrdigkeit und Zuverlaumlssigkeit desWerkes und der praumlsentierten Inhalte zu weckensup3⁴sup2

Wenn Martianus auch die Konventionen der Gattung menippeische Satireaufnimmt und sein Werk also nur folgerichtig unter anderem eine unzuverlaumlssigeErzaumlhlsituation aufweist ist dies noch keine Erklaumlrung an sich Die regelkonformeUmsetzung gattungstypischer Anspruumlche erklaumlrt noch nicht die Wahl der Gattungan sich ndash einer Gattung die trotz ihrer Benennung als solche nicht zu denStandardformen und akzeptierten Gattungen zaumlhlte insbesondere nicht fuumlrLehrwerkesup3⁴sup3

Auch Martianusrsquo Verweis auf etwas bislang noch nicht Unternommenes(nescioquid inopinum intactumque 1 2) vermag den Widerspruch nicht zu loumlsenDie Wendung zeigt zwar dass Martianus die Ungewoumlhnlichkeit seines Ansatzesbewusst war (sofern sich die Phrase uumlberhaupt auf die Komposition des Werkesbezieht)sup3⁴⁴ beseitigt aber nicht das interpretatorische Problem ZuwelchemZweckverbindet Martianus also zwei so widerspruumlchliche Gattungen wie Enzyklopaumldieund Satiresup3⁴⁵

Drei Antwortansaumltze lassen sich grob umreiszligen 1 Die Verbindung ist nuraumluszligerlich bzw oberflaumlchlich 2 durch die Verbindung soll ein bestimmter Aspektparodiert und somit Spott und Kritik ausgesetzt werden 3 die Verbindung erfuumlllt

Dieses Problem hat bereits Westra in seinem Aufsatz bdquoThe juxtaposition of the ridiculousand the sublime in Martianus Capellaldquo benannt (Westra 1981) Allerdings beschraumlnkt sich auchdieser Aufsatz auf die Darstellung des Problems und die Zusammenstellung der Belege EineLoumlsung hat Westra nicht anzubieten ndash sein Aufsatz endet mit der eher apologetischen Bemer-kung das Eingestaumlndnis der Unvereinbarkeit von Satire und Lehrwerk durch Martianus in 9 997sei prima facie ein Spiel dahinter stecke jedoch die Absicht Problembewusstsein zu demon-strieren und Verantwortung fuumlr die unterlassene Loumlsung zu negieren bdquoEven though I would claim that prose and verse must be present in an ancient Menippeansatire it must be seen as one of a number of shocking juxtapositions of oppositesldquo (Relihan 198760) ndash In der Folge kann die prosimetrische Form durchaus auch Mittel belehrender Werkewerden vgl Pabst 1994 133 Denkbar (und wohl wahrscheinlich) waumlre auch dass damit die Inhalte besonders desMythos gemeint sind Der Verweis auf Unterhaltung fuumlhrt nicht zum Kern der Frage denn die satirische Formstellt mehr dar als reine Unterhaltung Auch das horazische Diktum ridentem dicere verum quidvetat ndashsbquolachend das Wahre zu sagen ndash was spricht dagegenlsquo (Hor serm 1 1 23) als Kern vonMartianusrsquo Satireverstaumlndnisses greift zu kurz ebenso wie vergleichbare Konzeptionen in derLiteratur Dort geht es bei Belehrung immer um einzelne philosophische Saumltze (nie beispiels-weise um die Vermittlung von Philosophie an sich) Folglich bezeichnet das bdquoverumldquo nichtkognitives Lernen sondern moralisches Der grundlegende Unterschied zur Konzeption desMartianus liegt somit auf der Hand Vgl zu diesem Aspekt im Allgemeinen z B Shanzer 1986c42 und im Speziellen u a Woytek 1986 339ndash345 Keulen 2009 bes Kap 2 und 3

2 De nuptiis als literarisches Werk 143

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

einen literarischen und belehrenden Zweck zugleich Aufgrund der komplexenSachlage und der unmittelbaren Bedeutung der Beantwortung der Frage nachdieser Verbindung fuumlr das Gesamtverstaumlndnis von De nuptiis werden alle Alter-nativen vorgestellt und bewertet

Rein formale Verbindung von Satire und EnzyklopaumldieEventuell laumlsst sich die Mischung aus enzyklopaumldischen und satirischen Ele-menten (mit den zur Satire gehoumlrigen Verspartien) als Sonderform der Varro-Re-zeption bei Martianus auffassenVarro von Reate verfasste sowohl umfangreicheFachliteratur als auch menippeische Satiren Fuumlr beides war er in der Antikebekannt und beruumlhmt ndash doch ist es wahrscheinlich dass Martianus die Werkebereits nicht mehr ndash oder allenfalls nur in Auszuumlgen ndash vorliegen hattesup3⁴⁶ Aus demWissen um die beiden Schaffensbereiche des republikanischen Autors die beideder Unterweisung dienen solltensup3⁴⁷ koumlnnte Martianus auf den Gedanken verfallensein die literarischen Formen und Inhalte in seinem Werk zu verbindensup3⁴⁸Vielleicht saszlig er auch einemMissverstaumlndnis auf indem ermeinte dass Varro seinsatirisches wie enzyklopaumldisches Koumlnnen in nur einem Werk demonstriert habeDies hieszlige jedoch dass Martianus sich der Problematik dieser Verbindung nicht

So aumluszligert sich beispielsweise Kindermann in den Vorstudien seiner Ausgabe der Conso-latio des Laurentius von Durham Er billigt Martianus nur eine sekundaumlre Varro-Kenntnis zu(Kindermann 1969 60) Entschieden verneint wird die Frage von Schievenin (2009f) und Hadotdie vor allem neuplatonische Quellen vermutet (Hadot 2005 149) Schneider jedoch nimmt andass sowohl Augustin als auch Martianus die Disciplinae noch vorliegen hatten (Schneider 1999109 f) und dass die Satiren-Exzerpte des Nonius Marcellus (fl um 400 in Afrika) ebenfalls ausdem Originaltext Varros angefertigt wurden (ibid 96 Anm 12) Abwaumlgend aumluszligert sich Huumlbner2004 passim Vgl Cic ac 1 8 (es spricht Varro)

et tamen in illis veteribus nostris quae Menippum imitati non interpretati quadam hilaritateconspersimus multa admixta ex intima philosophia multa dicta dialectice quae quo faciliusminus docti intellegerent iucunditate quadam ad legendum invitati

Jedoch findet sich in meinen fruumlhen Schriften die ich in kreativer Nachfolge (und nicht nurUumlbersetzung) Menipps mit einer gewissen Heiterkeit benetzt habe vieles aus den Kernbe-reichen der Philosophie beigemengt und vieles das nach Art der Dialektiker gesagt istdamit die weniger Gelehrten es leichter verstuumlnden nachdem sie durch eine Art von Scherzzur Lektuumlre ermuntert worden sind

Vielleicht hatte Martianus diese Stelle sogar im Kopf als er die Anlage von De nuptiis plante So z BWeinreich in der Einleitung zu seiner Uumlbersetzung roumlmischer Satiren bdquoMartianusCapella glaubte gewiszlig ein Varro redivivus zu sein sozusagen die Quintessenz des Gelehrten unddes Satirikersldquo (Weinreich 1962 XCIII) Ebenso Shanzer 1986c 42

144 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

bewusst gewesen sei ndash was ihm sicher nicht gerecht wird Auszligerdem wird so dieBezugnahme auf weitere formale Elemente der menippeischen Tradition und dieuumlbrigen Vorlaumlufer der Gattung mit anderer Konzeption (Lukian Julian) nichtausreichend beruumlcksichtigt

Ebenfalls beim Autor koumlnnte eine zweite Erklaumlrung ansetzen Im Zuge derAbfassung seiner Enzyklopaumldie hat sichMartianus nach horazischer Vorgabe (unddem Beispiel Varros)sup3⁴⁹ um Auflockerung und heitere Elemente bemuumlht Diespontanen Einfaumllle wurden ins Werk integriert und die sich daraus ergebendenInkonsistenzen entweder uumlbersehen oder billigend in Kauf genommen Beideswuumlrde gut zum klassisch negativen Martian-Bild in der Forschung passensup3⁵⁰Abgesehen davon dass Annahmen uumlber das Vorgehen beim Schreiben weitge-hend auf Spekulation beruhensup3⁵sup1 widersprechen drei Beobachtungen dieser Er-klaumlrung Erstens gelingt es Martianus De nuptiis uumlber neun Buumlcher vorauszu-planen so dass am Ende ein ndash zunaumlchst abgesehen von der Satire-Problematik ndashkohaumlrentes Werk entsteht Die Fuumllle der behandelten Themen Motive und lite-rarischen Elemente weist eher auf ein planvolles Arbeiten hin und macht es un-wahrscheinlich dass Martianus Probleme an dieser Stelle nicht wahrgenommenbzw nicht korrigiert haumltte Zweitens ist die Verbindungvon Satire und den anderenElementen nicht nur oberflaumlchlich so dass sie nachtraumlglich eingefuumlgt sein koumlnnteoder sich im Schreibprozess so ergeben haben koumlnnte Da bereits im zweitenKapitel des ersten Buches Satura eingefuumlhrt wirdwar sie von vornherein Teil des

Gemeint ist das beruumlhmte zunaumlchst nur fuumlr die Dichtung relevante prodesse aut delectare(Hor ars 333 f) zu Varro vgl die schon angefuumlhrte Stelle aus Cic ac Vgl z B die sehr bildliche Beschreibung von C S Lewis bdquo[hellip] this universe which hasproduced the bee-orchid and the giraffe has produced nothing stranger than Martianus Capella[hellip] the curiosity shop of his mind [hellip] a chaos beside which the work of Rabelais has unity andthat of Mandeville probabilityldquo (Lewis 1936 78 f) Gleiches gilt fuumlr Spekulationen uumlber eine andere Auffassung von Literatur und ihrenRegeln in Martianusrsquo Zeit oder Umfeld Einerseits kennen wir keine Texte die sich mit De nuptiisvergleichen lieszligen (was per se nichts beweist aber doch Indiziencharakter hat) andererseitshielten sich auch die spaumltantiken Autoren uumlblicherweise an die klassischen Vorgaben Ich teiledaher auch Schneiders Ansicht nicht der die Skepsis an dieser Verbindung allein der modernenLeseerfahrung zuschreibt bdquoWenn den Heutigen diese Kombination der forcierten Gelehrsamkeiteines Curriculums und der spielerisch-saloppen Causerie seltsam beruumlhren mag so waumlre dazuimmerhin schon an ein ciceronisches Dictum zu erinnern non est enim seiunctus iocus a phi-lologia (ad fam 16214) ndash sbquoSpieltrieb und Pedanterie diktieren und widersprechen sich nichtlsquo(sbquoErste Fruumlhschichtlsquo aus Grassrsquo sbquoHundejahrelsquo)ldquo (Schneider 1999 94 Anm 2) Der Verweis aufCicero traumlgt nichts zum Verstaumlndnis von Martianus bei Cicero geht es an der zitierten Stelle umden Ablauf des Tages mit seinem Schuumller der aus ernsteren und heitereren Abschnitten bestehtDaraus folgt nicht dass das Lernen mit Scherz verbunden ist ndash auszligerdem duumlrfte Cicero unteriocus (sbquo[urbaner] Scherzlsquo) anderes verstanden haben als Martianus in seiner Satura bietet

2 De nuptiis als literarisches Werk 145

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Kompositionsplans Drittens hat Schievenin gezeigt dass Martianus keineswegsoberflaumlchlich und eigenwillig arbeitet Durch eine gruumlndliche Untersuchung derSilen-Passage (8 803ndash805) kann er nachweisen dass Martianus ndash wie vieleAutoren vor ihm ndash uumlber ein umfangreiches literarisches Wissen verfuumlgte daraufbei der Abfassung seines Werkes zugreifen konnte und durch gezielte Anspie-lungen neue Bezuumlge herstelltesup3⁵sup2

Satire als Mittel der KritikWaumlhrend die antike Satire (im Gegensatz zur modernen) nicht zwangslaumlufig Kritikan Missstaumlnden uumlben wollte ist diese Moumlglichkeit umgekehrt auch nicht auszu-schlieszligen Martianus koumlnnte also bewusst eine solide Darstellung der Kuumlnste inliterarischem Gewandmit der Gattung der Satire verbunden haben um Zweifel ander Ernsthaftigkeit der uumlbrigen Teile des Werkes zu wecken Er wuumlrde somit einaufklaumlrerisches Interesse verfolgen das zugleich auch unterhaltsame Zuumlge traumlgt

Eine erste Schwierigkeit dieser Lesart von De nuptiis ergibt sich bereits bei derFrage nach dem Objekt der SatireWerden die Wissensinhalte in Zweifel gezogenoder nur die Art ihrer Vermittlung in langen Reden bzwTraktaten Soll der Glaubean die umfassende Einheit des Wissens kritisiert werden oder die Vorstellungsaumlmtliches Wissen lasse sich vermitteln gar kohaumlrent in einem Werksup3⁵sup3 Ist dieVorstellung dass Wissen goumlttlich mache parodiert oder nur die abwegige Vor-stellung dass auf einer Hochzeit solche Reden gehalten werden Oder richtet sichdie Kritik letztlich gegen die Auffassung Philologia als Vorbild zu sehen oder garals Mittlerin alles Wissens ja sogar als Mittlerin zwischen Menschen und Goumlttern

Aus der Tatsache dass das Objekt der Satire keineswegs leicht zu bestimmenist kann nicht gefolgert werden dass in De nuptiis keine Satire vorliege die be-stimmte Sachverhalte kritisiere Aber es kann durchaus gefolgert werden dass eskeine expliziten textinternen Merkmale gibt die das Lesen steuern und den Ge-genstand der Kritik deutlich hervortreten lassen Die Deutungen gehen also vonmodernen Annahmen uumlber das Umfeld bzw die Gedankenwelt von Martianus aus

Im Kern handle es sich um bdquouna narrazione tersa e brillanteldquo verbunden mit einemDickicht an Verweisen Die Silen-Szene habe einen bdquocarattere colto e della dottrina e dellalingualdquo (Schievenin 1984 132) Das Fazit seiner Untersuchung formuliert Schievenin folgen-dermaszligen bdquoIl De nuptiis si rivela dunque opera di vasti orizzonti non solo per lrsquointento dida-scalico che la pervade e che ne determineragrave la fortuna ma anche per la costante presenza nellafabula della tradizione classica e dei suoi echildquo (ibid 136) Vgl zu dieser Stelle auch Bovey2003 275ndash288 ndash Den geschickten Umgang mit mehreren Quellen ndash erzaumlhlerisch wie seman-tisch ndash kann Schievenin auch fuumlr 7 725ndash727 nachweisen (Schievenin 2009e) So z B Relihan 1993 138 bdquoMartianus writes not an encyclopedia but a Menippean satirethat parodies encyclopedic knowledgeldquo

146 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

und weisen zudem meist nicht kleinschrittig auf wie der Interpret zu seiner (oftapodiktisch dargelegten) Ansicht gelangt

Nun folgt daraus noch nicht dass Martianus De nuptiis nicht als kritisierendeSatire konzipiert haumltte die Vielzahl der (wenn auch differierenden) modernenDeutungenweist ja darauf hin Zwei Uumlberlegungenwenn auch keine schlagendenBeweise lassen die Hypothese der parodierenden Satire unwahrscheinlich wer-den der Umfang von De nuptiis und seine Rezeption Eine Satire die beispiels-weise die Verbindung von Weltwissen und menschlicher Vervollkommnung in-frage stellt benoumltigt nicht noch eine umfassende Darlegung eben diesenWissensDies gilt besonders da diese Darlegung den Hauptteil des Werks ausmacht und ndashzumindest dem Umfang nach ndash die uumlbrigen Partien weit uumlberragt Eine Deutungvon De nuptiis als kritischer Satire muumlsste also besonders die Frage beantwortenzu welchem Zweck die umfangreichen Darstellungen der Freien Kuumlnste aufge-nommen sind (und nicht nur angedeutet werden)

Die Rezeption eignet sich zwar ebenfalls nicht zu sicheren Ruumlckschluumlssen aufdie originale Intention eines Werkes haumlufig bietet sie aber interessante EinblickeDie Martianus-Rezeption stellt sich bald ein Cassiodor beruft sich in seinen In-stitutiones auf ihn Dort erscheint Martianus nicht als Satiriker oder Zeitkritikersondern als Gelehrtersup3⁵⁴ In dieser Tradition wird Martianus auch im Mittelaltergelesen und rezipiertsup3⁵⁵

Aumlhnliches laumlsst sich fuumlr Boethiusrsquo Anknuumlpfen an die prosimetrische Form inder Ausgestaltung von Martianus sagen Boethius verfasst zweifelsfrei keine kri-tische Satire kann aber trotzdem an die Form und den Inhalt von De nuptiisproblemlos anknuumlpfen Sowohl der Form nach wie auch durch einzelne Zitatemacht er deutlich dass erDe nuptiis kennt und als eine seiner Vorlagen benutzt Esist zu bezweifeln dass Boethius in seinem Bemuumlhen um eine adaumlquatewerbendeDarstellung der Philosophie auf Form und Zitate des Martianus zuruumlckgegriffenhaumltte haumltte er nicht die Moumlglichkeit der gefahrlosen Uumlbernahme gesehen

Satirische Elemente als Mittel der BelehrungDer dritte Erklaumlrungsansatz fuumlr die Verbindung von Satire und Belehrung be-trachtet die Wahl Saturas als Figur und die Bezugnahme auf die Gattung zunaumlchst

Cassiod inst 2 2 17 Zur mittelalterlichen Martianus-Rezeption vgl bes Nuchelmans 1950 Lutz 1971 und 1976Willis 1973 sowie die Ausgaben und Literatur u a zu folgenden Werken Konrad von MureFabularius Hugo von Sankt Victor Didascalicon de studio legendi Johannes von SalisburyMetalogicon Kindermann kann weiterhin nachweisen dass De nuptiis auch durch seine Forminspirierend gewirkt hat (Kindermann 1969 61 f)

2 De nuptiis als literarisches Werk 147

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

als reine Fortsetzungder literarischen Form Fuumlr diese spezielle Formder Literaturdie menippeische Satire hat der russische Literaturwissenschaftler MichailBachtin Beobachtungen aufgestellt die auch fuumlr De nuptiis zutreffen Durch denRuumlckgriff auf zwei zentrale Konzepte Bachtins das Karnevaleske und die Dialo-gizitaumlt wird ein Verstaumlndnis von De nuptiis ermoumlglicht

Auf der Suche nach Vorlagen und Urformen der Gattung des Romans ins-besondere in der Form von Dostojewskis Romanen stieszlig Bachtin unter anderemauch auf die menippeische Satire die er bis in die Antike zuruumlckverfolgtesup3⁵⁶ Zuihren Vertretern zaumlhlt er unter anderem Varro Apuleius Petron Seneca oderLukiansup3⁵⁷ Martianus Capella wird nicht erwaumlhnt was aber nicht verwundernmuss da Bachtin keine Literaturgeschichte der menippeischen Satire schriebsup3⁵⁸

Kern der Uumlberlegungen Bachtins zurmenippeischen Satire ist das Konzept desKarnevals Unter Karneval versteht er folkloristische Feste waumlhrend deren diebestehende Ordnung verkehrt wird uumlbliche Regeln nicht mehr gelten Herr-schende gestuumlrzt und Machtlose maumlchtig werden ndash auf Zeit Die Karnevalisierungalso die Uumlbernahme der Kennzeichen dieses Festes in neue oder bestehende li-terarische Formen institutionalisiert diese Ausnahmesituation und loumlst sie vomkonkreten Fest Der so entstandene Text wird bdquozum karnevalesken Spiel an demder Autor und sein Publikum einverstaumlndlich teilhaben und das keines kalen-darisch oder institutionell abgesicherten Karnevalsrahmens mehr bedarfldquosup3⁵⁹

Diese Karnevalisierung fuumlhrt unter anderem zu einer Vielstimmigkeit vonMeinungen und Positionen im Text z B durch mehrere Figurenvon denen keinebevorzugt oder gar als autoritativ gekennzeichnet wird In dieser Dialogizitaumlt wirdkein allgemein guumlltiger Sinnmehr vermittelt sondern dieWahrheit suspendiertsup3⁶⁰

Dass der Bezug auf karnevalsartige Feste der Gattung menippeische Satire (inTeilen auch der Verssatire) eignet zeigt ein kurzer Blick auf wichtige Vertreter derTradition

Julians Symposion Caesares spielt zur Zeit der Saturnalien Die Bedeutungdieses Festes fuumlr das Werk wird dadurch verdeutlicht dass es den Handlungs-

Bachtin 1971 126ndash 135 Bachtin 1971 126 128 132f Kritik an den z T pauschalisierenden und verfaumllschenden Aussagen Bachtins uumlber antikeLiteratur oder an der ununterbrochenen Traditionslinie von der Antike bis in die Moderne (z BRelihan 1987 59 Lachmann 2006 23ndash25) muumlsste auch auf manche moderne Literaturwissen-schaftler in der Nachfolge Bachtins angewandt werden (vgl Branham 2005 6 wo es uumlberSenecas Apocolocyntosis heiszligt bdquoour only extant Menippean satire in Latinldquo) Teuber 1993 182 Eine gut verstaumlndliche Einfuumlhrung in das Konzept der Dialogizitaumlt im Sinne der bach-tinschen Terminologie bietet Sharland 2010 Einfuumlhrung (1ndash51)

148 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

rahmen fuumlr den in der Folge erzaumlhlten Mythos bildet Bereits im ersten Satz wirdauf das Fest und die Tradition Heiteres frei zu erzaumlhlen Bezug genommensup3⁶sup1

Auch Senecas Apocolocyntosis stellt einen engen Bezug zum Saturnalienfesther Das Werk spielt zwar nicht an den Saturnalien sondern am Todestag desClaudius im Oktober doch wird an zwei Stellen eine Verbindung zwischen derHerrschaft des verstorbenen Kaisers und den dargestellten Sitten waumlhrend derRegierungszeit mit dem Saturnalienfest gezogensup3⁶sup2 Manche Interpreten gehensogar davon aus dass die Apocolocyntosis an den Saturnalien des Jahres 54vorgetragen wurdesup3⁶sup3 Auch bei Petron und Horaz finden sich Bezugnahmen aufdie Saturnaliensup3⁶⁴

Ein zentrales Element des Saturnalienfestes liegt in der Suspension der uumlb-licherweise geltenden Normen und Wertesup3⁶⁵ Neben den anderen Elementen desFestes wie sie z B in Macrobiusrsquo Saturnalia (1 7ndash 10 1 24 22 f) beschriebenwerden (traditionelle Geschenke Festmahl fuumlr die Sklaven etc) hat gerade dieUmkehrung der Herrschaftsverhaumlltnisse im Haus Niederschlag in der Literaturgefunden

Gerade durch diese Rolleninversion treten einige wichtige gesellschaftlicheNormvorstellungen und Grundannahmen prominent hervor Dazu zaumlhlt das Be-wusstsein dass es eine befehlende und eine ausfuumlhrende Gruppe von Menschengibt oder dass im Prinzip ein Rollenwechsel moumlglich sein kann Alle Beteiligten

Ἐπειδὴ δίδωσιν ὁ θεὸς παίζειν ndash ἔστι γὰρ Κρόνια ndash hellip (sbquoDa der Gott das Scherzen erlaubt ndashes sind ja die Kronia helliplsquo Caes 1 = 306a Spanheim) Zur Frage ob es sich bei Caesares auch umdas Werk handle auf das zu Ende der Rede auf Koumlnig Helios verwiesen wird (Or in Sol reg 44 =157c Spanheim) vgl Muumlller in seiner Uumlbersetzung (39 ablehnend) und Lacombrade im Vorwortseiner Budeacute-Ausgabe (3 und 18 Anm 3) der aufgrund des Handschriftenbefundes Kronia auchals Titelbestandteil fuumlr die Caesares uumlbernimmt Es handelt sich um Sen apocol 8 1 (Claudius als Saturnalienprinz) und 12 2 (Herrschaftdes Claudius als andauerndes Saturnalienfest) ndash Dass Lukian nicht auf die Saturnalien alsRahmen fuumlr seine Werke zuruumlckgreift entwertet die Beobachtungen nicht Lukian musste auf-grund seines Selbstbewusstseins als satirischer Schriftsteller und aufgrund der Menge seinersatirischen Schriften nicht jedes Mal einen eigenen literarischen Rahmen herstellen in demeinzelne Dialoge stattfinden konnten Das Saturnalienfest selbst erscheint bei Lukian als Ge-genstand der Satire nicht als deren literarische Rahmung (Τὰ πρὸς Κρόνον) Zuerst bei Furneaux 1896 23 Anm 11 In der neueren Forschung vgl bes Nauta 1987Kritisch dazu u a Doumlpp 1993 159 f Petron 44 3 58 2 69 9 zu Horaz vgl z B serm 2 7 (libertas Decembris) Ein gelungenesBeispiel der Anpassung und Anwendung der bachtinschen Konzepte mit Ertrag fuumlr die Inter-pretation unter Einbezug von serm 2 7 bietet Sharland 2010 Distelrath 1999 114 Vgl weiterhin Versnel 1993 136ndash227 und Doumlpp 1993 Eine plastischeSchilderung der Rollenvertauschung bei der der Sklave dem Herrn die Leviten liest bietet Horserm 2 7

2 De nuptiis als literarisches Werk 149

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Herren wie Sklaven spielen also mit den Moumlglichkeiten einer alternativen Wirk-lichkeit

Das Besondere im Spiel mit den Moumlglichkeiten liegt aber in seiner zeitlichenBegrenzung Nach der Zeit des Ausnahmezustands gelten wieder die normalenimmer guumlltigen Regeln Die Rolleninversion erlaubt also ndash oder erzwingt gera-dezu ndash das Nachdenken uumlber bestimmte gesellschaftliche Normen und Wertvor-stellungen Durch die Ritualisierung und enge zeitliche Begrenzung ist darausjedoch keineswegs die Notwendigkeit entstanden die Verhaumlltnisse tatsaumlchlich zuhinterfragen oder gar zu aumlndern Daher lassen sich die Saturnalien auch als ein dieKonventionen bestaumlrkendes Fest verstehen Das Spiel mit der Moumlglichkeit eineranderen Gesellschaftsordnung hat durch seine Ritualisierung letztlich eine dieTradition legitimierende Funktion bekommen

In De nuptiis finden sich jedoch houmlchstens spaumlrliche Hinweise auf das Sa-turnalienfest Am ehesten weist das grob scherzende Agieren Saturas in diesenBereich Die bdquolangen Winternaumlchteldquo (1 2) koumlnnten (statt als Bezug auf Gellius) alsAnspielung auf das Saturnalienfest verstandenwerden ndash die Saturnalien finden inden laumlngsten Naumlchten uumlberhaupt statt seit der Kaiserzeit vom 17 bis 23 DezemberDies ndash wie die Spekulation uumlber eine spielerische etymologische Verbindung vonSatura und Saturnaliensup3⁶⁶ ndash ist aber insofern nicht von Belang da die Gattung alsGanze karnevaleske Zuumlge traumlgt und als gewissermaszligen institutionalisierter Kar-neval vom eigentlichen Fest losgeloumlst istsup3⁶⁷

Die Aufhebung der uumlblichen Ordnung (was Teuber im Ruumlckgriff auf Limina-litaumltskonzepte als praumlliminale Phase bezeichnet)sup3⁶⁸ beginnt mit der VorbereitungPhilologias zum Aufstieg in den Himmel Bereits das Erbrechen stellt eine mar-kante Umkehrung der alltaumlglichen Welt dar Statt sich Wissen anzueignen er-bricht Philologia es nun In der Goumltterversammlung auf der Milchstraszlige ist dieOrdnung sodann voumlllig verkehrt Philologia als Meisterin aller Disziplinen und

Zwar sind die einschlaumlgigen etymologischen Woumlrterbuumlcher skeptisch (v a WaldeHof-mann 2007 II 482 neutral ErnoutMeillet 2001 596) jedoch gibt es dahin gehende moderneDeutungen (aufgefuumlhrt bei WaldeHofmann 2007 II 482) und auch antike ParallelisierungenCic nat deor 2 64 Saturnus hellip est appellatus quod saturaretur annis (sbquoSaturn hellip wurde ergenannt weil er an Jahren gesaumlttigt istlsquo) Fulg myth 1 2 (p 17 16) a saturando Saturnus dictusest (sbquoDa er (die Menschen) saumlttigt wurde er Saturn genanntlsquo) Aug cons euang 1 23 35 Sa-turnus tamquam satur hellip νοῦς (sbquoSaturn gleichsam der gesaumlttigte hellip νοῦςlsquo) Vgl auch Gowers diedie etymologischen Verbindungen von satura Satyrspiel und Saturnalien untersucht (Gowers1993 109ndash 117) Sie kommt zu dem Befund dass keine Verbindung bestehe wohl aber verbin-dende Elemente identifiziert werden koumlnnten bdquocarnival licence parody uninhibited mockeryand excessive consumptionldquo (ibid 117) Vgl z B Teuber 1993 183 f Teuber 1993 183

150 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

bedeutende Lehrinstanz muss sich ihrerseits belehren lassen ndash mit dem Wissendas urspruumlnglich ihres war

Durch die Inversion wird die (vielleicht uumlblicherweise nicht prominente)Philologia in den Mittelpunkt geruumlckt und ihre zentrale Rolle im Wissenssystemtritt markant vor Augen Gleichzeitig kann darin eine leise Anfrage an ihre Lehr-autoritaumlt und eventuell auch ihre Eignung zur Lehre gesehen werden

Aufgrund des zeitlich begrenzten Rahmens der Verkehrung (diemit dem Endeder Vortraumlge voruumlber ist aber nicht explizit zuruumlckverwandelt wird) dessen Be-grenztheit durch Bezug auf die Form der menippeischen Satire ergaumlnzt werdenkann wird das System der Bildung und der Bildungsvermittlung jedoch nichtgrundsaumltzlich infrage gestellt Die Suspendierung Philologias ist temporaumlr

Dem Konzept der Dialogizitaumlt oder Mehrstimmigkeit folgend erklaumlrt sich auchdie Doppelung und Verunklarung der Erzaumlhlinstanz In den drei Dialogen indenen Satura und Martianus aufeinandertreffen behandeln sie die Frage desrichtigen Erzaumlhlens Dies beschraumlnkt sich nicht nur auf die Satire sondern umfasstalle auftretenden literarischen Formen Martianus und Satura sind sich uneinswie weit der Mythos reichen soll und ob eine Enzyklopaumldie trocken oder auchunterhaltsam erzaumlhlt werden soll (2 219ndash3 222) ob ein Symposion auch Zechenund Spaszlig vertraumlgt (8 803ndash810) oder ob und wie stark Satire Dinge vermischendarf (9 997ndash 1000)

Die unterschiedlichen Meinungen zu den Fragen werden zwar diskutiert undfuumlhren zu einem Ergebnis ndash der Erzaumlhlfluss versiegt ja an keiner Stelle oder setztneu an Allerdings entsteht in der Folge kein homogenes Werk und am Schlussmag keiner der beiden Erzaumlhler dafuumlr die Verantwortung uumlbernehmen Der Wi-derwillen sich zu dem Werk zu bekennen bedeutet aber gleichzeitig auch dassMartianus sich nicht festlegt welche Position er fuumlr die richtige haumllt Die Fragenach der rechten Art der Wissensvermittlung die auch in der Ent- und Inthroni-sierung Philologias anklang bleibt unbeantwortet

Schlieszliglich bringt der Blick auf die Aurelian-Vita aus der Historia Augustanoch einen weiteren Aspekt ein Parallel zur Aufteilung der Erzaumlhlinstanzen in Denuptiiswird der Erzaumlhlprozess in derHistoria Augusta aufmehrere AutorenverteiltWie zuerst Hermann Dessau und in der Folge Ronald Syme nachdruumlcklich gezeigthaben handelt es sich allerdings um nur einen Verfasser der uumlberdies auch inBezug auf die Abfassungszeit falsche Angaben gemacht hat und Quellen erfundenhatsup3⁶⁹ Insofern laumlsst sich der in der Historia Augusta gepraumlgte Begriff der

Auf den Charakter der Sammlung die Syme u a als bdquohoaxldquo bezeichnet (1983a 11 1983b13 1983c 219) die fingierten Autoren die manipulierten Quellen etc soll an dieser Stelle nurhingewiesen werden Vgl auch Cameron 2011 Kap 20 mit ausfuumlhrlicher Diskussion relevanterFragen

2 De nuptiis als literarisches Werk 151

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mythistoria der Vermischung von Mythischem und Historischem auch auf dieSammlung selbst anwendensup3⁷⁰

Als Menippee im engeren Sinne laumlsst sich weiterhin die Aurelian-Vita die 26Vita der Sammlung fassen und bezeichnenderweise spielt die Rahmenhandlungan denHilariasup3⁷sup1Wie zu den Saturnalien gehoumlren zu diesem Fest Scherze und ndash imRahmen von Maskierungen ndash Rollenwechselsup3⁷sup2

Noch in der rahmenden Einleitung zur Vita spielt sich folgender Dialog ab

1 et quoniam sermo nobis de Trebltellgtio Pollione qui a duobus Philippis usque ad divumClaudium et eius fratrem Quintillum imperatores tam claros quam obscuros memoriaeprodidit in eodem vehiculo fuit adserente Tiberiano quod Pollio multa incuriose multabreviter prodidisset me contra dicente neminem scriptorum quantum ad historiam pertinetnon aliquid esse mentitum prodente quin etiam in quo Livius in quo Sallustius in quoCornelius Tacitus in quo denique Trogus manifestis testibus convincerentur pedibus insententiam transitum faciens ac manum porrigens iocando[m] praeterea sbquoscribelsquo inquit sbquout

quae ille [scil Iunius Cordus] omnia exsequendo libros mythistoriis replevit talia scribendocum omnino rerum vilium aut nulla scribenda sint aut nimis pauca si tamen ex his morespossint animadverti qui re vera sciendi sunt hellip sed ex parte ut ex ea cetera colligantur(SHA Opil 1 5)

Bei der Anfuumlhrung von all diesen Informationen hat er die Buumlcher mit fabuloumlsen Ge-schichten angefuumlllt indem er Dinge von dieser Art schrieb wo doch uumlberhaupt keinenutzlosen Dinge geschrieben werden duumlrfen oder nur sehr wenige sofern daraus Verhal-tensweisen erkannt werden koumlnnen die wirklich wissenswert sind hellip aber zum Teil(schreibe ich) damit daraus das Andere gefolgert werden kann

quid Marius Maximus homo omnium verbosissimus qui et mythist[h]oricis se voluminibusinplicavit num ad istam descriptionem curamque descendit (SHA Quadr tyr 1 2)

Wie Hat sich Marius Maximus der groumlszligte Schwaumltzer vor dem Herrn der sich in seinenmythistorischen Werken verfangen hat etwa zu dieser Art der Darstellung und des sorg-faumlltigen Arbeitens herabgelassen

Hilaribus quibus omnia festa et fieri debere scimus et dici impletis sollemnibus vehiculo suome hellip Iunius Tiberianus accepit (SHA Aurelian 1 1)

An den Hilaria an denen alles zum Fest Gehoumlrende getan und gesagt werden muss wieman weiszlig empfing mich nach Erledigung der Zeremonien Iunius Tiberianus in seinemGefaumlhrt

Pausch bemerkt dieses besondere Datum zwar und erwaumlgt ob es sich um ein bdquoweitergehendesLesesignalldquo beispielsweise im Sinne karnevalesker Literatur handeln koumlnne verfolgt diese Spuraber nicht weiter (Pausch 2011 130 Anm 1) Herodian 1 10 5 ndash Einige Hinweise auf die Hilaria die im Kontext des Magna Mater-Festesam 25 Maumlrz gefeiert wurden bietet Fraser in seinem Kommentar zu Ovids Fasti (Fraser 1929244ndash248)

152 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

libet 2 securus quod velis dices habiturus mendaciorum comites quos historicae elo-quentiae miramur auctoreslsquo (SHA Aurelian 2 1ndash2)

1 Und weil unser Gespraumlch uumlber Trebellius Pollio der von den beiden Philippi bis zumvergoumlttlichten Claudius und dessen Bruder Quintillus gleichermaszligen uumlber beruumlhmte wieunbekannte Kaiser fuumlr die Nachwelt schrieb in derselben Saumlnfte stattfand behauptete erdass Pollio vieles ohne Sorgfalt und nur kurz dargelegt habe Ich erwiderte dass keinSchriftsteller sofern es um die Geschichte gehe nicht irgendwo gelogen habe und legtesodann dar worin sogar Livius Sallust Tacitus schlieszliglich sogar Trogus mit eindeutigenBelegen uumlberfuumlhrt werden koumlnnten Darauf sagte Tiberianus schlieszliglich scherzend indem ermeiner Meinung beipflichtete und mir seine Hand darbot bdquoSchreibe sowie du es fuumlr richtighaumlltst 2 Sage unbesorgt was du willst du wirst diejenigen als Gefaumlhrten fuumlr deine Taumlu-schungen haben die wir als Schoumlpfer historiographischer Beredsamkeit bewundernldquo

So sympathisch dieser Anspruch auch erscheinen mag ist er doch fuumlr das Ver-trauen in die Gattung der Geschichtsschreibung fatal Gerade in der Einleitungeiner Vita jedoch ndash zumal es der Fiktion nach die erste des Flavius Vopiscus Sy-racusius im Corpus der Historia Augusta ist ndash kann eine solche Anekdote ei-gentlich keinen Platz haben Sie erweckt beim Leser den Eindruck dass er dennachfolgend dargebotenen Informationen kein Vertrauen schenken duumlrfesup3⁷sup3

Die Parallelen zwischen der Historia Augusta insbesondere dem Vorgehen inder Vita Aureliani und De nuptiis liegen auf der Hand Verunklarung der Autor-schaft bzw der Erzaumlhlhaltung einerseits Erwecken von Zweifeln an der Glaub-wuumlrdigkeit des Dargebotenen andererseits

In der Historia Augusta sind die Inkongruenzen mit der Freude des Autors amliterarischen Spiel erklaumlrt worden Der Autor habe aus Freude am Fabulieren(vielleicht auchumein dafuumlr empfaumlngliches Publikum zu befriedigen) die Viten indieser Form verfasstsup3⁷⁴ Mag man dies fuumlr die Historia Augusta noch zugestehenderen Text uumlber einen laumlngeren Zeitraum vielleicht zunaumlchst ohne eine Gesamt-konzeption entstanden ist und auch sprachlich nicht herausragt stellt sich derSachverhalt fuumlr Martianusrsquo De nuptiis anders dar Das Werk hat durchaus einenliterarischen Anspruch und es folgt eindeutig einer vorab geplanten Gesamtan-lage Die Freude am Spiel mag vielleicht manches Detail beigesteuert haben fuumlrdie verschraumlnkte Anlage des Textes ist sie aber keine Erklaumlrung

Ganz anders ist der Anspruch zum Ende der Darstellung der Viten der bdquoDreiszligig Tyrannenldquoin dem der Autor beteuert seinem Werk mangele es zwar an literarischer Ausgefeiltheit nichtjedoch an Faktentreue da nunc cuivis libellum non tam diserte quam fideliter scriptum ndash sbquoGibnun dieses Buumlchleinwem du magst es ist nicht so sehr kunstvoll geschrieben wie es sachgetreuistlsquo (SHA Quadr tyr 33 8) Syme nennt dies bdquodeceit for its own sweet sakeldquo (1983c 217) Im gleichen Aufsatz spe-kuliert er auch uumlber das Interesse des Publikums an einer solchen Art von geistigem Spiel(ibid 221)

2 De nuptiis als literarisches Werk 153

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Es lohnt sich jedoch auch fuumlr die Historia Augusta einen Schritt weiter zugehen Ausgangspunkt dafuumlr ist die obige Beobachtungdass das literarische Spielder Historia Augusta nur durchschaut wer die Werke der historischen Literaturkennt Durch die Lektuumlre historiographischer Biographien bringt der Leser einebestimmte Leseerwartung also implizite Vorstellungen mit wie das Werk aus-sehen soll und wird Diese Erwartungen werden aber nicht oder nur teilweisebedient Formal gesehen weisen die Viten in der Historia Augusta zwar die Cha-rakteristika der Gattung auf ndash doch indem sie sie inhaltlich nicht adaumlquat aus-fuumlllen treten deren Konventionen vor Augen

Durch die uumlbermaumlszligige Verwendung falscher Verweise und erfundener Quel-len geraumlt zudem das Beglaubigungsverfahren historischer Texte in den Blick-punkt Der Leser erkennt anwelchen Stellenwelche Beglaubigungsmechanismenansetzen und auf welche Weise sie unterlaufen werden koumlnnen Uumlberspitzt lieszligesich behaupten DieHistoria Augusta verfolgt ein aufklaumlrerisches Interesse indemsie (spielerisch) aufzeigt welche Beglaubigungsverfahren die Geschichtsschrei-bung nutzt und wie sie manipuliert werden koumlnnen dadurch wird auch die Ma-nipulierbarkeit von Geschichte und Leser deutlich

In De nuptiis werden ebenfalls die Konventionen der Einzelgattungen ndash zu-mindest ansatzweise ndash hervorgehoben Dass kein perfektes Musterbeispiel derjeweiligen Einzelgattung entstehen kann liegt darin begruumlndet dass durch dieVerbindung der vier literarischen Genres keine oberflaumlchliche Konsistenz derFiktion entstehen kannVielmehr entstehen Bruumlche die ndash ebenso wie die Bruumlchein der Erzaumlhlhaltung ndash auch die Gattungskonventionen und ihre Annahmendeutlich werden lassen Dies gilt besonders fuumlr die Satire deren Vorgehen imKontrast zur eigentlichen Hochzeitshandlung aus dem Rahmen faumlllt und somitbesonderes Augenmerk erhaumllt Hinzu tritt mit der Figur Satura auch eine Perso-nifikation der Gattung die in theoretischen Diskussionen Annahmen und Vor-gehen mit Martianus eroumlrtert Grunduumlberlegungen der Gattung Satire werden sotheoretisch eroumlrtert und praktisch erprobt Gleiches giltwenn auch zT inwenigerdeutlicher Form auch fuumlr die anderen Formen Die Enzyklopaumldie in ihren langenMonologen wird durch Spott markiert die trockenen Kuumlnste werden probeweisedurch Allegorien zugaumlnglicher gemacht im Symposiondialog wird uumlberlegt in-wieweit uumlbliche Rollenmuster (der Zecher) einen Platz haben oder wie weit mandie fuumlr die Feier typischen Reden fuumlhren kann und immythischen Teil wird durchdie Gegenuumlberstellung mit dem handfesten Wissensbetrieb die Andersartigkeitdes Erzaumlhlens deutlich

So werden neben den Inhalten der Wissenschaften auch verschiedene lite-rarische Formen bewahrt Neben der reinen Anwendung und somit Tradierungwerden gleichzeitig auch die Mechanismen verdeutlicht deren sich die jeweilige

154 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Gattung bedient Somit wird ihr Funktionieren nachvollziehbar und in der Folgeauch nachahmbar

3 Zusammenfassung

Martianus weckt also durch die Wahl mehrerer gleichberechtigter Erzaumlhler diesomit das Erzaumlhlen unzuverlaumlssig werden lassen besonders aber durch dieUumlbernahme satirischer Gattungselemente ein Bewusstsein fuumlr die traditionellenGrundlagen desWissens- und Lehrsystems seiner Zeit ImGegensatz zur Satire diediese Fragen kategorisch stellt handelt es sich in De nuptiis um ein Spiel damitDer Satirebezug dient als Anknuumlpfung an die traditionellen Gattungsmerkmaleder menippeischen Satire Karnevaleske und Dialogizitaumlt

Durch die (temporaumlre) Rolleninversion richtet sich das Augenmerk aufPhilologia als Wissenszentrum und Wissensmittlerin und fordert zum Nach-denken daruumlber heraus Im Kern hinterfragt das Werk alle Bereiche die mit Bil-dung und Bildungsvermittlung zu tun haben Was sind die Inhalte wahrer Bil-dung Gibt es eine Einheit von Bildung Wie kann sie vermittelt werden

Allerdings zielt die Kritik nicht auf eine Aufloumlsung klassischer Bildungsinhalteund Vermittlungsformen Sie regt vielmehr durch Scherz und Bruumlche zumNachdenken uumlber diese Fragen an Dabei verzichtet Martianus auf eigene Vor-schlaumlge und Konzepte und festigt so gleichsam den traditionellen Bildungs-betrieb Das von ihm dargestellte Wissen wird kanonisiert und die Darstel-lungsform in langen Reden wird es auch Die mittelalterliche Rezeption von Denuptiis zeigt dies eindrucksvoll

Wissen umfasst dabei nicht nur das Faktenwissen der Vortraumlge sondern auchdas Wissen um bestimmte literarische Formen Durch die Verbindung von vierGattungen und die Doppelung der Erzaumlhlerfigur mit Reflexion uumlber angemessenesErzaumlhlen entstehen Inkonsistenzen die die Konventionen der einzelnen Gattun-gen hervortreten lassen Nicht alle Elementewerden auf dieseWeise deutlich aberMartianus bietet einen Ansatzpunkt die Fiktion auch unter der Fragestellung zulesen was einen Text der jeweiligen Gattung ausmacht ndash sowohl positiv wie ne-gativ formuliert

Mit seiner kreativen Konzeption und ihrer literarischen Umsetzung gelingt esMartianus eindrucksvoll Heiteres und Belehrendes zu verbindenwomit er an dieTradition Varros und die klassische antike Poetik anknuumlpft Es gelingt ihm daruumlberhinaus aber auchWissen zu vermitteln und die traditionellen Vorstellungen vonder Bedeutung dieses Wissens wie der Form seiner Vermittlung herauszustellenSpielerisch wird also gelehrt und hinterfragt nicht jedoch kategorisch kritisiertoder kuumlhn neu entworfen Gerade dadurch zeichnet sich Martianusrsquo De nuptiis

3 Zusammenfassung 155

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

tatsaumlchlich als nescioquid inopinum intactumque (sbquoetwas Ungewohntes und nochnie Gewagteslsquo 1 2) aus und macht es zu einem der bedeutendsten Buumlcher derSpaumltantike und zu einer interessanten Quelle fuumlr die Frage nach Bildungsvor-stellungen im fuumlnften Jahrhundert

156 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Page 19: Bildungsvorstellungen im 5. Jahrhundert n. Chr. (Macrobius, Martianus Capella und Sidonius Apollinaris) || III Martianus Capella, De nuptiis Philologiae et Mercurii

Scheint es an dieser Stelle so als ob Mythos und Heiteres getrennte Dinge waumlrenzeigt der unmittelbare Fortgang zu Beginn von Buch 3 dass beide Begriffe letztlichAumlhnliches bezeichnen Hier am Beginn der Schilderung der freien Kuumlnste(3 221 f) erlaumlutert Martianus in einem weiteren Gedicht das als Dialog gestaltetist warum er von seinem Plan abweicht

Camena bringt Schmuck fuumlr das Werk mit (amicta fictis commenta ferre) AufMartianusrsquo Einwand keine Mythen mehr vorbringen zu wollen (mythi pulsi) er-widert sie es gehe nicht um Luumlge (nil mentiamur) sondern um Einkleidung(vestiantur Artes) ndash man koumlnne die Brautjungfern also die Allegorien der freienKuumlnste doch nicht nackt vorfuumlhren Daraufhin gibt sich Martianus geschlagenund die Handlung von Buch 3 beginnt

Abgesehen von der unterhaltenden Funktion die besonders durch die Ge-dichte an den Buchenden gewaumlhrleistet wird scheinen die metrischen Passagenfuumlr viele Forscher wahllos in das Werk eingestreut Typisch ist eine Aussage wieCrabbe sie trifft bdquoMartianus uses verse frequently at the beginning sometimes atthe end of books and erratically throughoutldquosup3sup1⁴

Natuumlrlich kann von einer systematischen Verteilung und einer argumenta-tionslogischen Anordnung wie bei Boethius nicht gesprochen werden Bei ge-nauerem Hinsehen wird jedoch deutlich dass die metrischen Abschnitte nichtwillkuumlrlich uumlber das Werk verstreut sindsup3sup1⁵

Die meisten metrischen Passagen finden sich in den Buumlchern 1 und 2 von Denuptiis Diese Buumlcher enthalten die einleitende Handlung die als fiktionale Er-zaumlhlung dargeboten wird Im Bericht von der Suche Merkurs nach der richtigenEhefrau und von Philologias Aufstieg in den Himmel finden sich neun metrischePassagen Es handelt sich dabei bis auf die drei Faumllle der an den Buchanfaumlngen(Buch 1) und Buchenden (Buch 1 und 2) stehenden Gedichte um Reden vonGoumlttern Diese fuumlhren die Handlung fort und dienen also nicht der Buumlndelung derGedanken oder der Erholung des Lesers Stattdessen scheint es Martianus darumzu gehen das Sprechen der Goumltter durch die metrische Gebundenheit als be-

Crabbe 1981 264 Eine Typisierung die z T von der Position der metrischen Passagenlosgeloumlst ist bietet McDonough seiner Ansicht nach sind die metrischen Partien hauptsaumlchlichfunktional bdquoThe poetry thus is primarily functional although this function varies from book tobookldquo (McDonough 1968 38) Als Funktionen benennt er fuumlr Buch 1 Handlungsfortfuumlhrung fuumlrBuch 2 Schmuck fuumlr Buch 3 Belehrung fuumlr den Rest Einfuumlhrung oder Entlassung derBrautjungfern oder Unmut uumlber Verzoumlgerung der Hochzeit Der Rest seien bdquooccasional piecesldquo(ibid 40) ndash Verspartien finden sich am Anfang der Buumlcher 1 2 3 4 5 6 7 und 9 sowie am Endeder Buumlcher 2 4 5 7 und 9 Die ungleiche Verwendung der Metra bei Boethius und Martianus laumlsst sich am besten alsEntwicklung verstehen wie es beispielsweise Kindermann (1969 60) tut Zur Kenntnis desMartianus bei Boethius vgl oben Anm 311

132 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

sonders zu markieren Dies gilt vor allem fuumlr markante Szenen zum Beispiel dieRede Jupiters in der Goumltterversammlung gegen Ende des ersten Buches (1 91ndash93)oder die orakelartige Auskunft Apolls (1 21 f)

Diese Beobachtung gilt daruumlber hinaus ebenso fuumlr die genannten Stellen inBuch 9 auch wenn es sich dort nicht um die Vorgeschichte oder einen weiterenliterarischen Rahmen handelt Jedoch ist eine Szene mit Goumlttergespraumlchen ein-geschoben in der die Goumltter unter anderem auch Verse verwenden Durch dieseReden in metrisch gebundener Form soll den entsprechenden Buumlchern also einehoumlhere Wuumlrde verliehen werden

Einen zweiten Fall stellen die Gedichte zu Beginn oder zu Ende eines Buchesin den Buumlchern 3 bis 9 dar In diesen Buumlchern praumlsentieren die Freien Kuumlnste ingeschlossenem Vortrag die Inhalte ihrer Wissenschaft Die Gedichte in einigenFaumlllen in auktorialer Erzaumlhlhaltung gestaltet uumlberbruumlcken die Fuge zwischen denBuumlchern und bieten eine Pause zwischen den langen Vortragspartien der Leserkann sich erholen Die Inhalte der Verspartien sind unterschiedlich es handeltsich zumeist um den Ein- oder Auszug einer Brautjungfer (4 327 4 423 f 8 8028 808 9 911ndash919) um die Fortfuumlhrung der Hochzeitshandlung (5 425 8 8059 888) um die Anrufung eines Gottes (6 567ndash574) oder um eine Wendung desAutors an den Leser (5 566 9 997ndash 1000)

Dieser Einsatz der Verspartien ist jedoch noch keine hinreichende Erklaumlrungfuumlr die Wahl des Prosimetrums Sie erklaumlrt sich besonders dadurch dass Marti-anus auf diese Weise sein Werk in die Traditionslinie von Texten einreiht die alsmenippeische Satiren bezeichnet werdensup3sup1⁶

Charakteristisch fuumlr diese spezielle Form der roumlmischen Satire ist der Wechselvon metrischen und prosaischen Partiensup3sup1⁷ Klassische lateinischsprachige Ver-treter der menippeischen Satire sind Varro (Saturae Menippeae) Seneca (Apo-colocyntosis) und Petron (Satyrikon) in der griechischen Literatur nutzen Lukianund Julian (Caesares) diese Form Inhaltlich lassen sich nur wenige Verbindungenzwischen den Werken ziehen und auch die Umsetzung der formalen Elemente istunterschiedlich Dies fuumlhrt sogar so weit dass sich moderne Forscher trotz derbereits antik bezeugten Bezeichnungder Gattung teilweise auszligerstande sehen dieGattung genauer zu definieren oder dass sie ihre Fragestellung losgeloumlst von derGattungstradition verfolgensup3sup1⁸ Dies macht die Verortung von De nuptiis in diesemGenre nicht leichter

Zur menippeischen Satire vgl Relihan 1993 Coffey 1996 Im Gegensatz dazu beschraumlnkt sich die Verssatire seit Horaz auf die Verwendung desHexameters So betont Scheible im Vorwort ihrer Studie zu den Gedichten in Boethiusrsquo de consolationedass sie Vorgaben der Tradition in Hinblick auf die Gedichte nicht beruumlcksichtige ndash sie lieszligen

2 De nuptiis als literarisches Werk 133

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Gelegentlich wird sogar die These vertreten dass sich das satirische ElementinDe nuptiis in dieser formalen Verbindung von Prosaund Poesie erschoumlpfesup3sup1⁹DerGattungsbegriff sbquomenippeische Satirelsquo waumlre dann identisch mit der BezeichnungsbquoProsimetrumlsquo Dem widersprechen jedoch verschiedene Beobachtungen derRuumlckgriff auf die Etymologie des Wortes satura die Bezugnahme auf Vertreter derGattung und das Auftreten einer Figur namens Satura sowie deren Agieren dasuumlber die rein formale aumluszligerliche Satireform hinausweist schlieszliglich die beson-dere Gestaltung der Erzaumlhlsituation Diese vier Elemente sollen im Folgendenherausgearbeitet werden

Etymologie ndash Dass Martianus sein Werk sehr wohl als Satire verstanden wissenwill wird an verschiedenen Stellen deutlich Dies geschieht zum Beispiel durchgelehrte Anspielungen auf die Terminologie der antiken Satire an prominenterStelle So heiszligt es in 9 998

[Satura] haec quippe loquax docta doctis aggeransfandis tacenda farcinat immiscuitMusas deosque disciplinas cyclicasgarrire agresti cruda finxit plasmate

So haumluft sie plappernd Gelehrtes auf Gelehrtes und stopft geheimes und bekanntes Wissenzusammen hatMusenundGoumltter vermischt undhat sich erdacht dass die enzyklopaumldischenDisziplinen in einem baumlurischen Machwerk unreifes Zeug daherplappern

Die Woumlrter farcinat und immiscuit verweisen auf das Zusammenstopfen undVermischen verschiedener Zutaten z B in einer Wurst oder Pastete Gleiches giltfuumlr die Woumlrtermiscillo und aggeranssup3sup2⁰ Ausgangspunkt fuumlr diese Terminologie istdie Etymologie desWortes sbquoSatirelsquo an sich bedeutet urspruumlnglich etwaswie sbquobunteMischunglsquosup3sup2sup1 Traditionell sind Anspielungen auf diese Etymologie in der satiri-

sich nicht feststellen (Scheible 1972 8) Vorhandene Untersuchungen beschreiben in der Regeldie Konstituenten der einzelnen Werke Aufgrund der geringen Zahl uumlberlieferter Werke und dergroszligen Unterschiede zwischen ihnen ist es jedoch schwierig die typischen Elemente der Gat-tung zu benennen Auch diese Arbeit schlieszligt sich dem beschreibenden Vorgehen an undvergleicht an einschlaumlgigen Stellen inwieweit die Beobachtungen auch fuumlr die Gattung typischsind So z B Coffey der die Mischung aus Prosa und Poesie bei Martianus als bdquomiscellanyldquobezeichnet und vor einer Verbindung von De nuptiis mit der Satire als problematisch warnt(Coffey 1996 959) Vgl Relihan 1993 14 ErnoutMeillet s v satur -ra -rum (2001 596) WaldeHofmann s v satura (2007 II482f) Der zentrale Hinweis auf eine Ableitung des Wortes aus dem kulinarischen Bereich findet

134 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

schen Literatur selten Allein in Juvenal findet sich ein Hinweis darauf gleichwohlmit leicht anderem Verstaumlndnis Er betrachtet die Zusammenstellung der Satirenals farrago also als Mischgericht nicht die einzelne Satiresup3sup2sup2

In diesen sehr bildlichen Wendungen trifft Martianus gleichzeitig eine Aus-sage uumlber sein Verstaumlndnis der Darstellung von Bildungswissen Bei ihm gibt eskeine vorverdauten und mundgerecht aufbereiteten Wissenspaumlckchen (wie Ma-crobius sie bietet)sup3sup2sup3 sondern rohe Kost (cruda) die ihre Zutaten d h die lite-rarischen oder inhaltlichen Urspruumlnge nicht leugnet LeMoine formuliert prauml-gnant bdquoBy calling attention to the literary functions these metaphors fulfillMartianus hellip raises questions about the principles of seamless synthesis andverbal regurgitation which Macrobius so effectively demonstratesldquosup3sup2⁴

Dass Martianus durch diese Art der Darstellung seine Autoritaumlt infrage stelle(bdquohellip reveal doubts about the competence of the cook and the quality of the edu-cational feastldquo)sup3sup2⁵ laumlsst sich jedoch nicht erkennen Schlieszliglich benennt er seinVorgehen explizit (scheitert also nicht an einem gesteckten Plan) und bietetgleichzeitig mit der Kritik an der klassischen Form der Wissensvermittlung eineMoumlglichkeit an wie nicht-vereinheitlichte Wissensvermittlung aussehen kannBeeintraumlchtigungen des Vertrauens zum Erzaumlhler und zu den Inhalten gibt esallerdings ndash jedoch aufgrund anderer Faktorensup3sup2⁶

Bezug auf andere Satiriker ndash Neben den Anspielungen auf die Etymologie derGattung Satire treten explizite Bezuumlge auf andere Autoren menippeischer Satirenauf Namentlich wird jedoch keiner der Vorgaumlnger genannt die Nennung Varroserfolgt ausschlieszliglich in den Vortraumlgen der Brautjungfern und bezieht sichuumlberwiegend auf Varros fachschriftstellerische Werke oder seinen Ruf als Enzy-klopaumldistsup3sup2⁷

sich beim Grammatiker Diomedes (Grammatici Latini 1 485) Ausgehend von dieser Passageeroumlrtert Petersmann die Etymologie mit besonderer Beruumlcksichtigung des Ursprungs des Wortessatura aus dem Kuumlchenbereich (Petersmann 1986) Iuv 1 86 nostri farrago libelli Vgl die Kommentare Morton Braund 1996 95 f undCourtney 1980 103 Vgl die Gleichnisse in der praefatio zu den Saturnalia (Sat praef 5ndash9) und die Ausfuumlh-rungen in Kap II1 sowie die dort aufgefuumlhrte Literatur LeMoine 1991 360 ibid S u die Abschnitte bdquoErzaumlhlinstanzenldquo und bdquoDeutungen der komplexen literarischen Formldquo 4 335 (die Gelehrsamkeit Varros vgl Cic ac 1 9 Aug civ 6 2) 5 517 (Nennung in einemZitat) 6 639 und 6 662 (Fragen der Geographie die Varro-Vorlage ist nicht bekannt) 9 928 (cfVarro rust 3 17 4) Vgl zum Verhaumlltnis von Martianus und Varro bes Bovey 2003 Kap 2 (bdquoLaquestion varronienneldquo) und Schievenin 2009f

2 De nuptiis als literarisches Werk 135

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Allerdings zitiert die Wendung ὄνος λύρας in 8 807 den Titel einer menip-peischen Satire Varrossup3sup2⁸ Die Wendung ist in der lateinischen Literatur ander-weitig nicht belegt weshalb davon auszugehen ist dass Martianus hier auf denrepublikanischen Satiriker direkt zuruumlckgriff Da die Wendung zudem im Streit-gespraumlch zwischenMartianus und Satura uumlber die angemessene Art des Erzaumlhlensder Geschichte faumlllt kommt ihrer Verwendung eine programmatische Aussage zuMartianus stellt sich und sein Werk also in die Nachfolge Varros und seiner Sa-tiren

Ein Bezug auf Lukian ist weniger sicher nachzuweisensup3sup2⁹ Allerdings gibt eseine motivische Uumlbernahme im zweiten Buch von De nuptiis Philologias Erbre-chen des Wissens das der Hochzeit vorausgeht hat eine Parallele in LukiansDialog Lexiphanes Der allzu (ein)gebildete Lexiphanes nimmt auf Draumlngen vonLycinus ein Brechmittel ein das ihm der Arzt Sopolis gibt Daraufhin erbricht eralle Woumlrter die er gelernt hat dies ist die Voraussetzung dafuumlr dass er nun an-gemessen belehrt werden kannsup3sup3⁰

Es handelt sich um die Fragmente Varro Men 348ndash369 In Fragment 349 findet sich dieWendung auch im Vers (si quis μελωδεῖν est ὄνος λύρας praesepibus se retineat forensibus ndashsbquower beim Gesang wiersquon Esel an der Harfe bloumld der bleib getrost im Stallmief seines Forumsdortlsquo [Uumlbs Krenkel]) Die Bezugnahme auf Varro ist umso wahrscheinlicher da Satura unmit-telbar zuvor sowohl Martianusrsquo berufliche Aufenthalte auf dem Forum erwaumlhnt und ein Wort-spiel mit seinem Namen Capella angestellt hat ndash der zwar nicht sbquoEsellsquo bedeutet wohl aber einHaustier (sbquoZiegelsquo)Vgl dazu Shanzer 1968c 38ndash40 Shanzer 1986a kritisch dazu Pabst 1994 168(m Lit) Folgt man Bovey handelt es sich bei der unmittelbar folgenden Wendung καιρὸν γνῶθιum einen weiteren Verweis auf den Titel einer Varro-Satire γνῶθι σεαυτόν (= Varr Men 199ndash210 vgl Bovey 2003 282ndash284) Naumlher liegt wohl dass Martianus Capella diese eigenstaumlndigeSentenz (vgl Diogenes Laertios I 79 der sie als Sentenz des Pittakos ausweist) aus einer anderenQuelle uumlbernommen hat Kindermann 1969 60 Shanzer geht davon aus dass Martianus Lukian kannte (Shanzer1986c 36) Zur Diskussion um Martianusrsquo Griechischkenntnisse vgl Cristante 2009 [5] undShanzer 1986c 4 die beide annehmen dass Martianus durchaus Griechisch beherrschteShanzer weist einige Stellen auf an denen Martianus woumlrtlich uumlbersetzt und schlieszligt aus derBeherrschung des Griechischen zu Recht auf einen gebildeten moumlglicherweise sogar akade-mischen Hintergrund von Martianus Lucian Lex 20f Andere antike Texte die das Erbrechen von Wissen als Teil des Reini-gungsprozesses beschreiben oder als Bild tradieren sind mir nicht bekannt Daher ist eswahrscheinlicher dass Martianus auf Lukian im Original zuruumlckgegriffen hat Zur vor-byzantinischen Rezeption Lukians vgl Nesselrath 1994 der spaumltantike Bezuumlge auf Lukian u abei Julian und Claudian aufzeigt ndash Einen Bezug auf Lukians Concilium deorum fuumlr moumlglich haumlltKrapinger 1999 962 ndash Anders gelagert sind Lucian cont 7 und Aug in Joh ev tract 36 1 Dortgeht es darum dass durch das Ausspeien Wissen weitergegeben wird was zum Bild der daserbrochene Wissen aufsammelnden Artes passt nicht jedoch zum Motiv der Reinigung

136 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Bezuumlge auszligerhalb der Uumlbernahme uumlblicher Gattungselemente lassen sich fuumlrSenecas Apocolocyntosis Petrons Satyricon oder Julians Caesares nicht konsta-tierensup3sup3sup1

Die Figur der Satura und ihr Handeln ndash Einer der deutlichsten Hinweise auf dieForm der Satire liegt im Auftreten einer Figur namens Satura Diese Figur wirdzunaumlchst von Martianus als Erzaumlhlinstanz eingefuumlhrt (1 2) von der er den Inhaltvon De nuptiis erfahren haben will Im Laufe des Werks gewinnt Satura aber anProfil und agiert zunehmend autonom

Aussagen uumlber Satura beruhen letztlich auf drei Stellen in De nuptiis (6 576ndash5798 806ndash8109997ndash999) und koumlnnen fast ausschlieszliglich aus der Formund derBotschaft ihrer eigenen Aumluszligerungen gewonnen werden An allen drei Stellendiskutiert Satura mit Martianus Ansonsten ist Satura zwar als praumlsent zu denkenwird aber nicht weiter thematisiert

Nach Martianusrsquo Anrufung Minervas zu Beginn des sechsten Buches mischtsich Satura in seine Uumlberlegungen ein welche Frauen er vor sich sehe Die Ein-mischung wird von Martianus als scherzend bezeichnet (iocabunda 6 576) dieEinmischung an sich als typisch fuumlr das Scherzen Saturas (ut lepidula est 6 576)Die Aumluszligerung Saturas beginnt mit Spott uumlber Martianusrsquo nur scheinbare KlugheitDurch falsche naumlchtliche Studien und besonders seine Anwaltstaumltigkeit habe erden Blick auf das Wichtige verloren und erkenne nun nicht einmal mehr Philo-sophia und Paideia Der Scherz wird jedoch alsbald von einem belehrendenTonfall abgeloumlst in dem Satura Martianus uumlber das Wesen der beiden Frauenaufklaumlrt

Satura tritt als Naumlchstes zu Beginn des achten Buches auf in der Folge derSilen-Szene Der angetrunkene Silen war eingeschlafen und durch Amor aufge-schreckt worden was die uumlbrigen Goumltter laut lachen lieszlig (8 803ndash805) DieseSchilderung provoziert bei SaturaWiderspruch da sie das Erzaumlhlte als unpassendfuumlr die Goumltterversammlung empfindet Ihre Kritik beginnt wieder bei der Persondes Martianus dessen Namen sie als passend zu seinem Wesen deutet (Capella ~sbquoZiegelsquo 8 806) Sodann fordert sie Martianus auf seine Possen zu unterlassenMartianus fuumlhlt sich gehoumlrig von Satura gemaszligregelt und gibt klein bei bemerktaber dass sie ansonsten mehr von Scherzen halte (alioquin lepidula 8 807) AlsSatura dann die Einfuumlhrungder eintretenden Brautjungfer in Versenvorbringt undMartianus wiederum seine Scherze (ludicra 8 808) vorhaumllt kann dieser nicht

Mit Julian verbindet Martianus immerhin die Ansiedlung der Goumltterversammlung auf derMilchstraszlige ndash Zur Rolle der Saturnalien vgl den Abschnitt bdquoDeutungen der komplexen litera-rischen Formldquo

2 De nuptiis als literarisches Werk 137

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mehr an sich halten und zahlt Satura ihre Kritik in gleicher Muumlnze heim Nacheinigem Spott uumlber Saturas Verse verteidigt nun Martianus das Recht auf Scherzgegen sie die an sich ndash nicht aber in De nuptiiswie es scheint ndash eigentlich fuumlr denScherz zustaumlndig waumlre und gibt ihr mit Martial (2 41 1) den Rat auch einmal zulachensup3sup3sup2

Ein letzter Schlagabtausch von Satura und Martianus erfolgt schlieszliglich amEnde des Werkes Wiederum streiten beide Figuren miteinander und halten sichmit Spott uumlber das Wesen des anderen nicht zuruumlck

Die Einfuumlhrung Saturas die ja nur in Verbindung ndash und das heiszligt Ausein-andersetzung ndash mit Martianus erscheint dient vornehmlich der deutlichenBenennung der Gattung und der Verstaumlndigung daruumlberwas den Charakter einessatirischen bzw des vorliegenden Werkes ausmache Erstaunlich ist dabei Mar-tianusrsquo Entwicklung der sich zunaumlchst gegen Unterhaltung im artes-Teil ausge-sprochen hatte diese spaumlter aber gegen den censorischen Eingriff Saturas imachten Buch verteidigt Noch erstaunlicher ist aber dass es gerade Satura ist diezur Beachtung des Decorums auffordert und Martianusrsquo vergleichsweise mildenScherz scharf tadelt

Erzaumlhlinstanzen ndash Die Frage nach der Erzaumlhlsituation bzw der Erzaumlhlerfigurgehoumlrt zu den grundlegenden Analysekriterien eines literarischenWerkes ebensowie die Konzipierung von Raumund Zeit Lassen sich die letzten beiden Punkte imHinblick auf De nuptiis hinreichend klaumlrensup3sup3sup3 so bietet die Erzaumlhlerfigur groumlszligereSchwierigkeiten

DassDe nuptiis zwei Erzaumlhlinstanzen hat scheint zu Beginn desWerkeswenigdramatisch In 1 2 verweist der Erzaumlhler Martianus gegenuumlber seinem Sohn dar-auf dass die folgende Geschichte (also der uumlberwiegende Teil von De nuptiis) ihm

Ride si sapis o puella ride Schievenin bietet eine gruumlndliche Analyse dieser Stelle auchmit Blick auf die inverse Vorlage Martials (plora si sapis o puella plora Mart 2 41) derwiederum auf Ovid (Ov ars 3 281 f) zuruumlckgreift (Schievenin 1984 bes 136 ausfuumlhrlich auchBovey 2003 275ndash288) Die Rahmenhandlung spielt in der erzaumlhlerischen Gegenwart und in einem unbestimmtenRaum der jedoch nicht auszligergewoumlhnlich ist es liegt nahe an Karthago und das Haus desMartianus Capella zu denken Die eigentliche Handlung spielt an z T unwirklichen Orten aufder Erde die zumeist nicht naumlher bestimmt sind (z B Philologias Herkunft) und auf derMilchstraszlige wobei die absolute Zeit nicht genannt wird aber aufeinanderfolgende Tage inihrem Ablauf erkannt werden koumlnnen Die Phantastik einzelner Szenen die meist auf alle-gorische Darstellungsweisen zuruumlckgeht verletzt jedoch nicht die raumlumliche oder zeitlichePlausibilitaumlt des Dargestellten Vgl dazu auch die Ausfuumlhrungen und grafischen Veranschau-lichungen LeMoines (1972a)

138 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

waumlhrend langer Winternaumlchte (eine Anspielung auf Gellius)sup3sup3⁴ von Satura be-richtet wurde Der antike wie moderne Leser duumlrfte sich wohl kaum daran stoszligensondernwird darin vor allem eine Inspiration des Autors durch Satura (auchwennes das zuvor noch nicht gab) erkennen Bei der Erwaumlhnung von Satura koumlnnte erHeiteres erwarten oder bunt gemischte Geschichten

Vollkommen verwirrt wird der Leser hingegen spaumltestens dann wenn er amEnde des Werkes in der Sphragis angekommen ist (9 997ndash 1000) Dort reflektiertMartianus sein literarisches Vorgehen in den vorausgegangenen neun Buumlcherngenauer gesagt distanziert er sich von der Form der Darstellung (Umfang Bunt-heit) und verweist auf die Verantwortung Saturas die die Geschichte erzaumlhlt habe

Habes anilem Martiane fabulam 997Miscillo lusit quam lucernis flamineSatura Pelasgos dum docere nititurArtes daggercagris vix amicas AtticisSic in novena decidit voluminahaec quippe loquax docta doctis aggerans 998fandis tacenda farcinat immiscuitMusas deosque disciplinas cyclicasgarrire agresti cruda finxit plasmate (9 997 f)

Da hast du Martianus eine Altweibergeschichte sie verfertigte im Spiel mit vermischterInspiration [d h in Prosa und Vers] bei Kerzenschein Saturawaumlhrend sie sich bemuumlhte diePelasger zu lehren die Kuumlnste die den Griechen kaum freundlich [d h neu] sindSo gelangte sie hinab bis zum neunten Buch haumluft plappernd Gelehrtes auf Gelehrtes undstopft geheimes und bekanntes Wissen zusammen hat Musen und Goumltter vermischt und hatsich erdacht dass die enzyklopaumldischen Disziplinen in einembaumlurischenMachwerk unreifesZeug daherplappern

So ungewoumlhnlich dieses Vorgehen auch ist ndash Martianus haumltte ja den Bericht Sa-turas als Grundlage nehmen und dann nach eigenem Geschmack umgestaltenkoumlnnen ndash wird es uumlbertroffen durch die Verteidigung Saturas Sie weist die Ver-antwortung fuumlr die Art der Erzaumlhlung von sich und verteidigt sichmit demHinweisauf Martianusrsquo intellektuelle Schwaumlche der sie die Ausfuumlhrungen habe anpassenmuumlssen

Vgl Gell praef 4 zur Erklaumlrung der Wahl des Titels Noctes Atticae fuumlr sein Werk

Sed quoniam longinquis per hiemem noctibus in agro sicuti dixi terrae Atticae commentationeshasce ludere ac facere exorsi sumus idcirco eas inscripsimus noctium esse Atticarum hellip

Aber weil wir in langen Naumlchten den Winter uumlber in Attika auf dem Landwie schon gesagtdiese Anmerkungen im Spiel und dann ernsthaft begonnen haben daher haben wir ihnenden Namen Attische Naumlchte gegeben hellip

2 De nuptiis als literarisches Werk 139

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

haec ipsa nauci rupta conscientia 999turgensque felle ac bili bdquomulta chlamydeprodire doctis approbanda cultibuspossemque comis utque e Martis curia[hellip]ab hoc creatum Pegaseum gurgitem 1000decente quando possem haurire poculoldquo (9 999 f)

Sie sagte aufgrund ihres Wissens um die Nichtigkeit (dieser Ausfuumlhrungen) verletztschwellend vor Bitterkeit und Zorn bdquoIch koumlnnte hier freundlich auftreten mit einem Gewandbekleidet lobenswert durchgelehrtes Verhaltenwie aus der VersammlungdesMars [Es folgtdie Schilderung der unguumlnstigen Anlagen von Martianus] ndash Wann koumlnnte ich mit ange-messenem Becher aus einem pegasischen Strom von ihm erschaffen schoumlpfenldquo

Somit hat das Werk das zu Beginn zwei hierarchisch geschiedene Erzaumlhler zuhaben scheint am Ende zwei Erzaumlhler die sich gleichberechtigt uumlber die Form dererzaumlhlten Geschichte streitensup3sup3⁵

Die Inkonsistenzen auf der Erzaumlhlebene setzen sich daruumlber hinaus fort HatteMartianus zu Beginn des Werks gesagt Satura habe ihm die Geschichte waumlhrendlangerWinternaumlchte erzaumlhlt so treten Satura undMartianus amEnde desWerks inder erzaumlhlerischen Gegenwart gemeinsam auf und sprechen beide nacheinanderzu Martianusrsquo Sohn

Weiterhin erscheinen Satura und Martianus innerhalb der Geschichte dieMartianus angeblichvon Satura gehoumlrt hatWaumlhrend die Goumltter denverschiedenenBrautjungfern lauschenwohnen auch SaturaundMartianus der Versammlungbeiund betrachten sie als unbeteiligte ZuschauerWie aus einer Theaterloge herauskommentieren und diskutieren sie das Geschehen das auf der bdquoGoumltterbuumlhneldquostattfindetsup3sup3⁶

Noch einen weitergehenden Schritt stellt die Silen-Szene zu Beginn des achtenBuches dar Im Anschluss an diese Szene beschwert sich Satura bei Martianus erkoumlnne die Goumltter nicht auf dieseWeise agieren lassen In der Folge entspinnt sich einGespraumlch in demMartianus seine Art des Erzaumlhlens gegen Satura verteidigt die fuumlreine zuruumlckhaltendere Darstellung plaumldiert (s o)Von der Fiktion dass Martianusseinem Sohn bloszligwiedergibtwas Satura ihm erzaumlhlt hat bleibt nichtmehr viel dieganze Szenerie ist ein Produkt der ErfindungdesMartianus gleichzeitigwohnt er ihraber gemeinsam mit Satura bei ist also Teil der Handlung

So bereits Pabst 1994 120 Anm 119 der allerdings auf eine Diskussion der Beobachtungverzichtet Es handelt sich um die Stellen zu Beginn des sechsten und des achten Buches die imvorigen Abschnitt bereits paraphrasiert wurden

140 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Diese Art der Spiels mit der Erzaumlhlerrolle wird von manchen modernen For-schern als ein wichtiges Merkmal der menippeischen Satire angesehen Hinzu-treten kann die Selbstherabsetzung des Erzaumlhlers die sich an seinemmangelndenWissen Stilbewusstsein Traditionsempfinden o auml entzuumlndetsup3sup3⁷ Folglich kanndie zunaumlchst befremdliche Brechung und Verzerrung als weiteres Merkmal derGattung menippeische Satire bestimmt werden

Aufgrund dieser Beobachtungen ist es zwingend in De nuptiis vor allem eineSatire zu sehen Auch der heiter-spoumlttische Charakter einiger Passagen zwischenden Vortraumlgen der Brautjungfern passt zum satirischen Anspruch Gelegentlicherscheint es jedoch fraglich ob es sich wirklich um satirische und nicht eher umkomische oder derbe Spaumlszlige handelt Die Szene in der Silen betrunken einschlaumlftund von den anderen Goumlttern verspottet wird (8 803ndash805) erinnert mit ihremSlapstick eher an den derben Spott der Komoumldie als an die Satire eines Varrosup3sup3⁸

22 Deutungen der komplexen literarischen Form

Wie laumlsst sich das Werk De nuptiis nun also formal beschreiben oder andersgefasstWie lassen sich die vier literarischen Traditionsstraumlnge zusammenfuumlhrenDass eine einheitliche Lesung zumindest versucht werden muss zeigt bereits dasLeitmotiv der Hochzeit ansup3sup3⁹

Im Kern handelt es sich bei MartianusrsquoWerk um eine Sammlung bedeutenderWissensschaumltze in einem einzigen Werk die darin systematisch ausgebreitetwerden Dies zeigt die Einteilung in verschiedene Disziplinen die ein ver-

Zur Erzaumlhlerrolle in der menippeischen Satire vgl u a Relihan 1993 und darin bes S 35 Mit der Aufnahme unterhaltsamer Elemente ginge Martianus sogar noch uumlber dieErwartungen an ein sbquosatirischeslsquo Werk hinaus Auch Boethius wird bescheinigt er erzaumlhle seineConsolatio bdquoper satiramldquo auch wenn bei ihm weder eine Figur Satura auftritt noch allzu vielHeiterkeit herrscht (Peiper zitiert in der Einleitung zu seiner Ausgabe S xxxi eine mittelalter-liche Boethius-Vita vgl Kindermann 1969 61)

hos libros [scil de consolatione Philosophiae] per satiram edidit imitatus videlicet mar-cianum felicem capellam qui prius libros De nuptiis philologiae et mercurii eadem speciepoematis conscripserathellip

Diese Buumlcher schrieb er als Satire freilich in Nachahmung des Marcianus Felix Capellader zuvor die Buumlcher uumlber die Hochzeit der Philologie mit Merkur in der gleichen Art vonGedicht verfasst hatte

Zum Motiv der Hochzeit das bereits programmatisch im eroumlffnenden Hymnus anHymenaeus erscheint vgl Schievenin 2009c und Cristante in der Einleitung seiner Ausgabe1987 3ndash 10

2 De nuptiis als literarisches Werk 141

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

gleichsweise leichtes Auffinden der Informationen erlaubtsup3⁴⁰ die Bedeutung wirdangesichts der Praumlsentation vor den Goumlttern auf der Milchstraszlige deutlich Alleinder Umfang dieser Vortraumlge die in sich auch nicht gestoumlrt oder gebrochenwerdenmarkiert dass es sich hier um das zentrale Charakteristikum des Werkes handelt

Den erzaumlhlerischen Anlass fuumlr diese Praumlsentation bietet eine Hochzeitsfeieralso ein Symposion hier ist die Gelegenheit fuumlr die groszligen Redebeitraumlge gegebenZudem bietet die SymposionformAnknuumlpfungspunkte fuumlr eine Rahmenhandlungdie zur Auflockerung der ebenso ausfuumlhrlichenwie trockenen Einzelreden genutztwird

Doch bleibt es ndash im Gegensatz z B zu Macrobius ndash nicht bei der bloszligenDarstellung der Wissensinhalte Hinzu tritt die allegorische Darstellung der Be-deutung von Wissen und von Fleiszlig beim Wissenserwerb in den ersten beidenBuumlchern Die praumlsentierten Inhalte der Buumlcher 3ndash9 (die Philologia ja bereits aufder Erde in Buch 2 besitzt) sindwichtig Sie sind nicht nur wichtig fuumlr das irdischeLeben (das wird nicht weiter thematisiert die explizit irdischen Wissenschaftenwie Architektur und Medizin werden sogar ausgeschlossen) ndash die Inhalte sindauch wichtig fuumlr die menschliche Vervollkommnung

Durch das angesammelte Wissen erreicht der Mensch zwar nicht die voll-kommene Erkenntnis (die erhaumllt auch Philologia nur ohne eigenes Zutun als sieauf der houmlchsten Himmelssphaumlre angekommen zum Vatergott in der jenseitigenGluumlckseligkeit betet) wohl aber ein goumlttergleiches Wissensup3⁴sup1 Der Wissenserwerbist gewissermaszligen die Voraussetzung dafuumlr dass der Mensch mit Hilfe einesgoumlttlichen Begleiters in den Himmel aufsteigen kann unsterblich wird und voll-kommene Einsicht erlangt

Die so weit kohaumlrente Verbindung der literarischen Traditionen laumlsst aller-dings den explizit satirischen Anspruch von De nuptiis auszliger Betracht durch denMartianus selbst das Werk primaumlr in die Gattung der Satire einordnet waumlhrendvergleichbare Bezuumlge zu anderen Gattungen fehlen Natuumlrlich lieszlige sich dieserprogrammatische Anspruch mit einem Verweis auf die Verwendung des Begriffszur Bezeichnung einer inhaltlich wie literarisch gemischten Form erklaumlren Dochgreift diese Erklaumlrung zu kurz da das Agieren Saturas die literarischen Passagendes Werks beinahe als Travestie erscheinen laumlsst (vgl oben zur Erzaumlhlerfigur) Einbildend-enzyklopaumldisches Werk kann sich allerdings nicht gefahrlos als Satire

So auch Englisch 1994 56 Die bdquoSystematik bei der Praumlsentationldquo erlaube einen leichtenZugriff auf die Informationen Mart Cap 2 201ndash205

142 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

praumlsentieren ohne Zweifel an der Glaubwuumlrdigkeit und Zuverlaumlssigkeit desWerkes und der praumlsentierten Inhalte zu weckensup3⁴sup2

Wenn Martianus auch die Konventionen der Gattung menippeische Satireaufnimmt und sein Werk also nur folgerichtig unter anderem eine unzuverlaumlssigeErzaumlhlsituation aufweist ist dies noch keine Erklaumlrung an sich Die regelkonformeUmsetzung gattungstypischer Anspruumlche erklaumlrt noch nicht die Wahl der Gattungan sich ndash einer Gattung die trotz ihrer Benennung als solche nicht zu denStandardformen und akzeptierten Gattungen zaumlhlte insbesondere nicht fuumlrLehrwerkesup3⁴sup3

Auch Martianusrsquo Verweis auf etwas bislang noch nicht Unternommenes(nescioquid inopinum intactumque 1 2) vermag den Widerspruch nicht zu loumlsenDie Wendung zeigt zwar dass Martianus die Ungewoumlhnlichkeit seines Ansatzesbewusst war (sofern sich die Phrase uumlberhaupt auf die Komposition des Werkesbezieht)sup3⁴⁴ beseitigt aber nicht das interpretatorische Problem ZuwelchemZweckverbindet Martianus also zwei so widerspruumlchliche Gattungen wie Enzyklopaumldieund Satiresup3⁴⁵

Drei Antwortansaumltze lassen sich grob umreiszligen 1 Die Verbindung ist nuraumluszligerlich bzw oberflaumlchlich 2 durch die Verbindung soll ein bestimmter Aspektparodiert und somit Spott und Kritik ausgesetzt werden 3 die Verbindung erfuumlllt

Dieses Problem hat bereits Westra in seinem Aufsatz bdquoThe juxtaposition of the ridiculousand the sublime in Martianus Capellaldquo benannt (Westra 1981) Allerdings beschraumlnkt sich auchdieser Aufsatz auf die Darstellung des Problems und die Zusammenstellung der Belege EineLoumlsung hat Westra nicht anzubieten ndash sein Aufsatz endet mit der eher apologetischen Bemer-kung das Eingestaumlndnis der Unvereinbarkeit von Satire und Lehrwerk durch Martianus in 9 997sei prima facie ein Spiel dahinter stecke jedoch die Absicht Problembewusstsein zu demon-strieren und Verantwortung fuumlr die unterlassene Loumlsung zu negieren bdquoEven though I would claim that prose and verse must be present in an ancient Menippeansatire it must be seen as one of a number of shocking juxtapositions of oppositesldquo (Relihan 198760) ndash In der Folge kann die prosimetrische Form durchaus auch Mittel belehrender Werkewerden vgl Pabst 1994 133 Denkbar (und wohl wahrscheinlich) waumlre auch dass damit die Inhalte besonders desMythos gemeint sind Der Verweis auf Unterhaltung fuumlhrt nicht zum Kern der Frage denn die satirische Formstellt mehr dar als reine Unterhaltung Auch das horazische Diktum ridentem dicere verum quidvetat ndashsbquolachend das Wahre zu sagen ndash was spricht dagegenlsquo (Hor serm 1 1 23) als Kern vonMartianusrsquo Satireverstaumlndnisses greift zu kurz ebenso wie vergleichbare Konzeptionen in derLiteratur Dort geht es bei Belehrung immer um einzelne philosophische Saumltze (nie beispiels-weise um die Vermittlung von Philosophie an sich) Folglich bezeichnet das bdquoverumldquo nichtkognitives Lernen sondern moralisches Der grundlegende Unterschied zur Konzeption desMartianus liegt somit auf der Hand Vgl zu diesem Aspekt im Allgemeinen z B Shanzer 1986c42 und im Speziellen u a Woytek 1986 339ndash345 Keulen 2009 bes Kap 2 und 3

2 De nuptiis als literarisches Werk 143

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

einen literarischen und belehrenden Zweck zugleich Aufgrund der komplexenSachlage und der unmittelbaren Bedeutung der Beantwortung der Frage nachdieser Verbindung fuumlr das Gesamtverstaumlndnis von De nuptiis werden alle Alter-nativen vorgestellt und bewertet

Rein formale Verbindung von Satire und EnzyklopaumldieEventuell laumlsst sich die Mischung aus enzyklopaumldischen und satirischen Ele-menten (mit den zur Satire gehoumlrigen Verspartien) als Sonderform der Varro-Re-zeption bei Martianus auffassenVarro von Reate verfasste sowohl umfangreicheFachliteratur als auch menippeische Satiren Fuumlr beides war er in der Antikebekannt und beruumlhmt ndash doch ist es wahrscheinlich dass Martianus die Werkebereits nicht mehr ndash oder allenfalls nur in Auszuumlgen ndash vorliegen hattesup3⁴⁶ Aus demWissen um die beiden Schaffensbereiche des republikanischen Autors die beideder Unterweisung dienen solltensup3⁴⁷ koumlnnte Martianus auf den Gedanken verfallensein die literarischen Formen und Inhalte in seinem Werk zu verbindensup3⁴⁸Vielleicht saszlig er auch einemMissverstaumlndnis auf indem ermeinte dass Varro seinsatirisches wie enzyklopaumldisches Koumlnnen in nur einem Werk demonstriert habeDies hieszlige jedoch dass Martianus sich der Problematik dieser Verbindung nicht

So aumluszligert sich beispielsweise Kindermann in den Vorstudien seiner Ausgabe der Conso-latio des Laurentius von Durham Er billigt Martianus nur eine sekundaumlre Varro-Kenntnis zu(Kindermann 1969 60) Entschieden verneint wird die Frage von Schievenin (2009f) und Hadotdie vor allem neuplatonische Quellen vermutet (Hadot 2005 149) Schneider jedoch nimmt andass sowohl Augustin als auch Martianus die Disciplinae noch vorliegen hatten (Schneider 1999109 f) und dass die Satiren-Exzerpte des Nonius Marcellus (fl um 400 in Afrika) ebenfalls ausdem Originaltext Varros angefertigt wurden (ibid 96 Anm 12) Abwaumlgend aumluszligert sich Huumlbner2004 passim Vgl Cic ac 1 8 (es spricht Varro)

et tamen in illis veteribus nostris quae Menippum imitati non interpretati quadam hilaritateconspersimus multa admixta ex intima philosophia multa dicta dialectice quae quo faciliusminus docti intellegerent iucunditate quadam ad legendum invitati

Jedoch findet sich in meinen fruumlhen Schriften die ich in kreativer Nachfolge (und nicht nurUumlbersetzung) Menipps mit einer gewissen Heiterkeit benetzt habe vieles aus den Kernbe-reichen der Philosophie beigemengt und vieles das nach Art der Dialektiker gesagt istdamit die weniger Gelehrten es leichter verstuumlnden nachdem sie durch eine Art von Scherzzur Lektuumlre ermuntert worden sind

Vielleicht hatte Martianus diese Stelle sogar im Kopf als er die Anlage von De nuptiis plante So z BWeinreich in der Einleitung zu seiner Uumlbersetzung roumlmischer Satiren bdquoMartianusCapella glaubte gewiszlig ein Varro redivivus zu sein sozusagen die Quintessenz des Gelehrten unddes Satirikersldquo (Weinreich 1962 XCIII) Ebenso Shanzer 1986c 42

144 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

bewusst gewesen sei ndash was ihm sicher nicht gerecht wird Auszligerdem wird so dieBezugnahme auf weitere formale Elemente der menippeischen Tradition und dieuumlbrigen Vorlaumlufer der Gattung mit anderer Konzeption (Lukian Julian) nichtausreichend beruumlcksichtigt

Ebenfalls beim Autor koumlnnte eine zweite Erklaumlrung ansetzen Im Zuge derAbfassung seiner Enzyklopaumldie hat sichMartianus nach horazischer Vorgabe (unddem Beispiel Varros)sup3⁴⁹ um Auflockerung und heitere Elemente bemuumlht Diespontanen Einfaumllle wurden ins Werk integriert und die sich daraus ergebendenInkonsistenzen entweder uumlbersehen oder billigend in Kauf genommen Beideswuumlrde gut zum klassisch negativen Martian-Bild in der Forschung passensup3⁵⁰Abgesehen davon dass Annahmen uumlber das Vorgehen beim Schreiben weitge-hend auf Spekulation beruhensup3⁵sup1 widersprechen drei Beobachtungen dieser Er-klaumlrung Erstens gelingt es Martianus De nuptiis uumlber neun Buumlcher vorauszu-planen so dass am Ende ein ndash zunaumlchst abgesehen von der Satire-Problematik ndashkohaumlrentes Werk entsteht Die Fuumllle der behandelten Themen Motive und lite-rarischen Elemente weist eher auf ein planvolles Arbeiten hin und macht es un-wahrscheinlich dass Martianus Probleme an dieser Stelle nicht wahrgenommenbzw nicht korrigiert haumltte Zweitens ist die Verbindungvon Satire und den anderenElementen nicht nur oberflaumlchlich so dass sie nachtraumlglich eingefuumlgt sein koumlnnteoder sich im Schreibprozess so ergeben haben koumlnnte Da bereits im zweitenKapitel des ersten Buches Satura eingefuumlhrt wirdwar sie von vornherein Teil des

Gemeint ist das beruumlhmte zunaumlchst nur fuumlr die Dichtung relevante prodesse aut delectare(Hor ars 333 f) zu Varro vgl die schon angefuumlhrte Stelle aus Cic ac Vgl z B die sehr bildliche Beschreibung von C S Lewis bdquo[hellip] this universe which hasproduced the bee-orchid and the giraffe has produced nothing stranger than Martianus Capella[hellip] the curiosity shop of his mind [hellip] a chaos beside which the work of Rabelais has unity andthat of Mandeville probabilityldquo (Lewis 1936 78 f) Gleiches gilt fuumlr Spekulationen uumlber eine andere Auffassung von Literatur und ihrenRegeln in Martianusrsquo Zeit oder Umfeld Einerseits kennen wir keine Texte die sich mit De nuptiisvergleichen lieszligen (was per se nichts beweist aber doch Indiziencharakter hat) andererseitshielten sich auch die spaumltantiken Autoren uumlblicherweise an die klassischen Vorgaben Ich teiledaher auch Schneiders Ansicht nicht der die Skepsis an dieser Verbindung allein der modernenLeseerfahrung zuschreibt bdquoWenn den Heutigen diese Kombination der forcierten Gelehrsamkeiteines Curriculums und der spielerisch-saloppen Causerie seltsam beruumlhren mag so waumlre dazuimmerhin schon an ein ciceronisches Dictum zu erinnern non est enim seiunctus iocus a phi-lologia (ad fam 16214) ndash sbquoSpieltrieb und Pedanterie diktieren und widersprechen sich nichtlsquo(sbquoErste Fruumlhschichtlsquo aus Grassrsquo sbquoHundejahrelsquo)ldquo (Schneider 1999 94 Anm 2) Der Verweis aufCicero traumlgt nichts zum Verstaumlndnis von Martianus bei Cicero geht es an der zitierten Stelle umden Ablauf des Tages mit seinem Schuumller der aus ernsteren und heitereren Abschnitten bestehtDaraus folgt nicht dass das Lernen mit Scherz verbunden ist ndash auszligerdem duumlrfte Cicero unteriocus (sbquo[urbaner] Scherzlsquo) anderes verstanden haben als Martianus in seiner Satura bietet

2 De nuptiis als literarisches Werk 145

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Kompositionsplans Drittens hat Schievenin gezeigt dass Martianus keineswegsoberflaumlchlich und eigenwillig arbeitet Durch eine gruumlndliche Untersuchung derSilen-Passage (8 803ndash805) kann er nachweisen dass Martianus ndash wie vieleAutoren vor ihm ndash uumlber ein umfangreiches literarisches Wissen verfuumlgte daraufbei der Abfassung seines Werkes zugreifen konnte und durch gezielte Anspie-lungen neue Bezuumlge herstelltesup3⁵sup2

Satire als Mittel der KritikWaumlhrend die antike Satire (im Gegensatz zur modernen) nicht zwangslaumlufig Kritikan Missstaumlnden uumlben wollte ist diese Moumlglichkeit umgekehrt auch nicht auszu-schlieszligen Martianus koumlnnte also bewusst eine solide Darstellung der Kuumlnste inliterarischem Gewandmit der Gattung der Satire verbunden haben um Zweifel ander Ernsthaftigkeit der uumlbrigen Teile des Werkes zu wecken Er wuumlrde somit einaufklaumlrerisches Interesse verfolgen das zugleich auch unterhaltsame Zuumlge traumlgt

Eine erste Schwierigkeit dieser Lesart von De nuptiis ergibt sich bereits bei derFrage nach dem Objekt der SatireWerden die Wissensinhalte in Zweifel gezogenoder nur die Art ihrer Vermittlung in langen Reden bzwTraktaten Soll der Glaubean die umfassende Einheit des Wissens kritisiert werden oder die Vorstellungsaumlmtliches Wissen lasse sich vermitteln gar kohaumlrent in einem Werksup3⁵sup3 Ist dieVorstellung dass Wissen goumlttlich mache parodiert oder nur die abwegige Vor-stellung dass auf einer Hochzeit solche Reden gehalten werden Oder richtet sichdie Kritik letztlich gegen die Auffassung Philologia als Vorbild zu sehen oder garals Mittlerin alles Wissens ja sogar als Mittlerin zwischen Menschen und Goumlttern

Aus der Tatsache dass das Objekt der Satire keineswegs leicht zu bestimmenist kann nicht gefolgert werden dass in De nuptiis keine Satire vorliege die be-stimmte Sachverhalte kritisiere Aber es kann durchaus gefolgert werden dass eskeine expliziten textinternen Merkmale gibt die das Lesen steuern und den Ge-genstand der Kritik deutlich hervortreten lassen Die Deutungen gehen also vonmodernen Annahmen uumlber das Umfeld bzw die Gedankenwelt von Martianus aus

Im Kern handle es sich um bdquouna narrazione tersa e brillanteldquo verbunden mit einemDickicht an Verweisen Die Silen-Szene habe einen bdquocarattere colto e della dottrina e dellalingualdquo (Schievenin 1984 132) Das Fazit seiner Untersuchung formuliert Schievenin folgen-dermaszligen bdquoIl De nuptiis si rivela dunque opera di vasti orizzonti non solo per lrsquointento dida-scalico che la pervade e che ne determineragrave la fortuna ma anche per la costante presenza nellafabula della tradizione classica e dei suoi echildquo (ibid 136) Vgl zu dieser Stelle auch Bovey2003 275ndash288 ndash Den geschickten Umgang mit mehreren Quellen ndash erzaumlhlerisch wie seman-tisch ndash kann Schievenin auch fuumlr 7 725ndash727 nachweisen (Schievenin 2009e) So z B Relihan 1993 138 bdquoMartianus writes not an encyclopedia but a Menippean satirethat parodies encyclopedic knowledgeldquo

146 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

und weisen zudem meist nicht kleinschrittig auf wie der Interpret zu seiner (oftapodiktisch dargelegten) Ansicht gelangt

Nun folgt daraus noch nicht dass Martianus De nuptiis nicht als kritisierendeSatire konzipiert haumltte die Vielzahl der (wenn auch differierenden) modernenDeutungenweist ja darauf hin Zwei Uumlberlegungenwenn auch keine schlagendenBeweise lassen die Hypothese der parodierenden Satire unwahrscheinlich wer-den der Umfang von De nuptiis und seine Rezeption Eine Satire die beispiels-weise die Verbindung von Weltwissen und menschlicher Vervollkommnung in-frage stellt benoumltigt nicht noch eine umfassende Darlegung eben diesenWissensDies gilt besonders da diese Darlegung den Hauptteil des Werks ausmacht und ndashzumindest dem Umfang nach ndash die uumlbrigen Partien weit uumlberragt Eine Deutungvon De nuptiis als kritischer Satire muumlsste also besonders die Frage beantwortenzu welchem Zweck die umfangreichen Darstellungen der Freien Kuumlnste aufge-nommen sind (und nicht nur angedeutet werden)

Die Rezeption eignet sich zwar ebenfalls nicht zu sicheren Ruumlckschluumlssen aufdie originale Intention eines Werkes haumlufig bietet sie aber interessante EinblickeDie Martianus-Rezeption stellt sich bald ein Cassiodor beruft sich in seinen In-stitutiones auf ihn Dort erscheint Martianus nicht als Satiriker oder Zeitkritikersondern als Gelehrtersup3⁵⁴ In dieser Tradition wird Martianus auch im Mittelaltergelesen und rezipiertsup3⁵⁵

Aumlhnliches laumlsst sich fuumlr Boethiusrsquo Anknuumlpfen an die prosimetrische Form inder Ausgestaltung von Martianus sagen Boethius verfasst zweifelsfrei keine kri-tische Satire kann aber trotzdem an die Form und den Inhalt von De nuptiisproblemlos anknuumlpfen Sowohl der Form nach wie auch durch einzelne Zitatemacht er deutlich dass erDe nuptiis kennt und als eine seiner Vorlagen benutzt Esist zu bezweifeln dass Boethius in seinem Bemuumlhen um eine adaumlquatewerbendeDarstellung der Philosophie auf Form und Zitate des Martianus zuruumlckgegriffenhaumltte haumltte er nicht die Moumlglichkeit der gefahrlosen Uumlbernahme gesehen

Satirische Elemente als Mittel der BelehrungDer dritte Erklaumlrungsansatz fuumlr die Verbindung von Satire und Belehrung be-trachtet die Wahl Saturas als Figur und die Bezugnahme auf die Gattung zunaumlchst

Cassiod inst 2 2 17 Zur mittelalterlichen Martianus-Rezeption vgl bes Nuchelmans 1950 Lutz 1971 und 1976Willis 1973 sowie die Ausgaben und Literatur u a zu folgenden Werken Konrad von MureFabularius Hugo von Sankt Victor Didascalicon de studio legendi Johannes von SalisburyMetalogicon Kindermann kann weiterhin nachweisen dass De nuptiis auch durch seine Forminspirierend gewirkt hat (Kindermann 1969 61 f)

2 De nuptiis als literarisches Werk 147

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

als reine Fortsetzungder literarischen Form Fuumlr diese spezielle Formder Literaturdie menippeische Satire hat der russische Literaturwissenschaftler MichailBachtin Beobachtungen aufgestellt die auch fuumlr De nuptiis zutreffen Durch denRuumlckgriff auf zwei zentrale Konzepte Bachtins das Karnevaleske und die Dialo-gizitaumlt wird ein Verstaumlndnis von De nuptiis ermoumlglicht

Auf der Suche nach Vorlagen und Urformen der Gattung des Romans ins-besondere in der Form von Dostojewskis Romanen stieszlig Bachtin unter anderemauch auf die menippeische Satire die er bis in die Antike zuruumlckverfolgtesup3⁵⁶ Zuihren Vertretern zaumlhlt er unter anderem Varro Apuleius Petron Seneca oderLukiansup3⁵⁷ Martianus Capella wird nicht erwaumlhnt was aber nicht verwundernmuss da Bachtin keine Literaturgeschichte der menippeischen Satire schriebsup3⁵⁸

Kern der Uumlberlegungen Bachtins zurmenippeischen Satire ist das Konzept desKarnevals Unter Karneval versteht er folkloristische Feste waumlhrend deren diebestehende Ordnung verkehrt wird uumlbliche Regeln nicht mehr gelten Herr-schende gestuumlrzt und Machtlose maumlchtig werden ndash auf Zeit Die Karnevalisierungalso die Uumlbernahme der Kennzeichen dieses Festes in neue oder bestehende li-terarische Formen institutionalisiert diese Ausnahmesituation und loumlst sie vomkonkreten Fest Der so entstandene Text wird bdquozum karnevalesken Spiel an demder Autor und sein Publikum einverstaumlndlich teilhaben und das keines kalen-darisch oder institutionell abgesicherten Karnevalsrahmens mehr bedarfldquosup3⁵⁹

Diese Karnevalisierung fuumlhrt unter anderem zu einer Vielstimmigkeit vonMeinungen und Positionen im Text z B durch mehrere Figurenvon denen keinebevorzugt oder gar als autoritativ gekennzeichnet wird In dieser Dialogizitaumlt wirdkein allgemein guumlltiger Sinnmehr vermittelt sondern dieWahrheit suspendiertsup3⁶⁰

Dass der Bezug auf karnevalsartige Feste der Gattung menippeische Satire (inTeilen auch der Verssatire) eignet zeigt ein kurzer Blick auf wichtige Vertreter derTradition

Julians Symposion Caesares spielt zur Zeit der Saturnalien Die Bedeutungdieses Festes fuumlr das Werk wird dadurch verdeutlicht dass es den Handlungs-

Bachtin 1971 126ndash 135 Bachtin 1971 126 128 132f Kritik an den z T pauschalisierenden und verfaumllschenden Aussagen Bachtins uumlber antikeLiteratur oder an der ununterbrochenen Traditionslinie von der Antike bis in die Moderne (z BRelihan 1987 59 Lachmann 2006 23ndash25) muumlsste auch auf manche moderne Literaturwissen-schaftler in der Nachfolge Bachtins angewandt werden (vgl Branham 2005 6 wo es uumlberSenecas Apocolocyntosis heiszligt bdquoour only extant Menippean satire in Latinldquo) Teuber 1993 182 Eine gut verstaumlndliche Einfuumlhrung in das Konzept der Dialogizitaumlt im Sinne der bach-tinschen Terminologie bietet Sharland 2010 Einfuumlhrung (1ndash51)

148 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

rahmen fuumlr den in der Folge erzaumlhlten Mythos bildet Bereits im ersten Satz wirdauf das Fest und die Tradition Heiteres frei zu erzaumlhlen Bezug genommensup3⁶sup1

Auch Senecas Apocolocyntosis stellt einen engen Bezug zum Saturnalienfesther Das Werk spielt zwar nicht an den Saturnalien sondern am Todestag desClaudius im Oktober doch wird an zwei Stellen eine Verbindung zwischen derHerrschaft des verstorbenen Kaisers und den dargestellten Sitten waumlhrend derRegierungszeit mit dem Saturnalienfest gezogensup3⁶sup2 Manche Interpreten gehensogar davon aus dass die Apocolocyntosis an den Saturnalien des Jahres 54vorgetragen wurdesup3⁶sup3 Auch bei Petron und Horaz finden sich Bezugnahmen aufdie Saturnaliensup3⁶⁴

Ein zentrales Element des Saturnalienfestes liegt in der Suspension der uumlb-licherweise geltenden Normen und Wertesup3⁶⁵ Neben den anderen Elementen desFestes wie sie z B in Macrobiusrsquo Saturnalia (1 7ndash 10 1 24 22 f) beschriebenwerden (traditionelle Geschenke Festmahl fuumlr die Sklaven etc) hat gerade dieUmkehrung der Herrschaftsverhaumlltnisse im Haus Niederschlag in der Literaturgefunden

Gerade durch diese Rolleninversion treten einige wichtige gesellschaftlicheNormvorstellungen und Grundannahmen prominent hervor Dazu zaumlhlt das Be-wusstsein dass es eine befehlende und eine ausfuumlhrende Gruppe von Menschengibt oder dass im Prinzip ein Rollenwechsel moumlglich sein kann Alle Beteiligten

Ἐπειδὴ δίδωσιν ὁ θεὸς παίζειν ndash ἔστι γὰρ Κρόνια ndash hellip (sbquoDa der Gott das Scherzen erlaubt ndashes sind ja die Kronia helliplsquo Caes 1 = 306a Spanheim) Zur Frage ob es sich bei Caesares auch umdas Werk handle auf das zu Ende der Rede auf Koumlnig Helios verwiesen wird (Or in Sol reg 44 =157c Spanheim) vgl Muumlller in seiner Uumlbersetzung (39 ablehnend) und Lacombrade im Vorwortseiner Budeacute-Ausgabe (3 und 18 Anm 3) der aufgrund des Handschriftenbefundes Kronia auchals Titelbestandteil fuumlr die Caesares uumlbernimmt Es handelt sich um Sen apocol 8 1 (Claudius als Saturnalienprinz) und 12 2 (Herrschaftdes Claudius als andauerndes Saturnalienfest) ndash Dass Lukian nicht auf die Saturnalien alsRahmen fuumlr seine Werke zuruumlckgreift entwertet die Beobachtungen nicht Lukian musste auf-grund seines Selbstbewusstseins als satirischer Schriftsteller und aufgrund der Menge seinersatirischen Schriften nicht jedes Mal einen eigenen literarischen Rahmen herstellen in demeinzelne Dialoge stattfinden konnten Das Saturnalienfest selbst erscheint bei Lukian als Ge-genstand der Satire nicht als deren literarische Rahmung (Τὰ πρὸς Κρόνον) Zuerst bei Furneaux 1896 23 Anm 11 In der neueren Forschung vgl bes Nauta 1987Kritisch dazu u a Doumlpp 1993 159 f Petron 44 3 58 2 69 9 zu Horaz vgl z B serm 2 7 (libertas Decembris) Ein gelungenesBeispiel der Anpassung und Anwendung der bachtinschen Konzepte mit Ertrag fuumlr die Inter-pretation unter Einbezug von serm 2 7 bietet Sharland 2010 Distelrath 1999 114 Vgl weiterhin Versnel 1993 136ndash227 und Doumlpp 1993 Eine plastischeSchilderung der Rollenvertauschung bei der der Sklave dem Herrn die Leviten liest bietet Horserm 2 7

2 De nuptiis als literarisches Werk 149

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Herren wie Sklaven spielen also mit den Moumlglichkeiten einer alternativen Wirk-lichkeit

Das Besondere im Spiel mit den Moumlglichkeiten liegt aber in seiner zeitlichenBegrenzung Nach der Zeit des Ausnahmezustands gelten wieder die normalenimmer guumlltigen Regeln Die Rolleninversion erlaubt also ndash oder erzwingt gera-dezu ndash das Nachdenken uumlber bestimmte gesellschaftliche Normen und Wertvor-stellungen Durch die Ritualisierung und enge zeitliche Begrenzung ist darausjedoch keineswegs die Notwendigkeit entstanden die Verhaumlltnisse tatsaumlchlich zuhinterfragen oder gar zu aumlndern Daher lassen sich die Saturnalien auch als ein dieKonventionen bestaumlrkendes Fest verstehen Das Spiel mit der Moumlglichkeit eineranderen Gesellschaftsordnung hat durch seine Ritualisierung letztlich eine dieTradition legitimierende Funktion bekommen

In De nuptiis finden sich jedoch houmlchstens spaumlrliche Hinweise auf das Sa-turnalienfest Am ehesten weist das grob scherzende Agieren Saturas in diesenBereich Die bdquolangen Winternaumlchteldquo (1 2) koumlnnten (statt als Bezug auf Gellius) alsAnspielung auf das Saturnalienfest verstandenwerden ndash die Saturnalien finden inden laumlngsten Naumlchten uumlberhaupt statt seit der Kaiserzeit vom 17 bis 23 DezemberDies ndash wie die Spekulation uumlber eine spielerische etymologische Verbindung vonSatura und Saturnaliensup3⁶⁶ ndash ist aber insofern nicht von Belang da die Gattung alsGanze karnevaleske Zuumlge traumlgt und als gewissermaszligen institutionalisierter Kar-neval vom eigentlichen Fest losgeloumlst istsup3⁶⁷

Die Aufhebung der uumlblichen Ordnung (was Teuber im Ruumlckgriff auf Limina-litaumltskonzepte als praumlliminale Phase bezeichnet)sup3⁶⁸ beginnt mit der VorbereitungPhilologias zum Aufstieg in den Himmel Bereits das Erbrechen stellt eine mar-kante Umkehrung der alltaumlglichen Welt dar Statt sich Wissen anzueignen er-bricht Philologia es nun In der Goumltterversammlung auf der Milchstraszlige ist dieOrdnung sodann voumlllig verkehrt Philologia als Meisterin aller Disziplinen und

Zwar sind die einschlaumlgigen etymologischen Woumlrterbuumlcher skeptisch (v a WaldeHof-mann 2007 II 482 neutral ErnoutMeillet 2001 596) jedoch gibt es dahin gehende moderneDeutungen (aufgefuumlhrt bei WaldeHofmann 2007 II 482) und auch antike ParallelisierungenCic nat deor 2 64 Saturnus hellip est appellatus quod saturaretur annis (sbquoSaturn hellip wurde ergenannt weil er an Jahren gesaumlttigt istlsquo) Fulg myth 1 2 (p 17 16) a saturando Saturnus dictusest (sbquoDa er (die Menschen) saumlttigt wurde er Saturn genanntlsquo) Aug cons euang 1 23 35 Sa-turnus tamquam satur hellip νοῦς (sbquoSaturn gleichsam der gesaumlttigte hellip νοῦςlsquo) Vgl auch Gowers diedie etymologischen Verbindungen von satura Satyrspiel und Saturnalien untersucht (Gowers1993 109ndash 117) Sie kommt zu dem Befund dass keine Verbindung bestehe wohl aber verbin-dende Elemente identifiziert werden koumlnnten bdquocarnival licence parody uninhibited mockeryand excessive consumptionldquo (ibid 117) Vgl z B Teuber 1993 183 f Teuber 1993 183

150 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

bedeutende Lehrinstanz muss sich ihrerseits belehren lassen ndash mit dem Wissendas urspruumlnglich ihres war

Durch die Inversion wird die (vielleicht uumlblicherweise nicht prominente)Philologia in den Mittelpunkt geruumlckt und ihre zentrale Rolle im Wissenssystemtritt markant vor Augen Gleichzeitig kann darin eine leise Anfrage an ihre Lehr-autoritaumlt und eventuell auch ihre Eignung zur Lehre gesehen werden

Aufgrund des zeitlich begrenzten Rahmens der Verkehrung (diemit dem Endeder Vortraumlge voruumlber ist aber nicht explizit zuruumlckverwandelt wird) dessen Be-grenztheit durch Bezug auf die Form der menippeischen Satire ergaumlnzt werdenkann wird das System der Bildung und der Bildungsvermittlung jedoch nichtgrundsaumltzlich infrage gestellt Die Suspendierung Philologias ist temporaumlr

Dem Konzept der Dialogizitaumlt oder Mehrstimmigkeit folgend erklaumlrt sich auchdie Doppelung und Verunklarung der Erzaumlhlinstanz In den drei Dialogen indenen Satura und Martianus aufeinandertreffen behandeln sie die Frage desrichtigen Erzaumlhlens Dies beschraumlnkt sich nicht nur auf die Satire sondern umfasstalle auftretenden literarischen Formen Martianus und Satura sind sich uneinswie weit der Mythos reichen soll und ob eine Enzyklopaumldie trocken oder auchunterhaltsam erzaumlhlt werden soll (2 219ndash3 222) ob ein Symposion auch Zechenund Spaszlig vertraumlgt (8 803ndash810) oder ob und wie stark Satire Dinge vermischendarf (9 997ndash 1000)

Die unterschiedlichen Meinungen zu den Fragen werden zwar diskutiert undfuumlhren zu einem Ergebnis ndash der Erzaumlhlfluss versiegt ja an keiner Stelle oder setztneu an Allerdings entsteht in der Folge kein homogenes Werk und am Schlussmag keiner der beiden Erzaumlhler dafuumlr die Verantwortung uumlbernehmen Der Wi-derwillen sich zu dem Werk zu bekennen bedeutet aber gleichzeitig auch dassMartianus sich nicht festlegt welche Position er fuumlr die richtige haumllt Die Fragenach der rechten Art der Wissensvermittlung die auch in der Ent- und Inthroni-sierung Philologias anklang bleibt unbeantwortet

Schlieszliglich bringt der Blick auf die Aurelian-Vita aus der Historia Augustanoch einen weiteren Aspekt ein Parallel zur Aufteilung der Erzaumlhlinstanzen in Denuptiiswird der Erzaumlhlprozess in derHistoria Augusta aufmehrere AutorenverteiltWie zuerst Hermann Dessau und in der Folge Ronald Syme nachdruumlcklich gezeigthaben handelt es sich allerdings um nur einen Verfasser der uumlberdies auch inBezug auf die Abfassungszeit falsche Angaben gemacht hat und Quellen erfundenhatsup3⁶⁹ Insofern laumlsst sich der in der Historia Augusta gepraumlgte Begriff der

Auf den Charakter der Sammlung die Syme u a als bdquohoaxldquo bezeichnet (1983a 11 1983b13 1983c 219) die fingierten Autoren die manipulierten Quellen etc soll an dieser Stelle nurhingewiesen werden Vgl auch Cameron 2011 Kap 20 mit ausfuumlhrlicher Diskussion relevanterFragen

2 De nuptiis als literarisches Werk 151

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mythistoria der Vermischung von Mythischem und Historischem auch auf dieSammlung selbst anwendensup3⁷⁰

Als Menippee im engeren Sinne laumlsst sich weiterhin die Aurelian-Vita die 26Vita der Sammlung fassen und bezeichnenderweise spielt die Rahmenhandlungan denHilariasup3⁷sup1Wie zu den Saturnalien gehoumlren zu diesem Fest Scherze und ndash imRahmen von Maskierungen ndash Rollenwechselsup3⁷sup2

Noch in der rahmenden Einleitung zur Vita spielt sich folgender Dialog ab

1 et quoniam sermo nobis de Trebltellgtio Pollione qui a duobus Philippis usque ad divumClaudium et eius fratrem Quintillum imperatores tam claros quam obscuros memoriaeprodidit in eodem vehiculo fuit adserente Tiberiano quod Pollio multa incuriose multabreviter prodidisset me contra dicente neminem scriptorum quantum ad historiam pertinetnon aliquid esse mentitum prodente quin etiam in quo Livius in quo Sallustius in quoCornelius Tacitus in quo denique Trogus manifestis testibus convincerentur pedibus insententiam transitum faciens ac manum porrigens iocando[m] praeterea sbquoscribelsquo inquit sbquout

quae ille [scil Iunius Cordus] omnia exsequendo libros mythistoriis replevit talia scribendocum omnino rerum vilium aut nulla scribenda sint aut nimis pauca si tamen ex his morespossint animadverti qui re vera sciendi sunt hellip sed ex parte ut ex ea cetera colligantur(SHA Opil 1 5)

Bei der Anfuumlhrung von all diesen Informationen hat er die Buumlcher mit fabuloumlsen Ge-schichten angefuumlllt indem er Dinge von dieser Art schrieb wo doch uumlberhaupt keinenutzlosen Dinge geschrieben werden duumlrfen oder nur sehr wenige sofern daraus Verhal-tensweisen erkannt werden koumlnnen die wirklich wissenswert sind hellip aber zum Teil(schreibe ich) damit daraus das Andere gefolgert werden kann

quid Marius Maximus homo omnium verbosissimus qui et mythist[h]oricis se voluminibusinplicavit num ad istam descriptionem curamque descendit (SHA Quadr tyr 1 2)

Wie Hat sich Marius Maximus der groumlszligte Schwaumltzer vor dem Herrn der sich in seinenmythistorischen Werken verfangen hat etwa zu dieser Art der Darstellung und des sorg-faumlltigen Arbeitens herabgelassen

Hilaribus quibus omnia festa et fieri debere scimus et dici impletis sollemnibus vehiculo suome hellip Iunius Tiberianus accepit (SHA Aurelian 1 1)

An den Hilaria an denen alles zum Fest Gehoumlrende getan und gesagt werden muss wieman weiszlig empfing mich nach Erledigung der Zeremonien Iunius Tiberianus in seinemGefaumlhrt

Pausch bemerkt dieses besondere Datum zwar und erwaumlgt ob es sich um ein bdquoweitergehendesLesesignalldquo beispielsweise im Sinne karnevalesker Literatur handeln koumlnne verfolgt diese Spuraber nicht weiter (Pausch 2011 130 Anm 1) Herodian 1 10 5 ndash Einige Hinweise auf die Hilaria die im Kontext des Magna Mater-Festesam 25 Maumlrz gefeiert wurden bietet Fraser in seinem Kommentar zu Ovids Fasti (Fraser 1929244ndash248)

152 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

libet 2 securus quod velis dices habiturus mendaciorum comites quos historicae elo-quentiae miramur auctoreslsquo (SHA Aurelian 2 1ndash2)

1 Und weil unser Gespraumlch uumlber Trebellius Pollio der von den beiden Philippi bis zumvergoumlttlichten Claudius und dessen Bruder Quintillus gleichermaszligen uumlber beruumlhmte wieunbekannte Kaiser fuumlr die Nachwelt schrieb in derselben Saumlnfte stattfand behauptete erdass Pollio vieles ohne Sorgfalt und nur kurz dargelegt habe Ich erwiderte dass keinSchriftsteller sofern es um die Geschichte gehe nicht irgendwo gelogen habe und legtesodann dar worin sogar Livius Sallust Tacitus schlieszliglich sogar Trogus mit eindeutigenBelegen uumlberfuumlhrt werden koumlnnten Darauf sagte Tiberianus schlieszliglich scherzend indem ermeiner Meinung beipflichtete und mir seine Hand darbot bdquoSchreibe sowie du es fuumlr richtighaumlltst 2 Sage unbesorgt was du willst du wirst diejenigen als Gefaumlhrten fuumlr deine Taumlu-schungen haben die wir als Schoumlpfer historiographischer Beredsamkeit bewundernldquo

So sympathisch dieser Anspruch auch erscheinen mag ist er doch fuumlr das Ver-trauen in die Gattung der Geschichtsschreibung fatal Gerade in der Einleitungeiner Vita jedoch ndash zumal es der Fiktion nach die erste des Flavius Vopiscus Sy-racusius im Corpus der Historia Augusta ist ndash kann eine solche Anekdote ei-gentlich keinen Platz haben Sie erweckt beim Leser den Eindruck dass er dennachfolgend dargebotenen Informationen kein Vertrauen schenken duumlrfesup3⁷sup3

Die Parallelen zwischen der Historia Augusta insbesondere dem Vorgehen inder Vita Aureliani und De nuptiis liegen auf der Hand Verunklarung der Autor-schaft bzw der Erzaumlhlhaltung einerseits Erwecken von Zweifeln an der Glaub-wuumlrdigkeit des Dargebotenen andererseits

In der Historia Augusta sind die Inkongruenzen mit der Freude des Autors amliterarischen Spiel erklaumlrt worden Der Autor habe aus Freude am Fabulieren(vielleicht auchumein dafuumlr empfaumlngliches Publikum zu befriedigen) die Viten indieser Form verfasstsup3⁷⁴ Mag man dies fuumlr die Historia Augusta noch zugestehenderen Text uumlber einen laumlngeren Zeitraum vielleicht zunaumlchst ohne eine Gesamt-konzeption entstanden ist und auch sprachlich nicht herausragt stellt sich derSachverhalt fuumlr Martianusrsquo De nuptiis anders dar Das Werk hat durchaus einenliterarischen Anspruch und es folgt eindeutig einer vorab geplanten Gesamtan-lage Die Freude am Spiel mag vielleicht manches Detail beigesteuert haben fuumlrdie verschraumlnkte Anlage des Textes ist sie aber keine Erklaumlrung

Ganz anders ist der Anspruch zum Ende der Darstellung der Viten der bdquoDreiszligig Tyrannenldquoin dem der Autor beteuert seinem Werk mangele es zwar an literarischer Ausgefeiltheit nichtjedoch an Faktentreue da nunc cuivis libellum non tam diserte quam fideliter scriptum ndash sbquoGibnun dieses Buumlchleinwem du magst es ist nicht so sehr kunstvoll geschrieben wie es sachgetreuistlsquo (SHA Quadr tyr 33 8) Syme nennt dies bdquodeceit for its own sweet sakeldquo (1983c 217) Im gleichen Aufsatz spe-kuliert er auch uumlber das Interesse des Publikums an einer solchen Art von geistigem Spiel(ibid 221)

2 De nuptiis als literarisches Werk 153

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Es lohnt sich jedoch auch fuumlr die Historia Augusta einen Schritt weiter zugehen Ausgangspunkt dafuumlr ist die obige Beobachtungdass das literarische Spielder Historia Augusta nur durchschaut wer die Werke der historischen Literaturkennt Durch die Lektuumlre historiographischer Biographien bringt der Leser einebestimmte Leseerwartung also implizite Vorstellungen mit wie das Werk aus-sehen soll und wird Diese Erwartungen werden aber nicht oder nur teilweisebedient Formal gesehen weisen die Viten in der Historia Augusta zwar die Cha-rakteristika der Gattung auf ndash doch indem sie sie inhaltlich nicht adaumlquat aus-fuumlllen treten deren Konventionen vor Augen

Durch die uumlbermaumlszligige Verwendung falscher Verweise und erfundener Quel-len geraumlt zudem das Beglaubigungsverfahren historischer Texte in den Blick-punkt Der Leser erkennt anwelchen Stellenwelche Beglaubigungsmechanismenansetzen und auf welche Weise sie unterlaufen werden koumlnnen Uumlberspitzt lieszligesich behaupten DieHistoria Augusta verfolgt ein aufklaumlrerisches Interesse indemsie (spielerisch) aufzeigt welche Beglaubigungsverfahren die Geschichtsschrei-bung nutzt und wie sie manipuliert werden koumlnnen dadurch wird auch die Ma-nipulierbarkeit von Geschichte und Leser deutlich

In De nuptiis werden ebenfalls die Konventionen der Einzelgattungen ndash zu-mindest ansatzweise ndash hervorgehoben Dass kein perfektes Musterbeispiel derjeweiligen Einzelgattung entstehen kann liegt darin begruumlndet dass durch dieVerbindung der vier literarischen Genres keine oberflaumlchliche Konsistenz derFiktion entstehen kannVielmehr entstehen Bruumlche die ndash ebenso wie die Bruumlchein der Erzaumlhlhaltung ndash auch die Gattungskonventionen und ihre Annahmendeutlich werden lassen Dies gilt besonders fuumlr die Satire deren Vorgehen imKontrast zur eigentlichen Hochzeitshandlung aus dem Rahmen faumlllt und somitbesonderes Augenmerk erhaumllt Hinzu tritt mit der Figur Satura auch eine Perso-nifikation der Gattung die in theoretischen Diskussionen Annahmen und Vor-gehen mit Martianus eroumlrtert Grunduumlberlegungen der Gattung Satire werden sotheoretisch eroumlrtert und praktisch erprobt Gleiches giltwenn auch zT inwenigerdeutlicher Form auch fuumlr die anderen Formen Die Enzyklopaumldie in ihren langenMonologen wird durch Spott markiert die trockenen Kuumlnste werden probeweisedurch Allegorien zugaumlnglicher gemacht im Symposiondialog wird uumlberlegt in-wieweit uumlbliche Rollenmuster (der Zecher) einen Platz haben oder wie weit mandie fuumlr die Feier typischen Reden fuumlhren kann und immythischen Teil wird durchdie Gegenuumlberstellung mit dem handfesten Wissensbetrieb die Andersartigkeitdes Erzaumlhlens deutlich

So werden neben den Inhalten der Wissenschaften auch verschiedene lite-rarische Formen bewahrt Neben der reinen Anwendung und somit Tradierungwerden gleichzeitig auch die Mechanismen verdeutlicht deren sich die jeweilige

154 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Gattung bedient Somit wird ihr Funktionieren nachvollziehbar und in der Folgeauch nachahmbar

3 Zusammenfassung

Martianus weckt also durch die Wahl mehrerer gleichberechtigter Erzaumlhler diesomit das Erzaumlhlen unzuverlaumlssig werden lassen besonders aber durch dieUumlbernahme satirischer Gattungselemente ein Bewusstsein fuumlr die traditionellenGrundlagen desWissens- und Lehrsystems seiner Zeit ImGegensatz zur Satire diediese Fragen kategorisch stellt handelt es sich in De nuptiis um ein Spiel damitDer Satirebezug dient als Anknuumlpfung an die traditionellen Gattungsmerkmaleder menippeischen Satire Karnevaleske und Dialogizitaumlt

Durch die (temporaumlre) Rolleninversion richtet sich das Augenmerk aufPhilologia als Wissenszentrum und Wissensmittlerin und fordert zum Nach-denken daruumlber heraus Im Kern hinterfragt das Werk alle Bereiche die mit Bil-dung und Bildungsvermittlung zu tun haben Was sind die Inhalte wahrer Bil-dung Gibt es eine Einheit von Bildung Wie kann sie vermittelt werden

Allerdings zielt die Kritik nicht auf eine Aufloumlsung klassischer Bildungsinhalteund Vermittlungsformen Sie regt vielmehr durch Scherz und Bruumlche zumNachdenken uumlber diese Fragen an Dabei verzichtet Martianus auf eigene Vor-schlaumlge und Konzepte und festigt so gleichsam den traditionellen Bildungs-betrieb Das von ihm dargestellte Wissen wird kanonisiert und die Darstel-lungsform in langen Reden wird es auch Die mittelalterliche Rezeption von Denuptiis zeigt dies eindrucksvoll

Wissen umfasst dabei nicht nur das Faktenwissen der Vortraumlge sondern auchdas Wissen um bestimmte literarische Formen Durch die Verbindung von vierGattungen und die Doppelung der Erzaumlhlerfigur mit Reflexion uumlber angemessenesErzaumlhlen entstehen Inkonsistenzen die die Konventionen der einzelnen Gattun-gen hervortreten lassen Nicht alle Elementewerden auf dieseWeise deutlich aberMartianus bietet einen Ansatzpunkt die Fiktion auch unter der Fragestellung zulesen was einen Text der jeweiligen Gattung ausmacht ndash sowohl positiv wie ne-gativ formuliert

Mit seiner kreativen Konzeption und ihrer literarischen Umsetzung gelingt esMartianus eindrucksvoll Heiteres und Belehrendes zu verbindenwomit er an dieTradition Varros und die klassische antike Poetik anknuumlpft Es gelingt ihm daruumlberhinaus aber auchWissen zu vermitteln und die traditionellen Vorstellungen vonder Bedeutung dieses Wissens wie der Form seiner Vermittlung herauszustellenSpielerisch wird also gelehrt und hinterfragt nicht jedoch kategorisch kritisiertoder kuumlhn neu entworfen Gerade dadurch zeichnet sich Martianusrsquo De nuptiis

3 Zusammenfassung 155

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

tatsaumlchlich als nescioquid inopinum intactumque (sbquoetwas Ungewohntes und nochnie Gewagteslsquo 1 2) aus und macht es zu einem der bedeutendsten Buumlcher derSpaumltantike und zu einer interessanten Quelle fuumlr die Frage nach Bildungsvor-stellungen im fuumlnften Jahrhundert

156 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Page 20: Bildungsvorstellungen im 5. Jahrhundert n. Chr. (Macrobius, Martianus Capella und Sidonius Apollinaris) || III Martianus Capella, De nuptiis Philologiae et Mercurii

sonders zu markieren Dies gilt vor allem fuumlr markante Szenen zum Beispiel dieRede Jupiters in der Goumltterversammlung gegen Ende des ersten Buches (1 91ndash93)oder die orakelartige Auskunft Apolls (1 21 f)

Diese Beobachtung gilt daruumlber hinaus ebenso fuumlr die genannten Stellen inBuch 9 auch wenn es sich dort nicht um die Vorgeschichte oder einen weiterenliterarischen Rahmen handelt Jedoch ist eine Szene mit Goumlttergespraumlchen ein-geschoben in der die Goumltter unter anderem auch Verse verwenden Durch dieseReden in metrisch gebundener Form soll den entsprechenden Buumlchern also einehoumlhere Wuumlrde verliehen werden

Einen zweiten Fall stellen die Gedichte zu Beginn oder zu Ende eines Buchesin den Buumlchern 3 bis 9 dar In diesen Buumlchern praumlsentieren die Freien Kuumlnste ingeschlossenem Vortrag die Inhalte ihrer Wissenschaft Die Gedichte in einigenFaumlllen in auktorialer Erzaumlhlhaltung gestaltet uumlberbruumlcken die Fuge zwischen denBuumlchern und bieten eine Pause zwischen den langen Vortragspartien der Leserkann sich erholen Die Inhalte der Verspartien sind unterschiedlich es handeltsich zumeist um den Ein- oder Auszug einer Brautjungfer (4 327 4 423 f 8 8028 808 9 911ndash919) um die Fortfuumlhrung der Hochzeitshandlung (5 425 8 8059 888) um die Anrufung eines Gottes (6 567ndash574) oder um eine Wendung desAutors an den Leser (5 566 9 997ndash 1000)

Dieser Einsatz der Verspartien ist jedoch noch keine hinreichende Erklaumlrungfuumlr die Wahl des Prosimetrums Sie erklaumlrt sich besonders dadurch dass Marti-anus auf diese Weise sein Werk in die Traditionslinie von Texten einreiht die alsmenippeische Satiren bezeichnet werdensup3sup1⁶

Charakteristisch fuumlr diese spezielle Form der roumlmischen Satire ist der Wechselvon metrischen und prosaischen Partiensup3sup1⁷ Klassische lateinischsprachige Ver-treter der menippeischen Satire sind Varro (Saturae Menippeae) Seneca (Apo-colocyntosis) und Petron (Satyrikon) in der griechischen Literatur nutzen Lukianund Julian (Caesares) diese Form Inhaltlich lassen sich nur wenige Verbindungenzwischen den Werken ziehen und auch die Umsetzung der formalen Elemente istunterschiedlich Dies fuumlhrt sogar so weit dass sich moderne Forscher trotz derbereits antik bezeugten Bezeichnungder Gattung teilweise auszligerstande sehen dieGattung genauer zu definieren oder dass sie ihre Fragestellung losgeloumlst von derGattungstradition verfolgensup3sup1⁸ Dies macht die Verortung von De nuptiis in diesemGenre nicht leichter

Zur menippeischen Satire vgl Relihan 1993 Coffey 1996 Im Gegensatz dazu beschraumlnkt sich die Verssatire seit Horaz auf die Verwendung desHexameters So betont Scheible im Vorwort ihrer Studie zu den Gedichten in Boethiusrsquo de consolationedass sie Vorgaben der Tradition in Hinblick auf die Gedichte nicht beruumlcksichtige ndash sie lieszligen

2 De nuptiis als literarisches Werk 133

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Gelegentlich wird sogar die These vertreten dass sich das satirische ElementinDe nuptiis in dieser formalen Verbindung von Prosaund Poesie erschoumlpfesup3sup1⁹DerGattungsbegriff sbquomenippeische Satirelsquo waumlre dann identisch mit der BezeichnungsbquoProsimetrumlsquo Dem widersprechen jedoch verschiedene Beobachtungen derRuumlckgriff auf die Etymologie des Wortes satura die Bezugnahme auf Vertreter derGattung und das Auftreten einer Figur namens Satura sowie deren Agieren dasuumlber die rein formale aumluszligerliche Satireform hinausweist schlieszliglich die beson-dere Gestaltung der Erzaumlhlsituation Diese vier Elemente sollen im Folgendenherausgearbeitet werden

Etymologie ndash Dass Martianus sein Werk sehr wohl als Satire verstanden wissenwill wird an verschiedenen Stellen deutlich Dies geschieht zum Beispiel durchgelehrte Anspielungen auf die Terminologie der antiken Satire an prominenterStelle So heiszligt es in 9 998

[Satura] haec quippe loquax docta doctis aggeransfandis tacenda farcinat immiscuitMusas deosque disciplinas cyclicasgarrire agresti cruda finxit plasmate

So haumluft sie plappernd Gelehrtes auf Gelehrtes und stopft geheimes und bekanntes Wissenzusammen hatMusenundGoumltter vermischt undhat sich erdacht dass die enzyklopaumldischenDisziplinen in einem baumlurischen Machwerk unreifes Zeug daherplappern

Die Woumlrter farcinat und immiscuit verweisen auf das Zusammenstopfen undVermischen verschiedener Zutaten z B in einer Wurst oder Pastete Gleiches giltfuumlr die Woumlrtermiscillo und aggeranssup3sup2⁰ Ausgangspunkt fuumlr diese Terminologie istdie Etymologie desWortes sbquoSatirelsquo an sich bedeutet urspruumlnglich etwaswie sbquobunteMischunglsquosup3sup2sup1 Traditionell sind Anspielungen auf diese Etymologie in der satiri-

sich nicht feststellen (Scheible 1972 8) Vorhandene Untersuchungen beschreiben in der Regeldie Konstituenten der einzelnen Werke Aufgrund der geringen Zahl uumlberlieferter Werke und dergroszligen Unterschiede zwischen ihnen ist es jedoch schwierig die typischen Elemente der Gat-tung zu benennen Auch diese Arbeit schlieszligt sich dem beschreibenden Vorgehen an undvergleicht an einschlaumlgigen Stellen inwieweit die Beobachtungen auch fuumlr die Gattung typischsind So z B Coffey der die Mischung aus Prosa und Poesie bei Martianus als bdquomiscellanyldquobezeichnet und vor einer Verbindung von De nuptiis mit der Satire als problematisch warnt(Coffey 1996 959) Vgl Relihan 1993 14 ErnoutMeillet s v satur -ra -rum (2001 596) WaldeHofmann s v satura (2007 II482f) Der zentrale Hinweis auf eine Ableitung des Wortes aus dem kulinarischen Bereich findet

134 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

schen Literatur selten Allein in Juvenal findet sich ein Hinweis darauf gleichwohlmit leicht anderem Verstaumlndnis Er betrachtet die Zusammenstellung der Satirenals farrago also als Mischgericht nicht die einzelne Satiresup3sup2sup2

In diesen sehr bildlichen Wendungen trifft Martianus gleichzeitig eine Aus-sage uumlber sein Verstaumlndnis der Darstellung von Bildungswissen Bei ihm gibt eskeine vorverdauten und mundgerecht aufbereiteten Wissenspaumlckchen (wie Ma-crobius sie bietet)sup3sup2sup3 sondern rohe Kost (cruda) die ihre Zutaten d h die lite-rarischen oder inhaltlichen Urspruumlnge nicht leugnet LeMoine formuliert prauml-gnant bdquoBy calling attention to the literary functions these metaphors fulfillMartianus hellip raises questions about the principles of seamless synthesis andverbal regurgitation which Macrobius so effectively demonstratesldquosup3sup2⁴

Dass Martianus durch diese Art der Darstellung seine Autoritaumlt infrage stelle(bdquohellip reveal doubts about the competence of the cook and the quality of the edu-cational feastldquo)sup3sup2⁵ laumlsst sich jedoch nicht erkennen Schlieszliglich benennt er seinVorgehen explizit (scheitert also nicht an einem gesteckten Plan) und bietetgleichzeitig mit der Kritik an der klassischen Form der Wissensvermittlung eineMoumlglichkeit an wie nicht-vereinheitlichte Wissensvermittlung aussehen kannBeeintraumlchtigungen des Vertrauens zum Erzaumlhler und zu den Inhalten gibt esallerdings ndash jedoch aufgrund anderer Faktorensup3sup2⁶

Bezug auf andere Satiriker ndash Neben den Anspielungen auf die Etymologie derGattung Satire treten explizite Bezuumlge auf andere Autoren menippeischer Satirenauf Namentlich wird jedoch keiner der Vorgaumlnger genannt die Nennung Varroserfolgt ausschlieszliglich in den Vortraumlgen der Brautjungfern und bezieht sichuumlberwiegend auf Varros fachschriftstellerische Werke oder seinen Ruf als Enzy-klopaumldistsup3sup2⁷

sich beim Grammatiker Diomedes (Grammatici Latini 1 485) Ausgehend von dieser Passageeroumlrtert Petersmann die Etymologie mit besonderer Beruumlcksichtigung des Ursprungs des Wortessatura aus dem Kuumlchenbereich (Petersmann 1986) Iuv 1 86 nostri farrago libelli Vgl die Kommentare Morton Braund 1996 95 f undCourtney 1980 103 Vgl die Gleichnisse in der praefatio zu den Saturnalia (Sat praef 5ndash9) und die Ausfuumlh-rungen in Kap II1 sowie die dort aufgefuumlhrte Literatur LeMoine 1991 360 ibid S u die Abschnitte bdquoErzaumlhlinstanzenldquo und bdquoDeutungen der komplexen literarischen Formldquo 4 335 (die Gelehrsamkeit Varros vgl Cic ac 1 9 Aug civ 6 2) 5 517 (Nennung in einemZitat) 6 639 und 6 662 (Fragen der Geographie die Varro-Vorlage ist nicht bekannt) 9 928 (cfVarro rust 3 17 4) Vgl zum Verhaumlltnis von Martianus und Varro bes Bovey 2003 Kap 2 (bdquoLaquestion varronienneldquo) und Schievenin 2009f

2 De nuptiis als literarisches Werk 135

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Allerdings zitiert die Wendung ὄνος λύρας in 8 807 den Titel einer menip-peischen Satire Varrossup3sup2⁸ Die Wendung ist in der lateinischen Literatur ander-weitig nicht belegt weshalb davon auszugehen ist dass Martianus hier auf denrepublikanischen Satiriker direkt zuruumlckgriff Da die Wendung zudem im Streit-gespraumlch zwischenMartianus und Satura uumlber die angemessene Art des Erzaumlhlensder Geschichte faumlllt kommt ihrer Verwendung eine programmatische Aussage zuMartianus stellt sich und sein Werk also in die Nachfolge Varros und seiner Sa-tiren

Ein Bezug auf Lukian ist weniger sicher nachzuweisensup3sup2⁹ Allerdings gibt eseine motivische Uumlbernahme im zweiten Buch von De nuptiis Philologias Erbre-chen des Wissens das der Hochzeit vorausgeht hat eine Parallele in LukiansDialog Lexiphanes Der allzu (ein)gebildete Lexiphanes nimmt auf Draumlngen vonLycinus ein Brechmittel ein das ihm der Arzt Sopolis gibt Daraufhin erbricht eralle Woumlrter die er gelernt hat dies ist die Voraussetzung dafuumlr dass er nun an-gemessen belehrt werden kannsup3sup3⁰

Es handelt sich um die Fragmente Varro Men 348ndash369 In Fragment 349 findet sich dieWendung auch im Vers (si quis μελωδεῖν est ὄνος λύρας praesepibus se retineat forensibus ndashsbquower beim Gesang wiersquon Esel an der Harfe bloumld der bleib getrost im Stallmief seines Forumsdortlsquo [Uumlbs Krenkel]) Die Bezugnahme auf Varro ist umso wahrscheinlicher da Satura unmit-telbar zuvor sowohl Martianusrsquo berufliche Aufenthalte auf dem Forum erwaumlhnt und ein Wort-spiel mit seinem Namen Capella angestellt hat ndash der zwar nicht sbquoEsellsquo bedeutet wohl aber einHaustier (sbquoZiegelsquo)Vgl dazu Shanzer 1968c 38ndash40 Shanzer 1986a kritisch dazu Pabst 1994 168(m Lit) Folgt man Bovey handelt es sich bei der unmittelbar folgenden Wendung καιρὸν γνῶθιum einen weiteren Verweis auf den Titel einer Varro-Satire γνῶθι σεαυτόν (= Varr Men 199ndash210 vgl Bovey 2003 282ndash284) Naumlher liegt wohl dass Martianus Capella diese eigenstaumlndigeSentenz (vgl Diogenes Laertios I 79 der sie als Sentenz des Pittakos ausweist) aus einer anderenQuelle uumlbernommen hat Kindermann 1969 60 Shanzer geht davon aus dass Martianus Lukian kannte (Shanzer1986c 36) Zur Diskussion um Martianusrsquo Griechischkenntnisse vgl Cristante 2009 [5] undShanzer 1986c 4 die beide annehmen dass Martianus durchaus Griechisch beherrschteShanzer weist einige Stellen auf an denen Martianus woumlrtlich uumlbersetzt und schlieszligt aus derBeherrschung des Griechischen zu Recht auf einen gebildeten moumlglicherweise sogar akade-mischen Hintergrund von Martianus Lucian Lex 20f Andere antike Texte die das Erbrechen von Wissen als Teil des Reini-gungsprozesses beschreiben oder als Bild tradieren sind mir nicht bekannt Daher ist eswahrscheinlicher dass Martianus auf Lukian im Original zuruumlckgegriffen hat Zur vor-byzantinischen Rezeption Lukians vgl Nesselrath 1994 der spaumltantike Bezuumlge auf Lukian u abei Julian und Claudian aufzeigt ndash Einen Bezug auf Lukians Concilium deorum fuumlr moumlglich haumlltKrapinger 1999 962 ndash Anders gelagert sind Lucian cont 7 und Aug in Joh ev tract 36 1 Dortgeht es darum dass durch das Ausspeien Wissen weitergegeben wird was zum Bild der daserbrochene Wissen aufsammelnden Artes passt nicht jedoch zum Motiv der Reinigung

136 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Bezuumlge auszligerhalb der Uumlbernahme uumlblicher Gattungselemente lassen sich fuumlrSenecas Apocolocyntosis Petrons Satyricon oder Julians Caesares nicht konsta-tierensup3sup3sup1

Die Figur der Satura und ihr Handeln ndash Einer der deutlichsten Hinweise auf dieForm der Satire liegt im Auftreten einer Figur namens Satura Diese Figur wirdzunaumlchst von Martianus als Erzaumlhlinstanz eingefuumlhrt (1 2) von der er den Inhaltvon De nuptiis erfahren haben will Im Laufe des Werks gewinnt Satura aber anProfil und agiert zunehmend autonom

Aussagen uumlber Satura beruhen letztlich auf drei Stellen in De nuptiis (6 576ndash5798 806ndash8109997ndash999) und koumlnnen fast ausschlieszliglich aus der Formund derBotschaft ihrer eigenen Aumluszligerungen gewonnen werden An allen drei Stellendiskutiert Satura mit Martianus Ansonsten ist Satura zwar als praumlsent zu denkenwird aber nicht weiter thematisiert

Nach Martianusrsquo Anrufung Minervas zu Beginn des sechsten Buches mischtsich Satura in seine Uumlberlegungen ein welche Frauen er vor sich sehe Die Ein-mischung wird von Martianus als scherzend bezeichnet (iocabunda 6 576) dieEinmischung an sich als typisch fuumlr das Scherzen Saturas (ut lepidula est 6 576)Die Aumluszligerung Saturas beginnt mit Spott uumlber Martianusrsquo nur scheinbare KlugheitDurch falsche naumlchtliche Studien und besonders seine Anwaltstaumltigkeit habe erden Blick auf das Wichtige verloren und erkenne nun nicht einmal mehr Philo-sophia und Paideia Der Scherz wird jedoch alsbald von einem belehrendenTonfall abgeloumlst in dem Satura Martianus uumlber das Wesen der beiden Frauenaufklaumlrt

Satura tritt als Naumlchstes zu Beginn des achten Buches auf in der Folge derSilen-Szene Der angetrunkene Silen war eingeschlafen und durch Amor aufge-schreckt worden was die uumlbrigen Goumltter laut lachen lieszlig (8 803ndash805) DieseSchilderung provoziert bei SaturaWiderspruch da sie das Erzaumlhlte als unpassendfuumlr die Goumltterversammlung empfindet Ihre Kritik beginnt wieder bei der Persondes Martianus dessen Namen sie als passend zu seinem Wesen deutet (Capella ~sbquoZiegelsquo 8 806) Sodann fordert sie Martianus auf seine Possen zu unterlassenMartianus fuumlhlt sich gehoumlrig von Satura gemaszligregelt und gibt klein bei bemerktaber dass sie ansonsten mehr von Scherzen halte (alioquin lepidula 8 807) AlsSatura dann die Einfuumlhrungder eintretenden Brautjungfer in Versenvorbringt undMartianus wiederum seine Scherze (ludicra 8 808) vorhaumllt kann dieser nicht

Mit Julian verbindet Martianus immerhin die Ansiedlung der Goumltterversammlung auf derMilchstraszlige ndash Zur Rolle der Saturnalien vgl den Abschnitt bdquoDeutungen der komplexen litera-rischen Formldquo

2 De nuptiis als literarisches Werk 137

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mehr an sich halten und zahlt Satura ihre Kritik in gleicher Muumlnze heim Nacheinigem Spott uumlber Saturas Verse verteidigt nun Martianus das Recht auf Scherzgegen sie die an sich ndash nicht aber in De nuptiiswie es scheint ndash eigentlich fuumlr denScherz zustaumlndig waumlre und gibt ihr mit Martial (2 41 1) den Rat auch einmal zulachensup3sup3sup2

Ein letzter Schlagabtausch von Satura und Martianus erfolgt schlieszliglich amEnde des Werkes Wiederum streiten beide Figuren miteinander und halten sichmit Spott uumlber das Wesen des anderen nicht zuruumlck

Die Einfuumlhrung Saturas die ja nur in Verbindung ndash und das heiszligt Ausein-andersetzung ndash mit Martianus erscheint dient vornehmlich der deutlichenBenennung der Gattung und der Verstaumlndigung daruumlberwas den Charakter einessatirischen bzw des vorliegenden Werkes ausmache Erstaunlich ist dabei Mar-tianusrsquo Entwicklung der sich zunaumlchst gegen Unterhaltung im artes-Teil ausge-sprochen hatte diese spaumlter aber gegen den censorischen Eingriff Saturas imachten Buch verteidigt Noch erstaunlicher ist aber dass es gerade Satura ist diezur Beachtung des Decorums auffordert und Martianusrsquo vergleichsweise mildenScherz scharf tadelt

Erzaumlhlinstanzen ndash Die Frage nach der Erzaumlhlsituation bzw der Erzaumlhlerfigurgehoumlrt zu den grundlegenden Analysekriterien eines literarischenWerkes ebensowie die Konzipierung von Raumund Zeit Lassen sich die letzten beiden Punkte imHinblick auf De nuptiis hinreichend klaumlrensup3sup3sup3 so bietet die Erzaumlhlerfigur groumlszligereSchwierigkeiten

DassDe nuptiis zwei Erzaumlhlinstanzen hat scheint zu Beginn desWerkeswenigdramatisch In 1 2 verweist der Erzaumlhler Martianus gegenuumlber seinem Sohn dar-auf dass die folgende Geschichte (also der uumlberwiegende Teil von De nuptiis) ihm

Ride si sapis o puella ride Schievenin bietet eine gruumlndliche Analyse dieser Stelle auchmit Blick auf die inverse Vorlage Martials (plora si sapis o puella plora Mart 2 41) derwiederum auf Ovid (Ov ars 3 281 f) zuruumlckgreift (Schievenin 1984 bes 136 ausfuumlhrlich auchBovey 2003 275ndash288) Die Rahmenhandlung spielt in der erzaumlhlerischen Gegenwart und in einem unbestimmtenRaum der jedoch nicht auszligergewoumlhnlich ist es liegt nahe an Karthago und das Haus desMartianus Capella zu denken Die eigentliche Handlung spielt an z T unwirklichen Orten aufder Erde die zumeist nicht naumlher bestimmt sind (z B Philologias Herkunft) und auf derMilchstraszlige wobei die absolute Zeit nicht genannt wird aber aufeinanderfolgende Tage inihrem Ablauf erkannt werden koumlnnen Die Phantastik einzelner Szenen die meist auf alle-gorische Darstellungsweisen zuruumlckgeht verletzt jedoch nicht die raumlumliche oder zeitlichePlausibilitaumlt des Dargestellten Vgl dazu auch die Ausfuumlhrungen und grafischen Veranschau-lichungen LeMoines (1972a)

138 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

waumlhrend langer Winternaumlchte (eine Anspielung auf Gellius)sup3sup3⁴ von Satura be-richtet wurde Der antike wie moderne Leser duumlrfte sich wohl kaum daran stoszligensondernwird darin vor allem eine Inspiration des Autors durch Satura (auchwennes das zuvor noch nicht gab) erkennen Bei der Erwaumlhnung von Satura koumlnnte erHeiteres erwarten oder bunt gemischte Geschichten

Vollkommen verwirrt wird der Leser hingegen spaumltestens dann wenn er amEnde des Werkes in der Sphragis angekommen ist (9 997ndash 1000) Dort reflektiertMartianus sein literarisches Vorgehen in den vorausgegangenen neun Buumlcherngenauer gesagt distanziert er sich von der Form der Darstellung (Umfang Bunt-heit) und verweist auf die Verantwortung Saturas die die Geschichte erzaumlhlt habe

Habes anilem Martiane fabulam 997Miscillo lusit quam lucernis flamineSatura Pelasgos dum docere nititurArtes daggercagris vix amicas AtticisSic in novena decidit voluminahaec quippe loquax docta doctis aggerans 998fandis tacenda farcinat immiscuitMusas deosque disciplinas cyclicasgarrire agresti cruda finxit plasmate (9 997 f)

Da hast du Martianus eine Altweibergeschichte sie verfertigte im Spiel mit vermischterInspiration [d h in Prosa und Vers] bei Kerzenschein Saturawaumlhrend sie sich bemuumlhte diePelasger zu lehren die Kuumlnste die den Griechen kaum freundlich [d h neu] sindSo gelangte sie hinab bis zum neunten Buch haumluft plappernd Gelehrtes auf Gelehrtes undstopft geheimes und bekanntes Wissen zusammen hat Musen und Goumltter vermischt und hatsich erdacht dass die enzyklopaumldischen Disziplinen in einembaumlurischenMachwerk unreifesZeug daherplappern

So ungewoumlhnlich dieses Vorgehen auch ist ndash Martianus haumltte ja den Bericht Sa-turas als Grundlage nehmen und dann nach eigenem Geschmack umgestaltenkoumlnnen ndash wird es uumlbertroffen durch die Verteidigung Saturas Sie weist die Ver-antwortung fuumlr die Art der Erzaumlhlung von sich und verteidigt sichmit demHinweisauf Martianusrsquo intellektuelle Schwaumlche der sie die Ausfuumlhrungen habe anpassenmuumlssen

Vgl Gell praef 4 zur Erklaumlrung der Wahl des Titels Noctes Atticae fuumlr sein Werk

Sed quoniam longinquis per hiemem noctibus in agro sicuti dixi terrae Atticae commentationeshasce ludere ac facere exorsi sumus idcirco eas inscripsimus noctium esse Atticarum hellip

Aber weil wir in langen Naumlchten den Winter uumlber in Attika auf dem Landwie schon gesagtdiese Anmerkungen im Spiel und dann ernsthaft begonnen haben daher haben wir ihnenden Namen Attische Naumlchte gegeben hellip

2 De nuptiis als literarisches Werk 139

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

haec ipsa nauci rupta conscientia 999turgensque felle ac bili bdquomulta chlamydeprodire doctis approbanda cultibuspossemque comis utque e Martis curia[hellip]ab hoc creatum Pegaseum gurgitem 1000decente quando possem haurire poculoldquo (9 999 f)

Sie sagte aufgrund ihres Wissens um die Nichtigkeit (dieser Ausfuumlhrungen) verletztschwellend vor Bitterkeit und Zorn bdquoIch koumlnnte hier freundlich auftreten mit einem Gewandbekleidet lobenswert durchgelehrtes Verhaltenwie aus der VersammlungdesMars [Es folgtdie Schilderung der unguumlnstigen Anlagen von Martianus] ndash Wann koumlnnte ich mit ange-messenem Becher aus einem pegasischen Strom von ihm erschaffen schoumlpfenldquo

Somit hat das Werk das zu Beginn zwei hierarchisch geschiedene Erzaumlhler zuhaben scheint am Ende zwei Erzaumlhler die sich gleichberechtigt uumlber die Form dererzaumlhlten Geschichte streitensup3sup3⁵

Die Inkonsistenzen auf der Erzaumlhlebene setzen sich daruumlber hinaus fort HatteMartianus zu Beginn des Werks gesagt Satura habe ihm die Geschichte waumlhrendlangerWinternaumlchte erzaumlhlt so treten Satura undMartianus amEnde desWerks inder erzaumlhlerischen Gegenwart gemeinsam auf und sprechen beide nacheinanderzu Martianusrsquo Sohn

Weiterhin erscheinen Satura und Martianus innerhalb der Geschichte dieMartianus angeblichvon Satura gehoumlrt hatWaumlhrend die Goumltter denverschiedenenBrautjungfern lauschenwohnen auch SaturaundMartianus der Versammlungbeiund betrachten sie als unbeteiligte ZuschauerWie aus einer Theaterloge herauskommentieren und diskutieren sie das Geschehen das auf der bdquoGoumltterbuumlhneldquostattfindetsup3sup3⁶

Noch einen weitergehenden Schritt stellt die Silen-Szene zu Beginn des achtenBuches dar Im Anschluss an diese Szene beschwert sich Satura bei Martianus erkoumlnne die Goumltter nicht auf dieseWeise agieren lassen In der Folge entspinnt sich einGespraumlch in demMartianus seine Art des Erzaumlhlens gegen Satura verteidigt die fuumlreine zuruumlckhaltendere Darstellung plaumldiert (s o)Von der Fiktion dass Martianusseinem Sohn bloszligwiedergibtwas Satura ihm erzaumlhlt hat bleibt nichtmehr viel dieganze Szenerie ist ein Produkt der ErfindungdesMartianus gleichzeitigwohnt er ihraber gemeinsam mit Satura bei ist also Teil der Handlung

So bereits Pabst 1994 120 Anm 119 der allerdings auf eine Diskussion der Beobachtungverzichtet Es handelt sich um die Stellen zu Beginn des sechsten und des achten Buches die imvorigen Abschnitt bereits paraphrasiert wurden

140 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Diese Art der Spiels mit der Erzaumlhlerrolle wird von manchen modernen For-schern als ein wichtiges Merkmal der menippeischen Satire angesehen Hinzu-treten kann die Selbstherabsetzung des Erzaumlhlers die sich an seinemmangelndenWissen Stilbewusstsein Traditionsempfinden o auml entzuumlndetsup3sup3⁷ Folglich kanndie zunaumlchst befremdliche Brechung und Verzerrung als weiteres Merkmal derGattung menippeische Satire bestimmt werden

Aufgrund dieser Beobachtungen ist es zwingend in De nuptiis vor allem eineSatire zu sehen Auch der heiter-spoumlttische Charakter einiger Passagen zwischenden Vortraumlgen der Brautjungfern passt zum satirischen Anspruch Gelegentlicherscheint es jedoch fraglich ob es sich wirklich um satirische und nicht eher umkomische oder derbe Spaumlszlige handelt Die Szene in der Silen betrunken einschlaumlftund von den anderen Goumlttern verspottet wird (8 803ndash805) erinnert mit ihremSlapstick eher an den derben Spott der Komoumldie als an die Satire eines Varrosup3sup3⁸

22 Deutungen der komplexen literarischen Form

Wie laumlsst sich das Werk De nuptiis nun also formal beschreiben oder andersgefasstWie lassen sich die vier literarischen Traditionsstraumlnge zusammenfuumlhrenDass eine einheitliche Lesung zumindest versucht werden muss zeigt bereits dasLeitmotiv der Hochzeit ansup3sup3⁹

Im Kern handelt es sich bei MartianusrsquoWerk um eine Sammlung bedeutenderWissensschaumltze in einem einzigen Werk die darin systematisch ausgebreitetwerden Dies zeigt die Einteilung in verschiedene Disziplinen die ein ver-

Zur Erzaumlhlerrolle in der menippeischen Satire vgl u a Relihan 1993 und darin bes S 35 Mit der Aufnahme unterhaltsamer Elemente ginge Martianus sogar noch uumlber dieErwartungen an ein sbquosatirischeslsquo Werk hinaus Auch Boethius wird bescheinigt er erzaumlhle seineConsolatio bdquoper satiramldquo auch wenn bei ihm weder eine Figur Satura auftritt noch allzu vielHeiterkeit herrscht (Peiper zitiert in der Einleitung zu seiner Ausgabe S xxxi eine mittelalter-liche Boethius-Vita vgl Kindermann 1969 61)

hos libros [scil de consolatione Philosophiae] per satiram edidit imitatus videlicet mar-cianum felicem capellam qui prius libros De nuptiis philologiae et mercurii eadem speciepoematis conscripserathellip

Diese Buumlcher schrieb er als Satire freilich in Nachahmung des Marcianus Felix Capellader zuvor die Buumlcher uumlber die Hochzeit der Philologie mit Merkur in der gleichen Art vonGedicht verfasst hatte

Zum Motiv der Hochzeit das bereits programmatisch im eroumlffnenden Hymnus anHymenaeus erscheint vgl Schievenin 2009c und Cristante in der Einleitung seiner Ausgabe1987 3ndash 10

2 De nuptiis als literarisches Werk 141

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

gleichsweise leichtes Auffinden der Informationen erlaubtsup3⁴⁰ die Bedeutung wirdangesichts der Praumlsentation vor den Goumlttern auf der Milchstraszlige deutlich Alleinder Umfang dieser Vortraumlge die in sich auch nicht gestoumlrt oder gebrochenwerdenmarkiert dass es sich hier um das zentrale Charakteristikum des Werkes handelt

Den erzaumlhlerischen Anlass fuumlr diese Praumlsentation bietet eine Hochzeitsfeieralso ein Symposion hier ist die Gelegenheit fuumlr die groszligen Redebeitraumlge gegebenZudem bietet die SymposionformAnknuumlpfungspunkte fuumlr eine Rahmenhandlungdie zur Auflockerung der ebenso ausfuumlhrlichenwie trockenen Einzelreden genutztwird

Doch bleibt es ndash im Gegensatz z B zu Macrobius ndash nicht bei der bloszligenDarstellung der Wissensinhalte Hinzu tritt die allegorische Darstellung der Be-deutung von Wissen und von Fleiszlig beim Wissenserwerb in den ersten beidenBuumlchern Die praumlsentierten Inhalte der Buumlcher 3ndash9 (die Philologia ja bereits aufder Erde in Buch 2 besitzt) sindwichtig Sie sind nicht nur wichtig fuumlr das irdischeLeben (das wird nicht weiter thematisiert die explizit irdischen Wissenschaftenwie Architektur und Medizin werden sogar ausgeschlossen) ndash die Inhalte sindauch wichtig fuumlr die menschliche Vervollkommnung

Durch das angesammelte Wissen erreicht der Mensch zwar nicht die voll-kommene Erkenntnis (die erhaumllt auch Philologia nur ohne eigenes Zutun als sieauf der houmlchsten Himmelssphaumlre angekommen zum Vatergott in der jenseitigenGluumlckseligkeit betet) wohl aber ein goumlttergleiches Wissensup3⁴sup1 Der Wissenserwerbist gewissermaszligen die Voraussetzung dafuumlr dass der Mensch mit Hilfe einesgoumlttlichen Begleiters in den Himmel aufsteigen kann unsterblich wird und voll-kommene Einsicht erlangt

Die so weit kohaumlrente Verbindung der literarischen Traditionen laumlsst aller-dings den explizit satirischen Anspruch von De nuptiis auszliger Betracht durch denMartianus selbst das Werk primaumlr in die Gattung der Satire einordnet waumlhrendvergleichbare Bezuumlge zu anderen Gattungen fehlen Natuumlrlich lieszlige sich dieserprogrammatische Anspruch mit einem Verweis auf die Verwendung des Begriffszur Bezeichnung einer inhaltlich wie literarisch gemischten Form erklaumlren Dochgreift diese Erklaumlrung zu kurz da das Agieren Saturas die literarischen Passagendes Werks beinahe als Travestie erscheinen laumlsst (vgl oben zur Erzaumlhlerfigur) Einbildend-enzyklopaumldisches Werk kann sich allerdings nicht gefahrlos als Satire

So auch Englisch 1994 56 Die bdquoSystematik bei der Praumlsentationldquo erlaube einen leichtenZugriff auf die Informationen Mart Cap 2 201ndash205

142 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

praumlsentieren ohne Zweifel an der Glaubwuumlrdigkeit und Zuverlaumlssigkeit desWerkes und der praumlsentierten Inhalte zu weckensup3⁴sup2

Wenn Martianus auch die Konventionen der Gattung menippeische Satireaufnimmt und sein Werk also nur folgerichtig unter anderem eine unzuverlaumlssigeErzaumlhlsituation aufweist ist dies noch keine Erklaumlrung an sich Die regelkonformeUmsetzung gattungstypischer Anspruumlche erklaumlrt noch nicht die Wahl der Gattungan sich ndash einer Gattung die trotz ihrer Benennung als solche nicht zu denStandardformen und akzeptierten Gattungen zaumlhlte insbesondere nicht fuumlrLehrwerkesup3⁴sup3

Auch Martianusrsquo Verweis auf etwas bislang noch nicht Unternommenes(nescioquid inopinum intactumque 1 2) vermag den Widerspruch nicht zu loumlsenDie Wendung zeigt zwar dass Martianus die Ungewoumlhnlichkeit seines Ansatzesbewusst war (sofern sich die Phrase uumlberhaupt auf die Komposition des Werkesbezieht)sup3⁴⁴ beseitigt aber nicht das interpretatorische Problem ZuwelchemZweckverbindet Martianus also zwei so widerspruumlchliche Gattungen wie Enzyklopaumldieund Satiresup3⁴⁵

Drei Antwortansaumltze lassen sich grob umreiszligen 1 Die Verbindung ist nuraumluszligerlich bzw oberflaumlchlich 2 durch die Verbindung soll ein bestimmter Aspektparodiert und somit Spott und Kritik ausgesetzt werden 3 die Verbindung erfuumlllt

Dieses Problem hat bereits Westra in seinem Aufsatz bdquoThe juxtaposition of the ridiculousand the sublime in Martianus Capellaldquo benannt (Westra 1981) Allerdings beschraumlnkt sich auchdieser Aufsatz auf die Darstellung des Problems und die Zusammenstellung der Belege EineLoumlsung hat Westra nicht anzubieten ndash sein Aufsatz endet mit der eher apologetischen Bemer-kung das Eingestaumlndnis der Unvereinbarkeit von Satire und Lehrwerk durch Martianus in 9 997sei prima facie ein Spiel dahinter stecke jedoch die Absicht Problembewusstsein zu demon-strieren und Verantwortung fuumlr die unterlassene Loumlsung zu negieren bdquoEven though I would claim that prose and verse must be present in an ancient Menippeansatire it must be seen as one of a number of shocking juxtapositions of oppositesldquo (Relihan 198760) ndash In der Folge kann die prosimetrische Form durchaus auch Mittel belehrender Werkewerden vgl Pabst 1994 133 Denkbar (und wohl wahrscheinlich) waumlre auch dass damit die Inhalte besonders desMythos gemeint sind Der Verweis auf Unterhaltung fuumlhrt nicht zum Kern der Frage denn die satirische Formstellt mehr dar als reine Unterhaltung Auch das horazische Diktum ridentem dicere verum quidvetat ndashsbquolachend das Wahre zu sagen ndash was spricht dagegenlsquo (Hor serm 1 1 23) als Kern vonMartianusrsquo Satireverstaumlndnisses greift zu kurz ebenso wie vergleichbare Konzeptionen in derLiteratur Dort geht es bei Belehrung immer um einzelne philosophische Saumltze (nie beispiels-weise um die Vermittlung von Philosophie an sich) Folglich bezeichnet das bdquoverumldquo nichtkognitives Lernen sondern moralisches Der grundlegende Unterschied zur Konzeption desMartianus liegt somit auf der Hand Vgl zu diesem Aspekt im Allgemeinen z B Shanzer 1986c42 und im Speziellen u a Woytek 1986 339ndash345 Keulen 2009 bes Kap 2 und 3

2 De nuptiis als literarisches Werk 143

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

einen literarischen und belehrenden Zweck zugleich Aufgrund der komplexenSachlage und der unmittelbaren Bedeutung der Beantwortung der Frage nachdieser Verbindung fuumlr das Gesamtverstaumlndnis von De nuptiis werden alle Alter-nativen vorgestellt und bewertet

Rein formale Verbindung von Satire und EnzyklopaumldieEventuell laumlsst sich die Mischung aus enzyklopaumldischen und satirischen Ele-menten (mit den zur Satire gehoumlrigen Verspartien) als Sonderform der Varro-Re-zeption bei Martianus auffassenVarro von Reate verfasste sowohl umfangreicheFachliteratur als auch menippeische Satiren Fuumlr beides war er in der Antikebekannt und beruumlhmt ndash doch ist es wahrscheinlich dass Martianus die Werkebereits nicht mehr ndash oder allenfalls nur in Auszuumlgen ndash vorliegen hattesup3⁴⁶ Aus demWissen um die beiden Schaffensbereiche des republikanischen Autors die beideder Unterweisung dienen solltensup3⁴⁷ koumlnnte Martianus auf den Gedanken verfallensein die literarischen Formen und Inhalte in seinem Werk zu verbindensup3⁴⁸Vielleicht saszlig er auch einemMissverstaumlndnis auf indem ermeinte dass Varro seinsatirisches wie enzyklopaumldisches Koumlnnen in nur einem Werk demonstriert habeDies hieszlige jedoch dass Martianus sich der Problematik dieser Verbindung nicht

So aumluszligert sich beispielsweise Kindermann in den Vorstudien seiner Ausgabe der Conso-latio des Laurentius von Durham Er billigt Martianus nur eine sekundaumlre Varro-Kenntnis zu(Kindermann 1969 60) Entschieden verneint wird die Frage von Schievenin (2009f) und Hadotdie vor allem neuplatonische Quellen vermutet (Hadot 2005 149) Schneider jedoch nimmt andass sowohl Augustin als auch Martianus die Disciplinae noch vorliegen hatten (Schneider 1999109 f) und dass die Satiren-Exzerpte des Nonius Marcellus (fl um 400 in Afrika) ebenfalls ausdem Originaltext Varros angefertigt wurden (ibid 96 Anm 12) Abwaumlgend aumluszligert sich Huumlbner2004 passim Vgl Cic ac 1 8 (es spricht Varro)

et tamen in illis veteribus nostris quae Menippum imitati non interpretati quadam hilaritateconspersimus multa admixta ex intima philosophia multa dicta dialectice quae quo faciliusminus docti intellegerent iucunditate quadam ad legendum invitati

Jedoch findet sich in meinen fruumlhen Schriften die ich in kreativer Nachfolge (und nicht nurUumlbersetzung) Menipps mit einer gewissen Heiterkeit benetzt habe vieles aus den Kernbe-reichen der Philosophie beigemengt und vieles das nach Art der Dialektiker gesagt istdamit die weniger Gelehrten es leichter verstuumlnden nachdem sie durch eine Art von Scherzzur Lektuumlre ermuntert worden sind

Vielleicht hatte Martianus diese Stelle sogar im Kopf als er die Anlage von De nuptiis plante So z BWeinreich in der Einleitung zu seiner Uumlbersetzung roumlmischer Satiren bdquoMartianusCapella glaubte gewiszlig ein Varro redivivus zu sein sozusagen die Quintessenz des Gelehrten unddes Satirikersldquo (Weinreich 1962 XCIII) Ebenso Shanzer 1986c 42

144 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

bewusst gewesen sei ndash was ihm sicher nicht gerecht wird Auszligerdem wird so dieBezugnahme auf weitere formale Elemente der menippeischen Tradition und dieuumlbrigen Vorlaumlufer der Gattung mit anderer Konzeption (Lukian Julian) nichtausreichend beruumlcksichtigt

Ebenfalls beim Autor koumlnnte eine zweite Erklaumlrung ansetzen Im Zuge derAbfassung seiner Enzyklopaumldie hat sichMartianus nach horazischer Vorgabe (unddem Beispiel Varros)sup3⁴⁹ um Auflockerung und heitere Elemente bemuumlht Diespontanen Einfaumllle wurden ins Werk integriert und die sich daraus ergebendenInkonsistenzen entweder uumlbersehen oder billigend in Kauf genommen Beideswuumlrde gut zum klassisch negativen Martian-Bild in der Forschung passensup3⁵⁰Abgesehen davon dass Annahmen uumlber das Vorgehen beim Schreiben weitge-hend auf Spekulation beruhensup3⁵sup1 widersprechen drei Beobachtungen dieser Er-klaumlrung Erstens gelingt es Martianus De nuptiis uumlber neun Buumlcher vorauszu-planen so dass am Ende ein ndash zunaumlchst abgesehen von der Satire-Problematik ndashkohaumlrentes Werk entsteht Die Fuumllle der behandelten Themen Motive und lite-rarischen Elemente weist eher auf ein planvolles Arbeiten hin und macht es un-wahrscheinlich dass Martianus Probleme an dieser Stelle nicht wahrgenommenbzw nicht korrigiert haumltte Zweitens ist die Verbindungvon Satire und den anderenElementen nicht nur oberflaumlchlich so dass sie nachtraumlglich eingefuumlgt sein koumlnnteoder sich im Schreibprozess so ergeben haben koumlnnte Da bereits im zweitenKapitel des ersten Buches Satura eingefuumlhrt wirdwar sie von vornherein Teil des

Gemeint ist das beruumlhmte zunaumlchst nur fuumlr die Dichtung relevante prodesse aut delectare(Hor ars 333 f) zu Varro vgl die schon angefuumlhrte Stelle aus Cic ac Vgl z B die sehr bildliche Beschreibung von C S Lewis bdquo[hellip] this universe which hasproduced the bee-orchid and the giraffe has produced nothing stranger than Martianus Capella[hellip] the curiosity shop of his mind [hellip] a chaos beside which the work of Rabelais has unity andthat of Mandeville probabilityldquo (Lewis 1936 78 f) Gleiches gilt fuumlr Spekulationen uumlber eine andere Auffassung von Literatur und ihrenRegeln in Martianusrsquo Zeit oder Umfeld Einerseits kennen wir keine Texte die sich mit De nuptiisvergleichen lieszligen (was per se nichts beweist aber doch Indiziencharakter hat) andererseitshielten sich auch die spaumltantiken Autoren uumlblicherweise an die klassischen Vorgaben Ich teiledaher auch Schneiders Ansicht nicht der die Skepsis an dieser Verbindung allein der modernenLeseerfahrung zuschreibt bdquoWenn den Heutigen diese Kombination der forcierten Gelehrsamkeiteines Curriculums und der spielerisch-saloppen Causerie seltsam beruumlhren mag so waumlre dazuimmerhin schon an ein ciceronisches Dictum zu erinnern non est enim seiunctus iocus a phi-lologia (ad fam 16214) ndash sbquoSpieltrieb und Pedanterie diktieren und widersprechen sich nichtlsquo(sbquoErste Fruumlhschichtlsquo aus Grassrsquo sbquoHundejahrelsquo)ldquo (Schneider 1999 94 Anm 2) Der Verweis aufCicero traumlgt nichts zum Verstaumlndnis von Martianus bei Cicero geht es an der zitierten Stelle umden Ablauf des Tages mit seinem Schuumller der aus ernsteren und heitereren Abschnitten bestehtDaraus folgt nicht dass das Lernen mit Scherz verbunden ist ndash auszligerdem duumlrfte Cicero unteriocus (sbquo[urbaner] Scherzlsquo) anderes verstanden haben als Martianus in seiner Satura bietet

2 De nuptiis als literarisches Werk 145

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Kompositionsplans Drittens hat Schievenin gezeigt dass Martianus keineswegsoberflaumlchlich und eigenwillig arbeitet Durch eine gruumlndliche Untersuchung derSilen-Passage (8 803ndash805) kann er nachweisen dass Martianus ndash wie vieleAutoren vor ihm ndash uumlber ein umfangreiches literarisches Wissen verfuumlgte daraufbei der Abfassung seines Werkes zugreifen konnte und durch gezielte Anspie-lungen neue Bezuumlge herstelltesup3⁵sup2

Satire als Mittel der KritikWaumlhrend die antike Satire (im Gegensatz zur modernen) nicht zwangslaumlufig Kritikan Missstaumlnden uumlben wollte ist diese Moumlglichkeit umgekehrt auch nicht auszu-schlieszligen Martianus koumlnnte also bewusst eine solide Darstellung der Kuumlnste inliterarischem Gewandmit der Gattung der Satire verbunden haben um Zweifel ander Ernsthaftigkeit der uumlbrigen Teile des Werkes zu wecken Er wuumlrde somit einaufklaumlrerisches Interesse verfolgen das zugleich auch unterhaltsame Zuumlge traumlgt

Eine erste Schwierigkeit dieser Lesart von De nuptiis ergibt sich bereits bei derFrage nach dem Objekt der SatireWerden die Wissensinhalte in Zweifel gezogenoder nur die Art ihrer Vermittlung in langen Reden bzwTraktaten Soll der Glaubean die umfassende Einheit des Wissens kritisiert werden oder die Vorstellungsaumlmtliches Wissen lasse sich vermitteln gar kohaumlrent in einem Werksup3⁵sup3 Ist dieVorstellung dass Wissen goumlttlich mache parodiert oder nur die abwegige Vor-stellung dass auf einer Hochzeit solche Reden gehalten werden Oder richtet sichdie Kritik letztlich gegen die Auffassung Philologia als Vorbild zu sehen oder garals Mittlerin alles Wissens ja sogar als Mittlerin zwischen Menschen und Goumlttern

Aus der Tatsache dass das Objekt der Satire keineswegs leicht zu bestimmenist kann nicht gefolgert werden dass in De nuptiis keine Satire vorliege die be-stimmte Sachverhalte kritisiere Aber es kann durchaus gefolgert werden dass eskeine expliziten textinternen Merkmale gibt die das Lesen steuern und den Ge-genstand der Kritik deutlich hervortreten lassen Die Deutungen gehen also vonmodernen Annahmen uumlber das Umfeld bzw die Gedankenwelt von Martianus aus

Im Kern handle es sich um bdquouna narrazione tersa e brillanteldquo verbunden mit einemDickicht an Verweisen Die Silen-Szene habe einen bdquocarattere colto e della dottrina e dellalingualdquo (Schievenin 1984 132) Das Fazit seiner Untersuchung formuliert Schievenin folgen-dermaszligen bdquoIl De nuptiis si rivela dunque opera di vasti orizzonti non solo per lrsquointento dida-scalico che la pervade e che ne determineragrave la fortuna ma anche per la costante presenza nellafabula della tradizione classica e dei suoi echildquo (ibid 136) Vgl zu dieser Stelle auch Bovey2003 275ndash288 ndash Den geschickten Umgang mit mehreren Quellen ndash erzaumlhlerisch wie seman-tisch ndash kann Schievenin auch fuumlr 7 725ndash727 nachweisen (Schievenin 2009e) So z B Relihan 1993 138 bdquoMartianus writes not an encyclopedia but a Menippean satirethat parodies encyclopedic knowledgeldquo

146 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

und weisen zudem meist nicht kleinschrittig auf wie der Interpret zu seiner (oftapodiktisch dargelegten) Ansicht gelangt

Nun folgt daraus noch nicht dass Martianus De nuptiis nicht als kritisierendeSatire konzipiert haumltte die Vielzahl der (wenn auch differierenden) modernenDeutungenweist ja darauf hin Zwei Uumlberlegungenwenn auch keine schlagendenBeweise lassen die Hypothese der parodierenden Satire unwahrscheinlich wer-den der Umfang von De nuptiis und seine Rezeption Eine Satire die beispiels-weise die Verbindung von Weltwissen und menschlicher Vervollkommnung in-frage stellt benoumltigt nicht noch eine umfassende Darlegung eben diesenWissensDies gilt besonders da diese Darlegung den Hauptteil des Werks ausmacht und ndashzumindest dem Umfang nach ndash die uumlbrigen Partien weit uumlberragt Eine Deutungvon De nuptiis als kritischer Satire muumlsste also besonders die Frage beantwortenzu welchem Zweck die umfangreichen Darstellungen der Freien Kuumlnste aufge-nommen sind (und nicht nur angedeutet werden)

Die Rezeption eignet sich zwar ebenfalls nicht zu sicheren Ruumlckschluumlssen aufdie originale Intention eines Werkes haumlufig bietet sie aber interessante EinblickeDie Martianus-Rezeption stellt sich bald ein Cassiodor beruft sich in seinen In-stitutiones auf ihn Dort erscheint Martianus nicht als Satiriker oder Zeitkritikersondern als Gelehrtersup3⁵⁴ In dieser Tradition wird Martianus auch im Mittelaltergelesen und rezipiertsup3⁵⁵

Aumlhnliches laumlsst sich fuumlr Boethiusrsquo Anknuumlpfen an die prosimetrische Form inder Ausgestaltung von Martianus sagen Boethius verfasst zweifelsfrei keine kri-tische Satire kann aber trotzdem an die Form und den Inhalt von De nuptiisproblemlos anknuumlpfen Sowohl der Form nach wie auch durch einzelne Zitatemacht er deutlich dass erDe nuptiis kennt und als eine seiner Vorlagen benutzt Esist zu bezweifeln dass Boethius in seinem Bemuumlhen um eine adaumlquatewerbendeDarstellung der Philosophie auf Form und Zitate des Martianus zuruumlckgegriffenhaumltte haumltte er nicht die Moumlglichkeit der gefahrlosen Uumlbernahme gesehen

Satirische Elemente als Mittel der BelehrungDer dritte Erklaumlrungsansatz fuumlr die Verbindung von Satire und Belehrung be-trachtet die Wahl Saturas als Figur und die Bezugnahme auf die Gattung zunaumlchst

Cassiod inst 2 2 17 Zur mittelalterlichen Martianus-Rezeption vgl bes Nuchelmans 1950 Lutz 1971 und 1976Willis 1973 sowie die Ausgaben und Literatur u a zu folgenden Werken Konrad von MureFabularius Hugo von Sankt Victor Didascalicon de studio legendi Johannes von SalisburyMetalogicon Kindermann kann weiterhin nachweisen dass De nuptiis auch durch seine Forminspirierend gewirkt hat (Kindermann 1969 61 f)

2 De nuptiis als literarisches Werk 147

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

als reine Fortsetzungder literarischen Form Fuumlr diese spezielle Formder Literaturdie menippeische Satire hat der russische Literaturwissenschaftler MichailBachtin Beobachtungen aufgestellt die auch fuumlr De nuptiis zutreffen Durch denRuumlckgriff auf zwei zentrale Konzepte Bachtins das Karnevaleske und die Dialo-gizitaumlt wird ein Verstaumlndnis von De nuptiis ermoumlglicht

Auf der Suche nach Vorlagen und Urformen der Gattung des Romans ins-besondere in der Form von Dostojewskis Romanen stieszlig Bachtin unter anderemauch auf die menippeische Satire die er bis in die Antike zuruumlckverfolgtesup3⁵⁶ Zuihren Vertretern zaumlhlt er unter anderem Varro Apuleius Petron Seneca oderLukiansup3⁵⁷ Martianus Capella wird nicht erwaumlhnt was aber nicht verwundernmuss da Bachtin keine Literaturgeschichte der menippeischen Satire schriebsup3⁵⁸

Kern der Uumlberlegungen Bachtins zurmenippeischen Satire ist das Konzept desKarnevals Unter Karneval versteht er folkloristische Feste waumlhrend deren diebestehende Ordnung verkehrt wird uumlbliche Regeln nicht mehr gelten Herr-schende gestuumlrzt und Machtlose maumlchtig werden ndash auf Zeit Die Karnevalisierungalso die Uumlbernahme der Kennzeichen dieses Festes in neue oder bestehende li-terarische Formen institutionalisiert diese Ausnahmesituation und loumlst sie vomkonkreten Fest Der so entstandene Text wird bdquozum karnevalesken Spiel an demder Autor und sein Publikum einverstaumlndlich teilhaben und das keines kalen-darisch oder institutionell abgesicherten Karnevalsrahmens mehr bedarfldquosup3⁵⁹

Diese Karnevalisierung fuumlhrt unter anderem zu einer Vielstimmigkeit vonMeinungen und Positionen im Text z B durch mehrere Figurenvon denen keinebevorzugt oder gar als autoritativ gekennzeichnet wird In dieser Dialogizitaumlt wirdkein allgemein guumlltiger Sinnmehr vermittelt sondern dieWahrheit suspendiertsup3⁶⁰

Dass der Bezug auf karnevalsartige Feste der Gattung menippeische Satire (inTeilen auch der Verssatire) eignet zeigt ein kurzer Blick auf wichtige Vertreter derTradition

Julians Symposion Caesares spielt zur Zeit der Saturnalien Die Bedeutungdieses Festes fuumlr das Werk wird dadurch verdeutlicht dass es den Handlungs-

Bachtin 1971 126ndash 135 Bachtin 1971 126 128 132f Kritik an den z T pauschalisierenden und verfaumllschenden Aussagen Bachtins uumlber antikeLiteratur oder an der ununterbrochenen Traditionslinie von der Antike bis in die Moderne (z BRelihan 1987 59 Lachmann 2006 23ndash25) muumlsste auch auf manche moderne Literaturwissen-schaftler in der Nachfolge Bachtins angewandt werden (vgl Branham 2005 6 wo es uumlberSenecas Apocolocyntosis heiszligt bdquoour only extant Menippean satire in Latinldquo) Teuber 1993 182 Eine gut verstaumlndliche Einfuumlhrung in das Konzept der Dialogizitaumlt im Sinne der bach-tinschen Terminologie bietet Sharland 2010 Einfuumlhrung (1ndash51)

148 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

rahmen fuumlr den in der Folge erzaumlhlten Mythos bildet Bereits im ersten Satz wirdauf das Fest und die Tradition Heiteres frei zu erzaumlhlen Bezug genommensup3⁶sup1

Auch Senecas Apocolocyntosis stellt einen engen Bezug zum Saturnalienfesther Das Werk spielt zwar nicht an den Saturnalien sondern am Todestag desClaudius im Oktober doch wird an zwei Stellen eine Verbindung zwischen derHerrschaft des verstorbenen Kaisers und den dargestellten Sitten waumlhrend derRegierungszeit mit dem Saturnalienfest gezogensup3⁶sup2 Manche Interpreten gehensogar davon aus dass die Apocolocyntosis an den Saturnalien des Jahres 54vorgetragen wurdesup3⁶sup3 Auch bei Petron und Horaz finden sich Bezugnahmen aufdie Saturnaliensup3⁶⁴

Ein zentrales Element des Saturnalienfestes liegt in der Suspension der uumlb-licherweise geltenden Normen und Wertesup3⁶⁵ Neben den anderen Elementen desFestes wie sie z B in Macrobiusrsquo Saturnalia (1 7ndash 10 1 24 22 f) beschriebenwerden (traditionelle Geschenke Festmahl fuumlr die Sklaven etc) hat gerade dieUmkehrung der Herrschaftsverhaumlltnisse im Haus Niederschlag in der Literaturgefunden

Gerade durch diese Rolleninversion treten einige wichtige gesellschaftlicheNormvorstellungen und Grundannahmen prominent hervor Dazu zaumlhlt das Be-wusstsein dass es eine befehlende und eine ausfuumlhrende Gruppe von Menschengibt oder dass im Prinzip ein Rollenwechsel moumlglich sein kann Alle Beteiligten

Ἐπειδὴ δίδωσιν ὁ θεὸς παίζειν ndash ἔστι γὰρ Κρόνια ndash hellip (sbquoDa der Gott das Scherzen erlaubt ndashes sind ja die Kronia helliplsquo Caes 1 = 306a Spanheim) Zur Frage ob es sich bei Caesares auch umdas Werk handle auf das zu Ende der Rede auf Koumlnig Helios verwiesen wird (Or in Sol reg 44 =157c Spanheim) vgl Muumlller in seiner Uumlbersetzung (39 ablehnend) und Lacombrade im Vorwortseiner Budeacute-Ausgabe (3 und 18 Anm 3) der aufgrund des Handschriftenbefundes Kronia auchals Titelbestandteil fuumlr die Caesares uumlbernimmt Es handelt sich um Sen apocol 8 1 (Claudius als Saturnalienprinz) und 12 2 (Herrschaftdes Claudius als andauerndes Saturnalienfest) ndash Dass Lukian nicht auf die Saturnalien alsRahmen fuumlr seine Werke zuruumlckgreift entwertet die Beobachtungen nicht Lukian musste auf-grund seines Selbstbewusstseins als satirischer Schriftsteller und aufgrund der Menge seinersatirischen Schriften nicht jedes Mal einen eigenen literarischen Rahmen herstellen in demeinzelne Dialoge stattfinden konnten Das Saturnalienfest selbst erscheint bei Lukian als Ge-genstand der Satire nicht als deren literarische Rahmung (Τὰ πρὸς Κρόνον) Zuerst bei Furneaux 1896 23 Anm 11 In der neueren Forschung vgl bes Nauta 1987Kritisch dazu u a Doumlpp 1993 159 f Petron 44 3 58 2 69 9 zu Horaz vgl z B serm 2 7 (libertas Decembris) Ein gelungenesBeispiel der Anpassung und Anwendung der bachtinschen Konzepte mit Ertrag fuumlr die Inter-pretation unter Einbezug von serm 2 7 bietet Sharland 2010 Distelrath 1999 114 Vgl weiterhin Versnel 1993 136ndash227 und Doumlpp 1993 Eine plastischeSchilderung der Rollenvertauschung bei der der Sklave dem Herrn die Leviten liest bietet Horserm 2 7

2 De nuptiis als literarisches Werk 149

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Herren wie Sklaven spielen also mit den Moumlglichkeiten einer alternativen Wirk-lichkeit

Das Besondere im Spiel mit den Moumlglichkeiten liegt aber in seiner zeitlichenBegrenzung Nach der Zeit des Ausnahmezustands gelten wieder die normalenimmer guumlltigen Regeln Die Rolleninversion erlaubt also ndash oder erzwingt gera-dezu ndash das Nachdenken uumlber bestimmte gesellschaftliche Normen und Wertvor-stellungen Durch die Ritualisierung und enge zeitliche Begrenzung ist darausjedoch keineswegs die Notwendigkeit entstanden die Verhaumlltnisse tatsaumlchlich zuhinterfragen oder gar zu aumlndern Daher lassen sich die Saturnalien auch als ein dieKonventionen bestaumlrkendes Fest verstehen Das Spiel mit der Moumlglichkeit eineranderen Gesellschaftsordnung hat durch seine Ritualisierung letztlich eine dieTradition legitimierende Funktion bekommen

In De nuptiis finden sich jedoch houmlchstens spaumlrliche Hinweise auf das Sa-turnalienfest Am ehesten weist das grob scherzende Agieren Saturas in diesenBereich Die bdquolangen Winternaumlchteldquo (1 2) koumlnnten (statt als Bezug auf Gellius) alsAnspielung auf das Saturnalienfest verstandenwerden ndash die Saturnalien finden inden laumlngsten Naumlchten uumlberhaupt statt seit der Kaiserzeit vom 17 bis 23 DezemberDies ndash wie die Spekulation uumlber eine spielerische etymologische Verbindung vonSatura und Saturnaliensup3⁶⁶ ndash ist aber insofern nicht von Belang da die Gattung alsGanze karnevaleske Zuumlge traumlgt und als gewissermaszligen institutionalisierter Kar-neval vom eigentlichen Fest losgeloumlst istsup3⁶⁷

Die Aufhebung der uumlblichen Ordnung (was Teuber im Ruumlckgriff auf Limina-litaumltskonzepte als praumlliminale Phase bezeichnet)sup3⁶⁸ beginnt mit der VorbereitungPhilologias zum Aufstieg in den Himmel Bereits das Erbrechen stellt eine mar-kante Umkehrung der alltaumlglichen Welt dar Statt sich Wissen anzueignen er-bricht Philologia es nun In der Goumltterversammlung auf der Milchstraszlige ist dieOrdnung sodann voumlllig verkehrt Philologia als Meisterin aller Disziplinen und

Zwar sind die einschlaumlgigen etymologischen Woumlrterbuumlcher skeptisch (v a WaldeHof-mann 2007 II 482 neutral ErnoutMeillet 2001 596) jedoch gibt es dahin gehende moderneDeutungen (aufgefuumlhrt bei WaldeHofmann 2007 II 482) und auch antike ParallelisierungenCic nat deor 2 64 Saturnus hellip est appellatus quod saturaretur annis (sbquoSaturn hellip wurde ergenannt weil er an Jahren gesaumlttigt istlsquo) Fulg myth 1 2 (p 17 16) a saturando Saturnus dictusest (sbquoDa er (die Menschen) saumlttigt wurde er Saturn genanntlsquo) Aug cons euang 1 23 35 Sa-turnus tamquam satur hellip νοῦς (sbquoSaturn gleichsam der gesaumlttigte hellip νοῦςlsquo) Vgl auch Gowers diedie etymologischen Verbindungen von satura Satyrspiel und Saturnalien untersucht (Gowers1993 109ndash 117) Sie kommt zu dem Befund dass keine Verbindung bestehe wohl aber verbin-dende Elemente identifiziert werden koumlnnten bdquocarnival licence parody uninhibited mockeryand excessive consumptionldquo (ibid 117) Vgl z B Teuber 1993 183 f Teuber 1993 183

150 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

bedeutende Lehrinstanz muss sich ihrerseits belehren lassen ndash mit dem Wissendas urspruumlnglich ihres war

Durch die Inversion wird die (vielleicht uumlblicherweise nicht prominente)Philologia in den Mittelpunkt geruumlckt und ihre zentrale Rolle im Wissenssystemtritt markant vor Augen Gleichzeitig kann darin eine leise Anfrage an ihre Lehr-autoritaumlt und eventuell auch ihre Eignung zur Lehre gesehen werden

Aufgrund des zeitlich begrenzten Rahmens der Verkehrung (diemit dem Endeder Vortraumlge voruumlber ist aber nicht explizit zuruumlckverwandelt wird) dessen Be-grenztheit durch Bezug auf die Form der menippeischen Satire ergaumlnzt werdenkann wird das System der Bildung und der Bildungsvermittlung jedoch nichtgrundsaumltzlich infrage gestellt Die Suspendierung Philologias ist temporaumlr

Dem Konzept der Dialogizitaumlt oder Mehrstimmigkeit folgend erklaumlrt sich auchdie Doppelung und Verunklarung der Erzaumlhlinstanz In den drei Dialogen indenen Satura und Martianus aufeinandertreffen behandeln sie die Frage desrichtigen Erzaumlhlens Dies beschraumlnkt sich nicht nur auf die Satire sondern umfasstalle auftretenden literarischen Formen Martianus und Satura sind sich uneinswie weit der Mythos reichen soll und ob eine Enzyklopaumldie trocken oder auchunterhaltsam erzaumlhlt werden soll (2 219ndash3 222) ob ein Symposion auch Zechenund Spaszlig vertraumlgt (8 803ndash810) oder ob und wie stark Satire Dinge vermischendarf (9 997ndash 1000)

Die unterschiedlichen Meinungen zu den Fragen werden zwar diskutiert undfuumlhren zu einem Ergebnis ndash der Erzaumlhlfluss versiegt ja an keiner Stelle oder setztneu an Allerdings entsteht in der Folge kein homogenes Werk und am Schlussmag keiner der beiden Erzaumlhler dafuumlr die Verantwortung uumlbernehmen Der Wi-derwillen sich zu dem Werk zu bekennen bedeutet aber gleichzeitig auch dassMartianus sich nicht festlegt welche Position er fuumlr die richtige haumllt Die Fragenach der rechten Art der Wissensvermittlung die auch in der Ent- und Inthroni-sierung Philologias anklang bleibt unbeantwortet

Schlieszliglich bringt der Blick auf die Aurelian-Vita aus der Historia Augustanoch einen weiteren Aspekt ein Parallel zur Aufteilung der Erzaumlhlinstanzen in Denuptiiswird der Erzaumlhlprozess in derHistoria Augusta aufmehrere AutorenverteiltWie zuerst Hermann Dessau und in der Folge Ronald Syme nachdruumlcklich gezeigthaben handelt es sich allerdings um nur einen Verfasser der uumlberdies auch inBezug auf die Abfassungszeit falsche Angaben gemacht hat und Quellen erfundenhatsup3⁶⁹ Insofern laumlsst sich der in der Historia Augusta gepraumlgte Begriff der

Auf den Charakter der Sammlung die Syme u a als bdquohoaxldquo bezeichnet (1983a 11 1983b13 1983c 219) die fingierten Autoren die manipulierten Quellen etc soll an dieser Stelle nurhingewiesen werden Vgl auch Cameron 2011 Kap 20 mit ausfuumlhrlicher Diskussion relevanterFragen

2 De nuptiis als literarisches Werk 151

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mythistoria der Vermischung von Mythischem und Historischem auch auf dieSammlung selbst anwendensup3⁷⁰

Als Menippee im engeren Sinne laumlsst sich weiterhin die Aurelian-Vita die 26Vita der Sammlung fassen und bezeichnenderweise spielt die Rahmenhandlungan denHilariasup3⁷sup1Wie zu den Saturnalien gehoumlren zu diesem Fest Scherze und ndash imRahmen von Maskierungen ndash Rollenwechselsup3⁷sup2

Noch in der rahmenden Einleitung zur Vita spielt sich folgender Dialog ab

1 et quoniam sermo nobis de Trebltellgtio Pollione qui a duobus Philippis usque ad divumClaudium et eius fratrem Quintillum imperatores tam claros quam obscuros memoriaeprodidit in eodem vehiculo fuit adserente Tiberiano quod Pollio multa incuriose multabreviter prodidisset me contra dicente neminem scriptorum quantum ad historiam pertinetnon aliquid esse mentitum prodente quin etiam in quo Livius in quo Sallustius in quoCornelius Tacitus in quo denique Trogus manifestis testibus convincerentur pedibus insententiam transitum faciens ac manum porrigens iocando[m] praeterea sbquoscribelsquo inquit sbquout

quae ille [scil Iunius Cordus] omnia exsequendo libros mythistoriis replevit talia scribendocum omnino rerum vilium aut nulla scribenda sint aut nimis pauca si tamen ex his morespossint animadverti qui re vera sciendi sunt hellip sed ex parte ut ex ea cetera colligantur(SHA Opil 1 5)

Bei der Anfuumlhrung von all diesen Informationen hat er die Buumlcher mit fabuloumlsen Ge-schichten angefuumlllt indem er Dinge von dieser Art schrieb wo doch uumlberhaupt keinenutzlosen Dinge geschrieben werden duumlrfen oder nur sehr wenige sofern daraus Verhal-tensweisen erkannt werden koumlnnen die wirklich wissenswert sind hellip aber zum Teil(schreibe ich) damit daraus das Andere gefolgert werden kann

quid Marius Maximus homo omnium verbosissimus qui et mythist[h]oricis se voluminibusinplicavit num ad istam descriptionem curamque descendit (SHA Quadr tyr 1 2)

Wie Hat sich Marius Maximus der groumlszligte Schwaumltzer vor dem Herrn der sich in seinenmythistorischen Werken verfangen hat etwa zu dieser Art der Darstellung und des sorg-faumlltigen Arbeitens herabgelassen

Hilaribus quibus omnia festa et fieri debere scimus et dici impletis sollemnibus vehiculo suome hellip Iunius Tiberianus accepit (SHA Aurelian 1 1)

An den Hilaria an denen alles zum Fest Gehoumlrende getan und gesagt werden muss wieman weiszlig empfing mich nach Erledigung der Zeremonien Iunius Tiberianus in seinemGefaumlhrt

Pausch bemerkt dieses besondere Datum zwar und erwaumlgt ob es sich um ein bdquoweitergehendesLesesignalldquo beispielsweise im Sinne karnevalesker Literatur handeln koumlnne verfolgt diese Spuraber nicht weiter (Pausch 2011 130 Anm 1) Herodian 1 10 5 ndash Einige Hinweise auf die Hilaria die im Kontext des Magna Mater-Festesam 25 Maumlrz gefeiert wurden bietet Fraser in seinem Kommentar zu Ovids Fasti (Fraser 1929244ndash248)

152 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

libet 2 securus quod velis dices habiturus mendaciorum comites quos historicae elo-quentiae miramur auctoreslsquo (SHA Aurelian 2 1ndash2)

1 Und weil unser Gespraumlch uumlber Trebellius Pollio der von den beiden Philippi bis zumvergoumlttlichten Claudius und dessen Bruder Quintillus gleichermaszligen uumlber beruumlhmte wieunbekannte Kaiser fuumlr die Nachwelt schrieb in derselben Saumlnfte stattfand behauptete erdass Pollio vieles ohne Sorgfalt und nur kurz dargelegt habe Ich erwiderte dass keinSchriftsteller sofern es um die Geschichte gehe nicht irgendwo gelogen habe und legtesodann dar worin sogar Livius Sallust Tacitus schlieszliglich sogar Trogus mit eindeutigenBelegen uumlberfuumlhrt werden koumlnnten Darauf sagte Tiberianus schlieszliglich scherzend indem ermeiner Meinung beipflichtete und mir seine Hand darbot bdquoSchreibe sowie du es fuumlr richtighaumlltst 2 Sage unbesorgt was du willst du wirst diejenigen als Gefaumlhrten fuumlr deine Taumlu-schungen haben die wir als Schoumlpfer historiographischer Beredsamkeit bewundernldquo

So sympathisch dieser Anspruch auch erscheinen mag ist er doch fuumlr das Ver-trauen in die Gattung der Geschichtsschreibung fatal Gerade in der Einleitungeiner Vita jedoch ndash zumal es der Fiktion nach die erste des Flavius Vopiscus Sy-racusius im Corpus der Historia Augusta ist ndash kann eine solche Anekdote ei-gentlich keinen Platz haben Sie erweckt beim Leser den Eindruck dass er dennachfolgend dargebotenen Informationen kein Vertrauen schenken duumlrfesup3⁷sup3

Die Parallelen zwischen der Historia Augusta insbesondere dem Vorgehen inder Vita Aureliani und De nuptiis liegen auf der Hand Verunklarung der Autor-schaft bzw der Erzaumlhlhaltung einerseits Erwecken von Zweifeln an der Glaub-wuumlrdigkeit des Dargebotenen andererseits

In der Historia Augusta sind die Inkongruenzen mit der Freude des Autors amliterarischen Spiel erklaumlrt worden Der Autor habe aus Freude am Fabulieren(vielleicht auchumein dafuumlr empfaumlngliches Publikum zu befriedigen) die Viten indieser Form verfasstsup3⁷⁴ Mag man dies fuumlr die Historia Augusta noch zugestehenderen Text uumlber einen laumlngeren Zeitraum vielleicht zunaumlchst ohne eine Gesamt-konzeption entstanden ist und auch sprachlich nicht herausragt stellt sich derSachverhalt fuumlr Martianusrsquo De nuptiis anders dar Das Werk hat durchaus einenliterarischen Anspruch und es folgt eindeutig einer vorab geplanten Gesamtan-lage Die Freude am Spiel mag vielleicht manches Detail beigesteuert haben fuumlrdie verschraumlnkte Anlage des Textes ist sie aber keine Erklaumlrung

Ganz anders ist der Anspruch zum Ende der Darstellung der Viten der bdquoDreiszligig Tyrannenldquoin dem der Autor beteuert seinem Werk mangele es zwar an literarischer Ausgefeiltheit nichtjedoch an Faktentreue da nunc cuivis libellum non tam diserte quam fideliter scriptum ndash sbquoGibnun dieses Buumlchleinwem du magst es ist nicht so sehr kunstvoll geschrieben wie es sachgetreuistlsquo (SHA Quadr tyr 33 8) Syme nennt dies bdquodeceit for its own sweet sakeldquo (1983c 217) Im gleichen Aufsatz spe-kuliert er auch uumlber das Interesse des Publikums an einer solchen Art von geistigem Spiel(ibid 221)

2 De nuptiis als literarisches Werk 153

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Es lohnt sich jedoch auch fuumlr die Historia Augusta einen Schritt weiter zugehen Ausgangspunkt dafuumlr ist die obige Beobachtungdass das literarische Spielder Historia Augusta nur durchschaut wer die Werke der historischen Literaturkennt Durch die Lektuumlre historiographischer Biographien bringt der Leser einebestimmte Leseerwartung also implizite Vorstellungen mit wie das Werk aus-sehen soll und wird Diese Erwartungen werden aber nicht oder nur teilweisebedient Formal gesehen weisen die Viten in der Historia Augusta zwar die Cha-rakteristika der Gattung auf ndash doch indem sie sie inhaltlich nicht adaumlquat aus-fuumlllen treten deren Konventionen vor Augen

Durch die uumlbermaumlszligige Verwendung falscher Verweise und erfundener Quel-len geraumlt zudem das Beglaubigungsverfahren historischer Texte in den Blick-punkt Der Leser erkennt anwelchen Stellenwelche Beglaubigungsmechanismenansetzen und auf welche Weise sie unterlaufen werden koumlnnen Uumlberspitzt lieszligesich behaupten DieHistoria Augusta verfolgt ein aufklaumlrerisches Interesse indemsie (spielerisch) aufzeigt welche Beglaubigungsverfahren die Geschichtsschrei-bung nutzt und wie sie manipuliert werden koumlnnen dadurch wird auch die Ma-nipulierbarkeit von Geschichte und Leser deutlich

In De nuptiis werden ebenfalls die Konventionen der Einzelgattungen ndash zu-mindest ansatzweise ndash hervorgehoben Dass kein perfektes Musterbeispiel derjeweiligen Einzelgattung entstehen kann liegt darin begruumlndet dass durch dieVerbindung der vier literarischen Genres keine oberflaumlchliche Konsistenz derFiktion entstehen kannVielmehr entstehen Bruumlche die ndash ebenso wie die Bruumlchein der Erzaumlhlhaltung ndash auch die Gattungskonventionen und ihre Annahmendeutlich werden lassen Dies gilt besonders fuumlr die Satire deren Vorgehen imKontrast zur eigentlichen Hochzeitshandlung aus dem Rahmen faumlllt und somitbesonderes Augenmerk erhaumllt Hinzu tritt mit der Figur Satura auch eine Perso-nifikation der Gattung die in theoretischen Diskussionen Annahmen und Vor-gehen mit Martianus eroumlrtert Grunduumlberlegungen der Gattung Satire werden sotheoretisch eroumlrtert und praktisch erprobt Gleiches giltwenn auch zT inwenigerdeutlicher Form auch fuumlr die anderen Formen Die Enzyklopaumldie in ihren langenMonologen wird durch Spott markiert die trockenen Kuumlnste werden probeweisedurch Allegorien zugaumlnglicher gemacht im Symposiondialog wird uumlberlegt in-wieweit uumlbliche Rollenmuster (der Zecher) einen Platz haben oder wie weit mandie fuumlr die Feier typischen Reden fuumlhren kann und immythischen Teil wird durchdie Gegenuumlberstellung mit dem handfesten Wissensbetrieb die Andersartigkeitdes Erzaumlhlens deutlich

So werden neben den Inhalten der Wissenschaften auch verschiedene lite-rarische Formen bewahrt Neben der reinen Anwendung und somit Tradierungwerden gleichzeitig auch die Mechanismen verdeutlicht deren sich die jeweilige

154 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Gattung bedient Somit wird ihr Funktionieren nachvollziehbar und in der Folgeauch nachahmbar

3 Zusammenfassung

Martianus weckt also durch die Wahl mehrerer gleichberechtigter Erzaumlhler diesomit das Erzaumlhlen unzuverlaumlssig werden lassen besonders aber durch dieUumlbernahme satirischer Gattungselemente ein Bewusstsein fuumlr die traditionellenGrundlagen desWissens- und Lehrsystems seiner Zeit ImGegensatz zur Satire diediese Fragen kategorisch stellt handelt es sich in De nuptiis um ein Spiel damitDer Satirebezug dient als Anknuumlpfung an die traditionellen Gattungsmerkmaleder menippeischen Satire Karnevaleske und Dialogizitaumlt

Durch die (temporaumlre) Rolleninversion richtet sich das Augenmerk aufPhilologia als Wissenszentrum und Wissensmittlerin und fordert zum Nach-denken daruumlber heraus Im Kern hinterfragt das Werk alle Bereiche die mit Bil-dung und Bildungsvermittlung zu tun haben Was sind die Inhalte wahrer Bil-dung Gibt es eine Einheit von Bildung Wie kann sie vermittelt werden

Allerdings zielt die Kritik nicht auf eine Aufloumlsung klassischer Bildungsinhalteund Vermittlungsformen Sie regt vielmehr durch Scherz und Bruumlche zumNachdenken uumlber diese Fragen an Dabei verzichtet Martianus auf eigene Vor-schlaumlge und Konzepte und festigt so gleichsam den traditionellen Bildungs-betrieb Das von ihm dargestellte Wissen wird kanonisiert und die Darstel-lungsform in langen Reden wird es auch Die mittelalterliche Rezeption von Denuptiis zeigt dies eindrucksvoll

Wissen umfasst dabei nicht nur das Faktenwissen der Vortraumlge sondern auchdas Wissen um bestimmte literarische Formen Durch die Verbindung von vierGattungen und die Doppelung der Erzaumlhlerfigur mit Reflexion uumlber angemessenesErzaumlhlen entstehen Inkonsistenzen die die Konventionen der einzelnen Gattun-gen hervortreten lassen Nicht alle Elementewerden auf dieseWeise deutlich aberMartianus bietet einen Ansatzpunkt die Fiktion auch unter der Fragestellung zulesen was einen Text der jeweiligen Gattung ausmacht ndash sowohl positiv wie ne-gativ formuliert

Mit seiner kreativen Konzeption und ihrer literarischen Umsetzung gelingt esMartianus eindrucksvoll Heiteres und Belehrendes zu verbindenwomit er an dieTradition Varros und die klassische antike Poetik anknuumlpft Es gelingt ihm daruumlberhinaus aber auchWissen zu vermitteln und die traditionellen Vorstellungen vonder Bedeutung dieses Wissens wie der Form seiner Vermittlung herauszustellenSpielerisch wird also gelehrt und hinterfragt nicht jedoch kategorisch kritisiertoder kuumlhn neu entworfen Gerade dadurch zeichnet sich Martianusrsquo De nuptiis

3 Zusammenfassung 155

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

tatsaumlchlich als nescioquid inopinum intactumque (sbquoetwas Ungewohntes und nochnie Gewagteslsquo 1 2) aus und macht es zu einem der bedeutendsten Buumlcher derSpaumltantike und zu einer interessanten Quelle fuumlr die Frage nach Bildungsvor-stellungen im fuumlnften Jahrhundert

156 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Page 21: Bildungsvorstellungen im 5. Jahrhundert n. Chr. (Macrobius, Martianus Capella und Sidonius Apollinaris) || III Martianus Capella, De nuptiis Philologiae et Mercurii

Gelegentlich wird sogar die These vertreten dass sich das satirische ElementinDe nuptiis in dieser formalen Verbindung von Prosaund Poesie erschoumlpfesup3sup1⁹DerGattungsbegriff sbquomenippeische Satirelsquo waumlre dann identisch mit der BezeichnungsbquoProsimetrumlsquo Dem widersprechen jedoch verschiedene Beobachtungen derRuumlckgriff auf die Etymologie des Wortes satura die Bezugnahme auf Vertreter derGattung und das Auftreten einer Figur namens Satura sowie deren Agieren dasuumlber die rein formale aumluszligerliche Satireform hinausweist schlieszliglich die beson-dere Gestaltung der Erzaumlhlsituation Diese vier Elemente sollen im Folgendenherausgearbeitet werden

Etymologie ndash Dass Martianus sein Werk sehr wohl als Satire verstanden wissenwill wird an verschiedenen Stellen deutlich Dies geschieht zum Beispiel durchgelehrte Anspielungen auf die Terminologie der antiken Satire an prominenterStelle So heiszligt es in 9 998

[Satura] haec quippe loquax docta doctis aggeransfandis tacenda farcinat immiscuitMusas deosque disciplinas cyclicasgarrire agresti cruda finxit plasmate

So haumluft sie plappernd Gelehrtes auf Gelehrtes und stopft geheimes und bekanntes Wissenzusammen hatMusenundGoumltter vermischt undhat sich erdacht dass die enzyklopaumldischenDisziplinen in einem baumlurischen Machwerk unreifes Zeug daherplappern

Die Woumlrter farcinat und immiscuit verweisen auf das Zusammenstopfen undVermischen verschiedener Zutaten z B in einer Wurst oder Pastete Gleiches giltfuumlr die Woumlrtermiscillo und aggeranssup3sup2⁰ Ausgangspunkt fuumlr diese Terminologie istdie Etymologie desWortes sbquoSatirelsquo an sich bedeutet urspruumlnglich etwaswie sbquobunteMischunglsquosup3sup2sup1 Traditionell sind Anspielungen auf diese Etymologie in der satiri-

sich nicht feststellen (Scheible 1972 8) Vorhandene Untersuchungen beschreiben in der Regeldie Konstituenten der einzelnen Werke Aufgrund der geringen Zahl uumlberlieferter Werke und dergroszligen Unterschiede zwischen ihnen ist es jedoch schwierig die typischen Elemente der Gat-tung zu benennen Auch diese Arbeit schlieszligt sich dem beschreibenden Vorgehen an undvergleicht an einschlaumlgigen Stellen inwieweit die Beobachtungen auch fuumlr die Gattung typischsind So z B Coffey der die Mischung aus Prosa und Poesie bei Martianus als bdquomiscellanyldquobezeichnet und vor einer Verbindung von De nuptiis mit der Satire als problematisch warnt(Coffey 1996 959) Vgl Relihan 1993 14 ErnoutMeillet s v satur -ra -rum (2001 596) WaldeHofmann s v satura (2007 II482f) Der zentrale Hinweis auf eine Ableitung des Wortes aus dem kulinarischen Bereich findet

134 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

schen Literatur selten Allein in Juvenal findet sich ein Hinweis darauf gleichwohlmit leicht anderem Verstaumlndnis Er betrachtet die Zusammenstellung der Satirenals farrago also als Mischgericht nicht die einzelne Satiresup3sup2sup2

In diesen sehr bildlichen Wendungen trifft Martianus gleichzeitig eine Aus-sage uumlber sein Verstaumlndnis der Darstellung von Bildungswissen Bei ihm gibt eskeine vorverdauten und mundgerecht aufbereiteten Wissenspaumlckchen (wie Ma-crobius sie bietet)sup3sup2sup3 sondern rohe Kost (cruda) die ihre Zutaten d h die lite-rarischen oder inhaltlichen Urspruumlnge nicht leugnet LeMoine formuliert prauml-gnant bdquoBy calling attention to the literary functions these metaphors fulfillMartianus hellip raises questions about the principles of seamless synthesis andverbal regurgitation which Macrobius so effectively demonstratesldquosup3sup2⁴

Dass Martianus durch diese Art der Darstellung seine Autoritaumlt infrage stelle(bdquohellip reveal doubts about the competence of the cook and the quality of the edu-cational feastldquo)sup3sup2⁵ laumlsst sich jedoch nicht erkennen Schlieszliglich benennt er seinVorgehen explizit (scheitert also nicht an einem gesteckten Plan) und bietetgleichzeitig mit der Kritik an der klassischen Form der Wissensvermittlung eineMoumlglichkeit an wie nicht-vereinheitlichte Wissensvermittlung aussehen kannBeeintraumlchtigungen des Vertrauens zum Erzaumlhler und zu den Inhalten gibt esallerdings ndash jedoch aufgrund anderer Faktorensup3sup2⁶

Bezug auf andere Satiriker ndash Neben den Anspielungen auf die Etymologie derGattung Satire treten explizite Bezuumlge auf andere Autoren menippeischer Satirenauf Namentlich wird jedoch keiner der Vorgaumlnger genannt die Nennung Varroserfolgt ausschlieszliglich in den Vortraumlgen der Brautjungfern und bezieht sichuumlberwiegend auf Varros fachschriftstellerische Werke oder seinen Ruf als Enzy-klopaumldistsup3sup2⁷

sich beim Grammatiker Diomedes (Grammatici Latini 1 485) Ausgehend von dieser Passageeroumlrtert Petersmann die Etymologie mit besonderer Beruumlcksichtigung des Ursprungs des Wortessatura aus dem Kuumlchenbereich (Petersmann 1986) Iuv 1 86 nostri farrago libelli Vgl die Kommentare Morton Braund 1996 95 f undCourtney 1980 103 Vgl die Gleichnisse in der praefatio zu den Saturnalia (Sat praef 5ndash9) und die Ausfuumlh-rungen in Kap II1 sowie die dort aufgefuumlhrte Literatur LeMoine 1991 360 ibid S u die Abschnitte bdquoErzaumlhlinstanzenldquo und bdquoDeutungen der komplexen literarischen Formldquo 4 335 (die Gelehrsamkeit Varros vgl Cic ac 1 9 Aug civ 6 2) 5 517 (Nennung in einemZitat) 6 639 und 6 662 (Fragen der Geographie die Varro-Vorlage ist nicht bekannt) 9 928 (cfVarro rust 3 17 4) Vgl zum Verhaumlltnis von Martianus und Varro bes Bovey 2003 Kap 2 (bdquoLaquestion varronienneldquo) und Schievenin 2009f

2 De nuptiis als literarisches Werk 135

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Allerdings zitiert die Wendung ὄνος λύρας in 8 807 den Titel einer menip-peischen Satire Varrossup3sup2⁸ Die Wendung ist in der lateinischen Literatur ander-weitig nicht belegt weshalb davon auszugehen ist dass Martianus hier auf denrepublikanischen Satiriker direkt zuruumlckgriff Da die Wendung zudem im Streit-gespraumlch zwischenMartianus und Satura uumlber die angemessene Art des Erzaumlhlensder Geschichte faumlllt kommt ihrer Verwendung eine programmatische Aussage zuMartianus stellt sich und sein Werk also in die Nachfolge Varros und seiner Sa-tiren

Ein Bezug auf Lukian ist weniger sicher nachzuweisensup3sup2⁹ Allerdings gibt eseine motivische Uumlbernahme im zweiten Buch von De nuptiis Philologias Erbre-chen des Wissens das der Hochzeit vorausgeht hat eine Parallele in LukiansDialog Lexiphanes Der allzu (ein)gebildete Lexiphanes nimmt auf Draumlngen vonLycinus ein Brechmittel ein das ihm der Arzt Sopolis gibt Daraufhin erbricht eralle Woumlrter die er gelernt hat dies ist die Voraussetzung dafuumlr dass er nun an-gemessen belehrt werden kannsup3sup3⁰

Es handelt sich um die Fragmente Varro Men 348ndash369 In Fragment 349 findet sich dieWendung auch im Vers (si quis μελωδεῖν est ὄνος λύρας praesepibus se retineat forensibus ndashsbquower beim Gesang wiersquon Esel an der Harfe bloumld der bleib getrost im Stallmief seines Forumsdortlsquo [Uumlbs Krenkel]) Die Bezugnahme auf Varro ist umso wahrscheinlicher da Satura unmit-telbar zuvor sowohl Martianusrsquo berufliche Aufenthalte auf dem Forum erwaumlhnt und ein Wort-spiel mit seinem Namen Capella angestellt hat ndash der zwar nicht sbquoEsellsquo bedeutet wohl aber einHaustier (sbquoZiegelsquo)Vgl dazu Shanzer 1968c 38ndash40 Shanzer 1986a kritisch dazu Pabst 1994 168(m Lit) Folgt man Bovey handelt es sich bei der unmittelbar folgenden Wendung καιρὸν γνῶθιum einen weiteren Verweis auf den Titel einer Varro-Satire γνῶθι σεαυτόν (= Varr Men 199ndash210 vgl Bovey 2003 282ndash284) Naumlher liegt wohl dass Martianus Capella diese eigenstaumlndigeSentenz (vgl Diogenes Laertios I 79 der sie als Sentenz des Pittakos ausweist) aus einer anderenQuelle uumlbernommen hat Kindermann 1969 60 Shanzer geht davon aus dass Martianus Lukian kannte (Shanzer1986c 36) Zur Diskussion um Martianusrsquo Griechischkenntnisse vgl Cristante 2009 [5] undShanzer 1986c 4 die beide annehmen dass Martianus durchaus Griechisch beherrschteShanzer weist einige Stellen auf an denen Martianus woumlrtlich uumlbersetzt und schlieszligt aus derBeherrschung des Griechischen zu Recht auf einen gebildeten moumlglicherweise sogar akade-mischen Hintergrund von Martianus Lucian Lex 20f Andere antike Texte die das Erbrechen von Wissen als Teil des Reini-gungsprozesses beschreiben oder als Bild tradieren sind mir nicht bekannt Daher ist eswahrscheinlicher dass Martianus auf Lukian im Original zuruumlckgegriffen hat Zur vor-byzantinischen Rezeption Lukians vgl Nesselrath 1994 der spaumltantike Bezuumlge auf Lukian u abei Julian und Claudian aufzeigt ndash Einen Bezug auf Lukians Concilium deorum fuumlr moumlglich haumlltKrapinger 1999 962 ndash Anders gelagert sind Lucian cont 7 und Aug in Joh ev tract 36 1 Dortgeht es darum dass durch das Ausspeien Wissen weitergegeben wird was zum Bild der daserbrochene Wissen aufsammelnden Artes passt nicht jedoch zum Motiv der Reinigung

136 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Bezuumlge auszligerhalb der Uumlbernahme uumlblicher Gattungselemente lassen sich fuumlrSenecas Apocolocyntosis Petrons Satyricon oder Julians Caesares nicht konsta-tierensup3sup3sup1

Die Figur der Satura und ihr Handeln ndash Einer der deutlichsten Hinweise auf dieForm der Satire liegt im Auftreten einer Figur namens Satura Diese Figur wirdzunaumlchst von Martianus als Erzaumlhlinstanz eingefuumlhrt (1 2) von der er den Inhaltvon De nuptiis erfahren haben will Im Laufe des Werks gewinnt Satura aber anProfil und agiert zunehmend autonom

Aussagen uumlber Satura beruhen letztlich auf drei Stellen in De nuptiis (6 576ndash5798 806ndash8109997ndash999) und koumlnnen fast ausschlieszliglich aus der Formund derBotschaft ihrer eigenen Aumluszligerungen gewonnen werden An allen drei Stellendiskutiert Satura mit Martianus Ansonsten ist Satura zwar als praumlsent zu denkenwird aber nicht weiter thematisiert

Nach Martianusrsquo Anrufung Minervas zu Beginn des sechsten Buches mischtsich Satura in seine Uumlberlegungen ein welche Frauen er vor sich sehe Die Ein-mischung wird von Martianus als scherzend bezeichnet (iocabunda 6 576) dieEinmischung an sich als typisch fuumlr das Scherzen Saturas (ut lepidula est 6 576)Die Aumluszligerung Saturas beginnt mit Spott uumlber Martianusrsquo nur scheinbare KlugheitDurch falsche naumlchtliche Studien und besonders seine Anwaltstaumltigkeit habe erden Blick auf das Wichtige verloren und erkenne nun nicht einmal mehr Philo-sophia und Paideia Der Scherz wird jedoch alsbald von einem belehrendenTonfall abgeloumlst in dem Satura Martianus uumlber das Wesen der beiden Frauenaufklaumlrt

Satura tritt als Naumlchstes zu Beginn des achten Buches auf in der Folge derSilen-Szene Der angetrunkene Silen war eingeschlafen und durch Amor aufge-schreckt worden was die uumlbrigen Goumltter laut lachen lieszlig (8 803ndash805) DieseSchilderung provoziert bei SaturaWiderspruch da sie das Erzaumlhlte als unpassendfuumlr die Goumltterversammlung empfindet Ihre Kritik beginnt wieder bei der Persondes Martianus dessen Namen sie als passend zu seinem Wesen deutet (Capella ~sbquoZiegelsquo 8 806) Sodann fordert sie Martianus auf seine Possen zu unterlassenMartianus fuumlhlt sich gehoumlrig von Satura gemaszligregelt und gibt klein bei bemerktaber dass sie ansonsten mehr von Scherzen halte (alioquin lepidula 8 807) AlsSatura dann die Einfuumlhrungder eintretenden Brautjungfer in Versenvorbringt undMartianus wiederum seine Scherze (ludicra 8 808) vorhaumllt kann dieser nicht

Mit Julian verbindet Martianus immerhin die Ansiedlung der Goumltterversammlung auf derMilchstraszlige ndash Zur Rolle der Saturnalien vgl den Abschnitt bdquoDeutungen der komplexen litera-rischen Formldquo

2 De nuptiis als literarisches Werk 137

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mehr an sich halten und zahlt Satura ihre Kritik in gleicher Muumlnze heim Nacheinigem Spott uumlber Saturas Verse verteidigt nun Martianus das Recht auf Scherzgegen sie die an sich ndash nicht aber in De nuptiiswie es scheint ndash eigentlich fuumlr denScherz zustaumlndig waumlre und gibt ihr mit Martial (2 41 1) den Rat auch einmal zulachensup3sup3sup2

Ein letzter Schlagabtausch von Satura und Martianus erfolgt schlieszliglich amEnde des Werkes Wiederum streiten beide Figuren miteinander und halten sichmit Spott uumlber das Wesen des anderen nicht zuruumlck

Die Einfuumlhrung Saturas die ja nur in Verbindung ndash und das heiszligt Ausein-andersetzung ndash mit Martianus erscheint dient vornehmlich der deutlichenBenennung der Gattung und der Verstaumlndigung daruumlberwas den Charakter einessatirischen bzw des vorliegenden Werkes ausmache Erstaunlich ist dabei Mar-tianusrsquo Entwicklung der sich zunaumlchst gegen Unterhaltung im artes-Teil ausge-sprochen hatte diese spaumlter aber gegen den censorischen Eingriff Saturas imachten Buch verteidigt Noch erstaunlicher ist aber dass es gerade Satura ist diezur Beachtung des Decorums auffordert und Martianusrsquo vergleichsweise mildenScherz scharf tadelt

Erzaumlhlinstanzen ndash Die Frage nach der Erzaumlhlsituation bzw der Erzaumlhlerfigurgehoumlrt zu den grundlegenden Analysekriterien eines literarischenWerkes ebensowie die Konzipierung von Raumund Zeit Lassen sich die letzten beiden Punkte imHinblick auf De nuptiis hinreichend klaumlrensup3sup3sup3 so bietet die Erzaumlhlerfigur groumlszligereSchwierigkeiten

DassDe nuptiis zwei Erzaumlhlinstanzen hat scheint zu Beginn desWerkeswenigdramatisch In 1 2 verweist der Erzaumlhler Martianus gegenuumlber seinem Sohn dar-auf dass die folgende Geschichte (also der uumlberwiegende Teil von De nuptiis) ihm

Ride si sapis o puella ride Schievenin bietet eine gruumlndliche Analyse dieser Stelle auchmit Blick auf die inverse Vorlage Martials (plora si sapis o puella plora Mart 2 41) derwiederum auf Ovid (Ov ars 3 281 f) zuruumlckgreift (Schievenin 1984 bes 136 ausfuumlhrlich auchBovey 2003 275ndash288) Die Rahmenhandlung spielt in der erzaumlhlerischen Gegenwart und in einem unbestimmtenRaum der jedoch nicht auszligergewoumlhnlich ist es liegt nahe an Karthago und das Haus desMartianus Capella zu denken Die eigentliche Handlung spielt an z T unwirklichen Orten aufder Erde die zumeist nicht naumlher bestimmt sind (z B Philologias Herkunft) und auf derMilchstraszlige wobei die absolute Zeit nicht genannt wird aber aufeinanderfolgende Tage inihrem Ablauf erkannt werden koumlnnen Die Phantastik einzelner Szenen die meist auf alle-gorische Darstellungsweisen zuruumlckgeht verletzt jedoch nicht die raumlumliche oder zeitlichePlausibilitaumlt des Dargestellten Vgl dazu auch die Ausfuumlhrungen und grafischen Veranschau-lichungen LeMoines (1972a)

138 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

waumlhrend langer Winternaumlchte (eine Anspielung auf Gellius)sup3sup3⁴ von Satura be-richtet wurde Der antike wie moderne Leser duumlrfte sich wohl kaum daran stoszligensondernwird darin vor allem eine Inspiration des Autors durch Satura (auchwennes das zuvor noch nicht gab) erkennen Bei der Erwaumlhnung von Satura koumlnnte erHeiteres erwarten oder bunt gemischte Geschichten

Vollkommen verwirrt wird der Leser hingegen spaumltestens dann wenn er amEnde des Werkes in der Sphragis angekommen ist (9 997ndash 1000) Dort reflektiertMartianus sein literarisches Vorgehen in den vorausgegangenen neun Buumlcherngenauer gesagt distanziert er sich von der Form der Darstellung (Umfang Bunt-heit) und verweist auf die Verantwortung Saturas die die Geschichte erzaumlhlt habe

Habes anilem Martiane fabulam 997Miscillo lusit quam lucernis flamineSatura Pelasgos dum docere nititurArtes daggercagris vix amicas AtticisSic in novena decidit voluminahaec quippe loquax docta doctis aggerans 998fandis tacenda farcinat immiscuitMusas deosque disciplinas cyclicasgarrire agresti cruda finxit plasmate (9 997 f)

Da hast du Martianus eine Altweibergeschichte sie verfertigte im Spiel mit vermischterInspiration [d h in Prosa und Vers] bei Kerzenschein Saturawaumlhrend sie sich bemuumlhte diePelasger zu lehren die Kuumlnste die den Griechen kaum freundlich [d h neu] sindSo gelangte sie hinab bis zum neunten Buch haumluft plappernd Gelehrtes auf Gelehrtes undstopft geheimes und bekanntes Wissen zusammen hat Musen und Goumltter vermischt und hatsich erdacht dass die enzyklopaumldischen Disziplinen in einembaumlurischenMachwerk unreifesZeug daherplappern

So ungewoumlhnlich dieses Vorgehen auch ist ndash Martianus haumltte ja den Bericht Sa-turas als Grundlage nehmen und dann nach eigenem Geschmack umgestaltenkoumlnnen ndash wird es uumlbertroffen durch die Verteidigung Saturas Sie weist die Ver-antwortung fuumlr die Art der Erzaumlhlung von sich und verteidigt sichmit demHinweisauf Martianusrsquo intellektuelle Schwaumlche der sie die Ausfuumlhrungen habe anpassenmuumlssen

Vgl Gell praef 4 zur Erklaumlrung der Wahl des Titels Noctes Atticae fuumlr sein Werk

Sed quoniam longinquis per hiemem noctibus in agro sicuti dixi terrae Atticae commentationeshasce ludere ac facere exorsi sumus idcirco eas inscripsimus noctium esse Atticarum hellip

Aber weil wir in langen Naumlchten den Winter uumlber in Attika auf dem Landwie schon gesagtdiese Anmerkungen im Spiel und dann ernsthaft begonnen haben daher haben wir ihnenden Namen Attische Naumlchte gegeben hellip

2 De nuptiis als literarisches Werk 139

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

haec ipsa nauci rupta conscientia 999turgensque felle ac bili bdquomulta chlamydeprodire doctis approbanda cultibuspossemque comis utque e Martis curia[hellip]ab hoc creatum Pegaseum gurgitem 1000decente quando possem haurire poculoldquo (9 999 f)

Sie sagte aufgrund ihres Wissens um die Nichtigkeit (dieser Ausfuumlhrungen) verletztschwellend vor Bitterkeit und Zorn bdquoIch koumlnnte hier freundlich auftreten mit einem Gewandbekleidet lobenswert durchgelehrtes Verhaltenwie aus der VersammlungdesMars [Es folgtdie Schilderung der unguumlnstigen Anlagen von Martianus] ndash Wann koumlnnte ich mit ange-messenem Becher aus einem pegasischen Strom von ihm erschaffen schoumlpfenldquo

Somit hat das Werk das zu Beginn zwei hierarchisch geschiedene Erzaumlhler zuhaben scheint am Ende zwei Erzaumlhler die sich gleichberechtigt uumlber die Form dererzaumlhlten Geschichte streitensup3sup3⁵

Die Inkonsistenzen auf der Erzaumlhlebene setzen sich daruumlber hinaus fort HatteMartianus zu Beginn des Werks gesagt Satura habe ihm die Geschichte waumlhrendlangerWinternaumlchte erzaumlhlt so treten Satura undMartianus amEnde desWerks inder erzaumlhlerischen Gegenwart gemeinsam auf und sprechen beide nacheinanderzu Martianusrsquo Sohn

Weiterhin erscheinen Satura und Martianus innerhalb der Geschichte dieMartianus angeblichvon Satura gehoumlrt hatWaumlhrend die Goumltter denverschiedenenBrautjungfern lauschenwohnen auch SaturaundMartianus der Versammlungbeiund betrachten sie als unbeteiligte ZuschauerWie aus einer Theaterloge herauskommentieren und diskutieren sie das Geschehen das auf der bdquoGoumltterbuumlhneldquostattfindetsup3sup3⁶

Noch einen weitergehenden Schritt stellt die Silen-Szene zu Beginn des achtenBuches dar Im Anschluss an diese Szene beschwert sich Satura bei Martianus erkoumlnne die Goumltter nicht auf dieseWeise agieren lassen In der Folge entspinnt sich einGespraumlch in demMartianus seine Art des Erzaumlhlens gegen Satura verteidigt die fuumlreine zuruumlckhaltendere Darstellung plaumldiert (s o)Von der Fiktion dass Martianusseinem Sohn bloszligwiedergibtwas Satura ihm erzaumlhlt hat bleibt nichtmehr viel dieganze Szenerie ist ein Produkt der ErfindungdesMartianus gleichzeitigwohnt er ihraber gemeinsam mit Satura bei ist also Teil der Handlung

So bereits Pabst 1994 120 Anm 119 der allerdings auf eine Diskussion der Beobachtungverzichtet Es handelt sich um die Stellen zu Beginn des sechsten und des achten Buches die imvorigen Abschnitt bereits paraphrasiert wurden

140 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Diese Art der Spiels mit der Erzaumlhlerrolle wird von manchen modernen For-schern als ein wichtiges Merkmal der menippeischen Satire angesehen Hinzu-treten kann die Selbstherabsetzung des Erzaumlhlers die sich an seinemmangelndenWissen Stilbewusstsein Traditionsempfinden o auml entzuumlndetsup3sup3⁷ Folglich kanndie zunaumlchst befremdliche Brechung und Verzerrung als weiteres Merkmal derGattung menippeische Satire bestimmt werden

Aufgrund dieser Beobachtungen ist es zwingend in De nuptiis vor allem eineSatire zu sehen Auch der heiter-spoumlttische Charakter einiger Passagen zwischenden Vortraumlgen der Brautjungfern passt zum satirischen Anspruch Gelegentlicherscheint es jedoch fraglich ob es sich wirklich um satirische und nicht eher umkomische oder derbe Spaumlszlige handelt Die Szene in der Silen betrunken einschlaumlftund von den anderen Goumlttern verspottet wird (8 803ndash805) erinnert mit ihremSlapstick eher an den derben Spott der Komoumldie als an die Satire eines Varrosup3sup3⁸

22 Deutungen der komplexen literarischen Form

Wie laumlsst sich das Werk De nuptiis nun also formal beschreiben oder andersgefasstWie lassen sich die vier literarischen Traditionsstraumlnge zusammenfuumlhrenDass eine einheitliche Lesung zumindest versucht werden muss zeigt bereits dasLeitmotiv der Hochzeit ansup3sup3⁹

Im Kern handelt es sich bei MartianusrsquoWerk um eine Sammlung bedeutenderWissensschaumltze in einem einzigen Werk die darin systematisch ausgebreitetwerden Dies zeigt die Einteilung in verschiedene Disziplinen die ein ver-

Zur Erzaumlhlerrolle in der menippeischen Satire vgl u a Relihan 1993 und darin bes S 35 Mit der Aufnahme unterhaltsamer Elemente ginge Martianus sogar noch uumlber dieErwartungen an ein sbquosatirischeslsquo Werk hinaus Auch Boethius wird bescheinigt er erzaumlhle seineConsolatio bdquoper satiramldquo auch wenn bei ihm weder eine Figur Satura auftritt noch allzu vielHeiterkeit herrscht (Peiper zitiert in der Einleitung zu seiner Ausgabe S xxxi eine mittelalter-liche Boethius-Vita vgl Kindermann 1969 61)

hos libros [scil de consolatione Philosophiae] per satiram edidit imitatus videlicet mar-cianum felicem capellam qui prius libros De nuptiis philologiae et mercurii eadem speciepoematis conscripserathellip

Diese Buumlcher schrieb er als Satire freilich in Nachahmung des Marcianus Felix Capellader zuvor die Buumlcher uumlber die Hochzeit der Philologie mit Merkur in der gleichen Art vonGedicht verfasst hatte

Zum Motiv der Hochzeit das bereits programmatisch im eroumlffnenden Hymnus anHymenaeus erscheint vgl Schievenin 2009c und Cristante in der Einleitung seiner Ausgabe1987 3ndash 10

2 De nuptiis als literarisches Werk 141

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

gleichsweise leichtes Auffinden der Informationen erlaubtsup3⁴⁰ die Bedeutung wirdangesichts der Praumlsentation vor den Goumlttern auf der Milchstraszlige deutlich Alleinder Umfang dieser Vortraumlge die in sich auch nicht gestoumlrt oder gebrochenwerdenmarkiert dass es sich hier um das zentrale Charakteristikum des Werkes handelt

Den erzaumlhlerischen Anlass fuumlr diese Praumlsentation bietet eine Hochzeitsfeieralso ein Symposion hier ist die Gelegenheit fuumlr die groszligen Redebeitraumlge gegebenZudem bietet die SymposionformAnknuumlpfungspunkte fuumlr eine Rahmenhandlungdie zur Auflockerung der ebenso ausfuumlhrlichenwie trockenen Einzelreden genutztwird

Doch bleibt es ndash im Gegensatz z B zu Macrobius ndash nicht bei der bloszligenDarstellung der Wissensinhalte Hinzu tritt die allegorische Darstellung der Be-deutung von Wissen und von Fleiszlig beim Wissenserwerb in den ersten beidenBuumlchern Die praumlsentierten Inhalte der Buumlcher 3ndash9 (die Philologia ja bereits aufder Erde in Buch 2 besitzt) sindwichtig Sie sind nicht nur wichtig fuumlr das irdischeLeben (das wird nicht weiter thematisiert die explizit irdischen Wissenschaftenwie Architektur und Medizin werden sogar ausgeschlossen) ndash die Inhalte sindauch wichtig fuumlr die menschliche Vervollkommnung

Durch das angesammelte Wissen erreicht der Mensch zwar nicht die voll-kommene Erkenntnis (die erhaumllt auch Philologia nur ohne eigenes Zutun als sieauf der houmlchsten Himmelssphaumlre angekommen zum Vatergott in der jenseitigenGluumlckseligkeit betet) wohl aber ein goumlttergleiches Wissensup3⁴sup1 Der Wissenserwerbist gewissermaszligen die Voraussetzung dafuumlr dass der Mensch mit Hilfe einesgoumlttlichen Begleiters in den Himmel aufsteigen kann unsterblich wird und voll-kommene Einsicht erlangt

Die so weit kohaumlrente Verbindung der literarischen Traditionen laumlsst aller-dings den explizit satirischen Anspruch von De nuptiis auszliger Betracht durch denMartianus selbst das Werk primaumlr in die Gattung der Satire einordnet waumlhrendvergleichbare Bezuumlge zu anderen Gattungen fehlen Natuumlrlich lieszlige sich dieserprogrammatische Anspruch mit einem Verweis auf die Verwendung des Begriffszur Bezeichnung einer inhaltlich wie literarisch gemischten Form erklaumlren Dochgreift diese Erklaumlrung zu kurz da das Agieren Saturas die literarischen Passagendes Werks beinahe als Travestie erscheinen laumlsst (vgl oben zur Erzaumlhlerfigur) Einbildend-enzyklopaumldisches Werk kann sich allerdings nicht gefahrlos als Satire

So auch Englisch 1994 56 Die bdquoSystematik bei der Praumlsentationldquo erlaube einen leichtenZugriff auf die Informationen Mart Cap 2 201ndash205

142 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

praumlsentieren ohne Zweifel an der Glaubwuumlrdigkeit und Zuverlaumlssigkeit desWerkes und der praumlsentierten Inhalte zu weckensup3⁴sup2

Wenn Martianus auch die Konventionen der Gattung menippeische Satireaufnimmt und sein Werk also nur folgerichtig unter anderem eine unzuverlaumlssigeErzaumlhlsituation aufweist ist dies noch keine Erklaumlrung an sich Die regelkonformeUmsetzung gattungstypischer Anspruumlche erklaumlrt noch nicht die Wahl der Gattungan sich ndash einer Gattung die trotz ihrer Benennung als solche nicht zu denStandardformen und akzeptierten Gattungen zaumlhlte insbesondere nicht fuumlrLehrwerkesup3⁴sup3

Auch Martianusrsquo Verweis auf etwas bislang noch nicht Unternommenes(nescioquid inopinum intactumque 1 2) vermag den Widerspruch nicht zu loumlsenDie Wendung zeigt zwar dass Martianus die Ungewoumlhnlichkeit seines Ansatzesbewusst war (sofern sich die Phrase uumlberhaupt auf die Komposition des Werkesbezieht)sup3⁴⁴ beseitigt aber nicht das interpretatorische Problem ZuwelchemZweckverbindet Martianus also zwei so widerspruumlchliche Gattungen wie Enzyklopaumldieund Satiresup3⁴⁵

Drei Antwortansaumltze lassen sich grob umreiszligen 1 Die Verbindung ist nuraumluszligerlich bzw oberflaumlchlich 2 durch die Verbindung soll ein bestimmter Aspektparodiert und somit Spott und Kritik ausgesetzt werden 3 die Verbindung erfuumlllt

Dieses Problem hat bereits Westra in seinem Aufsatz bdquoThe juxtaposition of the ridiculousand the sublime in Martianus Capellaldquo benannt (Westra 1981) Allerdings beschraumlnkt sich auchdieser Aufsatz auf die Darstellung des Problems und die Zusammenstellung der Belege EineLoumlsung hat Westra nicht anzubieten ndash sein Aufsatz endet mit der eher apologetischen Bemer-kung das Eingestaumlndnis der Unvereinbarkeit von Satire und Lehrwerk durch Martianus in 9 997sei prima facie ein Spiel dahinter stecke jedoch die Absicht Problembewusstsein zu demon-strieren und Verantwortung fuumlr die unterlassene Loumlsung zu negieren bdquoEven though I would claim that prose and verse must be present in an ancient Menippeansatire it must be seen as one of a number of shocking juxtapositions of oppositesldquo (Relihan 198760) ndash In der Folge kann die prosimetrische Form durchaus auch Mittel belehrender Werkewerden vgl Pabst 1994 133 Denkbar (und wohl wahrscheinlich) waumlre auch dass damit die Inhalte besonders desMythos gemeint sind Der Verweis auf Unterhaltung fuumlhrt nicht zum Kern der Frage denn die satirische Formstellt mehr dar als reine Unterhaltung Auch das horazische Diktum ridentem dicere verum quidvetat ndashsbquolachend das Wahre zu sagen ndash was spricht dagegenlsquo (Hor serm 1 1 23) als Kern vonMartianusrsquo Satireverstaumlndnisses greift zu kurz ebenso wie vergleichbare Konzeptionen in derLiteratur Dort geht es bei Belehrung immer um einzelne philosophische Saumltze (nie beispiels-weise um die Vermittlung von Philosophie an sich) Folglich bezeichnet das bdquoverumldquo nichtkognitives Lernen sondern moralisches Der grundlegende Unterschied zur Konzeption desMartianus liegt somit auf der Hand Vgl zu diesem Aspekt im Allgemeinen z B Shanzer 1986c42 und im Speziellen u a Woytek 1986 339ndash345 Keulen 2009 bes Kap 2 und 3

2 De nuptiis als literarisches Werk 143

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

einen literarischen und belehrenden Zweck zugleich Aufgrund der komplexenSachlage und der unmittelbaren Bedeutung der Beantwortung der Frage nachdieser Verbindung fuumlr das Gesamtverstaumlndnis von De nuptiis werden alle Alter-nativen vorgestellt und bewertet

Rein formale Verbindung von Satire und EnzyklopaumldieEventuell laumlsst sich die Mischung aus enzyklopaumldischen und satirischen Ele-menten (mit den zur Satire gehoumlrigen Verspartien) als Sonderform der Varro-Re-zeption bei Martianus auffassenVarro von Reate verfasste sowohl umfangreicheFachliteratur als auch menippeische Satiren Fuumlr beides war er in der Antikebekannt und beruumlhmt ndash doch ist es wahrscheinlich dass Martianus die Werkebereits nicht mehr ndash oder allenfalls nur in Auszuumlgen ndash vorliegen hattesup3⁴⁶ Aus demWissen um die beiden Schaffensbereiche des republikanischen Autors die beideder Unterweisung dienen solltensup3⁴⁷ koumlnnte Martianus auf den Gedanken verfallensein die literarischen Formen und Inhalte in seinem Werk zu verbindensup3⁴⁸Vielleicht saszlig er auch einemMissverstaumlndnis auf indem ermeinte dass Varro seinsatirisches wie enzyklopaumldisches Koumlnnen in nur einem Werk demonstriert habeDies hieszlige jedoch dass Martianus sich der Problematik dieser Verbindung nicht

So aumluszligert sich beispielsweise Kindermann in den Vorstudien seiner Ausgabe der Conso-latio des Laurentius von Durham Er billigt Martianus nur eine sekundaumlre Varro-Kenntnis zu(Kindermann 1969 60) Entschieden verneint wird die Frage von Schievenin (2009f) und Hadotdie vor allem neuplatonische Quellen vermutet (Hadot 2005 149) Schneider jedoch nimmt andass sowohl Augustin als auch Martianus die Disciplinae noch vorliegen hatten (Schneider 1999109 f) und dass die Satiren-Exzerpte des Nonius Marcellus (fl um 400 in Afrika) ebenfalls ausdem Originaltext Varros angefertigt wurden (ibid 96 Anm 12) Abwaumlgend aumluszligert sich Huumlbner2004 passim Vgl Cic ac 1 8 (es spricht Varro)

et tamen in illis veteribus nostris quae Menippum imitati non interpretati quadam hilaritateconspersimus multa admixta ex intima philosophia multa dicta dialectice quae quo faciliusminus docti intellegerent iucunditate quadam ad legendum invitati

Jedoch findet sich in meinen fruumlhen Schriften die ich in kreativer Nachfolge (und nicht nurUumlbersetzung) Menipps mit einer gewissen Heiterkeit benetzt habe vieles aus den Kernbe-reichen der Philosophie beigemengt und vieles das nach Art der Dialektiker gesagt istdamit die weniger Gelehrten es leichter verstuumlnden nachdem sie durch eine Art von Scherzzur Lektuumlre ermuntert worden sind

Vielleicht hatte Martianus diese Stelle sogar im Kopf als er die Anlage von De nuptiis plante So z BWeinreich in der Einleitung zu seiner Uumlbersetzung roumlmischer Satiren bdquoMartianusCapella glaubte gewiszlig ein Varro redivivus zu sein sozusagen die Quintessenz des Gelehrten unddes Satirikersldquo (Weinreich 1962 XCIII) Ebenso Shanzer 1986c 42

144 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

bewusst gewesen sei ndash was ihm sicher nicht gerecht wird Auszligerdem wird so dieBezugnahme auf weitere formale Elemente der menippeischen Tradition und dieuumlbrigen Vorlaumlufer der Gattung mit anderer Konzeption (Lukian Julian) nichtausreichend beruumlcksichtigt

Ebenfalls beim Autor koumlnnte eine zweite Erklaumlrung ansetzen Im Zuge derAbfassung seiner Enzyklopaumldie hat sichMartianus nach horazischer Vorgabe (unddem Beispiel Varros)sup3⁴⁹ um Auflockerung und heitere Elemente bemuumlht Diespontanen Einfaumllle wurden ins Werk integriert und die sich daraus ergebendenInkonsistenzen entweder uumlbersehen oder billigend in Kauf genommen Beideswuumlrde gut zum klassisch negativen Martian-Bild in der Forschung passensup3⁵⁰Abgesehen davon dass Annahmen uumlber das Vorgehen beim Schreiben weitge-hend auf Spekulation beruhensup3⁵sup1 widersprechen drei Beobachtungen dieser Er-klaumlrung Erstens gelingt es Martianus De nuptiis uumlber neun Buumlcher vorauszu-planen so dass am Ende ein ndash zunaumlchst abgesehen von der Satire-Problematik ndashkohaumlrentes Werk entsteht Die Fuumllle der behandelten Themen Motive und lite-rarischen Elemente weist eher auf ein planvolles Arbeiten hin und macht es un-wahrscheinlich dass Martianus Probleme an dieser Stelle nicht wahrgenommenbzw nicht korrigiert haumltte Zweitens ist die Verbindungvon Satire und den anderenElementen nicht nur oberflaumlchlich so dass sie nachtraumlglich eingefuumlgt sein koumlnnteoder sich im Schreibprozess so ergeben haben koumlnnte Da bereits im zweitenKapitel des ersten Buches Satura eingefuumlhrt wirdwar sie von vornherein Teil des

Gemeint ist das beruumlhmte zunaumlchst nur fuumlr die Dichtung relevante prodesse aut delectare(Hor ars 333 f) zu Varro vgl die schon angefuumlhrte Stelle aus Cic ac Vgl z B die sehr bildliche Beschreibung von C S Lewis bdquo[hellip] this universe which hasproduced the bee-orchid and the giraffe has produced nothing stranger than Martianus Capella[hellip] the curiosity shop of his mind [hellip] a chaos beside which the work of Rabelais has unity andthat of Mandeville probabilityldquo (Lewis 1936 78 f) Gleiches gilt fuumlr Spekulationen uumlber eine andere Auffassung von Literatur und ihrenRegeln in Martianusrsquo Zeit oder Umfeld Einerseits kennen wir keine Texte die sich mit De nuptiisvergleichen lieszligen (was per se nichts beweist aber doch Indiziencharakter hat) andererseitshielten sich auch die spaumltantiken Autoren uumlblicherweise an die klassischen Vorgaben Ich teiledaher auch Schneiders Ansicht nicht der die Skepsis an dieser Verbindung allein der modernenLeseerfahrung zuschreibt bdquoWenn den Heutigen diese Kombination der forcierten Gelehrsamkeiteines Curriculums und der spielerisch-saloppen Causerie seltsam beruumlhren mag so waumlre dazuimmerhin schon an ein ciceronisches Dictum zu erinnern non est enim seiunctus iocus a phi-lologia (ad fam 16214) ndash sbquoSpieltrieb und Pedanterie diktieren und widersprechen sich nichtlsquo(sbquoErste Fruumlhschichtlsquo aus Grassrsquo sbquoHundejahrelsquo)ldquo (Schneider 1999 94 Anm 2) Der Verweis aufCicero traumlgt nichts zum Verstaumlndnis von Martianus bei Cicero geht es an der zitierten Stelle umden Ablauf des Tages mit seinem Schuumller der aus ernsteren und heitereren Abschnitten bestehtDaraus folgt nicht dass das Lernen mit Scherz verbunden ist ndash auszligerdem duumlrfte Cicero unteriocus (sbquo[urbaner] Scherzlsquo) anderes verstanden haben als Martianus in seiner Satura bietet

2 De nuptiis als literarisches Werk 145

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Kompositionsplans Drittens hat Schievenin gezeigt dass Martianus keineswegsoberflaumlchlich und eigenwillig arbeitet Durch eine gruumlndliche Untersuchung derSilen-Passage (8 803ndash805) kann er nachweisen dass Martianus ndash wie vieleAutoren vor ihm ndash uumlber ein umfangreiches literarisches Wissen verfuumlgte daraufbei der Abfassung seines Werkes zugreifen konnte und durch gezielte Anspie-lungen neue Bezuumlge herstelltesup3⁵sup2

Satire als Mittel der KritikWaumlhrend die antike Satire (im Gegensatz zur modernen) nicht zwangslaumlufig Kritikan Missstaumlnden uumlben wollte ist diese Moumlglichkeit umgekehrt auch nicht auszu-schlieszligen Martianus koumlnnte also bewusst eine solide Darstellung der Kuumlnste inliterarischem Gewandmit der Gattung der Satire verbunden haben um Zweifel ander Ernsthaftigkeit der uumlbrigen Teile des Werkes zu wecken Er wuumlrde somit einaufklaumlrerisches Interesse verfolgen das zugleich auch unterhaltsame Zuumlge traumlgt

Eine erste Schwierigkeit dieser Lesart von De nuptiis ergibt sich bereits bei derFrage nach dem Objekt der SatireWerden die Wissensinhalte in Zweifel gezogenoder nur die Art ihrer Vermittlung in langen Reden bzwTraktaten Soll der Glaubean die umfassende Einheit des Wissens kritisiert werden oder die Vorstellungsaumlmtliches Wissen lasse sich vermitteln gar kohaumlrent in einem Werksup3⁵sup3 Ist dieVorstellung dass Wissen goumlttlich mache parodiert oder nur die abwegige Vor-stellung dass auf einer Hochzeit solche Reden gehalten werden Oder richtet sichdie Kritik letztlich gegen die Auffassung Philologia als Vorbild zu sehen oder garals Mittlerin alles Wissens ja sogar als Mittlerin zwischen Menschen und Goumlttern

Aus der Tatsache dass das Objekt der Satire keineswegs leicht zu bestimmenist kann nicht gefolgert werden dass in De nuptiis keine Satire vorliege die be-stimmte Sachverhalte kritisiere Aber es kann durchaus gefolgert werden dass eskeine expliziten textinternen Merkmale gibt die das Lesen steuern und den Ge-genstand der Kritik deutlich hervortreten lassen Die Deutungen gehen also vonmodernen Annahmen uumlber das Umfeld bzw die Gedankenwelt von Martianus aus

Im Kern handle es sich um bdquouna narrazione tersa e brillanteldquo verbunden mit einemDickicht an Verweisen Die Silen-Szene habe einen bdquocarattere colto e della dottrina e dellalingualdquo (Schievenin 1984 132) Das Fazit seiner Untersuchung formuliert Schievenin folgen-dermaszligen bdquoIl De nuptiis si rivela dunque opera di vasti orizzonti non solo per lrsquointento dida-scalico che la pervade e che ne determineragrave la fortuna ma anche per la costante presenza nellafabula della tradizione classica e dei suoi echildquo (ibid 136) Vgl zu dieser Stelle auch Bovey2003 275ndash288 ndash Den geschickten Umgang mit mehreren Quellen ndash erzaumlhlerisch wie seman-tisch ndash kann Schievenin auch fuumlr 7 725ndash727 nachweisen (Schievenin 2009e) So z B Relihan 1993 138 bdquoMartianus writes not an encyclopedia but a Menippean satirethat parodies encyclopedic knowledgeldquo

146 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

und weisen zudem meist nicht kleinschrittig auf wie der Interpret zu seiner (oftapodiktisch dargelegten) Ansicht gelangt

Nun folgt daraus noch nicht dass Martianus De nuptiis nicht als kritisierendeSatire konzipiert haumltte die Vielzahl der (wenn auch differierenden) modernenDeutungenweist ja darauf hin Zwei Uumlberlegungenwenn auch keine schlagendenBeweise lassen die Hypothese der parodierenden Satire unwahrscheinlich wer-den der Umfang von De nuptiis und seine Rezeption Eine Satire die beispiels-weise die Verbindung von Weltwissen und menschlicher Vervollkommnung in-frage stellt benoumltigt nicht noch eine umfassende Darlegung eben diesenWissensDies gilt besonders da diese Darlegung den Hauptteil des Werks ausmacht und ndashzumindest dem Umfang nach ndash die uumlbrigen Partien weit uumlberragt Eine Deutungvon De nuptiis als kritischer Satire muumlsste also besonders die Frage beantwortenzu welchem Zweck die umfangreichen Darstellungen der Freien Kuumlnste aufge-nommen sind (und nicht nur angedeutet werden)

Die Rezeption eignet sich zwar ebenfalls nicht zu sicheren Ruumlckschluumlssen aufdie originale Intention eines Werkes haumlufig bietet sie aber interessante EinblickeDie Martianus-Rezeption stellt sich bald ein Cassiodor beruft sich in seinen In-stitutiones auf ihn Dort erscheint Martianus nicht als Satiriker oder Zeitkritikersondern als Gelehrtersup3⁵⁴ In dieser Tradition wird Martianus auch im Mittelaltergelesen und rezipiertsup3⁵⁵

Aumlhnliches laumlsst sich fuumlr Boethiusrsquo Anknuumlpfen an die prosimetrische Form inder Ausgestaltung von Martianus sagen Boethius verfasst zweifelsfrei keine kri-tische Satire kann aber trotzdem an die Form und den Inhalt von De nuptiisproblemlos anknuumlpfen Sowohl der Form nach wie auch durch einzelne Zitatemacht er deutlich dass erDe nuptiis kennt und als eine seiner Vorlagen benutzt Esist zu bezweifeln dass Boethius in seinem Bemuumlhen um eine adaumlquatewerbendeDarstellung der Philosophie auf Form und Zitate des Martianus zuruumlckgegriffenhaumltte haumltte er nicht die Moumlglichkeit der gefahrlosen Uumlbernahme gesehen

Satirische Elemente als Mittel der BelehrungDer dritte Erklaumlrungsansatz fuumlr die Verbindung von Satire und Belehrung be-trachtet die Wahl Saturas als Figur und die Bezugnahme auf die Gattung zunaumlchst

Cassiod inst 2 2 17 Zur mittelalterlichen Martianus-Rezeption vgl bes Nuchelmans 1950 Lutz 1971 und 1976Willis 1973 sowie die Ausgaben und Literatur u a zu folgenden Werken Konrad von MureFabularius Hugo von Sankt Victor Didascalicon de studio legendi Johannes von SalisburyMetalogicon Kindermann kann weiterhin nachweisen dass De nuptiis auch durch seine Forminspirierend gewirkt hat (Kindermann 1969 61 f)

2 De nuptiis als literarisches Werk 147

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

als reine Fortsetzungder literarischen Form Fuumlr diese spezielle Formder Literaturdie menippeische Satire hat der russische Literaturwissenschaftler MichailBachtin Beobachtungen aufgestellt die auch fuumlr De nuptiis zutreffen Durch denRuumlckgriff auf zwei zentrale Konzepte Bachtins das Karnevaleske und die Dialo-gizitaumlt wird ein Verstaumlndnis von De nuptiis ermoumlglicht

Auf der Suche nach Vorlagen und Urformen der Gattung des Romans ins-besondere in der Form von Dostojewskis Romanen stieszlig Bachtin unter anderemauch auf die menippeische Satire die er bis in die Antike zuruumlckverfolgtesup3⁵⁶ Zuihren Vertretern zaumlhlt er unter anderem Varro Apuleius Petron Seneca oderLukiansup3⁵⁷ Martianus Capella wird nicht erwaumlhnt was aber nicht verwundernmuss da Bachtin keine Literaturgeschichte der menippeischen Satire schriebsup3⁵⁸

Kern der Uumlberlegungen Bachtins zurmenippeischen Satire ist das Konzept desKarnevals Unter Karneval versteht er folkloristische Feste waumlhrend deren diebestehende Ordnung verkehrt wird uumlbliche Regeln nicht mehr gelten Herr-schende gestuumlrzt und Machtlose maumlchtig werden ndash auf Zeit Die Karnevalisierungalso die Uumlbernahme der Kennzeichen dieses Festes in neue oder bestehende li-terarische Formen institutionalisiert diese Ausnahmesituation und loumlst sie vomkonkreten Fest Der so entstandene Text wird bdquozum karnevalesken Spiel an demder Autor und sein Publikum einverstaumlndlich teilhaben und das keines kalen-darisch oder institutionell abgesicherten Karnevalsrahmens mehr bedarfldquosup3⁵⁹

Diese Karnevalisierung fuumlhrt unter anderem zu einer Vielstimmigkeit vonMeinungen und Positionen im Text z B durch mehrere Figurenvon denen keinebevorzugt oder gar als autoritativ gekennzeichnet wird In dieser Dialogizitaumlt wirdkein allgemein guumlltiger Sinnmehr vermittelt sondern dieWahrheit suspendiertsup3⁶⁰

Dass der Bezug auf karnevalsartige Feste der Gattung menippeische Satire (inTeilen auch der Verssatire) eignet zeigt ein kurzer Blick auf wichtige Vertreter derTradition

Julians Symposion Caesares spielt zur Zeit der Saturnalien Die Bedeutungdieses Festes fuumlr das Werk wird dadurch verdeutlicht dass es den Handlungs-

Bachtin 1971 126ndash 135 Bachtin 1971 126 128 132f Kritik an den z T pauschalisierenden und verfaumllschenden Aussagen Bachtins uumlber antikeLiteratur oder an der ununterbrochenen Traditionslinie von der Antike bis in die Moderne (z BRelihan 1987 59 Lachmann 2006 23ndash25) muumlsste auch auf manche moderne Literaturwissen-schaftler in der Nachfolge Bachtins angewandt werden (vgl Branham 2005 6 wo es uumlberSenecas Apocolocyntosis heiszligt bdquoour only extant Menippean satire in Latinldquo) Teuber 1993 182 Eine gut verstaumlndliche Einfuumlhrung in das Konzept der Dialogizitaumlt im Sinne der bach-tinschen Terminologie bietet Sharland 2010 Einfuumlhrung (1ndash51)

148 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

rahmen fuumlr den in der Folge erzaumlhlten Mythos bildet Bereits im ersten Satz wirdauf das Fest und die Tradition Heiteres frei zu erzaumlhlen Bezug genommensup3⁶sup1

Auch Senecas Apocolocyntosis stellt einen engen Bezug zum Saturnalienfesther Das Werk spielt zwar nicht an den Saturnalien sondern am Todestag desClaudius im Oktober doch wird an zwei Stellen eine Verbindung zwischen derHerrschaft des verstorbenen Kaisers und den dargestellten Sitten waumlhrend derRegierungszeit mit dem Saturnalienfest gezogensup3⁶sup2 Manche Interpreten gehensogar davon aus dass die Apocolocyntosis an den Saturnalien des Jahres 54vorgetragen wurdesup3⁶sup3 Auch bei Petron und Horaz finden sich Bezugnahmen aufdie Saturnaliensup3⁶⁴

Ein zentrales Element des Saturnalienfestes liegt in der Suspension der uumlb-licherweise geltenden Normen und Wertesup3⁶⁵ Neben den anderen Elementen desFestes wie sie z B in Macrobiusrsquo Saturnalia (1 7ndash 10 1 24 22 f) beschriebenwerden (traditionelle Geschenke Festmahl fuumlr die Sklaven etc) hat gerade dieUmkehrung der Herrschaftsverhaumlltnisse im Haus Niederschlag in der Literaturgefunden

Gerade durch diese Rolleninversion treten einige wichtige gesellschaftlicheNormvorstellungen und Grundannahmen prominent hervor Dazu zaumlhlt das Be-wusstsein dass es eine befehlende und eine ausfuumlhrende Gruppe von Menschengibt oder dass im Prinzip ein Rollenwechsel moumlglich sein kann Alle Beteiligten

Ἐπειδὴ δίδωσιν ὁ θεὸς παίζειν ndash ἔστι γὰρ Κρόνια ndash hellip (sbquoDa der Gott das Scherzen erlaubt ndashes sind ja die Kronia helliplsquo Caes 1 = 306a Spanheim) Zur Frage ob es sich bei Caesares auch umdas Werk handle auf das zu Ende der Rede auf Koumlnig Helios verwiesen wird (Or in Sol reg 44 =157c Spanheim) vgl Muumlller in seiner Uumlbersetzung (39 ablehnend) und Lacombrade im Vorwortseiner Budeacute-Ausgabe (3 und 18 Anm 3) der aufgrund des Handschriftenbefundes Kronia auchals Titelbestandteil fuumlr die Caesares uumlbernimmt Es handelt sich um Sen apocol 8 1 (Claudius als Saturnalienprinz) und 12 2 (Herrschaftdes Claudius als andauerndes Saturnalienfest) ndash Dass Lukian nicht auf die Saturnalien alsRahmen fuumlr seine Werke zuruumlckgreift entwertet die Beobachtungen nicht Lukian musste auf-grund seines Selbstbewusstseins als satirischer Schriftsteller und aufgrund der Menge seinersatirischen Schriften nicht jedes Mal einen eigenen literarischen Rahmen herstellen in demeinzelne Dialoge stattfinden konnten Das Saturnalienfest selbst erscheint bei Lukian als Ge-genstand der Satire nicht als deren literarische Rahmung (Τὰ πρὸς Κρόνον) Zuerst bei Furneaux 1896 23 Anm 11 In der neueren Forschung vgl bes Nauta 1987Kritisch dazu u a Doumlpp 1993 159 f Petron 44 3 58 2 69 9 zu Horaz vgl z B serm 2 7 (libertas Decembris) Ein gelungenesBeispiel der Anpassung und Anwendung der bachtinschen Konzepte mit Ertrag fuumlr die Inter-pretation unter Einbezug von serm 2 7 bietet Sharland 2010 Distelrath 1999 114 Vgl weiterhin Versnel 1993 136ndash227 und Doumlpp 1993 Eine plastischeSchilderung der Rollenvertauschung bei der der Sklave dem Herrn die Leviten liest bietet Horserm 2 7

2 De nuptiis als literarisches Werk 149

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Herren wie Sklaven spielen also mit den Moumlglichkeiten einer alternativen Wirk-lichkeit

Das Besondere im Spiel mit den Moumlglichkeiten liegt aber in seiner zeitlichenBegrenzung Nach der Zeit des Ausnahmezustands gelten wieder die normalenimmer guumlltigen Regeln Die Rolleninversion erlaubt also ndash oder erzwingt gera-dezu ndash das Nachdenken uumlber bestimmte gesellschaftliche Normen und Wertvor-stellungen Durch die Ritualisierung und enge zeitliche Begrenzung ist darausjedoch keineswegs die Notwendigkeit entstanden die Verhaumlltnisse tatsaumlchlich zuhinterfragen oder gar zu aumlndern Daher lassen sich die Saturnalien auch als ein dieKonventionen bestaumlrkendes Fest verstehen Das Spiel mit der Moumlglichkeit eineranderen Gesellschaftsordnung hat durch seine Ritualisierung letztlich eine dieTradition legitimierende Funktion bekommen

In De nuptiis finden sich jedoch houmlchstens spaumlrliche Hinweise auf das Sa-turnalienfest Am ehesten weist das grob scherzende Agieren Saturas in diesenBereich Die bdquolangen Winternaumlchteldquo (1 2) koumlnnten (statt als Bezug auf Gellius) alsAnspielung auf das Saturnalienfest verstandenwerden ndash die Saturnalien finden inden laumlngsten Naumlchten uumlberhaupt statt seit der Kaiserzeit vom 17 bis 23 DezemberDies ndash wie die Spekulation uumlber eine spielerische etymologische Verbindung vonSatura und Saturnaliensup3⁶⁶ ndash ist aber insofern nicht von Belang da die Gattung alsGanze karnevaleske Zuumlge traumlgt und als gewissermaszligen institutionalisierter Kar-neval vom eigentlichen Fest losgeloumlst istsup3⁶⁷

Die Aufhebung der uumlblichen Ordnung (was Teuber im Ruumlckgriff auf Limina-litaumltskonzepte als praumlliminale Phase bezeichnet)sup3⁶⁸ beginnt mit der VorbereitungPhilologias zum Aufstieg in den Himmel Bereits das Erbrechen stellt eine mar-kante Umkehrung der alltaumlglichen Welt dar Statt sich Wissen anzueignen er-bricht Philologia es nun In der Goumltterversammlung auf der Milchstraszlige ist dieOrdnung sodann voumlllig verkehrt Philologia als Meisterin aller Disziplinen und

Zwar sind die einschlaumlgigen etymologischen Woumlrterbuumlcher skeptisch (v a WaldeHof-mann 2007 II 482 neutral ErnoutMeillet 2001 596) jedoch gibt es dahin gehende moderneDeutungen (aufgefuumlhrt bei WaldeHofmann 2007 II 482) und auch antike ParallelisierungenCic nat deor 2 64 Saturnus hellip est appellatus quod saturaretur annis (sbquoSaturn hellip wurde ergenannt weil er an Jahren gesaumlttigt istlsquo) Fulg myth 1 2 (p 17 16) a saturando Saturnus dictusest (sbquoDa er (die Menschen) saumlttigt wurde er Saturn genanntlsquo) Aug cons euang 1 23 35 Sa-turnus tamquam satur hellip νοῦς (sbquoSaturn gleichsam der gesaumlttigte hellip νοῦςlsquo) Vgl auch Gowers diedie etymologischen Verbindungen von satura Satyrspiel und Saturnalien untersucht (Gowers1993 109ndash 117) Sie kommt zu dem Befund dass keine Verbindung bestehe wohl aber verbin-dende Elemente identifiziert werden koumlnnten bdquocarnival licence parody uninhibited mockeryand excessive consumptionldquo (ibid 117) Vgl z B Teuber 1993 183 f Teuber 1993 183

150 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

bedeutende Lehrinstanz muss sich ihrerseits belehren lassen ndash mit dem Wissendas urspruumlnglich ihres war

Durch die Inversion wird die (vielleicht uumlblicherweise nicht prominente)Philologia in den Mittelpunkt geruumlckt und ihre zentrale Rolle im Wissenssystemtritt markant vor Augen Gleichzeitig kann darin eine leise Anfrage an ihre Lehr-autoritaumlt und eventuell auch ihre Eignung zur Lehre gesehen werden

Aufgrund des zeitlich begrenzten Rahmens der Verkehrung (diemit dem Endeder Vortraumlge voruumlber ist aber nicht explizit zuruumlckverwandelt wird) dessen Be-grenztheit durch Bezug auf die Form der menippeischen Satire ergaumlnzt werdenkann wird das System der Bildung und der Bildungsvermittlung jedoch nichtgrundsaumltzlich infrage gestellt Die Suspendierung Philologias ist temporaumlr

Dem Konzept der Dialogizitaumlt oder Mehrstimmigkeit folgend erklaumlrt sich auchdie Doppelung und Verunklarung der Erzaumlhlinstanz In den drei Dialogen indenen Satura und Martianus aufeinandertreffen behandeln sie die Frage desrichtigen Erzaumlhlens Dies beschraumlnkt sich nicht nur auf die Satire sondern umfasstalle auftretenden literarischen Formen Martianus und Satura sind sich uneinswie weit der Mythos reichen soll und ob eine Enzyklopaumldie trocken oder auchunterhaltsam erzaumlhlt werden soll (2 219ndash3 222) ob ein Symposion auch Zechenund Spaszlig vertraumlgt (8 803ndash810) oder ob und wie stark Satire Dinge vermischendarf (9 997ndash 1000)

Die unterschiedlichen Meinungen zu den Fragen werden zwar diskutiert undfuumlhren zu einem Ergebnis ndash der Erzaumlhlfluss versiegt ja an keiner Stelle oder setztneu an Allerdings entsteht in der Folge kein homogenes Werk und am Schlussmag keiner der beiden Erzaumlhler dafuumlr die Verantwortung uumlbernehmen Der Wi-derwillen sich zu dem Werk zu bekennen bedeutet aber gleichzeitig auch dassMartianus sich nicht festlegt welche Position er fuumlr die richtige haumllt Die Fragenach der rechten Art der Wissensvermittlung die auch in der Ent- und Inthroni-sierung Philologias anklang bleibt unbeantwortet

Schlieszliglich bringt der Blick auf die Aurelian-Vita aus der Historia Augustanoch einen weiteren Aspekt ein Parallel zur Aufteilung der Erzaumlhlinstanzen in Denuptiiswird der Erzaumlhlprozess in derHistoria Augusta aufmehrere AutorenverteiltWie zuerst Hermann Dessau und in der Folge Ronald Syme nachdruumlcklich gezeigthaben handelt es sich allerdings um nur einen Verfasser der uumlberdies auch inBezug auf die Abfassungszeit falsche Angaben gemacht hat und Quellen erfundenhatsup3⁶⁹ Insofern laumlsst sich der in der Historia Augusta gepraumlgte Begriff der

Auf den Charakter der Sammlung die Syme u a als bdquohoaxldquo bezeichnet (1983a 11 1983b13 1983c 219) die fingierten Autoren die manipulierten Quellen etc soll an dieser Stelle nurhingewiesen werden Vgl auch Cameron 2011 Kap 20 mit ausfuumlhrlicher Diskussion relevanterFragen

2 De nuptiis als literarisches Werk 151

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mythistoria der Vermischung von Mythischem und Historischem auch auf dieSammlung selbst anwendensup3⁷⁰

Als Menippee im engeren Sinne laumlsst sich weiterhin die Aurelian-Vita die 26Vita der Sammlung fassen und bezeichnenderweise spielt die Rahmenhandlungan denHilariasup3⁷sup1Wie zu den Saturnalien gehoumlren zu diesem Fest Scherze und ndash imRahmen von Maskierungen ndash Rollenwechselsup3⁷sup2

Noch in der rahmenden Einleitung zur Vita spielt sich folgender Dialog ab

1 et quoniam sermo nobis de Trebltellgtio Pollione qui a duobus Philippis usque ad divumClaudium et eius fratrem Quintillum imperatores tam claros quam obscuros memoriaeprodidit in eodem vehiculo fuit adserente Tiberiano quod Pollio multa incuriose multabreviter prodidisset me contra dicente neminem scriptorum quantum ad historiam pertinetnon aliquid esse mentitum prodente quin etiam in quo Livius in quo Sallustius in quoCornelius Tacitus in quo denique Trogus manifestis testibus convincerentur pedibus insententiam transitum faciens ac manum porrigens iocando[m] praeterea sbquoscribelsquo inquit sbquout

quae ille [scil Iunius Cordus] omnia exsequendo libros mythistoriis replevit talia scribendocum omnino rerum vilium aut nulla scribenda sint aut nimis pauca si tamen ex his morespossint animadverti qui re vera sciendi sunt hellip sed ex parte ut ex ea cetera colligantur(SHA Opil 1 5)

Bei der Anfuumlhrung von all diesen Informationen hat er die Buumlcher mit fabuloumlsen Ge-schichten angefuumlllt indem er Dinge von dieser Art schrieb wo doch uumlberhaupt keinenutzlosen Dinge geschrieben werden duumlrfen oder nur sehr wenige sofern daraus Verhal-tensweisen erkannt werden koumlnnen die wirklich wissenswert sind hellip aber zum Teil(schreibe ich) damit daraus das Andere gefolgert werden kann

quid Marius Maximus homo omnium verbosissimus qui et mythist[h]oricis se voluminibusinplicavit num ad istam descriptionem curamque descendit (SHA Quadr tyr 1 2)

Wie Hat sich Marius Maximus der groumlszligte Schwaumltzer vor dem Herrn der sich in seinenmythistorischen Werken verfangen hat etwa zu dieser Art der Darstellung und des sorg-faumlltigen Arbeitens herabgelassen

Hilaribus quibus omnia festa et fieri debere scimus et dici impletis sollemnibus vehiculo suome hellip Iunius Tiberianus accepit (SHA Aurelian 1 1)

An den Hilaria an denen alles zum Fest Gehoumlrende getan und gesagt werden muss wieman weiszlig empfing mich nach Erledigung der Zeremonien Iunius Tiberianus in seinemGefaumlhrt

Pausch bemerkt dieses besondere Datum zwar und erwaumlgt ob es sich um ein bdquoweitergehendesLesesignalldquo beispielsweise im Sinne karnevalesker Literatur handeln koumlnne verfolgt diese Spuraber nicht weiter (Pausch 2011 130 Anm 1) Herodian 1 10 5 ndash Einige Hinweise auf die Hilaria die im Kontext des Magna Mater-Festesam 25 Maumlrz gefeiert wurden bietet Fraser in seinem Kommentar zu Ovids Fasti (Fraser 1929244ndash248)

152 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

libet 2 securus quod velis dices habiturus mendaciorum comites quos historicae elo-quentiae miramur auctoreslsquo (SHA Aurelian 2 1ndash2)

1 Und weil unser Gespraumlch uumlber Trebellius Pollio der von den beiden Philippi bis zumvergoumlttlichten Claudius und dessen Bruder Quintillus gleichermaszligen uumlber beruumlhmte wieunbekannte Kaiser fuumlr die Nachwelt schrieb in derselben Saumlnfte stattfand behauptete erdass Pollio vieles ohne Sorgfalt und nur kurz dargelegt habe Ich erwiderte dass keinSchriftsteller sofern es um die Geschichte gehe nicht irgendwo gelogen habe und legtesodann dar worin sogar Livius Sallust Tacitus schlieszliglich sogar Trogus mit eindeutigenBelegen uumlberfuumlhrt werden koumlnnten Darauf sagte Tiberianus schlieszliglich scherzend indem ermeiner Meinung beipflichtete und mir seine Hand darbot bdquoSchreibe sowie du es fuumlr richtighaumlltst 2 Sage unbesorgt was du willst du wirst diejenigen als Gefaumlhrten fuumlr deine Taumlu-schungen haben die wir als Schoumlpfer historiographischer Beredsamkeit bewundernldquo

So sympathisch dieser Anspruch auch erscheinen mag ist er doch fuumlr das Ver-trauen in die Gattung der Geschichtsschreibung fatal Gerade in der Einleitungeiner Vita jedoch ndash zumal es der Fiktion nach die erste des Flavius Vopiscus Sy-racusius im Corpus der Historia Augusta ist ndash kann eine solche Anekdote ei-gentlich keinen Platz haben Sie erweckt beim Leser den Eindruck dass er dennachfolgend dargebotenen Informationen kein Vertrauen schenken duumlrfesup3⁷sup3

Die Parallelen zwischen der Historia Augusta insbesondere dem Vorgehen inder Vita Aureliani und De nuptiis liegen auf der Hand Verunklarung der Autor-schaft bzw der Erzaumlhlhaltung einerseits Erwecken von Zweifeln an der Glaub-wuumlrdigkeit des Dargebotenen andererseits

In der Historia Augusta sind die Inkongruenzen mit der Freude des Autors amliterarischen Spiel erklaumlrt worden Der Autor habe aus Freude am Fabulieren(vielleicht auchumein dafuumlr empfaumlngliches Publikum zu befriedigen) die Viten indieser Form verfasstsup3⁷⁴ Mag man dies fuumlr die Historia Augusta noch zugestehenderen Text uumlber einen laumlngeren Zeitraum vielleicht zunaumlchst ohne eine Gesamt-konzeption entstanden ist und auch sprachlich nicht herausragt stellt sich derSachverhalt fuumlr Martianusrsquo De nuptiis anders dar Das Werk hat durchaus einenliterarischen Anspruch und es folgt eindeutig einer vorab geplanten Gesamtan-lage Die Freude am Spiel mag vielleicht manches Detail beigesteuert haben fuumlrdie verschraumlnkte Anlage des Textes ist sie aber keine Erklaumlrung

Ganz anders ist der Anspruch zum Ende der Darstellung der Viten der bdquoDreiszligig Tyrannenldquoin dem der Autor beteuert seinem Werk mangele es zwar an literarischer Ausgefeiltheit nichtjedoch an Faktentreue da nunc cuivis libellum non tam diserte quam fideliter scriptum ndash sbquoGibnun dieses Buumlchleinwem du magst es ist nicht so sehr kunstvoll geschrieben wie es sachgetreuistlsquo (SHA Quadr tyr 33 8) Syme nennt dies bdquodeceit for its own sweet sakeldquo (1983c 217) Im gleichen Aufsatz spe-kuliert er auch uumlber das Interesse des Publikums an einer solchen Art von geistigem Spiel(ibid 221)

2 De nuptiis als literarisches Werk 153

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Es lohnt sich jedoch auch fuumlr die Historia Augusta einen Schritt weiter zugehen Ausgangspunkt dafuumlr ist die obige Beobachtungdass das literarische Spielder Historia Augusta nur durchschaut wer die Werke der historischen Literaturkennt Durch die Lektuumlre historiographischer Biographien bringt der Leser einebestimmte Leseerwartung also implizite Vorstellungen mit wie das Werk aus-sehen soll und wird Diese Erwartungen werden aber nicht oder nur teilweisebedient Formal gesehen weisen die Viten in der Historia Augusta zwar die Cha-rakteristika der Gattung auf ndash doch indem sie sie inhaltlich nicht adaumlquat aus-fuumlllen treten deren Konventionen vor Augen

Durch die uumlbermaumlszligige Verwendung falscher Verweise und erfundener Quel-len geraumlt zudem das Beglaubigungsverfahren historischer Texte in den Blick-punkt Der Leser erkennt anwelchen Stellenwelche Beglaubigungsmechanismenansetzen und auf welche Weise sie unterlaufen werden koumlnnen Uumlberspitzt lieszligesich behaupten DieHistoria Augusta verfolgt ein aufklaumlrerisches Interesse indemsie (spielerisch) aufzeigt welche Beglaubigungsverfahren die Geschichtsschrei-bung nutzt und wie sie manipuliert werden koumlnnen dadurch wird auch die Ma-nipulierbarkeit von Geschichte und Leser deutlich

In De nuptiis werden ebenfalls die Konventionen der Einzelgattungen ndash zu-mindest ansatzweise ndash hervorgehoben Dass kein perfektes Musterbeispiel derjeweiligen Einzelgattung entstehen kann liegt darin begruumlndet dass durch dieVerbindung der vier literarischen Genres keine oberflaumlchliche Konsistenz derFiktion entstehen kannVielmehr entstehen Bruumlche die ndash ebenso wie die Bruumlchein der Erzaumlhlhaltung ndash auch die Gattungskonventionen und ihre Annahmendeutlich werden lassen Dies gilt besonders fuumlr die Satire deren Vorgehen imKontrast zur eigentlichen Hochzeitshandlung aus dem Rahmen faumlllt und somitbesonderes Augenmerk erhaumllt Hinzu tritt mit der Figur Satura auch eine Perso-nifikation der Gattung die in theoretischen Diskussionen Annahmen und Vor-gehen mit Martianus eroumlrtert Grunduumlberlegungen der Gattung Satire werden sotheoretisch eroumlrtert und praktisch erprobt Gleiches giltwenn auch zT inwenigerdeutlicher Form auch fuumlr die anderen Formen Die Enzyklopaumldie in ihren langenMonologen wird durch Spott markiert die trockenen Kuumlnste werden probeweisedurch Allegorien zugaumlnglicher gemacht im Symposiondialog wird uumlberlegt in-wieweit uumlbliche Rollenmuster (der Zecher) einen Platz haben oder wie weit mandie fuumlr die Feier typischen Reden fuumlhren kann und immythischen Teil wird durchdie Gegenuumlberstellung mit dem handfesten Wissensbetrieb die Andersartigkeitdes Erzaumlhlens deutlich

So werden neben den Inhalten der Wissenschaften auch verschiedene lite-rarische Formen bewahrt Neben der reinen Anwendung und somit Tradierungwerden gleichzeitig auch die Mechanismen verdeutlicht deren sich die jeweilige

154 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Gattung bedient Somit wird ihr Funktionieren nachvollziehbar und in der Folgeauch nachahmbar

3 Zusammenfassung

Martianus weckt also durch die Wahl mehrerer gleichberechtigter Erzaumlhler diesomit das Erzaumlhlen unzuverlaumlssig werden lassen besonders aber durch dieUumlbernahme satirischer Gattungselemente ein Bewusstsein fuumlr die traditionellenGrundlagen desWissens- und Lehrsystems seiner Zeit ImGegensatz zur Satire diediese Fragen kategorisch stellt handelt es sich in De nuptiis um ein Spiel damitDer Satirebezug dient als Anknuumlpfung an die traditionellen Gattungsmerkmaleder menippeischen Satire Karnevaleske und Dialogizitaumlt

Durch die (temporaumlre) Rolleninversion richtet sich das Augenmerk aufPhilologia als Wissenszentrum und Wissensmittlerin und fordert zum Nach-denken daruumlber heraus Im Kern hinterfragt das Werk alle Bereiche die mit Bil-dung und Bildungsvermittlung zu tun haben Was sind die Inhalte wahrer Bil-dung Gibt es eine Einheit von Bildung Wie kann sie vermittelt werden

Allerdings zielt die Kritik nicht auf eine Aufloumlsung klassischer Bildungsinhalteund Vermittlungsformen Sie regt vielmehr durch Scherz und Bruumlche zumNachdenken uumlber diese Fragen an Dabei verzichtet Martianus auf eigene Vor-schlaumlge und Konzepte und festigt so gleichsam den traditionellen Bildungs-betrieb Das von ihm dargestellte Wissen wird kanonisiert und die Darstel-lungsform in langen Reden wird es auch Die mittelalterliche Rezeption von Denuptiis zeigt dies eindrucksvoll

Wissen umfasst dabei nicht nur das Faktenwissen der Vortraumlge sondern auchdas Wissen um bestimmte literarische Formen Durch die Verbindung von vierGattungen und die Doppelung der Erzaumlhlerfigur mit Reflexion uumlber angemessenesErzaumlhlen entstehen Inkonsistenzen die die Konventionen der einzelnen Gattun-gen hervortreten lassen Nicht alle Elementewerden auf dieseWeise deutlich aberMartianus bietet einen Ansatzpunkt die Fiktion auch unter der Fragestellung zulesen was einen Text der jeweiligen Gattung ausmacht ndash sowohl positiv wie ne-gativ formuliert

Mit seiner kreativen Konzeption und ihrer literarischen Umsetzung gelingt esMartianus eindrucksvoll Heiteres und Belehrendes zu verbindenwomit er an dieTradition Varros und die klassische antike Poetik anknuumlpft Es gelingt ihm daruumlberhinaus aber auchWissen zu vermitteln und die traditionellen Vorstellungen vonder Bedeutung dieses Wissens wie der Form seiner Vermittlung herauszustellenSpielerisch wird also gelehrt und hinterfragt nicht jedoch kategorisch kritisiertoder kuumlhn neu entworfen Gerade dadurch zeichnet sich Martianusrsquo De nuptiis

3 Zusammenfassung 155

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

tatsaumlchlich als nescioquid inopinum intactumque (sbquoetwas Ungewohntes und nochnie Gewagteslsquo 1 2) aus und macht es zu einem der bedeutendsten Buumlcher derSpaumltantike und zu einer interessanten Quelle fuumlr die Frage nach Bildungsvor-stellungen im fuumlnften Jahrhundert

156 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Page 22: Bildungsvorstellungen im 5. Jahrhundert n. Chr. (Macrobius, Martianus Capella und Sidonius Apollinaris) || III Martianus Capella, De nuptiis Philologiae et Mercurii

schen Literatur selten Allein in Juvenal findet sich ein Hinweis darauf gleichwohlmit leicht anderem Verstaumlndnis Er betrachtet die Zusammenstellung der Satirenals farrago also als Mischgericht nicht die einzelne Satiresup3sup2sup2

In diesen sehr bildlichen Wendungen trifft Martianus gleichzeitig eine Aus-sage uumlber sein Verstaumlndnis der Darstellung von Bildungswissen Bei ihm gibt eskeine vorverdauten und mundgerecht aufbereiteten Wissenspaumlckchen (wie Ma-crobius sie bietet)sup3sup2sup3 sondern rohe Kost (cruda) die ihre Zutaten d h die lite-rarischen oder inhaltlichen Urspruumlnge nicht leugnet LeMoine formuliert prauml-gnant bdquoBy calling attention to the literary functions these metaphors fulfillMartianus hellip raises questions about the principles of seamless synthesis andverbal regurgitation which Macrobius so effectively demonstratesldquosup3sup2⁴

Dass Martianus durch diese Art der Darstellung seine Autoritaumlt infrage stelle(bdquohellip reveal doubts about the competence of the cook and the quality of the edu-cational feastldquo)sup3sup2⁵ laumlsst sich jedoch nicht erkennen Schlieszliglich benennt er seinVorgehen explizit (scheitert also nicht an einem gesteckten Plan) und bietetgleichzeitig mit der Kritik an der klassischen Form der Wissensvermittlung eineMoumlglichkeit an wie nicht-vereinheitlichte Wissensvermittlung aussehen kannBeeintraumlchtigungen des Vertrauens zum Erzaumlhler und zu den Inhalten gibt esallerdings ndash jedoch aufgrund anderer Faktorensup3sup2⁶

Bezug auf andere Satiriker ndash Neben den Anspielungen auf die Etymologie derGattung Satire treten explizite Bezuumlge auf andere Autoren menippeischer Satirenauf Namentlich wird jedoch keiner der Vorgaumlnger genannt die Nennung Varroserfolgt ausschlieszliglich in den Vortraumlgen der Brautjungfern und bezieht sichuumlberwiegend auf Varros fachschriftstellerische Werke oder seinen Ruf als Enzy-klopaumldistsup3sup2⁷

sich beim Grammatiker Diomedes (Grammatici Latini 1 485) Ausgehend von dieser Passageeroumlrtert Petersmann die Etymologie mit besonderer Beruumlcksichtigung des Ursprungs des Wortessatura aus dem Kuumlchenbereich (Petersmann 1986) Iuv 1 86 nostri farrago libelli Vgl die Kommentare Morton Braund 1996 95 f undCourtney 1980 103 Vgl die Gleichnisse in der praefatio zu den Saturnalia (Sat praef 5ndash9) und die Ausfuumlh-rungen in Kap II1 sowie die dort aufgefuumlhrte Literatur LeMoine 1991 360 ibid S u die Abschnitte bdquoErzaumlhlinstanzenldquo und bdquoDeutungen der komplexen literarischen Formldquo 4 335 (die Gelehrsamkeit Varros vgl Cic ac 1 9 Aug civ 6 2) 5 517 (Nennung in einemZitat) 6 639 und 6 662 (Fragen der Geographie die Varro-Vorlage ist nicht bekannt) 9 928 (cfVarro rust 3 17 4) Vgl zum Verhaumlltnis von Martianus und Varro bes Bovey 2003 Kap 2 (bdquoLaquestion varronienneldquo) und Schievenin 2009f

2 De nuptiis als literarisches Werk 135

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Allerdings zitiert die Wendung ὄνος λύρας in 8 807 den Titel einer menip-peischen Satire Varrossup3sup2⁸ Die Wendung ist in der lateinischen Literatur ander-weitig nicht belegt weshalb davon auszugehen ist dass Martianus hier auf denrepublikanischen Satiriker direkt zuruumlckgriff Da die Wendung zudem im Streit-gespraumlch zwischenMartianus und Satura uumlber die angemessene Art des Erzaumlhlensder Geschichte faumlllt kommt ihrer Verwendung eine programmatische Aussage zuMartianus stellt sich und sein Werk also in die Nachfolge Varros und seiner Sa-tiren

Ein Bezug auf Lukian ist weniger sicher nachzuweisensup3sup2⁹ Allerdings gibt eseine motivische Uumlbernahme im zweiten Buch von De nuptiis Philologias Erbre-chen des Wissens das der Hochzeit vorausgeht hat eine Parallele in LukiansDialog Lexiphanes Der allzu (ein)gebildete Lexiphanes nimmt auf Draumlngen vonLycinus ein Brechmittel ein das ihm der Arzt Sopolis gibt Daraufhin erbricht eralle Woumlrter die er gelernt hat dies ist die Voraussetzung dafuumlr dass er nun an-gemessen belehrt werden kannsup3sup3⁰

Es handelt sich um die Fragmente Varro Men 348ndash369 In Fragment 349 findet sich dieWendung auch im Vers (si quis μελωδεῖν est ὄνος λύρας praesepibus se retineat forensibus ndashsbquower beim Gesang wiersquon Esel an der Harfe bloumld der bleib getrost im Stallmief seines Forumsdortlsquo [Uumlbs Krenkel]) Die Bezugnahme auf Varro ist umso wahrscheinlicher da Satura unmit-telbar zuvor sowohl Martianusrsquo berufliche Aufenthalte auf dem Forum erwaumlhnt und ein Wort-spiel mit seinem Namen Capella angestellt hat ndash der zwar nicht sbquoEsellsquo bedeutet wohl aber einHaustier (sbquoZiegelsquo)Vgl dazu Shanzer 1968c 38ndash40 Shanzer 1986a kritisch dazu Pabst 1994 168(m Lit) Folgt man Bovey handelt es sich bei der unmittelbar folgenden Wendung καιρὸν γνῶθιum einen weiteren Verweis auf den Titel einer Varro-Satire γνῶθι σεαυτόν (= Varr Men 199ndash210 vgl Bovey 2003 282ndash284) Naumlher liegt wohl dass Martianus Capella diese eigenstaumlndigeSentenz (vgl Diogenes Laertios I 79 der sie als Sentenz des Pittakos ausweist) aus einer anderenQuelle uumlbernommen hat Kindermann 1969 60 Shanzer geht davon aus dass Martianus Lukian kannte (Shanzer1986c 36) Zur Diskussion um Martianusrsquo Griechischkenntnisse vgl Cristante 2009 [5] undShanzer 1986c 4 die beide annehmen dass Martianus durchaus Griechisch beherrschteShanzer weist einige Stellen auf an denen Martianus woumlrtlich uumlbersetzt und schlieszligt aus derBeherrschung des Griechischen zu Recht auf einen gebildeten moumlglicherweise sogar akade-mischen Hintergrund von Martianus Lucian Lex 20f Andere antike Texte die das Erbrechen von Wissen als Teil des Reini-gungsprozesses beschreiben oder als Bild tradieren sind mir nicht bekannt Daher ist eswahrscheinlicher dass Martianus auf Lukian im Original zuruumlckgegriffen hat Zur vor-byzantinischen Rezeption Lukians vgl Nesselrath 1994 der spaumltantike Bezuumlge auf Lukian u abei Julian und Claudian aufzeigt ndash Einen Bezug auf Lukians Concilium deorum fuumlr moumlglich haumlltKrapinger 1999 962 ndash Anders gelagert sind Lucian cont 7 und Aug in Joh ev tract 36 1 Dortgeht es darum dass durch das Ausspeien Wissen weitergegeben wird was zum Bild der daserbrochene Wissen aufsammelnden Artes passt nicht jedoch zum Motiv der Reinigung

136 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Bezuumlge auszligerhalb der Uumlbernahme uumlblicher Gattungselemente lassen sich fuumlrSenecas Apocolocyntosis Petrons Satyricon oder Julians Caesares nicht konsta-tierensup3sup3sup1

Die Figur der Satura und ihr Handeln ndash Einer der deutlichsten Hinweise auf dieForm der Satire liegt im Auftreten einer Figur namens Satura Diese Figur wirdzunaumlchst von Martianus als Erzaumlhlinstanz eingefuumlhrt (1 2) von der er den Inhaltvon De nuptiis erfahren haben will Im Laufe des Werks gewinnt Satura aber anProfil und agiert zunehmend autonom

Aussagen uumlber Satura beruhen letztlich auf drei Stellen in De nuptiis (6 576ndash5798 806ndash8109997ndash999) und koumlnnen fast ausschlieszliglich aus der Formund derBotschaft ihrer eigenen Aumluszligerungen gewonnen werden An allen drei Stellendiskutiert Satura mit Martianus Ansonsten ist Satura zwar als praumlsent zu denkenwird aber nicht weiter thematisiert

Nach Martianusrsquo Anrufung Minervas zu Beginn des sechsten Buches mischtsich Satura in seine Uumlberlegungen ein welche Frauen er vor sich sehe Die Ein-mischung wird von Martianus als scherzend bezeichnet (iocabunda 6 576) dieEinmischung an sich als typisch fuumlr das Scherzen Saturas (ut lepidula est 6 576)Die Aumluszligerung Saturas beginnt mit Spott uumlber Martianusrsquo nur scheinbare KlugheitDurch falsche naumlchtliche Studien und besonders seine Anwaltstaumltigkeit habe erden Blick auf das Wichtige verloren und erkenne nun nicht einmal mehr Philo-sophia und Paideia Der Scherz wird jedoch alsbald von einem belehrendenTonfall abgeloumlst in dem Satura Martianus uumlber das Wesen der beiden Frauenaufklaumlrt

Satura tritt als Naumlchstes zu Beginn des achten Buches auf in der Folge derSilen-Szene Der angetrunkene Silen war eingeschlafen und durch Amor aufge-schreckt worden was die uumlbrigen Goumltter laut lachen lieszlig (8 803ndash805) DieseSchilderung provoziert bei SaturaWiderspruch da sie das Erzaumlhlte als unpassendfuumlr die Goumltterversammlung empfindet Ihre Kritik beginnt wieder bei der Persondes Martianus dessen Namen sie als passend zu seinem Wesen deutet (Capella ~sbquoZiegelsquo 8 806) Sodann fordert sie Martianus auf seine Possen zu unterlassenMartianus fuumlhlt sich gehoumlrig von Satura gemaszligregelt und gibt klein bei bemerktaber dass sie ansonsten mehr von Scherzen halte (alioquin lepidula 8 807) AlsSatura dann die Einfuumlhrungder eintretenden Brautjungfer in Versenvorbringt undMartianus wiederum seine Scherze (ludicra 8 808) vorhaumllt kann dieser nicht

Mit Julian verbindet Martianus immerhin die Ansiedlung der Goumltterversammlung auf derMilchstraszlige ndash Zur Rolle der Saturnalien vgl den Abschnitt bdquoDeutungen der komplexen litera-rischen Formldquo

2 De nuptiis als literarisches Werk 137

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mehr an sich halten und zahlt Satura ihre Kritik in gleicher Muumlnze heim Nacheinigem Spott uumlber Saturas Verse verteidigt nun Martianus das Recht auf Scherzgegen sie die an sich ndash nicht aber in De nuptiiswie es scheint ndash eigentlich fuumlr denScherz zustaumlndig waumlre und gibt ihr mit Martial (2 41 1) den Rat auch einmal zulachensup3sup3sup2

Ein letzter Schlagabtausch von Satura und Martianus erfolgt schlieszliglich amEnde des Werkes Wiederum streiten beide Figuren miteinander und halten sichmit Spott uumlber das Wesen des anderen nicht zuruumlck

Die Einfuumlhrung Saturas die ja nur in Verbindung ndash und das heiszligt Ausein-andersetzung ndash mit Martianus erscheint dient vornehmlich der deutlichenBenennung der Gattung und der Verstaumlndigung daruumlberwas den Charakter einessatirischen bzw des vorliegenden Werkes ausmache Erstaunlich ist dabei Mar-tianusrsquo Entwicklung der sich zunaumlchst gegen Unterhaltung im artes-Teil ausge-sprochen hatte diese spaumlter aber gegen den censorischen Eingriff Saturas imachten Buch verteidigt Noch erstaunlicher ist aber dass es gerade Satura ist diezur Beachtung des Decorums auffordert und Martianusrsquo vergleichsweise mildenScherz scharf tadelt

Erzaumlhlinstanzen ndash Die Frage nach der Erzaumlhlsituation bzw der Erzaumlhlerfigurgehoumlrt zu den grundlegenden Analysekriterien eines literarischenWerkes ebensowie die Konzipierung von Raumund Zeit Lassen sich die letzten beiden Punkte imHinblick auf De nuptiis hinreichend klaumlrensup3sup3sup3 so bietet die Erzaumlhlerfigur groumlszligereSchwierigkeiten

DassDe nuptiis zwei Erzaumlhlinstanzen hat scheint zu Beginn desWerkeswenigdramatisch In 1 2 verweist der Erzaumlhler Martianus gegenuumlber seinem Sohn dar-auf dass die folgende Geschichte (also der uumlberwiegende Teil von De nuptiis) ihm

Ride si sapis o puella ride Schievenin bietet eine gruumlndliche Analyse dieser Stelle auchmit Blick auf die inverse Vorlage Martials (plora si sapis o puella plora Mart 2 41) derwiederum auf Ovid (Ov ars 3 281 f) zuruumlckgreift (Schievenin 1984 bes 136 ausfuumlhrlich auchBovey 2003 275ndash288) Die Rahmenhandlung spielt in der erzaumlhlerischen Gegenwart und in einem unbestimmtenRaum der jedoch nicht auszligergewoumlhnlich ist es liegt nahe an Karthago und das Haus desMartianus Capella zu denken Die eigentliche Handlung spielt an z T unwirklichen Orten aufder Erde die zumeist nicht naumlher bestimmt sind (z B Philologias Herkunft) und auf derMilchstraszlige wobei die absolute Zeit nicht genannt wird aber aufeinanderfolgende Tage inihrem Ablauf erkannt werden koumlnnen Die Phantastik einzelner Szenen die meist auf alle-gorische Darstellungsweisen zuruumlckgeht verletzt jedoch nicht die raumlumliche oder zeitlichePlausibilitaumlt des Dargestellten Vgl dazu auch die Ausfuumlhrungen und grafischen Veranschau-lichungen LeMoines (1972a)

138 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

waumlhrend langer Winternaumlchte (eine Anspielung auf Gellius)sup3sup3⁴ von Satura be-richtet wurde Der antike wie moderne Leser duumlrfte sich wohl kaum daran stoszligensondernwird darin vor allem eine Inspiration des Autors durch Satura (auchwennes das zuvor noch nicht gab) erkennen Bei der Erwaumlhnung von Satura koumlnnte erHeiteres erwarten oder bunt gemischte Geschichten

Vollkommen verwirrt wird der Leser hingegen spaumltestens dann wenn er amEnde des Werkes in der Sphragis angekommen ist (9 997ndash 1000) Dort reflektiertMartianus sein literarisches Vorgehen in den vorausgegangenen neun Buumlcherngenauer gesagt distanziert er sich von der Form der Darstellung (Umfang Bunt-heit) und verweist auf die Verantwortung Saturas die die Geschichte erzaumlhlt habe

Habes anilem Martiane fabulam 997Miscillo lusit quam lucernis flamineSatura Pelasgos dum docere nititurArtes daggercagris vix amicas AtticisSic in novena decidit voluminahaec quippe loquax docta doctis aggerans 998fandis tacenda farcinat immiscuitMusas deosque disciplinas cyclicasgarrire agresti cruda finxit plasmate (9 997 f)

Da hast du Martianus eine Altweibergeschichte sie verfertigte im Spiel mit vermischterInspiration [d h in Prosa und Vers] bei Kerzenschein Saturawaumlhrend sie sich bemuumlhte diePelasger zu lehren die Kuumlnste die den Griechen kaum freundlich [d h neu] sindSo gelangte sie hinab bis zum neunten Buch haumluft plappernd Gelehrtes auf Gelehrtes undstopft geheimes und bekanntes Wissen zusammen hat Musen und Goumltter vermischt und hatsich erdacht dass die enzyklopaumldischen Disziplinen in einembaumlurischenMachwerk unreifesZeug daherplappern

So ungewoumlhnlich dieses Vorgehen auch ist ndash Martianus haumltte ja den Bericht Sa-turas als Grundlage nehmen und dann nach eigenem Geschmack umgestaltenkoumlnnen ndash wird es uumlbertroffen durch die Verteidigung Saturas Sie weist die Ver-antwortung fuumlr die Art der Erzaumlhlung von sich und verteidigt sichmit demHinweisauf Martianusrsquo intellektuelle Schwaumlche der sie die Ausfuumlhrungen habe anpassenmuumlssen

Vgl Gell praef 4 zur Erklaumlrung der Wahl des Titels Noctes Atticae fuumlr sein Werk

Sed quoniam longinquis per hiemem noctibus in agro sicuti dixi terrae Atticae commentationeshasce ludere ac facere exorsi sumus idcirco eas inscripsimus noctium esse Atticarum hellip

Aber weil wir in langen Naumlchten den Winter uumlber in Attika auf dem Landwie schon gesagtdiese Anmerkungen im Spiel und dann ernsthaft begonnen haben daher haben wir ihnenden Namen Attische Naumlchte gegeben hellip

2 De nuptiis als literarisches Werk 139

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

haec ipsa nauci rupta conscientia 999turgensque felle ac bili bdquomulta chlamydeprodire doctis approbanda cultibuspossemque comis utque e Martis curia[hellip]ab hoc creatum Pegaseum gurgitem 1000decente quando possem haurire poculoldquo (9 999 f)

Sie sagte aufgrund ihres Wissens um die Nichtigkeit (dieser Ausfuumlhrungen) verletztschwellend vor Bitterkeit und Zorn bdquoIch koumlnnte hier freundlich auftreten mit einem Gewandbekleidet lobenswert durchgelehrtes Verhaltenwie aus der VersammlungdesMars [Es folgtdie Schilderung der unguumlnstigen Anlagen von Martianus] ndash Wann koumlnnte ich mit ange-messenem Becher aus einem pegasischen Strom von ihm erschaffen schoumlpfenldquo

Somit hat das Werk das zu Beginn zwei hierarchisch geschiedene Erzaumlhler zuhaben scheint am Ende zwei Erzaumlhler die sich gleichberechtigt uumlber die Form dererzaumlhlten Geschichte streitensup3sup3⁵

Die Inkonsistenzen auf der Erzaumlhlebene setzen sich daruumlber hinaus fort HatteMartianus zu Beginn des Werks gesagt Satura habe ihm die Geschichte waumlhrendlangerWinternaumlchte erzaumlhlt so treten Satura undMartianus amEnde desWerks inder erzaumlhlerischen Gegenwart gemeinsam auf und sprechen beide nacheinanderzu Martianusrsquo Sohn

Weiterhin erscheinen Satura und Martianus innerhalb der Geschichte dieMartianus angeblichvon Satura gehoumlrt hatWaumlhrend die Goumltter denverschiedenenBrautjungfern lauschenwohnen auch SaturaundMartianus der Versammlungbeiund betrachten sie als unbeteiligte ZuschauerWie aus einer Theaterloge herauskommentieren und diskutieren sie das Geschehen das auf der bdquoGoumltterbuumlhneldquostattfindetsup3sup3⁶

Noch einen weitergehenden Schritt stellt die Silen-Szene zu Beginn des achtenBuches dar Im Anschluss an diese Szene beschwert sich Satura bei Martianus erkoumlnne die Goumltter nicht auf dieseWeise agieren lassen In der Folge entspinnt sich einGespraumlch in demMartianus seine Art des Erzaumlhlens gegen Satura verteidigt die fuumlreine zuruumlckhaltendere Darstellung plaumldiert (s o)Von der Fiktion dass Martianusseinem Sohn bloszligwiedergibtwas Satura ihm erzaumlhlt hat bleibt nichtmehr viel dieganze Szenerie ist ein Produkt der ErfindungdesMartianus gleichzeitigwohnt er ihraber gemeinsam mit Satura bei ist also Teil der Handlung

So bereits Pabst 1994 120 Anm 119 der allerdings auf eine Diskussion der Beobachtungverzichtet Es handelt sich um die Stellen zu Beginn des sechsten und des achten Buches die imvorigen Abschnitt bereits paraphrasiert wurden

140 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Diese Art der Spiels mit der Erzaumlhlerrolle wird von manchen modernen For-schern als ein wichtiges Merkmal der menippeischen Satire angesehen Hinzu-treten kann die Selbstherabsetzung des Erzaumlhlers die sich an seinemmangelndenWissen Stilbewusstsein Traditionsempfinden o auml entzuumlndetsup3sup3⁷ Folglich kanndie zunaumlchst befremdliche Brechung und Verzerrung als weiteres Merkmal derGattung menippeische Satire bestimmt werden

Aufgrund dieser Beobachtungen ist es zwingend in De nuptiis vor allem eineSatire zu sehen Auch der heiter-spoumlttische Charakter einiger Passagen zwischenden Vortraumlgen der Brautjungfern passt zum satirischen Anspruch Gelegentlicherscheint es jedoch fraglich ob es sich wirklich um satirische und nicht eher umkomische oder derbe Spaumlszlige handelt Die Szene in der Silen betrunken einschlaumlftund von den anderen Goumlttern verspottet wird (8 803ndash805) erinnert mit ihremSlapstick eher an den derben Spott der Komoumldie als an die Satire eines Varrosup3sup3⁸

22 Deutungen der komplexen literarischen Form

Wie laumlsst sich das Werk De nuptiis nun also formal beschreiben oder andersgefasstWie lassen sich die vier literarischen Traditionsstraumlnge zusammenfuumlhrenDass eine einheitliche Lesung zumindest versucht werden muss zeigt bereits dasLeitmotiv der Hochzeit ansup3sup3⁹

Im Kern handelt es sich bei MartianusrsquoWerk um eine Sammlung bedeutenderWissensschaumltze in einem einzigen Werk die darin systematisch ausgebreitetwerden Dies zeigt die Einteilung in verschiedene Disziplinen die ein ver-

Zur Erzaumlhlerrolle in der menippeischen Satire vgl u a Relihan 1993 und darin bes S 35 Mit der Aufnahme unterhaltsamer Elemente ginge Martianus sogar noch uumlber dieErwartungen an ein sbquosatirischeslsquo Werk hinaus Auch Boethius wird bescheinigt er erzaumlhle seineConsolatio bdquoper satiramldquo auch wenn bei ihm weder eine Figur Satura auftritt noch allzu vielHeiterkeit herrscht (Peiper zitiert in der Einleitung zu seiner Ausgabe S xxxi eine mittelalter-liche Boethius-Vita vgl Kindermann 1969 61)

hos libros [scil de consolatione Philosophiae] per satiram edidit imitatus videlicet mar-cianum felicem capellam qui prius libros De nuptiis philologiae et mercurii eadem speciepoematis conscripserathellip

Diese Buumlcher schrieb er als Satire freilich in Nachahmung des Marcianus Felix Capellader zuvor die Buumlcher uumlber die Hochzeit der Philologie mit Merkur in der gleichen Art vonGedicht verfasst hatte

Zum Motiv der Hochzeit das bereits programmatisch im eroumlffnenden Hymnus anHymenaeus erscheint vgl Schievenin 2009c und Cristante in der Einleitung seiner Ausgabe1987 3ndash 10

2 De nuptiis als literarisches Werk 141

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

gleichsweise leichtes Auffinden der Informationen erlaubtsup3⁴⁰ die Bedeutung wirdangesichts der Praumlsentation vor den Goumlttern auf der Milchstraszlige deutlich Alleinder Umfang dieser Vortraumlge die in sich auch nicht gestoumlrt oder gebrochenwerdenmarkiert dass es sich hier um das zentrale Charakteristikum des Werkes handelt

Den erzaumlhlerischen Anlass fuumlr diese Praumlsentation bietet eine Hochzeitsfeieralso ein Symposion hier ist die Gelegenheit fuumlr die groszligen Redebeitraumlge gegebenZudem bietet die SymposionformAnknuumlpfungspunkte fuumlr eine Rahmenhandlungdie zur Auflockerung der ebenso ausfuumlhrlichenwie trockenen Einzelreden genutztwird

Doch bleibt es ndash im Gegensatz z B zu Macrobius ndash nicht bei der bloszligenDarstellung der Wissensinhalte Hinzu tritt die allegorische Darstellung der Be-deutung von Wissen und von Fleiszlig beim Wissenserwerb in den ersten beidenBuumlchern Die praumlsentierten Inhalte der Buumlcher 3ndash9 (die Philologia ja bereits aufder Erde in Buch 2 besitzt) sindwichtig Sie sind nicht nur wichtig fuumlr das irdischeLeben (das wird nicht weiter thematisiert die explizit irdischen Wissenschaftenwie Architektur und Medizin werden sogar ausgeschlossen) ndash die Inhalte sindauch wichtig fuumlr die menschliche Vervollkommnung

Durch das angesammelte Wissen erreicht der Mensch zwar nicht die voll-kommene Erkenntnis (die erhaumllt auch Philologia nur ohne eigenes Zutun als sieauf der houmlchsten Himmelssphaumlre angekommen zum Vatergott in der jenseitigenGluumlckseligkeit betet) wohl aber ein goumlttergleiches Wissensup3⁴sup1 Der Wissenserwerbist gewissermaszligen die Voraussetzung dafuumlr dass der Mensch mit Hilfe einesgoumlttlichen Begleiters in den Himmel aufsteigen kann unsterblich wird und voll-kommene Einsicht erlangt

Die so weit kohaumlrente Verbindung der literarischen Traditionen laumlsst aller-dings den explizit satirischen Anspruch von De nuptiis auszliger Betracht durch denMartianus selbst das Werk primaumlr in die Gattung der Satire einordnet waumlhrendvergleichbare Bezuumlge zu anderen Gattungen fehlen Natuumlrlich lieszlige sich dieserprogrammatische Anspruch mit einem Verweis auf die Verwendung des Begriffszur Bezeichnung einer inhaltlich wie literarisch gemischten Form erklaumlren Dochgreift diese Erklaumlrung zu kurz da das Agieren Saturas die literarischen Passagendes Werks beinahe als Travestie erscheinen laumlsst (vgl oben zur Erzaumlhlerfigur) Einbildend-enzyklopaumldisches Werk kann sich allerdings nicht gefahrlos als Satire

So auch Englisch 1994 56 Die bdquoSystematik bei der Praumlsentationldquo erlaube einen leichtenZugriff auf die Informationen Mart Cap 2 201ndash205

142 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

praumlsentieren ohne Zweifel an der Glaubwuumlrdigkeit und Zuverlaumlssigkeit desWerkes und der praumlsentierten Inhalte zu weckensup3⁴sup2

Wenn Martianus auch die Konventionen der Gattung menippeische Satireaufnimmt und sein Werk also nur folgerichtig unter anderem eine unzuverlaumlssigeErzaumlhlsituation aufweist ist dies noch keine Erklaumlrung an sich Die regelkonformeUmsetzung gattungstypischer Anspruumlche erklaumlrt noch nicht die Wahl der Gattungan sich ndash einer Gattung die trotz ihrer Benennung als solche nicht zu denStandardformen und akzeptierten Gattungen zaumlhlte insbesondere nicht fuumlrLehrwerkesup3⁴sup3

Auch Martianusrsquo Verweis auf etwas bislang noch nicht Unternommenes(nescioquid inopinum intactumque 1 2) vermag den Widerspruch nicht zu loumlsenDie Wendung zeigt zwar dass Martianus die Ungewoumlhnlichkeit seines Ansatzesbewusst war (sofern sich die Phrase uumlberhaupt auf die Komposition des Werkesbezieht)sup3⁴⁴ beseitigt aber nicht das interpretatorische Problem ZuwelchemZweckverbindet Martianus also zwei so widerspruumlchliche Gattungen wie Enzyklopaumldieund Satiresup3⁴⁵

Drei Antwortansaumltze lassen sich grob umreiszligen 1 Die Verbindung ist nuraumluszligerlich bzw oberflaumlchlich 2 durch die Verbindung soll ein bestimmter Aspektparodiert und somit Spott und Kritik ausgesetzt werden 3 die Verbindung erfuumlllt

Dieses Problem hat bereits Westra in seinem Aufsatz bdquoThe juxtaposition of the ridiculousand the sublime in Martianus Capellaldquo benannt (Westra 1981) Allerdings beschraumlnkt sich auchdieser Aufsatz auf die Darstellung des Problems und die Zusammenstellung der Belege EineLoumlsung hat Westra nicht anzubieten ndash sein Aufsatz endet mit der eher apologetischen Bemer-kung das Eingestaumlndnis der Unvereinbarkeit von Satire und Lehrwerk durch Martianus in 9 997sei prima facie ein Spiel dahinter stecke jedoch die Absicht Problembewusstsein zu demon-strieren und Verantwortung fuumlr die unterlassene Loumlsung zu negieren bdquoEven though I would claim that prose and verse must be present in an ancient Menippeansatire it must be seen as one of a number of shocking juxtapositions of oppositesldquo (Relihan 198760) ndash In der Folge kann die prosimetrische Form durchaus auch Mittel belehrender Werkewerden vgl Pabst 1994 133 Denkbar (und wohl wahrscheinlich) waumlre auch dass damit die Inhalte besonders desMythos gemeint sind Der Verweis auf Unterhaltung fuumlhrt nicht zum Kern der Frage denn die satirische Formstellt mehr dar als reine Unterhaltung Auch das horazische Diktum ridentem dicere verum quidvetat ndashsbquolachend das Wahre zu sagen ndash was spricht dagegenlsquo (Hor serm 1 1 23) als Kern vonMartianusrsquo Satireverstaumlndnisses greift zu kurz ebenso wie vergleichbare Konzeptionen in derLiteratur Dort geht es bei Belehrung immer um einzelne philosophische Saumltze (nie beispiels-weise um die Vermittlung von Philosophie an sich) Folglich bezeichnet das bdquoverumldquo nichtkognitives Lernen sondern moralisches Der grundlegende Unterschied zur Konzeption desMartianus liegt somit auf der Hand Vgl zu diesem Aspekt im Allgemeinen z B Shanzer 1986c42 und im Speziellen u a Woytek 1986 339ndash345 Keulen 2009 bes Kap 2 und 3

2 De nuptiis als literarisches Werk 143

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

einen literarischen und belehrenden Zweck zugleich Aufgrund der komplexenSachlage und der unmittelbaren Bedeutung der Beantwortung der Frage nachdieser Verbindung fuumlr das Gesamtverstaumlndnis von De nuptiis werden alle Alter-nativen vorgestellt und bewertet

Rein formale Verbindung von Satire und EnzyklopaumldieEventuell laumlsst sich die Mischung aus enzyklopaumldischen und satirischen Ele-menten (mit den zur Satire gehoumlrigen Verspartien) als Sonderform der Varro-Re-zeption bei Martianus auffassenVarro von Reate verfasste sowohl umfangreicheFachliteratur als auch menippeische Satiren Fuumlr beides war er in der Antikebekannt und beruumlhmt ndash doch ist es wahrscheinlich dass Martianus die Werkebereits nicht mehr ndash oder allenfalls nur in Auszuumlgen ndash vorliegen hattesup3⁴⁶ Aus demWissen um die beiden Schaffensbereiche des republikanischen Autors die beideder Unterweisung dienen solltensup3⁴⁷ koumlnnte Martianus auf den Gedanken verfallensein die literarischen Formen und Inhalte in seinem Werk zu verbindensup3⁴⁸Vielleicht saszlig er auch einemMissverstaumlndnis auf indem ermeinte dass Varro seinsatirisches wie enzyklopaumldisches Koumlnnen in nur einem Werk demonstriert habeDies hieszlige jedoch dass Martianus sich der Problematik dieser Verbindung nicht

So aumluszligert sich beispielsweise Kindermann in den Vorstudien seiner Ausgabe der Conso-latio des Laurentius von Durham Er billigt Martianus nur eine sekundaumlre Varro-Kenntnis zu(Kindermann 1969 60) Entschieden verneint wird die Frage von Schievenin (2009f) und Hadotdie vor allem neuplatonische Quellen vermutet (Hadot 2005 149) Schneider jedoch nimmt andass sowohl Augustin als auch Martianus die Disciplinae noch vorliegen hatten (Schneider 1999109 f) und dass die Satiren-Exzerpte des Nonius Marcellus (fl um 400 in Afrika) ebenfalls ausdem Originaltext Varros angefertigt wurden (ibid 96 Anm 12) Abwaumlgend aumluszligert sich Huumlbner2004 passim Vgl Cic ac 1 8 (es spricht Varro)

et tamen in illis veteribus nostris quae Menippum imitati non interpretati quadam hilaritateconspersimus multa admixta ex intima philosophia multa dicta dialectice quae quo faciliusminus docti intellegerent iucunditate quadam ad legendum invitati

Jedoch findet sich in meinen fruumlhen Schriften die ich in kreativer Nachfolge (und nicht nurUumlbersetzung) Menipps mit einer gewissen Heiterkeit benetzt habe vieles aus den Kernbe-reichen der Philosophie beigemengt und vieles das nach Art der Dialektiker gesagt istdamit die weniger Gelehrten es leichter verstuumlnden nachdem sie durch eine Art von Scherzzur Lektuumlre ermuntert worden sind

Vielleicht hatte Martianus diese Stelle sogar im Kopf als er die Anlage von De nuptiis plante So z BWeinreich in der Einleitung zu seiner Uumlbersetzung roumlmischer Satiren bdquoMartianusCapella glaubte gewiszlig ein Varro redivivus zu sein sozusagen die Quintessenz des Gelehrten unddes Satirikersldquo (Weinreich 1962 XCIII) Ebenso Shanzer 1986c 42

144 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

bewusst gewesen sei ndash was ihm sicher nicht gerecht wird Auszligerdem wird so dieBezugnahme auf weitere formale Elemente der menippeischen Tradition und dieuumlbrigen Vorlaumlufer der Gattung mit anderer Konzeption (Lukian Julian) nichtausreichend beruumlcksichtigt

Ebenfalls beim Autor koumlnnte eine zweite Erklaumlrung ansetzen Im Zuge derAbfassung seiner Enzyklopaumldie hat sichMartianus nach horazischer Vorgabe (unddem Beispiel Varros)sup3⁴⁹ um Auflockerung und heitere Elemente bemuumlht Diespontanen Einfaumllle wurden ins Werk integriert und die sich daraus ergebendenInkonsistenzen entweder uumlbersehen oder billigend in Kauf genommen Beideswuumlrde gut zum klassisch negativen Martian-Bild in der Forschung passensup3⁵⁰Abgesehen davon dass Annahmen uumlber das Vorgehen beim Schreiben weitge-hend auf Spekulation beruhensup3⁵sup1 widersprechen drei Beobachtungen dieser Er-klaumlrung Erstens gelingt es Martianus De nuptiis uumlber neun Buumlcher vorauszu-planen so dass am Ende ein ndash zunaumlchst abgesehen von der Satire-Problematik ndashkohaumlrentes Werk entsteht Die Fuumllle der behandelten Themen Motive und lite-rarischen Elemente weist eher auf ein planvolles Arbeiten hin und macht es un-wahrscheinlich dass Martianus Probleme an dieser Stelle nicht wahrgenommenbzw nicht korrigiert haumltte Zweitens ist die Verbindungvon Satire und den anderenElementen nicht nur oberflaumlchlich so dass sie nachtraumlglich eingefuumlgt sein koumlnnteoder sich im Schreibprozess so ergeben haben koumlnnte Da bereits im zweitenKapitel des ersten Buches Satura eingefuumlhrt wirdwar sie von vornherein Teil des

Gemeint ist das beruumlhmte zunaumlchst nur fuumlr die Dichtung relevante prodesse aut delectare(Hor ars 333 f) zu Varro vgl die schon angefuumlhrte Stelle aus Cic ac Vgl z B die sehr bildliche Beschreibung von C S Lewis bdquo[hellip] this universe which hasproduced the bee-orchid and the giraffe has produced nothing stranger than Martianus Capella[hellip] the curiosity shop of his mind [hellip] a chaos beside which the work of Rabelais has unity andthat of Mandeville probabilityldquo (Lewis 1936 78 f) Gleiches gilt fuumlr Spekulationen uumlber eine andere Auffassung von Literatur und ihrenRegeln in Martianusrsquo Zeit oder Umfeld Einerseits kennen wir keine Texte die sich mit De nuptiisvergleichen lieszligen (was per se nichts beweist aber doch Indiziencharakter hat) andererseitshielten sich auch die spaumltantiken Autoren uumlblicherweise an die klassischen Vorgaben Ich teiledaher auch Schneiders Ansicht nicht der die Skepsis an dieser Verbindung allein der modernenLeseerfahrung zuschreibt bdquoWenn den Heutigen diese Kombination der forcierten Gelehrsamkeiteines Curriculums und der spielerisch-saloppen Causerie seltsam beruumlhren mag so waumlre dazuimmerhin schon an ein ciceronisches Dictum zu erinnern non est enim seiunctus iocus a phi-lologia (ad fam 16214) ndash sbquoSpieltrieb und Pedanterie diktieren und widersprechen sich nichtlsquo(sbquoErste Fruumlhschichtlsquo aus Grassrsquo sbquoHundejahrelsquo)ldquo (Schneider 1999 94 Anm 2) Der Verweis aufCicero traumlgt nichts zum Verstaumlndnis von Martianus bei Cicero geht es an der zitierten Stelle umden Ablauf des Tages mit seinem Schuumller der aus ernsteren und heitereren Abschnitten bestehtDaraus folgt nicht dass das Lernen mit Scherz verbunden ist ndash auszligerdem duumlrfte Cicero unteriocus (sbquo[urbaner] Scherzlsquo) anderes verstanden haben als Martianus in seiner Satura bietet

2 De nuptiis als literarisches Werk 145

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Kompositionsplans Drittens hat Schievenin gezeigt dass Martianus keineswegsoberflaumlchlich und eigenwillig arbeitet Durch eine gruumlndliche Untersuchung derSilen-Passage (8 803ndash805) kann er nachweisen dass Martianus ndash wie vieleAutoren vor ihm ndash uumlber ein umfangreiches literarisches Wissen verfuumlgte daraufbei der Abfassung seines Werkes zugreifen konnte und durch gezielte Anspie-lungen neue Bezuumlge herstelltesup3⁵sup2

Satire als Mittel der KritikWaumlhrend die antike Satire (im Gegensatz zur modernen) nicht zwangslaumlufig Kritikan Missstaumlnden uumlben wollte ist diese Moumlglichkeit umgekehrt auch nicht auszu-schlieszligen Martianus koumlnnte also bewusst eine solide Darstellung der Kuumlnste inliterarischem Gewandmit der Gattung der Satire verbunden haben um Zweifel ander Ernsthaftigkeit der uumlbrigen Teile des Werkes zu wecken Er wuumlrde somit einaufklaumlrerisches Interesse verfolgen das zugleich auch unterhaltsame Zuumlge traumlgt

Eine erste Schwierigkeit dieser Lesart von De nuptiis ergibt sich bereits bei derFrage nach dem Objekt der SatireWerden die Wissensinhalte in Zweifel gezogenoder nur die Art ihrer Vermittlung in langen Reden bzwTraktaten Soll der Glaubean die umfassende Einheit des Wissens kritisiert werden oder die Vorstellungsaumlmtliches Wissen lasse sich vermitteln gar kohaumlrent in einem Werksup3⁵sup3 Ist dieVorstellung dass Wissen goumlttlich mache parodiert oder nur die abwegige Vor-stellung dass auf einer Hochzeit solche Reden gehalten werden Oder richtet sichdie Kritik letztlich gegen die Auffassung Philologia als Vorbild zu sehen oder garals Mittlerin alles Wissens ja sogar als Mittlerin zwischen Menschen und Goumlttern

Aus der Tatsache dass das Objekt der Satire keineswegs leicht zu bestimmenist kann nicht gefolgert werden dass in De nuptiis keine Satire vorliege die be-stimmte Sachverhalte kritisiere Aber es kann durchaus gefolgert werden dass eskeine expliziten textinternen Merkmale gibt die das Lesen steuern und den Ge-genstand der Kritik deutlich hervortreten lassen Die Deutungen gehen also vonmodernen Annahmen uumlber das Umfeld bzw die Gedankenwelt von Martianus aus

Im Kern handle es sich um bdquouna narrazione tersa e brillanteldquo verbunden mit einemDickicht an Verweisen Die Silen-Szene habe einen bdquocarattere colto e della dottrina e dellalingualdquo (Schievenin 1984 132) Das Fazit seiner Untersuchung formuliert Schievenin folgen-dermaszligen bdquoIl De nuptiis si rivela dunque opera di vasti orizzonti non solo per lrsquointento dida-scalico che la pervade e che ne determineragrave la fortuna ma anche per la costante presenza nellafabula della tradizione classica e dei suoi echildquo (ibid 136) Vgl zu dieser Stelle auch Bovey2003 275ndash288 ndash Den geschickten Umgang mit mehreren Quellen ndash erzaumlhlerisch wie seman-tisch ndash kann Schievenin auch fuumlr 7 725ndash727 nachweisen (Schievenin 2009e) So z B Relihan 1993 138 bdquoMartianus writes not an encyclopedia but a Menippean satirethat parodies encyclopedic knowledgeldquo

146 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

und weisen zudem meist nicht kleinschrittig auf wie der Interpret zu seiner (oftapodiktisch dargelegten) Ansicht gelangt

Nun folgt daraus noch nicht dass Martianus De nuptiis nicht als kritisierendeSatire konzipiert haumltte die Vielzahl der (wenn auch differierenden) modernenDeutungenweist ja darauf hin Zwei Uumlberlegungenwenn auch keine schlagendenBeweise lassen die Hypothese der parodierenden Satire unwahrscheinlich wer-den der Umfang von De nuptiis und seine Rezeption Eine Satire die beispiels-weise die Verbindung von Weltwissen und menschlicher Vervollkommnung in-frage stellt benoumltigt nicht noch eine umfassende Darlegung eben diesenWissensDies gilt besonders da diese Darlegung den Hauptteil des Werks ausmacht und ndashzumindest dem Umfang nach ndash die uumlbrigen Partien weit uumlberragt Eine Deutungvon De nuptiis als kritischer Satire muumlsste also besonders die Frage beantwortenzu welchem Zweck die umfangreichen Darstellungen der Freien Kuumlnste aufge-nommen sind (und nicht nur angedeutet werden)

Die Rezeption eignet sich zwar ebenfalls nicht zu sicheren Ruumlckschluumlssen aufdie originale Intention eines Werkes haumlufig bietet sie aber interessante EinblickeDie Martianus-Rezeption stellt sich bald ein Cassiodor beruft sich in seinen In-stitutiones auf ihn Dort erscheint Martianus nicht als Satiriker oder Zeitkritikersondern als Gelehrtersup3⁵⁴ In dieser Tradition wird Martianus auch im Mittelaltergelesen und rezipiertsup3⁵⁵

Aumlhnliches laumlsst sich fuumlr Boethiusrsquo Anknuumlpfen an die prosimetrische Form inder Ausgestaltung von Martianus sagen Boethius verfasst zweifelsfrei keine kri-tische Satire kann aber trotzdem an die Form und den Inhalt von De nuptiisproblemlos anknuumlpfen Sowohl der Form nach wie auch durch einzelne Zitatemacht er deutlich dass erDe nuptiis kennt und als eine seiner Vorlagen benutzt Esist zu bezweifeln dass Boethius in seinem Bemuumlhen um eine adaumlquatewerbendeDarstellung der Philosophie auf Form und Zitate des Martianus zuruumlckgegriffenhaumltte haumltte er nicht die Moumlglichkeit der gefahrlosen Uumlbernahme gesehen

Satirische Elemente als Mittel der BelehrungDer dritte Erklaumlrungsansatz fuumlr die Verbindung von Satire und Belehrung be-trachtet die Wahl Saturas als Figur und die Bezugnahme auf die Gattung zunaumlchst

Cassiod inst 2 2 17 Zur mittelalterlichen Martianus-Rezeption vgl bes Nuchelmans 1950 Lutz 1971 und 1976Willis 1973 sowie die Ausgaben und Literatur u a zu folgenden Werken Konrad von MureFabularius Hugo von Sankt Victor Didascalicon de studio legendi Johannes von SalisburyMetalogicon Kindermann kann weiterhin nachweisen dass De nuptiis auch durch seine Forminspirierend gewirkt hat (Kindermann 1969 61 f)

2 De nuptiis als literarisches Werk 147

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

als reine Fortsetzungder literarischen Form Fuumlr diese spezielle Formder Literaturdie menippeische Satire hat der russische Literaturwissenschaftler MichailBachtin Beobachtungen aufgestellt die auch fuumlr De nuptiis zutreffen Durch denRuumlckgriff auf zwei zentrale Konzepte Bachtins das Karnevaleske und die Dialo-gizitaumlt wird ein Verstaumlndnis von De nuptiis ermoumlglicht

Auf der Suche nach Vorlagen und Urformen der Gattung des Romans ins-besondere in der Form von Dostojewskis Romanen stieszlig Bachtin unter anderemauch auf die menippeische Satire die er bis in die Antike zuruumlckverfolgtesup3⁵⁶ Zuihren Vertretern zaumlhlt er unter anderem Varro Apuleius Petron Seneca oderLukiansup3⁵⁷ Martianus Capella wird nicht erwaumlhnt was aber nicht verwundernmuss da Bachtin keine Literaturgeschichte der menippeischen Satire schriebsup3⁵⁸

Kern der Uumlberlegungen Bachtins zurmenippeischen Satire ist das Konzept desKarnevals Unter Karneval versteht er folkloristische Feste waumlhrend deren diebestehende Ordnung verkehrt wird uumlbliche Regeln nicht mehr gelten Herr-schende gestuumlrzt und Machtlose maumlchtig werden ndash auf Zeit Die Karnevalisierungalso die Uumlbernahme der Kennzeichen dieses Festes in neue oder bestehende li-terarische Formen institutionalisiert diese Ausnahmesituation und loumlst sie vomkonkreten Fest Der so entstandene Text wird bdquozum karnevalesken Spiel an demder Autor und sein Publikum einverstaumlndlich teilhaben und das keines kalen-darisch oder institutionell abgesicherten Karnevalsrahmens mehr bedarfldquosup3⁵⁹

Diese Karnevalisierung fuumlhrt unter anderem zu einer Vielstimmigkeit vonMeinungen und Positionen im Text z B durch mehrere Figurenvon denen keinebevorzugt oder gar als autoritativ gekennzeichnet wird In dieser Dialogizitaumlt wirdkein allgemein guumlltiger Sinnmehr vermittelt sondern dieWahrheit suspendiertsup3⁶⁰

Dass der Bezug auf karnevalsartige Feste der Gattung menippeische Satire (inTeilen auch der Verssatire) eignet zeigt ein kurzer Blick auf wichtige Vertreter derTradition

Julians Symposion Caesares spielt zur Zeit der Saturnalien Die Bedeutungdieses Festes fuumlr das Werk wird dadurch verdeutlicht dass es den Handlungs-

Bachtin 1971 126ndash 135 Bachtin 1971 126 128 132f Kritik an den z T pauschalisierenden und verfaumllschenden Aussagen Bachtins uumlber antikeLiteratur oder an der ununterbrochenen Traditionslinie von der Antike bis in die Moderne (z BRelihan 1987 59 Lachmann 2006 23ndash25) muumlsste auch auf manche moderne Literaturwissen-schaftler in der Nachfolge Bachtins angewandt werden (vgl Branham 2005 6 wo es uumlberSenecas Apocolocyntosis heiszligt bdquoour only extant Menippean satire in Latinldquo) Teuber 1993 182 Eine gut verstaumlndliche Einfuumlhrung in das Konzept der Dialogizitaumlt im Sinne der bach-tinschen Terminologie bietet Sharland 2010 Einfuumlhrung (1ndash51)

148 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

rahmen fuumlr den in der Folge erzaumlhlten Mythos bildet Bereits im ersten Satz wirdauf das Fest und die Tradition Heiteres frei zu erzaumlhlen Bezug genommensup3⁶sup1

Auch Senecas Apocolocyntosis stellt einen engen Bezug zum Saturnalienfesther Das Werk spielt zwar nicht an den Saturnalien sondern am Todestag desClaudius im Oktober doch wird an zwei Stellen eine Verbindung zwischen derHerrschaft des verstorbenen Kaisers und den dargestellten Sitten waumlhrend derRegierungszeit mit dem Saturnalienfest gezogensup3⁶sup2 Manche Interpreten gehensogar davon aus dass die Apocolocyntosis an den Saturnalien des Jahres 54vorgetragen wurdesup3⁶sup3 Auch bei Petron und Horaz finden sich Bezugnahmen aufdie Saturnaliensup3⁶⁴

Ein zentrales Element des Saturnalienfestes liegt in der Suspension der uumlb-licherweise geltenden Normen und Wertesup3⁶⁵ Neben den anderen Elementen desFestes wie sie z B in Macrobiusrsquo Saturnalia (1 7ndash 10 1 24 22 f) beschriebenwerden (traditionelle Geschenke Festmahl fuumlr die Sklaven etc) hat gerade dieUmkehrung der Herrschaftsverhaumlltnisse im Haus Niederschlag in der Literaturgefunden

Gerade durch diese Rolleninversion treten einige wichtige gesellschaftlicheNormvorstellungen und Grundannahmen prominent hervor Dazu zaumlhlt das Be-wusstsein dass es eine befehlende und eine ausfuumlhrende Gruppe von Menschengibt oder dass im Prinzip ein Rollenwechsel moumlglich sein kann Alle Beteiligten

Ἐπειδὴ δίδωσιν ὁ θεὸς παίζειν ndash ἔστι γὰρ Κρόνια ndash hellip (sbquoDa der Gott das Scherzen erlaubt ndashes sind ja die Kronia helliplsquo Caes 1 = 306a Spanheim) Zur Frage ob es sich bei Caesares auch umdas Werk handle auf das zu Ende der Rede auf Koumlnig Helios verwiesen wird (Or in Sol reg 44 =157c Spanheim) vgl Muumlller in seiner Uumlbersetzung (39 ablehnend) und Lacombrade im Vorwortseiner Budeacute-Ausgabe (3 und 18 Anm 3) der aufgrund des Handschriftenbefundes Kronia auchals Titelbestandteil fuumlr die Caesares uumlbernimmt Es handelt sich um Sen apocol 8 1 (Claudius als Saturnalienprinz) und 12 2 (Herrschaftdes Claudius als andauerndes Saturnalienfest) ndash Dass Lukian nicht auf die Saturnalien alsRahmen fuumlr seine Werke zuruumlckgreift entwertet die Beobachtungen nicht Lukian musste auf-grund seines Selbstbewusstseins als satirischer Schriftsteller und aufgrund der Menge seinersatirischen Schriften nicht jedes Mal einen eigenen literarischen Rahmen herstellen in demeinzelne Dialoge stattfinden konnten Das Saturnalienfest selbst erscheint bei Lukian als Ge-genstand der Satire nicht als deren literarische Rahmung (Τὰ πρὸς Κρόνον) Zuerst bei Furneaux 1896 23 Anm 11 In der neueren Forschung vgl bes Nauta 1987Kritisch dazu u a Doumlpp 1993 159 f Petron 44 3 58 2 69 9 zu Horaz vgl z B serm 2 7 (libertas Decembris) Ein gelungenesBeispiel der Anpassung und Anwendung der bachtinschen Konzepte mit Ertrag fuumlr die Inter-pretation unter Einbezug von serm 2 7 bietet Sharland 2010 Distelrath 1999 114 Vgl weiterhin Versnel 1993 136ndash227 und Doumlpp 1993 Eine plastischeSchilderung der Rollenvertauschung bei der der Sklave dem Herrn die Leviten liest bietet Horserm 2 7

2 De nuptiis als literarisches Werk 149

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Herren wie Sklaven spielen also mit den Moumlglichkeiten einer alternativen Wirk-lichkeit

Das Besondere im Spiel mit den Moumlglichkeiten liegt aber in seiner zeitlichenBegrenzung Nach der Zeit des Ausnahmezustands gelten wieder die normalenimmer guumlltigen Regeln Die Rolleninversion erlaubt also ndash oder erzwingt gera-dezu ndash das Nachdenken uumlber bestimmte gesellschaftliche Normen und Wertvor-stellungen Durch die Ritualisierung und enge zeitliche Begrenzung ist darausjedoch keineswegs die Notwendigkeit entstanden die Verhaumlltnisse tatsaumlchlich zuhinterfragen oder gar zu aumlndern Daher lassen sich die Saturnalien auch als ein dieKonventionen bestaumlrkendes Fest verstehen Das Spiel mit der Moumlglichkeit eineranderen Gesellschaftsordnung hat durch seine Ritualisierung letztlich eine dieTradition legitimierende Funktion bekommen

In De nuptiis finden sich jedoch houmlchstens spaumlrliche Hinweise auf das Sa-turnalienfest Am ehesten weist das grob scherzende Agieren Saturas in diesenBereich Die bdquolangen Winternaumlchteldquo (1 2) koumlnnten (statt als Bezug auf Gellius) alsAnspielung auf das Saturnalienfest verstandenwerden ndash die Saturnalien finden inden laumlngsten Naumlchten uumlberhaupt statt seit der Kaiserzeit vom 17 bis 23 DezemberDies ndash wie die Spekulation uumlber eine spielerische etymologische Verbindung vonSatura und Saturnaliensup3⁶⁶ ndash ist aber insofern nicht von Belang da die Gattung alsGanze karnevaleske Zuumlge traumlgt und als gewissermaszligen institutionalisierter Kar-neval vom eigentlichen Fest losgeloumlst istsup3⁶⁷

Die Aufhebung der uumlblichen Ordnung (was Teuber im Ruumlckgriff auf Limina-litaumltskonzepte als praumlliminale Phase bezeichnet)sup3⁶⁸ beginnt mit der VorbereitungPhilologias zum Aufstieg in den Himmel Bereits das Erbrechen stellt eine mar-kante Umkehrung der alltaumlglichen Welt dar Statt sich Wissen anzueignen er-bricht Philologia es nun In der Goumltterversammlung auf der Milchstraszlige ist dieOrdnung sodann voumlllig verkehrt Philologia als Meisterin aller Disziplinen und

Zwar sind die einschlaumlgigen etymologischen Woumlrterbuumlcher skeptisch (v a WaldeHof-mann 2007 II 482 neutral ErnoutMeillet 2001 596) jedoch gibt es dahin gehende moderneDeutungen (aufgefuumlhrt bei WaldeHofmann 2007 II 482) und auch antike ParallelisierungenCic nat deor 2 64 Saturnus hellip est appellatus quod saturaretur annis (sbquoSaturn hellip wurde ergenannt weil er an Jahren gesaumlttigt istlsquo) Fulg myth 1 2 (p 17 16) a saturando Saturnus dictusest (sbquoDa er (die Menschen) saumlttigt wurde er Saturn genanntlsquo) Aug cons euang 1 23 35 Sa-turnus tamquam satur hellip νοῦς (sbquoSaturn gleichsam der gesaumlttigte hellip νοῦςlsquo) Vgl auch Gowers diedie etymologischen Verbindungen von satura Satyrspiel und Saturnalien untersucht (Gowers1993 109ndash 117) Sie kommt zu dem Befund dass keine Verbindung bestehe wohl aber verbin-dende Elemente identifiziert werden koumlnnten bdquocarnival licence parody uninhibited mockeryand excessive consumptionldquo (ibid 117) Vgl z B Teuber 1993 183 f Teuber 1993 183

150 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

bedeutende Lehrinstanz muss sich ihrerseits belehren lassen ndash mit dem Wissendas urspruumlnglich ihres war

Durch die Inversion wird die (vielleicht uumlblicherweise nicht prominente)Philologia in den Mittelpunkt geruumlckt und ihre zentrale Rolle im Wissenssystemtritt markant vor Augen Gleichzeitig kann darin eine leise Anfrage an ihre Lehr-autoritaumlt und eventuell auch ihre Eignung zur Lehre gesehen werden

Aufgrund des zeitlich begrenzten Rahmens der Verkehrung (diemit dem Endeder Vortraumlge voruumlber ist aber nicht explizit zuruumlckverwandelt wird) dessen Be-grenztheit durch Bezug auf die Form der menippeischen Satire ergaumlnzt werdenkann wird das System der Bildung und der Bildungsvermittlung jedoch nichtgrundsaumltzlich infrage gestellt Die Suspendierung Philologias ist temporaumlr

Dem Konzept der Dialogizitaumlt oder Mehrstimmigkeit folgend erklaumlrt sich auchdie Doppelung und Verunklarung der Erzaumlhlinstanz In den drei Dialogen indenen Satura und Martianus aufeinandertreffen behandeln sie die Frage desrichtigen Erzaumlhlens Dies beschraumlnkt sich nicht nur auf die Satire sondern umfasstalle auftretenden literarischen Formen Martianus und Satura sind sich uneinswie weit der Mythos reichen soll und ob eine Enzyklopaumldie trocken oder auchunterhaltsam erzaumlhlt werden soll (2 219ndash3 222) ob ein Symposion auch Zechenund Spaszlig vertraumlgt (8 803ndash810) oder ob und wie stark Satire Dinge vermischendarf (9 997ndash 1000)

Die unterschiedlichen Meinungen zu den Fragen werden zwar diskutiert undfuumlhren zu einem Ergebnis ndash der Erzaumlhlfluss versiegt ja an keiner Stelle oder setztneu an Allerdings entsteht in der Folge kein homogenes Werk und am Schlussmag keiner der beiden Erzaumlhler dafuumlr die Verantwortung uumlbernehmen Der Wi-derwillen sich zu dem Werk zu bekennen bedeutet aber gleichzeitig auch dassMartianus sich nicht festlegt welche Position er fuumlr die richtige haumllt Die Fragenach der rechten Art der Wissensvermittlung die auch in der Ent- und Inthroni-sierung Philologias anklang bleibt unbeantwortet

Schlieszliglich bringt der Blick auf die Aurelian-Vita aus der Historia Augustanoch einen weiteren Aspekt ein Parallel zur Aufteilung der Erzaumlhlinstanzen in Denuptiiswird der Erzaumlhlprozess in derHistoria Augusta aufmehrere AutorenverteiltWie zuerst Hermann Dessau und in der Folge Ronald Syme nachdruumlcklich gezeigthaben handelt es sich allerdings um nur einen Verfasser der uumlberdies auch inBezug auf die Abfassungszeit falsche Angaben gemacht hat und Quellen erfundenhatsup3⁶⁹ Insofern laumlsst sich der in der Historia Augusta gepraumlgte Begriff der

Auf den Charakter der Sammlung die Syme u a als bdquohoaxldquo bezeichnet (1983a 11 1983b13 1983c 219) die fingierten Autoren die manipulierten Quellen etc soll an dieser Stelle nurhingewiesen werden Vgl auch Cameron 2011 Kap 20 mit ausfuumlhrlicher Diskussion relevanterFragen

2 De nuptiis als literarisches Werk 151

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mythistoria der Vermischung von Mythischem und Historischem auch auf dieSammlung selbst anwendensup3⁷⁰

Als Menippee im engeren Sinne laumlsst sich weiterhin die Aurelian-Vita die 26Vita der Sammlung fassen und bezeichnenderweise spielt die Rahmenhandlungan denHilariasup3⁷sup1Wie zu den Saturnalien gehoumlren zu diesem Fest Scherze und ndash imRahmen von Maskierungen ndash Rollenwechselsup3⁷sup2

Noch in der rahmenden Einleitung zur Vita spielt sich folgender Dialog ab

1 et quoniam sermo nobis de Trebltellgtio Pollione qui a duobus Philippis usque ad divumClaudium et eius fratrem Quintillum imperatores tam claros quam obscuros memoriaeprodidit in eodem vehiculo fuit adserente Tiberiano quod Pollio multa incuriose multabreviter prodidisset me contra dicente neminem scriptorum quantum ad historiam pertinetnon aliquid esse mentitum prodente quin etiam in quo Livius in quo Sallustius in quoCornelius Tacitus in quo denique Trogus manifestis testibus convincerentur pedibus insententiam transitum faciens ac manum porrigens iocando[m] praeterea sbquoscribelsquo inquit sbquout

quae ille [scil Iunius Cordus] omnia exsequendo libros mythistoriis replevit talia scribendocum omnino rerum vilium aut nulla scribenda sint aut nimis pauca si tamen ex his morespossint animadverti qui re vera sciendi sunt hellip sed ex parte ut ex ea cetera colligantur(SHA Opil 1 5)

Bei der Anfuumlhrung von all diesen Informationen hat er die Buumlcher mit fabuloumlsen Ge-schichten angefuumlllt indem er Dinge von dieser Art schrieb wo doch uumlberhaupt keinenutzlosen Dinge geschrieben werden duumlrfen oder nur sehr wenige sofern daraus Verhal-tensweisen erkannt werden koumlnnen die wirklich wissenswert sind hellip aber zum Teil(schreibe ich) damit daraus das Andere gefolgert werden kann

quid Marius Maximus homo omnium verbosissimus qui et mythist[h]oricis se voluminibusinplicavit num ad istam descriptionem curamque descendit (SHA Quadr tyr 1 2)

Wie Hat sich Marius Maximus der groumlszligte Schwaumltzer vor dem Herrn der sich in seinenmythistorischen Werken verfangen hat etwa zu dieser Art der Darstellung und des sorg-faumlltigen Arbeitens herabgelassen

Hilaribus quibus omnia festa et fieri debere scimus et dici impletis sollemnibus vehiculo suome hellip Iunius Tiberianus accepit (SHA Aurelian 1 1)

An den Hilaria an denen alles zum Fest Gehoumlrende getan und gesagt werden muss wieman weiszlig empfing mich nach Erledigung der Zeremonien Iunius Tiberianus in seinemGefaumlhrt

Pausch bemerkt dieses besondere Datum zwar und erwaumlgt ob es sich um ein bdquoweitergehendesLesesignalldquo beispielsweise im Sinne karnevalesker Literatur handeln koumlnne verfolgt diese Spuraber nicht weiter (Pausch 2011 130 Anm 1) Herodian 1 10 5 ndash Einige Hinweise auf die Hilaria die im Kontext des Magna Mater-Festesam 25 Maumlrz gefeiert wurden bietet Fraser in seinem Kommentar zu Ovids Fasti (Fraser 1929244ndash248)

152 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

libet 2 securus quod velis dices habiturus mendaciorum comites quos historicae elo-quentiae miramur auctoreslsquo (SHA Aurelian 2 1ndash2)

1 Und weil unser Gespraumlch uumlber Trebellius Pollio der von den beiden Philippi bis zumvergoumlttlichten Claudius und dessen Bruder Quintillus gleichermaszligen uumlber beruumlhmte wieunbekannte Kaiser fuumlr die Nachwelt schrieb in derselben Saumlnfte stattfand behauptete erdass Pollio vieles ohne Sorgfalt und nur kurz dargelegt habe Ich erwiderte dass keinSchriftsteller sofern es um die Geschichte gehe nicht irgendwo gelogen habe und legtesodann dar worin sogar Livius Sallust Tacitus schlieszliglich sogar Trogus mit eindeutigenBelegen uumlberfuumlhrt werden koumlnnten Darauf sagte Tiberianus schlieszliglich scherzend indem ermeiner Meinung beipflichtete und mir seine Hand darbot bdquoSchreibe sowie du es fuumlr richtighaumlltst 2 Sage unbesorgt was du willst du wirst diejenigen als Gefaumlhrten fuumlr deine Taumlu-schungen haben die wir als Schoumlpfer historiographischer Beredsamkeit bewundernldquo

So sympathisch dieser Anspruch auch erscheinen mag ist er doch fuumlr das Ver-trauen in die Gattung der Geschichtsschreibung fatal Gerade in der Einleitungeiner Vita jedoch ndash zumal es der Fiktion nach die erste des Flavius Vopiscus Sy-racusius im Corpus der Historia Augusta ist ndash kann eine solche Anekdote ei-gentlich keinen Platz haben Sie erweckt beim Leser den Eindruck dass er dennachfolgend dargebotenen Informationen kein Vertrauen schenken duumlrfesup3⁷sup3

Die Parallelen zwischen der Historia Augusta insbesondere dem Vorgehen inder Vita Aureliani und De nuptiis liegen auf der Hand Verunklarung der Autor-schaft bzw der Erzaumlhlhaltung einerseits Erwecken von Zweifeln an der Glaub-wuumlrdigkeit des Dargebotenen andererseits

In der Historia Augusta sind die Inkongruenzen mit der Freude des Autors amliterarischen Spiel erklaumlrt worden Der Autor habe aus Freude am Fabulieren(vielleicht auchumein dafuumlr empfaumlngliches Publikum zu befriedigen) die Viten indieser Form verfasstsup3⁷⁴ Mag man dies fuumlr die Historia Augusta noch zugestehenderen Text uumlber einen laumlngeren Zeitraum vielleicht zunaumlchst ohne eine Gesamt-konzeption entstanden ist und auch sprachlich nicht herausragt stellt sich derSachverhalt fuumlr Martianusrsquo De nuptiis anders dar Das Werk hat durchaus einenliterarischen Anspruch und es folgt eindeutig einer vorab geplanten Gesamtan-lage Die Freude am Spiel mag vielleicht manches Detail beigesteuert haben fuumlrdie verschraumlnkte Anlage des Textes ist sie aber keine Erklaumlrung

Ganz anders ist der Anspruch zum Ende der Darstellung der Viten der bdquoDreiszligig Tyrannenldquoin dem der Autor beteuert seinem Werk mangele es zwar an literarischer Ausgefeiltheit nichtjedoch an Faktentreue da nunc cuivis libellum non tam diserte quam fideliter scriptum ndash sbquoGibnun dieses Buumlchleinwem du magst es ist nicht so sehr kunstvoll geschrieben wie es sachgetreuistlsquo (SHA Quadr tyr 33 8) Syme nennt dies bdquodeceit for its own sweet sakeldquo (1983c 217) Im gleichen Aufsatz spe-kuliert er auch uumlber das Interesse des Publikums an einer solchen Art von geistigem Spiel(ibid 221)

2 De nuptiis als literarisches Werk 153

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Es lohnt sich jedoch auch fuumlr die Historia Augusta einen Schritt weiter zugehen Ausgangspunkt dafuumlr ist die obige Beobachtungdass das literarische Spielder Historia Augusta nur durchschaut wer die Werke der historischen Literaturkennt Durch die Lektuumlre historiographischer Biographien bringt der Leser einebestimmte Leseerwartung also implizite Vorstellungen mit wie das Werk aus-sehen soll und wird Diese Erwartungen werden aber nicht oder nur teilweisebedient Formal gesehen weisen die Viten in der Historia Augusta zwar die Cha-rakteristika der Gattung auf ndash doch indem sie sie inhaltlich nicht adaumlquat aus-fuumlllen treten deren Konventionen vor Augen

Durch die uumlbermaumlszligige Verwendung falscher Verweise und erfundener Quel-len geraumlt zudem das Beglaubigungsverfahren historischer Texte in den Blick-punkt Der Leser erkennt anwelchen Stellenwelche Beglaubigungsmechanismenansetzen und auf welche Weise sie unterlaufen werden koumlnnen Uumlberspitzt lieszligesich behaupten DieHistoria Augusta verfolgt ein aufklaumlrerisches Interesse indemsie (spielerisch) aufzeigt welche Beglaubigungsverfahren die Geschichtsschrei-bung nutzt und wie sie manipuliert werden koumlnnen dadurch wird auch die Ma-nipulierbarkeit von Geschichte und Leser deutlich

In De nuptiis werden ebenfalls die Konventionen der Einzelgattungen ndash zu-mindest ansatzweise ndash hervorgehoben Dass kein perfektes Musterbeispiel derjeweiligen Einzelgattung entstehen kann liegt darin begruumlndet dass durch dieVerbindung der vier literarischen Genres keine oberflaumlchliche Konsistenz derFiktion entstehen kannVielmehr entstehen Bruumlche die ndash ebenso wie die Bruumlchein der Erzaumlhlhaltung ndash auch die Gattungskonventionen und ihre Annahmendeutlich werden lassen Dies gilt besonders fuumlr die Satire deren Vorgehen imKontrast zur eigentlichen Hochzeitshandlung aus dem Rahmen faumlllt und somitbesonderes Augenmerk erhaumllt Hinzu tritt mit der Figur Satura auch eine Perso-nifikation der Gattung die in theoretischen Diskussionen Annahmen und Vor-gehen mit Martianus eroumlrtert Grunduumlberlegungen der Gattung Satire werden sotheoretisch eroumlrtert und praktisch erprobt Gleiches giltwenn auch zT inwenigerdeutlicher Form auch fuumlr die anderen Formen Die Enzyklopaumldie in ihren langenMonologen wird durch Spott markiert die trockenen Kuumlnste werden probeweisedurch Allegorien zugaumlnglicher gemacht im Symposiondialog wird uumlberlegt in-wieweit uumlbliche Rollenmuster (der Zecher) einen Platz haben oder wie weit mandie fuumlr die Feier typischen Reden fuumlhren kann und immythischen Teil wird durchdie Gegenuumlberstellung mit dem handfesten Wissensbetrieb die Andersartigkeitdes Erzaumlhlens deutlich

So werden neben den Inhalten der Wissenschaften auch verschiedene lite-rarische Formen bewahrt Neben der reinen Anwendung und somit Tradierungwerden gleichzeitig auch die Mechanismen verdeutlicht deren sich die jeweilige

154 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Gattung bedient Somit wird ihr Funktionieren nachvollziehbar und in der Folgeauch nachahmbar

3 Zusammenfassung

Martianus weckt also durch die Wahl mehrerer gleichberechtigter Erzaumlhler diesomit das Erzaumlhlen unzuverlaumlssig werden lassen besonders aber durch dieUumlbernahme satirischer Gattungselemente ein Bewusstsein fuumlr die traditionellenGrundlagen desWissens- und Lehrsystems seiner Zeit ImGegensatz zur Satire diediese Fragen kategorisch stellt handelt es sich in De nuptiis um ein Spiel damitDer Satirebezug dient als Anknuumlpfung an die traditionellen Gattungsmerkmaleder menippeischen Satire Karnevaleske und Dialogizitaumlt

Durch die (temporaumlre) Rolleninversion richtet sich das Augenmerk aufPhilologia als Wissenszentrum und Wissensmittlerin und fordert zum Nach-denken daruumlber heraus Im Kern hinterfragt das Werk alle Bereiche die mit Bil-dung und Bildungsvermittlung zu tun haben Was sind die Inhalte wahrer Bil-dung Gibt es eine Einheit von Bildung Wie kann sie vermittelt werden

Allerdings zielt die Kritik nicht auf eine Aufloumlsung klassischer Bildungsinhalteund Vermittlungsformen Sie regt vielmehr durch Scherz und Bruumlche zumNachdenken uumlber diese Fragen an Dabei verzichtet Martianus auf eigene Vor-schlaumlge und Konzepte und festigt so gleichsam den traditionellen Bildungs-betrieb Das von ihm dargestellte Wissen wird kanonisiert und die Darstel-lungsform in langen Reden wird es auch Die mittelalterliche Rezeption von Denuptiis zeigt dies eindrucksvoll

Wissen umfasst dabei nicht nur das Faktenwissen der Vortraumlge sondern auchdas Wissen um bestimmte literarische Formen Durch die Verbindung von vierGattungen und die Doppelung der Erzaumlhlerfigur mit Reflexion uumlber angemessenesErzaumlhlen entstehen Inkonsistenzen die die Konventionen der einzelnen Gattun-gen hervortreten lassen Nicht alle Elementewerden auf dieseWeise deutlich aberMartianus bietet einen Ansatzpunkt die Fiktion auch unter der Fragestellung zulesen was einen Text der jeweiligen Gattung ausmacht ndash sowohl positiv wie ne-gativ formuliert

Mit seiner kreativen Konzeption und ihrer literarischen Umsetzung gelingt esMartianus eindrucksvoll Heiteres und Belehrendes zu verbindenwomit er an dieTradition Varros und die klassische antike Poetik anknuumlpft Es gelingt ihm daruumlberhinaus aber auchWissen zu vermitteln und die traditionellen Vorstellungen vonder Bedeutung dieses Wissens wie der Form seiner Vermittlung herauszustellenSpielerisch wird also gelehrt und hinterfragt nicht jedoch kategorisch kritisiertoder kuumlhn neu entworfen Gerade dadurch zeichnet sich Martianusrsquo De nuptiis

3 Zusammenfassung 155

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

tatsaumlchlich als nescioquid inopinum intactumque (sbquoetwas Ungewohntes und nochnie Gewagteslsquo 1 2) aus und macht es zu einem der bedeutendsten Buumlcher derSpaumltantike und zu einer interessanten Quelle fuumlr die Frage nach Bildungsvor-stellungen im fuumlnften Jahrhundert

156 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Page 23: Bildungsvorstellungen im 5. Jahrhundert n. Chr. (Macrobius, Martianus Capella und Sidonius Apollinaris) || III Martianus Capella, De nuptiis Philologiae et Mercurii

Allerdings zitiert die Wendung ὄνος λύρας in 8 807 den Titel einer menip-peischen Satire Varrossup3sup2⁸ Die Wendung ist in der lateinischen Literatur ander-weitig nicht belegt weshalb davon auszugehen ist dass Martianus hier auf denrepublikanischen Satiriker direkt zuruumlckgriff Da die Wendung zudem im Streit-gespraumlch zwischenMartianus und Satura uumlber die angemessene Art des Erzaumlhlensder Geschichte faumlllt kommt ihrer Verwendung eine programmatische Aussage zuMartianus stellt sich und sein Werk also in die Nachfolge Varros und seiner Sa-tiren

Ein Bezug auf Lukian ist weniger sicher nachzuweisensup3sup2⁹ Allerdings gibt eseine motivische Uumlbernahme im zweiten Buch von De nuptiis Philologias Erbre-chen des Wissens das der Hochzeit vorausgeht hat eine Parallele in LukiansDialog Lexiphanes Der allzu (ein)gebildete Lexiphanes nimmt auf Draumlngen vonLycinus ein Brechmittel ein das ihm der Arzt Sopolis gibt Daraufhin erbricht eralle Woumlrter die er gelernt hat dies ist die Voraussetzung dafuumlr dass er nun an-gemessen belehrt werden kannsup3sup3⁰

Es handelt sich um die Fragmente Varro Men 348ndash369 In Fragment 349 findet sich dieWendung auch im Vers (si quis μελωδεῖν est ὄνος λύρας praesepibus se retineat forensibus ndashsbquower beim Gesang wiersquon Esel an der Harfe bloumld der bleib getrost im Stallmief seines Forumsdortlsquo [Uumlbs Krenkel]) Die Bezugnahme auf Varro ist umso wahrscheinlicher da Satura unmit-telbar zuvor sowohl Martianusrsquo berufliche Aufenthalte auf dem Forum erwaumlhnt und ein Wort-spiel mit seinem Namen Capella angestellt hat ndash der zwar nicht sbquoEsellsquo bedeutet wohl aber einHaustier (sbquoZiegelsquo)Vgl dazu Shanzer 1968c 38ndash40 Shanzer 1986a kritisch dazu Pabst 1994 168(m Lit) Folgt man Bovey handelt es sich bei der unmittelbar folgenden Wendung καιρὸν γνῶθιum einen weiteren Verweis auf den Titel einer Varro-Satire γνῶθι σεαυτόν (= Varr Men 199ndash210 vgl Bovey 2003 282ndash284) Naumlher liegt wohl dass Martianus Capella diese eigenstaumlndigeSentenz (vgl Diogenes Laertios I 79 der sie als Sentenz des Pittakos ausweist) aus einer anderenQuelle uumlbernommen hat Kindermann 1969 60 Shanzer geht davon aus dass Martianus Lukian kannte (Shanzer1986c 36) Zur Diskussion um Martianusrsquo Griechischkenntnisse vgl Cristante 2009 [5] undShanzer 1986c 4 die beide annehmen dass Martianus durchaus Griechisch beherrschteShanzer weist einige Stellen auf an denen Martianus woumlrtlich uumlbersetzt und schlieszligt aus derBeherrschung des Griechischen zu Recht auf einen gebildeten moumlglicherweise sogar akade-mischen Hintergrund von Martianus Lucian Lex 20f Andere antike Texte die das Erbrechen von Wissen als Teil des Reini-gungsprozesses beschreiben oder als Bild tradieren sind mir nicht bekannt Daher ist eswahrscheinlicher dass Martianus auf Lukian im Original zuruumlckgegriffen hat Zur vor-byzantinischen Rezeption Lukians vgl Nesselrath 1994 der spaumltantike Bezuumlge auf Lukian u abei Julian und Claudian aufzeigt ndash Einen Bezug auf Lukians Concilium deorum fuumlr moumlglich haumlltKrapinger 1999 962 ndash Anders gelagert sind Lucian cont 7 und Aug in Joh ev tract 36 1 Dortgeht es darum dass durch das Ausspeien Wissen weitergegeben wird was zum Bild der daserbrochene Wissen aufsammelnden Artes passt nicht jedoch zum Motiv der Reinigung

136 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Bezuumlge auszligerhalb der Uumlbernahme uumlblicher Gattungselemente lassen sich fuumlrSenecas Apocolocyntosis Petrons Satyricon oder Julians Caesares nicht konsta-tierensup3sup3sup1

Die Figur der Satura und ihr Handeln ndash Einer der deutlichsten Hinweise auf dieForm der Satire liegt im Auftreten einer Figur namens Satura Diese Figur wirdzunaumlchst von Martianus als Erzaumlhlinstanz eingefuumlhrt (1 2) von der er den Inhaltvon De nuptiis erfahren haben will Im Laufe des Werks gewinnt Satura aber anProfil und agiert zunehmend autonom

Aussagen uumlber Satura beruhen letztlich auf drei Stellen in De nuptiis (6 576ndash5798 806ndash8109997ndash999) und koumlnnen fast ausschlieszliglich aus der Formund derBotschaft ihrer eigenen Aumluszligerungen gewonnen werden An allen drei Stellendiskutiert Satura mit Martianus Ansonsten ist Satura zwar als praumlsent zu denkenwird aber nicht weiter thematisiert

Nach Martianusrsquo Anrufung Minervas zu Beginn des sechsten Buches mischtsich Satura in seine Uumlberlegungen ein welche Frauen er vor sich sehe Die Ein-mischung wird von Martianus als scherzend bezeichnet (iocabunda 6 576) dieEinmischung an sich als typisch fuumlr das Scherzen Saturas (ut lepidula est 6 576)Die Aumluszligerung Saturas beginnt mit Spott uumlber Martianusrsquo nur scheinbare KlugheitDurch falsche naumlchtliche Studien und besonders seine Anwaltstaumltigkeit habe erden Blick auf das Wichtige verloren und erkenne nun nicht einmal mehr Philo-sophia und Paideia Der Scherz wird jedoch alsbald von einem belehrendenTonfall abgeloumlst in dem Satura Martianus uumlber das Wesen der beiden Frauenaufklaumlrt

Satura tritt als Naumlchstes zu Beginn des achten Buches auf in der Folge derSilen-Szene Der angetrunkene Silen war eingeschlafen und durch Amor aufge-schreckt worden was die uumlbrigen Goumltter laut lachen lieszlig (8 803ndash805) DieseSchilderung provoziert bei SaturaWiderspruch da sie das Erzaumlhlte als unpassendfuumlr die Goumltterversammlung empfindet Ihre Kritik beginnt wieder bei der Persondes Martianus dessen Namen sie als passend zu seinem Wesen deutet (Capella ~sbquoZiegelsquo 8 806) Sodann fordert sie Martianus auf seine Possen zu unterlassenMartianus fuumlhlt sich gehoumlrig von Satura gemaszligregelt und gibt klein bei bemerktaber dass sie ansonsten mehr von Scherzen halte (alioquin lepidula 8 807) AlsSatura dann die Einfuumlhrungder eintretenden Brautjungfer in Versenvorbringt undMartianus wiederum seine Scherze (ludicra 8 808) vorhaumllt kann dieser nicht

Mit Julian verbindet Martianus immerhin die Ansiedlung der Goumltterversammlung auf derMilchstraszlige ndash Zur Rolle der Saturnalien vgl den Abschnitt bdquoDeutungen der komplexen litera-rischen Formldquo

2 De nuptiis als literarisches Werk 137

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mehr an sich halten und zahlt Satura ihre Kritik in gleicher Muumlnze heim Nacheinigem Spott uumlber Saturas Verse verteidigt nun Martianus das Recht auf Scherzgegen sie die an sich ndash nicht aber in De nuptiiswie es scheint ndash eigentlich fuumlr denScherz zustaumlndig waumlre und gibt ihr mit Martial (2 41 1) den Rat auch einmal zulachensup3sup3sup2

Ein letzter Schlagabtausch von Satura und Martianus erfolgt schlieszliglich amEnde des Werkes Wiederum streiten beide Figuren miteinander und halten sichmit Spott uumlber das Wesen des anderen nicht zuruumlck

Die Einfuumlhrung Saturas die ja nur in Verbindung ndash und das heiszligt Ausein-andersetzung ndash mit Martianus erscheint dient vornehmlich der deutlichenBenennung der Gattung und der Verstaumlndigung daruumlberwas den Charakter einessatirischen bzw des vorliegenden Werkes ausmache Erstaunlich ist dabei Mar-tianusrsquo Entwicklung der sich zunaumlchst gegen Unterhaltung im artes-Teil ausge-sprochen hatte diese spaumlter aber gegen den censorischen Eingriff Saturas imachten Buch verteidigt Noch erstaunlicher ist aber dass es gerade Satura ist diezur Beachtung des Decorums auffordert und Martianusrsquo vergleichsweise mildenScherz scharf tadelt

Erzaumlhlinstanzen ndash Die Frage nach der Erzaumlhlsituation bzw der Erzaumlhlerfigurgehoumlrt zu den grundlegenden Analysekriterien eines literarischenWerkes ebensowie die Konzipierung von Raumund Zeit Lassen sich die letzten beiden Punkte imHinblick auf De nuptiis hinreichend klaumlrensup3sup3sup3 so bietet die Erzaumlhlerfigur groumlszligereSchwierigkeiten

DassDe nuptiis zwei Erzaumlhlinstanzen hat scheint zu Beginn desWerkeswenigdramatisch In 1 2 verweist der Erzaumlhler Martianus gegenuumlber seinem Sohn dar-auf dass die folgende Geschichte (also der uumlberwiegende Teil von De nuptiis) ihm

Ride si sapis o puella ride Schievenin bietet eine gruumlndliche Analyse dieser Stelle auchmit Blick auf die inverse Vorlage Martials (plora si sapis o puella plora Mart 2 41) derwiederum auf Ovid (Ov ars 3 281 f) zuruumlckgreift (Schievenin 1984 bes 136 ausfuumlhrlich auchBovey 2003 275ndash288) Die Rahmenhandlung spielt in der erzaumlhlerischen Gegenwart und in einem unbestimmtenRaum der jedoch nicht auszligergewoumlhnlich ist es liegt nahe an Karthago und das Haus desMartianus Capella zu denken Die eigentliche Handlung spielt an z T unwirklichen Orten aufder Erde die zumeist nicht naumlher bestimmt sind (z B Philologias Herkunft) und auf derMilchstraszlige wobei die absolute Zeit nicht genannt wird aber aufeinanderfolgende Tage inihrem Ablauf erkannt werden koumlnnen Die Phantastik einzelner Szenen die meist auf alle-gorische Darstellungsweisen zuruumlckgeht verletzt jedoch nicht die raumlumliche oder zeitlichePlausibilitaumlt des Dargestellten Vgl dazu auch die Ausfuumlhrungen und grafischen Veranschau-lichungen LeMoines (1972a)

138 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

waumlhrend langer Winternaumlchte (eine Anspielung auf Gellius)sup3sup3⁴ von Satura be-richtet wurde Der antike wie moderne Leser duumlrfte sich wohl kaum daran stoszligensondernwird darin vor allem eine Inspiration des Autors durch Satura (auchwennes das zuvor noch nicht gab) erkennen Bei der Erwaumlhnung von Satura koumlnnte erHeiteres erwarten oder bunt gemischte Geschichten

Vollkommen verwirrt wird der Leser hingegen spaumltestens dann wenn er amEnde des Werkes in der Sphragis angekommen ist (9 997ndash 1000) Dort reflektiertMartianus sein literarisches Vorgehen in den vorausgegangenen neun Buumlcherngenauer gesagt distanziert er sich von der Form der Darstellung (Umfang Bunt-heit) und verweist auf die Verantwortung Saturas die die Geschichte erzaumlhlt habe

Habes anilem Martiane fabulam 997Miscillo lusit quam lucernis flamineSatura Pelasgos dum docere nititurArtes daggercagris vix amicas AtticisSic in novena decidit voluminahaec quippe loquax docta doctis aggerans 998fandis tacenda farcinat immiscuitMusas deosque disciplinas cyclicasgarrire agresti cruda finxit plasmate (9 997 f)

Da hast du Martianus eine Altweibergeschichte sie verfertigte im Spiel mit vermischterInspiration [d h in Prosa und Vers] bei Kerzenschein Saturawaumlhrend sie sich bemuumlhte diePelasger zu lehren die Kuumlnste die den Griechen kaum freundlich [d h neu] sindSo gelangte sie hinab bis zum neunten Buch haumluft plappernd Gelehrtes auf Gelehrtes undstopft geheimes und bekanntes Wissen zusammen hat Musen und Goumltter vermischt und hatsich erdacht dass die enzyklopaumldischen Disziplinen in einembaumlurischenMachwerk unreifesZeug daherplappern

So ungewoumlhnlich dieses Vorgehen auch ist ndash Martianus haumltte ja den Bericht Sa-turas als Grundlage nehmen und dann nach eigenem Geschmack umgestaltenkoumlnnen ndash wird es uumlbertroffen durch die Verteidigung Saturas Sie weist die Ver-antwortung fuumlr die Art der Erzaumlhlung von sich und verteidigt sichmit demHinweisauf Martianusrsquo intellektuelle Schwaumlche der sie die Ausfuumlhrungen habe anpassenmuumlssen

Vgl Gell praef 4 zur Erklaumlrung der Wahl des Titels Noctes Atticae fuumlr sein Werk

Sed quoniam longinquis per hiemem noctibus in agro sicuti dixi terrae Atticae commentationeshasce ludere ac facere exorsi sumus idcirco eas inscripsimus noctium esse Atticarum hellip

Aber weil wir in langen Naumlchten den Winter uumlber in Attika auf dem Landwie schon gesagtdiese Anmerkungen im Spiel und dann ernsthaft begonnen haben daher haben wir ihnenden Namen Attische Naumlchte gegeben hellip

2 De nuptiis als literarisches Werk 139

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

haec ipsa nauci rupta conscientia 999turgensque felle ac bili bdquomulta chlamydeprodire doctis approbanda cultibuspossemque comis utque e Martis curia[hellip]ab hoc creatum Pegaseum gurgitem 1000decente quando possem haurire poculoldquo (9 999 f)

Sie sagte aufgrund ihres Wissens um die Nichtigkeit (dieser Ausfuumlhrungen) verletztschwellend vor Bitterkeit und Zorn bdquoIch koumlnnte hier freundlich auftreten mit einem Gewandbekleidet lobenswert durchgelehrtes Verhaltenwie aus der VersammlungdesMars [Es folgtdie Schilderung der unguumlnstigen Anlagen von Martianus] ndash Wann koumlnnte ich mit ange-messenem Becher aus einem pegasischen Strom von ihm erschaffen schoumlpfenldquo

Somit hat das Werk das zu Beginn zwei hierarchisch geschiedene Erzaumlhler zuhaben scheint am Ende zwei Erzaumlhler die sich gleichberechtigt uumlber die Form dererzaumlhlten Geschichte streitensup3sup3⁵

Die Inkonsistenzen auf der Erzaumlhlebene setzen sich daruumlber hinaus fort HatteMartianus zu Beginn des Werks gesagt Satura habe ihm die Geschichte waumlhrendlangerWinternaumlchte erzaumlhlt so treten Satura undMartianus amEnde desWerks inder erzaumlhlerischen Gegenwart gemeinsam auf und sprechen beide nacheinanderzu Martianusrsquo Sohn

Weiterhin erscheinen Satura und Martianus innerhalb der Geschichte dieMartianus angeblichvon Satura gehoumlrt hatWaumlhrend die Goumltter denverschiedenenBrautjungfern lauschenwohnen auch SaturaundMartianus der Versammlungbeiund betrachten sie als unbeteiligte ZuschauerWie aus einer Theaterloge herauskommentieren und diskutieren sie das Geschehen das auf der bdquoGoumltterbuumlhneldquostattfindetsup3sup3⁶

Noch einen weitergehenden Schritt stellt die Silen-Szene zu Beginn des achtenBuches dar Im Anschluss an diese Szene beschwert sich Satura bei Martianus erkoumlnne die Goumltter nicht auf dieseWeise agieren lassen In der Folge entspinnt sich einGespraumlch in demMartianus seine Art des Erzaumlhlens gegen Satura verteidigt die fuumlreine zuruumlckhaltendere Darstellung plaumldiert (s o)Von der Fiktion dass Martianusseinem Sohn bloszligwiedergibtwas Satura ihm erzaumlhlt hat bleibt nichtmehr viel dieganze Szenerie ist ein Produkt der ErfindungdesMartianus gleichzeitigwohnt er ihraber gemeinsam mit Satura bei ist also Teil der Handlung

So bereits Pabst 1994 120 Anm 119 der allerdings auf eine Diskussion der Beobachtungverzichtet Es handelt sich um die Stellen zu Beginn des sechsten und des achten Buches die imvorigen Abschnitt bereits paraphrasiert wurden

140 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Diese Art der Spiels mit der Erzaumlhlerrolle wird von manchen modernen For-schern als ein wichtiges Merkmal der menippeischen Satire angesehen Hinzu-treten kann die Selbstherabsetzung des Erzaumlhlers die sich an seinemmangelndenWissen Stilbewusstsein Traditionsempfinden o auml entzuumlndetsup3sup3⁷ Folglich kanndie zunaumlchst befremdliche Brechung und Verzerrung als weiteres Merkmal derGattung menippeische Satire bestimmt werden

Aufgrund dieser Beobachtungen ist es zwingend in De nuptiis vor allem eineSatire zu sehen Auch der heiter-spoumlttische Charakter einiger Passagen zwischenden Vortraumlgen der Brautjungfern passt zum satirischen Anspruch Gelegentlicherscheint es jedoch fraglich ob es sich wirklich um satirische und nicht eher umkomische oder derbe Spaumlszlige handelt Die Szene in der Silen betrunken einschlaumlftund von den anderen Goumlttern verspottet wird (8 803ndash805) erinnert mit ihremSlapstick eher an den derben Spott der Komoumldie als an die Satire eines Varrosup3sup3⁸

22 Deutungen der komplexen literarischen Form

Wie laumlsst sich das Werk De nuptiis nun also formal beschreiben oder andersgefasstWie lassen sich die vier literarischen Traditionsstraumlnge zusammenfuumlhrenDass eine einheitliche Lesung zumindest versucht werden muss zeigt bereits dasLeitmotiv der Hochzeit ansup3sup3⁹

Im Kern handelt es sich bei MartianusrsquoWerk um eine Sammlung bedeutenderWissensschaumltze in einem einzigen Werk die darin systematisch ausgebreitetwerden Dies zeigt die Einteilung in verschiedene Disziplinen die ein ver-

Zur Erzaumlhlerrolle in der menippeischen Satire vgl u a Relihan 1993 und darin bes S 35 Mit der Aufnahme unterhaltsamer Elemente ginge Martianus sogar noch uumlber dieErwartungen an ein sbquosatirischeslsquo Werk hinaus Auch Boethius wird bescheinigt er erzaumlhle seineConsolatio bdquoper satiramldquo auch wenn bei ihm weder eine Figur Satura auftritt noch allzu vielHeiterkeit herrscht (Peiper zitiert in der Einleitung zu seiner Ausgabe S xxxi eine mittelalter-liche Boethius-Vita vgl Kindermann 1969 61)

hos libros [scil de consolatione Philosophiae] per satiram edidit imitatus videlicet mar-cianum felicem capellam qui prius libros De nuptiis philologiae et mercurii eadem speciepoematis conscripserathellip

Diese Buumlcher schrieb er als Satire freilich in Nachahmung des Marcianus Felix Capellader zuvor die Buumlcher uumlber die Hochzeit der Philologie mit Merkur in der gleichen Art vonGedicht verfasst hatte

Zum Motiv der Hochzeit das bereits programmatisch im eroumlffnenden Hymnus anHymenaeus erscheint vgl Schievenin 2009c und Cristante in der Einleitung seiner Ausgabe1987 3ndash 10

2 De nuptiis als literarisches Werk 141

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

gleichsweise leichtes Auffinden der Informationen erlaubtsup3⁴⁰ die Bedeutung wirdangesichts der Praumlsentation vor den Goumlttern auf der Milchstraszlige deutlich Alleinder Umfang dieser Vortraumlge die in sich auch nicht gestoumlrt oder gebrochenwerdenmarkiert dass es sich hier um das zentrale Charakteristikum des Werkes handelt

Den erzaumlhlerischen Anlass fuumlr diese Praumlsentation bietet eine Hochzeitsfeieralso ein Symposion hier ist die Gelegenheit fuumlr die groszligen Redebeitraumlge gegebenZudem bietet die SymposionformAnknuumlpfungspunkte fuumlr eine Rahmenhandlungdie zur Auflockerung der ebenso ausfuumlhrlichenwie trockenen Einzelreden genutztwird

Doch bleibt es ndash im Gegensatz z B zu Macrobius ndash nicht bei der bloszligenDarstellung der Wissensinhalte Hinzu tritt die allegorische Darstellung der Be-deutung von Wissen und von Fleiszlig beim Wissenserwerb in den ersten beidenBuumlchern Die praumlsentierten Inhalte der Buumlcher 3ndash9 (die Philologia ja bereits aufder Erde in Buch 2 besitzt) sindwichtig Sie sind nicht nur wichtig fuumlr das irdischeLeben (das wird nicht weiter thematisiert die explizit irdischen Wissenschaftenwie Architektur und Medizin werden sogar ausgeschlossen) ndash die Inhalte sindauch wichtig fuumlr die menschliche Vervollkommnung

Durch das angesammelte Wissen erreicht der Mensch zwar nicht die voll-kommene Erkenntnis (die erhaumllt auch Philologia nur ohne eigenes Zutun als sieauf der houmlchsten Himmelssphaumlre angekommen zum Vatergott in der jenseitigenGluumlckseligkeit betet) wohl aber ein goumlttergleiches Wissensup3⁴sup1 Der Wissenserwerbist gewissermaszligen die Voraussetzung dafuumlr dass der Mensch mit Hilfe einesgoumlttlichen Begleiters in den Himmel aufsteigen kann unsterblich wird und voll-kommene Einsicht erlangt

Die so weit kohaumlrente Verbindung der literarischen Traditionen laumlsst aller-dings den explizit satirischen Anspruch von De nuptiis auszliger Betracht durch denMartianus selbst das Werk primaumlr in die Gattung der Satire einordnet waumlhrendvergleichbare Bezuumlge zu anderen Gattungen fehlen Natuumlrlich lieszlige sich dieserprogrammatische Anspruch mit einem Verweis auf die Verwendung des Begriffszur Bezeichnung einer inhaltlich wie literarisch gemischten Form erklaumlren Dochgreift diese Erklaumlrung zu kurz da das Agieren Saturas die literarischen Passagendes Werks beinahe als Travestie erscheinen laumlsst (vgl oben zur Erzaumlhlerfigur) Einbildend-enzyklopaumldisches Werk kann sich allerdings nicht gefahrlos als Satire

So auch Englisch 1994 56 Die bdquoSystematik bei der Praumlsentationldquo erlaube einen leichtenZugriff auf die Informationen Mart Cap 2 201ndash205

142 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

praumlsentieren ohne Zweifel an der Glaubwuumlrdigkeit und Zuverlaumlssigkeit desWerkes und der praumlsentierten Inhalte zu weckensup3⁴sup2

Wenn Martianus auch die Konventionen der Gattung menippeische Satireaufnimmt und sein Werk also nur folgerichtig unter anderem eine unzuverlaumlssigeErzaumlhlsituation aufweist ist dies noch keine Erklaumlrung an sich Die regelkonformeUmsetzung gattungstypischer Anspruumlche erklaumlrt noch nicht die Wahl der Gattungan sich ndash einer Gattung die trotz ihrer Benennung als solche nicht zu denStandardformen und akzeptierten Gattungen zaumlhlte insbesondere nicht fuumlrLehrwerkesup3⁴sup3

Auch Martianusrsquo Verweis auf etwas bislang noch nicht Unternommenes(nescioquid inopinum intactumque 1 2) vermag den Widerspruch nicht zu loumlsenDie Wendung zeigt zwar dass Martianus die Ungewoumlhnlichkeit seines Ansatzesbewusst war (sofern sich die Phrase uumlberhaupt auf die Komposition des Werkesbezieht)sup3⁴⁴ beseitigt aber nicht das interpretatorische Problem ZuwelchemZweckverbindet Martianus also zwei so widerspruumlchliche Gattungen wie Enzyklopaumldieund Satiresup3⁴⁵

Drei Antwortansaumltze lassen sich grob umreiszligen 1 Die Verbindung ist nuraumluszligerlich bzw oberflaumlchlich 2 durch die Verbindung soll ein bestimmter Aspektparodiert und somit Spott und Kritik ausgesetzt werden 3 die Verbindung erfuumlllt

Dieses Problem hat bereits Westra in seinem Aufsatz bdquoThe juxtaposition of the ridiculousand the sublime in Martianus Capellaldquo benannt (Westra 1981) Allerdings beschraumlnkt sich auchdieser Aufsatz auf die Darstellung des Problems und die Zusammenstellung der Belege EineLoumlsung hat Westra nicht anzubieten ndash sein Aufsatz endet mit der eher apologetischen Bemer-kung das Eingestaumlndnis der Unvereinbarkeit von Satire und Lehrwerk durch Martianus in 9 997sei prima facie ein Spiel dahinter stecke jedoch die Absicht Problembewusstsein zu demon-strieren und Verantwortung fuumlr die unterlassene Loumlsung zu negieren bdquoEven though I would claim that prose and verse must be present in an ancient Menippeansatire it must be seen as one of a number of shocking juxtapositions of oppositesldquo (Relihan 198760) ndash In der Folge kann die prosimetrische Form durchaus auch Mittel belehrender Werkewerden vgl Pabst 1994 133 Denkbar (und wohl wahrscheinlich) waumlre auch dass damit die Inhalte besonders desMythos gemeint sind Der Verweis auf Unterhaltung fuumlhrt nicht zum Kern der Frage denn die satirische Formstellt mehr dar als reine Unterhaltung Auch das horazische Diktum ridentem dicere verum quidvetat ndashsbquolachend das Wahre zu sagen ndash was spricht dagegenlsquo (Hor serm 1 1 23) als Kern vonMartianusrsquo Satireverstaumlndnisses greift zu kurz ebenso wie vergleichbare Konzeptionen in derLiteratur Dort geht es bei Belehrung immer um einzelne philosophische Saumltze (nie beispiels-weise um die Vermittlung von Philosophie an sich) Folglich bezeichnet das bdquoverumldquo nichtkognitives Lernen sondern moralisches Der grundlegende Unterschied zur Konzeption desMartianus liegt somit auf der Hand Vgl zu diesem Aspekt im Allgemeinen z B Shanzer 1986c42 und im Speziellen u a Woytek 1986 339ndash345 Keulen 2009 bes Kap 2 und 3

2 De nuptiis als literarisches Werk 143

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

einen literarischen und belehrenden Zweck zugleich Aufgrund der komplexenSachlage und der unmittelbaren Bedeutung der Beantwortung der Frage nachdieser Verbindung fuumlr das Gesamtverstaumlndnis von De nuptiis werden alle Alter-nativen vorgestellt und bewertet

Rein formale Verbindung von Satire und EnzyklopaumldieEventuell laumlsst sich die Mischung aus enzyklopaumldischen und satirischen Ele-menten (mit den zur Satire gehoumlrigen Verspartien) als Sonderform der Varro-Re-zeption bei Martianus auffassenVarro von Reate verfasste sowohl umfangreicheFachliteratur als auch menippeische Satiren Fuumlr beides war er in der Antikebekannt und beruumlhmt ndash doch ist es wahrscheinlich dass Martianus die Werkebereits nicht mehr ndash oder allenfalls nur in Auszuumlgen ndash vorliegen hattesup3⁴⁶ Aus demWissen um die beiden Schaffensbereiche des republikanischen Autors die beideder Unterweisung dienen solltensup3⁴⁷ koumlnnte Martianus auf den Gedanken verfallensein die literarischen Formen und Inhalte in seinem Werk zu verbindensup3⁴⁸Vielleicht saszlig er auch einemMissverstaumlndnis auf indem ermeinte dass Varro seinsatirisches wie enzyklopaumldisches Koumlnnen in nur einem Werk demonstriert habeDies hieszlige jedoch dass Martianus sich der Problematik dieser Verbindung nicht

So aumluszligert sich beispielsweise Kindermann in den Vorstudien seiner Ausgabe der Conso-latio des Laurentius von Durham Er billigt Martianus nur eine sekundaumlre Varro-Kenntnis zu(Kindermann 1969 60) Entschieden verneint wird die Frage von Schievenin (2009f) und Hadotdie vor allem neuplatonische Quellen vermutet (Hadot 2005 149) Schneider jedoch nimmt andass sowohl Augustin als auch Martianus die Disciplinae noch vorliegen hatten (Schneider 1999109 f) und dass die Satiren-Exzerpte des Nonius Marcellus (fl um 400 in Afrika) ebenfalls ausdem Originaltext Varros angefertigt wurden (ibid 96 Anm 12) Abwaumlgend aumluszligert sich Huumlbner2004 passim Vgl Cic ac 1 8 (es spricht Varro)

et tamen in illis veteribus nostris quae Menippum imitati non interpretati quadam hilaritateconspersimus multa admixta ex intima philosophia multa dicta dialectice quae quo faciliusminus docti intellegerent iucunditate quadam ad legendum invitati

Jedoch findet sich in meinen fruumlhen Schriften die ich in kreativer Nachfolge (und nicht nurUumlbersetzung) Menipps mit einer gewissen Heiterkeit benetzt habe vieles aus den Kernbe-reichen der Philosophie beigemengt und vieles das nach Art der Dialektiker gesagt istdamit die weniger Gelehrten es leichter verstuumlnden nachdem sie durch eine Art von Scherzzur Lektuumlre ermuntert worden sind

Vielleicht hatte Martianus diese Stelle sogar im Kopf als er die Anlage von De nuptiis plante So z BWeinreich in der Einleitung zu seiner Uumlbersetzung roumlmischer Satiren bdquoMartianusCapella glaubte gewiszlig ein Varro redivivus zu sein sozusagen die Quintessenz des Gelehrten unddes Satirikersldquo (Weinreich 1962 XCIII) Ebenso Shanzer 1986c 42

144 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

bewusst gewesen sei ndash was ihm sicher nicht gerecht wird Auszligerdem wird so dieBezugnahme auf weitere formale Elemente der menippeischen Tradition und dieuumlbrigen Vorlaumlufer der Gattung mit anderer Konzeption (Lukian Julian) nichtausreichend beruumlcksichtigt

Ebenfalls beim Autor koumlnnte eine zweite Erklaumlrung ansetzen Im Zuge derAbfassung seiner Enzyklopaumldie hat sichMartianus nach horazischer Vorgabe (unddem Beispiel Varros)sup3⁴⁹ um Auflockerung und heitere Elemente bemuumlht Diespontanen Einfaumllle wurden ins Werk integriert und die sich daraus ergebendenInkonsistenzen entweder uumlbersehen oder billigend in Kauf genommen Beideswuumlrde gut zum klassisch negativen Martian-Bild in der Forschung passensup3⁵⁰Abgesehen davon dass Annahmen uumlber das Vorgehen beim Schreiben weitge-hend auf Spekulation beruhensup3⁵sup1 widersprechen drei Beobachtungen dieser Er-klaumlrung Erstens gelingt es Martianus De nuptiis uumlber neun Buumlcher vorauszu-planen so dass am Ende ein ndash zunaumlchst abgesehen von der Satire-Problematik ndashkohaumlrentes Werk entsteht Die Fuumllle der behandelten Themen Motive und lite-rarischen Elemente weist eher auf ein planvolles Arbeiten hin und macht es un-wahrscheinlich dass Martianus Probleme an dieser Stelle nicht wahrgenommenbzw nicht korrigiert haumltte Zweitens ist die Verbindungvon Satire und den anderenElementen nicht nur oberflaumlchlich so dass sie nachtraumlglich eingefuumlgt sein koumlnnteoder sich im Schreibprozess so ergeben haben koumlnnte Da bereits im zweitenKapitel des ersten Buches Satura eingefuumlhrt wirdwar sie von vornherein Teil des

Gemeint ist das beruumlhmte zunaumlchst nur fuumlr die Dichtung relevante prodesse aut delectare(Hor ars 333 f) zu Varro vgl die schon angefuumlhrte Stelle aus Cic ac Vgl z B die sehr bildliche Beschreibung von C S Lewis bdquo[hellip] this universe which hasproduced the bee-orchid and the giraffe has produced nothing stranger than Martianus Capella[hellip] the curiosity shop of his mind [hellip] a chaos beside which the work of Rabelais has unity andthat of Mandeville probabilityldquo (Lewis 1936 78 f) Gleiches gilt fuumlr Spekulationen uumlber eine andere Auffassung von Literatur und ihrenRegeln in Martianusrsquo Zeit oder Umfeld Einerseits kennen wir keine Texte die sich mit De nuptiisvergleichen lieszligen (was per se nichts beweist aber doch Indiziencharakter hat) andererseitshielten sich auch die spaumltantiken Autoren uumlblicherweise an die klassischen Vorgaben Ich teiledaher auch Schneiders Ansicht nicht der die Skepsis an dieser Verbindung allein der modernenLeseerfahrung zuschreibt bdquoWenn den Heutigen diese Kombination der forcierten Gelehrsamkeiteines Curriculums und der spielerisch-saloppen Causerie seltsam beruumlhren mag so waumlre dazuimmerhin schon an ein ciceronisches Dictum zu erinnern non est enim seiunctus iocus a phi-lologia (ad fam 16214) ndash sbquoSpieltrieb und Pedanterie diktieren und widersprechen sich nichtlsquo(sbquoErste Fruumlhschichtlsquo aus Grassrsquo sbquoHundejahrelsquo)ldquo (Schneider 1999 94 Anm 2) Der Verweis aufCicero traumlgt nichts zum Verstaumlndnis von Martianus bei Cicero geht es an der zitierten Stelle umden Ablauf des Tages mit seinem Schuumller der aus ernsteren und heitereren Abschnitten bestehtDaraus folgt nicht dass das Lernen mit Scherz verbunden ist ndash auszligerdem duumlrfte Cicero unteriocus (sbquo[urbaner] Scherzlsquo) anderes verstanden haben als Martianus in seiner Satura bietet

2 De nuptiis als literarisches Werk 145

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Kompositionsplans Drittens hat Schievenin gezeigt dass Martianus keineswegsoberflaumlchlich und eigenwillig arbeitet Durch eine gruumlndliche Untersuchung derSilen-Passage (8 803ndash805) kann er nachweisen dass Martianus ndash wie vieleAutoren vor ihm ndash uumlber ein umfangreiches literarisches Wissen verfuumlgte daraufbei der Abfassung seines Werkes zugreifen konnte und durch gezielte Anspie-lungen neue Bezuumlge herstelltesup3⁵sup2

Satire als Mittel der KritikWaumlhrend die antike Satire (im Gegensatz zur modernen) nicht zwangslaumlufig Kritikan Missstaumlnden uumlben wollte ist diese Moumlglichkeit umgekehrt auch nicht auszu-schlieszligen Martianus koumlnnte also bewusst eine solide Darstellung der Kuumlnste inliterarischem Gewandmit der Gattung der Satire verbunden haben um Zweifel ander Ernsthaftigkeit der uumlbrigen Teile des Werkes zu wecken Er wuumlrde somit einaufklaumlrerisches Interesse verfolgen das zugleich auch unterhaltsame Zuumlge traumlgt

Eine erste Schwierigkeit dieser Lesart von De nuptiis ergibt sich bereits bei derFrage nach dem Objekt der SatireWerden die Wissensinhalte in Zweifel gezogenoder nur die Art ihrer Vermittlung in langen Reden bzwTraktaten Soll der Glaubean die umfassende Einheit des Wissens kritisiert werden oder die Vorstellungsaumlmtliches Wissen lasse sich vermitteln gar kohaumlrent in einem Werksup3⁵sup3 Ist dieVorstellung dass Wissen goumlttlich mache parodiert oder nur die abwegige Vor-stellung dass auf einer Hochzeit solche Reden gehalten werden Oder richtet sichdie Kritik letztlich gegen die Auffassung Philologia als Vorbild zu sehen oder garals Mittlerin alles Wissens ja sogar als Mittlerin zwischen Menschen und Goumlttern

Aus der Tatsache dass das Objekt der Satire keineswegs leicht zu bestimmenist kann nicht gefolgert werden dass in De nuptiis keine Satire vorliege die be-stimmte Sachverhalte kritisiere Aber es kann durchaus gefolgert werden dass eskeine expliziten textinternen Merkmale gibt die das Lesen steuern und den Ge-genstand der Kritik deutlich hervortreten lassen Die Deutungen gehen also vonmodernen Annahmen uumlber das Umfeld bzw die Gedankenwelt von Martianus aus

Im Kern handle es sich um bdquouna narrazione tersa e brillanteldquo verbunden mit einemDickicht an Verweisen Die Silen-Szene habe einen bdquocarattere colto e della dottrina e dellalingualdquo (Schievenin 1984 132) Das Fazit seiner Untersuchung formuliert Schievenin folgen-dermaszligen bdquoIl De nuptiis si rivela dunque opera di vasti orizzonti non solo per lrsquointento dida-scalico che la pervade e che ne determineragrave la fortuna ma anche per la costante presenza nellafabula della tradizione classica e dei suoi echildquo (ibid 136) Vgl zu dieser Stelle auch Bovey2003 275ndash288 ndash Den geschickten Umgang mit mehreren Quellen ndash erzaumlhlerisch wie seman-tisch ndash kann Schievenin auch fuumlr 7 725ndash727 nachweisen (Schievenin 2009e) So z B Relihan 1993 138 bdquoMartianus writes not an encyclopedia but a Menippean satirethat parodies encyclopedic knowledgeldquo

146 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

und weisen zudem meist nicht kleinschrittig auf wie der Interpret zu seiner (oftapodiktisch dargelegten) Ansicht gelangt

Nun folgt daraus noch nicht dass Martianus De nuptiis nicht als kritisierendeSatire konzipiert haumltte die Vielzahl der (wenn auch differierenden) modernenDeutungenweist ja darauf hin Zwei Uumlberlegungenwenn auch keine schlagendenBeweise lassen die Hypothese der parodierenden Satire unwahrscheinlich wer-den der Umfang von De nuptiis und seine Rezeption Eine Satire die beispiels-weise die Verbindung von Weltwissen und menschlicher Vervollkommnung in-frage stellt benoumltigt nicht noch eine umfassende Darlegung eben diesenWissensDies gilt besonders da diese Darlegung den Hauptteil des Werks ausmacht und ndashzumindest dem Umfang nach ndash die uumlbrigen Partien weit uumlberragt Eine Deutungvon De nuptiis als kritischer Satire muumlsste also besonders die Frage beantwortenzu welchem Zweck die umfangreichen Darstellungen der Freien Kuumlnste aufge-nommen sind (und nicht nur angedeutet werden)

Die Rezeption eignet sich zwar ebenfalls nicht zu sicheren Ruumlckschluumlssen aufdie originale Intention eines Werkes haumlufig bietet sie aber interessante EinblickeDie Martianus-Rezeption stellt sich bald ein Cassiodor beruft sich in seinen In-stitutiones auf ihn Dort erscheint Martianus nicht als Satiriker oder Zeitkritikersondern als Gelehrtersup3⁵⁴ In dieser Tradition wird Martianus auch im Mittelaltergelesen und rezipiertsup3⁵⁵

Aumlhnliches laumlsst sich fuumlr Boethiusrsquo Anknuumlpfen an die prosimetrische Form inder Ausgestaltung von Martianus sagen Boethius verfasst zweifelsfrei keine kri-tische Satire kann aber trotzdem an die Form und den Inhalt von De nuptiisproblemlos anknuumlpfen Sowohl der Form nach wie auch durch einzelne Zitatemacht er deutlich dass erDe nuptiis kennt und als eine seiner Vorlagen benutzt Esist zu bezweifeln dass Boethius in seinem Bemuumlhen um eine adaumlquatewerbendeDarstellung der Philosophie auf Form und Zitate des Martianus zuruumlckgegriffenhaumltte haumltte er nicht die Moumlglichkeit der gefahrlosen Uumlbernahme gesehen

Satirische Elemente als Mittel der BelehrungDer dritte Erklaumlrungsansatz fuumlr die Verbindung von Satire und Belehrung be-trachtet die Wahl Saturas als Figur und die Bezugnahme auf die Gattung zunaumlchst

Cassiod inst 2 2 17 Zur mittelalterlichen Martianus-Rezeption vgl bes Nuchelmans 1950 Lutz 1971 und 1976Willis 1973 sowie die Ausgaben und Literatur u a zu folgenden Werken Konrad von MureFabularius Hugo von Sankt Victor Didascalicon de studio legendi Johannes von SalisburyMetalogicon Kindermann kann weiterhin nachweisen dass De nuptiis auch durch seine Forminspirierend gewirkt hat (Kindermann 1969 61 f)

2 De nuptiis als literarisches Werk 147

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

als reine Fortsetzungder literarischen Form Fuumlr diese spezielle Formder Literaturdie menippeische Satire hat der russische Literaturwissenschaftler MichailBachtin Beobachtungen aufgestellt die auch fuumlr De nuptiis zutreffen Durch denRuumlckgriff auf zwei zentrale Konzepte Bachtins das Karnevaleske und die Dialo-gizitaumlt wird ein Verstaumlndnis von De nuptiis ermoumlglicht

Auf der Suche nach Vorlagen und Urformen der Gattung des Romans ins-besondere in der Form von Dostojewskis Romanen stieszlig Bachtin unter anderemauch auf die menippeische Satire die er bis in die Antike zuruumlckverfolgtesup3⁵⁶ Zuihren Vertretern zaumlhlt er unter anderem Varro Apuleius Petron Seneca oderLukiansup3⁵⁷ Martianus Capella wird nicht erwaumlhnt was aber nicht verwundernmuss da Bachtin keine Literaturgeschichte der menippeischen Satire schriebsup3⁵⁸

Kern der Uumlberlegungen Bachtins zurmenippeischen Satire ist das Konzept desKarnevals Unter Karneval versteht er folkloristische Feste waumlhrend deren diebestehende Ordnung verkehrt wird uumlbliche Regeln nicht mehr gelten Herr-schende gestuumlrzt und Machtlose maumlchtig werden ndash auf Zeit Die Karnevalisierungalso die Uumlbernahme der Kennzeichen dieses Festes in neue oder bestehende li-terarische Formen institutionalisiert diese Ausnahmesituation und loumlst sie vomkonkreten Fest Der so entstandene Text wird bdquozum karnevalesken Spiel an demder Autor und sein Publikum einverstaumlndlich teilhaben und das keines kalen-darisch oder institutionell abgesicherten Karnevalsrahmens mehr bedarfldquosup3⁵⁹

Diese Karnevalisierung fuumlhrt unter anderem zu einer Vielstimmigkeit vonMeinungen und Positionen im Text z B durch mehrere Figurenvon denen keinebevorzugt oder gar als autoritativ gekennzeichnet wird In dieser Dialogizitaumlt wirdkein allgemein guumlltiger Sinnmehr vermittelt sondern dieWahrheit suspendiertsup3⁶⁰

Dass der Bezug auf karnevalsartige Feste der Gattung menippeische Satire (inTeilen auch der Verssatire) eignet zeigt ein kurzer Blick auf wichtige Vertreter derTradition

Julians Symposion Caesares spielt zur Zeit der Saturnalien Die Bedeutungdieses Festes fuumlr das Werk wird dadurch verdeutlicht dass es den Handlungs-

Bachtin 1971 126ndash 135 Bachtin 1971 126 128 132f Kritik an den z T pauschalisierenden und verfaumllschenden Aussagen Bachtins uumlber antikeLiteratur oder an der ununterbrochenen Traditionslinie von der Antike bis in die Moderne (z BRelihan 1987 59 Lachmann 2006 23ndash25) muumlsste auch auf manche moderne Literaturwissen-schaftler in der Nachfolge Bachtins angewandt werden (vgl Branham 2005 6 wo es uumlberSenecas Apocolocyntosis heiszligt bdquoour only extant Menippean satire in Latinldquo) Teuber 1993 182 Eine gut verstaumlndliche Einfuumlhrung in das Konzept der Dialogizitaumlt im Sinne der bach-tinschen Terminologie bietet Sharland 2010 Einfuumlhrung (1ndash51)

148 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

rahmen fuumlr den in der Folge erzaumlhlten Mythos bildet Bereits im ersten Satz wirdauf das Fest und die Tradition Heiteres frei zu erzaumlhlen Bezug genommensup3⁶sup1

Auch Senecas Apocolocyntosis stellt einen engen Bezug zum Saturnalienfesther Das Werk spielt zwar nicht an den Saturnalien sondern am Todestag desClaudius im Oktober doch wird an zwei Stellen eine Verbindung zwischen derHerrschaft des verstorbenen Kaisers und den dargestellten Sitten waumlhrend derRegierungszeit mit dem Saturnalienfest gezogensup3⁶sup2 Manche Interpreten gehensogar davon aus dass die Apocolocyntosis an den Saturnalien des Jahres 54vorgetragen wurdesup3⁶sup3 Auch bei Petron und Horaz finden sich Bezugnahmen aufdie Saturnaliensup3⁶⁴

Ein zentrales Element des Saturnalienfestes liegt in der Suspension der uumlb-licherweise geltenden Normen und Wertesup3⁶⁵ Neben den anderen Elementen desFestes wie sie z B in Macrobiusrsquo Saturnalia (1 7ndash 10 1 24 22 f) beschriebenwerden (traditionelle Geschenke Festmahl fuumlr die Sklaven etc) hat gerade dieUmkehrung der Herrschaftsverhaumlltnisse im Haus Niederschlag in der Literaturgefunden

Gerade durch diese Rolleninversion treten einige wichtige gesellschaftlicheNormvorstellungen und Grundannahmen prominent hervor Dazu zaumlhlt das Be-wusstsein dass es eine befehlende und eine ausfuumlhrende Gruppe von Menschengibt oder dass im Prinzip ein Rollenwechsel moumlglich sein kann Alle Beteiligten

Ἐπειδὴ δίδωσιν ὁ θεὸς παίζειν ndash ἔστι γὰρ Κρόνια ndash hellip (sbquoDa der Gott das Scherzen erlaubt ndashes sind ja die Kronia helliplsquo Caes 1 = 306a Spanheim) Zur Frage ob es sich bei Caesares auch umdas Werk handle auf das zu Ende der Rede auf Koumlnig Helios verwiesen wird (Or in Sol reg 44 =157c Spanheim) vgl Muumlller in seiner Uumlbersetzung (39 ablehnend) und Lacombrade im Vorwortseiner Budeacute-Ausgabe (3 und 18 Anm 3) der aufgrund des Handschriftenbefundes Kronia auchals Titelbestandteil fuumlr die Caesares uumlbernimmt Es handelt sich um Sen apocol 8 1 (Claudius als Saturnalienprinz) und 12 2 (Herrschaftdes Claudius als andauerndes Saturnalienfest) ndash Dass Lukian nicht auf die Saturnalien alsRahmen fuumlr seine Werke zuruumlckgreift entwertet die Beobachtungen nicht Lukian musste auf-grund seines Selbstbewusstseins als satirischer Schriftsteller und aufgrund der Menge seinersatirischen Schriften nicht jedes Mal einen eigenen literarischen Rahmen herstellen in demeinzelne Dialoge stattfinden konnten Das Saturnalienfest selbst erscheint bei Lukian als Ge-genstand der Satire nicht als deren literarische Rahmung (Τὰ πρὸς Κρόνον) Zuerst bei Furneaux 1896 23 Anm 11 In der neueren Forschung vgl bes Nauta 1987Kritisch dazu u a Doumlpp 1993 159 f Petron 44 3 58 2 69 9 zu Horaz vgl z B serm 2 7 (libertas Decembris) Ein gelungenesBeispiel der Anpassung und Anwendung der bachtinschen Konzepte mit Ertrag fuumlr die Inter-pretation unter Einbezug von serm 2 7 bietet Sharland 2010 Distelrath 1999 114 Vgl weiterhin Versnel 1993 136ndash227 und Doumlpp 1993 Eine plastischeSchilderung der Rollenvertauschung bei der der Sklave dem Herrn die Leviten liest bietet Horserm 2 7

2 De nuptiis als literarisches Werk 149

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Herren wie Sklaven spielen also mit den Moumlglichkeiten einer alternativen Wirk-lichkeit

Das Besondere im Spiel mit den Moumlglichkeiten liegt aber in seiner zeitlichenBegrenzung Nach der Zeit des Ausnahmezustands gelten wieder die normalenimmer guumlltigen Regeln Die Rolleninversion erlaubt also ndash oder erzwingt gera-dezu ndash das Nachdenken uumlber bestimmte gesellschaftliche Normen und Wertvor-stellungen Durch die Ritualisierung und enge zeitliche Begrenzung ist darausjedoch keineswegs die Notwendigkeit entstanden die Verhaumlltnisse tatsaumlchlich zuhinterfragen oder gar zu aumlndern Daher lassen sich die Saturnalien auch als ein dieKonventionen bestaumlrkendes Fest verstehen Das Spiel mit der Moumlglichkeit eineranderen Gesellschaftsordnung hat durch seine Ritualisierung letztlich eine dieTradition legitimierende Funktion bekommen

In De nuptiis finden sich jedoch houmlchstens spaumlrliche Hinweise auf das Sa-turnalienfest Am ehesten weist das grob scherzende Agieren Saturas in diesenBereich Die bdquolangen Winternaumlchteldquo (1 2) koumlnnten (statt als Bezug auf Gellius) alsAnspielung auf das Saturnalienfest verstandenwerden ndash die Saturnalien finden inden laumlngsten Naumlchten uumlberhaupt statt seit der Kaiserzeit vom 17 bis 23 DezemberDies ndash wie die Spekulation uumlber eine spielerische etymologische Verbindung vonSatura und Saturnaliensup3⁶⁶ ndash ist aber insofern nicht von Belang da die Gattung alsGanze karnevaleske Zuumlge traumlgt und als gewissermaszligen institutionalisierter Kar-neval vom eigentlichen Fest losgeloumlst istsup3⁶⁷

Die Aufhebung der uumlblichen Ordnung (was Teuber im Ruumlckgriff auf Limina-litaumltskonzepte als praumlliminale Phase bezeichnet)sup3⁶⁸ beginnt mit der VorbereitungPhilologias zum Aufstieg in den Himmel Bereits das Erbrechen stellt eine mar-kante Umkehrung der alltaumlglichen Welt dar Statt sich Wissen anzueignen er-bricht Philologia es nun In der Goumltterversammlung auf der Milchstraszlige ist dieOrdnung sodann voumlllig verkehrt Philologia als Meisterin aller Disziplinen und

Zwar sind die einschlaumlgigen etymologischen Woumlrterbuumlcher skeptisch (v a WaldeHof-mann 2007 II 482 neutral ErnoutMeillet 2001 596) jedoch gibt es dahin gehende moderneDeutungen (aufgefuumlhrt bei WaldeHofmann 2007 II 482) und auch antike ParallelisierungenCic nat deor 2 64 Saturnus hellip est appellatus quod saturaretur annis (sbquoSaturn hellip wurde ergenannt weil er an Jahren gesaumlttigt istlsquo) Fulg myth 1 2 (p 17 16) a saturando Saturnus dictusest (sbquoDa er (die Menschen) saumlttigt wurde er Saturn genanntlsquo) Aug cons euang 1 23 35 Sa-turnus tamquam satur hellip νοῦς (sbquoSaturn gleichsam der gesaumlttigte hellip νοῦςlsquo) Vgl auch Gowers diedie etymologischen Verbindungen von satura Satyrspiel und Saturnalien untersucht (Gowers1993 109ndash 117) Sie kommt zu dem Befund dass keine Verbindung bestehe wohl aber verbin-dende Elemente identifiziert werden koumlnnten bdquocarnival licence parody uninhibited mockeryand excessive consumptionldquo (ibid 117) Vgl z B Teuber 1993 183 f Teuber 1993 183

150 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

bedeutende Lehrinstanz muss sich ihrerseits belehren lassen ndash mit dem Wissendas urspruumlnglich ihres war

Durch die Inversion wird die (vielleicht uumlblicherweise nicht prominente)Philologia in den Mittelpunkt geruumlckt und ihre zentrale Rolle im Wissenssystemtritt markant vor Augen Gleichzeitig kann darin eine leise Anfrage an ihre Lehr-autoritaumlt und eventuell auch ihre Eignung zur Lehre gesehen werden

Aufgrund des zeitlich begrenzten Rahmens der Verkehrung (diemit dem Endeder Vortraumlge voruumlber ist aber nicht explizit zuruumlckverwandelt wird) dessen Be-grenztheit durch Bezug auf die Form der menippeischen Satire ergaumlnzt werdenkann wird das System der Bildung und der Bildungsvermittlung jedoch nichtgrundsaumltzlich infrage gestellt Die Suspendierung Philologias ist temporaumlr

Dem Konzept der Dialogizitaumlt oder Mehrstimmigkeit folgend erklaumlrt sich auchdie Doppelung und Verunklarung der Erzaumlhlinstanz In den drei Dialogen indenen Satura und Martianus aufeinandertreffen behandeln sie die Frage desrichtigen Erzaumlhlens Dies beschraumlnkt sich nicht nur auf die Satire sondern umfasstalle auftretenden literarischen Formen Martianus und Satura sind sich uneinswie weit der Mythos reichen soll und ob eine Enzyklopaumldie trocken oder auchunterhaltsam erzaumlhlt werden soll (2 219ndash3 222) ob ein Symposion auch Zechenund Spaszlig vertraumlgt (8 803ndash810) oder ob und wie stark Satire Dinge vermischendarf (9 997ndash 1000)

Die unterschiedlichen Meinungen zu den Fragen werden zwar diskutiert undfuumlhren zu einem Ergebnis ndash der Erzaumlhlfluss versiegt ja an keiner Stelle oder setztneu an Allerdings entsteht in der Folge kein homogenes Werk und am Schlussmag keiner der beiden Erzaumlhler dafuumlr die Verantwortung uumlbernehmen Der Wi-derwillen sich zu dem Werk zu bekennen bedeutet aber gleichzeitig auch dassMartianus sich nicht festlegt welche Position er fuumlr die richtige haumllt Die Fragenach der rechten Art der Wissensvermittlung die auch in der Ent- und Inthroni-sierung Philologias anklang bleibt unbeantwortet

Schlieszliglich bringt der Blick auf die Aurelian-Vita aus der Historia Augustanoch einen weiteren Aspekt ein Parallel zur Aufteilung der Erzaumlhlinstanzen in Denuptiiswird der Erzaumlhlprozess in derHistoria Augusta aufmehrere AutorenverteiltWie zuerst Hermann Dessau und in der Folge Ronald Syme nachdruumlcklich gezeigthaben handelt es sich allerdings um nur einen Verfasser der uumlberdies auch inBezug auf die Abfassungszeit falsche Angaben gemacht hat und Quellen erfundenhatsup3⁶⁹ Insofern laumlsst sich der in der Historia Augusta gepraumlgte Begriff der

Auf den Charakter der Sammlung die Syme u a als bdquohoaxldquo bezeichnet (1983a 11 1983b13 1983c 219) die fingierten Autoren die manipulierten Quellen etc soll an dieser Stelle nurhingewiesen werden Vgl auch Cameron 2011 Kap 20 mit ausfuumlhrlicher Diskussion relevanterFragen

2 De nuptiis als literarisches Werk 151

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mythistoria der Vermischung von Mythischem und Historischem auch auf dieSammlung selbst anwendensup3⁷⁰

Als Menippee im engeren Sinne laumlsst sich weiterhin die Aurelian-Vita die 26Vita der Sammlung fassen und bezeichnenderweise spielt die Rahmenhandlungan denHilariasup3⁷sup1Wie zu den Saturnalien gehoumlren zu diesem Fest Scherze und ndash imRahmen von Maskierungen ndash Rollenwechselsup3⁷sup2

Noch in der rahmenden Einleitung zur Vita spielt sich folgender Dialog ab

1 et quoniam sermo nobis de Trebltellgtio Pollione qui a duobus Philippis usque ad divumClaudium et eius fratrem Quintillum imperatores tam claros quam obscuros memoriaeprodidit in eodem vehiculo fuit adserente Tiberiano quod Pollio multa incuriose multabreviter prodidisset me contra dicente neminem scriptorum quantum ad historiam pertinetnon aliquid esse mentitum prodente quin etiam in quo Livius in quo Sallustius in quoCornelius Tacitus in quo denique Trogus manifestis testibus convincerentur pedibus insententiam transitum faciens ac manum porrigens iocando[m] praeterea sbquoscribelsquo inquit sbquout

quae ille [scil Iunius Cordus] omnia exsequendo libros mythistoriis replevit talia scribendocum omnino rerum vilium aut nulla scribenda sint aut nimis pauca si tamen ex his morespossint animadverti qui re vera sciendi sunt hellip sed ex parte ut ex ea cetera colligantur(SHA Opil 1 5)

Bei der Anfuumlhrung von all diesen Informationen hat er die Buumlcher mit fabuloumlsen Ge-schichten angefuumlllt indem er Dinge von dieser Art schrieb wo doch uumlberhaupt keinenutzlosen Dinge geschrieben werden duumlrfen oder nur sehr wenige sofern daraus Verhal-tensweisen erkannt werden koumlnnen die wirklich wissenswert sind hellip aber zum Teil(schreibe ich) damit daraus das Andere gefolgert werden kann

quid Marius Maximus homo omnium verbosissimus qui et mythist[h]oricis se voluminibusinplicavit num ad istam descriptionem curamque descendit (SHA Quadr tyr 1 2)

Wie Hat sich Marius Maximus der groumlszligte Schwaumltzer vor dem Herrn der sich in seinenmythistorischen Werken verfangen hat etwa zu dieser Art der Darstellung und des sorg-faumlltigen Arbeitens herabgelassen

Hilaribus quibus omnia festa et fieri debere scimus et dici impletis sollemnibus vehiculo suome hellip Iunius Tiberianus accepit (SHA Aurelian 1 1)

An den Hilaria an denen alles zum Fest Gehoumlrende getan und gesagt werden muss wieman weiszlig empfing mich nach Erledigung der Zeremonien Iunius Tiberianus in seinemGefaumlhrt

Pausch bemerkt dieses besondere Datum zwar und erwaumlgt ob es sich um ein bdquoweitergehendesLesesignalldquo beispielsweise im Sinne karnevalesker Literatur handeln koumlnne verfolgt diese Spuraber nicht weiter (Pausch 2011 130 Anm 1) Herodian 1 10 5 ndash Einige Hinweise auf die Hilaria die im Kontext des Magna Mater-Festesam 25 Maumlrz gefeiert wurden bietet Fraser in seinem Kommentar zu Ovids Fasti (Fraser 1929244ndash248)

152 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

libet 2 securus quod velis dices habiturus mendaciorum comites quos historicae elo-quentiae miramur auctoreslsquo (SHA Aurelian 2 1ndash2)

1 Und weil unser Gespraumlch uumlber Trebellius Pollio der von den beiden Philippi bis zumvergoumlttlichten Claudius und dessen Bruder Quintillus gleichermaszligen uumlber beruumlhmte wieunbekannte Kaiser fuumlr die Nachwelt schrieb in derselben Saumlnfte stattfand behauptete erdass Pollio vieles ohne Sorgfalt und nur kurz dargelegt habe Ich erwiderte dass keinSchriftsteller sofern es um die Geschichte gehe nicht irgendwo gelogen habe und legtesodann dar worin sogar Livius Sallust Tacitus schlieszliglich sogar Trogus mit eindeutigenBelegen uumlberfuumlhrt werden koumlnnten Darauf sagte Tiberianus schlieszliglich scherzend indem ermeiner Meinung beipflichtete und mir seine Hand darbot bdquoSchreibe sowie du es fuumlr richtighaumlltst 2 Sage unbesorgt was du willst du wirst diejenigen als Gefaumlhrten fuumlr deine Taumlu-schungen haben die wir als Schoumlpfer historiographischer Beredsamkeit bewundernldquo

So sympathisch dieser Anspruch auch erscheinen mag ist er doch fuumlr das Ver-trauen in die Gattung der Geschichtsschreibung fatal Gerade in der Einleitungeiner Vita jedoch ndash zumal es der Fiktion nach die erste des Flavius Vopiscus Sy-racusius im Corpus der Historia Augusta ist ndash kann eine solche Anekdote ei-gentlich keinen Platz haben Sie erweckt beim Leser den Eindruck dass er dennachfolgend dargebotenen Informationen kein Vertrauen schenken duumlrfesup3⁷sup3

Die Parallelen zwischen der Historia Augusta insbesondere dem Vorgehen inder Vita Aureliani und De nuptiis liegen auf der Hand Verunklarung der Autor-schaft bzw der Erzaumlhlhaltung einerseits Erwecken von Zweifeln an der Glaub-wuumlrdigkeit des Dargebotenen andererseits

In der Historia Augusta sind die Inkongruenzen mit der Freude des Autors amliterarischen Spiel erklaumlrt worden Der Autor habe aus Freude am Fabulieren(vielleicht auchumein dafuumlr empfaumlngliches Publikum zu befriedigen) die Viten indieser Form verfasstsup3⁷⁴ Mag man dies fuumlr die Historia Augusta noch zugestehenderen Text uumlber einen laumlngeren Zeitraum vielleicht zunaumlchst ohne eine Gesamt-konzeption entstanden ist und auch sprachlich nicht herausragt stellt sich derSachverhalt fuumlr Martianusrsquo De nuptiis anders dar Das Werk hat durchaus einenliterarischen Anspruch und es folgt eindeutig einer vorab geplanten Gesamtan-lage Die Freude am Spiel mag vielleicht manches Detail beigesteuert haben fuumlrdie verschraumlnkte Anlage des Textes ist sie aber keine Erklaumlrung

Ganz anders ist der Anspruch zum Ende der Darstellung der Viten der bdquoDreiszligig Tyrannenldquoin dem der Autor beteuert seinem Werk mangele es zwar an literarischer Ausgefeiltheit nichtjedoch an Faktentreue da nunc cuivis libellum non tam diserte quam fideliter scriptum ndash sbquoGibnun dieses Buumlchleinwem du magst es ist nicht so sehr kunstvoll geschrieben wie es sachgetreuistlsquo (SHA Quadr tyr 33 8) Syme nennt dies bdquodeceit for its own sweet sakeldquo (1983c 217) Im gleichen Aufsatz spe-kuliert er auch uumlber das Interesse des Publikums an einer solchen Art von geistigem Spiel(ibid 221)

2 De nuptiis als literarisches Werk 153

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Es lohnt sich jedoch auch fuumlr die Historia Augusta einen Schritt weiter zugehen Ausgangspunkt dafuumlr ist die obige Beobachtungdass das literarische Spielder Historia Augusta nur durchschaut wer die Werke der historischen Literaturkennt Durch die Lektuumlre historiographischer Biographien bringt der Leser einebestimmte Leseerwartung also implizite Vorstellungen mit wie das Werk aus-sehen soll und wird Diese Erwartungen werden aber nicht oder nur teilweisebedient Formal gesehen weisen die Viten in der Historia Augusta zwar die Cha-rakteristika der Gattung auf ndash doch indem sie sie inhaltlich nicht adaumlquat aus-fuumlllen treten deren Konventionen vor Augen

Durch die uumlbermaumlszligige Verwendung falscher Verweise und erfundener Quel-len geraumlt zudem das Beglaubigungsverfahren historischer Texte in den Blick-punkt Der Leser erkennt anwelchen Stellenwelche Beglaubigungsmechanismenansetzen und auf welche Weise sie unterlaufen werden koumlnnen Uumlberspitzt lieszligesich behaupten DieHistoria Augusta verfolgt ein aufklaumlrerisches Interesse indemsie (spielerisch) aufzeigt welche Beglaubigungsverfahren die Geschichtsschrei-bung nutzt und wie sie manipuliert werden koumlnnen dadurch wird auch die Ma-nipulierbarkeit von Geschichte und Leser deutlich

In De nuptiis werden ebenfalls die Konventionen der Einzelgattungen ndash zu-mindest ansatzweise ndash hervorgehoben Dass kein perfektes Musterbeispiel derjeweiligen Einzelgattung entstehen kann liegt darin begruumlndet dass durch dieVerbindung der vier literarischen Genres keine oberflaumlchliche Konsistenz derFiktion entstehen kannVielmehr entstehen Bruumlche die ndash ebenso wie die Bruumlchein der Erzaumlhlhaltung ndash auch die Gattungskonventionen und ihre Annahmendeutlich werden lassen Dies gilt besonders fuumlr die Satire deren Vorgehen imKontrast zur eigentlichen Hochzeitshandlung aus dem Rahmen faumlllt und somitbesonderes Augenmerk erhaumllt Hinzu tritt mit der Figur Satura auch eine Perso-nifikation der Gattung die in theoretischen Diskussionen Annahmen und Vor-gehen mit Martianus eroumlrtert Grunduumlberlegungen der Gattung Satire werden sotheoretisch eroumlrtert und praktisch erprobt Gleiches giltwenn auch zT inwenigerdeutlicher Form auch fuumlr die anderen Formen Die Enzyklopaumldie in ihren langenMonologen wird durch Spott markiert die trockenen Kuumlnste werden probeweisedurch Allegorien zugaumlnglicher gemacht im Symposiondialog wird uumlberlegt in-wieweit uumlbliche Rollenmuster (der Zecher) einen Platz haben oder wie weit mandie fuumlr die Feier typischen Reden fuumlhren kann und immythischen Teil wird durchdie Gegenuumlberstellung mit dem handfesten Wissensbetrieb die Andersartigkeitdes Erzaumlhlens deutlich

So werden neben den Inhalten der Wissenschaften auch verschiedene lite-rarische Formen bewahrt Neben der reinen Anwendung und somit Tradierungwerden gleichzeitig auch die Mechanismen verdeutlicht deren sich die jeweilige

154 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Gattung bedient Somit wird ihr Funktionieren nachvollziehbar und in der Folgeauch nachahmbar

3 Zusammenfassung

Martianus weckt also durch die Wahl mehrerer gleichberechtigter Erzaumlhler diesomit das Erzaumlhlen unzuverlaumlssig werden lassen besonders aber durch dieUumlbernahme satirischer Gattungselemente ein Bewusstsein fuumlr die traditionellenGrundlagen desWissens- und Lehrsystems seiner Zeit ImGegensatz zur Satire diediese Fragen kategorisch stellt handelt es sich in De nuptiis um ein Spiel damitDer Satirebezug dient als Anknuumlpfung an die traditionellen Gattungsmerkmaleder menippeischen Satire Karnevaleske und Dialogizitaumlt

Durch die (temporaumlre) Rolleninversion richtet sich das Augenmerk aufPhilologia als Wissenszentrum und Wissensmittlerin und fordert zum Nach-denken daruumlber heraus Im Kern hinterfragt das Werk alle Bereiche die mit Bil-dung und Bildungsvermittlung zu tun haben Was sind die Inhalte wahrer Bil-dung Gibt es eine Einheit von Bildung Wie kann sie vermittelt werden

Allerdings zielt die Kritik nicht auf eine Aufloumlsung klassischer Bildungsinhalteund Vermittlungsformen Sie regt vielmehr durch Scherz und Bruumlche zumNachdenken uumlber diese Fragen an Dabei verzichtet Martianus auf eigene Vor-schlaumlge und Konzepte und festigt so gleichsam den traditionellen Bildungs-betrieb Das von ihm dargestellte Wissen wird kanonisiert und die Darstel-lungsform in langen Reden wird es auch Die mittelalterliche Rezeption von Denuptiis zeigt dies eindrucksvoll

Wissen umfasst dabei nicht nur das Faktenwissen der Vortraumlge sondern auchdas Wissen um bestimmte literarische Formen Durch die Verbindung von vierGattungen und die Doppelung der Erzaumlhlerfigur mit Reflexion uumlber angemessenesErzaumlhlen entstehen Inkonsistenzen die die Konventionen der einzelnen Gattun-gen hervortreten lassen Nicht alle Elementewerden auf dieseWeise deutlich aberMartianus bietet einen Ansatzpunkt die Fiktion auch unter der Fragestellung zulesen was einen Text der jeweiligen Gattung ausmacht ndash sowohl positiv wie ne-gativ formuliert

Mit seiner kreativen Konzeption und ihrer literarischen Umsetzung gelingt esMartianus eindrucksvoll Heiteres und Belehrendes zu verbindenwomit er an dieTradition Varros und die klassische antike Poetik anknuumlpft Es gelingt ihm daruumlberhinaus aber auchWissen zu vermitteln und die traditionellen Vorstellungen vonder Bedeutung dieses Wissens wie der Form seiner Vermittlung herauszustellenSpielerisch wird also gelehrt und hinterfragt nicht jedoch kategorisch kritisiertoder kuumlhn neu entworfen Gerade dadurch zeichnet sich Martianusrsquo De nuptiis

3 Zusammenfassung 155

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

tatsaumlchlich als nescioquid inopinum intactumque (sbquoetwas Ungewohntes und nochnie Gewagteslsquo 1 2) aus und macht es zu einem der bedeutendsten Buumlcher derSpaumltantike und zu einer interessanten Quelle fuumlr die Frage nach Bildungsvor-stellungen im fuumlnften Jahrhundert

156 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Page 24: Bildungsvorstellungen im 5. Jahrhundert n. Chr. (Macrobius, Martianus Capella und Sidonius Apollinaris) || III Martianus Capella, De nuptiis Philologiae et Mercurii

Bezuumlge auszligerhalb der Uumlbernahme uumlblicher Gattungselemente lassen sich fuumlrSenecas Apocolocyntosis Petrons Satyricon oder Julians Caesares nicht konsta-tierensup3sup3sup1

Die Figur der Satura und ihr Handeln ndash Einer der deutlichsten Hinweise auf dieForm der Satire liegt im Auftreten einer Figur namens Satura Diese Figur wirdzunaumlchst von Martianus als Erzaumlhlinstanz eingefuumlhrt (1 2) von der er den Inhaltvon De nuptiis erfahren haben will Im Laufe des Werks gewinnt Satura aber anProfil und agiert zunehmend autonom

Aussagen uumlber Satura beruhen letztlich auf drei Stellen in De nuptiis (6 576ndash5798 806ndash8109997ndash999) und koumlnnen fast ausschlieszliglich aus der Formund derBotschaft ihrer eigenen Aumluszligerungen gewonnen werden An allen drei Stellendiskutiert Satura mit Martianus Ansonsten ist Satura zwar als praumlsent zu denkenwird aber nicht weiter thematisiert

Nach Martianusrsquo Anrufung Minervas zu Beginn des sechsten Buches mischtsich Satura in seine Uumlberlegungen ein welche Frauen er vor sich sehe Die Ein-mischung wird von Martianus als scherzend bezeichnet (iocabunda 6 576) dieEinmischung an sich als typisch fuumlr das Scherzen Saturas (ut lepidula est 6 576)Die Aumluszligerung Saturas beginnt mit Spott uumlber Martianusrsquo nur scheinbare KlugheitDurch falsche naumlchtliche Studien und besonders seine Anwaltstaumltigkeit habe erden Blick auf das Wichtige verloren und erkenne nun nicht einmal mehr Philo-sophia und Paideia Der Scherz wird jedoch alsbald von einem belehrendenTonfall abgeloumlst in dem Satura Martianus uumlber das Wesen der beiden Frauenaufklaumlrt

Satura tritt als Naumlchstes zu Beginn des achten Buches auf in der Folge derSilen-Szene Der angetrunkene Silen war eingeschlafen und durch Amor aufge-schreckt worden was die uumlbrigen Goumltter laut lachen lieszlig (8 803ndash805) DieseSchilderung provoziert bei SaturaWiderspruch da sie das Erzaumlhlte als unpassendfuumlr die Goumltterversammlung empfindet Ihre Kritik beginnt wieder bei der Persondes Martianus dessen Namen sie als passend zu seinem Wesen deutet (Capella ~sbquoZiegelsquo 8 806) Sodann fordert sie Martianus auf seine Possen zu unterlassenMartianus fuumlhlt sich gehoumlrig von Satura gemaszligregelt und gibt klein bei bemerktaber dass sie ansonsten mehr von Scherzen halte (alioquin lepidula 8 807) AlsSatura dann die Einfuumlhrungder eintretenden Brautjungfer in Versenvorbringt undMartianus wiederum seine Scherze (ludicra 8 808) vorhaumllt kann dieser nicht

Mit Julian verbindet Martianus immerhin die Ansiedlung der Goumltterversammlung auf derMilchstraszlige ndash Zur Rolle der Saturnalien vgl den Abschnitt bdquoDeutungen der komplexen litera-rischen Formldquo

2 De nuptiis als literarisches Werk 137

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mehr an sich halten und zahlt Satura ihre Kritik in gleicher Muumlnze heim Nacheinigem Spott uumlber Saturas Verse verteidigt nun Martianus das Recht auf Scherzgegen sie die an sich ndash nicht aber in De nuptiiswie es scheint ndash eigentlich fuumlr denScherz zustaumlndig waumlre und gibt ihr mit Martial (2 41 1) den Rat auch einmal zulachensup3sup3sup2

Ein letzter Schlagabtausch von Satura und Martianus erfolgt schlieszliglich amEnde des Werkes Wiederum streiten beide Figuren miteinander und halten sichmit Spott uumlber das Wesen des anderen nicht zuruumlck

Die Einfuumlhrung Saturas die ja nur in Verbindung ndash und das heiszligt Ausein-andersetzung ndash mit Martianus erscheint dient vornehmlich der deutlichenBenennung der Gattung und der Verstaumlndigung daruumlberwas den Charakter einessatirischen bzw des vorliegenden Werkes ausmache Erstaunlich ist dabei Mar-tianusrsquo Entwicklung der sich zunaumlchst gegen Unterhaltung im artes-Teil ausge-sprochen hatte diese spaumlter aber gegen den censorischen Eingriff Saturas imachten Buch verteidigt Noch erstaunlicher ist aber dass es gerade Satura ist diezur Beachtung des Decorums auffordert und Martianusrsquo vergleichsweise mildenScherz scharf tadelt

Erzaumlhlinstanzen ndash Die Frage nach der Erzaumlhlsituation bzw der Erzaumlhlerfigurgehoumlrt zu den grundlegenden Analysekriterien eines literarischenWerkes ebensowie die Konzipierung von Raumund Zeit Lassen sich die letzten beiden Punkte imHinblick auf De nuptiis hinreichend klaumlrensup3sup3sup3 so bietet die Erzaumlhlerfigur groumlszligereSchwierigkeiten

DassDe nuptiis zwei Erzaumlhlinstanzen hat scheint zu Beginn desWerkeswenigdramatisch In 1 2 verweist der Erzaumlhler Martianus gegenuumlber seinem Sohn dar-auf dass die folgende Geschichte (also der uumlberwiegende Teil von De nuptiis) ihm

Ride si sapis o puella ride Schievenin bietet eine gruumlndliche Analyse dieser Stelle auchmit Blick auf die inverse Vorlage Martials (plora si sapis o puella plora Mart 2 41) derwiederum auf Ovid (Ov ars 3 281 f) zuruumlckgreift (Schievenin 1984 bes 136 ausfuumlhrlich auchBovey 2003 275ndash288) Die Rahmenhandlung spielt in der erzaumlhlerischen Gegenwart und in einem unbestimmtenRaum der jedoch nicht auszligergewoumlhnlich ist es liegt nahe an Karthago und das Haus desMartianus Capella zu denken Die eigentliche Handlung spielt an z T unwirklichen Orten aufder Erde die zumeist nicht naumlher bestimmt sind (z B Philologias Herkunft) und auf derMilchstraszlige wobei die absolute Zeit nicht genannt wird aber aufeinanderfolgende Tage inihrem Ablauf erkannt werden koumlnnen Die Phantastik einzelner Szenen die meist auf alle-gorische Darstellungsweisen zuruumlckgeht verletzt jedoch nicht die raumlumliche oder zeitlichePlausibilitaumlt des Dargestellten Vgl dazu auch die Ausfuumlhrungen und grafischen Veranschau-lichungen LeMoines (1972a)

138 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

waumlhrend langer Winternaumlchte (eine Anspielung auf Gellius)sup3sup3⁴ von Satura be-richtet wurde Der antike wie moderne Leser duumlrfte sich wohl kaum daran stoszligensondernwird darin vor allem eine Inspiration des Autors durch Satura (auchwennes das zuvor noch nicht gab) erkennen Bei der Erwaumlhnung von Satura koumlnnte erHeiteres erwarten oder bunt gemischte Geschichten

Vollkommen verwirrt wird der Leser hingegen spaumltestens dann wenn er amEnde des Werkes in der Sphragis angekommen ist (9 997ndash 1000) Dort reflektiertMartianus sein literarisches Vorgehen in den vorausgegangenen neun Buumlcherngenauer gesagt distanziert er sich von der Form der Darstellung (Umfang Bunt-heit) und verweist auf die Verantwortung Saturas die die Geschichte erzaumlhlt habe

Habes anilem Martiane fabulam 997Miscillo lusit quam lucernis flamineSatura Pelasgos dum docere nititurArtes daggercagris vix amicas AtticisSic in novena decidit voluminahaec quippe loquax docta doctis aggerans 998fandis tacenda farcinat immiscuitMusas deosque disciplinas cyclicasgarrire agresti cruda finxit plasmate (9 997 f)

Da hast du Martianus eine Altweibergeschichte sie verfertigte im Spiel mit vermischterInspiration [d h in Prosa und Vers] bei Kerzenschein Saturawaumlhrend sie sich bemuumlhte diePelasger zu lehren die Kuumlnste die den Griechen kaum freundlich [d h neu] sindSo gelangte sie hinab bis zum neunten Buch haumluft plappernd Gelehrtes auf Gelehrtes undstopft geheimes und bekanntes Wissen zusammen hat Musen und Goumltter vermischt und hatsich erdacht dass die enzyklopaumldischen Disziplinen in einembaumlurischenMachwerk unreifesZeug daherplappern

So ungewoumlhnlich dieses Vorgehen auch ist ndash Martianus haumltte ja den Bericht Sa-turas als Grundlage nehmen und dann nach eigenem Geschmack umgestaltenkoumlnnen ndash wird es uumlbertroffen durch die Verteidigung Saturas Sie weist die Ver-antwortung fuumlr die Art der Erzaumlhlung von sich und verteidigt sichmit demHinweisauf Martianusrsquo intellektuelle Schwaumlche der sie die Ausfuumlhrungen habe anpassenmuumlssen

Vgl Gell praef 4 zur Erklaumlrung der Wahl des Titels Noctes Atticae fuumlr sein Werk

Sed quoniam longinquis per hiemem noctibus in agro sicuti dixi terrae Atticae commentationeshasce ludere ac facere exorsi sumus idcirco eas inscripsimus noctium esse Atticarum hellip

Aber weil wir in langen Naumlchten den Winter uumlber in Attika auf dem Landwie schon gesagtdiese Anmerkungen im Spiel und dann ernsthaft begonnen haben daher haben wir ihnenden Namen Attische Naumlchte gegeben hellip

2 De nuptiis als literarisches Werk 139

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

haec ipsa nauci rupta conscientia 999turgensque felle ac bili bdquomulta chlamydeprodire doctis approbanda cultibuspossemque comis utque e Martis curia[hellip]ab hoc creatum Pegaseum gurgitem 1000decente quando possem haurire poculoldquo (9 999 f)

Sie sagte aufgrund ihres Wissens um die Nichtigkeit (dieser Ausfuumlhrungen) verletztschwellend vor Bitterkeit und Zorn bdquoIch koumlnnte hier freundlich auftreten mit einem Gewandbekleidet lobenswert durchgelehrtes Verhaltenwie aus der VersammlungdesMars [Es folgtdie Schilderung der unguumlnstigen Anlagen von Martianus] ndash Wann koumlnnte ich mit ange-messenem Becher aus einem pegasischen Strom von ihm erschaffen schoumlpfenldquo

Somit hat das Werk das zu Beginn zwei hierarchisch geschiedene Erzaumlhler zuhaben scheint am Ende zwei Erzaumlhler die sich gleichberechtigt uumlber die Form dererzaumlhlten Geschichte streitensup3sup3⁵

Die Inkonsistenzen auf der Erzaumlhlebene setzen sich daruumlber hinaus fort HatteMartianus zu Beginn des Werks gesagt Satura habe ihm die Geschichte waumlhrendlangerWinternaumlchte erzaumlhlt so treten Satura undMartianus amEnde desWerks inder erzaumlhlerischen Gegenwart gemeinsam auf und sprechen beide nacheinanderzu Martianusrsquo Sohn

Weiterhin erscheinen Satura und Martianus innerhalb der Geschichte dieMartianus angeblichvon Satura gehoumlrt hatWaumlhrend die Goumltter denverschiedenenBrautjungfern lauschenwohnen auch SaturaundMartianus der Versammlungbeiund betrachten sie als unbeteiligte ZuschauerWie aus einer Theaterloge herauskommentieren und diskutieren sie das Geschehen das auf der bdquoGoumltterbuumlhneldquostattfindetsup3sup3⁶

Noch einen weitergehenden Schritt stellt die Silen-Szene zu Beginn des achtenBuches dar Im Anschluss an diese Szene beschwert sich Satura bei Martianus erkoumlnne die Goumltter nicht auf dieseWeise agieren lassen In der Folge entspinnt sich einGespraumlch in demMartianus seine Art des Erzaumlhlens gegen Satura verteidigt die fuumlreine zuruumlckhaltendere Darstellung plaumldiert (s o)Von der Fiktion dass Martianusseinem Sohn bloszligwiedergibtwas Satura ihm erzaumlhlt hat bleibt nichtmehr viel dieganze Szenerie ist ein Produkt der ErfindungdesMartianus gleichzeitigwohnt er ihraber gemeinsam mit Satura bei ist also Teil der Handlung

So bereits Pabst 1994 120 Anm 119 der allerdings auf eine Diskussion der Beobachtungverzichtet Es handelt sich um die Stellen zu Beginn des sechsten und des achten Buches die imvorigen Abschnitt bereits paraphrasiert wurden

140 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Diese Art der Spiels mit der Erzaumlhlerrolle wird von manchen modernen For-schern als ein wichtiges Merkmal der menippeischen Satire angesehen Hinzu-treten kann die Selbstherabsetzung des Erzaumlhlers die sich an seinemmangelndenWissen Stilbewusstsein Traditionsempfinden o auml entzuumlndetsup3sup3⁷ Folglich kanndie zunaumlchst befremdliche Brechung und Verzerrung als weiteres Merkmal derGattung menippeische Satire bestimmt werden

Aufgrund dieser Beobachtungen ist es zwingend in De nuptiis vor allem eineSatire zu sehen Auch der heiter-spoumlttische Charakter einiger Passagen zwischenden Vortraumlgen der Brautjungfern passt zum satirischen Anspruch Gelegentlicherscheint es jedoch fraglich ob es sich wirklich um satirische und nicht eher umkomische oder derbe Spaumlszlige handelt Die Szene in der Silen betrunken einschlaumlftund von den anderen Goumlttern verspottet wird (8 803ndash805) erinnert mit ihremSlapstick eher an den derben Spott der Komoumldie als an die Satire eines Varrosup3sup3⁸

22 Deutungen der komplexen literarischen Form

Wie laumlsst sich das Werk De nuptiis nun also formal beschreiben oder andersgefasstWie lassen sich die vier literarischen Traditionsstraumlnge zusammenfuumlhrenDass eine einheitliche Lesung zumindest versucht werden muss zeigt bereits dasLeitmotiv der Hochzeit ansup3sup3⁹

Im Kern handelt es sich bei MartianusrsquoWerk um eine Sammlung bedeutenderWissensschaumltze in einem einzigen Werk die darin systematisch ausgebreitetwerden Dies zeigt die Einteilung in verschiedene Disziplinen die ein ver-

Zur Erzaumlhlerrolle in der menippeischen Satire vgl u a Relihan 1993 und darin bes S 35 Mit der Aufnahme unterhaltsamer Elemente ginge Martianus sogar noch uumlber dieErwartungen an ein sbquosatirischeslsquo Werk hinaus Auch Boethius wird bescheinigt er erzaumlhle seineConsolatio bdquoper satiramldquo auch wenn bei ihm weder eine Figur Satura auftritt noch allzu vielHeiterkeit herrscht (Peiper zitiert in der Einleitung zu seiner Ausgabe S xxxi eine mittelalter-liche Boethius-Vita vgl Kindermann 1969 61)

hos libros [scil de consolatione Philosophiae] per satiram edidit imitatus videlicet mar-cianum felicem capellam qui prius libros De nuptiis philologiae et mercurii eadem speciepoematis conscripserathellip

Diese Buumlcher schrieb er als Satire freilich in Nachahmung des Marcianus Felix Capellader zuvor die Buumlcher uumlber die Hochzeit der Philologie mit Merkur in der gleichen Art vonGedicht verfasst hatte

Zum Motiv der Hochzeit das bereits programmatisch im eroumlffnenden Hymnus anHymenaeus erscheint vgl Schievenin 2009c und Cristante in der Einleitung seiner Ausgabe1987 3ndash 10

2 De nuptiis als literarisches Werk 141

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

gleichsweise leichtes Auffinden der Informationen erlaubtsup3⁴⁰ die Bedeutung wirdangesichts der Praumlsentation vor den Goumlttern auf der Milchstraszlige deutlich Alleinder Umfang dieser Vortraumlge die in sich auch nicht gestoumlrt oder gebrochenwerdenmarkiert dass es sich hier um das zentrale Charakteristikum des Werkes handelt

Den erzaumlhlerischen Anlass fuumlr diese Praumlsentation bietet eine Hochzeitsfeieralso ein Symposion hier ist die Gelegenheit fuumlr die groszligen Redebeitraumlge gegebenZudem bietet die SymposionformAnknuumlpfungspunkte fuumlr eine Rahmenhandlungdie zur Auflockerung der ebenso ausfuumlhrlichenwie trockenen Einzelreden genutztwird

Doch bleibt es ndash im Gegensatz z B zu Macrobius ndash nicht bei der bloszligenDarstellung der Wissensinhalte Hinzu tritt die allegorische Darstellung der Be-deutung von Wissen und von Fleiszlig beim Wissenserwerb in den ersten beidenBuumlchern Die praumlsentierten Inhalte der Buumlcher 3ndash9 (die Philologia ja bereits aufder Erde in Buch 2 besitzt) sindwichtig Sie sind nicht nur wichtig fuumlr das irdischeLeben (das wird nicht weiter thematisiert die explizit irdischen Wissenschaftenwie Architektur und Medizin werden sogar ausgeschlossen) ndash die Inhalte sindauch wichtig fuumlr die menschliche Vervollkommnung

Durch das angesammelte Wissen erreicht der Mensch zwar nicht die voll-kommene Erkenntnis (die erhaumllt auch Philologia nur ohne eigenes Zutun als sieauf der houmlchsten Himmelssphaumlre angekommen zum Vatergott in der jenseitigenGluumlckseligkeit betet) wohl aber ein goumlttergleiches Wissensup3⁴sup1 Der Wissenserwerbist gewissermaszligen die Voraussetzung dafuumlr dass der Mensch mit Hilfe einesgoumlttlichen Begleiters in den Himmel aufsteigen kann unsterblich wird und voll-kommene Einsicht erlangt

Die so weit kohaumlrente Verbindung der literarischen Traditionen laumlsst aller-dings den explizit satirischen Anspruch von De nuptiis auszliger Betracht durch denMartianus selbst das Werk primaumlr in die Gattung der Satire einordnet waumlhrendvergleichbare Bezuumlge zu anderen Gattungen fehlen Natuumlrlich lieszlige sich dieserprogrammatische Anspruch mit einem Verweis auf die Verwendung des Begriffszur Bezeichnung einer inhaltlich wie literarisch gemischten Form erklaumlren Dochgreift diese Erklaumlrung zu kurz da das Agieren Saturas die literarischen Passagendes Werks beinahe als Travestie erscheinen laumlsst (vgl oben zur Erzaumlhlerfigur) Einbildend-enzyklopaumldisches Werk kann sich allerdings nicht gefahrlos als Satire

So auch Englisch 1994 56 Die bdquoSystematik bei der Praumlsentationldquo erlaube einen leichtenZugriff auf die Informationen Mart Cap 2 201ndash205

142 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

praumlsentieren ohne Zweifel an der Glaubwuumlrdigkeit und Zuverlaumlssigkeit desWerkes und der praumlsentierten Inhalte zu weckensup3⁴sup2

Wenn Martianus auch die Konventionen der Gattung menippeische Satireaufnimmt und sein Werk also nur folgerichtig unter anderem eine unzuverlaumlssigeErzaumlhlsituation aufweist ist dies noch keine Erklaumlrung an sich Die regelkonformeUmsetzung gattungstypischer Anspruumlche erklaumlrt noch nicht die Wahl der Gattungan sich ndash einer Gattung die trotz ihrer Benennung als solche nicht zu denStandardformen und akzeptierten Gattungen zaumlhlte insbesondere nicht fuumlrLehrwerkesup3⁴sup3

Auch Martianusrsquo Verweis auf etwas bislang noch nicht Unternommenes(nescioquid inopinum intactumque 1 2) vermag den Widerspruch nicht zu loumlsenDie Wendung zeigt zwar dass Martianus die Ungewoumlhnlichkeit seines Ansatzesbewusst war (sofern sich die Phrase uumlberhaupt auf die Komposition des Werkesbezieht)sup3⁴⁴ beseitigt aber nicht das interpretatorische Problem ZuwelchemZweckverbindet Martianus also zwei so widerspruumlchliche Gattungen wie Enzyklopaumldieund Satiresup3⁴⁵

Drei Antwortansaumltze lassen sich grob umreiszligen 1 Die Verbindung ist nuraumluszligerlich bzw oberflaumlchlich 2 durch die Verbindung soll ein bestimmter Aspektparodiert und somit Spott und Kritik ausgesetzt werden 3 die Verbindung erfuumlllt

Dieses Problem hat bereits Westra in seinem Aufsatz bdquoThe juxtaposition of the ridiculousand the sublime in Martianus Capellaldquo benannt (Westra 1981) Allerdings beschraumlnkt sich auchdieser Aufsatz auf die Darstellung des Problems und die Zusammenstellung der Belege EineLoumlsung hat Westra nicht anzubieten ndash sein Aufsatz endet mit der eher apologetischen Bemer-kung das Eingestaumlndnis der Unvereinbarkeit von Satire und Lehrwerk durch Martianus in 9 997sei prima facie ein Spiel dahinter stecke jedoch die Absicht Problembewusstsein zu demon-strieren und Verantwortung fuumlr die unterlassene Loumlsung zu negieren bdquoEven though I would claim that prose and verse must be present in an ancient Menippeansatire it must be seen as one of a number of shocking juxtapositions of oppositesldquo (Relihan 198760) ndash In der Folge kann die prosimetrische Form durchaus auch Mittel belehrender Werkewerden vgl Pabst 1994 133 Denkbar (und wohl wahrscheinlich) waumlre auch dass damit die Inhalte besonders desMythos gemeint sind Der Verweis auf Unterhaltung fuumlhrt nicht zum Kern der Frage denn die satirische Formstellt mehr dar als reine Unterhaltung Auch das horazische Diktum ridentem dicere verum quidvetat ndashsbquolachend das Wahre zu sagen ndash was spricht dagegenlsquo (Hor serm 1 1 23) als Kern vonMartianusrsquo Satireverstaumlndnisses greift zu kurz ebenso wie vergleichbare Konzeptionen in derLiteratur Dort geht es bei Belehrung immer um einzelne philosophische Saumltze (nie beispiels-weise um die Vermittlung von Philosophie an sich) Folglich bezeichnet das bdquoverumldquo nichtkognitives Lernen sondern moralisches Der grundlegende Unterschied zur Konzeption desMartianus liegt somit auf der Hand Vgl zu diesem Aspekt im Allgemeinen z B Shanzer 1986c42 und im Speziellen u a Woytek 1986 339ndash345 Keulen 2009 bes Kap 2 und 3

2 De nuptiis als literarisches Werk 143

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

einen literarischen und belehrenden Zweck zugleich Aufgrund der komplexenSachlage und der unmittelbaren Bedeutung der Beantwortung der Frage nachdieser Verbindung fuumlr das Gesamtverstaumlndnis von De nuptiis werden alle Alter-nativen vorgestellt und bewertet

Rein formale Verbindung von Satire und EnzyklopaumldieEventuell laumlsst sich die Mischung aus enzyklopaumldischen und satirischen Ele-menten (mit den zur Satire gehoumlrigen Verspartien) als Sonderform der Varro-Re-zeption bei Martianus auffassenVarro von Reate verfasste sowohl umfangreicheFachliteratur als auch menippeische Satiren Fuumlr beides war er in der Antikebekannt und beruumlhmt ndash doch ist es wahrscheinlich dass Martianus die Werkebereits nicht mehr ndash oder allenfalls nur in Auszuumlgen ndash vorliegen hattesup3⁴⁶ Aus demWissen um die beiden Schaffensbereiche des republikanischen Autors die beideder Unterweisung dienen solltensup3⁴⁷ koumlnnte Martianus auf den Gedanken verfallensein die literarischen Formen und Inhalte in seinem Werk zu verbindensup3⁴⁸Vielleicht saszlig er auch einemMissverstaumlndnis auf indem ermeinte dass Varro seinsatirisches wie enzyklopaumldisches Koumlnnen in nur einem Werk demonstriert habeDies hieszlige jedoch dass Martianus sich der Problematik dieser Verbindung nicht

So aumluszligert sich beispielsweise Kindermann in den Vorstudien seiner Ausgabe der Conso-latio des Laurentius von Durham Er billigt Martianus nur eine sekundaumlre Varro-Kenntnis zu(Kindermann 1969 60) Entschieden verneint wird die Frage von Schievenin (2009f) und Hadotdie vor allem neuplatonische Quellen vermutet (Hadot 2005 149) Schneider jedoch nimmt andass sowohl Augustin als auch Martianus die Disciplinae noch vorliegen hatten (Schneider 1999109 f) und dass die Satiren-Exzerpte des Nonius Marcellus (fl um 400 in Afrika) ebenfalls ausdem Originaltext Varros angefertigt wurden (ibid 96 Anm 12) Abwaumlgend aumluszligert sich Huumlbner2004 passim Vgl Cic ac 1 8 (es spricht Varro)

et tamen in illis veteribus nostris quae Menippum imitati non interpretati quadam hilaritateconspersimus multa admixta ex intima philosophia multa dicta dialectice quae quo faciliusminus docti intellegerent iucunditate quadam ad legendum invitati

Jedoch findet sich in meinen fruumlhen Schriften die ich in kreativer Nachfolge (und nicht nurUumlbersetzung) Menipps mit einer gewissen Heiterkeit benetzt habe vieles aus den Kernbe-reichen der Philosophie beigemengt und vieles das nach Art der Dialektiker gesagt istdamit die weniger Gelehrten es leichter verstuumlnden nachdem sie durch eine Art von Scherzzur Lektuumlre ermuntert worden sind

Vielleicht hatte Martianus diese Stelle sogar im Kopf als er die Anlage von De nuptiis plante So z BWeinreich in der Einleitung zu seiner Uumlbersetzung roumlmischer Satiren bdquoMartianusCapella glaubte gewiszlig ein Varro redivivus zu sein sozusagen die Quintessenz des Gelehrten unddes Satirikersldquo (Weinreich 1962 XCIII) Ebenso Shanzer 1986c 42

144 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

bewusst gewesen sei ndash was ihm sicher nicht gerecht wird Auszligerdem wird so dieBezugnahme auf weitere formale Elemente der menippeischen Tradition und dieuumlbrigen Vorlaumlufer der Gattung mit anderer Konzeption (Lukian Julian) nichtausreichend beruumlcksichtigt

Ebenfalls beim Autor koumlnnte eine zweite Erklaumlrung ansetzen Im Zuge derAbfassung seiner Enzyklopaumldie hat sichMartianus nach horazischer Vorgabe (unddem Beispiel Varros)sup3⁴⁹ um Auflockerung und heitere Elemente bemuumlht Diespontanen Einfaumllle wurden ins Werk integriert und die sich daraus ergebendenInkonsistenzen entweder uumlbersehen oder billigend in Kauf genommen Beideswuumlrde gut zum klassisch negativen Martian-Bild in der Forschung passensup3⁵⁰Abgesehen davon dass Annahmen uumlber das Vorgehen beim Schreiben weitge-hend auf Spekulation beruhensup3⁵sup1 widersprechen drei Beobachtungen dieser Er-klaumlrung Erstens gelingt es Martianus De nuptiis uumlber neun Buumlcher vorauszu-planen so dass am Ende ein ndash zunaumlchst abgesehen von der Satire-Problematik ndashkohaumlrentes Werk entsteht Die Fuumllle der behandelten Themen Motive und lite-rarischen Elemente weist eher auf ein planvolles Arbeiten hin und macht es un-wahrscheinlich dass Martianus Probleme an dieser Stelle nicht wahrgenommenbzw nicht korrigiert haumltte Zweitens ist die Verbindungvon Satire und den anderenElementen nicht nur oberflaumlchlich so dass sie nachtraumlglich eingefuumlgt sein koumlnnteoder sich im Schreibprozess so ergeben haben koumlnnte Da bereits im zweitenKapitel des ersten Buches Satura eingefuumlhrt wirdwar sie von vornherein Teil des

Gemeint ist das beruumlhmte zunaumlchst nur fuumlr die Dichtung relevante prodesse aut delectare(Hor ars 333 f) zu Varro vgl die schon angefuumlhrte Stelle aus Cic ac Vgl z B die sehr bildliche Beschreibung von C S Lewis bdquo[hellip] this universe which hasproduced the bee-orchid and the giraffe has produced nothing stranger than Martianus Capella[hellip] the curiosity shop of his mind [hellip] a chaos beside which the work of Rabelais has unity andthat of Mandeville probabilityldquo (Lewis 1936 78 f) Gleiches gilt fuumlr Spekulationen uumlber eine andere Auffassung von Literatur und ihrenRegeln in Martianusrsquo Zeit oder Umfeld Einerseits kennen wir keine Texte die sich mit De nuptiisvergleichen lieszligen (was per se nichts beweist aber doch Indiziencharakter hat) andererseitshielten sich auch die spaumltantiken Autoren uumlblicherweise an die klassischen Vorgaben Ich teiledaher auch Schneiders Ansicht nicht der die Skepsis an dieser Verbindung allein der modernenLeseerfahrung zuschreibt bdquoWenn den Heutigen diese Kombination der forcierten Gelehrsamkeiteines Curriculums und der spielerisch-saloppen Causerie seltsam beruumlhren mag so waumlre dazuimmerhin schon an ein ciceronisches Dictum zu erinnern non est enim seiunctus iocus a phi-lologia (ad fam 16214) ndash sbquoSpieltrieb und Pedanterie diktieren und widersprechen sich nichtlsquo(sbquoErste Fruumlhschichtlsquo aus Grassrsquo sbquoHundejahrelsquo)ldquo (Schneider 1999 94 Anm 2) Der Verweis aufCicero traumlgt nichts zum Verstaumlndnis von Martianus bei Cicero geht es an der zitierten Stelle umden Ablauf des Tages mit seinem Schuumller der aus ernsteren und heitereren Abschnitten bestehtDaraus folgt nicht dass das Lernen mit Scherz verbunden ist ndash auszligerdem duumlrfte Cicero unteriocus (sbquo[urbaner] Scherzlsquo) anderes verstanden haben als Martianus in seiner Satura bietet

2 De nuptiis als literarisches Werk 145

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Kompositionsplans Drittens hat Schievenin gezeigt dass Martianus keineswegsoberflaumlchlich und eigenwillig arbeitet Durch eine gruumlndliche Untersuchung derSilen-Passage (8 803ndash805) kann er nachweisen dass Martianus ndash wie vieleAutoren vor ihm ndash uumlber ein umfangreiches literarisches Wissen verfuumlgte daraufbei der Abfassung seines Werkes zugreifen konnte und durch gezielte Anspie-lungen neue Bezuumlge herstelltesup3⁵sup2

Satire als Mittel der KritikWaumlhrend die antike Satire (im Gegensatz zur modernen) nicht zwangslaumlufig Kritikan Missstaumlnden uumlben wollte ist diese Moumlglichkeit umgekehrt auch nicht auszu-schlieszligen Martianus koumlnnte also bewusst eine solide Darstellung der Kuumlnste inliterarischem Gewandmit der Gattung der Satire verbunden haben um Zweifel ander Ernsthaftigkeit der uumlbrigen Teile des Werkes zu wecken Er wuumlrde somit einaufklaumlrerisches Interesse verfolgen das zugleich auch unterhaltsame Zuumlge traumlgt

Eine erste Schwierigkeit dieser Lesart von De nuptiis ergibt sich bereits bei derFrage nach dem Objekt der SatireWerden die Wissensinhalte in Zweifel gezogenoder nur die Art ihrer Vermittlung in langen Reden bzwTraktaten Soll der Glaubean die umfassende Einheit des Wissens kritisiert werden oder die Vorstellungsaumlmtliches Wissen lasse sich vermitteln gar kohaumlrent in einem Werksup3⁵sup3 Ist dieVorstellung dass Wissen goumlttlich mache parodiert oder nur die abwegige Vor-stellung dass auf einer Hochzeit solche Reden gehalten werden Oder richtet sichdie Kritik letztlich gegen die Auffassung Philologia als Vorbild zu sehen oder garals Mittlerin alles Wissens ja sogar als Mittlerin zwischen Menschen und Goumlttern

Aus der Tatsache dass das Objekt der Satire keineswegs leicht zu bestimmenist kann nicht gefolgert werden dass in De nuptiis keine Satire vorliege die be-stimmte Sachverhalte kritisiere Aber es kann durchaus gefolgert werden dass eskeine expliziten textinternen Merkmale gibt die das Lesen steuern und den Ge-genstand der Kritik deutlich hervortreten lassen Die Deutungen gehen also vonmodernen Annahmen uumlber das Umfeld bzw die Gedankenwelt von Martianus aus

Im Kern handle es sich um bdquouna narrazione tersa e brillanteldquo verbunden mit einemDickicht an Verweisen Die Silen-Szene habe einen bdquocarattere colto e della dottrina e dellalingualdquo (Schievenin 1984 132) Das Fazit seiner Untersuchung formuliert Schievenin folgen-dermaszligen bdquoIl De nuptiis si rivela dunque opera di vasti orizzonti non solo per lrsquointento dida-scalico che la pervade e che ne determineragrave la fortuna ma anche per la costante presenza nellafabula della tradizione classica e dei suoi echildquo (ibid 136) Vgl zu dieser Stelle auch Bovey2003 275ndash288 ndash Den geschickten Umgang mit mehreren Quellen ndash erzaumlhlerisch wie seman-tisch ndash kann Schievenin auch fuumlr 7 725ndash727 nachweisen (Schievenin 2009e) So z B Relihan 1993 138 bdquoMartianus writes not an encyclopedia but a Menippean satirethat parodies encyclopedic knowledgeldquo

146 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

und weisen zudem meist nicht kleinschrittig auf wie der Interpret zu seiner (oftapodiktisch dargelegten) Ansicht gelangt

Nun folgt daraus noch nicht dass Martianus De nuptiis nicht als kritisierendeSatire konzipiert haumltte die Vielzahl der (wenn auch differierenden) modernenDeutungenweist ja darauf hin Zwei Uumlberlegungenwenn auch keine schlagendenBeweise lassen die Hypothese der parodierenden Satire unwahrscheinlich wer-den der Umfang von De nuptiis und seine Rezeption Eine Satire die beispiels-weise die Verbindung von Weltwissen und menschlicher Vervollkommnung in-frage stellt benoumltigt nicht noch eine umfassende Darlegung eben diesenWissensDies gilt besonders da diese Darlegung den Hauptteil des Werks ausmacht und ndashzumindest dem Umfang nach ndash die uumlbrigen Partien weit uumlberragt Eine Deutungvon De nuptiis als kritischer Satire muumlsste also besonders die Frage beantwortenzu welchem Zweck die umfangreichen Darstellungen der Freien Kuumlnste aufge-nommen sind (und nicht nur angedeutet werden)

Die Rezeption eignet sich zwar ebenfalls nicht zu sicheren Ruumlckschluumlssen aufdie originale Intention eines Werkes haumlufig bietet sie aber interessante EinblickeDie Martianus-Rezeption stellt sich bald ein Cassiodor beruft sich in seinen In-stitutiones auf ihn Dort erscheint Martianus nicht als Satiriker oder Zeitkritikersondern als Gelehrtersup3⁵⁴ In dieser Tradition wird Martianus auch im Mittelaltergelesen und rezipiertsup3⁵⁵

Aumlhnliches laumlsst sich fuumlr Boethiusrsquo Anknuumlpfen an die prosimetrische Form inder Ausgestaltung von Martianus sagen Boethius verfasst zweifelsfrei keine kri-tische Satire kann aber trotzdem an die Form und den Inhalt von De nuptiisproblemlos anknuumlpfen Sowohl der Form nach wie auch durch einzelne Zitatemacht er deutlich dass erDe nuptiis kennt und als eine seiner Vorlagen benutzt Esist zu bezweifeln dass Boethius in seinem Bemuumlhen um eine adaumlquatewerbendeDarstellung der Philosophie auf Form und Zitate des Martianus zuruumlckgegriffenhaumltte haumltte er nicht die Moumlglichkeit der gefahrlosen Uumlbernahme gesehen

Satirische Elemente als Mittel der BelehrungDer dritte Erklaumlrungsansatz fuumlr die Verbindung von Satire und Belehrung be-trachtet die Wahl Saturas als Figur und die Bezugnahme auf die Gattung zunaumlchst

Cassiod inst 2 2 17 Zur mittelalterlichen Martianus-Rezeption vgl bes Nuchelmans 1950 Lutz 1971 und 1976Willis 1973 sowie die Ausgaben und Literatur u a zu folgenden Werken Konrad von MureFabularius Hugo von Sankt Victor Didascalicon de studio legendi Johannes von SalisburyMetalogicon Kindermann kann weiterhin nachweisen dass De nuptiis auch durch seine Forminspirierend gewirkt hat (Kindermann 1969 61 f)

2 De nuptiis als literarisches Werk 147

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

als reine Fortsetzungder literarischen Form Fuumlr diese spezielle Formder Literaturdie menippeische Satire hat der russische Literaturwissenschaftler MichailBachtin Beobachtungen aufgestellt die auch fuumlr De nuptiis zutreffen Durch denRuumlckgriff auf zwei zentrale Konzepte Bachtins das Karnevaleske und die Dialo-gizitaumlt wird ein Verstaumlndnis von De nuptiis ermoumlglicht

Auf der Suche nach Vorlagen und Urformen der Gattung des Romans ins-besondere in der Form von Dostojewskis Romanen stieszlig Bachtin unter anderemauch auf die menippeische Satire die er bis in die Antike zuruumlckverfolgtesup3⁵⁶ Zuihren Vertretern zaumlhlt er unter anderem Varro Apuleius Petron Seneca oderLukiansup3⁵⁷ Martianus Capella wird nicht erwaumlhnt was aber nicht verwundernmuss da Bachtin keine Literaturgeschichte der menippeischen Satire schriebsup3⁵⁸

Kern der Uumlberlegungen Bachtins zurmenippeischen Satire ist das Konzept desKarnevals Unter Karneval versteht er folkloristische Feste waumlhrend deren diebestehende Ordnung verkehrt wird uumlbliche Regeln nicht mehr gelten Herr-schende gestuumlrzt und Machtlose maumlchtig werden ndash auf Zeit Die Karnevalisierungalso die Uumlbernahme der Kennzeichen dieses Festes in neue oder bestehende li-terarische Formen institutionalisiert diese Ausnahmesituation und loumlst sie vomkonkreten Fest Der so entstandene Text wird bdquozum karnevalesken Spiel an demder Autor und sein Publikum einverstaumlndlich teilhaben und das keines kalen-darisch oder institutionell abgesicherten Karnevalsrahmens mehr bedarfldquosup3⁵⁹

Diese Karnevalisierung fuumlhrt unter anderem zu einer Vielstimmigkeit vonMeinungen und Positionen im Text z B durch mehrere Figurenvon denen keinebevorzugt oder gar als autoritativ gekennzeichnet wird In dieser Dialogizitaumlt wirdkein allgemein guumlltiger Sinnmehr vermittelt sondern dieWahrheit suspendiertsup3⁶⁰

Dass der Bezug auf karnevalsartige Feste der Gattung menippeische Satire (inTeilen auch der Verssatire) eignet zeigt ein kurzer Blick auf wichtige Vertreter derTradition

Julians Symposion Caesares spielt zur Zeit der Saturnalien Die Bedeutungdieses Festes fuumlr das Werk wird dadurch verdeutlicht dass es den Handlungs-

Bachtin 1971 126ndash 135 Bachtin 1971 126 128 132f Kritik an den z T pauschalisierenden und verfaumllschenden Aussagen Bachtins uumlber antikeLiteratur oder an der ununterbrochenen Traditionslinie von der Antike bis in die Moderne (z BRelihan 1987 59 Lachmann 2006 23ndash25) muumlsste auch auf manche moderne Literaturwissen-schaftler in der Nachfolge Bachtins angewandt werden (vgl Branham 2005 6 wo es uumlberSenecas Apocolocyntosis heiszligt bdquoour only extant Menippean satire in Latinldquo) Teuber 1993 182 Eine gut verstaumlndliche Einfuumlhrung in das Konzept der Dialogizitaumlt im Sinne der bach-tinschen Terminologie bietet Sharland 2010 Einfuumlhrung (1ndash51)

148 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

rahmen fuumlr den in der Folge erzaumlhlten Mythos bildet Bereits im ersten Satz wirdauf das Fest und die Tradition Heiteres frei zu erzaumlhlen Bezug genommensup3⁶sup1

Auch Senecas Apocolocyntosis stellt einen engen Bezug zum Saturnalienfesther Das Werk spielt zwar nicht an den Saturnalien sondern am Todestag desClaudius im Oktober doch wird an zwei Stellen eine Verbindung zwischen derHerrschaft des verstorbenen Kaisers und den dargestellten Sitten waumlhrend derRegierungszeit mit dem Saturnalienfest gezogensup3⁶sup2 Manche Interpreten gehensogar davon aus dass die Apocolocyntosis an den Saturnalien des Jahres 54vorgetragen wurdesup3⁶sup3 Auch bei Petron und Horaz finden sich Bezugnahmen aufdie Saturnaliensup3⁶⁴

Ein zentrales Element des Saturnalienfestes liegt in der Suspension der uumlb-licherweise geltenden Normen und Wertesup3⁶⁵ Neben den anderen Elementen desFestes wie sie z B in Macrobiusrsquo Saturnalia (1 7ndash 10 1 24 22 f) beschriebenwerden (traditionelle Geschenke Festmahl fuumlr die Sklaven etc) hat gerade dieUmkehrung der Herrschaftsverhaumlltnisse im Haus Niederschlag in der Literaturgefunden

Gerade durch diese Rolleninversion treten einige wichtige gesellschaftlicheNormvorstellungen und Grundannahmen prominent hervor Dazu zaumlhlt das Be-wusstsein dass es eine befehlende und eine ausfuumlhrende Gruppe von Menschengibt oder dass im Prinzip ein Rollenwechsel moumlglich sein kann Alle Beteiligten

Ἐπειδὴ δίδωσιν ὁ θεὸς παίζειν ndash ἔστι γὰρ Κρόνια ndash hellip (sbquoDa der Gott das Scherzen erlaubt ndashes sind ja die Kronia helliplsquo Caes 1 = 306a Spanheim) Zur Frage ob es sich bei Caesares auch umdas Werk handle auf das zu Ende der Rede auf Koumlnig Helios verwiesen wird (Or in Sol reg 44 =157c Spanheim) vgl Muumlller in seiner Uumlbersetzung (39 ablehnend) und Lacombrade im Vorwortseiner Budeacute-Ausgabe (3 und 18 Anm 3) der aufgrund des Handschriftenbefundes Kronia auchals Titelbestandteil fuumlr die Caesares uumlbernimmt Es handelt sich um Sen apocol 8 1 (Claudius als Saturnalienprinz) und 12 2 (Herrschaftdes Claudius als andauerndes Saturnalienfest) ndash Dass Lukian nicht auf die Saturnalien alsRahmen fuumlr seine Werke zuruumlckgreift entwertet die Beobachtungen nicht Lukian musste auf-grund seines Selbstbewusstseins als satirischer Schriftsteller und aufgrund der Menge seinersatirischen Schriften nicht jedes Mal einen eigenen literarischen Rahmen herstellen in demeinzelne Dialoge stattfinden konnten Das Saturnalienfest selbst erscheint bei Lukian als Ge-genstand der Satire nicht als deren literarische Rahmung (Τὰ πρὸς Κρόνον) Zuerst bei Furneaux 1896 23 Anm 11 In der neueren Forschung vgl bes Nauta 1987Kritisch dazu u a Doumlpp 1993 159 f Petron 44 3 58 2 69 9 zu Horaz vgl z B serm 2 7 (libertas Decembris) Ein gelungenesBeispiel der Anpassung und Anwendung der bachtinschen Konzepte mit Ertrag fuumlr die Inter-pretation unter Einbezug von serm 2 7 bietet Sharland 2010 Distelrath 1999 114 Vgl weiterhin Versnel 1993 136ndash227 und Doumlpp 1993 Eine plastischeSchilderung der Rollenvertauschung bei der der Sklave dem Herrn die Leviten liest bietet Horserm 2 7

2 De nuptiis als literarisches Werk 149

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Herren wie Sklaven spielen also mit den Moumlglichkeiten einer alternativen Wirk-lichkeit

Das Besondere im Spiel mit den Moumlglichkeiten liegt aber in seiner zeitlichenBegrenzung Nach der Zeit des Ausnahmezustands gelten wieder die normalenimmer guumlltigen Regeln Die Rolleninversion erlaubt also ndash oder erzwingt gera-dezu ndash das Nachdenken uumlber bestimmte gesellschaftliche Normen und Wertvor-stellungen Durch die Ritualisierung und enge zeitliche Begrenzung ist darausjedoch keineswegs die Notwendigkeit entstanden die Verhaumlltnisse tatsaumlchlich zuhinterfragen oder gar zu aumlndern Daher lassen sich die Saturnalien auch als ein dieKonventionen bestaumlrkendes Fest verstehen Das Spiel mit der Moumlglichkeit eineranderen Gesellschaftsordnung hat durch seine Ritualisierung letztlich eine dieTradition legitimierende Funktion bekommen

In De nuptiis finden sich jedoch houmlchstens spaumlrliche Hinweise auf das Sa-turnalienfest Am ehesten weist das grob scherzende Agieren Saturas in diesenBereich Die bdquolangen Winternaumlchteldquo (1 2) koumlnnten (statt als Bezug auf Gellius) alsAnspielung auf das Saturnalienfest verstandenwerden ndash die Saturnalien finden inden laumlngsten Naumlchten uumlberhaupt statt seit der Kaiserzeit vom 17 bis 23 DezemberDies ndash wie die Spekulation uumlber eine spielerische etymologische Verbindung vonSatura und Saturnaliensup3⁶⁶ ndash ist aber insofern nicht von Belang da die Gattung alsGanze karnevaleske Zuumlge traumlgt und als gewissermaszligen institutionalisierter Kar-neval vom eigentlichen Fest losgeloumlst istsup3⁶⁷

Die Aufhebung der uumlblichen Ordnung (was Teuber im Ruumlckgriff auf Limina-litaumltskonzepte als praumlliminale Phase bezeichnet)sup3⁶⁸ beginnt mit der VorbereitungPhilologias zum Aufstieg in den Himmel Bereits das Erbrechen stellt eine mar-kante Umkehrung der alltaumlglichen Welt dar Statt sich Wissen anzueignen er-bricht Philologia es nun In der Goumltterversammlung auf der Milchstraszlige ist dieOrdnung sodann voumlllig verkehrt Philologia als Meisterin aller Disziplinen und

Zwar sind die einschlaumlgigen etymologischen Woumlrterbuumlcher skeptisch (v a WaldeHof-mann 2007 II 482 neutral ErnoutMeillet 2001 596) jedoch gibt es dahin gehende moderneDeutungen (aufgefuumlhrt bei WaldeHofmann 2007 II 482) und auch antike ParallelisierungenCic nat deor 2 64 Saturnus hellip est appellatus quod saturaretur annis (sbquoSaturn hellip wurde ergenannt weil er an Jahren gesaumlttigt istlsquo) Fulg myth 1 2 (p 17 16) a saturando Saturnus dictusest (sbquoDa er (die Menschen) saumlttigt wurde er Saturn genanntlsquo) Aug cons euang 1 23 35 Sa-turnus tamquam satur hellip νοῦς (sbquoSaturn gleichsam der gesaumlttigte hellip νοῦςlsquo) Vgl auch Gowers diedie etymologischen Verbindungen von satura Satyrspiel und Saturnalien untersucht (Gowers1993 109ndash 117) Sie kommt zu dem Befund dass keine Verbindung bestehe wohl aber verbin-dende Elemente identifiziert werden koumlnnten bdquocarnival licence parody uninhibited mockeryand excessive consumptionldquo (ibid 117) Vgl z B Teuber 1993 183 f Teuber 1993 183

150 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

bedeutende Lehrinstanz muss sich ihrerseits belehren lassen ndash mit dem Wissendas urspruumlnglich ihres war

Durch die Inversion wird die (vielleicht uumlblicherweise nicht prominente)Philologia in den Mittelpunkt geruumlckt und ihre zentrale Rolle im Wissenssystemtritt markant vor Augen Gleichzeitig kann darin eine leise Anfrage an ihre Lehr-autoritaumlt und eventuell auch ihre Eignung zur Lehre gesehen werden

Aufgrund des zeitlich begrenzten Rahmens der Verkehrung (diemit dem Endeder Vortraumlge voruumlber ist aber nicht explizit zuruumlckverwandelt wird) dessen Be-grenztheit durch Bezug auf die Form der menippeischen Satire ergaumlnzt werdenkann wird das System der Bildung und der Bildungsvermittlung jedoch nichtgrundsaumltzlich infrage gestellt Die Suspendierung Philologias ist temporaumlr

Dem Konzept der Dialogizitaumlt oder Mehrstimmigkeit folgend erklaumlrt sich auchdie Doppelung und Verunklarung der Erzaumlhlinstanz In den drei Dialogen indenen Satura und Martianus aufeinandertreffen behandeln sie die Frage desrichtigen Erzaumlhlens Dies beschraumlnkt sich nicht nur auf die Satire sondern umfasstalle auftretenden literarischen Formen Martianus und Satura sind sich uneinswie weit der Mythos reichen soll und ob eine Enzyklopaumldie trocken oder auchunterhaltsam erzaumlhlt werden soll (2 219ndash3 222) ob ein Symposion auch Zechenund Spaszlig vertraumlgt (8 803ndash810) oder ob und wie stark Satire Dinge vermischendarf (9 997ndash 1000)

Die unterschiedlichen Meinungen zu den Fragen werden zwar diskutiert undfuumlhren zu einem Ergebnis ndash der Erzaumlhlfluss versiegt ja an keiner Stelle oder setztneu an Allerdings entsteht in der Folge kein homogenes Werk und am Schlussmag keiner der beiden Erzaumlhler dafuumlr die Verantwortung uumlbernehmen Der Wi-derwillen sich zu dem Werk zu bekennen bedeutet aber gleichzeitig auch dassMartianus sich nicht festlegt welche Position er fuumlr die richtige haumllt Die Fragenach der rechten Art der Wissensvermittlung die auch in der Ent- und Inthroni-sierung Philologias anklang bleibt unbeantwortet

Schlieszliglich bringt der Blick auf die Aurelian-Vita aus der Historia Augustanoch einen weiteren Aspekt ein Parallel zur Aufteilung der Erzaumlhlinstanzen in Denuptiiswird der Erzaumlhlprozess in derHistoria Augusta aufmehrere AutorenverteiltWie zuerst Hermann Dessau und in der Folge Ronald Syme nachdruumlcklich gezeigthaben handelt es sich allerdings um nur einen Verfasser der uumlberdies auch inBezug auf die Abfassungszeit falsche Angaben gemacht hat und Quellen erfundenhatsup3⁶⁹ Insofern laumlsst sich der in der Historia Augusta gepraumlgte Begriff der

Auf den Charakter der Sammlung die Syme u a als bdquohoaxldquo bezeichnet (1983a 11 1983b13 1983c 219) die fingierten Autoren die manipulierten Quellen etc soll an dieser Stelle nurhingewiesen werden Vgl auch Cameron 2011 Kap 20 mit ausfuumlhrlicher Diskussion relevanterFragen

2 De nuptiis als literarisches Werk 151

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mythistoria der Vermischung von Mythischem und Historischem auch auf dieSammlung selbst anwendensup3⁷⁰

Als Menippee im engeren Sinne laumlsst sich weiterhin die Aurelian-Vita die 26Vita der Sammlung fassen und bezeichnenderweise spielt die Rahmenhandlungan denHilariasup3⁷sup1Wie zu den Saturnalien gehoumlren zu diesem Fest Scherze und ndash imRahmen von Maskierungen ndash Rollenwechselsup3⁷sup2

Noch in der rahmenden Einleitung zur Vita spielt sich folgender Dialog ab

1 et quoniam sermo nobis de Trebltellgtio Pollione qui a duobus Philippis usque ad divumClaudium et eius fratrem Quintillum imperatores tam claros quam obscuros memoriaeprodidit in eodem vehiculo fuit adserente Tiberiano quod Pollio multa incuriose multabreviter prodidisset me contra dicente neminem scriptorum quantum ad historiam pertinetnon aliquid esse mentitum prodente quin etiam in quo Livius in quo Sallustius in quoCornelius Tacitus in quo denique Trogus manifestis testibus convincerentur pedibus insententiam transitum faciens ac manum porrigens iocando[m] praeterea sbquoscribelsquo inquit sbquout

quae ille [scil Iunius Cordus] omnia exsequendo libros mythistoriis replevit talia scribendocum omnino rerum vilium aut nulla scribenda sint aut nimis pauca si tamen ex his morespossint animadverti qui re vera sciendi sunt hellip sed ex parte ut ex ea cetera colligantur(SHA Opil 1 5)

Bei der Anfuumlhrung von all diesen Informationen hat er die Buumlcher mit fabuloumlsen Ge-schichten angefuumlllt indem er Dinge von dieser Art schrieb wo doch uumlberhaupt keinenutzlosen Dinge geschrieben werden duumlrfen oder nur sehr wenige sofern daraus Verhal-tensweisen erkannt werden koumlnnen die wirklich wissenswert sind hellip aber zum Teil(schreibe ich) damit daraus das Andere gefolgert werden kann

quid Marius Maximus homo omnium verbosissimus qui et mythist[h]oricis se voluminibusinplicavit num ad istam descriptionem curamque descendit (SHA Quadr tyr 1 2)

Wie Hat sich Marius Maximus der groumlszligte Schwaumltzer vor dem Herrn der sich in seinenmythistorischen Werken verfangen hat etwa zu dieser Art der Darstellung und des sorg-faumlltigen Arbeitens herabgelassen

Hilaribus quibus omnia festa et fieri debere scimus et dici impletis sollemnibus vehiculo suome hellip Iunius Tiberianus accepit (SHA Aurelian 1 1)

An den Hilaria an denen alles zum Fest Gehoumlrende getan und gesagt werden muss wieman weiszlig empfing mich nach Erledigung der Zeremonien Iunius Tiberianus in seinemGefaumlhrt

Pausch bemerkt dieses besondere Datum zwar und erwaumlgt ob es sich um ein bdquoweitergehendesLesesignalldquo beispielsweise im Sinne karnevalesker Literatur handeln koumlnne verfolgt diese Spuraber nicht weiter (Pausch 2011 130 Anm 1) Herodian 1 10 5 ndash Einige Hinweise auf die Hilaria die im Kontext des Magna Mater-Festesam 25 Maumlrz gefeiert wurden bietet Fraser in seinem Kommentar zu Ovids Fasti (Fraser 1929244ndash248)

152 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

libet 2 securus quod velis dices habiturus mendaciorum comites quos historicae elo-quentiae miramur auctoreslsquo (SHA Aurelian 2 1ndash2)

1 Und weil unser Gespraumlch uumlber Trebellius Pollio der von den beiden Philippi bis zumvergoumlttlichten Claudius und dessen Bruder Quintillus gleichermaszligen uumlber beruumlhmte wieunbekannte Kaiser fuumlr die Nachwelt schrieb in derselben Saumlnfte stattfand behauptete erdass Pollio vieles ohne Sorgfalt und nur kurz dargelegt habe Ich erwiderte dass keinSchriftsteller sofern es um die Geschichte gehe nicht irgendwo gelogen habe und legtesodann dar worin sogar Livius Sallust Tacitus schlieszliglich sogar Trogus mit eindeutigenBelegen uumlberfuumlhrt werden koumlnnten Darauf sagte Tiberianus schlieszliglich scherzend indem ermeiner Meinung beipflichtete und mir seine Hand darbot bdquoSchreibe sowie du es fuumlr richtighaumlltst 2 Sage unbesorgt was du willst du wirst diejenigen als Gefaumlhrten fuumlr deine Taumlu-schungen haben die wir als Schoumlpfer historiographischer Beredsamkeit bewundernldquo

So sympathisch dieser Anspruch auch erscheinen mag ist er doch fuumlr das Ver-trauen in die Gattung der Geschichtsschreibung fatal Gerade in der Einleitungeiner Vita jedoch ndash zumal es der Fiktion nach die erste des Flavius Vopiscus Sy-racusius im Corpus der Historia Augusta ist ndash kann eine solche Anekdote ei-gentlich keinen Platz haben Sie erweckt beim Leser den Eindruck dass er dennachfolgend dargebotenen Informationen kein Vertrauen schenken duumlrfesup3⁷sup3

Die Parallelen zwischen der Historia Augusta insbesondere dem Vorgehen inder Vita Aureliani und De nuptiis liegen auf der Hand Verunklarung der Autor-schaft bzw der Erzaumlhlhaltung einerseits Erwecken von Zweifeln an der Glaub-wuumlrdigkeit des Dargebotenen andererseits

In der Historia Augusta sind die Inkongruenzen mit der Freude des Autors amliterarischen Spiel erklaumlrt worden Der Autor habe aus Freude am Fabulieren(vielleicht auchumein dafuumlr empfaumlngliches Publikum zu befriedigen) die Viten indieser Form verfasstsup3⁷⁴ Mag man dies fuumlr die Historia Augusta noch zugestehenderen Text uumlber einen laumlngeren Zeitraum vielleicht zunaumlchst ohne eine Gesamt-konzeption entstanden ist und auch sprachlich nicht herausragt stellt sich derSachverhalt fuumlr Martianusrsquo De nuptiis anders dar Das Werk hat durchaus einenliterarischen Anspruch und es folgt eindeutig einer vorab geplanten Gesamtan-lage Die Freude am Spiel mag vielleicht manches Detail beigesteuert haben fuumlrdie verschraumlnkte Anlage des Textes ist sie aber keine Erklaumlrung

Ganz anders ist der Anspruch zum Ende der Darstellung der Viten der bdquoDreiszligig Tyrannenldquoin dem der Autor beteuert seinem Werk mangele es zwar an literarischer Ausgefeiltheit nichtjedoch an Faktentreue da nunc cuivis libellum non tam diserte quam fideliter scriptum ndash sbquoGibnun dieses Buumlchleinwem du magst es ist nicht so sehr kunstvoll geschrieben wie es sachgetreuistlsquo (SHA Quadr tyr 33 8) Syme nennt dies bdquodeceit for its own sweet sakeldquo (1983c 217) Im gleichen Aufsatz spe-kuliert er auch uumlber das Interesse des Publikums an einer solchen Art von geistigem Spiel(ibid 221)

2 De nuptiis als literarisches Werk 153

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Es lohnt sich jedoch auch fuumlr die Historia Augusta einen Schritt weiter zugehen Ausgangspunkt dafuumlr ist die obige Beobachtungdass das literarische Spielder Historia Augusta nur durchschaut wer die Werke der historischen Literaturkennt Durch die Lektuumlre historiographischer Biographien bringt der Leser einebestimmte Leseerwartung also implizite Vorstellungen mit wie das Werk aus-sehen soll und wird Diese Erwartungen werden aber nicht oder nur teilweisebedient Formal gesehen weisen die Viten in der Historia Augusta zwar die Cha-rakteristika der Gattung auf ndash doch indem sie sie inhaltlich nicht adaumlquat aus-fuumlllen treten deren Konventionen vor Augen

Durch die uumlbermaumlszligige Verwendung falscher Verweise und erfundener Quel-len geraumlt zudem das Beglaubigungsverfahren historischer Texte in den Blick-punkt Der Leser erkennt anwelchen Stellenwelche Beglaubigungsmechanismenansetzen und auf welche Weise sie unterlaufen werden koumlnnen Uumlberspitzt lieszligesich behaupten DieHistoria Augusta verfolgt ein aufklaumlrerisches Interesse indemsie (spielerisch) aufzeigt welche Beglaubigungsverfahren die Geschichtsschrei-bung nutzt und wie sie manipuliert werden koumlnnen dadurch wird auch die Ma-nipulierbarkeit von Geschichte und Leser deutlich

In De nuptiis werden ebenfalls die Konventionen der Einzelgattungen ndash zu-mindest ansatzweise ndash hervorgehoben Dass kein perfektes Musterbeispiel derjeweiligen Einzelgattung entstehen kann liegt darin begruumlndet dass durch dieVerbindung der vier literarischen Genres keine oberflaumlchliche Konsistenz derFiktion entstehen kannVielmehr entstehen Bruumlche die ndash ebenso wie die Bruumlchein der Erzaumlhlhaltung ndash auch die Gattungskonventionen und ihre Annahmendeutlich werden lassen Dies gilt besonders fuumlr die Satire deren Vorgehen imKontrast zur eigentlichen Hochzeitshandlung aus dem Rahmen faumlllt und somitbesonderes Augenmerk erhaumllt Hinzu tritt mit der Figur Satura auch eine Perso-nifikation der Gattung die in theoretischen Diskussionen Annahmen und Vor-gehen mit Martianus eroumlrtert Grunduumlberlegungen der Gattung Satire werden sotheoretisch eroumlrtert und praktisch erprobt Gleiches giltwenn auch zT inwenigerdeutlicher Form auch fuumlr die anderen Formen Die Enzyklopaumldie in ihren langenMonologen wird durch Spott markiert die trockenen Kuumlnste werden probeweisedurch Allegorien zugaumlnglicher gemacht im Symposiondialog wird uumlberlegt in-wieweit uumlbliche Rollenmuster (der Zecher) einen Platz haben oder wie weit mandie fuumlr die Feier typischen Reden fuumlhren kann und immythischen Teil wird durchdie Gegenuumlberstellung mit dem handfesten Wissensbetrieb die Andersartigkeitdes Erzaumlhlens deutlich

So werden neben den Inhalten der Wissenschaften auch verschiedene lite-rarische Formen bewahrt Neben der reinen Anwendung und somit Tradierungwerden gleichzeitig auch die Mechanismen verdeutlicht deren sich die jeweilige

154 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Gattung bedient Somit wird ihr Funktionieren nachvollziehbar und in der Folgeauch nachahmbar

3 Zusammenfassung

Martianus weckt also durch die Wahl mehrerer gleichberechtigter Erzaumlhler diesomit das Erzaumlhlen unzuverlaumlssig werden lassen besonders aber durch dieUumlbernahme satirischer Gattungselemente ein Bewusstsein fuumlr die traditionellenGrundlagen desWissens- und Lehrsystems seiner Zeit ImGegensatz zur Satire diediese Fragen kategorisch stellt handelt es sich in De nuptiis um ein Spiel damitDer Satirebezug dient als Anknuumlpfung an die traditionellen Gattungsmerkmaleder menippeischen Satire Karnevaleske und Dialogizitaumlt

Durch die (temporaumlre) Rolleninversion richtet sich das Augenmerk aufPhilologia als Wissenszentrum und Wissensmittlerin und fordert zum Nach-denken daruumlber heraus Im Kern hinterfragt das Werk alle Bereiche die mit Bil-dung und Bildungsvermittlung zu tun haben Was sind die Inhalte wahrer Bil-dung Gibt es eine Einheit von Bildung Wie kann sie vermittelt werden

Allerdings zielt die Kritik nicht auf eine Aufloumlsung klassischer Bildungsinhalteund Vermittlungsformen Sie regt vielmehr durch Scherz und Bruumlche zumNachdenken uumlber diese Fragen an Dabei verzichtet Martianus auf eigene Vor-schlaumlge und Konzepte und festigt so gleichsam den traditionellen Bildungs-betrieb Das von ihm dargestellte Wissen wird kanonisiert und die Darstel-lungsform in langen Reden wird es auch Die mittelalterliche Rezeption von Denuptiis zeigt dies eindrucksvoll

Wissen umfasst dabei nicht nur das Faktenwissen der Vortraumlge sondern auchdas Wissen um bestimmte literarische Formen Durch die Verbindung von vierGattungen und die Doppelung der Erzaumlhlerfigur mit Reflexion uumlber angemessenesErzaumlhlen entstehen Inkonsistenzen die die Konventionen der einzelnen Gattun-gen hervortreten lassen Nicht alle Elementewerden auf dieseWeise deutlich aberMartianus bietet einen Ansatzpunkt die Fiktion auch unter der Fragestellung zulesen was einen Text der jeweiligen Gattung ausmacht ndash sowohl positiv wie ne-gativ formuliert

Mit seiner kreativen Konzeption und ihrer literarischen Umsetzung gelingt esMartianus eindrucksvoll Heiteres und Belehrendes zu verbindenwomit er an dieTradition Varros und die klassische antike Poetik anknuumlpft Es gelingt ihm daruumlberhinaus aber auchWissen zu vermitteln und die traditionellen Vorstellungen vonder Bedeutung dieses Wissens wie der Form seiner Vermittlung herauszustellenSpielerisch wird also gelehrt und hinterfragt nicht jedoch kategorisch kritisiertoder kuumlhn neu entworfen Gerade dadurch zeichnet sich Martianusrsquo De nuptiis

3 Zusammenfassung 155

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

tatsaumlchlich als nescioquid inopinum intactumque (sbquoetwas Ungewohntes und nochnie Gewagteslsquo 1 2) aus und macht es zu einem der bedeutendsten Buumlcher derSpaumltantike und zu einer interessanten Quelle fuumlr die Frage nach Bildungsvor-stellungen im fuumlnften Jahrhundert

156 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Page 25: Bildungsvorstellungen im 5. Jahrhundert n. Chr. (Macrobius, Martianus Capella und Sidonius Apollinaris) || III Martianus Capella, De nuptiis Philologiae et Mercurii

mehr an sich halten und zahlt Satura ihre Kritik in gleicher Muumlnze heim Nacheinigem Spott uumlber Saturas Verse verteidigt nun Martianus das Recht auf Scherzgegen sie die an sich ndash nicht aber in De nuptiiswie es scheint ndash eigentlich fuumlr denScherz zustaumlndig waumlre und gibt ihr mit Martial (2 41 1) den Rat auch einmal zulachensup3sup3sup2

Ein letzter Schlagabtausch von Satura und Martianus erfolgt schlieszliglich amEnde des Werkes Wiederum streiten beide Figuren miteinander und halten sichmit Spott uumlber das Wesen des anderen nicht zuruumlck

Die Einfuumlhrung Saturas die ja nur in Verbindung ndash und das heiszligt Ausein-andersetzung ndash mit Martianus erscheint dient vornehmlich der deutlichenBenennung der Gattung und der Verstaumlndigung daruumlberwas den Charakter einessatirischen bzw des vorliegenden Werkes ausmache Erstaunlich ist dabei Mar-tianusrsquo Entwicklung der sich zunaumlchst gegen Unterhaltung im artes-Teil ausge-sprochen hatte diese spaumlter aber gegen den censorischen Eingriff Saturas imachten Buch verteidigt Noch erstaunlicher ist aber dass es gerade Satura ist diezur Beachtung des Decorums auffordert und Martianusrsquo vergleichsweise mildenScherz scharf tadelt

Erzaumlhlinstanzen ndash Die Frage nach der Erzaumlhlsituation bzw der Erzaumlhlerfigurgehoumlrt zu den grundlegenden Analysekriterien eines literarischenWerkes ebensowie die Konzipierung von Raumund Zeit Lassen sich die letzten beiden Punkte imHinblick auf De nuptiis hinreichend klaumlrensup3sup3sup3 so bietet die Erzaumlhlerfigur groumlszligereSchwierigkeiten

DassDe nuptiis zwei Erzaumlhlinstanzen hat scheint zu Beginn desWerkeswenigdramatisch In 1 2 verweist der Erzaumlhler Martianus gegenuumlber seinem Sohn dar-auf dass die folgende Geschichte (also der uumlberwiegende Teil von De nuptiis) ihm

Ride si sapis o puella ride Schievenin bietet eine gruumlndliche Analyse dieser Stelle auchmit Blick auf die inverse Vorlage Martials (plora si sapis o puella plora Mart 2 41) derwiederum auf Ovid (Ov ars 3 281 f) zuruumlckgreift (Schievenin 1984 bes 136 ausfuumlhrlich auchBovey 2003 275ndash288) Die Rahmenhandlung spielt in der erzaumlhlerischen Gegenwart und in einem unbestimmtenRaum der jedoch nicht auszligergewoumlhnlich ist es liegt nahe an Karthago und das Haus desMartianus Capella zu denken Die eigentliche Handlung spielt an z T unwirklichen Orten aufder Erde die zumeist nicht naumlher bestimmt sind (z B Philologias Herkunft) und auf derMilchstraszlige wobei die absolute Zeit nicht genannt wird aber aufeinanderfolgende Tage inihrem Ablauf erkannt werden koumlnnen Die Phantastik einzelner Szenen die meist auf alle-gorische Darstellungsweisen zuruumlckgeht verletzt jedoch nicht die raumlumliche oder zeitlichePlausibilitaumlt des Dargestellten Vgl dazu auch die Ausfuumlhrungen und grafischen Veranschau-lichungen LeMoines (1972a)

138 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

waumlhrend langer Winternaumlchte (eine Anspielung auf Gellius)sup3sup3⁴ von Satura be-richtet wurde Der antike wie moderne Leser duumlrfte sich wohl kaum daran stoszligensondernwird darin vor allem eine Inspiration des Autors durch Satura (auchwennes das zuvor noch nicht gab) erkennen Bei der Erwaumlhnung von Satura koumlnnte erHeiteres erwarten oder bunt gemischte Geschichten

Vollkommen verwirrt wird der Leser hingegen spaumltestens dann wenn er amEnde des Werkes in der Sphragis angekommen ist (9 997ndash 1000) Dort reflektiertMartianus sein literarisches Vorgehen in den vorausgegangenen neun Buumlcherngenauer gesagt distanziert er sich von der Form der Darstellung (Umfang Bunt-heit) und verweist auf die Verantwortung Saturas die die Geschichte erzaumlhlt habe

Habes anilem Martiane fabulam 997Miscillo lusit quam lucernis flamineSatura Pelasgos dum docere nititurArtes daggercagris vix amicas AtticisSic in novena decidit voluminahaec quippe loquax docta doctis aggerans 998fandis tacenda farcinat immiscuitMusas deosque disciplinas cyclicasgarrire agresti cruda finxit plasmate (9 997 f)

Da hast du Martianus eine Altweibergeschichte sie verfertigte im Spiel mit vermischterInspiration [d h in Prosa und Vers] bei Kerzenschein Saturawaumlhrend sie sich bemuumlhte diePelasger zu lehren die Kuumlnste die den Griechen kaum freundlich [d h neu] sindSo gelangte sie hinab bis zum neunten Buch haumluft plappernd Gelehrtes auf Gelehrtes undstopft geheimes und bekanntes Wissen zusammen hat Musen und Goumltter vermischt und hatsich erdacht dass die enzyklopaumldischen Disziplinen in einembaumlurischenMachwerk unreifesZeug daherplappern

So ungewoumlhnlich dieses Vorgehen auch ist ndash Martianus haumltte ja den Bericht Sa-turas als Grundlage nehmen und dann nach eigenem Geschmack umgestaltenkoumlnnen ndash wird es uumlbertroffen durch die Verteidigung Saturas Sie weist die Ver-antwortung fuumlr die Art der Erzaumlhlung von sich und verteidigt sichmit demHinweisauf Martianusrsquo intellektuelle Schwaumlche der sie die Ausfuumlhrungen habe anpassenmuumlssen

Vgl Gell praef 4 zur Erklaumlrung der Wahl des Titels Noctes Atticae fuumlr sein Werk

Sed quoniam longinquis per hiemem noctibus in agro sicuti dixi terrae Atticae commentationeshasce ludere ac facere exorsi sumus idcirco eas inscripsimus noctium esse Atticarum hellip

Aber weil wir in langen Naumlchten den Winter uumlber in Attika auf dem Landwie schon gesagtdiese Anmerkungen im Spiel und dann ernsthaft begonnen haben daher haben wir ihnenden Namen Attische Naumlchte gegeben hellip

2 De nuptiis als literarisches Werk 139

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

haec ipsa nauci rupta conscientia 999turgensque felle ac bili bdquomulta chlamydeprodire doctis approbanda cultibuspossemque comis utque e Martis curia[hellip]ab hoc creatum Pegaseum gurgitem 1000decente quando possem haurire poculoldquo (9 999 f)

Sie sagte aufgrund ihres Wissens um die Nichtigkeit (dieser Ausfuumlhrungen) verletztschwellend vor Bitterkeit und Zorn bdquoIch koumlnnte hier freundlich auftreten mit einem Gewandbekleidet lobenswert durchgelehrtes Verhaltenwie aus der VersammlungdesMars [Es folgtdie Schilderung der unguumlnstigen Anlagen von Martianus] ndash Wann koumlnnte ich mit ange-messenem Becher aus einem pegasischen Strom von ihm erschaffen schoumlpfenldquo

Somit hat das Werk das zu Beginn zwei hierarchisch geschiedene Erzaumlhler zuhaben scheint am Ende zwei Erzaumlhler die sich gleichberechtigt uumlber die Form dererzaumlhlten Geschichte streitensup3sup3⁵

Die Inkonsistenzen auf der Erzaumlhlebene setzen sich daruumlber hinaus fort HatteMartianus zu Beginn des Werks gesagt Satura habe ihm die Geschichte waumlhrendlangerWinternaumlchte erzaumlhlt so treten Satura undMartianus amEnde desWerks inder erzaumlhlerischen Gegenwart gemeinsam auf und sprechen beide nacheinanderzu Martianusrsquo Sohn

Weiterhin erscheinen Satura und Martianus innerhalb der Geschichte dieMartianus angeblichvon Satura gehoumlrt hatWaumlhrend die Goumltter denverschiedenenBrautjungfern lauschenwohnen auch SaturaundMartianus der Versammlungbeiund betrachten sie als unbeteiligte ZuschauerWie aus einer Theaterloge herauskommentieren und diskutieren sie das Geschehen das auf der bdquoGoumltterbuumlhneldquostattfindetsup3sup3⁶

Noch einen weitergehenden Schritt stellt die Silen-Szene zu Beginn des achtenBuches dar Im Anschluss an diese Szene beschwert sich Satura bei Martianus erkoumlnne die Goumltter nicht auf dieseWeise agieren lassen In der Folge entspinnt sich einGespraumlch in demMartianus seine Art des Erzaumlhlens gegen Satura verteidigt die fuumlreine zuruumlckhaltendere Darstellung plaumldiert (s o)Von der Fiktion dass Martianusseinem Sohn bloszligwiedergibtwas Satura ihm erzaumlhlt hat bleibt nichtmehr viel dieganze Szenerie ist ein Produkt der ErfindungdesMartianus gleichzeitigwohnt er ihraber gemeinsam mit Satura bei ist also Teil der Handlung

So bereits Pabst 1994 120 Anm 119 der allerdings auf eine Diskussion der Beobachtungverzichtet Es handelt sich um die Stellen zu Beginn des sechsten und des achten Buches die imvorigen Abschnitt bereits paraphrasiert wurden

140 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Diese Art der Spiels mit der Erzaumlhlerrolle wird von manchen modernen For-schern als ein wichtiges Merkmal der menippeischen Satire angesehen Hinzu-treten kann die Selbstherabsetzung des Erzaumlhlers die sich an seinemmangelndenWissen Stilbewusstsein Traditionsempfinden o auml entzuumlndetsup3sup3⁷ Folglich kanndie zunaumlchst befremdliche Brechung und Verzerrung als weiteres Merkmal derGattung menippeische Satire bestimmt werden

Aufgrund dieser Beobachtungen ist es zwingend in De nuptiis vor allem eineSatire zu sehen Auch der heiter-spoumlttische Charakter einiger Passagen zwischenden Vortraumlgen der Brautjungfern passt zum satirischen Anspruch Gelegentlicherscheint es jedoch fraglich ob es sich wirklich um satirische und nicht eher umkomische oder derbe Spaumlszlige handelt Die Szene in der Silen betrunken einschlaumlftund von den anderen Goumlttern verspottet wird (8 803ndash805) erinnert mit ihremSlapstick eher an den derben Spott der Komoumldie als an die Satire eines Varrosup3sup3⁸

22 Deutungen der komplexen literarischen Form

Wie laumlsst sich das Werk De nuptiis nun also formal beschreiben oder andersgefasstWie lassen sich die vier literarischen Traditionsstraumlnge zusammenfuumlhrenDass eine einheitliche Lesung zumindest versucht werden muss zeigt bereits dasLeitmotiv der Hochzeit ansup3sup3⁹

Im Kern handelt es sich bei MartianusrsquoWerk um eine Sammlung bedeutenderWissensschaumltze in einem einzigen Werk die darin systematisch ausgebreitetwerden Dies zeigt die Einteilung in verschiedene Disziplinen die ein ver-

Zur Erzaumlhlerrolle in der menippeischen Satire vgl u a Relihan 1993 und darin bes S 35 Mit der Aufnahme unterhaltsamer Elemente ginge Martianus sogar noch uumlber dieErwartungen an ein sbquosatirischeslsquo Werk hinaus Auch Boethius wird bescheinigt er erzaumlhle seineConsolatio bdquoper satiramldquo auch wenn bei ihm weder eine Figur Satura auftritt noch allzu vielHeiterkeit herrscht (Peiper zitiert in der Einleitung zu seiner Ausgabe S xxxi eine mittelalter-liche Boethius-Vita vgl Kindermann 1969 61)

hos libros [scil de consolatione Philosophiae] per satiram edidit imitatus videlicet mar-cianum felicem capellam qui prius libros De nuptiis philologiae et mercurii eadem speciepoematis conscripserathellip

Diese Buumlcher schrieb er als Satire freilich in Nachahmung des Marcianus Felix Capellader zuvor die Buumlcher uumlber die Hochzeit der Philologie mit Merkur in der gleichen Art vonGedicht verfasst hatte

Zum Motiv der Hochzeit das bereits programmatisch im eroumlffnenden Hymnus anHymenaeus erscheint vgl Schievenin 2009c und Cristante in der Einleitung seiner Ausgabe1987 3ndash 10

2 De nuptiis als literarisches Werk 141

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

gleichsweise leichtes Auffinden der Informationen erlaubtsup3⁴⁰ die Bedeutung wirdangesichts der Praumlsentation vor den Goumlttern auf der Milchstraszlige deutlich Alleinder Umfang dieser Vortraumlge die in sich auch nicht gestoumlrt oder gebrochenwerdenmarkiert dass es sich hier um das zentrale Charakteristikum des Werkes handelt

Den erzaumlhlerischen Anlass fuumlr diese Praumlsentation bietet eine Hochzeitsfeieralso ein Symposion hier ist die Gelegenheit fuumlr die groszligen Redebeitraumlge gegebenZudem bietet die SymposionformAnknuumlpfungspunkte fuumlr eine Rahmenhandlungdie zur Auflockerung der ebenso ausfuumlhrlichenwie trockenen Einzelreden genutztwird

Doch bleibt es ndash im Gegensatz z B zu Macrobius ndash nicht bei der bloszligenDarstellung der Wissensinhalte Hinzu tritt die allegorische Darstellung der Be-deutung von Wissen und von Fleiszlig beim Wissenserwerb in den ersten beidenBuumlchern Die praumlsentierten Inhalte der Buumlcher 3ndash9 (die Philologia ja bereits aufder Erde in Buch 2 besitzt) sindwichtig Sie sind nicht nur wichtig fuumlr das irdischeLeben (das wird nicht weiter thematisiert die explizit irdischen Wissenschaftenwie Architektur und Medizin werden sogar ausgeschlossen) ndash die Inhalte sindauch wichtig fuumlr die menschliche Vervollkommnung

Durch das angesammelte Wissen erreicht der Mensch zwar nicht die voll-kommene Erkenntnis (die erhaumllt auch Philologia nur ohne eigenes Zutun als sieauf der houmlchsten Himmelssphaumlre angekommen zum Vatergott in der jenseitigenGluumlckseligkeit betet) wohl aber ein goumlttergleiches Wissensup3⁴sup1 Der Wissenserwerbist gewissermaszligen die Voraussetzung dafuumlr dass der Mensch mit Hilfe einesgoumlttlichen Begleiters in den Himmel aufsteigen kann unsterblich wird und voll-kommene Einsicht erlangt

Die so weit kohaumlrente Verbindung der literarischen Traditionen laumlsst aller-dings den explizit satirischen Anspruch von De nuptiis auszliger Betracht durch denMartianus selbst das Werk primaumlr in die Gattung der Satire einordnet waumlhrendvergleichbare Bezuumlge zu anderen Gattungen fehlen Natuumlrlich lieszlige sich dieserprogrammatische Anspruch mit einem Verweis auf die Verwendung des Begriffszur Bezeichnung einer inhaltlich wie literarisch gemischten Form erklaumlren Dochgreift diese Erklaumlrung zu kurz da das Agieren Saturas die literarischen Passagendes Werks beinahe als Travestie erscheinen laumlsst (vgl oben zur Erzaumlhlerfigur) Einbildend-enzyklopaumldisches Werk kann sich allerdings nicht gefahrlos als Satire

So auch Englisch 1994 56 Die bdquoSystematik bei der Praumlsentationldquo erlaube einen leichtenZugriff auf die Informationen Mart Cap 2 201ndash205

142 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

praumlsentieren ohne Zweifel an der Glaubwuumlrdigkeit und Zuverlaumlssigkeit desWerkes und der praumlsentierten Inhalte zu weckensup3⁴sup2

Wenn Martianus auch die Konventionen der Gattung menippeische Satireaufnimmt und sein Werk also nur folgerichtig unter anderem eine unzuverlaumlssigeErzaumlhlsituation aufweist ist dies noch keine Erklaumlrung an sich Die regelkonformeUmsetzung gattungstypischer Anspruumlche erklaumlrt noch nicht die Wahl der Gattungan sich ndash einer Gattung die trotz ihrer Benennung als solche nicht zu denStandardformen und akzeptierten Gattungen zaumlhlte insbesondere nicht fuumlrLehrwerkesup3⁴sup3

Auch Martianusrsquo Verweis auf etwas bislang noch nicht Unternommenes(nescioquid inopinum intactumque 1 2) vermag den Widerspruch nicht zu loumlsenDie Wendung zeigt zwar dass Martianus die Ungewoumlhnlichkeit seines Ansatzesbewusst war (sofern sich die Phrase uumlberhaupt auf die Komposition des Werkesbezieht)sup3⁴⁴ beseitigt aber nicht das interpretatorische Problem ZuwelchemZweckverbindet Martianus also zwei so widerspruumlchliche Gattungen wie Enzyklopaumldieund Satiresup3⁴⁵

Drei Antwortansaumltze lassen sich grob umreiszligen 1 Die Verbindung ist nuraumluszligerlich bzw oberflaumlchlich 2 durch die Verbindung soll ein bestimmter Aspektparodiert und somit Spott und Kritik ausgesetzt werden 3 die Verbindung erfuumlllt

Dieses Problem hat bereits Westra in seinem Aufsatz bdquoThe juxtaposition of the ridiculousand the sublime in Martianus Capellaldquo benannt (Westra 1981) Allerdings beschraumlnkt sich auchdieser Aufsatz auf die Darstellung des Problems und die Zusammenstellung der Belege EineLoumlsung hat Westra nicht anzubieten ndash sein Aufsatz endet mit der eher apologetischen Bemer-kung das Eingestaumlndnis der Unvereinbarkeit von Satire und Lehrwerk durch Martianus in 9 997sei prima facie ein Spiel dahinter stecke jedoch die Absicht Problembewusstsein zu demon-strieren und Verantwortung fuumlr die unterlassene Loumlsung zu negieren bdquoEven though I would claim that prose and verse must be present in an ancient Menippeansatire it must be seen as one of a number of shocking juxtapositions of oppositesldquo (Relihan 198760) ndash In der Folge kann die prosimetrische Form durchaus auch Mittel belehrender Werkewerden vgl Pabst 1994 133 Denkbar (und wohl wahrscheinlich) waumlre auch dass damit die Inhalte besonders desMythos gemeint sind Der Verweis auf Unterhaltung fuumlhrt nicht zum Kern der Frage denn die satirische Formstellt mehr dar als reine Unterhaltung Auch das horazische Diktum ridentem dicere verum quidvetat ndashsbquolachend das Wahre zu sagen ndash was spricht dagegenlsquo (Hor serm 1 1 23) als Kern vonMartianusrsquo Satireverstaumlndnisses greift zu kurz ebenso wie vergleichbare Konzeptionen in derLiteratur Dort geht es bei Belehrung immer um einzelne philosophische Saumltze (nie beispiels-weise um die Vermittlung von Philosophie an sich) Folglich bezeichnet das bdquoverumldquo nichtkognitives Lernen sondern moralisches Der grundlegende Unterschied zur Konzeption desMartianus liegt somit auf der Hand Vgl zu diesem Aspekt im Allgemeinen z B Shanzer 1986c42 und im Speziellen u a Woytek 1986 339ndash345 Keulen 2009 bes Kap 2 und 3

2 De nuptiis als literarisches Werk 143

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

einen literarischen und belehrenden Zweck zugleich Aufgrund der komplexenSachlage und der unmittelbaren Bedeutung der Beantwortung der Frage nachdieser Verbindung fuumlr das Gesamtverstaumlndnis von De nuptiis werden alle Alter-nativen vorgestellt und bewertet

Rein formale Verbindung von Satire und EnzyklopaumldieEventuell laumlsst sich die Mischung aus enzyklopaumldischen und satirischen Ele-menten (mit den zur Satire gehoumlrigen Verspartien) als Sonderform der Varro-Re-zeption bei Martianus auffassenVarro von Reate verfasste sowohl umfangreicheFachliteratur als auch menippeische Satiren Fuumlr beides war er in der Antikebekannt und beruumlhmt ndash doch ist es wahrscheinlich dass Martianus die Werkebereits nicht mehr ndash oder allenfalls nur in Auszuumlgen ndash vorliegen hattesup3⁴⁶ Aus demWissen um die beiden Schaffensbereiche des republikanischen Autors die beideder Unterweisung dienen solltensup3⁴⁷ koumlnnte Martianus auf den Gedanken verfallensein die literarischen Formen und Inhalte in seinem Werk zu verbindensup3⁴⁸Vielleicht saszlig er auch einemMissverstaumlndnis auf indem ermeinte dass Varro seinsatirisches wie enzyklopaumldisches Koumlnnen in nur einem Werk demonstriert habeDies hieszlige jedoch dass Martianus sich der Problematik dieser Verbindung nicht

So aumluszligert sich beispielsweise Kindermann in den Vorstudien seiner Ausgabe der Conso-latio des Laurentius von Durham Er billigt Martianus nur eine sekundaumlre Varro-Kenntnis zu(Kindermann 1969 60) Entschieden verneint wird die Frage von Schievenin (2009f) und Hadotdie vor allem neuplatonische Quellen vermutet (Hadot 2005 149) Schneider jedoch nimmt andass sowohl Augustin als auch Martianus die Disciplinae noch vorliegen hatten (Schneider 1999109 f) und dass die Satiren-Exzerpte des Nonius Marcellus (fl um 400 in Afrika) ebenfalls ausdem Originaltext Varros angefertigt wurden (ibid 96 Anm 12) Abwaumlgend aumluszligert sich Huumlbner2004 passim Vgl Cic ac 1 8 (es spricht Varro)

et tamen in illis veteribus nostris quae Menippum imitati non interpretati quadam hilaritateconspersimus multa admixta ex intima philosophia multa dicta dialectice quae quo faciliusminus docti intellegerent iucunditate quadam ad legendum invitati

Jedoch findet sich in meinen fruumlhen Schriften die ich in kreativer Nachfolge (und nicht nurUumlbersetzung) Menipps mit einer gewissen Heiterkeit benetzt habe vieles aus den Kernbe-reichen der Philosophie beigemengt und vieles das nach Art der Dialektiker gesagt istdamit die weniger Gelehrten es leichter verstuumlnden nachdem sie durch eine Art von Scherzzur Lektuumlre ermuntert worden sind

Vielleicht hatte Martianus diese Stelle sogar im Kopf als er die Anlage von De nuptiis plante So z BWeinreich in der Einleitung zu seiner Uumlbersetzung roumlmischer Satiren bdquoMartianusCapella glaubte gewiszlig ein Varro redivivus zu sein sozusagen die Quintessenz des Gelehrten unddes Satirikersldquo (Weinreich 1962 XCIII) Ebenso Shanzer 1986c 42

144 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

bewusst gewesen sei ndash was ihm sicher nicht gerecht wird Auszligerdem wird so dieBezugnahme auf weitere formale Elemente der menippeischen Tradition und dieuumlbrigen Vorlaumlufer der Gattung mit anderer Konzeption (Lukian Julian) nichtausreichend beruumlcksichtigt

Ebenfalls beim Autor koumlnnte eine zweite Erklaumlrung ansetzen Im Zuge derAbfassung seiner Enzyklopaumldie hat sichMartianus nach horazischer Vorgabe (unddem Beispiel Varros)sup3⁴⁹ um Auflockerung und heitere Elemente bemuumlht Diespontanen Einfaumllle wurden ins Werk integriert und die sich daraus ergebendenInkonsistenzen entweder uumlbersehen oder billigend in Kauf genommen Beideswuumlrde gut zum klassisch negativen Martian-Bild in der Forschung passensup3⁵⁰Abgesehen davon dass Annahmen uumlber das Vorgehen beim Schreiben weitge-hend auf Spekulation beruhensup3⁵sup1 widersprechen drei Beobachtungen dieser Er-klaumlrung Erstens gelingt es Martianus De nuptiis uumlber neun Buumlcher vorauszu-planen so dass am Ende ein ndash zunaumlchst abgesehen von der Satire-Problematik ndashkohaumlrentes Werk entsteht Die Fuumllle der behandelten Themen Motive und lite-rarischen Elemente weist eher auf ein planvolles Arbeiten hin und macht es un-wahrscheinlich dass Martianus Probleme an dieser Stelle nicht wahrgenommenbzw nicht korrigiert haumltte Zweitens ist die Verbindungvon Satire und den anderenElementen nicht nur oberflaumlchlich so dass sie nachtraumlglich eingefuumlgt sein koumlnnteoder sich im Schreibprozess so ergeben haben koumlnnte Da bereits im zweitenKapitel des ersten Buches Satura eingefuumlhrt wirdwar sie von vornherein Teil des

Gemeint ist das beruumlhmte zunaumlchst nur fuumlr die Dichtung relevante prodesse aut delectare(Hor ars 333 f) zu Varro vgl die schon angefuumlhrte Stelle aus Cic ac Vgl z B die sehr bildliche Beschreibung von C S Lewis bdquo[hellip] this universe which hasproduced the bee-orchid and the giraffe has produced nothing stranger than Martianus Capella[hellip] the curiosity shop of his mind [hellip] a chaos beside which the work of Rabelais has unity andthat of Mandeville probabilityldquo (Lewis 1936 78 f) Gleiches gilt fuumlr Spekulationen uumlber eine andere Auffassung von Literatur und ihrenRegeln in Martianusrsquo Zeit oder Umfeld Einerseits kennen wir keine Texte die sich mit De nuptiisvergleichen lieszligen (was per se nichts beweist aber doch Indiziencharakter hat) andererseitshielten sich auch die spaumltantiken Autoren uumlblicherweise an die klassischen Vorgaben Ich teiledaher auch Schneiders Ansicht nicht der die Skepsis an dieser Verbindung allein der modernenLeseerfahrung zuschreibt bdquoWenn den Heutigen diese Kombination der forcierten Gelehrsamkeiteines Curriculums und der spielerisch-saloppen Causerie seltsam beruumlhren mag so waumlre dazuimmerhin schon an ein ciceronisches Dictum zu erinnern non est enim seiunctus iocus a phi-lologia (ad fam 16214) ndash sbquoSpieltrieb und Pedanterie diktieren und widersprechen sich nichtlsquo(sbquoErste Fruumlhschichtlsquo aus Grassrsquo sbquoHundejahrelsquo)ldquo (Schneider 1999 94 Anm 2) Der Verweis aufCicero traumlgt nichts zum Verstaumlndnis von Martianus bei Cicero geht es an der zitierten Stelle umden Ablauf des Tages mit seinem Schuumller der aus ernsteren und heitereren Abschnitten bestehtDaraus folgt nicht dass das Lernen mit Scherz verbunden ist ndash auszligerdem duumlrfte Cicero unteriocus (sbquo[urbaner] Scherzlsquo) anderes verstanden haben als Martianus in seiner Satura bietet

2 De nuptiis als literarisches Werk 145

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Kompositionsplans Drittens hat Schievenin gezeigt dass Martianus keineswegsoberflaumlchlich und eigenwillig arbeitet Durch eine gruumlndliche Untersuchung derSilen-Passage (8 803ndash805) kann er nachweisen dass Martianus ndash wie vieleAutoren vor ihm ndash uumlber ein umfangreiches literarisches Wissen verfuumlgte daraufbei der Abfassung seines Werkes zugreifen konnte und durch gezielte Anspie-lungen neue Bezuumlge herstelltesup3⁵sup2

Satire als Mittel der KritikWaumlhrend die antike Satire (im Gegensatz zur modernen) nicht zwangslaumlufig Kritikan Missstaumlnden uumlben wollte ist diese Moumlglichkeit umgekehrt auch nicht auszu-schlieszligen Martianus koumlnnte also bewusst eine solide Darstellung der Kuumlnste inliterarischem Gewandmit der Gattung der Satire verbunden haben um Zweifel ander Ernsthaftigkeit der uumlbrigen Teile des Werkes zu wecken Er wuumlrde somit einaufklaumlrerisches Interesse verfolgen das zugleich auch unterhaltsame Zuumlge traumlgt

Eine erste Schwierigkeit dieser Lesart von De nuptiis ergibt sich bereits bei derFrage nach dem Objekt der SatireWerden die Wissensinhalte in Zweifel gezogenoder nur die Art ihrer Vermittlung in langen Reden bzwTraktaten Soll der Glaubean die umfassende Einheit des Wissens kritisiert werden oder die Vorstellungsaumlmtliches Wissen lasse sich vermitteln gar kohaumlrent in einem Werksup3⁵sup3 Ist dieVorstellung dass Wissen goumlttlich mache parodiert oder nur die abwegige Vor-stellung dass auf einer Hochzeit solche Reden gehalten werden Oder richtet sichdie Kritik letztlich gegen die Auffassung Philologia als Vorbild zu sehen oder garals Mittlerin alles Wissens ja sogar als Mittlerin zwischen Menschen und Goumlttern

Aus der Tatsache dass das Objekt der Satire keineswegs leicht zu bestimmenist kann nicht gefolgert werden dass in De nuptiis keine Satire vorliege die be-stimmte Sachverhalte kritisiere Aber es kann durchaus gefolgert werden dass eskeine expliziten textinternen Merkmale gibt die das Lesen steuern und den Ge-genstand der Kritik deutlich hervortreten lassen Die Deutungen gehen also vonmodernen Annahmen uumlber das Umfeld bzw die Gedankenwelt von Martianus aus

Im Kern handle es sich um bdquouna narrazione tersa e brillanteldquo verbunden mit einemDickicht an Verweisen Die Silen-Szene habe einen bdquocarattere colto e della dottrina e dellalingualdquo (Schievenin 1984 132) Das Fazit seiner Untersuchung formuliert Schievenin folgen-dermaszligen bdquoIl De nuptiis si rivela dunque opera di vasti orizzonti non solo per lrsquointento dida-scalico che la pervade e che ne determineragrave la fortuna ma anche per la costante presenza nellafabula della tradizione classica e dei suoi echildquo (ibid 136) Vgl zu dieser Stelle auch Bovey2003 275ndash288 ndash Den geschickten Umgang mit mehreren Quellen ndash erzaumlhlerisch wie seman-tisch ndash kann Schievenin auch fuumlr 7 725ndash727 nachweisen (Schievenin 2009e) So z B Relihan 1993 138 bdquoMartianus writes not an encyclopedia but a Menippean satirethat parodies encyclopedic knowledgeldquo

146 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

und weisen zudem meist nicht kleinschrittig auf wie der Interpret zu seiner (oftapodiktisch dargelegten) Ansicht gelangt

Nun folgt daraus noch nicht dass Martianus De nuptiis nicht als kritisierendeSatire konzipiert haumltte die Vielzahl der (wenn auch differierenden) modernenDeutungenweist ja darauf hin Zwei Uumlberlegungenwenn auch keine schlagendenBeweise lassen die Hypothese der parodierenden Satire unwahrscheinlich wer-den der Umfang von De nuptiis und seine Rezeption Eine Satire die beispiels-weise die Verbindung von Weltwissen und menschlicher Vervollkommnung in-frage stellt benoumltigt nicht noch eine umfassende Darlegung eben diesenWissensDies gilt besonders da diese Darlegung den Hauptteil des Werks ausmacht und ndashzumindest dem Umfang nach ndash die uumlbrigen Partien weit uumlberragt Eine Deutungvon De nuptiis als kritischer Satire muumlsste also besonders die Frage beantwortenzu welchem Zweck die umfangreichen Darstellungen der Freien Kuumlnste aufge-nommen sind (und nicht nur angedeutet werden)

Die Rezeption eignet sich zwar ebenfalls nicht zu sicheren Ruumlckschluumlssen aufdie originale Intention eines Werkes haumlufig bietet sie aber interessante EinblickeDie Martianus-Rezeption stellt sich bald ein Cassiodor beruft sich in seinen In-stitutiones auf ihn Dort erscheint Martianus nicht als Satiriker oder Zeitkritikersondern als Gelehrtersup3⁵⁴ In dieser Tradition wird Martianus auch im Mittelaltergelesen und rezipiertsup3⁵⁵

Aumlhnliches laumlsst sich fuumlr Boethiusrsquo Anknuumlpfen an die prosimetrische Form inder Ausgestaltung von Martianus sagen Boethius verfasst zweifelsfrei keine kri-tische Satire kann aber trotzdem an die Form und den Inhalt von De nuptiisproblemlos anknuumlpfen Sowohl der Form nach wie auch durch einzelne Zitatemacht er deutlich dass erDe nuptiis kennt und als eine seiner Vorlagen benutzt Esist zu bezweifeln dass Boethius in seinem Bemuumlhen um eine adaumlquatewerbendeDarstellung der Philosophie auf Form und Zitate des Martianus zuruumlckgegriffenhaumltte haumltte er nicht die Moumlglichkeit der gefahrlosen Uumlbernahme gesehen

Satirische Elemente als Mittel der BelehrungDer dritte Erklaumlrungsansatz fuumlr die Verbindung von Satire und Belehrung be-trachtet die Wahl Saturas als Figur und die Bezugnahme auf die Gattung zunaumlchst

Cassiod inst 2 2 17 Zur mittelalterlichen Martianus-Rezeption vgl bes Nuchelmans 1950 Lutz 1971 und 1976Willis 1973 sowie die Ausgaben und Literatur u a zu folgenden Werken Konrad von MureFabularius Hugo von Sankt Victor Didascalicon de studio legendi Johannes von SalisburyMetalogicon Kindermann kann weiterhin nachweisen dass De nuptiis auch durch seine Forminspirierend gewirkt hat (Kindermann 1969 61 f)

2 De nuptiis als literarisches Werk 147

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

als reine Fortsetzungder literarischen Form Fuumlr diese spezielle Formder Literaturdie menippeische Satire hat der russische Literaturwissenschaftler MichailBachtin Beobachtungen aufgestellt die auch fuumlr De nuptiis zutreffen Durch denRuumlckgriff auf zwei zentrale Konzepte Bachtins das Karnevaleske und die Dialo-gizitaumlt wird ein Verstaumlndnis von De nuptiis ermoumlglicht

Auf der Suche nach Vorlagen und Urformen der Gattung des Romans ins-besondere in der Form von Dostojewskis Romanen stieszlig Bachtin unter anderemauch auf die menippeische Satire die er bis in die Antike zuruumlckverfolgtesup3⁵⁶ Zuihren Vertretern zaumlhlt er unter anderem Varro Apuleius Petron Seneca oderLukiansup3⁵⁷ Martianus Capella wird nicht erwaumlhnt was aber nicht verwundernmuss da Bachtin keine Literaturgeschichte der menippeischen Satire schriebsup3⁵⁸

Kern der Uumlberlegungen Bachtins zurmenippeischen Satire ist das Konzept desKarnevals Unter Karneval versteht er folkloristische Feste waumlhrend deren diebestehende Ordnung verkehrt wird uumlbliche Regeln nicht mehr gelten Herr-schende gestuumlrzt und Machtlose maumlchtig werden ndash auf Zeit Die Karnevalisierungalso die Uumlbernahme der Kennzeichen dieses Festes in neue oder bestehende li-terarische Formen institutionalisiert diese Ausnahmesituation und loumlst sie vomkonkreten Fest Der so entstandene Text wird bdquozum karnevalesken Spiel an demder Autor und sein Publikum einverstaumlndlich teilhaben und das keines kalen-darisch oder institutionell abgesicherten Karnevalsrahmens mehr bedarfldquosup3⁵⁹

Diese Karnevalisierung fuumlhrt unter anderem zu einer Vielstimmigkeit vonMeinungen und Positionen im Text z B durch mehrere Figurenvon denen keinebevorzugt oder gar als autoritativ gekennzeichnet wird In dieser Dialogizitaumlt wirdkein allgemein guumlltiger Sinnmehr vermittelt sondern dieWahrheit suspendiertsup3⁶⁰

Dass der Bezug auf karnevalsartige Feste der Gattung menippeische Satire (inTeilen auch der Verssatire) eignet zeigt ein kurzer Blick auf wichtige Vertreter derTradition

Julians Symposion Caesares spielt zur Zeit der Saturnalien Die Bedeutungdieses Festes fuumlr das Werk wird dadurch verdeutlicht dass es den Handlungs-

Bachtin 1971 126ndash 135 Bachtin 1971 126 128 132f Kritik an den z T pauschalisierenden und verfaumllschenden Aussagen Bachtins uumlber antikeLiteratur oder an der ununterbrochenen Traditionslinie von der Antike bis in die Moderne (z BRelihan 1987 59 Lachmann 2006 23ndash25) muumlsste auch auf manche moderne Literaturwissen-schaftler in der Nachfolge Bachtins angewandt werden (vgl Branham 2005 6 wo es uumlberSenecas Apocolocyntosis heiszligt bdquoour only extant Menippean satire in Latinldquo) Teuber 1993 182 Eine gut verstaumlndliche Einfuumlhrung in das Konzept der Dialogizitaumlt im Sinne der bach-tinschen Terminologie bietet Sharland 2010 Einfuumlhrung (1ndash51)

148 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

rahmen fuumlr den in der Folge erzaumlhlten Mythos bildet Bereits im ersten Satz wirdauf das Fest und die Tradition Heiteres frei zu erzaumlhlen Bezug genommensup3⁶sup1

Auch Senecas Apocolocyntosis stellt einen engen Bezug zum Saturnalienfesther Das Werk spielt zwar nicht an den Saturnalien sondern am Todestag desClaudius im Oktober doch wird an zwei Stellen eine Verbindung zwischen derHerrschaft des verstorbenen Kaisers und den dargestellten Sitten waumlhrend derRegierungszeit mit dem Saturnalienfest gezogensup3⁶sup2 Manche Interpreten gehensogar davon aus dass die Apocolocyntosis an den Saturnalien des Jahres 54vorgetragen wurdesup3⁶sup3 Auch bei Petron und Horaz finden sich Bezugnahmen aufdie Saturnaliensup3⁶⁴

Ein zentrales Element des Saturnalienfestes liegt in der Suspension der uumlb-licherweise geltenden Normen und Wertesup3⁶⁵ Neben den anderen Elementen desFestes wie sie z B in Macrobiusrsquo Saturnalia (1 7ndash 10 1 24 22 f) beschriebenwerden (traditionelle Geschenke Festmahl fuumlr die Sklaven etc) hat gerade dieUmkehrung der Herrschaftsverhaumlltnisse im Haus Niederschlag in der Literaturgefunden

Gerade durch diese Rolleninversion treten einige wichtige gesellschaftlicheNormvorstellungen und Grundannahmen prominent hervor Dazu zaumlhlt das Be-wusstsein dass es eine befehlende und eine ausfuumlhrende Gruppe von Menschengibt oder dass im Prinzip ein Rollenwechsel moumlglich sein kann Alle Beteiligten

Ἐπειδὴ δίδωσιν ὁ θεὸς παίζειν ndash ἔστι γὰρ Κρόνια ndash hellip (sbquoDa der Gott das Scherzen erlaubt ndashes sind ja die Kronia helliplsquo Caes 1 = 306a Spanheim) Zur Frage ob es sich bei Caesares auch umdas Werk handle auf das zu Ende der Rede auf Koumlnig Helios verwiesen wird (Or in Sol reg 44 =157c Spanheim) vgl Muumlller in seiner Uumlbersetzung (39 ablehnend) und Lacombrade im Vorwortseiner Budeacute-Ausgabe (3 und 18 Anm 3) der aufgrund des Handschriftenbefundes Kronia auchals Titelbestandteil fuumlr die Caesares uumlbernimmt Es handelt sich um Sen apocol 8 1 (Claudius als Saturnalienprinz) und 12 2 (Herrschaftdes Claudius als andauerndes Saturnalienfest) ndash Dass Lukian nicht auf die Saturnalien alsRahmen fuumlr seine Werke zuruumlckgreift entwertet die Beobachtungen nicht Lukian musste auf-grund seines Selbstbewusstseins als satirischer Schriftsteller und aufgrund der Menge seinersatirischen Schriften nicht jedes Mal einen eigenen literarischen Rahmen herstellen in demeinzelne Dialoge stattfinden konnten Das Saturnalienfest selbst erscheint bei Lukian als Ge-genstand der Satire nicht als deren literarische Rahmung (Τὰ πρὸς Κρόνον) Zuerst bei Furneaux 1896 23 Anm 11 In der neueren Forschung vgl bes Nauta 1987Kritisch dazu u a Doumlpp 1993 159 f Petron 44 3 58 2 69 9 zu Horaz vgl z B serm 2 7 (libertas Decembris) Ein gelungenesBeispiel der Anpassung und Anwendung der bachtinschen Konzepte mit Ertrag fuumlr die Inter-pretation unter Einbezug von serm 2 7 bietet Sharland 2010 Distelrath 1999 114 Vgl weiterhin Versnel 1993 136ndash227 und Doumlpp 1993 Eine plastischeSchilderung der Rollenvertauschung bei der der Sklave dem Herrn die Leviten liest bietet Horserm 2 7

2 De nuptiis als literarisches Werk 149

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Herren wie Sklaven spielen also mit den Moumlglichkeiten einer alternativen Wirk-lichkeit

Das Besondere im Spiel mit den Moumlglichkeiten liegt aber in seiner zeitlichenBegrenzung Nach der Zeit des Ausnahmezustands gelten wieder die normalenimmer guumlltigen Regeln Die Rolleninversion erlaubt also ndash oder erzwingt gera-dezu ndash das Nachdenken uumlber bestimmte gesellschaftliche Normen und Wertvor-stellungen Durch die Ritualisierung und enge zeitliche Begrenzung ist darausjedoch keineswegs die Notwendigkeit entstanden die Verhaumlltnisse tatsaumlchlich zuhinterfragen oder gar zu aumlndern Daher lassen sich die Saturnalien auch als ein dieKonventionen bestaumlrkendes Fest verstehen Das Spiel mit der Moumlglichkeit eineranderen Gesellschaftsordnung hat durch seine Ritualisierung letztlich eine dieTradition legitimierende Funktion bekommen

In De nuptiis finden sich jedoch houmlchstens spaumlrliche Hinweise auf das Sa-turnalienfest Am ehesten weist das grob scherzende Agieren Saturas in diesenBereich Die bdquolangen Winternaumlchteldquo (1 2) koumlnnten (statt als Bezug auf Gellius) alsAnspielung auf das Saturnalienfest verstandenwerden ndash die Saturnalien finden inden laumlngsten Naumlchten uumlberhaupt statt seit der Kaiserzeit vom 17 bis 23 DezemberDies ndash wie die Spekulation uumlber eine spielerische etymologische Verbindung vonSatura und Saturnaliensup3⁶⁶ ndash ist aber insofern nicht von Belang da die Gattung alsGanze karnevaleske Zuumlge traumlgt und als gewissermaszligen institutionalisierter Kar-neval vom eigentlichen Fest losgeloumlst istsup3⁶⁷

Die Aufhebung der uumlblichen Ordnung (was Teuber im Ruumlckgriff auf Limina-litaumltskonzepte als praumlliminale Phase bezeichnet)sup3⁶⁸ beginnt mit der VorbereitungPhilologias zum Aufstieg in den Himmel Bereits das Erbrechen stellt eine mar-kante Umkehrung der alltaumlglichen Welt dar Statt sich Wissen anzueignen er-bricht Philologia es nun In der Goumltterversammlung auf der Milchstraszlige ist dieOrdnung sodann voumlllig verkehrt Philologia als Meisterin aller Disziplinen und

Zwar sind die einschlaumlgigen etymologischen Woumlrterbuumlcher skeptisch (v a WaldeHof-mann 2007 II 482 neutral ErnoutMeillet 2001 596) jedoch gibt es dahin gehende moderneDeutungen (aufgefuumlhrt bei WaldeHofmann 2007 II 482) und auch antike ParallelisierungenCic nat deor 2 64 Saturnus hellip est appellatus quod saturaretur annis (sbquoSaturn hellip wurde ergenannt weil er an Jahren gesaumlttigt istlsquo) Fulg myth 1 2 (p 17 16) a saturando Saturnus dictusest (sbquoDa er (die Menschen) saumlttigt wurde er Saturn genanntlsquo) Aug cons euang 1 23 35 Sa-turnus tamquam satur hellip νοῦς (sbquoSaturn gleichsam der gesaumlttigte hellip νοῦςlsquo) Vgl auch Gowers diedie etymologischen Verbindungen von satura Satyrspiel und Saturnalien untersucht (Gowers1993 109ndash 117) Sie kommt zu dem Befund dass keine Verbindung bestehe wohl aber verbin-dende Elemente identifiziert werden koumlnnten bdquocarnival licence parody uninhibited mockeryand excessive consumptionldquo (ibid 117) Vgl z B Teuber 1993 183 f Teuber 1993 183

150 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

bedeutende Lehrinstanz muss sich ihrerseits belehren lassen ndash mit dem Wissendas urspruumlnglich ihres war

Durch die Inversion wird die (vielleicht uumlblicherweise nicht prominente)Philologia in den Mittelpunkt geruumlckt und ihre zentrale Rolle im Wissenssystemtritt markant vor Augen Gleichzeitig kann darin eine leise Anfrage an ihre Lehr-autoritaumlt und eventuell auch ihre Eignung zur Lehre gesehen werden

Aufgrund des zeitlich begrenzten Rahmens der Verkehrung (diemit dem Endeder Vortraumlge voruumlber ist aber nicht explizit zuruumlckverwandelt wird) dessen Be-grenztheit durch Bezug auf die Form der menippeischen Satire ergaumlnzt werdenkann wird das System der Bildung und der Bildungsvermittlung jedoch nichtgrundsaumltzlich infrage gestellt Die Suspendierung Philologias ist temporaumlr

Dem Konzept der Dialogizitaumlt oder Mehrstimmigkeit folgend erklaumlrt sich auchdie Doppelung und Verunklarung der Erzaumlhlinstanz In den drei Dialogen indenen Satura und Martianus aufeinandertreffen behandeln sie die Frage desrichtigen Erzaumlhlens Dies beschraumlnkt sich nicht nur auf die Satire sondern umfasstalle auftretenden literarischen Formen Martianus und Satura sind sich uneinswie weit der Mythos reichen soll und ob eine Enzyklopaumldie trocken oder auchunterhaltsam erzaumlhlt werden soll (2 219ndash3 222) ob ein Symposion auch Zechenund Spaszlig vertraumlgt (8 803ndash810) oder ob und wie stark Satire Dinge vermischendarf (9 997ndash 1000)

Die unterschiedlichen Meinungen zu den Fragen werden zwar diskutiert undfuumlhren zu einem Ergebnis ndash der Erzaumlhlfluss versiegt ja an keiner Stelle oder setztneu an Allerdings entsteht in der Folge kein homogenes Werk und am Schlussmag keiner der beiden Erzaumlhler dafuumlr die Verantwortung uumlbernehmen Der Wi-derwillen sich zu dem Werk zu bekennen bedeutet aber gleichzeitig auch dassMartianus sich nicht festlegt welche Position er fuumlr die richtige haumllt Die Fragenach der rechten Art der Wissensvermittlung die auch in der Ent- und Inthroni-sierung Philologias anklang bleibt unbeantwortet

Schlieszliglich bringt der Blick auf die Aurelian-Vita aus der Historia Augustanoch einen weiteren Aspekt ein Parallel zur Aufteilung der Erzaumlhlinstanzen in Denuptiiswird der Erzaumlhlprozess in derHistoria Augusta aufmehrere AutorenverteiltWie zuerst Hermann Dessau und in der Folge Ronald Syme nachdruumlcklich gezeigthaben handelt es sich allerdings um nur einen Verfasser der uumlberdies auch inBezug auf die Abfassungszeit falsche Angaben gemacht hat und Quellen erfundenhatsup3⁶⁹ Insofern laumlsst sich der in der Historia Augusta gepraumlgte Begriff der

Auf den Charakter der Sammlung die Syme u a als bdquohoaxldquo bezeichnet (1983a 11 1983b13 1983c 219) die fingierten Autoren die manipulierten Quellen etc soll an dieser Stelle nurhingewiesen werden Vgl auch Cameron 2011 Kap 20 mit ausfuumlhrlicher Diskussion relevanterFragen

2 De nuptiis als literarisches Werk 151

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mythistoria der Vermischung von Mythischem und Historischem auch auf dieSammlung selbst anwendensup3⁷⁰

Als Menippee im engeren Sinne laumlsst sich weiterhin die Aurelian-Vita die 26Vita der Sammlung fassen und bezeichnenderweise spielt die Rahmenhandlungan denHilariasup3⁷sup1Wie zu den Saturnalien gehoumlren zu diesem Fest Scherze und ndash imRahmen von Maskierungen ndash Rollenwechselsup3⁷sup2

Noch in der rahmenden Einleitung zur Vita spielt sich folgender Dialog ab

1 et quoniam sermo nobis de Trebltellgtio Pollione qui a duobus Philippis usque ad divumClaudium et eius fratrem Quintillum imperatores tam claros quam obscuros memoriaeprodidit in eodem vehiculo fuit adserente Tiberiano quod Pollio multa incuriose multabreviter prodidisset me contra dicente neminem scriptorum quantum ad historiam pertinetnon aliquid esse mentitum prodente quin etiam in quo Livius in quo Sallustius in quoCornelius Tacitus in quo denique Trogus manifestis testibus convincerentur pedibus insententiam transitum faciens ac manum porrigens iocando[m] praeterea sbquoscribelsquo inquit sbquout

quae ille [scil Iunius Cordus] omnia exsequendo libros mythistoriis replevit talia scribendocum omnino rerum vilium aut nulla scribenda sint aut nimis pauca si tamen ex his morespossint animadverti qui re vera sciendi sunt hellip sed ex parte ut ex ea cetera colligantur(SHA Opil 1 5)

Bei der Anfuumlhrung von all diesen Informationen hat er die Buumlcher mit fabuloumlsen Ge-schichten angefuumlllt indem er Dinge von dieser Art schrieb wo doch uumlberhaupt keinenutzlosen Dinge geschrieben werden duumlrfen oder nur sehr wenige sofern daraus Verhal-tensweisen erkannt werden koumlnnen die wirklich wissenswert sind hellip aber zum Teil(schreibe ich) damit daraus das Andere gefolgert werden kann

quid Marius Maximus homo omnium verbosissimus qui et mythist[h]oricis se voluminibusinplicavit num ad istam descriptionem curamque descendit (SHA Quadr tyr 1 2)

Wie Hat sich Marius Maximus der groumlszligte Schwaumltzer vor dem Herrn der sich in seinenmythistorischen Werken verfangen hat etwa zu dieser Art der Darstellung und des sorg-faumlltigen Arbeitens herabgelassen

Hilaribus quibus omnia festa et fieri debere scimus et dici impletis sollemnibus vehiculo suome hellip Iunius Tiberianus accepit (SHA Aurelian 1 1)

An den Hilaria an denen alles zum Fest Gehoumlrende getan und gesagt werden muss wieman weiszlig empfing mich nach Erledigung der Zeremonien Iunius Tiberianus in seinemGefaumlhrt

Pausch bemerkt dieses besondere Datum zwar und erwaumlgt ob es sich um ein bdquoweitergehendesLesesignalldquo beispielsweise im Sinne karnevalesker Literatur handeln koumlnne verfolgt diese Spuraber nicht weiter (Pausch 2011 130 Anm 1) Herodian 1 10 5 ndash Einige Hinweise auf die Hilaria die im Kontext des Magna Mater-Festesam 25 Maumlrz gefeiert wurden bietet Fraser in seinem Kommentar zu Ovids Fasti (Fraser 1929244ndash248)

152 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

libet 2 securus quod velis dices habiturus mendaciorum comites quos historicae elo-quentiae miramur auctoreslsquo (SHA Aurelian 2 1ndash2)

1 Und weil unser Gespraumlch uumlber Trebellius Pollio der von den beiden Philippi bis zumvergoumlttlichten Claudius und dessen Bruder Quintillus gleichermaszligen uumlber beruumlhmte wieunbekannte Kaiser fuumlr die Nachwelt schrieb in derselben Saumlnfte stattfand behauptete erdass Pollio vieles ohne Sorgfalt und nur kurz dargelegt habe Ich erwiderte dass keinSchriftsteller sofern es um die Geschichte gehe nicht irgendwo gelogen habe und legtesodann dar worin sogar Livius Sallust Tacitus schlieszliglich sogar Trogus mit eindeutigenBelegen uumlberfuumlhrt werden koumlnnten Darauf sagte Tiberianus schlieszliglich scherzend indem ermeiner Meinung beipflichtete und mir seine Hand darbot bdquoSchreibe sowie du es fuumlr richtighaumlltst 2 Sage unbesorgt was du willst du wirst diejenigen als Gefaumlhrten fuumlr deine Taumlu-schungen haben die wir als Schoumlpfer historiographischer Beredsamkeit bewundernldquo

So sympathisch dieser Anspruch auch erscheinen mag ist er doch fuumlr das Ver-trauen in die Gattung der Geschichtsschreibung fatal Gerade in der Einleitungeiner Vita jedoch ndash zumal es der Fiktion nach die erste des Flavius Vopiscus Sy-racusius im Corpus der Historia Augusta ist ndash kann eine solche Anekdote ei-gentlich keinen Platz haben Sie erweckt beim Leser den Eindruck dass er dennachfolgend dargebotenen Informationen kein Vertrauen schenken duumlrfesup3⁷sup3

Die Parallelen zwischen der Historia Augusta insbesondere dem Vorgehen inder Vita Aureliani und De nuptiis liegen auf der Hand Verunklarung der Autor-schaft bzw der Erzaumlhlhaltung einerseits Erwecken von Zweifeln an der Glaub-wuumlrdigkeit des Dargebotenen andererseits

In der Historia Augusta sind die Inkongruenzen mit der Freude des Autors amliterarischen Spiel erklaumlrt worden Der Autor habe aus Freude am Fabulieren(vielleicht auchumein dafuumlr empfaumlngliches Publikum zu befriedigen) die Viten indieser Form verfasstsup3⁷⁴ Mag man dies fuumlr die Historia Augusta noch zugestehenderen Text uumlber einen laumlngeren Zeitraum vielleicht zunaumlchst ohne eine Gesamt-konzeption entstanden ist und auch sprachlich nicht herausragt stellt sich derSachverhalt fuumlr Martianusrsquo De nuptiis anders dar Das Werk hat durchaus einenliterarischen Anspruch und es folgt eindeutig einer vorab geplanten Gesamtan-lage Die Freude am Spiel mag vielleicht manches Detail beigesteuert haben fuumlrdie verschraumlnkte Anlage des Textes ist sie aber keine Erklaumlrung

Ganz anders ist der Anspruch zum Ende der Darstellung der Viten der bdquoDreiszligig Tyrannenldquoin dem der Autor beteuert seinem Werk mangele es zwar an literarischer Ausgefeiltheit nichtjedoch an Faktentreue da nunc cuivis libellum non tam diserte quam fideliter scriptum ndash sbquoGibnun dieses Buumlchleinwem du magst es ist nicht so sehr kunstvoll geschrieben wie es sachgetreuistlsquo (SHA Quadr tyr 33 8) Syme nennt dies bdquodeceit for its own sweet sakeldquo (1983c 217) Im gleichen Aufsatz spe-kuliert er auch uumlber das Interesse des Publikums an einer solchen Art von geistigem Spiel(ibid 221)

2 De nuptiis als literarisches Werk 153

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Es lohnt sich jedoch auch fuumlr die Historia Augusta einen Schritt weiter zugehen Ausgangspunkt dafuumlr ist die obige Beobachtungdass das literarische Spielder Historia Augusta nur durchschaut wer die Werke der historischen Literaturkennt Durch die Lektuumlre historiographischer Biographien bringt der Leser einebestimmte Leseerwartung also implizite Vorstellungen mit wie das Werk aus-sehen soll und wird Diese Erwartungen werden aber nicht oder nur teilweisebedient Formal gesehen weisen die Viten in der Historia Augusta zwar die Cha-rakteristika der Gattung auf ndash doch indem sie sie inhaltlich nicht adaumlquat aus-fuumlllen treten deren Konventionen vor Augen

Durch die uumlbermaumlszligige Verwendung falscher Verweise und erfundener Quel-len geraumlt zudem das Beglaubigungsverfahren historischer Texte in den Blick-punkt Der Leser erkennt anwelchen Stellenwelche Beglaubigungsmechanismenansetzen und auf welche Weise sie unterlaufen werden koumlnnen Uumlberspitzt lieszligesich behaupten DieHistoria Augusta verfolgt ein aufklaumlrerisches Interesse indemsie (spielerisch) aufzeigt welche Beglaubigungsverfahren die Geschichtsschrei-bung nutzt und wie sie manipuliert werden koumlnnen dadurch wird auch die Ma-nipulierbarkeit von Geschichte und Leser deutlich

In De nuptiis werden ebenfalls die Konventionen der Einzelgattungen ndash zu-mindest ansatzweise ndash hervorgehoben Dass kein perfektes Musterbeispiel derjeweiligen Einzelgattung entstehen kann liegt darin begruumlndet dass durch dieVerbindung der vier literarischen Genres keine oberflaumlchliche Konsistenz derFiktion entstehen kannVielmehr entstehen Bruumlche die ndash ebenso wie die Bruumlchein der Erzaumlhlhaltung ndash auch die Gattungskonventionen und ihre Annahmendeutlich werden lassen Dies gilt besonders fuumlr die Satire deren Vorgehen imKontrast zur eigentlichen Hochzeitshandlung aus dem Rahmen faumlllt und somitbesonderes Augenmerk erhaumllt Hinzu tritt mit der Figur Satura auch eine Perso-nifikation der Gattung die in theoretischen Diskussionen Annahmen und Vor-gehen mit Martianus eroumlrtert Grunduumlberlegungen der Gattung Satire werden sotheoretisch eroumlrtert und praktisch erprobt Gleiches giltwenn auch zT inwenigerdeutlicher Form auch fuumlr die anderen Formen Die Enzyklopaumldie in ihren langenMonologen wird durch Spott markiert die trockenen Kuumlnste werden probeweisedurch Allegorien zugaumlnglicher gemacht im Symposiondialog wird uumlberlegt in-wieweit uumlbliche Rollenmuster (der Zecher) einen Platz haben oder wie weit mandie fuumlr die Feier typischen Reden fuumlhren kann und immythischen Teil wird durchdie Gegenuumlberstellung mit dem handfesten Wissensbetrieb die Andersartigkeitdes Erzaumlhlens deutlich

So werden neben den Inhalten der Wissenschaften auch verschiedene lite-rarische Formen bewahrt Neben der reinen Anwendung und somit Tradierungwerden gleichzeitig auch die Mechanismen verdeutlicht deren sich die jeweilige

154 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Gattung bedient Somit wird ihr Funktionieren nachvollziehbar und in der Folgeauch nachahmbar

3 Zusammenfassung

Martianus weckt also durch die Wahl mehrerer gleichberechtigter Erzaumlhler diesomit das Erzaumlhlen unzuverlaumlssig werden lassen besonders aber durch dieUumlbernahme satirischer Gattungselemente ein Bewusstsein fuumlr die traditionellenGrundlagen desWissens- und Lehrsystems seiner Zeit ImGegensatz zur Satire diediese Fragen kategorisch stellt handelt es sich in De nuptiis um ein Spiel damitDer Satirebezug dient als Anknuumlpfung an die traditionellen Gattungsmerkmaleder menippeischen Satire Karnevaleske und Dialogizitaumlt

Durch die (temporaumlre) Rolleninversion richtet sich das Augenmerk aufPhilologia als Wissenszentrum und Wissensmittlerin und fordert zum Nach-denken daruumlber heraus Im Kern hinterfragt das Werk alle Bereiche die mit Bil-dung und Bildungsvermittlung zu tun haben Was sind die Inhalte wahrer Bil-dung Gibt es eine Einheit von Bildung Wie kann sie vermittelt werden

Allerdings zielt die Kritik nicht auf eine Aufloumlsung klassischer Bildungsinhalteund Vermittlungsformen Sie regt vielmehr durch Scherz und Bruumlche zumNachdenken uumlber diese Fragen an Dabei verzichtet Martianus auf eigene Vor-schlaumlge und Konzepte und festigt so gleichsam den traditionellen Bildungs-betrieb Das von ihm dargestellte Wissen wird kanonisiert und die Darstel-lungsform in langen Reden wird es auch Die mittelalterliche Rezeption von Denuptiis zeigt dies eindrucksvoll

Wissen umfasst dabei nicht nur das Faktenwissen der Vortraumlge sondern auchdas Wissen um bestimmte literarische Formen Durch die Verbindung von vierGattungen und die Doppelung der Erzaumlhlerfigur mit Reflexion uumlber angemessenesErzaumlhlen entstehen Inkonsistenzen die die Konventionen der einzelnen Gattun-gen hervortreten lassen Nicht alle Elementewerden auf dieseWeise deutlich aberMartianus bietet einen Ansatzpunkt die Fiktion auch unter der Fragestellung zulesen was einen Text der jeweiligen Gattung ausmacht ndash sowohl positiv wie ne-gativ formuliert

Mit seiner kreativen Konzeption und ihrer literarischen Umsetzung gelingt esMartianus eindrucksvoll Heiteres und Belehrendes zu verbindenwomit er an dieTradition Varros und die klassische antike Poetik anknuumlpft Es gelingt ihm daruumlberhinaus aber auchWissen zu vermitteln und die traditionellen Vorstellungen vonder Bedeutung dieses Wissens wie der Form seiner Vermittlung herauszustellenSpielerisch wird also gelehrt und hinterfragt nicht jedoch kategorisch kritisiertoder kuumlhn neu entworfen Gerade dadurch zeichnet sich Martianusrsquo De nuptiis

3 Zusammenfassung 155

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

tatsaumlchlich als nescioquid inopinum intactumque (sbquoetwas Ungewohntes und nochnie Gewagteslsquo 1 2) aus und macht es zu einem der bedeutendsten Buumlcher derSpaumltantike und zu einer interessanten Quelle fuumlr die Frage nach Bildungsvor-stellungen im fuumlnften Jahrhundert

156 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Page 26: Bildungsvorstellungen im 5. Jahrhundert n. Chr. (Macrobius, Martianus Capella und Sidonius Apollinaris) || III Martianus Capella, De nuptiis Philologiae et Mercurii

waumlhrend langer Winternaumlchte (eine Anspielung auf Gellius)sup3sup3⁴ von Satura be-richtet wurde Der antike wie moderne Leser duumlrfte sich wohl kaum daran stoszligensondernwird darin vor allem eine Inspiration des Autors durch Satura (auchwennes das zuvor noch nicht gab) erkennen Bei der Erwaumlhnung von Satura koumlnnte erHeiteres erwarten oder bunt gemischte Geschichten

Vollkommen verwirrt wird der Leser hingegen spaumltestens dann wenn er amEnde des Werkes in der Sphragis angekommen ist (9 997ndash 1000) Dort reflektiertMartianus sein literarisches Vorgehen in den vorausgegangenen neun Buumlcherngenauer gesagt distanziert er sich von der Form der Darstellung (Umfang Bunt-heit) und verweist auf die Verantwortung Saturas die die Geschichte erzaumlhlt habe

Habes anilem Martiane fabulam 997Miscillo lusit quam lucernis flamineSatura Pelasgos dum docere nititurArtes daggercagris vix amicas AtticisSic in novena decidit voluminahaec quippe loquax docta doctis aggerans 998fandis tacenda farcinat immiscuitMusas deosque disciplinas cyclicasgarrire agresti cruda finxit plasmate (9 997 f)

Da hast du Martianus eine Altweibergeschichte sie verfertigte im Spiel mit vermischterInspiration [d h in Prosa und Vers] bei Kerzenschein Saturawaumlhrend sie sich bemuumlhte diePelasger zu lehren die Kuumlnste die den Griechen kaum freundlich [d h neu] sindSo gelangte sie hinab bis zum neunten Buch haumluft plappernd Gelehrtes auf Gelehrtes undstopft geheimes und bekanntes Wissen zusammen hat Musen und Goumltter vermischt und hatsich erdacht dass die enzyklopaumldischen Disziplinen in einembaumlurischenMachwerk unreifesZeug daherplappern

So ungewoumlhnlich dieses Vorgehen auch ist ndash Martianus haumltte ja den Bericht Sa-turas als Grundlage nehmen und dann nach eigenem Geschmack umgestaltenkoumlnnen ndash wird es uumlbertroffen durch die Verteidigung Saturas Sie weist die Ver-antwortung fuumlr die Art der Erzaumlhlung von sich und verteidigt sichmit demHinweisauf Martianusrsquo intellektuelle Schwaumlche der sie die Ausfuumlhrungen habe anpassenmuumlssen

Vgl Gell praef 4 zur Erklaumlrung der Wahl des Titels Noctes Atticae fuumlr sein Werk

Sed quoniam longinquis per hiemem noctibus in agro sicuti dixi terrae Atticae commentationeshasce ludere ac facere exorsi sumus idcirco eas inscripsimus noctium esse Atticarum hellip

Aber weil wir in langen Naumlchten den Winter uumlber in Attika auf dem Landwie schon gesagtdiese Anmerkungen im Spiel und dann ernsthaft begonnen haben daher haben wir ihnenden Namen Attische Naumlchte gegeben hellip

2 De nuptiis als literarisches Werk 139

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

haec ipsa nauci rupta conscientia 999turgensque felle ac bili bdquomulta chlamydeprodire doctis approbanda cultibuspossemque comis utque e Martis curia[hellip]ab hoc creatum Pegaseum gurgitem 1000decente quando possem haurire poculoldquo (9 999 f)

Sie sagte aufgrund ihres Wissens um die Nichtigkeit (dieser Ausfuumlhrungen) verletztschwellend vor Bitterkeit und Zorn bdquoIch koumlnnte hier freundlich auftreten mit einem Gewandbekleidet lobenswert durchgelehrtes Verhaltenwie aus der VersammlungdesMars [Es folgtdie Schilderung der unguumlnstigen Anlagen von Martianus] ndash Wann koumlnnte ich mit ange-messenem Becher aus einem pegasischen Strom von ihm erschaffen schoumlpfenldquo

Somit hat das Werk das zu Beginn zwei hierarchisch geschiedene Erzaumlhler zuhaben scheint am Ende zwei Erzaumlhler die sich gleichberechtigt uumlber die Form dererzaumlhlten Geschichte streitensup3sup3⁵

Die Inkonsistenzen auf der Erzaumlhlebene setzen sich daruumlber hinaus fort HatteMartianus zu Beginn des Werks gesagt Satura habe ihm die Geschichte waumlhrendlangerWinternaumlchte erzaumlhlt so treten Satura undMartianus amEnde desWerks inder erzaumlhlerischen Gegenwart gemeinsam auf und sprechen beide nacheinanderzu Martianusrsquo Sohn

Weiterhin erscheinen Satura und Martianus innerhalb der Geschichte dieMartianus angeblichvon Satura gehoumlrt hatWaumlhrend die Goumltter denverschiedenenBrautjungfern lauschenwohnen auch SaturaundMartianus der Versammlungbeiund betrachten sie als unbeteiligte ZuschauerWie aus einer Theaterloge herauskommentieren und diskutieren sie das Geschehen das auf der bdquoGoumltterbuumlhneldquostattfindetsup3sup3⁶

Noch einen weitergehenden Schritt stellt die Silen-Szene zu Beginn des achtenBuches dar Im Anschluss an diese Szene beschwert sich Satura bei Martianus erkoumlnne die Goumltter nicht auf dieseWeise agieren lassen In der Folge entspinnt sich einGespraumlch in demMartianus seine Art des Erzaumlhlens gegen Satura verteidigt die fuumlreine zuruumlckhaltendere Darstellung plaumldiert (s o)Von der Fiktion dass Martianusseinem Sohn bloszligwiedergibtwas Satura ihm erzaumlhlt hat bleibt nichtmehr viel dieganze Szenerie ist ein Produkt der ErfindungdesMartianus gleichzeitigwohnt er ihraber gemeinsam mit Satura bei ist also Teil der Handlung

So bereits Pabst 1994 120 Anm 119 der allerdings auf eine Diskussion der Beobachtungverzichtet Es handelt sich um die Stellen zu Beginn des sechsten und des achten Buches die imvorigen Abschnitt bereits paraphrasiert wurden

140 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Diese Art der Spiels mit der Erzaumlhlerrolle wird von manchen modernen For-schern als ein wichtiges Merkmal der menippeischen Satire angesehen Hinzu-treten kann die Selbstherabsetzung des Erzaumlhlers die sich an seinemmangelndenWissen Stilbewusstsein Traditionsempfinden o auml entzuumlndetsup3sup3⁷ Folglich kanndie zunaumlchst befremdliche Brechung und Verzerrung als weiteres Merkmal derGattung menippeische Satire bestimmt werden

Aufgrund dieser Beobachtungen ist es zwingend in De nuptiis vor allem eineSatire zu sehen Auch der heiter-spoumlttische Charakter einiger Passagen zwischenden Vortraumlgen der Brautjungfern passt zum satirischen Anspruch Gelegentlicherscheint es jedoch fraglich ob es sich wirklich um satirische und nicht eher umkomische oder derbe Spaumlszlige handelt Die Szene in der Silen betrunken einschlaumlftund von den anderen Goumlttern verspottet wird (8 803ndash805) erinnert mit ihremSlapstick eher an den derben Spott der Komoumldie als an die Satire eines Varrosup3sup3⁸

22 Deutungen der komplexen literarischen Form

Wie laumlsst sich das Werk De nuptiis nun also formal beschreiben oder andersgefasstWie lassen sich die vier literarischen Traditionsstraumlnge zusammenfuumlhrenDass eine einheitliche Lesung zumindest versucht werden muss zeigt bereits dasLeitmotiv der Hochzeit ansup3sup3⁹

Im Kern handelt es sich bei MartianusrsquoWerk um eine Sammlung bedeutenderWissensschaumltze in einem einzigen Werk die darin systematisch ausgebreitetwerden Dies zeigt die Einteilung in verschiedene Disziplinen die ein ver-

Zur Erzaumlhlerrolle in der menippeischen Satire vgl u a Relihan 1993 und darin bes S 35 Mit der Aufnahme unterhaltsamer Elemente ginge Martianus sogar noch uumlber dieErwartungen an ein sbquosatirischeslsquo Werk hinaus Auch Boethius wird bescheinigt er erzaumlhle seineConsolatio bdquoper satiramldquo auch wenn bei ihm weder eine Figur Satura auftritt noch allzu vielHeiterkeit herrscht (Peiper zitiert in der Einleitung zu seiner Ausgabe S xxxi eine mittelalter-liche Boethius-Vita vgl Kindermann 1969 61)

hos libros [scil de consolatione Philosophiae] per satiram edidit imitatus videlicet mar-cianum felicem capellam qui prius libros De nuptiis philologiae et mercurii eadem speciepoematis conscripserathellip

Diese Buumlcher schrieb er als Satire freilich in Nachahmung des Marcianus Felix Capellader zuvor die Buumlcher uumlber die Hochzeit der Philologie mit Merkur in der gleichen Art vonGedicht verfasst hatte

Zum Motiv der Hochzeit das bereits programmatisch im eroumlffnenden Hymnus anHymenaeus erscheint vgl Schievenin 2009c und Cristante in der Einleitung seiner Ausgabe1987 3ndash 10

2 De nuptiis als literarisches Werk 141

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

gleichsweise leichtes Auffinden der Informationen erlaubtsup3⁴⁰ die Bedeutung wirdangesichts der Praumlsentation vor den Goumlttern auf der Milchstraszlige deutlich Alleinder Umfang dieser Vortraumlge die in sich auch nicht gestoumlrt oder gebrochenwerdenmarkiert dass es sich hier um das zentrale Charakteristikum des Werkes handelt

Den erzaumlhlerischen Anlass fuumlr diese Praumlsentation bietet eine Hochzeitsfeieralso ein Symposion hier ist die Gelegenheit fuumlr die groszligen Redebeitraumlge gegebenZudem bietet die SymposionformAnknuumlpfungspunkte fuumlr eine Rahmenhandlungdie zur Auflockerung der ebenso ausfuumlhrlichenwie trockenen Einzelreden genutztwird

Doch bleibt es ndash im Gegensatz z B zu Macrobius ndash nicht bei der bloszligenDarstellung der Wissensinhalte Hinzu tritt die allegorische Darstellung der Be-deutung von Wissen und von Fleiszlig beim Wissenserwerb in den ersten beidenBuumlchern Die praumlsentierten Inhalte der Buumlcher 3ndash9 (die Philologia ja bereits aufder Erde in Buch 2 besitzt) sindwichtig Sie sind nicht nur wichtig fuumlr das irdischeLeben (das wird nicht weiter thematisiert die explizit irdischen Wissenschaftenwie Architektur und Medizin werden sogar ausgeschlossen) ndash die Inhalte sindauch wichtig fuumlr die menschliche Vervollkommnung

Durch das angesammelte Wissen erreicht der Mensch zwar nicht die voll-kommene Erkenntnis (die erhaumllt auch Philologia nur ohne eigenes Zutun als sieauf der houmlchsten Himmelssphaumlre angekommen zum Vatergott in der jenseitigenGluumlckseligkeit betet) wohl aber ein goumlttergleiches Wissensup3⁴sup1 Der Wissenserwerbist gewissermaszligen die Voraussetzung dafuumlr dass der Mensch mit Hilfe einesgoumlttlichen Begleiters in den Himmel aufsteigen kann unsterblich wird und voll-kommene Einsicht erlangt

Die so weit kohaumlrente Verbindung der literarischen Traditionen laumlsst aller-dings den explizit satirischen Anspruch von De nuptiis auszliger Betracht durch denMartianus selbst das Werk primaumlr in die Gattung der Satire einordnet waumlhrendvergleichbare Bezuumlge zu anderen Gattungen fehlen Natuumlrlich lieszlige sich dieserprogrammatische Anspruch mit einem Verweis auf die Verwendung des Begriffszur Bezeichnung einer inhaltlich wie literarisch gemischten Form erklaumlren Dochgreift diese Erklaumlrung zu kurz da das Agieren Saturas die literarischen Passagendes Werks beinahe als Travestie erscheinen laumlsst (vgl oben zur Erzaumlhlerfigur) Einbildend-enzyklopaumldisches Werk kann sich allerdings nicht gefahrlos als Satire

So auch Englisch 1994 56 Die bdquoSystematik bei der Praumlsentationldquo erlaube einen leichtenZugriff auf die Informationen Mart Cap 2 201ndash205

142 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

praumlsentieren ohne Zweifel an der Glaubwuumlrdigkeit und Zuverlaumlssigkeit desWerkes und der praumlsentierten Inhalte zu weckensup3⁴sup2

Wenn Martianus auch die Konventionen der Gattung menippeische Satireaufnimmt und sein Werk also nur folgerichtig unter anderem eine unzuverlaumlssigeErzaumlhlsituation aufweist ist dies noch keine Erklaumlrung an sich Die regelkonformeUmsetzung gattungstypischer Anspruumlche erklaumlrt noch nicht die Wahl der Gattungan sich ndash einer Gattung die trotz ihrer Benennung als solche nicht zu denStandardformen und akzeptierten Gattungen zaumlhlte insbesondere nicht fuumlrLehrwerkesup3⁴sup3

Auch Martianusrsquo Verweis auf etwas bislang noch nicht Unternommenes(nescioquid inopinum intactumque 1 2) vermag den Widerspruch nicht zu loumlsenDie Wendung zeigt zwar dass Martianus die Ungewoumlhnlichkeit seines Ansatzesbewusst war (sofern sich die Phrase uumlberhaupt auf die Komposition des Werkesbezieht)sup3⁴⁴ beseitigt aber nicht das interpretatorische Problem ZuwelchemZweckverbindet Martianus also zwei so widerspruumlchliche Gattungen wie Enzyklopaumldieund Satiresup3⁴⁵

Drei Antwortansaumltze lassen sich grob umreiszligen 1 Die Verbindung ist nuraumluszligerlich bzw oberflaumlchlich 2 durch die Verbindung soll ein bestimmter Aspektparodiert und somit Spott und Kritik ausgesetzt werden 3 die Verbindung erfuumlllt

Dieses Problem hat bereits Westra in seinem Aufsatz bdquoThe juxtaposition of the ridiculousand the sublime in Martianus Capellaldquo benannt (Westra 1981) Allerdings beschraumlnkt sich auchdieser Aufsatz auf die Darstellung des Problems und die Zusammenstellung der Belege EineLoumlsung hat Westra nicht anzubieten ndash sein Aufsatz endet mit der eher apologetischen Bemer-kung das Eingestaumlndnis der Unvereinbarkeit von Satire und Lehrwerk durch Martianus in 9 997sei prima facie ein Spiel dahinter stecke jedoch die Absicht Problembewusstsein zu demon-strieren und Verantwortung fuumlr die unterlassene Loumlsung zu negieren bdquoEven though I would claim that prose and verse must be present in an ancient Menippeansatire it must be seen as one of a number of shocking juxtapositions of oppositesldquo (Relihan 198760) ndash In der Folge kann die prosimetrische Form durchaus auch Mittel belehrender Werkewerden vgl Pabst 1994 133 Denkbar (und wohl wahrscheinlich) waumlre auch dass damit die Inhalte besonders desMythos gemeint sind Der Verweis auf Unterhaltung fuumlhrt nicht zum Kern der Frage denn die satirische Formstellt mehr dar als reine Unterhaltung Auch das horazische Diktum ridentem dicere verum quidvetat ndashsbquolachend das Wahre zu sagen ndash was spricht dagegenlsquo (Hor serm 1 1 23) als Kern vonMartianusrsquo Satireverstaumlndnisses greift zu kurz ebenso wie vergleichbare Konzeptionen in derLiteratur Dort geht es bei Belehrung immer um einzelne philosophische Saumltze (nie beispiels-weise um die Vermittlung von Philosophie an sich) Folglich bezeichnet das bdquoverumldquo nichtkognitives Lernen sondern moralisches Der grundlegende Unterschied zur Konzeption desMartianus liegt somit auf der Hand Vgl zu diesem Aspekt im Allgemeinen z B Shanzer 1986c42 und im Speziellen u a Woytek 1986 339ndash345 Keulen 2009 bes Kap 2 und 3

2 De nuptiis als literarisches Werk 143

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

einen literarischen und belehrenden Zweck zugleich Aufgrund der komplexenSachlage und der unmittelbaren Bedeutung der Beantwortung der Frage nachdieser Verbindung fuumlr das Gesamtverstaumlndnis von De nuptiis werden alle Alter-nativen vorgestellt und bewertet

Rein formale Verbindung von Satire und EnzyklopaumldieEventuell laumlsst sich die Mischung aus enzyklopaumldischen und satirischen Ele-menten (mit den zur Satire gehoumlrigen Verspartien) als Sonderform der Varro-Re-zeption bei Martianus auffassenVarro von Reate verfasste sowohl umfangreicheFachliteratur als auch menippeische Satiren Fuumlr beides war er in der Antikebekannt und beruumlhmt ndash doch ist es wahrscheinlich dass Martianus die Werkebereits nicht mehr ndash oder allenfalls nur in Auszuumlgen ndash vorliegen hattesup3⁴⁶ Aus demWissen um die beiden Schaffensbereiche des republikanischen Autors die beideder Unterweisung dienen solltensup3⁴⁷ koumlnnte Martianus auf den Gedanken verfallensein die literarischen Formen und Inhalte in seinem Werk zu verbindensup3⁴⁸Vielleicht saszlig er auch einemMissverstaumlndnis auf indem ermeinte dass Varro seinsatirisches wie enzyklopaumldisches Koumlnnen in nur einem Werk demonstriert habeDies hieszlige jedoch dass Martianus sich der Problematik dieser Verbindung nicht

So aumluszligert sich beispielsweise Kindermann in den Vorstudien seiner Ausgabe der Conso-latio des Laurentius von Durham Er billigt Martianus nur eine sekundaumlre Varro-Kenntnis zu(Kindermann 1969 60) Entschieden verneint wird die Frage von Schievenin (2009f) und Hadotdie vor allem neuplatonische Quellen vermutet (Hadot 2005 149) Schneider jedoch nimmt andass sowohl Augustin als auch Martianus die Disciplinae noch vorliegen hatten (Schneider 1999109 f) und dass die Satiren-Exzerpte des Nonius Marcellus (fl um 400 in Afrika) ebenfalls ausdem Originaltext Varros angefertigt wurden (ibid 96 Anm 12) Abwaumlgend aumluszligert sich Huumlbner2004 passim Vgl Cic ac 1 8 (es spricht Varro)

et tamen in illis veteribus nostris quae Menippum imitati non interpretati quadam hilaritateconspersimus multa admixta ex intima philosophia multa dicta dialectice quae quo faciliusminus docti intellegerent iucunditate quadam ad legendum invitati

Jedoch findet sich in meinen fruumlhen Schriften die ich in kreativer Nachfolge (und nicht nurUumlbersetzung) Menipps mit einer gewissen Heiterkeit benetzt habe vieles aus den Kernbe-reichen der Philosophie beigemengt und vieles das nach Art der Dialektiker gesagt istdamit die weniger Gelehrten es leichter verstuumlnden nachdem sie durch eine Art von Scherzzur Lektuumlre ermuntert worden sind

Vielleicht hatte Martianus diese Stelle sogar im Kopf als er die Anlage von De nuptiis plante So z BWeinreich in der Einleitung zu seiner Uumlbersetzung roumlmischer Satiren bdquoMartianusCapella glaubte gewiszlig ein Varro redivivus zu sein sozusagen die Quintessenz des Gelehrten unddes Satirikersldquo (Weinreich 1962 XCIII) Ebenso Shanzer 1986c 42

144 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

bewusst gewesen sei ndash was ihm sicher nicht gerecht wird Auszligerdem wird so dieBezugnahme auf weitere formale Elemente der menippeischen Tradition und dieuumlbrigen Vorlaumlufer der Gattung mit anderer Konzeption (Lukian Julian) nichtausreichend beruumlcksichtigt

Ebenfalls beim Autor koumlnnte eine zweite Erklaumlrung ansetzen Im Zuge derAbfassung seiner Enzyklopaumldie hat sichMartianus nach horazischer Vorgabe (unddem Beispiel Varros)sup3⁴⁹ um Auflockerung und heitere Elemente bemuumlht Diespontanen Einfaumllle wurden ins Werk integriert und die sich daraus ergebendenInkonsistenzen entweder uumlbersehen oder billigend in Kauf genommen Beideswuumlrde gut zum klassisch negativen Martian-Bild in der Forschung passensup3⁵⁰Abgesehen davon dass Annahmen uumlber das Vorgehen beim Schreiben weitge-hend auf Spekulation beruhensup3⁵sup1 widersprechen drei Beobachtungen dieser Er-klaumlrung Erstens gelingt es Martianus De nuptiis uumlber neun Buumlcher vorauszu-planen so dass am Ende ein ndash zunaumlchst abgesehen von der Satire-Problematik ndashkohaumlrentes Werk entsteht Die Fuumllle der behandelten Themen Motive und lite-rarischen Elemente weist eher auf ein planvolles Arbeiten hin und macht es un-wahrscheinlich dass Martianus Probleme an dieser Stelle nicht wahrgenommenbzw nicht korrigiert haumltte Zweitens ist die Verbindungvon Satire und den anderenElementen nicht nur oberflaumlchlich so dass sie nachtraumlglich eingefuumlgt sein koumlnnteoder sich im Schreibprozess so ergeben haben koumlnnte Da bereits im zweitenKapitel des ersten Buches Satura eingefuumlhrt wirdwar sie von vornherein Teil des

Gemeint ist das beruumlhmte zunaumlchst nur fuumlr die Dichtung relevante prodesse aut delectare(Hor ars 333 f) zu Varro vgl die schon angefuumlhrte Stelle aus Cic ac Vgl z B die sehr bildliche Beschreibung von C S Lewis bdquo[hellip] this universe which hasproduced the bee-orchid and the giraffe has produced nothing stranger than Martianus Capella[hellip] the curiosity shop of his mind [hellip] a chaos beside which the work of Rabelais has unity andthat of Mandeville probabilityldquo (Lewis 1936 78 f) Gleiches gilt fuumlr Spekulationen uumlber eine andere Auffassung von Literatur und ihrenRegeln in Martianusrsquo Zeit oder Umfeld Einerseits kennen wir keine Texte die sich mit De nuptiisvergleichen lieszligen (was per se nichts beweist aber doch Indiziencharakter hat) andererseitshielten sich auch die spaumltantiken Autoren uumlblicherweise an die klassischen Vorgaben Ich teiledaher auch Schneiders Ansicht nicht der die Skepsis an dieser Verbindung allein der modernenLeseerfahrung zuschreibt bdquoWenn den Heutigen diese Kombination der forcierten Gelehrsamkeiteines Curriculums und der spielerisch-saloppen Causerie seltsam beruumlhren mag so waumlre dazuimmerhin schon an ein ciceronisches Dictum zu erinnern non est enim seiunctus iocus a phi-lologia (ad fam 16214) ndash sbquoSpieltrieb und Pedanterie diktieren und widersprechen sich nichtlsquo(sbquoErste Fruumlhschichtlsquo aus Grassrsquo sbquoHundejahrelsquo)ldquo (Schneider 1999 94 Anm 2) Der Verweis aufCicero traumlgt nichts zum Verstaumlndnis von Martianus bei Cicero geht es an der zitierten Stelle umden Ablauf des Tages mit seinem Schuumller der aus ernsteren und heitereren Abschnitten bestehtDaraus folgt nicht dass das Lernen mit Scherz verbunden ist ndash auszligerdem duumlrfte Cicero unteriocus (sbquo[urbaner] Scherzlsquo) anderes verstanden haben als Martianus in seiner Satura bietet

2 De nuptiis als literarisches Werk 145

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Kompositionsplans Drittens hat Schievenin gezeigt dass Martianus keineswegsoberflaumlchlich und eigenwillig arbeitet Durch eine gruumlndliche Untersuchung derSilen-Passage (8 803ndash805) kann er nachweisen dass Martianus ndash wie vieleAutoren vor ihm ndash uumlber ein umfangreiches literarisches Wissen verfuumlgte daraufbei der Abfassung seines Werkes zugreifen konnte und durch gezielte Anspie-lungen neue Bezuumlge herstelltesup3⁵sup2

Satire als Mittel der KritikWaumlhrend die antike Satire (im Gegensatz zur modernen) nicht zwangslaumlufig Kritikan Missstaumlnden uumlben wollte ist diese Moumlglichkeit umgekehrt auch nicht auszu-schlieszligen Martianus koumlnnte also bewusst eine solide Darstellung der Kuumlnste inliterarischem Gewandmit der Gattung der Satire verbunden haben um Zweifel ander Ernsthaftigkeit der uumlbrigen Teile des Werkes zu wecken Er wuumlrde somit einaufklaumlrerisches Interesse verfolgen das zugleich auch unterhaltsame Zuumlge traumlgt

Eine erste Schwierigkeit dieser Lesart von De nuptiis ergibt sich bereits bei derFrage nach dem Objekt der SatireWerden die Wissensinhalte in Zweifel gezogenoder nur die Art ihrer Vermittlung in langen Reden bzwTraktaten Soll der Glaubean die umfassende Einheit des Wissens kritisiert werden oder die Vorstellungsaumlmtliches Wissen lasse sich vermitteln gar kohaumlrent in einem Werksup3⁵sup3 Ist dieVorstellung dass Wissen goumlttlich mache parodiert oder nur die abwegige Vor-stellung dass auf einer Hochzeit solche Reden gehalten werden Oder richtet sichdie Kritik letztlich gegen die Auffassung Philologia als Vorbild zu sehen oder garals Mittlerin alles Wissens ja sogar als Mittlerin zwischen Menschen und Goumlttern

Aus der Tatsache dass das Objekt der Satire keineswegs leicht zu bestimmenist kann nicht gefolgert werden dass in De nuptiis keine Satire vorliege die be-stimmte Sachverhalte kritisiere Aber es kann durchaus gefolgert werden dass eskeine expliziten textinternen Merkmale gibt die das Lesen steuern und den Ge-genstand der Kritik deutlich hervortreten lassen Die Deutungen gehen also vonmodernen Annahmen uumlber das Umfeld bzw die Gedankenwelt von Martianus aus

Im Kern handle es sich um bdquouna narrazione tersa e brillanteldquo verbunden mit einemDickicht an Verweisen Die Silen-Szene habe einen bdquocarattere colto e della dottrina e dellalingualdquo (Schievenin 1984 132) Das Fazit seiner Untersuchung formuliert Schievenin folgen-dermaszligen bdquoIl De nuptiis si rivela dunque opera di vasti orizzonti non solo per lrsquointento dida-scalico che la pervade e che ne determineragrave la fortuna ma anche per la costante presenza nellafabula della tradizione classica e dei suoi echildquo (ibid 136) Vgl zu dieser Stelle auch Bovey2003 275ndash288 ndash Den geschickten Umgang mit mehreren Quellen ndash erzaumlhlerisch wie seman-tisch ndash kann Schievenin auch fuumlr 7 725ndash727 nachweisen (Schievenin 2009e) So z B Relihan 1993 138 bdquoMartianus writes not an encyclopedia but a Menippean satirethat parodies encyclopedic knowledgeldquo

146 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

und weisen zudem meist nicht kleinschrittig auf wie der Interpret zu seiner (oftapodiktisch dargelegten) Ansicht gelangt

Nun folgt daraus noch nicht dass Martianus De nuptiis nicht als kritisierendeSatire konzipiert haumltte die Vielzahl der (wenn auch differierenden) modernenDeutungenweist ja darauf hin Zwei Uumlberlegungenwenn auch keine schlagendenBeweise lassen die Hypothese der parodierenden Satire unwahrscheinlich wer-den der Umfang von De nuptiis und seine Rezeption Eine Satire die beispiels-weise die Verbindung von Weltwissen und menschlicher Vervollkommnung in-frage stellt benoumltigt nicht noch eine umfassende Darlegung eben diesenWissensDies gilt besonders da diese Darlegung den Hauptteil des Werks ausmacht und ndashzumindest dem Umfang nach ndash die uumlbrigen Partien weit uumlberragt Eine Deutungvon De nuptiis als kritischer Satire muumlsste also besonders die Frage beantwortenzu welchem Zweck die umfangreichen Darstellungen der Freien Kuumlnste aufge-nommen sind (und nicht nur angedeutet werden)

Die Rezeption eignet sich zwar ebenfalls nicht zu sicheren Ruumlckschluumlssen aufdie originale Intention eines Werkes haumlufig bietet sie aber interessante EinblickeDie Martianus-Rezeption stellt sich bald ein Cassiodor beruft sich in seinen In-stitutiones auf ihn Dort erscheint Martianus nicht als Satiriker oder Zeitkritikersondern als Gelehrtersup3⁵⁴ In dieser Tradition wird Martianus auch im Mittelaltergelesen und rezipiertsup3⁵⁵

Aumlhnliches laumlsst sich fuumlr Boethiusrsquo Anknuumlpfen an die prosimetrische Form inder Ausgestaltung von Martianus sagen Boethius verfasst zweifelsfrei keine kri-tische Satire kann aber trotzdem an die Form und den Inhalt von De nuptiisproblemlos anknuumlpfen Sowohl der Form nach wie auch durch einzelne Zitatemacht er deutlich dass erDe nuptiis kennt und als eine seiner Vorlagen benutzt Esist zu bezweifeln dass Boethius in seinem Bemuumlhen um eine adaumlquatewerbendeDarstellung der Philosophie auf Form und Zitate des Martianus zuruumlckgegriffenhaumltte haumltte er nicht die Moumlglichkeit der gefahrlosen Uumlbernahme gesehen

Satirische Elemente als Mittel der BelehrungDer dritte Erklaumlrungsansatz fuumlr die Verbindung von Satire und Belehrung be-trachtet die Wahl Saturas als Figur und die Bezugnahme auf die Gattung zunaumlchst

Cassiod inst 2 2 17 Zur mittelalterlichen Martianus-Rezeption vgl bes Nuchelmans 1950 Lutz 1971 und 1976Willis 1973 sowie die Ausgaben und Literatur u a zu folgenden Werken Konrad von MureFabularius Hugo von Sankt Victor Didascalicon de studio legendi Johannes von SalisburyMetalogicon Kindermann kann weiterhin nachweisen dass De nuptiis auch durch seine Forminspirierend gewirkt hat (Kindermann 1969 61 f)

2 De nuptiis als literarisches Werk 147

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

als reine Fortsetzungder literarischen Form Fuumlr diese spezielle Formder Literaturdie menippeische Satire hat der russische Literaturwissenschaftler MichailBachtin Beobachtungen aufgestellt die auch fuumlr De nuptiis zutreffen Durch denRuumlckgriff auf zwei zentrale Konzepte Bachtins das Karnevaleske und die Dialo-gizitaumlt wird ein Verstaumlndnis von De nuptiis ermoumlglicht

Auf der Suche nach Vorlagen und Urformen der Gattung des Romans ins-besondere in der Form von Dostojewskis Romanen stieszlig Bachtin unter anderemauch auf die menippeische Satire die er bis in die Antike zuruumlckverfolgtesup3⁵⁶ Zuihren Vertretern zaumlhlt er unter anderem Varro Apuleius Petron Seneca oderLukiansup3⁵⁷ Martianus Capella wird nicht erwaumlhnt was aber nicht verwundernmuss da Bachtin keine Literaturgeschichte der menippeischen Satire schriebsup3⁵⁸

Kern der Uumlberlegungen Bachtins zurmenippeischen Satire ist das Konzept desKarnevals Unter Karneval versteht er folkloristische Feste waumlhrend deren diebestehende Ordnung verkehrt wird uumlbliche Regeln nicht mehr gelten Herr-schende gestuumlrzt und Machtlose maumlchtig werden ndash auf Zeit Die Karnevalisierungalso die Uumlbernahme der Kennzeichen dieses Festes in neue oder bestehende li-terarische Formen institutionalisiert diese Ausnahmesituation und loumlst sie vomkonkreten Fest Der so entstandene Text wird bdquozum karnevalesken Spiel an demder Autor und sein Publikum einverstaumlndlich teilhaben und das keines kalen-darisch oder institutionell abgesicherten Karnevalsrahmens mehr bedarfldquosup3⁵⁹

Diese Karnevalisierung fuumlhrt unter anderem zu einer Vielstimmigkeit vonMeinungen und Positionen im Text z B durch mehrere Figurenvon denen keinebevorzugt oder gar als autoritativ gekennzeichnet wird In dieser Dialogizitaumlt wirdkein allgemein guumlltiger Sinnmehr vermittelt sondern dieWahrheit suspendiertsup3⁶⁰

Dass der Bezug auf karnevalsartige Feste der Gattung menippeische Satire (inTeilen auch der Verssatire) eignet zeigt ein kurzer Blick auf wichtige Vertreter derTradition

Julians Symposion Caesares spielt zur Zeit der Saturnalien Die Bedeutungdieses Festes fuumlr das Werk wird dadurch verdeutlicht dass es den Handlungs-

Bachtin 1971 126ndash 135 Bachtin 1971 126 128 132f Kritik an den z T pauschalisierenden und verfaumllschenden Aussagen Bachtins uumlber antikeLiteratur oder an der ununterbrochenen Traditionslinie von der Antike bis in die Moderne (z BRelihan 1987 59 Lachmann 2006 23ndash25) muumlsste auch auf manche moderne Literaturwissen-schaftler in der Nachfolge Bachtins angewandt werden (vgl Branham 2005 6 wo es uumlberSenecas Apocolocyntosis heiszligt bdquoour only extant Menippean satire in Latinldquo) Teuber 1993 182 Eine gut verstaumlndliche Einfuumlhrung in das Konzept der Dialogizitaumlt im Sinne der bach-tinschen Terminologie bietet Sharland 2010 Einfuumlhrung (1ndash51)

148 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

rahmen fuumlr den in der Folge erzaumlhlten Mythos bildet Bereits im ersten Satz wirdauf das Fest und die Tradition Heiteres frei zu erzaumlhlen Bezug genommensup3⁶sup1

Auch Senecas Apocolocyntosis stellt einen engen Bezug zum Saturnalienfesther Das Werk spielt zwar nicht an den Saturnalien sondern am Todestag desClaudius im Oktober doch wird an zwei Stellen eine Verbindung zwischen derHerrschaft des verstorbenen Kaisers und den dargestellten Sitten waumlhrend derRegierungszeit mit dem Saturnalienfest gezogensup3⁶sup2 Manche Interpreten gehensogar davon aus dass die Apocolocyntosis an den Saturnalien des Jahres 54vorgetragen wurdesup3⁶sup3 Auch bei Petron und Horaz finden sich Bezugnahmen aufdie Saturnaliensup3⁶⁴

Ein zentrales Element des Saturnalienfestes liegt in der Suspension der uumlb-licherweise geltenden Normen und Wertesup3⁶⁵ Neben den anderen Elementen desFestes wie sie z B in Macrobiusrsquo Saturnalia (1 7ndash 10 1 24 22 f) beschriebenwerden (traditionelle Geschenke Festmahl fuumlr die Sklaven etc) hat gerade dieUmkehrung der Herrschaftsverhaumlltnisse im Haus Niederschlag in der Literaturgefunden

Gerade durch diese Rolleninversion treten einige wichtige gesellschaftlicheNormvorstellungen und Grundannahmen prominent hervor Dazu zaumlhlt das Be-wusstsein dass es eine befehlende und eine ausfuumlhrende Gruppe von Menschengibt oder dass im Prinzip ein Rollenwechsel moumlglich sein kann Alle Beteiligten

Ἐπειδὴ δίδωσιν ὁ θεὸς παίζειν ndash ἔστι γὰρ Κρόνια ndash hellip (sbquoDa der Gott das Scherzen erlaubt ndashes sind ja die Kronia helliplsquo Caes 1 = 306a Spanheim) Zur Frage ob es sich bei Caesares auch umdas Werk handle auf das zu Ende der Rede auf Koumlnig Helios verwiesen wird (Or in Sol reg 44 =157c Spanheim) vgl Muumlller in seiner Uumlbersetzung (39 ablehnend) und Lacombrade im Vorwortseiner Budeacute-Ausgabe (3 und 18 Anm 3) der aufgrund des Handschriftenbefundes Kronia auchals Titelbestandteil fuumlr die Caesares uumlbernimmt Es handelt sich um Sen apocol 8 1 (Claudius als Saturnalienprinz) und 12 2 (Herrschaftdes Claudius als andauerndes Saturnalienfest) ndash Dass Lukian nicht auf die Saturnalien alsRahmen fuumlr seine Werke zuruumlckgreift entwertet die Beobachtungen nicht Lukian musste auf-grund seines Selbstbewusstseins als satirischer Schriftsteller und aufgrund der Menge seinersatirischen Schriften nicht jedes Mal einen eigenen literarischen Rahmen herstellen in demeinzelne Dialoge stattfinden konnten Das Saturnalienfest selbst erscheint bei Lukian als Ge-genstand der Satire nicht als deren literarische Rahmung (Τὰ πρὸς Κρόνον) Zuerst bei Furneaux 1896 23 Anm 11 In der neueren Forschung vgl bes Nauta 1987Kritisch dazu u a Doumlpp 1993 159 f Petron 44 3 58 2 69 9 zu Horaz vgl z B serm 2 7 (libertas Decembris) Ein gelungenesBeispiel der Anpassung und Anwendung der bachtinschen Konzepte mit Ertrag fuumlr die Inter-pretation unter Einbezug von serm 2 7 bietet Sharland 2010 Distelrath 1999 114 Vgl weiterhin Versnel 1993 136ndash227 und Doumlpp 1993 Eine plastischeSchilderung der Rollenvertauschung bei der der Sklave dem Herrn die Leviten liest bietet Horserm 2 7

2 De nuptiis als literarisches Werk 149

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Herren wie Sklaven spielen also mit den Moumlglichkeiten einer alternativen Wirk-lichkeit

Das Besondere im Spiel mit den Moumlglichkeiten liegt aber in seiner zeitlichenBegrenzung Nach der Zeit des Ausnahmezustands gelten wieder die normalenimmer guumlltigen Regeln Die Rolleninversion erlaubt also ndash oder erzwingt gera-dezu ndash das Nachdenken uumlber bestimmte gesellschaftliche Normen und Wertvor-stellungen Durch die Ritualisierung und enge zeitliche Begrenzung ist darausjedoch keineswegs die Notwendigkeit entstanden die Verhaumlltnisse tatsaumlchlich zuhinterfragen oder gar zu aumlndern Daher lassen sich die Saturnalien auch als ein dieKonventionen bestaumlrkendes Fest verstehen Das Spiel mit der Moumlglichkeit eineranderen Gesellschaftsordnung hat durch seine Ritualisierung letztlich eine dieTradition legitimierende Funktion bekommen

In De nuptiis finden sich jedoch houmlchstens spaumlrliche Hinweise auf das Sa-turnalienfest Am ehesten weist das grob scherzende Agieren Saturas in diesenBereich Die bdquolangen Winternaumlchteldquo (1 2) koumlnnten (statt als Bezug auf Gellius) alsAnspielung auf das Saturnalienfest verstandenwerden ndash die Saturnalien finden inden laumlngsten Naumlchten uumlberhaupt statt seit der Kaiserzeit vom 17 bis 23 DezemberDies ndash wie die Spekulation uumlber eine spielerische etymologische Verbindung vonSatura und Saturnaliensup3⁶⁶ ndash ist aber insofern nicht von Belang da die Gattung alsGanze karnevaleske Zuumlge traumlgt und als gewissermaszligen institutionalisierter Kar-neval vom eigentlichen Fest losgeloumlst istsup3⁶⁷

Die Aufhebung der uumlblichen Ordnung (was Teuber im Ruumlckgriff auf Limina-litaumltskonzepte als praumlliminale Phase bezeichnet)sup3⁶⁸ beginnt mit der VorbereitungPhilologias zum Aufstieg in den Himmel Bereits das Erbrechen stellt eine mar-kante Umkehrung der alltaumlglichen Welt dar Statt sich Wissen anzueignen er-bricht Philologia es nun In der Goumltterversammlung auf der Milchstraszlige ist dieOrdnung sodann voumlllig verkehrt Philologia als Meisterin aller Disziplinen und

Zwar sind die einschlaumlgigen etymologischen Woumlrterbuumlcher skeptisch (v a WaldeHof-mann 2007 II 482 neutral ErnoutMeillet 2001 596) jedoch gibt es dahin gehende moderneDeutungen (aufgefuumlhrt bei WaldeHofmann 2007 II 482) und auch antike ParallelisierungenCic nat deor 2 64 Saturnus hellip est appellatus quod saturaretur annis (sbquoSaturn hellip wurde ergenannt weil er an Jahren gesaumlttigt istlsquo) Fulg myth 1 2 (p 17 16) a saturando Saturnus dictusest (sbquoDa er (die Menschen) saumlttigt wurde er Saturn genanntlsquo) Aug cons euang 1 23 35 Sa-turnus tamquam satur hellip νοῦς (sbquoSaturn gleichsam der gesaumlttigte hellip νοῦςlsquo) Vgl auch Gowers diedie etymologischen Verbindungen von satura Satyrspiel und Saturnalien untersucht (Gowers1993 109ndash 117) Sie kommt zu dem Befund dass keine Verbindung bestehe wohl aber verbin-dende Elemente identifiziert werden koumlnnten bdquocarnival licence parody uninhibited mockeryand excessive consumptionldquo (ibid 117) Vgl z B Teuber 1993 183 f Teuber 1993 183

150 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

bedeutende Lehrinstanz muss sich ihrerseits belehren lassen ndash mit dem Wissendas urspruumlnglich ihres war

Durch die Inversion wird die (vielleicht uumlblicherweise nicht prominente)Philologia in den Mittelpunkt geruumlckt und ihre zentrale Rolle im Wissenssystemtritt markant vor Augen Gleichzeitig kann darin eine leise Anfrage an ihre Lehr-autoritaumlt und eventuell auch ihre Eignung zur Lehre gesehen werden

Aufgrund des zeitlich begrenzten Rahmens der Verkehrung (diemit dem Endeder Vortraumlge voruumlber ist aber nicht explizit zuruumlckverwandelt wird) dessen Be-grenztheit durch Bezug auf die Form der menippeischen Satire ergaumlnzt werdenkann wird das System der Bildung und der Bildungsvermittlung jedoch nichtgrundsaumltzlich infrage gestellt Die Suspendierung Philologias ist temporaumlr

Dem Konzept der Dialogizitaumlt oder Mehrstimmigkeit folgend erklaumlrt sich auchdie Doppelung und Verunklarung der Erzaumlhlinstanz In den drei Dialogen indenen Satura und Martianus aufeinandertreffen behandeln sie die Frage desrichtigen Erzaumlhlens Dies beschraumlnkt sich nicht nur auf die Satire sondern umfasstalle auftretenden literarischen Formen Martianus und Satura sind sich uneinswie weit der Mythos reichen soll und ob eine Enzyklopaumldie trocken oder auchunterhaltsam erzaumlhlt werden soll (2 219ndash3 222) ob ein Symposion auch Zechenund Spaszlig vertraumlgt (8 803ndash810) oder ob und wie stark Satire Dinge vermischendarf (9 997ndash 1000)

Die unterschiedlichen Meinungen zu den Fragen werden zwar diskutiert undfuumlhren zu einem Ergebnis ndash der Erzaumlhlfluss versiegt ja an keiner Stelle oder setztneu an Allerdings entsteht in der Folge kein homogenes Werk und am Schlussmag keiner der beiden Erzaumlhler dafuumlr die Verantwortung uumlbernehmen Der Wi-derwillen sich zu dem Werk zu bekennen bedeutet aber gleichzeitig auch dassMartianus sich nicht festlegt welche Position er fuumlr die richtige haumllt Die Fragenach der rechten Art der Wissensvermittlung die auch in der Ent- und Inthroni-sierung Philologias anklang bleibt unbeantwortet

Schlieszliglich bringt der Blick auf die Aurelian-Vita aus der Historia Augustanoch einen weiteren Aspekt ein Parallel zur Aufteilung der Erzaumlhlinstanzen in Denuptiiswird der Erzaumlhlprozess in derHistoria Augusta aufmehrere AutorenverteiltWie zuerst Hermann Dessau und in der Folge Ronald Syme nachdruumlcklich gezeigthaben handelt es sich allerdings um nur einen Verfasser der uumlberdies auch inBezug auf die Abfassungszeit falsche Angaben gemacht hat und Quellen erfundenhatsup3⁶⁹ Insofern laumlsst sich der in der Historia Augusta gepraumlgte Begriff der

Auf den Charakter der Sammlung die Syme u a als bdquohoaxldquo bezeichnet (1983a 11 1983b13 1983c 219) die fingierten Autoren die manipulierten Quellen etc soll an dieser Stelle nurhingewiesen werden Vgl auch Cameron 2011 Kap 20 mit ausfuumlhrlicher Diskussion relevanterFragen

2 De nuptiis als literarisches Werk 151

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mythistoria der Vermischung von Mythischem und Historischem auch auf dieSammlung selbst anwendensup3⁷⁰

Als Menippee im engeren Sinne laumlsst sich weiterhin die Aurelian-Vita die 26Vita der Sammlung fassen und bezeichnenderweise spielt die Rahmenhandlungan denHilariasup3⁷sup1Wie zu den Saturnalien gehoumlren zu diesem Fest Scherze und ndash imRahmen von Maskierungen ndash Rollenwechselsup3⁷sup2

Noch in der rahmenden Einleitung zur Vita spielt sich folgender Dialog ab

1 et quoniam sermo nobis de Trebltellgtio Pollione qui a duobus Philippis usque ad divumClaudium et eius fratrem Quintillum imperatores tam claros quam obscuros memoriaeprodidit in eodem vehiculo fuit adserente Tiberiano quod Pollio multa incuriose multabreviter prodidisset me contra dicente neminem scriptorum quantum ad historiam pertinetnon aliquid esse mentitum prodente quin etiam in quo Livius in quo Sallustius in quoCornelius Tacitus in quo denique Trogus manifestis testibus convincerentur pedibus insententiam transitum faciens ac manum porrigens iocando[m] praeterea sbquoscribelsquo inquit sbquout

quae ille [scil Iunius Cordus] omnia exsequendo libros mythistoriis replevit talia scribendocum omnino rerum vilium aut nulla scribenda sint aut nimis pauca si tamen ex his morespossint animadverti qui re vera sciendi sunt hellip sed ex parte ut ex ea cetera colligantur(SHA Opil 1 5)

Bei der Anfuumlhrung von all diesen Informationen hat er die Buumlcher mit fabuloumlsen Ge-schichten angefuumlllt indem er Dinge von dieser Art schrieb wo doch uumlberhaupt keinenutzlosen Dinge geschrieben werden duumlrfen oder nur sehr wenige sofern daraus Verhal-tensweisen erkannt werden koumlnnen die wirklich wissenswert sind hellip aber zum Teil(schreibe ich) damit daraus das Andere gefolgert werden kann

quid Marius Maximus homo omnium verbosissimus qui et mythist[h]oricis se voluminibusinplicavit num ad istam descriptionem curamque descendit (SHA Quadr tyr 1 2)

Wie Hat sich Marius Maximus der groumlszligte Schwaumltzer vor dem Herrn der sich in seinenmythistorischen Werken verfangen hat etwa zu dieser Art der Darstellung und des sorg-faumlltigen Arbeitens herabgelassen

Hilaribus quibus omnia festa et fieri debere scimus et dici impletis sollemnibus vehiculo suome hellip Iunius Tiberianus accepit (SHA Aurelian 1 1)

An den Hilaria an denen alles zum Fest Gehoumlrende getan und gesagt werden muss wieman weiszlig empfing mich nach Erledigung der Zeremonien Iunius Tiberianus in seinemGefaumlhrt

Pausch bemerkt dieses besondere Datum zwar und erwaumlgt ob es sich um ein bdquoweitergehendesLesesignalldquo beispielsweise im Sinne karnevalesker Literatur handeln koumlnne verfolgt diese Spuraber nicht weiter (Pausch 2011 130 Anm 1) Herodian 1 10 5 ndash Einige Hinweise auf die Hilaria die im Kontext des Magna Mater-Festesam 25 Maumlrz gefeiert wurden bietet Fraser in seinem Kommentar zu Ovids Fasti (Fraser 1929244ndash248)

152 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

libet 2 securus quod velis dices habiturus mendaciorum comites quos historicae elo-quentiae miramur auctoreslsquo (SHA Aurelian 2 1ndash2)

1 Und weil unser Gespraumlch uumlber Trebellius Pollio der von den beiden Philippi bis zumvergoumlttlichten Claudius und dessen Bruder Quintillus gleichermaszligen uumlber beruumlhmte wieunbekannte Kaiser fuumlr die Nachwelt schrieb in derselben Saumlnfte stattfand behauptete erdass Pollio vieles ohne Sorgfalt und nur kurz dargelegt habe Ich erwiderte dass keinSchriftsteller sofern es um die Geschichte gehe nicht irgendwo gelogen habe und legtesodann dar worin sogar Livius Sallust Tacitus schlieszliglich sogar Trogus mit eindeutigenBelegen uumlberfuumlhrt werden koumlnnten Darauf sagte Tiberianus schlieszliglich scherzend indem ermeiner Meinung beipflichtete und mir seine Hand darbot bdquoSchreibe sowie du es fuumlr richtighaumlltst 2 Sage unbesorgt was du willst du wirst diejenigen als Gefaumlhrten fuumlr deine Taumlu-schungen haben die wir als Schoumlpfer historiographischer Beredsamkeit bewundernldquo

So sympathisch dieser Anspruch auch erscheinen mag ist er doch fuumlr das Ver-trauen in die Gattung der Geschichtsschreibung fatal Gerade in der Einleitungeiner Vita jedoch ndash zumal es der Fiktion nach die erste des Flavius Vopiscus Sy-racusius im Corpus der Historia Augusta ist ndash kann eine solche Anekdote ei-gentlich keinen Platz haben Sie erweckt beim Leser den Eindruck dass er dennachfolgend dargebotenen Informationen kein Vertrauen schenken duumlrfesup3⁷sup3

Die Parallelen zwischen der Historia Augusta insbesondere dem Vorgehen inder Vita Aureliani und De nuptiis liegen auf der Hand Verunklarung der Autor-schaft bzw der Erzaumlhlhaltung einerseits Erwecken von Zweifeln an der Glaub-wuumlrdigkeit des Dargebotenen andererseits

In der Historia Augusta sind die Inkongruenzen mit der Freude des Autors amliterarischen Spiel erklaumlrt worden Der Autor habe aus Freude am Fabulieren(vielleicht auchumein dafuumlr empfaumlngliches Publikum zu befriedigen) die Viten indieser Form verfasstsup3⁷⁴ Mag man dies fuumlr die Historia Augusta noch zugestehenderen Text uumlber einen laumlngeren Zeitraum vielleicht zunaumlchst ohne eine Gesamt-konzeption entstanden ist und auch sprachlich nicht herausragt stellt sich derSachverhalt fuumlr Martianusrsquo De nuptiis anders dar Das Werk hat durchaus einenliterarischen Anspruch und es folgt eindeutig einer vorab geplanten Gesamtan-lage Die Freude am Spiel mag vielleicht manches Detail beigesteuert haben fuumlrdie verschraumlnkte Anlage des Textes ist sie aber keine Erklaumlrung

Ganz anders ist der Anspruch zum Ende der Darstellung der Viten der bdquoDreiszligig Tyrannenldquoin dem der Autor beteuert seinem Werk mangele es zwar an literarischer Ausgefeiltheit nichtjedoch an Faktentreue da nunc cuivis libellum non tam diserte quam fideliter scriptum ndash sbquoGibnun dieses Buumlchleinwem du magst es ist nicht so sehr kunstvoll geschrieben wie es sachgetreuistlsquo (SHA Quadr tyr 33 8) Syme nennt dies bdquodeceit for its own sweet sakeldquo (1983c 217) Im gleichen Aufsatz spe-kuliert er auch uumlber das Interesse des Publikums an einer solchen Art von geistigem Spiel(ibid 221)

2 De nuptiis als literarisches Werk 153

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Es lohnt sich jedoch auch fuumlr die Historia Augusta einen Schritt weiter zugehen Ausgangspunkt dafuumlr ist die obige Beobachtungdass das literarische Spielder Historia Augusta nur durchschaut wer die Werke der historischen Literaturkennt Durch die Lektuumlre historiographischer Biographien bringt der Leser einebestimmte Leseerwartung also implizite Vorstellungen mit wie das Werk aus-sehen soll und wird Diese Erwartungen werden aber nicht oder nur teilweisebedient Formal gesehen weisen die Viten in der Historia Augusta zwar die Cha-rakteristika der Gattung auf ndash doch indem sie sie inhaltlich nicht adaumlquat aus-fuumlllen treten deren Konventionen vor Augen

Durch die uumlbermaumlszligige Verwendung falscher Verweise und erfundener Quel-len geraumlt zudem das Beglaubigungsverfahren historischer Texte in den Blick-punkt Der Leser erkennt anwelchen Stellenwelche Beglaubigungsmechanismenansetzen und auf welche Weise sie unterlaufen werden koumlnnen Uumlberspitzt lieszligesich behaupten DieHistoria Augusta verfolgt ein aufklaumlrerisches Interesse indemsie (spielerisch) aufzeigt welche Beglaubigungsverfahren die Geschichtsschrei-bung nutzt und wie sie manipuliert werden koumlnnen dadurch wird auch die Ma-nipulierbarkeit von Geschichte und Leser deutlich

In De nuptiis werden ebenfalls die Konventionen der Einzelgattungen ndash zu-mindest ansatzweise ndash hervorgehoben Dass kein perfektes Musterbeispiel derjeweiligen Einzelgattung entstehen kann liegt darin begruumlndet dass durch dieVerbindung der vier literarischen Genres keine oberflaumlchliche Konsistenz derFiktion entstehen kannVielmehr entstehen Bruumlche die ndash ebenso wie die Bruumlchein der Erzaumlhlhaltung ndash auch die Gattungskonventionen und ihre Annahmendeutlich werden lassen Dies gilt besonders fuumlr die Satire deren Vorgehen imKontrast zur eigentlichen Hochzeitshandlung aus dem Rahmen faumlllt und somitbesonderes Augenmerk erhaumllt Hinzu tritt mit der Figur Satura auch eine Perso-nifikation der Gattung die in theoretischen Diskussionen Annahmen und Vor-gehen mit Martianus eroumlrtert Grunduumlberlegungen der Gattung Satire werden sotheoretisch eroumlrtert und praktisch erprobt Gleiches giltwenn auch zT inwenigerdeutlicher Form auch fuumlr die anderen Formen Die Enzyklopaumldie in ihren langenMonologen wird durch Spott markiert die trockenen Kuumlnste werden probeweisedurch Allegorien zugaumlnglicher gemacht im Symposiondialog wird uumlberlegt in-wieweit uumlbliche Rollenmuster (der Zecher) einen Platz haben oder wie weit mandie fuumlr die Feier typischen Reden fuumlhren kann und immythischen Teil wird durchdie Gegenuumlberstellung mit dem handfesten Wissensbetrieb die Andersartigkeitdes Erzaumlhlens deutlich

So werden neben den Inhalten der Wissenschaften auch verschiedene lite-rarische Formen bewahrt Neben der reinen Anwendung und somit Tradierungwerden gleichzeitig auch die Mechanismen verdeutlicht deren sich die jeweilige

154 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Gattung bedient Somit wird ihr Funktionieren nachvollziehbar und in der Folgeauch nachahmbar

3 Zusammenfassung

Martianus weckt also durch die Wahl mehrerer gleichberechtigter Erzaumlhler diesomit das Erzaumlhlen unzuverlaumlssig werden lassen besonders aber durch dieUumlbernahme satirischer Gattungselemente ein Bewusstsein fuumlr die traditionellenGrundlagen desWissens- und Lehrsystems seiner Zeit ImGegensatz zur Satire diediese Fragen kategorisch stellt handelt es sich in De nuptiis um ein Spiel damitDer Satirebezug dient als Anknuumlpfung an die traditionellen Gattungsmerkmaleder menippeischen Satire Karnevaleske und Dialogizitaumlt

Durch die (temporaumlre) Rolleninversion richtet sich das Augenmerk aufPhilologia als Wissenszentrum und Wissensmittlerin und fordert zum Nach-denken daruumlber heraus Im Kern hinterfragt das Werk alle Bereiche die mit Bil-dung und Bildungsvermittlung zu tun haben Was sind die Inhalte wahrer Bil-dung Gibt es eine Einheit von Bildung Wie kann sie vermittelt werden

Allerdings zielt die Kritik nicht auf eine Aufloumlsung klassischer Bildungsinhalteund Vermittlungsformen Sie regt vielmehr durch Scherz und Bruumlche zumNachdenken uumlber diese Fragen an Dabei verzichtet Martianus auf eigene Vor-schlaumlge und Konzepte und festigt so gleichsam den traditionellen Bildungs-betrieb Das von ihm dargestellte Wissen wird kanonisiert und die Darstel-lungsform in langen Reden wird es auch Die mittelalterliche Rezeption von Denuptiis zeigt dies eindrucksvoll

Wissen umfasst dabei nicht nur das Faktenwissen der Vortraumlge sondern auchdas Wissen um bestimmte literarische Formen Durch die Verbindung von vierGattungen und die Doppelung der Erzaumlhlerfigur mit Reflexion uumlber angemessenesErzaumlhlen entstehen Inkonsistenzen die die Konventionen der einzelnen Gattun-gen hervortreten lassen Nicht alle Elementewerden auf dieseWeise deutlich aberMartianus bietet einen Ansatzpunkt die Fiktion auch unter der Fragestellung zulesen was einen Text der jeweiligen Gattung ausmacht ndash sowohl positiv wie ne-gativ formuliert

Mit seiner kreativen Konzeption und ihrer literarischen Umsetzung gelingt esMartianus eindrucksvoll Heiteres und Belehrendes zu verbindenwomit er an dieTradition Varros und die klassische antike Poetik anknuumlpft Es gelingt ihm daruumlberhinaus aber auchWissen zu vermitteln und die traditionellen Vorstellungen vonder Bedeutung dieses Wissens wie der Form seiner Vermittlung herauszustellenSpielerisch wird also gelehrt und hinterfragt nicht jedoch kategorisch kritisiertoder kuumlhn neu entworfen Gerade dadurch zeichnet sich Martianusrsquo De nuptiis

3 Zusammenfassung 155

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

tatsaumlchlich als nescioquid inopinum intactumque (sbquoetwas Ungewohntes und nochnie Gewagteslsquo 1 2) aus und macht es zu einem der bedeutendsten Buumlcher derSpaumltantike und zu einer interessanten Quelle fuumlr die Frage nach Bildungsvor-stellungen im fuumlnften Jahrhundert

156 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Page 27: Bildungsvorstellungen im 5. Jahrhundert n. Chr. (Macrobius, Martianus Capella und Sidonius Apollinaris) || III Martianus Capella, De nuptiis Philologiae et Mercurii

haec ipsa nauci rupta conscientia 999turgensque felle ac bili bdquomulta chlamydeprodire doctis approbanda cultibuspossemque comis utque e Martis curia[hellip]ab hoc creatum Pegaseum gurgitem 1000decente quando possem haurire poculoldquo (9 999 f)

Sie sagte aufgrund ihres Wissens um die Nichtigkeit (dieser Ausfuumlhrungen) verletztschwellend vor Bitterkeit und Zorn bdquoIch koumlnnte hier freundlich auftreten mit einem Gewandbekleidet lobenswert durchgelehrtes Verhaltenwie aus der VersammlungdesMars [Es folgtdie Schilderung der unguumlnstigen Anlagen von Martianus] ndash Wann koumlnnte ich mit ange-messenem Becher aus einem pegasischen Strom von ihm erschaffen schoumlpfenldquo

Somit hat das Werk das zu Beginn zwei hierarchisch geschiedene Erzaumlhler zuhaben scheint am Ende zwei Erzaumlhler die sich gleichberechtigt uumlber die Form dererzaumlhlten Geschichte streitensup3sup3⁵

Die Inkonsistenzen auf der Erzaumlhlebene setzen sich daruumlber hinaus fort HatteMartianus zu Beginn des Werks gesagt Satura habe ihm die Geschichte waumlhrendlangerWinternaumlchte erzaumlhlt so treten Satura undMartianus amEnde desWerks inder erzaumlhlerischen Gegenwart gemeinsam auf und sprechen beide nacheinanderzu Martianusrsquo Sohn

Weiterhin erscheinen Satura und Martianus innerhalb der Geschichte dieMartianus angeblichvon Satura gehoumlrt hatWaumlhrend die Goumltter denverschiedenenBrautjungfern lauschenwohnen auch SaturaundMartianus der Versammlungbeiund betrachten sie als unbeteiligte ZuschauerWie aus einer Theaterloge herauskommentieren und diskutieren sie das Geschehen das auf der bdquoGoumltterbuumlhneldquostattfindetsup3sup3⁶

Noch einen weitergehenden Schritt stellt die Silen-Szene zu Beginn des achtenBuches dar Im Anschluss an diese Szene beschwert sich Satura bei Martianus erkoumlnne die Goumltter nicht auf dieseWeise agieren lassen In der Folge entspinnt sich einGespraumlch in demMartianus seine Art des Erzaumlhlens gegen Satura verteidigt die fuumlreine zuruumlckhaltendere Darstellung plaumldiert (s o)Von der Fiktion dass Martianusseinem Sohn bloszligwiedergibtwas Satura ihm erzaumlhlt hat bleibt nichtmehr viel dieganze Szenerie ist ein Produkt der ErfindungdesMartianus gleichzeitigwohnt er ihraber gemeinsam mit Satura bei ist also Teil der Handlung

So bereits Pabst 1994 120 Anm 119 der allerdings auf eine Diskussion der Beobachtungverzichtet Es handelt sich um die Stellen zu Beginn des sechsten und des achten Buches die imvorigen Abschnitt bereits paraphrasiert wurden

140 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Diese Art der Spiels mit der Erzaumlhlerrolle wird von manchen modernen For-schern als ein wichtiges Merkmal der menippeischen Satire angesehen Hinzu-treten kann die Selbstherabsetzung des Erzaumlhlers die sich an seinemmangelndenWissen Stilbewusstsein Traditionsempfinden o auml entzuumlndetsup3sup3⁷ Folglich kanndie zunaumlchst befremdliche Brechung und Verzerrung als weiteres Merkmal derGattung menippeische Satire bestimmt werden

Aufgrund dieser Beobachtungen ist es zwingend in De nuptiis vor allem eineSatire zu sehen Auch der heiter-spoumlttische Charakter einiger Passagen zwischenden Vortraumlgen der Brautjungfern passt zum satirischen Anspruch Gelegentlicherscheint es jedoch fraglich ob es sich wirklich um satirische und nicht eher umkomische oder derbe Spaumlszlige handelt Die Szene in der Silen betrunken einschlaumlftund von den anderen Goumlttern verspottet wird (8 803ndash805) erinnert mit ihremSlapstick eher an den derben Spott der Komoumldie als an die Satire eines Varrosup3sup3⁸

22 Deutungen der komplexen literarischen Form

Wie laumlsst sich das Werk De nuptiis nun also formal beschreiben oder andersgefasstWie lassen sich die vier literarischen Traditionsstraumlnge zusammenfuumlhrenDass eine einheitliche Lesung zumindest versucht werden muss zeigt bereits dasLeitmotiv der Hochzeit ansup3sup3⁹

Im Kern handelt es sich bei MartianusrsquoWerk um eine Sammlung bedeutenderWissensschaumltze in einem einzigen Werk die darin systematisch ausgebreitetwerden Dies zeigt die Einteilung in verschiedene Disziplinen die ein ver-

Zur Erzaumlhlerrolle in der menippeischen Satire vgl u a Relihan 1993 und darin bes S 35 Mit der Aufnahme unterhaltsamer Elemente ginge Martianus sogar noch uumlber dieErwartungen an ein sbquosatirischeslsquo Werk hinaus Auch Boethius wird bescheinigt er erzaumlhle seineConsolatio bdquoper satiramldquo auch wenn bei ihm weder eine Figur Satura auftritt noch allzu vielHeiterkeit herrscht (Peiper zitiert in der Einleitung zu seiner Ausgabe S xxxi eine mittelalter-liche Boethius-Vita vgl Kindermann 1969 61)

hos libros [scil de consolatione Philosophiae] per satiram edidit imitatus videlicet mar-cianum felicem capellam qui prius libros De nuptiis philologiae et mercurii eadem speciepoematis conscripserathellip

Diese Buumlcher schrieb er als Satire freilich in Nachahmung des Marcianus Felix Capellader zuvor die Buumlcher uumlber die Hochzeit der Philologie mit Merkur in der gleichen Art vonGedicht verfasst hatte

Zum Motiv der Hochzeit das bereits programmatisch im eroumlffnenden Hymnus anHymenaeus erscheint vgl Schievenin 2009c und Cristante in der Einleitung seiner Ausgabe1987 3ndash 10

2 De nuptiis als literarisches Werk 141

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

gleichsweise leichtes Auffinden der Informationen erlaubtsup3⁴⁰ die Bedeutung wirdangesichts der Praumlsentation vor den Goumlttern auf der Milchstraszlige deutlich Alleinder Umfang dieser Vortraumlge die in sich auch nicht gestoumlrt oder gebrochenwerdenmarkiert dass es sich hier um das zentrale Charakteristikum des Werkes handelt

Den erzaumlhlerischen Anlass fuumlr diese Praumlsentation bietet eine Hochzeitsfeieralso ein Symposion hier ist die Gelegenheit fuumlr die groszligen Redebeitraumlge gegebenZudem bietet die SymposionformAnknuumlpfungspunkte fuumlr eine Rahmenhandlungdie zur Auflockerung der ebenso ausfuumlhrlichenwie trockenen Einzelreden genutztwird

Doch bleibt es ndash im Gegensatz z B zu Macrobius ndash nicht bei der bloszligenDarstellung der Wissensinhalte Hinzu tritt die allegorische Darstellung der Be-deutung von Wissen und von Fleiszlig beim Wissenserwerb in den ersten beidenBuumlchern Die praumlsentierten Inhalte der Buumlcher 3ndash9 (die Philologia ja bereits aufder Erde in Buch 2 besitzt) sindwichtig Sie sind nicht nur wichtig fuumlr das irdischeLeben (das wird nicht weiter thematisiert die explizit irdischen Wissenschaftenwie Architektur und Medizin werden sogar ausgeschlossen) ndash die Inhalte sindauch wichtig fuumlr die menschliche Vervollkommnung

Durch das angesammelte Wissen erreicht der Mensch zwar nicht die voll-kommene Erkenntnis (die erhaumllt auch Philologia nur ohne eigenes Zutun als sieauf der houmlchsten Himmelssphaumlre angekommen zum Vatergott in der jenseitigenGluumlckseligkeit betet) wohl aber ein goumlttergleiches Wissensup3⁴sup1 Der Wissenserwerbist gewissermaszligen die Voraussetzung dafuumlr dass der Mensch mit Hilfe einesgoumlttlichen Begleiters in den Himmel aufsteigen kann unsterblich wird und voll-kommene Einsicht erlangt

Die so weit kohaumlrente Verbindung der literarischen Traditionen laumlsst aller-dings den explizit satirischen Anspruch von De nuptiis auszliger Betracht durch denMartianus selbst das Werk primaumlr in die Gattung der Satire einordnet waumlhrendvergleichbare Bezuumlge zu anderen Gattungen fehlen Natuumlrlich lieszlige sich dieserprogrammatische Anspruch mit einem Verweis auf die Verwendung des Begriffszur Bezeichnung einer inhaltlich wie literarisch gemischten Form erklaumlren Dochgreift diese Erklaumlrung zu kurz da das Agieren Saturas die literarischen Passagendes Werks beinahe als Travestie erscheinen laumlsst (vgl oben zur Erzaumlhlerfigur) Einbildend-enzyklopaumldisches Werk kann sich allerdings nicht gefahrlos als Satire

So auch Englisch 1994 56 Die bdquoSystematik bei der Praumlsentationldquo erlaube einen leichtenZugriff auf die Informationen Mart Cap 2 201ndash205

142 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

praumlsentieren ohne Zweifel an der Glaubwuumlrdigkeit und Zuverlaumlssigkeit desWerkes und der praumlsentierten Inhalte zu weckensup3⁴sup2

Wenn Martianus auch die Konventionen der Gattung menippeische Satireaufnimmt und sein Werk also nur folgerichtig unter anderem eine unzuverlaumlssigeErzaumlhlsituation aufweist ist dies noch keine Erklaumlrung an sich Die regelkonformeUmsetzung gattungstypischer Anspruumlche erklaumlrt noch nicht die Wahl der Gattungan sich ndash einer Gattung die trotz ihrer Benennung als solche nicht zu denStandardformen und akzeptierten Gattungen zaumlhlte insbesondere nicht fuumlrLehrwerkesup3⁴sup3

Auch Martianusrsquo Verweis auf etwas bislang noch nicht Unternommenes(nescioquid inopinum intactumque 1 2) vermag den Widerspruch nicht zu loumlsenDie Wendung zeigt zwar dass Martianus die Ungewoumlhnlichkeit seines Ansatzesbewusst war (sofern sich die Phrase uumlberhaupt auf die Komposition des Werkesbezieht)sup3⁴⁴ beseitigt aber nicht das interpretatorische Problem ZuwelchemZweckverbindet Martianus also zwei so widerspruumlchliche Gattungen wie Enzyklopaumldieund Satiresup3⁴⁵

Drei Antwortansaumltze lassen sich grob umreiszligen 1 Die Verbindung ist nuraumluszligerlich bzw oberflaumlchlich 2 durch die Verbindung soll ein bestimmter Aspektparodiert und somit Spott und Kritik ausgesetzt werden 3 die Verbindung erfuumlllt

Dieses Problem hat bereits Westra in seinem Aufsatz bdquoThe juxtaposition of the ridiculousand the sublime in Martianus Capellaldquo benannt (Westra 1981) Allerdings beschraumlnkt sich auchdieser Aufsatz auf die Darstellung des Problems und die Zusammenstellung der Belege EineLoumlsung hat Westra nicht anzubieten ndash sein Aufsatz endet mit der eher apologetischen Bemer-kung das Eingestaumlndnis der Unvereinbarkeit von Satire und Lehrwerk durch Martianus in 9 997sei prima facie ein Spiel dahinter stecke jedoch die Absicht Problembewusstsein zu demon-strieren und Verantwortung fuumlr die unterlassene Loumlsung zu negieren bdquoEven though I would claim that prose and verse must be present in an ancient Menippeansatire it must be seen as one of a number of shocking juxtapositions of oppositesldquo (Relihan 198760) ndash In der Folge kann die prosimetrische Form durchaus auch Mittel belehrender Werkewerden vgl Pabst 1994 133 Denkbar (und wohl wahrscheinlich) waumlre auch dass damit die Inhalte besonders desMythos gemeint sind Der Verweis auf Unterhaltung fuumlhrt nicht zum Kern der Frage denn die satirische Formstellt mehr dar als reine Unterhaltung Auch das horazische Diktum ridentem dicere verum quidvetat ndashsbquolachend das Wahre zu sagen ndash was spricht dagegenlsquo (Hor serm 1 1 23) als Kern vonMartianusrsquo Satireverstaumlndnisses greift zu kurz ebenso wie vergleichbare Konzeptionen in derLiteratur Dort geht es bei Belehrung immer um einzelne philosophische Saumltze (nie beispiels-weise um die Vermittlung von Philosophie an sich) Folglich bezeichnet das bdquoverumldquo nichtkognitives Lernen sondern moralisches Der grundlegende Unterschied zur Konzeption desMartianus liegt somit auf der Hand Vgl zu diesem Aspekt im Allgemeinen z B Shanzer 1986c42 und im Speziellen u a Woytek 1986 339ndash345 Keulen 2009 bes Kap 2 und 3

2 De nuptiis als literarisches Werk 143

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

einen literarischen und belehrenden Zweck zugleich Aufgrund der komplexenSachlage und der unmittelbaren Bedeutung der Beantwortung der Frage nachdieser Verbindung fuumlr das Gesamtverstaumlndnis von De nuptiis werden alle Alter-nativen vorgestellt und bewertet

Rein formale Verbindung von Satire und EnzyklopaumldieEventuell laumlsst sich die Mischung aus enzyklopaumldischen und satirischen Ele-menten (mit den zur Satire gehoumlrigen Verspartien) als Sonderform der Varro-Re-zeption bei Martianus auffassenVarro von Reate verfasste sowohl umfangreicheFachliteratur als auch menippeische Satiren Fuumlr beides war er in der Antikebekannt und beruumlhmt ndash doch ist es wahrscheinlich dass Martianus die Werkebereits nicht mehr ndash oder allenfalls nur in Auszuumlgen ndash vorliegen hattesup3⁴⁶ Aus demWissen um die beiden Schaffensbereiche des republikanischen Autors die beideder Unterweisung dienen solltensup3⁴⁷ koumlnnte Martianus auf den Gedanken verfallensein die literarischen Formen und Inhalte in seinem Werk zu verbindensup3⁴⁸Vielleicht saszlig er auch einemMissverstaumlndnis auf indem ermeinte dass Varro seinsatirisches wie enzyklopaumldisches Koumlnnen in nur einem Werk demonstriert habeDies hieszlige jedoch dass Martianus sich der Problematik dieser Verbindung nicht

So aumluszligert sich beispielsweise Kindermann in den Vorstudien seiner Ausgabe der Conso-latio des Laurentius von Durham Er billigt Martianus nur eine sekundaumlre Varro-Kenntnis zu(Kindermann 1969 60) Entschieden verneint wird die Frage von Schievenin (2009f) und Hadotdie vor allem neuplatonische Quellen vermutet (Hadot 2005 149) Schneider jedoch nimmt andass sowohl Augustin als auch Martianus die Disciplinae noch vorliegen hatten (Schneider 1999109 f) und dass die Satiren-Exzerpte des Nonius Marcellus (fl um 400 in Afrika) ebenfalls ausdem Originaltext Varros angefertigt wurden (ibid 96 Anm 12) Abwaumlgend aumluszligert sich Huumlbner2004 passim Vgl Cic ac 1 8 (es spricht Varro)

et tamen in illis veteribus nostris quae Menippum imitati non interpretati quadam hilaritateconspersimus multa admixta ex intima philosophia multa dicta dialectice quae quo faciliusminus docti intellegerent iucunditate quadam ad legendum invitati

Jedoch findet sich in meinen fruumlhen Schriften die ich in kreativer Nachfolge (und nicht nurUumlbersetzung) Menipps mit einer gewissen Heiterkeit benetzt habe vieles aus den Kernbe-reichen der Philosophie beigemengt und vieles das nach Art der Dialektiker gesagt istdamit die weniger Gelehrten es leichter verstuumlnden nachdem sie durch eine Art von Scherzzur Lektuumlre ermuntert worden sind

Vielleicht hatte Martianus diese Stelle sogar im Kopf als er die Anlage von De nuptiis plante So z BWeinreich in der Einleitung zu seiner Uumlbersetzung roumlmischer Satiren bdquoMartianusCapella glaubte gewiszlig ein Varro redivivus zu sein sozusagen die Quintessenz des Gelehrten unddes Satirikersldquo (Weinreich 1962 XCIII) Ebenso Shanzer 1986c 42

144 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

bewusst gewesen sei ndash was ihm sicher nicht gerecht wird Auszligerdem wird so dieBezugnahme auf weitere formale Elemente der menippeischen Tradition und dieuumlbrigen Vorlaumlufer der Gattung mit anderer Konzeption (Lukian Julian) nichtausreichend beruumlcksichtigt

Ebenfalls beim Autor koumlnnte eine zweite Erklaumlrung ansetzen Im Zuge derAbfassung seiner Enzyklopaumldie hat sichMartianus nach horazischer Vorgabe (unddem Beispiel Varros)sup3⁴⁹ um Auflockerung und heitere Elemente bemuumlht Diespontanen Einfaumllle wurden ins Werk integriert und die sich daraus ergebendenInkonsistenzen entweder uumlbersehen oder billigend in Kauf genommen Beideswuumlrde gut zum klassisch negativen Martian-Bild in der Forschung passensup3⁵⁰Abgesehen davon dass Annahmen uumlber das Vorgehen beim Schreiben weitge-hend auf Spekulation beruhensup3⁵sup1 widersprechen drei Beobachtungen dieser Er-klaumlrung Erstens gelingt es Martianus De nuptiis uumlber neun Buumlcher vorauszu-planen so dass am Ende ein ndash zunaumlchst abgesehen von der Satire-Problematik ndashkohaumlrentes Werk entsteht Die Fuumllle der behandelten Themen Motive und lite-rarischen Elemente weist eher auf ein planvolles Arbeiten hin und macht es un-wahrscheinlich dass Martianus Probleme an dieser Stelle nicht wahrgenommenbzw nicht korrigiert haumltte Zweitens ist die Verbindungvon Satire und den anderenElementen nicht nur oberflaumlchlich so dass sie nachtraumlglich eingefuumlgt sein koumlnnteoder sich im Schreibprozess so ergeben haben koumlnnte Da bereits im zweitenKapitel des ersten Buches Satura eingefuumlhrt wirdwar sie von vornherein Teil des

Gemeint ist das beruumlhmte zunaumlchst nur fuumlr die Dichtung relevante prodesse aut delectare(Hor ars 333 f) zu Varro vgl die schon angefuumlhrte Stelle aus Cic ac Vgl z B die sehr bildliche Beschreibung von C S Lewis bdquo[hellip] this universe which hasproduced the bee-orchid and the giraffe has produced nothing stranger than Martianus Capella[hellip] the curiosity shop of his mind [hellip] a chaos beside which the work of Rabelais has unity andthat of Mandeville probabilityldquo (Lewis 1936 78 f) Gleiches gilt fuumlr Spekulationen uumlber eine andere Auffassung von Literatur und ihrenRegeln in Martianusrsquo Zeit oder Umfeld Einerseits kennen wir keine Texte die sich mit De nuptiisvergleichen lieszligen (was per se nichts beweist aber doch Indiziencharakter hat) andererseitshielten sich auch die spaumltantiken Autoren uumlblicherweise an die klassischen Vorgaben Ich teiledaher auch Schneiders Ansicht nicht der die Skepsis an dieser Verbindung allein der modernenLeseerfahrung zuschreibt bdquoWenn den Heutigen diese Kombination der forcierten Gelehrsamkeiteines Curriculums und der spielerisch-saloppen Causerie seltsam beruumlhren mag so waumlre dazuimmerhin schon an ein ciceronisches Dictum zu erinnern non est enim seiunctus iocus a phi-lologia (ad fam 16214) ndash sbquoSpieltrieb und Pedanterie diktieren und widersprechen sich nichtlsquo(sbquoErste Fruumlhschichtlsquo aus Grassrsquo sbquoHundejahrelsquo)ldquo (Schneider 1999 94 Anm 2) Der Verweis aufCicero traumlgt nichts zum Verstaumlndnis von Martianus bei Cicero geht es an der zitierten Stelle umden Ablauf des Tages mit seinem Schuumller der aus ernsteren und heitereren Abschnitten bestehtDaraus folgt nicht dass das Lernen mit Scherz verbunden ist ndash auszligerdem duumlrfte Cicero unteriocus (sbquo[urbaner] Scherzlsquo) anderes verstanden haben als Martianus in seiner Satura bietet

2 De nuptiis als literarisches Werk 145

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Kompositionsplans Drittens hat Schievenin gezeigt dass Martianus keineswegsoberflaumlchlich und eigenwillig arbeitet Durch eine gruumlndliche Untersuchung derSilen-Passage (8 803ndash805) kann er nachweisen dass Martianus ndash wie vieleAutoren vor ihm ndash uumlber ein umfangreiches literarisches Wissen verfuumlgte daraufbei der Abfassung seines Werkes zugreifen konnte und durch gezielte Anspie-lungen neue Bezuumlge herstelltesup3⁵sup2

Satire als Mittel der KritikWaumlhrend die antike Satire (im Gegensatz zur modernen) nicht zwangslaumlufig Kritikan Missstaumlnden uumlben wollte ist diese Moumlglichkeit umgekehrt auch nicht auszu-schlieszligen Martianus koumlnnte also bewusst eine solide Darstellung der Kuumlnste inliterarischem Gewandmit der Gattung der Satire verbunden haben um Zweifel ander Ernsthaftigkeit der uumlbrigen Teile des Werkes zu wecken Er wuumlrde somit einaufklaumlrerisches Interesse verfolgen das zugleich auch unterhaltsame Zuumlge traumlgt

Eine erste Schwierigkeit dieser Lesart von De nuptiis ergibt sich bereits bei derFrage nach dem Objekt der SatireWerden die Wissensinhalte in Zweifel gezogenoder nur die Art ihrer Vermittlung in langen Reden bzwTraktaten Soll der Glaubean die umfassende Einheit des Wissens kritisiert werden oder die Vorstellungsaumlmtliches Wissen lasse sich vermitteln gar kohaumlrent in einem Werksup3⁵sup3 Ist dieVorstellung dass Wissen goumlttlich mache parodiert oder nur die abwegige Vor-stellung dass auf einer Hochzeit solche Reden gehalten werden Oder richtet sichdie Kritik letztlich gegen die Auffassung Philologia als Vorbild zu sehen oder garals Mittlerin alles Wissens ja sogar als Mittlerin zwischen Menschen und Goumlttern

Aus der Tatsache dass das Objekt der Satire keineswegs leicht zu bestimmenist kann nicht gefolgert werden dass in De nuptiis keine Satire vorliege die be-stimmte Sachverhalte kritisiere Aber es kann durchaus gefolgert werden dass eskeine expliziten textinternen Merkmale gibt die das Lesen steuern und den Ge-genstand der Kritik deutlich hervortreten lassen Die Deutungen gehen also vonmodernen Annahmen uumlber das Umfeld bzw die Gedankenwelt von Martianus aus

Im Kern handle es sich um bdquouna narrazione tersa e brillanteldquo verbunden mit einemDickicht an Verweisen Die Silen-Szene habe einen bdquocarattere colto e della dottrina e dellalingualdquo (Schievenin 1984 132) Das Fazit seiner Untersuchung formuliert Schievenin folgen-dermaszligen bdquoIl De nuptiis si rivela dunque opera di vasti orizzonti non solo per lrsquointento dida-scalico che la pervade e che ne determineragrave la fortuna ma anche per la costante presenza nellafabula della tradizione classica e dei suoi echildquo (ibid 136) Vgl zu dieser Stelle auch Bovey2003 275ndash288 ndash Den geschickten Umgang mit mehreren Quellen ndash erzaumlhlerisch wie seman-tisch ndash kann Schievenin auch fuumlr 7 725ndash727 nachweisen (Schievenin 2009e) So z B Relihan 1993 138 bdquoMartianus writes not an encyclopedia but a Menippean satirethat parodies encyclopedic knowledgeldquo

146 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

und weisen zudem meist nicht kleinschrittig auf wie der Interpret zu seiner (oftapodiktisch dargelegten) Ansicht gelangt

Nun folgt daraus noch nicht dass Martianus De nuptiis nicht als kritisierendeSatire konzipiert haumltte die Vielzahl der (wenn auch differierenden) modernenDeutungenweist ja darauf hin Zwei Uumlberlegungenwenn auch keine schlagendenBeweise lassen die Hypothese der parodierenden Satire unwahrscheinlich wer-den der Umfang von De nuptiis und seine Rezeption Eine Satire die beispiels-weise die Verbindung von Weltwissen und menschlicher Vervollkommnung in-frage stellt benoumltigt nicht noch eine umfassende Darlegung eben diesenWissensDies gilt besonders da diese Darlegung den Hauptteil des Werks ausmacht und ndashzumindest dem Umfang nach ndash die uumlbrigen Partien weit uumlberragt Eine Deutungvon De nuptiis als kritischer Satire muumlsste also besonders die Frage beantwortenzu welchem Zweck die umfangreichen Darstellungen der Freien Kuumlnste aufge-nommen sind (und nicht nur angedeutet werden)

Die Rezeption eignet sich zwar ebenfalls nicht zu sicheren Ruumlckschluumlssen aufdie originale Intention eines Werkes haumlufig bietet sie aber interessante EinblickeDie Martianus-Rezeption stellt sich bald ein Cassiodor beruft sich in seinen In-stitutiones auf ihn Dort erscheint Martianus nicht als Satiriker oder Zeitkritikersondern als Gelehrtersup3⁵⁴ In dieser Tradition wird Martianus auch im Mittelaltergelesen und rezipiertsup3⁵⁵

Aumlhnliches laumlsst sich fuumlr Boethiusrsquo Anknuumlpfen an die prosimetrische Form inder Ausgestaltung von Martianus sagen Boethius verfasst zweifelsfrei keine kri-tische Satire kann aber trotzdem an die Form und den Inhalt von De nuptiisproblemlos anknuumlpfen Sowohl der Form nach wie auch durch einzelne Zitatemacht er deutlich dass erDe nuptiis kennt und als eine seiner Vorlagen benutzt Esist zu bezweifeln dass Boethius in seinem Bemuumlhen um eine adaumlquatewerbendeDarstellung der Philosophie auf Form und Zitate des Martianus zuruumlckgegriffenhaumltte haumltte er nicht die Moumlglichkeit der gefahrlosen Uumlbernahme gesehen

Satirische Elemente als Mittel der BelehrungDer dritte Erklaumlrungsansatz fuumlr die Verbindung von Satire und Belehrung be-trachtet die Wahl Saturas als Figur und die Bezugnahme auf die Gattung zunaumlchst

Cassiod inst 2 2 17 Zur mittelalterlichen Martianus-Rezeption vgl bes Nuchelmans 1950 Lutz 1971 und 1976Willis 1973 sowie die Ausgaben und Literatur u a zu folgenden Werken Konrad von MureFabularius Hugo von Sankt Victor Didascalicon de studio legendi Johannes von SalisburyMetalogicon Kindermann kann weiterhin nachweisen dass De nuptiis auch durch seine Forminspirierend gewirkt hat (Kindermann 1969 61 f)

2 De nuptiis als literarisches Werk 147

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

als reine Fortsetzungder literarischen Form Fuumlr diese spezielle Formder Literaturdie menippeische Satire hat der russische Literaturwissenschaftler MichailBachtin Beobachtungen aufgestellt die auch fuumlr De nuptiis zutreffen Durch denRuumlckgriff auf zwei zentrale Konzepte Bachtins das Karnevaleske und die Dialo-gizitaumlt wird ein Verstaumlndnis von De nuptiis ermoumlglicht

Auf der Suche nach Vorlagen und Urformen der Gattung des Romans ins-besondere in der Form von Dostojewskis Romanen stieszlig Bachtin unter anderemauch auf die menippeische Satire die er bis in die Antike zuruumlckverfolgtesup3⁵⁶ Zuihren Vertretern zaumlhlt er unter anderem Varro Apuleius Petron Seneca oderLukiansup3⁵⁷ Martianus Capella wird nicht erwaumlhnt was aber nicht verwundernmuss da Bachtin keine Literaturgeschichte der menippeischen Satire schriebsup3⁵⁸

Kern der Uumlberlegungen Bachtins zurmenippeischen Satire ist das Konzept desKarnevals Unter Karneval versteht er folkloristische Feste waumlhrend deren diebestehende Ordnung verkehrt wird uumlbliche Regeln nicht mehr gelten Herr-schende gestuumlrzt und Machtlose maumlchtig werden ndash auf Zeit Die Karnevalisierungalso die Uumlbernahme der Kennzeichen dieses Festes in neue oder bestehende li-terarische Formen institutionalisiert diese Ausnahmesituation und loumlst sie vomkonkreten Fest Der so entstandene Text wird bdquozum karnevalesken Spiel an demder Autor und sein Publikum einverstaumlndlich teilhaben und das keines kalen-darisch oder institutionell abgesicherten Karnevalsrahmens mehr bedarfldquosup3⁵⁹

Diese Karnevalisierung fuumlhrt unter anderem zu einer Vielstimmigkeit vonMeinungen und Positionen im Text z B durch mehrere Figurenvon denen keinebevorzugt oder gar als autoritativ gekennzeichnet wird In dieser Dialogizitaumlt wirdkein allgemein guumlltiger Sinnmehr vermittelt sondern dieWahrheit suspendiertsup3⁶⁰

Dass der Bezug auf karnevalsartige Feste der Gattung menippeische Satire (inTeilen auch der Verssatire) eignet zeigt ein kurzer Blick auf wichtige Vertreter derTradition

Julians Symposion Caesares spielt zur Zeit der Saturnalien Die Bedeutungdieses Festes fuumlr das Werk wird dadurch verdeutlicht dass es den Handlungs-

Bachtin 1971 126ndash 135 Bachtin 1971 126 128 132f Kritik an den z T pauschalisierenden und verfaumllschenden Aussagen Bachtins uumlber antikeLiteratur oder an der ununterbrochenen Traditionslinie von der Antike bis in die Moderne (z BRelihan 1987 59 Lachmann 2006 23ndash25) muumlsste auch auf manche moderne Literaturwissen-schaftler in der Nachfolge Bachtins angewandt werden (vgl Branham 2005 6 wo es uumlberSenecas Apocolocyntosis heiszligt bdquoour only extant Menippean satire in Latinldquo) Teuber 1993 182 Eine gut verstaumlndliche Einfuumlhrung in das Konzept der Dialogizitaumlt im Sinne der bach-tinschen Terminologie bietet Sharland 2010 Einfuumlhrung (1ndash51)

148 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

rahmen fuumlr den in der Folge erzaumlhlten Mythos bildet Bereits im ersten Satz wirdauf das Fest und die Tradition Heiteres frei zu erzaumlhlen Bezug genommensup3⁶sup1

Auch Senecas Apocolocyntosis stellt einen engen Bezug zum Saturnalienfesther Das Werk spielt zwar nicht an den Saturnalien sondern am Todestag desClaudius im Oktober doch wird an zwei Stellen eine Verbindung zwischen derHerrschaft des verstorbenen Kaisers und den dargestellten Sitten waumlhrend derRegierungszeit mit dem Saturnalienfest gezogensup3⁶sup2 Manche Interpreten gehensogar davon aus dass die Apocolocyntosis an den Saturnalien des Jahres 54vorgetragen wurdesup3⁶sup3 Auch bei Petron und Horaz finden sich Bezugnahmen aufdie Saturnaliensup3⁶⁴

Ein zentrales Element des Saturnalienfestes liegt in der Suspension der uumlb-licherweise geltenden Normen und Wertesup3⁶⁵ Neben den anderen Elementen desFestes wie sie z B in Macrobiusrsquo Saturnalia (1 7ndash 10 1 24 22 f) beschriebenwerden (traditionelle Geschenke Festmahl fuumlr die Sklaven etc) hat gerade dieUmkehrung der Herrschaftsverhaumlltnisse im Haus Niederschlag in der Literaturgefunden

Gerade durch diese Rolleninversion treten einige wichtige gesellschaftlicheNormvorstellungen und Grundannahmen prominent hervor Dazu zaumlhlt das Be-wusstsein dass es eine befehlende und eine ausfuumlhrende Gruppe von Menschengibt oder dass im Prinzip ein Rollenwechsel moumlglich sein kann Alle Beteiligten

Ἐπειδὴ δίδωσιν ὁ θεὸς παίζειν ndash ἔστι γὰρ Κρόνια ndash hellip (sbquoDa der Gott das Scherzen erlaubt ndashes sind ja die Kronia helliplsquo Caes 1 = 306a Spanheim) Zur Frage ob es sich bei Caesares auch umdas Werk handle auf das zu Ende der Rede auf Koumlnig Helios verwiesen wird (Or in Sol reg 44 =157c Spanheim) vgl Muumlller in seiner Uumlbersetzung (39 ablehnend) und Lacombrade im Vorwortseiner Budeacute-Ausgabe (3 und 18 Anm 3) der aufgrund des Handschriftenbefundes Kronia auchals Titelbestandteil fuumlr die Caesares uumlbernimmt Es handelt sich um Sen apocol 8 1 (Claudius als Saturnalienprinz) und 12 2 (Herrschaftdes Claudius als andauerndes Saturnalienfest) ndash Dass Lukian nicht auf die Saturnalien alsRahmen fuumlr seine Werke zuruumlckgreift entwertet die Beobachtungen nicht Lukian musste auf-grund seines Selbstbewusstseins als satirischer Schriftsteller und aufgrund der Menge seinersatirischen Schriften nicht jedes Mal einen eigenen literarischen Rahmen herstellen in demeinzelne Dialoge stattfinden konnten Das Saturnalienfest selbst erscheint bei Lukian als Ge-genstand der Satire nicht als deren literarische Rahmung (Τὰ πρὸς Κρόνον) Zuerst bei Furneaux 1896 23 Anm 11 In der neueren Forschung vgl bes Nauta 1987Kritisch dazu u a Doumlpp 1993 159 f Petron 44 3 58 2 69 9 zu Horaz vgl z B serm 2 7 (libertas Decembris) Ein gelungenesBeispiel der Anpassung und Anwendung der bachtinschen Konzepte mit Ertrag fuumlr die Inter-pretation unter Einbezug von serm 2 7 bietet Sharland 2010 Distelrath 1999 114 Vgl weiterhin Versnel 1993 136ndash227 und Doumlpp 1993 Eine plastischeSchilderung der Rollenvertauschung bei der der Sklave dem Herrn die Leviten liest bietet Horserm 2 7

2 De nuptiis als literarisches Werk 149

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Herren wie Sklaven spielen also mit den Moumlglichkeiten einer alternativen Wirk-lichkeit

Das Besondere im Spiel mit den Moumlglichkeiten liegt aber in seiner zeitlichenBegrenzung Nach der Zeit des Ausnahmezustands gelten wieder die normalenimmer guumlltigen Regeln Die Rolleninversion erlaubt also ndash oder erzwingt gera-dezu ndash das Nachdenken uumlber bestimmte gesellschaftliche Normen und Wertvor-stellungen Durch die Ritualisierung und enge zeitliche Begrenzung ist darausjedoch keineswegs die Notwendigkeit entstanden die Verhaumlltnisse tatsaumlchlich zuhinterfragen oder gar zu aumlndern Daher lassen sich die Saturnalien auch als ein dieKonventionen bestaumlrkendes Fest verstehen Das Spiel mit der Moumlglichkeit eineranderen Gesellschaftsordnung hat durch seine Ritualisierung letztlich eine dieTradition legitimierende Funktion bekommen

In De nuptiis finden sich jedoch houmlchstens spaumlrliche Hinweise auf das Sa-turnalienfest Am ehesten weist das grob scherzende Agieren Saturas in diesenBereich Die bdquolangen Winternaumlchteldquo (1 2) koumlnnten (statt als Bezug auf Gellius) alsAnspielung auf das Saturnalienfest verstandenwerden ndash die Saturnalien finden inden laumlngsten Naumlchten uumlberhaupt statt seit der Kaiserzeit vom 17 bis 23 DezemberDies ndash wie die Spekulation uumlber eine spielerische etymologische Verbindung vonSatura und Saturnaliensup3⁶⁶ ndash ist aber insofern nicht von Belang da die Gattung alsGanze karnevaleske Zuumlge traumlgt und als gewissermaszligen institutionalisierter Kar-neval vom eigentlichen Fest losgeloumlst istsup3⁶⁷

Die Aufhebung der uumlblichen Ordnung (was Teuber im Ruumlckgriff auf Limina-litaumltskonzepte als praumlliminale Phase bezeichnet)sup3⁶⁸ beginnt mit der VorbereitungPhilologias zum Aufstieg in den Himmel Bereits das Erbrechen stellt eine mar-kante Umkehrung der alltaumlglichen Welt dar Statt sich Wissen anzueignen er-bricht Philologia es nun In der Goumltterversammlung auf der Milchstraszlige ist dieOrdnung sodann voumlllig verkehrt Philologia als Meisterin aller Disziplinen und

Zwar sind die einschlaumlgigen etymologischen Woumlrterbuumlcher skeptisch (v a WaldeHof-mann 2007 II 482 neutral ErnoutMeillet 2001 596) jedoch gibt es dahin gehende moderneDeutungen (aufgefuumlhrt bei WaldeHofmann 2007 II 482) und auch antike ParallelisierungenCic nat deor 2 64 Saturnus hellip est appellatus quod saturaretur annis (sbquoSaturn hellip wurde ergenannt weil er an Jahren gesaumlttigt istlsquo) Fulg myth 1 2 (p 17 16) a saturando Saturnus dictusest (sbquoDa er (die Menschen) saumlttigt wurde er Saturn genanntlsquo) Aug cons euang 1 23 35 Sa-turnus tamquam satur hellip νοῦς (sbquoSaturn gleichsam der gesaumlttigte hellip νοῦςlsquo) Vgl auch Gowers diedie etymologischen Verbindungen von satura Satyrspiel und Saturnalien untersucht (Gowers1993 109ndash 117) Sie kommt zu dem Befund dass keine Verbindung bestehe wohl aber verbin-dende Elemente identifiziert werden koumlnnten bdquocarnival licence parody uninhibited mockeryand excessive consumptionldquo (ibid 117) Vgl z B Teuber 1993 183 f Teuber 1993 183

150 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

bedeutende Lehrinstanz muss sich ihrerseits belehren lassen ndash mit dem Wissendas urspruumlnglich ihres war

Durch die Inversion wird die (vielleicht uumlblicherweise nicht prominente)Philologia in den Mittelpunkt geruumlckt und ihre zentrale Rolle im Wissenssystemtritt markant vor Augen Gleichzeitig kann darin eine leise Anfrage an ihre Lehr-autoritaumlt und eventuell auch ihre Eignung zur Lehre gesehen werden

Aufgrund des zeitlich begrenzten Rahmens der Verkehrung (diemit dem Endeder Vortraumlge voruumlber ist aber nicht explizit zuruumlckverwandelt wird) dessen Be-grenztheit durch Bezug auf die Form der menippeischen Satire ergaumlnzt werdenkann wird das System der Bildung und der Bildungsvermittlung jedoch nichtgrundsaumltzlich infrage gestellt Die Suspendierung Philologias ist temporaumlr

Dem Konzept der Dialogizitaumlt oder Mehrstimmigkeit folgend erklaumlrt sich auchdie Doppelung und Verunklarung der Erzaumlhlinstanz In den drei Dialogen indenen Satura und Martianus aufeinandertreffen behandeln sie die Frage desrichtigen Erzaumlhlens Dies beschraumlnkt sich nicht nur auf die Satire sondern umfasstalle auftretenden literarischen Formen Martianus und Satura sind sich uneinswie weit der Mythos reichen soll und ob eine Enzyklopaumldie trocken oder auchunterhaltsam erzaumlhlt werden soll (2 219ndash3 222) ob ein Symposion auch Zechenund Spaszlig vertraumlgt (8 803ndash810) oder ob und wie stark Satire Dinge vermischendarf (9 997ndash 1000)

Die unterschiedlichen Meinungen zu den Fragen werden zwar diskutiert undfuumlhren zu einem Ergebnis ndash der Erzaumlhlfluss versiegt ja an keiner Stelle oder setztneu an Allerdings entsteht in der Folge kein homogenes Werk und am Schlussmag keiner der beiden Erzaumlhler dafuumlr die Verantwortung uumlbernehmen Der Wi-derwillen sich zu dem Werk zu bekennen bedeutet aber gleichzeitig auch dassMartianus sich nicht festlegt welche Position er fuumlr die richtige haumllt Die Fragenach der rechten Art der Wissensvermittlung die auch in der Ent- und Inthroni-sierung Philologias anklang bleibt unbeantwortet

Schlieszliglich bringt der Blick auf die Aurelian-Vita aus der Historia Augustanoch einen weiteren Aspekt ein Parallel zur Aufteilung der Erzaumlhlinstanzen in Denuptiiswird der Erzaumlhlprozess in derHistoria Augusta aufmehrere AutorenverteiltWie zuerst Hermann Dessau und in der Folge Ronald Syme nachdruumlcklich gezeigthaben handelt es sich allerdings um nur einen Verfasser der uumlberdies auch inBezug auf die Abfassungszeit falsche Angaben gemacht hat und Quellen erfundenhatsup3⁶⁹ Insofern laumlsst sich der in der Historia Augusta gepraumlgte Begriff der

Auf den Charakter der Sammlung die Syme u a als bdquohoaxldquo bezeichnet (1983a 11 1983b13 1983c 219) die fingierten Autoren die manipulierten Quellen etc soll an dieser Stelle nurhingewiesen werden Vgl auch Cameron 2011 Kap 20 mit ausfuumlhrlicher Diskussion relevanterFragen

2 De nuptiis als literarisches Werk 151

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mythistoria der Vermischung von Mythischem und Historischem auch auf dieSammlung selbst anwendensup3⁷⁰

Als Menippee im engeren Sinne laumlsst sich weiterhin die Aurelian-Vita die 26Vita der Sammlung fassen und bezeichnenderweise spielt die Rahmenhandlungan denHilariasup3⁷sup1Wie zu den Saturnalien gehoumlren zu diesem Fest Scherze und ndash imRahmen von Maskierungen ndash Rollenwechselsup3⁷sup2

Noch in der rahmenden Einleitung zur Vita spielt sich folgender Dialog ab

1 et quoniam sermo nobis de Trebltellgtio Pollione qui a duobus Philippis usque ad divumClaudium et eius fratrem Quintillum imperatores tam claros quam obscuros memoriaeprodidit in eodem vehiculo fuit adserente Tiberiano quod Pollio multa incuriose multabreviter prodidisset me contra dicente neminem scriptorum quantum ad historiam pertinetnon aliquid esse mentitum prodente quin etiam in quo Livius in quo Sallustius in quoCornelius Tacitus in quo denique Trogus manifestis testibus convincerentur pedibus insententiam transitum faciens ac manum porrigens iocando[m] praeterea sbquoscribelsquo inquit sbquout

quae ille [scil Iunius Cordus] omnia exsequendo libros mythistoriis replevit talia scribendocum omnino rerum vilium aut nulla scribenda sint aut nimis pauca si tamen ex his morespossint animadverti qui re vera sciendi sunt hellip sed ex parte ut ex ea cetera colligantur(SHA Opil 1 5)

Bei der Anfuumlhrung von all diesen Informationen hat er die Buumlcher mit fabuloumlsen Ge-schichten angefuumlllt indem er Dinge von dieser Art schrieb wo doch uumlberhaupt keinenutzlosen Dinge geschrieben werden duumlrfen oder nur sehr wenige sofern daraus Verhal-tensweisen erkannt werden koumlnnen die wirklich wissenswert sind hellip aber zum Teil(schreibe ich) damit daraus das Andere gefolgert werden kann

quid Marius Maximus homo omnium verbosissimus qui et mythist[h]oricis se voluminibusinplicavit num ad istam descriptionem curamque descendit (SHA Quadr tyr 1 2)

Wie Hat sich Marius Maximus der groumlszligte Schwaumltzer vor dem Herrn der sich in seinenmythistorischen Werken verfangen hat etwa zu dieser Art der Darstellung und des sorg-faumlltigen Arbeitens herabgelassen

Hilaribus quibus omnia festa et fieri debere scimus et dici impletis sollemnibus vehiculo suome hellip Iunius Tiberianus accepit (SHA Aurelian 1 1)

An den Hilaria an denen alles zum Fest Gehoumlrende getan und gesagt werden muss wieman weiszlig empfing mich nach Erledigung der Zeremonien Iunius Tiberianus in seinemGefaumlhrt

Pausch bemerkt dieses besondere Datum zwar und erwaumlgt ob es sich um ein bdquoweitergehendesLesesignalldquo beispielsweise im Sinne karnevalesker Literatur handeln koumlnne verfolgt diese Spuraber nicht weiter (Pausch 2011 130 Anm 1) Herodian 1 10 5 ndash Einige Hinweise auf die Hilaria die im Kontext des Magna Mater-Festesam 25 Maumlrz gefeiert wurden bietet Fraser in seinem Kommentar zu Ovids Fasti (Fraser 1929244ndash248)

152 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

libet 2 securus quod velis dices habiturus mendaciorum comites quos historicae elo-quentiae miramur auctoreslsquo (SHA Aurelian 2 1ndash2)

1 Und weil unser Gespraumlch uumlber Trebellius Pollio der von den beiden Philippi bis zumvergoumlttlichten Claudius und dessen Bruder Quintillus gleichermaszligen uumlber beruumlhmte wieunbekannte Kaiser fuumlr die Nachwelt schrieb in derselben Saumlnfte stattfand behauptete erdass Pollio vieles ohne Sorgfalt und nur kurz dargelegt habe Ich erwiderte dass keinSchriftsteller sofern es um die Geschichte gehe nicht irgendwo gelogen habe und legtesodann dar worin sogar Livius Sallust Tacitus schlieszliglich sogar Trogus mit eindeutigenBelegen uumlberfuumlhrt werden koumlnnten Darauf sagte Tiberianus schlieszliglich scherzend indem ermeiner Meinung beipflichtete und mir seine Hand darbot bdquoSchreibe sowie du es fuumlr richtighaumlltst 2 Sage unbesorgt was du willst du wirst diejenigen als Gefaumlhrten fuumlr deine Taumlu-schungen haben die wir als Schoumlpfer historiographischer Beredsamkeit bewundernldquo

So sympathisch dieser Anspruch auch erscheinen mag ist er doch fuumlr das Ver-trauen in die Gattung der Geschichtsschreibung fatal Gerade in der Einleitungeiner Vita jedoch ndash zumal es der Fiktion nach die erste des Flavius Vopiscus Sy-racusius im Corpus der Historia Augusta ist ndash kann eine solche Anekdote ei-gentlich keinen Platz haben Sie erweckt beim Leser den Eindruck dass er dennachfolgend dargebotenen Informationen kein Vertrauen schenken duumlrfesup3⁷sup3

Die Parallelen zwischen der Historia Augusta insbesondere dem Vorgehen inder Vita Aureliani und De nuptiis liegen auf der Hand Verunklarung der Autor-schaft bzw der Erzaumlhlhaltung einerseits Erwecken von Zweifeln an der Glaub-wuumlrdigkeit des Dargebotenen andererseits

In der Historia Augusta sind die Inkongruenzen mit der Freude des Autors amliterarischen Spiel erklaumlrt worden Der Autor habe aus Freude am Fabulieren(vielleicht auchumein dafuumlr empfaumlngliches Publikum zu befriedigen) die Viten indieser Form verfasstsup3⁷⁴ Mag man dies fuumlr die Historia Augusta noch zugestehenderen Text uumlber einen laumlngeren Zeitraum vielleicht zunaumlchst ohne eine Gesamt-konzeption entstanden ist und auch sprachlich nicht herausragt stellt sich derSachverhalt fuumlr Martianusrsquo De nuptiis anders dar Das Werk hat durchaus einenliterarischen Anspruch und es folgt eindeutig einer vorab geplanten Gesamtan-lage Die Freude am Spiel mag vielleicht manches Detail beigesteuert haben fuumlrdie verschraumlnkte Anlage des Textes ist sie aber keine Erklaumlrung

Ganz anders ist der Anspruch zum Ende der Darstellung der Viten der bdquoDreiszligig Tyrannenldquoin dem der Autor beteuert seinem Werk mangele es zwar an literarischer Ausgefeiltheit nichtjedoch an Faktentreue da nunc cuivis libellum non tam diserte quam fideliter scriptum ndash sbquoGibnun dieses Buumlchleinwem du magst es ist nicht so sehr kunstvoll geschrieben wie es sachgetreuistlsquo (SHA Quadr tyr 33 8) Syme nennt dies bdquodeceit for its own sweet sakeldquo (1983c 217) Im gleichen Aufsatz spe-kuliert er auch uumlber das Interesse des Publikums an einer solchen Art von geistigem Spiel(ibid 221)

2 De nuptiis als literarisches Werk 153

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Es lohnt sich jedoch auch fuumlr die Historia Augusta einen Schritt weiter zugehen Ausgangspunkt dafuumlr ist die obige Beobachtungdass das literarische Spielder Historia Augusta nur durchschaut wer die Werke der historischen Literaturkennt Durch die Lektuumlre historiographischer Biographien bringt der Leser einebestimmte Leseerwartung also implizite Vorstellungen mit wie das Werk aus-sehen soll und wird Diese Erwartungen werden aber nicht oder nur teilweisebedient Formal gesehen weisen die Viten in der Historia Augusta zwar die Cha-rakteristika der Gattung auf ndash doch indem sie sie inhaltlich nicht adaumlquat aus-fuumlllen treten deren Konventionen vor Augen

Durch die uumlbermaumlszligige Verwendung falscher Verweise und erfundener Quel-len geraumlt zudem das Beglaubigungsverfahren historischer Texte in den Blick-punkt Der Leser erkennt anwelchen Stellenwelche Beglaubigungsmechanismenansetzen und auf welche Weise sie unterlaufen werden koumlnnen Uumlberspitzt lieszligesich behaupten DieHistoria Augusta verfolgt ein aufklaumlrerisches Interesse indemsie (spielerisch) aufzeigt welche Beglaubigungsverfahren die Geschichtsschrei-bung nutzt und wie sie manipuliert werden koumlnnen dadurch wird auch die Ma-nipulierbarkeit von Geschichte und Leser deutlich

In De nuptiis werden ebenfalls die Konventionen der Einzelgattungen ndash zu-mindest ansatzweise ndash hervorgehoben Dass kein perfektes Musterbeispiel derjeweiligen Einzelgattung entstehen kann liegt darin begruumlndet dass durch dieVerbindung der vier literarischen Genres keine oberflaumlchliche Konsistenz derFiktion entstehen kannVielmehr entstehen Bruumlche die ndash ebenso wie die Bruumlchein der Erzaumlhlhaltung ndash auch die Gattungskonventionen und ihre Annahmendeutlich werden lassen Dies gilt besonders fuumlr die Satire deren Vorgehen imKontrast zur eigentlichen Hochzeitshandlung aus dem Rahmen faumlllt und somitbesonderes Augenmerk erhaumllt Hinzu tritt mit der Figur Satura auch eine Perso-nifikation der Gattung die in theoretischen Diskussionen Annahmen und Vor-gehen mit Martianus eroumlrtert Grunduumlberlegungen der Gattung Satire werden sotheoretisch eroumlrtert und praktisch erprobt Gleiches giltwenn auch zT inwenigerdeutlicher Form auch fuumlr die anderen Formen Die Enzyklopaumldie in ihren langenMonologen wird durch Spott markiert die trockenen Kuumlnste werden probeweisedurch Allegorien zugaumlnglicher gemacht im Symposiondialog wird uumlberlegt in-wieweit uumlbliche Rollenmuster (der Zecher) einen Platz haben oder wie weit mandie fuumlr die Feier typischen Reden fuumlhren kann und immythischen Teil wird durchdie Gegenuumlberstellung mit dem handfesten Wissensbetrieb die Andersartigkeitdes Erzaumlhlens deutlich

So werden neben den Inhalten der Wissenschaften auch verschiedene lite-rarische Formen bewahrt Neben der reinen Anwendung und somit Tradierungwerden gleichzeitig auch die Mechanismen verdeutlicht deren sich die jeweilige

154 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Gattung bedient Somit wird ihr Funktionieren nachvollziehbar und in der Folgeauch nachahmbar

3 Zusammenfassung

Martianus weckt also durch die Wahl mehrerer gleichberechtigter Erzaumlhler diesomit das Erzaumlhlen unzuverlaumlssig werden lassen besonders aber durch dieUumlbernahme satirischer Gattungselemente ein Bewusstsein fuumlr die traditionellenGrundlagen desWissens- und Lehrsystems seiner Zeit ImGegensatz zur Satire diediese Fragen kategorisch stellt handelt es sich in De nuptiis um ein Spiel damitDer Satirebezug dient als Anknuumlpfung an die traditionellen Gattungsmerkmaleder menippeischen Satire Karnevaleske und Dialogizitaumlt

Durch die (temporaumlre) Rolleninversion richtet sich das Augenmerk aufPhilologia als Wissenszentrum und Wissensmittlerin und fordert zum Nach-denken daruumlber heraus Im Kern hinterfragt das Werk alle Bereiche die mit Bil-dung und Bildungsvermittlung zu tun haben Was sind die Inhalte wahrer Bil-dung Gibt es eine Einheit von Bildung Wie kann sie vermittelt werden

Allerdings zielt die Kritik nicht auf eine Aufloumlsung klassischer Bildungsinhalteund Vermittlungsformen Sie regt vielmehr durch Scherz und Bruumlche zumNachdenken uumlber diese Fragen an Dabei verzichtet Martianus auf eigene Vor-schlaumlge und Konzepte und festigt so gleichsam den traditionellen Bildungs-betrieb Das von ihm dargestellte Wissen wird kanonisiert und die Darstel-lungsform in langen Reden wird es auch Die mittelalterliche Rezeption von Denuptiis zeigt dies eindrucksvoll

Wissen umfasst dabei nicht nur das Faktenwissen der Vortraumlge sondern auchdas Wissen um bestimmte literarische Formen Durch die Verbindung von vierGattungen und die Doppelung der Erzaumlhlerfigur mit Reflexion uumlber angemessenesErzaumlhlen entstehen Inkonsistenzen die die Konventionen der einzelnen Gattun-gen hervortreten lassen Nicht alle Elementewerden auf dieseWeise deutlich aberMartianus bietet einen Ansatzpunkt die Fiktion auch unter der Fragestellung zulesen was einen Text der jeweiligen Gattung ausmacht ndash sowohl positiv wie ne-gativ formuliert

Mit seiner kreativen Konzeption und ihrer literarischen Umsetzung gelingt esMartianus eindrucksvoll Heiteres und Belehrendes zu verbindenwomit er an dieTradition Varros und die klassische antike Poetik anknuumlpft Es gelingt ihm daruumlberhinaus aber auchWissen zu vermitteln und die traditionellen Vorstellungen vonder Bedeutung dieses Wissens wie der Form seiner Vermittlung herauszustellenSpielerisch wird also gelehrt und hinterfragt nicht jedoch kategorisch kritisiertoder kuumlhn neu entworfen Gerade dadurch zeichnet sich Martianusrsquo De nuptiis

3 Zusammenfassung 155

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

tatsaumlchlich als nescioquid inopinum intactumque (sbquoetwas Ungewohntes und nochnie Gewagteslsquo 1 2) aus und macht es zu einem der bedeutendsten Buumlcher derSpaumltantike und zu einer interessanten Quelle fuumlr die Frage nach Bildungsvor-stellungen im fuumlnften Jahrhundert

156 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Page 28: Bildungsvorstellungen im 5. Jahrhundert n. Chr. (Macrobius, Martianus Capella und Sidonius Apollinaris) || III Martianus Capella, De nuptiis Philologiae et Mercurii

Diese Art der Spiels mit der Erzaumlhlerrolle wird von manchen modernen For-schern als ein wichtiges Merkmal der menippeischen Satire angesehen Hinzu-treten kann die Selbstherabsetzung des Erzaumlhlers die sich an seinemmangelndenWissen Stilbewusstsein Traditionsempfinden o auml entzuumlndetsup3sup3⁷ Folglich kanndie zunaumlchst befremdliche Brechung und Verzerrung als weiteres Merkmal derGattung menippeische Satire bestimmt werden

Aufgrund dieser Beobachtungen ist es zwingend in De nuptiis vor allem eineSatire zu sehen Auch der heiter-spoumlttische Charakter einiger Passagen zwischenden Vortraumlgen der Brautjungfern passt zum satirischen Anspruch Gelegentlicherscheint es jedoch fraglich ob es sich wirklich um satirische und nicht eher umkomische oder derbe Spaumlszlige handelt Die Szene in der Silen betrunken einschlaumlftund von den anderen Goumlttern verspottet wird (8 803ndash805) erinnert mit ihremSlapstick eher an den derben Spott der Komoumldie als an die Satire eines Varrosup3sup3⁸

22 Deutungen der komplexen literarischen Form

Wie laumlsst sich das Werk De nuptiis nun also formal beschreiben oder andersgefasstWie lassen sich die vier literarischen Traditionsstraumlnge zusammenfuumlhrenDass eine einheitliche Lesung zumindest versucht werden muss zeigt bereits dasLeitmotiv der Hochzeit ansup3sup3⁹

Im Kern handelt es sich bei MartianusrsquoWerk um eine Sammlung bedeutenderWissensschaumltze in einem einzigen Werk die darin systematisch ausgebreitetwerden Dies zeigt die Einteilung in verschiedene Disziplinen die ein ver-

Zur Erzaumlhlerrolle in der menippeischen Satire vgl u a Relihan 1993 und darin bes S 35 Mit der Aufnahme unterhaltsamer Elemente ginge Martianus sogar noch uumlber dieErwartungen an ein sbquosatirischeslsquo Werk hinaus Auch Boethius wird bescheinigt er erzaumlhle seineConsolatio bdquoper satiramldquo auch wenn bei ihm weder eine Figur Satura auftritt noch allzu vielHeiterkeit herrscht (Peiper zitiert in der Einleitung zu seiner Ausgabe S xxxi eine mittelalter-liche Boethius-Vita vgl Kindermann 1969 61)

hos libros [scil de consolatione Philosophiae] per satiram edidit imitatus videlicet mar-cianum felicem capellam qui prius libros De nuptiis philologiae et mercurii eadem speciepoematis conscripserathellip

Diese Buumlcher schrieb er als Satire freilich in Nachahmung des Marcianus Felix Capellader zuvor die Buumlcher uumlber die Hochzeit der Philologie mit Merkur in der gleichen Art vonGedicht verfasst hatte

Zum Motiv der Hochzeit das bereits programmatisch im eroumlffnenden Hymnus anHymenaeus erscheint vgl Schievenin 2009c und Cristante in der Einleitung seiner Ausgabe1987 3ndash 10

2 De nuptiis als literarisches Werk 141

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

gleichsweise leichtes Auffinden der Informationen erlaubtsup3⁴⁰ die Bedeutung wirdangesichts der Praumlsentation vor den Goumlttern auf der Milchstraszlige deutlich Alleinder Umfang dieser Vortraumlge die in sich auch nicht gestoumlrt oder gebrochenwerdenmarkiert dass es sich hier um das zentrale Charakteristikum des Werkes handelt

Den erzaumlhlerischen Anlass fuumlr diese Praumlsentation bietet eine Hochzeitsfeieralso ein Symposion hier ist die Gelegenheit fuumlr die groszligen Redebeitraumlge gegebenZudem bietet die SymposionformAnknuumlpfungspunkte fuumlr eine Rahmenhandlungdie zur Auflockerung der ebenso ausfuumlhrlichenwie trockenen Einzelreden genutztwird

Doch bleibt es ndash im Gegensatz z B zu Macrobius ndash nicht bei der bloszligenDarstellung der Wissensinhalte Hinzu tritt die allegorische Darstellung der Be-deutung von Wissen und von Fleiszlig beim Wissenserwerb in den ersten beidenBuumlchern Die praumlsentierten Inhalte der Buumlcher 3ndash9 (die Philologia ja bereits aufder Erde in Buch 2 besitzt) sindwichtig Sie sind nicht nur wichtig fuumlr das irdischeLeben (das wird nicht weiter thematisiert die explizit irdischen Wissenschaftenwie Architektur und Medizin werden sogar ausgeschlossen) ndash die Inhalte sindauch wichtig fuumlr die menschliche Vervollkommnung

Durch das angesammelte Wissen erreicht der Mensch zwar nicht die voll-kommene Erkenntnis (die erhaumllt auch Philologia nur ohne eigenes Zutun als sieauf der houmlchsten Himmelssphaumlre angekommen zum Vatergott in der jenseitigenGluumlckseligkeit betet) wohl aber ein goumlttergleiches Wissensup3⁴sup1 Der Wissenserwerbist gewissermaszligen die Voraussetzung dafuumlr dass der Mensch mit Hilfe einesgoumlttlichen Begleiters in den Himmel aufsteigen kann unsterblich wird und voll-kommene Einsicht erlangt

Die so weit kohaumlrente Verbindung der literarischen Traditionen laumlsst aller-dings den explizit satirischen Anspruch von De nuptiis auszliger Betracht durch denMartianus selbst das Werk primaumlr in die Gattung der Satire einordnet waumlhrendvergleichbare Bezuumlge zu anderen Gattungen fehlen Natuumlrlich lieszlige sich dieserprogrammatische Anspruch mit einem Verweis auf die Verwendung des Begriffszur Bezeichnung einer inhaltlich wie literarisch gemischten Form erklaumlren Dochgreift diese Erklaumlrung zu kurz da das Agieren Saturas die literarischen Passagendes Werks beinahe als Travestie erscheinen laumlsst (vgl oben zur Erzaumlhlerfigur) Einbildend-enzyklopaumldisches Werk kann sich allerdings nicht gefahrlos als Satire

So auch Englisch 1994 56 Die bdquoSystematik bei der Praumlsentationldquo erlaube einen leichtenZugriff auf die Informationen Mart Cap 2 201ndash205

142 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

praumlsentieren ohne Zweifel an der Glaubwuumlrdigkeit und Zuverlaumlssigkeit desWerkes und der praumlsentierten Inhalte zu weckensup3⁴sup2

Wenn Martianus auch die Konventionen der Gattung menippeische Satireaufnimmt und sein Werk also nur folgerichtig unter anderem eine unzuverlaumlssigeErzaumlhlsituation aufweist ist dies noch keine Erklaumlrung an sich Die regelkonformeUmsetzung gattungstypischer Anspruumlche erklaumlrt noch nicht die Wahl der Gattungan sich ndash einer Gattung die trotz ihrer Benennung als solche nicht zu denStandardformen und akzeptierten Gattungen zaumlhlte insbesondere nicht fuumlrLehrwerkesup3⁴sup3

Auch Martianusrsquo Verweis auf etwas bislang noch nicht Unternommenes(nescioquid inopinum intactumque 1 2) vermag den Widerspruch nicht zu loumlsenDie Wendung zeigt zwar dass Martianus die Ungewoumlhnlichkeit seines Ansatzesbewusst war (sofern sich die Phrase uumlberhaupt auf die Komposition des Werkesbezieht)sup3⁴⁴ beseitigt aber nicht das interpretatorische Problem ZuwelchemZweckverbindet Martianus also zwei so widerspruumlchliche Gattungen wie Enzyklopaumldieund Satiresup3⁴⁵

Drei Antwortansaumltze lassen sich grob umreiszligen 1 Die Verbindung ist nuraumluszligerlich bzw oberflaumlchlich 2 durch die Verbindung soll ein bestimmter Aspektparodiert und somit Spott und Kritik ausgesetzt werden 3 die Verbindung erfuumlllt

Dieses Problem hat bereits Westra in seinem Aufsatz bdquoThe juxtaposition of the ridiculousand the sublime in Martianus Capellaldquo benannt (Westra 1981) Allerdings beschraumlnkt sich auchdieser Aufsatz auf die Darstellung des Problems und die Zusammenstellung der Belege EineLoumlsung hat Westra nicht anzubieten ndash sein Aufsatz endet mit der eher apologetischen Bemer-kung das Eingestaumlndnis der Unvereinbarkeit von Satire und Lehrwerk durch Martianus in 9 997sei prima facie ein Spiel dahinter stecke jedoch die Absicht Problembewusstsein zu demon-strieren und Verantwortung fuumlr die unterlassene Loumlsung zu negieren bdquoEven though I would claim that prose and verse must be present in an ancient Menippeansatire it must be seen as one of a number of shocking juxtapositions of oppositesldquo (Relihan 198760) ndash In der Folge kann die prosimetrische Form durchaus auch Mittel belehrender Werkewerden vgl Pabst 1994 133 Denkbar (und wohl wahrscheinlich) waumlre auch dass damit die Inhalte besonders desMythos gemeint sind Der Verweis auf Unterhaltung fuumlhrt nicht zum Kern der Frage denn die satirische Formstellt mehr dar als reine Unterhaltung Auch das horazische Diktum ridentem dicere verum quidvetat ndashsbquolachend das Wahre zu sagen ndash was spricht dagegenlsquo (Hor serm 1 1 23) als Kern vonMartianusrsquo Satireverstaumlndnisses greift zu kurz ebenso wie vergleichbare Konzeptionen in derLiteratur Dort geht es bei Belehrung immer um einzelne philosophische Saumltze (nie beispiels-weise um die Vermittlung von Philosophie an sich) Folglich bezeichnet das bdquoverumldquo nichtkognitives Lernen sondern moralisches Der grundlegende Unterschied zur Konzeption desMartianus liegt somit auf der Hand Vgl zu diesem Aspekt im Allgemeinen z B Shanzer 1986c42 und im Speziellen u a Woytek 1986 339ndash345 Keulen 2009 bes Kap 2 und 3

2 De nuptiis als literarisches Werk 143

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

einen literarischen und belehrenden Zweck zugleich Aufgrund der komplexenSachlage und der unmittelbaren Bedeutung der Beantwortung der Frage nachdieser Verbindung fuumlr das Gesamtverstaumlndnis von De nuptiis werden alle Alter-nativen vorgestellt und bewertet

Rein formale Verbindung von Satire und EnzyklopaumldieEventuell laumlsst sich die Mischung aus enzyklopaumldischen und satirischen Ele-menten (mit den zur Satire gehoumlrigen Verspartien) als Sonderform der Varro-Re-zeption bei Martianus auffassenVarro von Reate verfasste sowohl umfangreicheFachliteratur als auch menippeische Satiren Fuumlr beides war er in der Antikebekannt und beruumlhmt ndash doch ist es wahrscheinlich dass Martianus die Werkebereits nicht mehr ndash oder allenfalls nur in Auszuumlgen ndash vorliegen hattesup3⁴⁶ Aus demWissen um die beiden Schaffensbereiche des republikanischen Autors die beideder Unterweisung dienen solltensup3⁴⁷ koumlnnte Martianus auf den Gedanken verfallensein die literarischen Formen und Inhalte in seinem Werk zu verbindensup3⁴⁸Vielleicht saszlig er auch einemMissverstaumlndnis auf indem ermeinte dass Varro seinsatirisches wie enzyklopaumldisches Koumlnnen in nur einem Werk demonstriert habeDies hieszlige jedoch dass Martianus sich der Problematik dieser Verbindung nicht

So aumluszligert sich beispielsweise Kindermann in den Vorstudien seiner Ausgabe der Conso-latio des Laurentius von Durham Er billigt Martianus nur eine sekundaumlre Varro-Kenntnis zu(Kindermann 1969 60) Entschieden verneint wird die Frage von Schievenin (2009f) und Hadotdie vor allem neuplatonische Quellen vermutet (Hadot 2005 149) Schneider jedoch nimmt andass sowohl Augustin als auch Martianus die Disciplinae noch vorliegen hatten (Schneider 1999109 f) und dass die Satiren-Exzerpte des Nonius Marcellus (fl um 400 in Afrika) ebenfalls ausdem Originaltext Varros angefertigt wurden (ibid 96 Anm 12) Abwaumlgend aumluszligert sich Huumlbner2004 passim Vgl Cic ac 1 8 (es spricht Varro)

et tamen in illis veteribus nostris quae Menippum imitati non interpretati quadam hilaritateconspersimus multa admixta ex intima philosophia multa dicta dialectice quae quo faciliusminus docti intellegerent iucunditate quadam ad legendum invitati

Jedoch findet sich in meinen fruumlhen Schriften die ich in kreativer Nachfolge (und nicht nurUumlbersetzung) Menipps mit einer gewissen Heiterkeit benetzt habe vieles aus den Kernbe-reichen der Philosophie beigemengt und vieles das nach Art der Dialektiker gesagt istdamit die weniger Gelehrten es leichter verstuumlnden nachdem sie durch eine Art von Scherzzur Lektuumlre ermuntert worden sind

Vielleicht hatte Martianus diese Stelle sogar im Kopf als er die Anlage von De nuptiis plante So z BWeinreich in der Einleitung zu seiner Uumlbersetzung roumlmischer Satiren bdquoMartianusCapella glaubte gewiszlig ein Varro redivivus zu sein sozusagen die Quintessenz des Gelehrten unddes Satirikersldquo (Weinreich 1962 XCIII) Ebenso Shanzer 1986c 42

144 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

bewusst gewesen sei ndash was ihm sicher nicht gerecht wird Auszligerdem wird so dieBezugnahme auf weitere formale Elemente der menippeischen Tradition und dieuumlbrigen Vorlaumlufer der Gattung mit anderer Konzeption (Lukian Julian) nichtausreichend beruumlcksichtigt

Ebenfalls beim Autor koumlnnte eine zweite Erklaumlrung ansetzen Im Zuge derAbfassung seiner Enzyklopaumldie hat sichMartianus nach horazischer Vorgabe (unddem Beispiel Varros)sup3⁴⁹ um Auflockerung und heitere Elemente bemuumlht Diespontanen Einfaumllle wurden ins Werk integriert und die sich daraus ergebendenInkonsistenzen entweder uumlbersehen oder billigend in Kauf genommen Beideswuumlrde gut zum klassisch negativen Martian-Bild in der Forschung passensup3⁵⁰Abgesehen davon dass Annahmen uumlber das Vorgehen beim Schreiben weitge-hend auf Spekulation beruhensup3⁵sup1 widersprechen drei Beobachtungen dieser Er-klaumlrung Erstens gelingt es Martianus De nuptiis uumlber neun Buumlcher vorauszu-planen so dass am Ende ein ndash zunaumlchst abgesehen von der Satire-Problematik ndashkohaumlrentes Werk entsteht Die Fuumllle der behandelten Themen Motive und lite-rarischen Elemente weist eher auf ein planvolles Arbeiten hin und macht es un-wahrscheinlich dass Martianus Probleme an dieser Stelle nicht wahrgenommenbzw nicht korrigiert haumltte Zweitens ist die Verbindungvon Satire und den anderenElementen nicht nur oberflaumlchlich so dass sie nachtraumlglich eingefuumlgt sein koumlnnteoder sich im Schreibprozess so ergeben haben koumlnnte Da bereits im zweitenKapitel des ersten Buches Satura eingefuumlhrt wirdwar sie von vornherein Teil des

Gemeint ist das beruumlhmte zunaumlchst nur fuumlr die Dichtung relevante prodesse aut delectare(Hor ars 333 f) zu Varro vgl die schon angefuumlhrte Stelle aus Cic ac Vgl z B die sehr bildliche Beschreibung von C S Lewis bdquo[hellip] this universe which hasproduced the bee-orchid and the giraffe has produced nothing stranger than Martianus Capella[hellip] the curiosity shop of his mind [hellip] a chaos beside which the work of Rabelais has unity andthat of Mandeville probabilityldquo (Lewis 1936 78 f) Gleiches gilt fuumlr Spekulationen uumlber eine andere Auffassung von Literatur und ihrenRegeln in Martianusrsquo Zeit oder Umfeld Einerseits kennen wir keine Texte die sich mit De nuptiisvergleichen lieszligen (was per se nichts beweist aber doch Indiziencharakter hat) andererseitshielten sich auch die spaumltantiken Autoren uumlblicherweise an die klassischen Vorgaben Ich teiledaher auch Schneiders Ansicht nicht der die Skepsis an dieser Verbindung allein der modernenLeseerfahrung zuschreibt bdquoWenn den Heutigen diese Kombination der forcierten Gelehrsamkeiteines Curriculums und der spielerisch-saloppen Causerie seltsam beruumlhren mag so waumlre dazuimmerhin schon an ein ciceronisches Dictum zu erinnern non est enim seiunctus iocus a phi-lologia (ad fam 16214) ndash sbquoSpieltrieb und Pedanterie diktieren und widersprechen sich nichtlsquo(sbquoErste Fruumlhschichtlsquo aus Grassrsquo sbquoHundejahrelsquo)ldquo (Schneider 1999 94 Anm 2) Der Verweis aufCicero traumlgt nichts zum Verstaumlndnis von Martianus bei Cicero geht es an der zitierten Stelle umden Ablauf des Tages mit seinem Schuumller der aus ernsteren und heitereren Abschnitten bestehtDaraus folgt nicht dass das Lernen mit Scherz verbunden ist ndash auszligerdem duumlrfte Cicero unteriocus (sbquo[urbaner] Scherzlsquo) anderes verstanden haben als Martianus in seiner Satura bietet

2 De nuptiis als literarisches Werk 145

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Kompositionsplans Drittens hat Schievenin gezeigt dass Martianus keineswegsoberflaumlchlich und eigenwillig arbeitet Durch eine gruumlndliche Untersuchung derSilen-Passage (8 803ndash805) kann er nachweisen dass Martianus ndash wie vieleAutoren vor ihm ndash uumlber ein umfangreiches literarisches Wissen verfuumlgte daraufbei der Abfassung seines Werkes zugreifen konnte und durch gezielte Anspie-lungen neue Bezuumlge herstelltesup3⁵sup2

Satire als Mittel der KritikWaumlhrend die antike Satire (im Gegensatz zur modernen) nicht zwangslaumlufig Kritikan Missstaumlnden uumlben wollte ist diese Moumlglichkeit umgekehrt auch nicht auszu-schlieszligen Martianus koumlnnte also bewusst eine solide Darstellung der Kuumlnste inliterarischem Gewandmit der Gattung der Satire verbunden haben um Zweifel ander Ernsthaftigkeit der uumlbrigen Teile des Werkes zu wecken Er wuumlrde somit einaufklaumlrerisches Interesse verfolgen das zugleich auch unterhaltsame Zuumlge traumlgt

Eine erste Schwierigkeit dieser Lesart von De nuptiis ergibt sich bereits bei derFrage nach dem Objekt der SatireWerden die Wissensinhalte in Zweifel gezogenoder nur die Art ihrer Vermittlung in langen Reden bzwTraktaten Soll der Glaubean die umfassende Einheit des Wissens kritisiert werden oder die Vorstellungsaumlmtliches Wissen lasse sich vermitteln gar kohaumlrent in einem Werksup3⁵sup3 Ist dieVorstellung dass Wissen goumlttlich mache parodiert oder nur die abwegige Vor-stellung dass auf einer Hochzeit solche Reden gehalten werden Oder richtet sichdie Kritik letztlich gegen die Auffassung Philologia als Vorbild zu sehen oder garals Mittlerin alles Wissens ja sogar als Mittlerin zwischen Menschen und Goumlttern

Aus der Tatsache dass das Objekt der Satire keineswegs leicht zu bestimmenist kann nicht gefolgert werden dass in De nuptiis keine Satire vorliege die be-stimmte Sachverhalte kritisiere Aber es kann durchaus gefolgert werden dass eskeine expliziten textinternen Merkmale gibt die das Lesen steuern und den Ge-genstand der Kritik deutlich hervortreten lassen Die Deutungen gehen also vonmodernen Annahmen uumlber das Umfeld bzw die Gedankenwelt von Martianus aus

Im Kern handle es sich um bdquouna narrazione tersa e brillanteldquo verbunden mit einemDickicht an Verweisen Die Silen-Szene habe einen bdquocarattere colto e della dottrina e dellalingualdquo (Schievenin 1984 132) Das Fazit seiner Untersuchung formuliert Schievenin folgen-dermaszligen bdquoIl De nuptiis si rivela dunque opera di vasti orizzonti non solo per lrsquointento dida-scalico che la pervade e che ne determineragrave la fortuna ma anche per la costante presenza nellafabula della tradizione classica e dei suoi echildquo (ibid 136) Vgl zu dieser Stelle auch Bovey2003 275ndash288 ndash Den geschickten Umgang mit mehreren Quellen ndash erzaumlhlerisch wie seman-tisch ndash kann Schievenin auch fuumlr 7 725ndash727 nachweisen (Schievenin 2009e) So z B Relihan 1993 138 bdquoMartianus writes not an encyclopedia but a Menippean satirethat parodies encyclopedic knowledgeldquo

146 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

und weisen zudem meist nicht kleinschrittig auf wie der Interpret zu seiner (oftapodiktisch dargelegten) Ansicht gelangt

Nun folgt daraus noch nicht dass Martianus De nuptiis nicht als kritisierendeSatire konzipiert haumltte die Vielzahl der (wenn auch differierenden) modernenDeutungenweist ja darauf hin Zwei Uumlberlegungenwenn auch keine schlagendenBeweise lassen die Hypothese der parodierenden Satire unwahrscheinlich wer-den der Umfang von De nuptiis und seine Rezeption Eine Satire die beispiels-weise die Verbindung von Weltwissen und menschlicher Vervollkommnung in-frage stellt benoumltigt nicht noch eine umfassende Darlegung eben diesenWissensDies gilt besonders da diese Darlegung den Hauptteil des Werks ausmacht und ndashzumindest dem Umfang nach ndash die uumlbrigen Partien weit uumlberragt Eine Deutungvon De nuptiis als kritischer Satire muumlsste also besonders die Frage beantwortenzu welchem Zweck die umfangreichen Darstellungen der Freien Kuumlnste aufge-nommen sind (und nicht nur angedeutet werden)

Die Rezeption eignet sich zwar ebenfalls nicht zu sicheren Ruumlckschluumlssen aufdie originale Intention eines Werkes haumlufig bietet sie aber interessante EinblickeDie Martianus-Rezeption stellt sich bald ein Cassiodor beruft sich in seinen In-stitutiones auf ihn Dort erscheint Martianus nicht als Satiriker oder Zeitkritikersondern als Gelehrtersup3⁵⁴ In dieser Tradition wird Martianus auch im Mittelaltergelesen und rezipiertsup3⁵⁵

Aumlhnliches laumlsst sich fuumlr Boethiusrsquo Anknuumlpfen an die prosimetrische Form inder Ausgestaltung von Martianus sagen Boethius verfasst zweifelsfrei keine kri-tische Satire kann aber trotzdem an die Form und den Inhalt von De nuptiisproblemlos anknuumlpfen Sowohl der Form nach wie auch durch einzelne Zitatemacht er deutlich dass erDe nuptiis kennt und als eine seiner Vorlagen benutzt Esist zu bezweifeln dass Boethius in seinem Bemuumlhen um eine adaumlquatewerbendeDarstellung der Philosophie auf Form und Zitate des Martianus zuruumlckgegriffenhaumltte haumltte er nicht die Moumlglichkeit der gefahrlosen Uumlbernahme gesehen

Satirische Elemente als Mittel der BelehrungDer dritte Erklaumlrungsansatz fuumlr die Verbindung von Satire und Belehrung be-trachtet die Wahl Saturas als Figur und die Bezugnahme auf die Gattung zunaumlchst

Cassiod inst 2 2 17 Zur mittelalterlichen Martianus-Rezeption vgl bes Nuchelmans 1950 Lutz 1971 und 1976Willis 1973 sowie die Ausgaben und Literatur u a zu folgenden Werken Konrad von MureFabularius Hugo von Sankt Victor Didascalicon de studio legendi Johannes von SalisburyMetalogicon Kindermann kann weiterhin nachweisen dass De nuptiis auch durch seine Forminspirierend gewirkt hat (Kindermann 1969 61 f)

2 De nuptiis als literarisches Werk 147

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

als reine Fortsetzungder literarischen Form Fuumlr diese spezielle Formder Literaturdie menippeische Satire hat der russische Literaturwissenschaftler MichailBachtin Beobachtungen aufgestellt die auch fuumlr De nuptiis zutreffen Durch denRuumlckgriff auf zwei zentrale Konzepte Bachtins das Karnevaleske und die Dialo-gizitaumlt wird ein Verstaumlndnis von De nuptiis ermoumlglicht

Auf der Suche nach Vorlagen und Urformen der Gattung des Romans ins-besondere in der Form von Dostojewskis Romanen stieszlig Bachtin unter anderemauch auf die menippeische Satire die er bis in die Antike zuruumlckverfolgtesup3⁵⁶ Zuihren Vertretern zaumlhlt er unter anderem Varro Apuleius Petron Seneca oderLukiansup3⁵⁷ Martianus Capella wird nicht erwaumlhnt was aber nicht verwundernmuss da Bachtin keine Literaturgeschichte der menippeischen Satire schriebsup3⁵⁸

Kern der Uumlberlegungen Bachtins zurmenippeischen Satire ist das Konzept desKarnevals Unter Karneval versteht er folkloristische Feste waumlhrend deren diebestehende Ordnung verkehrt wird uumlbliche Regeln nicht mehr gelten Herr-schende gestuumlrzt und Machtlose maumlchtig werden ndash auf Zeit Die Karnevalisierungalso die Uumlbernahme der Kennzeichen dieses Festes in neue oder bestehende li-terarische Formen institutionalisiert diese Ausnahmesituation und loumlst sie vomkonkreten Fest Der so entstandene Text wird bdquozum karnevalesken Spiel an demder Autor und sein Publikum einverstaumlndlich teilhaben und das keines kalen-darisch oder institutionell abgesicherten Karnevalsrahmens mehr bedarfldquosup3⁵⁹

Diese Karnevalisierung fuumlhrt unter anderem zu einer Vielstimmigkeit vonMeinungen und Positionen im Text z B durch mehrere Figurenvon denen keinebevorzugt oder gar als autoritativ gekennzeichnet wird In dieser Dialogizitaumlt wirdkein allgemein guumlltiger Sinnmehr vermittelt sondern dieWahrheit suspendiertsup3⁶⁰

Dass der Bezug auf karnevalsartige Feste der Gattung menippeische Satire (inTeilen auch der Verssatire) eignet zeigt ein kurzer Blick auf wichtige Vertreter derTradition

Julians Symposion Caesares spielt zur Zeit der Saturnalien Die Bedeutungdieses Festes fuumlr das Werk wird dadurch verdeutlicht dass es den Handlungs-

Bachtin 1971 126ndash 135 Bachtin 1971 126 128 132f Kritik an den z T pauschalisierenden und verfaumllschenden Aussagen Bachtins uumlber antikeLiteratur oder an der ununterbrochenen Traditionslinie von der Antike bis in die Moderne (z BRelihan 1987 59 Lachmann 2006 23ndash25) muumlsste auch auf manche moderne Literaturwissen-schaftler in der Nachfolge Bachtins angewandt werden (vgl Branham 2005 6 wo es uumlberSenecas Apocolocyntosis heiszligt bdquoour only extant Menippean satire in Latinldquo) Teuber 1993 182 Eine gut verstaumlndliche Einfuumlhrung in das Konzept der Dialogizitaumlt im Sinne der bach-tinschen Terminologie bietet Sharland 2010 Einfuumlhrung (1ndash51)

148 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

rahmen fuumlr den in der Folge erzaumlhlten Mythos bildet Bereits im ersten Satz wirdauf das Fest und die Tradition Heiteres frei zu erzaumlhlen Bezug genommensup3⁶sup1

Auch Senecas Apocolocyntosis stellt einen engen Bezug zum Saturnalienfesther Das Werk spielt zwar nicht an den Saturnalien sondern am Todestag desClaudius im Oktober doch wird an zwei Stellen eine Verbindung zwischen derHerrschaft des verstorbenen Kaisers und den dargestellten Sitten waumlhrend derRegierungszeit mit dem Saturnalienfest gezogensup3⁶sup2 Manche Interpreten gehensogar davon aus dass die Apocolocyntosis an den Saturnalien des Jahres 54vorgetragen wurdesup3⁶sup3 Auch bei Petron und Horaz finden sich Bezugnahmen aufdie Saturnaliensup3⁶⁴

Ein zentrales Element des Saturnalienfestes liegt in der Suspension der uumlb-licherweise geltenden Normen und Wertesup3⁶⁵ Neben den anderen Elementen desFestes wie sie z B in Macrobiusrsquo Saturnalia (1 7ndash 10 1 24 22 f) beschriebenwerden (traditionelle Geschenke Festmahl fuumlr die Sklaven etc) hat gerade dieUmkehrung der Herrschaftsverhaumlltnisse im Haus Niederschlag in der Literaturgefunden

Gerade durch diese Rolleninversion treten einige wichtige gesellschaftlicheNormvorstellungen und Grundannahmen prominent hervor Dazu zaumlhlt das Be-wusstsein dass es eine befehlende und eine ausfuumlhrende Gruppe von Menschengibt oder dass im Prinzip ein Rollenwechsel moumlglich sein kann Alle Beteiligten

Ἐπειδὴ δίδωσιν ὁ θεὸς παίζειν ndash ἔστι γὰρ Κρόνια ndash hellip (sbquoDa der Gott das Scherzen erlaubt ndashes sind ja die Kronia helliplsquo Caes 1 = 306a Spanheim) Zur Frage ob es sich bei Caesares auch umdas Werk handle auf das zu Ende der Rede auf Koumlnig Helios verwiesen wird (Or in Sol reg 44 =157c Spanheim) vgl Muumlller in seiner Uumlbersetzung (39 ablehnend) und Lacombrade im Vorwortseiner Budeacute-Ausgabe (3 und 18 Anm 3) der aufgrund des Handschriftenbefundes Kronia auchals Titelbestandteil fuumlr die Caesares uumlbernimmt Es handelt sich um Sen apocol 8 1 (Claudius als Saturnalienprinz) und 12 2 (Herrschaftdes Claudius als andauerndes Saturnalienfest) ndash Dass Lukian nicht auf die Saturnalien alsRahmen fuumlr seine Werke zuruumlckgreift entwertet die Beobachtungen nicht Lukian musste auf-grund seines Selbstbewusstseins als satirischer Schriftsteller und aufgrund der Menge seinersatirischen Schriften nicht jedes Mal einen eigenen literarischen Rahmen herstellen in demeinzelne Dialoge stattfinden konnten Das Saturnalienfest selbst erscheint bei Lukian als Ge-genstand der Satire nicht als deren literarische Rahmung (Τὰ πρὸς Κρόνον) Zuerst bei Furneaux 1896 23 Anm 11 In der neueren Forschung vgl bes Nauta 1987Kritisch dazu u a Doumlpp 1993 159 f Petron 44 3 58 2 69 9 zu Horaz vgl z B serm 2 7 (libertas Decembris) Ein gelungenesBeispiel der Anpassung und Anwendung der bachtinschen Konzepte mit Ertrag fuumlr die Inter-pretation unter Einbezug von serm 2 7 bietet Sharland 2010 Distelrath 1999 114 Vgl weiterhin Versnel 1993 136ndash227 und Doumlpp 1993 Eine plastischeSchilderung der Rollenvertauschung bei der der Sklave dem Herrn die Leviten liest bietet Horserm 2 7

2 De nuptiis als literarisches Werk 149

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Herren wie Sklaven spielen also mit den Moumlglichkeiten einer alternativen Wirk-lichkeit

Das Besondere im Spiel mit den Moumlglichkeiten liegt aber in seiner zeitlichenBegrenzung Nach der Zeit des Ausnahmezustands gelten wieder die normalenimmer guumlltigen Regeln Die Rolleninversion erlaubt also ndash oder erzwingt gera-dezu ndash das Nachdenken uumlber bestimmte gesellschaftliche Normen und Wertvor-stellungen Durch die Ritualisierung und enge zeitliche Begrenzung ist darausjedoch keineswegs die Notwendigkeit entstanden die Verhaumlltnisse tatsaumlchlich zuhinterfragen oder gar zu aumlndern Daher lassen sich die Saturnalien auch als ein dieKonventionen bestaumlrkendes Fest verstehen Das Spiel mit der Moumlglichkeit eineranderen Gesellschaftsordnung hat durch seine Ritualisierung letztlich eine dieTradition legitimierende Funktion bekommen

In De nuptiis finden sich jedoch houmlchstens spaumlrliche Hinweise auf das Sa-turnalienfest Am ehesten weist das grob scherzende Agieren Saturas in diesenBereich Die bdquolangen Winternaumlchteldquo (1 2) koumlnnten (statt als Bezug auf Gellius) alsAnspielung auf das Saturnalienfest verstandenwerden ndash die Saturnalien finden inden laumlngsten Naumlchten uumlberhaupt statt seit der Kaiserzeit vom 17 bis 23 DezemberDies ndash wie die Spekulation uumlber eine spielerische etymologische Verbindung vonSatura und Saturnaliensup3⁶⁶ ndash ist aber insofern nicht von Belang da die Gattung alsGanze karnevaleske Zuumlge traumlgt und als gewissermaszligen institutionalisierter Kar-neval vom eigentlichen Fest losgeloumlst istsup3⁶⁷

Die Aufhebung der uumlblichen Ordnung (was Teuber im Ruumlckgriff auf Limina-litaumltskonzepte als praumlliminale Phase bezeichnet)sup3⁶⁸ beginnt mit der VorbereitungPhilologias zum Aufstieg in den Himmel Bereits das Erbrechen stellt eine mar-kante Umkehrung der alltaumlglichen Welt dar Statt sich Wissen anzueignen er-bricht Philologia es nun In der Goumltterversammlung auf der Milchstraszlige ist dieOrdnung sodann voumlllig verkehrt Philologia als Meisterin aller Disziplinen und

Zwar sind die einschlaumlgigen etymologischen Woumlrterbuumlcher skeptisch (v a WaldeHof-mann 2007 II 482 neutral ErnoutMeillet 2001 596) jedoch gibt es dahin gehende moderneDeutungen (aufgefuumlhrt bei WaldeHofmann 2007 II 482) und auch antike ParallelisierungenCic nat deor 2 64 Saturnus hellip est appellatus quod saturaretur annis (sbquoSaturn hellip wurde ergenannt weil er an Jahren gesaumlttigt istlsquo) Fulg myth 1 2 (p 17 16) a saturando Saturnus dictusest (sbquoDa er (die Menschen) saumlttigt wurde er Saturn genanntlsquo) Aug cons euang 1 23 35 Sa-turnus tamquam satur hellip νοῦς (sbquoSaturn gleichsam der gesaumlttigte hellip νοῦςlsquo) Vgl auch Gowers diedie etymologischen Verbindungen von satura Satyrspiel und Saturnalien untersucht (Gowers1993 109ndash 117) Sie kommt zu dem Befund dass keine Verbindung bestehe wohl aber verbin-dende Elemente identifiziert werden koumlnnten bdquocarnival licence parody uninhibited mockeryand excessive consumptionldquo (ibid 117) Vgl z B Teuber 1993 183 f Teuber 1993 183

150 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

bedeutende Lehrinstanz muss sich ihrerseits belehren lassen ndash mit dem Wissendas urspruumlnglich ihres war

Durch die Inversion wird die (vielleicht uumlblicherweise nicht prominente)Philologia in den Mittelpunkt geruumlckt und ihre zentrale Rolle im Wissenssystemtritt markant vor Augen Gleichzeitig kann darin eine leise Anfrage an ihre Lehr-autoritaumlt und eventuell auch ihre Eignung zur Lehre gesehen werden

Aufgrund des zeitlich begrenzten Rahmens der Verkehrung (diemit dem Endeder Vortraumlge voruumlber ist aber nicht explizit zuruumlckverwandelt wird) dessen Be-grenztheit durch Bezug auf die Form der menippeischen Satire ergaumlnzt werdenkann wird das System der Bildung und der Bildungsvermittlung jedoch nichtgrundsaumltzlich infrage gestellt Die Suspendierung Philologias ist temporaumlr

Dem Konzept der Dialogizitaumlt oder Mehrstimmigkeit folgend erklaumlrt sich auchdie Doppelung und Verunklarung der Erzaumlhlinstanz In den drei Dialogen indenen Satura und Martianus aufeinandertreffen behandeln sie die Frage desrichtigen Erzaumlhlens Dies beschraumlnkt sich nicht nur auf die Satire sondern umfasstalle auftretenden literarischen Formen Martianus und Satura sind sich uneinswie weit der Mythos reichen soll und ob eine Enzyklopaumldie trocken oder auchunterhaltsam erzaumlhlt werden soll (2 219ndash3 222) ob ein Symposion auch Zechenund Spaszlig vertraumlgt (8 803ndash810) oder ob und wie stark Satire Dinge vermischendarf (9 997ndash 1000)

Die unterschiedlichen Meinungen zu den Fragen werden zwar diskutiert undfuumlhren zu einem Ergebnis ndash der Erzaumlhlfluss versiegt ja an keiner Stelle oder setztneu an Allerdings entsteht in der Folge kein homogenes Werk und am Schlussmag keiner der beiden Erzaumlhler dafuumlr die Verantwortung uumlbernehmen Der Wi-derwillen sich zu dem Werk zu bekennen bedeutet aber gleichzeitig auch dassMartianus sich nicht festlegt welche Position er fuumlr die richtige haumllt Die Fragenach der rechten Art der Wissensvermittlung die auch in der Ent- und Inthroni-sierung Philologias anklang bleibt unbeantwortet

Schlieszliglich bringt der Blick auf die Aurelian-Vita aus der Historia Augustanoch einen weiteren Aspekt ein Parallel zur Aufteilung der Erzaumlhlinstanzen in Denuptiiswird der Erzaumlhlprozess in derHistoria Augusta aufmehrere AutorenverteiltWie zuerst Hermann Dessau und in der Folge Ronald Syme nachdruumlcklich gezeigthaben handelt es sich allerdings um nur einen Verfasser der uumlberdies auch inBezug auf die Abfassungszeit falsche Angaben gemacht hat und Quellen erfundenhatsup3⁶⁹ Insofern laumlsst sich der in der Historia Augusta gepraumlgte Begriff der

Auf den Charakter der Sammlung die Syme u a als bdquohoaxldquo bezeichnet (1983a 11 1983b13 1983c 219) die fingierten Autoren die manipulierten Quellen etc soll an dieser Stelle nurhingewiesen werden Vgl auch Cameron 2011 Kap 20 mit ausfuumlhrlicher Diskussion relevanterFragen

2 De nuptiis als literarisches Werk 151

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mythistoria der Vermischung von Mythischem und Historischem auch auf dieSammlung selbst anwendensup3⁷⁰

Als Menippee im engeren Sinne laumlsst sich weiterhin die Aurelian-Vita die 26Vita der Sammlung fassen und bezeichnenderweise spielt die Rahmenhandlungan denHilariasup3⁷sup1Wie zu den Saturnalien gehoumlren zu diesem Fest Scherze und ndash imRahmen von Maskierungen ndash Rollenwechselsup3⁷sup2

Noch in der rahmenden Einleitung zur Vita spielt sich folgender Dialog ab

1 et quoniam sermo nobis de Trebltellgtio Pollione qui a duobus Philippis usque ad divumClaudium et eius fratrem Quintillum imperatores tam claros quam obscuros memoriaeprodidit in eodem vehiculo fuit adserente Tiberiano quod Pollio multa incuriose multabreviter prodidisset me contra dicente neminem scriptorum quantum ad historiam pertinetnon aliquid esse mentitum prodente quin etiam in quo Livius in quo Sallustius in quoCornelius Tacitus in quo denique Trogus manifestis testibus convincerentur pedibus insententiam transitum faciens ac manum porrigens iocando[m] praeterea sbquoscribelsquo inquit sbquout

quae ille [scil Iunius Cordus] omnia exsequendo libros mythistoriis replevit talia scribendocum omnino rerum vilium aut nulla scribenda sint aut nimis pauca si tamen ex his morespossint animadverti qui re vera sciendi sunt hellip sed ex parte ut ex ea cetera colligantur(SHA Opil 1 5)

Bei der Anfuumlhrung von all diesen Informationen hat er die Buumlcher mit fabuloumlsen Ge-schichten angefuumlllt indem er Dinge von dieser Art schrieb wo doch uumlberhaupt keinenutzlosen Dinge geschrieben werden duumlrfen oder nur sehr wenige sofern daraus Verhal-tensweisen erkannt werden koumlnnen die wirklich wissenswert sind hellip aber zum Teil(schreibe ich) damit daraus das Andere gefolgert werden kann

quid Marius Maximus homo omnium verbosissimus qui et mythist[h]oricis se voluminibusinplicavit num ad istam descriptionem curamque descendit (SHA Quadr tyr 1 2)

Wie Hat sich Marius Maximus der groumlszligte Schwaumltzer vor dem Herrn der sich in seinenmythistorischen Werken verfangen hat etwa zu dieser Art der Darstellung und des sorg-faumlltigen Arbeitens herabgelassen

Hilaribus quibus omnia festa et fieri debere scimus et dici impletis sollemnibus vehiculo suome hellip Iunius Tiberianus accepit (SHA Aurelian 1 1)

An den Hilaria an denen alles zum Fest Gehoumlrende getan und gesagt werden muss wieman weiszlig empfing mich nach Erledigung der Zeremonien Iunius Tiberianus in seinemGefaumlhrt

Pausch bemerkt dieses besondere Datum zwar und erwaumlgt ob es sich um ein bdquoweitergehendesLesesignalldquo beispielsweise im Sinne karnevalesker Literatur handeln koumlnne verfolgt diese Spuraber nicht weiter (Pausch 2011 130 Anm 1) Herodian 1 10 5 ndash Einige Hinweise auf die Hilaria die im Kontext des Magna Mater-Festesam 25 Maumlrz gefeiert wurden bietet Fraser in seinem Kommentar zu Ovids Fasti (Fraser 1929244ndash248)

152 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

libet 2 securus quod velis dices habiturus mendaciorum comites quos historicae elo-quentiae miramur auctoreslsquo (SHA Aurelian 2 1ndash2)

1 Und weil unser Gespraumlch uumlber Trebellius Pollio der von den beiden Philippi bis zumvergoumlttlichten Claudius und dessen Bruder Quintillus gleichermaszligen uumlber beruumlhmte wieunbekannte Kaiser fuumlr die Nachwelt schrieb in derselben Saumlnfte stattfand behauptete erdass Pollio vieles ohne Sorgfalt und nur kurz dargelegt habe Ich erwiderte dass keinSchriftsteller sofern es um die Geschichte gehe nicht irgendwo gelogen habe und legtesodann dar worin sogar Livius Sallust Tacitus schlieszliglich sogar Trogus mit eindeutigenBelegen uumlberfuumlhrt werden koumlnnten Darauf sagte Tiberianus schlieszliglich scherzend indem ermeiner Meinung beipflichtete und mir seine Hand darbot bdquoSchreibe sowie du es fuumlr richtighaumlltst 2 Sage unbesorgt was du willst du wirst diejenigen als Gefaumlhrten fuumlr deine Taumlu-schungen haben die wir als Schoumlpfer historiographischer Beredsamkeit bewundernldquo

So sympathisch dieser Anspruch auch erscheinen mag ist er doch fuumlr das Ver-trauen in die Gattung der Geschichtsschreibung fatal Gerade in der Einleitungeiner Vita jedoch ndash zumal es der Fiktion nach die erste des Flavius Vopiscus Sy-racusius im Corpus der Historia Augusta ist ndash kann eine solche Anekdote ei-gentlich keinen Platz haben Sie erweckt beim Leser den Eindruck dass er dennachfolgend dargebotenen Informationen kein Vertrauen schenken duumlrfesup3⁷sup3

Die Parallelen zwischen der Historia Augusta insbesondere dem Vorgehen inder Vita Aureliani und De nuptiis liegen auf der Hand Verunklarung der Autor-schaft bzw der Erzaumlhlhaltung einerseits Erwecken von Zweifeln an der Glaub-wuumlrdigkeit des Dargebotenen andererseits

In der Historia Augusta sind die Inkongruenzen mit der Freude des Autors amliterarischen Spiel erklaumlrt worden Der Autor habe aus Freude am Fabulieren(vielleicht auchumein dafuumlr empfaumlngliches Publikum zu befriedigen) die Viten indieser Form verfasstsup3⁷⁴ Mag man dies fuumlr die Historia Augusta noch zugestehenderen Text uumlber einen laumlngeren Zeitraum vielleicht zunaumlchst ohne eine Gesamt-konzeption entstanden ist und auch sprachlich nicht herausragt stellt sich derSachverhalt fuumlr Martianusrsquo De nuptiis anders dar Das Werk hat durchaus einenliterarischen Anspruch und es folgt eindeutig einer vorab geplanten Gesamtan-lage Die Freude am Spiel mag vielleicht manches Detail beigesteuert haben fuumlrdie verschraumlnkte Anlage des Textes ist sie aber keine Erklaumlrung

Ganz anders ist der Anspruch zum Ende der Darstellung der Viten der bdquoDreiszligig Tyrannenldquoin dem der Autor beteuert seinem Werk mangele es zwar an literarischer Ausgefeiltheit nichtjedoch an Faktentreue da nunc cuivis libellum non tam diserte quam fideliter scriptum ndash sbquoGibnun dieses Buumlchleinwem du magst es ist nicht so sehr kunstvoll geschrieben wie es sachgetreuistlsquo (SHA Quadr tyr 33 8) Syme nennt dies bdquodeceit for its own sweet sakeldquo (1983c 217) Im gleichen Aufsatz spe-kuliert er auch uumlber das Interesse des Publikums an einer solchen Art von geistigem Spiel(ibid 221)

2 De nuptiis als literarisches Werk 153

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Es lohnt sich jedoch auch fuumlr die Historia Augusta einen Schritt weiter zugehen Ausgangspunkt dafuumlr ist die obige Beobachtungdass das literarische Spielder Historia Augusta nur durchschaut wer die Werke der historischen Literaturkennt Durch die Lektuumlre historiographischer Biographien bringt der Leser einebestimmte Leseerwartung also implizite Vorstellungen mit wie das Werk aus-sehen soll und wird Diese Erwartungen werden aber nicht oder nur teilweisebedient Formal gesehen weisen die Viten in der Historia Augusta zwar die Cha-rakteristika der Gattung auf ndash doch indem sie sie inhaltlich nicht adaumlquat aus-fuumlllen treten deren Konventionen vor Augen

Durch die uumlbermaumlszligige Verwendung falscher Verweise und erfundener Quel-len geraumlt zudem das Beglaubigungsverfahren historischer Texte in den Blick-punkt Der Leser erkennt anwelchen Stellenwelche Beglaubigungsmechanismenansetzen und auf welche Weise sie unterlaufen werden koumlnnen Uumlberspitzt lieszligesich behaupten DieHistoria Augusta verfolgt ein aufklaumlrerisches Interesse indemsie (spielerisch) aufzeigt welche Beglaubigungsverfahren die Geschichtsschrei-bung nutzt und wie sie manipuliert werden koumlnnen dadurch wird auch die Ma-nipulierbarkeit von Geschichte und Leser deutlich

In De nuptiis werden ebenfalls die Konventionen der Einzelgattungen ndash zu-mindest ansatzweise ndash hervorgehoben Dass kein perfektes Musterbeispiel derjeweiligen Einzelgattung entstehen kann liegt darin begruumlndet dass durch dieVerbindung der vier literarischen Genres keine oberflaumlchliche Konsistenz derFiktion entstehen kannVielmehr entstehen Bruumlche die ndash ebenso wie die Bruumlchein der Erzaumlhlhaltung ndash auch die Gattungskonventionen und ihre Annahmendeutlich werden lassen Dies gilt besonders fuumlr die Satire deren Vorgehen imKontrast zur eigentlichen Hochzeitshandlung aus dem Rahmen faumlllt und somitbesonderes Augenmerk erhaumllt Hinzu tritt mit der Figur Satura auch eine Perso-nifikation der Gattung die in theoretischen Diskussionen Annahmen und Vor-gehen mit Martianus eroumlrtert Grunduumlberlegungen der Gattung Satire werden sotheoretisch eroumlrtert und praktisch erprobt Gleiches giltwenn auch zT inwenigerdeutlicher Form auch fuumlr die anderen Formen Die Enzyklopaumldie in ihren langenMonologen wird durch Spott markiert die trockenen Kuumlnste werden probeweisedurch Allegorien zugaumlnglicher gemacht im Symposiondialog wird uumlberlegt in-wieweit uumlbliche Rollenmuster (der Zecher) einen Platz haben oder wie weit mandie fuumlr die Feier typischen Reden fuumlhren kann und immythischen Teil wird durchdie Gegenuumlberstellung mit dem handfesten Wissensbetrieb die Andersartigkeitdes Erzaumlhlens deutlich

So werden neben den Inhalten der Wissenschaften auch verschiedene lite-rarische Formen bewahrt Neben der reinen Anwendung und somit Tradierungwerden gleichzeitig auch die Mechanismen verdeutlicht deren sich die jeweilige

154 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Gattung bedient Somit wird ihr Funktionieren nachvollziehbar und in der Folgeauch nachahmbar

3 Zusammenfassung

Martianus weckt also durch die Wahl mehrerer gleichberechtigter Erzaumlhler diesomit das Erzaumlhlen unzuverlaumlssig werden lassen besonders aber durch dieUumlbernahme satirischer Gattungselemente ein Bewusstsein fuumlr die traditionellenGrundlagen desWissens- und Lehrsystems seiner Zeit ImGegensatz zur Satire diediese Fragen kategorisch stellt handelt es sich in De nuptiis um ein Spiel damitDer Satirebezug dient als Anknuumlpfung an die traditionellen Gattungsmerkmaleder menippeischen Satire Karnevaleske und Dialogizitaumlt

Durch die (temporaumlre) Rolleninversion richtet sich das Augenmerk aufPhilologia als Wissenszentrum und Wissensmittlerin und fordert zum Nach-denken daruumlber heraus Im Kern hinterfragt das Werk alle Bereiche die mit Bil-dung und Bildungsvermittlung zu tun haben Was sind die Inhalte wahrer Bil-dung Gibt es eine Einheit von Bildung Wie kann sie vermittelt werden

Allerdings zielt die Kritik nicht auf eine Aufloumlsung klassischer Bildungsinhalteund Vermittlungsformen Sie regt vielmehr durch Scherz und Bruumlche zumNachdenken uumlber diese Fragen an Dabei verzichtet Martianus auf eigene Vor-schlaumlge und Konzepte und festigt so gleichsam den traditionellen Bildungs-betrieb Das von ihm dargestellte Wissen wird kanonisiert und die Darstel-lungsform in langen Reden wird es auch Die mittelalterliche Rezeption von Denuptiis zeigt dies eindrucksvoll

Wissen umfasst dabei nicht nur das Faktenwissen der Vortraumlge sondern auchdas Wissen um bestimmte literarische Formen Durch die Verbindung von vierGattungen und die Doppelung der Erzaumlhlerfigur mit Reflexion uumlber angemessenesErzaumlhlen entstehen Inkonsistenzen die die Konventionen der einzelnen Gattun-gen hervortreten lassen Nicht alle Elementewerden auf dieseWeise deutlich aberMartianus bietet einen Ansatzpunkt die Fiktion auch unter der Fragestellung zulesen was einen Text der jeweiligen Gattung ausmacht ndash sowohl positiv wie ne-gativ formuliert

Mit seiner kreativen Konzeption und ihrer literarischen Umsetzung gelingt esMartianus eindrucksvoll Heiteres und Belehrendes zu verbindenwomit er an dieTradition Varros und die klassische antike Poetik anknuumlpft Es gelingt ihm daruumlberhinaus aber auchWissen zu vermitteln und die traditionellen Vorstellungen vonder Bedeutung dieses Wissens wie der Form seiner Vermittlung herauszustellenSpielerisch wird also gelehrt und hinterfragt nicht jedoch kategorisch kritisiertoder kuumlhn neu entworfen Gerade dadurch zeichnet sich Martianusrsquo De nuptiis

3 Zusammenfassung 155

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

tatsaumlchlich als nescioquid inopinum intactumque (sbquoetwas Ungewohntes und nochnie Gewagteslsquo 1 2) aus und macht es zu einem der bedeutendsten Buumlcher derSpaumltantike und zu einer interessanten Quelle fuumlr die Frage nach Bildungsvor-stellungen im fuumlnften Jahrhundert

156 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Page 29: Bildungsvorstellungen im 5. Jahrhundert n. Chr. (Macrobius, Martianus Capella und Sidonius Apollinaris) || III Martianus Capella, De nuptiis Philologiae et Mercurii

gleichsweise leichtes Auffinden der Informationen erlaubtsup3⁴⁰ die Bedeutung wirdangesichts der Praumlsentation vor den Goumlttern auf der Milchstraszlige deutlich Alleinder Umfang dieser Vortraumlge die in sich auch nicht gestoumlrt oder gebrochenwerdenmarkiert dass es sich hier um das zentrale Charakteristikum des Werkes handelt

Den erzaumlhlerischen Anlass fuumlr diese Praumlsentation bietet eine Hochzeitsfeieralso ein Symposion hier ist die Gelegenheit fuumlr die groszligen Redebeitraumlge gegebenZudem bietet die SymposionformAnknuumlpfungspunkte fuumlr eine Rahmenhandlungdie zur Auflockerung der ebenso ausfuumlhrlichenwie trockenen Einzelreden genutztwird

Doch bleibt es ndash im Gegensatz z B zu Macrobius ndash nicht bei der bloszligenDarstellung der Wissensinhalte Hinzu tritt die allegorische Darstellung der Be-deutung von Wissen und von Fleiszlig beim Wissenserwerb in den ersten beidenBuumlchern Die praumlsentierten Inhalte der Buumlcher 3ndash9 (die Philologia ja bereits aufder Erde in Buch 2 besitzt) sindwichtig Sie sind nicht nur wichtig fuumlr das irdischeLeben (das wird nicht weiter thematisiert die explizit irdischen Wissenschaftenwie Architektur und Medizin werden sogar ausgeschlossen) ndash die Inhalte sindauch wichtig fuumlr die menschliche Vervollkommnung

Durch das angesammelte Wissen erreicht der Mensch zwar nicht die voll-kommene Erkenntnis (die erhaumllt auch Philologia nur ohne eigenes Zutun als sieauf der houmlchsten Himmelssphaumlre angekommen zum Vatergott in der jenseitigenGluumlckseligkeit betet) wohl aber ein goumlttergleiches Wissensup3⁴sup1 Der Wissenserwerbist gewissermaszligen die Voraussetzung dafuumlr dass der Mensch mit Hilfe einesgoumlttlichen Begleiters in den Himmel aufsteigen kann unsterblich wird und voll-kommene Einsicht erlangt

Die so weit kohaumlrente Verbindung der literarischen Traditionen laumlsst aller-dings den explizit satirischen Anspruch von De nuptiis auszliger Betracht durch denMartianus selbst das Werk primaumlr in die Gattung der Satire einordnet waumlhrendvergleichbare Bezuumlge zu anderen Gattungen fehlen Natuumlrlich lieszlige sich dieserprogrammatische Anspruch mit einem Verweis auf die Verwendung des Begriffszur Bezeichnung einer inhaltlich wie literarisch gemischten Form erklaumlren Dochgreift diese Erklaumlrung zu kurz da das Agieren Saturas die literarischen Passagendes Werks beinahe als Travestie erscheinen laumlsst (vgl oben zur Erzaumlhlerfigur) Einbildend-enzyklopaumldisches Werk kann sich allerdings nicht gefahrlos als Satire

So auch Englisch 1994 56 Die bdquoSystematik bei der Praumlsentationldquo erlaube einen leichtenZugriff auf die Informationen Mart Cap 2 201ndash205

142 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

praumlsentieren ohne Zweifel an der Glaubwuumlrdigkeit und Zuverlaumlssigkeit desWerkes und der praumlsentierten Inhalte zu weckensup3⁴sup2

Wenn Martianus auch die Konventionen der Gattung menippeische Satireaufnimmt und sein Werk also nur folgerichtig unter anderem eine unzuverlaumlssigeErzaumlhlsituation aufweist ist dies noch keine Erklaumlrung an sich Die regelkonformeUmsetzung gattungstypischer Anspruumlche erklaumlrt noch nicht die Wahl der Gattungan sich ndash einer Gattung die trotz ihrer Benennung als solche nicht zu denStandardformen und akzeptierten Gattungen zaumlhlte insbesondere nicht fuumlrLehrwerkesup3⁴sup3

Auch Martianusrsquo Verweis auf etwas bislang noch nicht Unternommenes(nescioquid inopinum intactumque 1 2) vermag den Widerspruch nicht zu loumlsenDie Wendung zeigt zwar dass Martianus die Ungewoumlhnlichkeit seines Ansatzesbewusst war (sofern sich die Phrase uumlberhaupt auf die Komposition des Werkesbezieht)sup3⁴⁴ beseitigt aber nicht das interpretatorische Problem ZuwelchemZweckverbindet Martianus also zwei so widerspruumlchliche Gattungen wie Enzyklopaumldieund Satiresup3⁴⁵

Drei Antwortansaumltze lassen sich grob umreiszligen 1 Die Verbindung ist nuraumluszligerlich bzw oberflaumlchlich 2 durch die Verbindung soll ein bestimmter Aspektparodiert und somit Spott und Kritik ausgesetzt werden 3 die Verbindung erfuumlllt

Dieses Problem hat bereits Westra in seinem Aufsatz bdquoThe juxtaposition of the ridiculousand the sublime in Martianus Capellaldquo benannt (Westra 1981) Allerdings beschraumlnkt sich auchdieser Aufsatz auf die Darstellung des Problems und die Zusammenstellung der Belege EineLoumlsung hat Westra nicht anzubieten ndash sein Aufsatz endet mit der eher apologetischen Bemer-kung das Eingestaumlndnis der Unvereinbarkeit von Satire und Lehrwerk durch Martianus in 9 997sei prima facie ein Spiel dahinter stecke jedoch die Absicht Problembewusstsein zu demon-strieren und Verantwortung fuumlr die unterlassene Loumlsung zu negieren bdquoEven though I would claim that prose and verse must be present in an ancient Menippeansatire it must be seen as one of a number of shocking juxtapositions of oppositesldquo (Relihan 198760) ndash In der Folge kann die prosimetrische Form durchaus auch Mittel belehrender Werkewerden vgl Pabst 1994 133 Denkbar (und wohl wahrscheinlich) waumlre auch dass damit die Inhalte besonders desMythos gemeint sind Der Verweis auf Unterhaltung fuumlhrt nicht zum Kern der Frage denn die satirische Formstellt mehr dar als reine Unterhaltung Auch das horazische Diktum ridentem dicere verum quidvetat ndashsbquolachend das Wahre zu sagen ndash was spricht dagegenlsquo (Hor serm 1 1 23) als Kern vonMartianusrsquo Satireverstaumlndnisses greift zu kurz ebenso wie vergleichbare Konzeptionen in derLiteratur Dort geht es bei Belehrung immer um einzelne philosophische Saumltze (nie beispiels-weise um die Vermittlung von Philosophie an sich) Folglich bezeichnet das bdquoverumldquo nichtkognitives Lernen sondern moralisches Der grundlegende Unterschied zur Konzeption desMartianus liegt somit auf der Hand Vgl zu diesem Aspekt im Allgemeinen z B Shanzer 1986c42 und im Speziellen u a Woytek 1986 339ndash345 Keulen 2009 bes Kap 2 und 3

2 De nuptiis als literarisches Werk 143

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

einen literarischen und belehrenden Zweck zugleich Aufgrund der komplexenSachlage und der unmittelbaren Bedeutung der Beantwortung der Frage nachdieser Verbindung fuumlr das Gesamtverstaumlndnis von De nuptiis werden alle Alter-nativen vorgestellt und bewertet

Rein formale Verbindung von Satire und EnzyklopaumldieEventuell laumlsst sich die Mischung aus enzyklopaumldischen und satirischen Ele-menten (mit den zur Satire gehoumlrigen Verspartien) als Sonderform der Varro-Re-zeption bei Martianus auffassenVarro von Reate verfasste sowohl umfangreicheFachliteratur als auch menippeische Satiren Fuumlr beides war er in der Antikebekannt und beruumlhmt ndash doch ist es wahrscheinlich dass Martianus die Werkebereits nicht mehr ndash oder allenfalls nur in Auszuumlgen ndash vorliegen hattesup3⁴⁶ Aus demWissen um die beiden Schaffensbereiche des republikanischen Autors die beideder Unterweisung dienen solltensup3⁴⁷ koumlnnte Martianus auf den Gedanken verfallensein die literarischen Formen und Inhalte in seinem Werk zu verbindensup3⁴⁸Vielleicht saszlig er auch einemMissverstaumlndnis auf indem ermeinte dass Varro seinsatirisches wie enzyklopaumldisches Koumlnnen in nur einem Werk demonstriert habeDies hieszlige jedoch dass Martianus sich der Problematik dieser Verbindung nicht

So aumluszligert sich beispielsweise Kindermann in den Vorstudien seiner Ausgabe der Conso-latio des Laurentius von Durham Er billigt Martianus nur eine sekundaumlre Varro-Kenntnis zu(Kindermann 1969 60) Entschieden verneint wird die Frage von Schievenin (2009f) und Hadotdie vor allem neuplatonische Quellen vermutet (Hadot 2005 149) Schneider jedoch nimmt andass sowohl Augustin als auch Martianus die Disciplinae noch vorliegen hatten (Schneider 1999109 f) und dass die Satiren-Exzerpte des Nonius Marcellus (fl um 400 in Afrika) ebenfalls ausdem Originaltext Varros angefertigt wurden (ibid 96 Anm 12) Abwaumlgend aumluszligert sich Huumlbner2004 passim Vgl Cic ac 1 8 (es spricht Varro)

et tamen in illis veteribus nostris quae Menippum imitati non interpretati quadam hilaritateconspersimus multa admixta ex intima philosophia multa dicta dialectice quae quo faciliusminus docti intellegerent iucunditate quadam ad legendum invitati

Jedoch findet sich in meinen fruumlhen Schriften die ich in kreativer Nachfolge (und nicht nurUumlbersetzung) Menipps mit einer gewissen Heiterkeit benetzt habe vieles aus den Kernbe-reichen der Philosophie beigemengt und vieles das nach Art der Dialektiker gesagt istdamit die weniger Gelehrten es leichter verstuumlnden nachdem sie durch eine Art von Scherzzur Lektuumlre ermuntert worden sind

Vielleicht hatte Martianus diese Stelle sogar im Kopf als er die Anlage von De nuptiis plante So z BWeinreich in der Einleitung zu seiner Uumlbersetzung roumlmischer Satiren bdquoMartianusCapella glaubte gewiszlig ein Varro redivivus zu sein sozusagen die Quintessenz des Gelehrten unddes Satirikersldquo (Weinreich 1962 XCIII) Ebenso Shanzer 1986c 42

144 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

bewusst gewesen sei ndash was ihm sicher nicht gerecht wird Auszligerdem wird so dieBezugnahme auf weitere formale Elemente der menippeischen Tradition und dieuumlbrigen Vorlaumlufer der Gattung mit anderer Konzeption (Lukian Julian) nichtausreichend beruumlcksichtigt

Ebenfalls beim Autor koumlnnte eine zweite Erklaumlrung ansetzen Im Zuge derAbfassung seiner Enzyklopaumldie hat sichMartianus nach horazischer Vorgabe (unddem Beispiel Varros)sup3⁴⁹ um Auflockerung und heitere Elemente bemuumlht Diespontanen Einfaumllle wurden ins Werk integriert und die sich daraus ergebendenInkonsistenzen entweder uumlbersehen oder billigend in Kauf genommen Beideswuumlrde gut zum klassisch negativen Martian-Bild in der Forschung passensup3⁵⁰Abgesehen davon dass Annahmen uumlber das Vorgehen beim Schreiben weitge-hend auf Spekulation beruhensup3⁵sup1 widersprechen drei Beobachtungen dieser Er-klaumlrung Erstens gelingt es Martianus De nuptiis uumlber neun Buumlcher vorauszu-planen so dass am Ende ein ndash zunaumlchst abgesehen von der Satire-Problematik ndashkohaumlrentes Werk entsteht Die Fuumllle der behandelten Themen Motive und lite-rarischen Elemente weist eher auf ein planvolles Arbeiten hin und macht es un-wahrscheinlich dass Martianus Probleme an dieser Stelle nicht wahrgenommenbzw nicht korrigiert haumltte Zweitens ist die Verbindungvon Satire und den anderenElementen nicht nur oberflaumlchlich so dass sie nachtraumlglich eingefuumlgt sein koumlnnteoder sich im Schreibprozess so ergeben haben koumlnnte Da bereits im zweitenKapitel des ersten Buches Satura eingefuumlhrt wirdwar sie von vornherein Teil des

Gemeint ist das beruumlhmte zunaumlchst nur fuumlr die Dichtung relevante prodesse aut delectare(Hor ars 333 f) zu Varro vgl die schon angefuumlhrte Stelle aus Cic ac Vgl z B die sehr bildliche Beschreibung von C S Lewis bdquo[hellip] this universe which hasproduced the bee-orchid and the giraffe has produced nothing stranger than Martianus Capella[hellip] the curiosity shop of his mind [hellip] a chaos beside which the work of Rabelais has unity andthat of Mandeville probabilityldquo (Lewis 1936 78 f) Gleiches gilt fuumlr Spekulationen uumlber eine andere Auffassung von Literatur und ihrenRegeln in Martianusrsquo Zeit oder Umfeld Einerseits kennen wir keine Texte die sich mit De nuptiisvergleichen lieszligen (was per se nichts beweist aber doch Indiziencharakter hat) andererseitshielten sich auch die spaumltantiken Autoren uumlblicherweise an die klassischen Vorgaben Ich teiledaher auch Schneiders Ansicht nicht der die Skepsis an dieser Verbindung allein der modernenLeseerfahrung zuschreibt bdquoWenn den Heutigen diese Kombination der forcierten Gelehrsamkeiteines Curriculums und der spielerisch-saloppen Causerie seltsam beruumlhren mag so waumlre dazuimmerhin schon an ein ciceronisches Dictum zu erinnern non est enim seiunctus iocus a phi-lologia (ad fam 16214) ndash sbquoSpieltrieb und Pedanterie diktieren und widersprechen sich nichtlsquo(sbquoErste Fruumlhschichtlsquo aus Grassrsquo sbquoHundejahrelsquo)ldquo (Schneider 1999 94 Anm 2) Der Verweis aufCicero traumlgt nichts zum Verstaumlndnis von Martianus bei Cicero geht es an der zitierten Stelle umden Ablauf des Tages mit seinem Schuumller der aus ernsteren und heitereren Abschnitten bestehtDaraus folgt nicht dass das Lernen mit Scherz verbunden ist ndash auszligerdem duumlrfte Cicero unteriocus (sbquo[urbaner] Scherzlsquo) anderes verstanden haben als Martianus in seiner Satura bietet

2 De nuptiis als literarisches Werk 145

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Kompositionsplans Drittens hat Schievenin gezeigt dass Martianus keineswegsoberflaumlchlich und eigenwillig arbeitet Durch eine gruumlndliche Untersuchung derSilen-Passage (8 803ndash805) kann er nachweisen dass Martianus ndash wie vieleAutoren vor ihm ndash uumlber ein umfangreiches literarisches Wissen verfuumlgte daraufbei der Abfassung seines Werkes zugreifen konnte und durch gezielte Anspie-lungen neue Bezuumlge herstelltesup3⁵sup2

Satire als Mittel der KritikWaumlhrend die antike Satire (im Gegensatz zur modernen) nicht zwangslaumlufig Kritikan Missstaumlnden uumlben wollte ist diese Moumlglichkeit umgekehrt auch nicht auszu-schlieszligen Martianus koumlnnte also bewusst eine solide Darstellung der Kuumlnste inliterarischem Gewandmit der Gattung der Satire verbunden haben um Zweifel ander Ernsthaftigkeit der uumlbrigen Teile des Werkes zu wecken Er wuumlrde somit einaufklaumlrerisches Interesse verfolgen das zugleich auch unterhaltsame Zuumlge traumlgt

Eine erste Schwierigkeit dieser Lesart von De nuptiis ergibt sich bereits bei derFrage nach dem Objekt der SatireWerden die Wissensinhalte in Zweifel gezogenoder nur die Art ihrer Vermittlung in langen Reden bzwTraktaten Soll der Glaubean die umfassende Einheit des Wissens kritisiert werden oder die Vorstellungsaumlmtliches Wissen lasse sich vermitteln gar kohaumlrent in einem Werksup3⁵sup3 Ist dieVorstellung dass Wissen goumlttlich mache parodiert oder nur die abwegige Vor-stellung dass auf einer Hochzeit solche Reden gehalten werden Oder richtet sichdie Kritik letztlich gegen die Auffassung Philologia als Vorbild zu sehen oder garals Mittlerin alles Wissens ja sogar als Mittlerin zwischen Menschen und Goumlttern

Aus der Tatsache dass das Objekt der Satire keineswegs leicht zu bestimmenist kann nicht gefolgert werden dass in De nuptiis keine Satire vorliege die be-stimmte Sachverhalte kritisiere Aber es kann durchaus gefolgert werden dass eskeine expliziten textinternen Merkmale gibt die das Lesen steuern und den Ge-genstand der Kritik deutlich hervortreten lassen Die Deutungen gehen also vonmodernen Annahmen uumlber das Umfeld bzw die Gedankenwelt von Martianus aus

Im Kern handle es sich um bdquouna narrazione tersa e brillanteldquo verbunden mit einemDickicht an Verweisen Die Silen-Szene habe einen bdquocarattere colto e della dottrina e dellalingualdquo (Schievenin 1984 132) Das Fazit seiner Untersuchung formuliert Schievenin folgen-dermaszligen bdquoIl De nuptiis si rivela dunque opera di vasti orizzonti non solo per lrsquointento dida-scalico che la pervade e che ne determineragrave la fortuna ma anche per la costante presenza nellafabula della tradizione classica e dei suoi echildquo (ibid 136) Vgl zu dieser Stelle auch Bovey2003 275ndash288 ndash Den geschickten Umgang mit mehreren Quellen ndash erzaumlhlerisch wie seman-tisch ndash kann Schievenin auch fuumlr 7 725ndash727 nachweisen (Schievenin 2009e) So z B Relihan 1993 138 bdquoMartianus writes not an encyclopedia but a Menippean satirethat parodies encyclopedic knowledgeldquo

146 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

und weisen zudem meist nicht kleinschrittig auf wie der Interpret zu seiner (oftapodiktisch dargelegten) Ansicht gelangt

Nun folgt daraus noch nicht dass Martianus De nuptiis nicht als kritisierendeSatire konzipiert haumltte die Vielzahl der (wenn auch differierenden) modernenDeutungenweist ja darauf hin Zwei Uumlberlegungenwenn auch keine schlagendenBeweise lassen die Hypothese der parodierenden Satire unwahrscheinlich wer-den der Umfang von De nuptiis und seine Rezeption Eine Satire die beispiels-weise die Verbindung von Weltwissen und menschlicher Vervollkommnung in-frage stellt benoumltigt nicht noch eine umfassende Darlegung eben diesenWissensDies gilt besonders da diese Darlegung den Hauptteil des Werks ausmacht und ndashzumindest dem Umfang nach ndash die uumlbrigen Partien weit uumlberragt Eine Deutungvon De nuptiis als kritischer Satire muumlsste also besonders die Frage beantwortenzu welchem Zweck die umfangreichen Darstellungen der Freien Kuumlnste aufge-nommen sind (und nicht nur angedeutet werden)

Die Rezeption eignet sich zwar ebenfalls nicht zu sicheren Ruumlckschluumlssen aufdie originale Intention eines Werkes haumlufig bietet sie aber interessante EinblickeDie Martianus-Rezeption stellt sich bald ein Cassiodor beruft sich in seinen In-stitutiones auf ihn Dort erscheint Martianus nicht als Satiriker oder Zeitkritikersondern als Gelehrtersup3⁵⁴ In dieser Tradition wird Martianus auch im Mittelaltergelesen und rezipiertsup3⁵⁵

Aumlhnliches laumlsst sich fuumlr Boethiusrsquo Anknuumlpfen an die prosimetrische Form inder Ausgestaltung von Martianus sagen Boethius verfasst zweifelsfrei keine kri-tische Satire kann aber trotzdem an die Form und den Inhalt von De nuptiisproblemlos anknuumlpfen Sowohl der Form nach wie auch durch einzelne Zitatemacht er deutlich dass erDe nuptiis kennt und als eine seiner Vorlagen benutzt Esist zu bezweifeln dass Boethius in seinem Bemuumlhen um eine adaumlquatewerbendeDarstellung der Philosophie auf Form und Zitate des Martianus zuruumlckgegriffenhaumltte haumltte er nicht die Moumlglichkeit der gefahrlosen Uumlbernahme gesehen

Satirische Elemente als Mittel der BelehrungDer dritte Erklaumlrungsansatz fuumlr die Verbindung von Satire und Belehrung be-trachtet die Wahl Saturas als Figur und die Bezugnahme auf die Gattung zunaumlchst

Cassiod inst 2 2 17 Zur mittelalterlichen Martianus-Rezeption vgl bes Nuchelmans 1950 Lutz 1971 und 1976Willis 1973 sowie die Ausgaben und Literatur u a zu folgenden Werken Konrad von MureFabularius Hugo von Sankt Victor Didascalicon de studio legendi Johannes von SalisburyMetalogicon Kindermann kann weiterhin nachweisen dass De nuptiis auch durch seine Forminspirierend gewirkt hat (Kindermann 1969 61 f)

2 De nuptiis als literarisches Werk 147

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

als reine Fortsetzungder literarischen Form Fuumlr diese spezielle Formder Literaturdie menippeische Satire hat der russische Literaturwissenschaftler MichailBachtin Beobachtungen aufgestellt die auch fuumlr De nuptiis zutreffen Durch denRuumlckgriff auf zwei zentrale Konzepte Bachtins das Karnevaleske und die Dialo-gizitaumlt wird ein Verstaumlndnis von De nuptiis ermoumlglicht

Auf der Suche nach Vorlagen und Urformen der Gattung des Romans ins-besondere in der Form von Dostojewskis Romanen stieszlig Bachtin unter anderemauch auf die menippeische Satire die er bis in die Antike zuruumlckverfolgtesup3⁵⁶ Zuihren Vertretern zaumlhlt er unter anderem Varro Apuleius Petron Seneca oderLukiansup3⁵⁷ Martianus Capella wird nicht erwaumlhnt was aber nicht verwundernmuss da Bachtin keine Literaturgeschichte der menippeischen Satire schriebsup3⁵⁸

Kern der Uumlberlegungen Bachtins zurmenippeischen Satire ist das Konzept desKarnevals Unter Karneval versteht er folkloristische Feste waumlhrend deren diebestehende Ordnung verkehrt wird uumlbliche Regeln nicht mehr gelten Herr-schende gestuumlrzt und Machtlose maumlchtig werden ndash auf Zeit Die Karnevalisierungalso die Uumlbernahme der Kennzeichen dieses Festes in neue oder bestehende li-terarische Formen institutionalisiert diese Ausnahmesituation und loumlst sie vomkonkreten Fest Der so entstandene Text wird bdquozum karnevalesken Spiel an demder Autor und sein Publikum einverstaumlndlich teilhaben und das keines kalen-darisch oder institutionell abgesicherten Karnevalsrahmens mehr bedarfldquosup3⁵⁹

Diese Karnevalisierung fuumlhrt unter anderem zu einer Vielstimmigkeit vonMeinungen und Positionen im Text z B durch mehrere Figurenvon denen keinebevorzugt oder gar als autoritativ gekennzeichnet wird In dieser Dialogizitaumlt wirdkein allgemein guumlltiger Sinnmehr vermittelt sondern dieWahrheit suspendiertsup3⁶⁰

Dass der Bezug auf karnevalsartige Feste der Gattung menippeische Satire (inTeilen auch der Verssatire) eignet zeigt ein kurzer Blick auf wichtige Vertreter derTradition

Julians Symposion Caesares spielt zur Zeit der Saturnalien Die Bedeutungdieses Festes fuumlr das Werk wird dadurch verdeutlicht dass es den Handlungs-

Bachtin 1971 126ndash 135 Bachtin 1971 126 128 132f Kritik an den z T pauschalisierenden und verfaumllschenden Aussagen Bachtins uumlber antikeLiteratur oder an der ununterbrochenen Traditionslinie von der Antike bis in die Moderne (z BRelihan 1987 59 Lachmann 2006 23ndash25) muumlsste auch auf manche moderne Literaturwissen-schaftler in der Nachfolge Bachtins angewandt werden (vgl Branham 2005 6 wo es uumlberSenecas Apocolocyntosis heiszligt bdquoour only extant Menippean satire in Latinldquo) Teuber 1993 182 Eine gut verstaumlndliche Einfuumlhrung in das Konzept der Dialogizitaumlt im Sinne der bach-tinschen Terminologie bietet Sharland 2010 Einfuumlhrung (1ndash51)

148 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

rahmen fuumlr den in der Folge erzaumlhlten Mythos bildet Bereits im ersten Satz wirdauf das Fest und die Tradition Heiteres frei zu erzaumlhlen Bezug genommensup3⁶sup1

Auch Senecas Apocolocyntosis stellt einen engen Bezug zum Saturnalienfesther Das Werk spielt zwar nicht an den Saturnalien sondern am Todestag desClaudius im Oktober doch wird an zwei Stellen eine Verbindung zwischen derHerrschaft des verstorbenen Kaisers und den dargestellten Sitten waumlhrend derRegierungszeit mit dem Saturnalienfest gezogensup3⁶sup2 Manche Interpreten gehensogar davon aus dass die Apocolocyntosis an den Saturnalien des Jahres 54vorgetragen wurdesup3⁶sup3 Auch bei Petron und Horaz finden sich Bezugnahmen aufdie Saturnaliensup3⁶⁴

Ein zentrales Element des Saturnalienfestes liegt in der Suspension der uumlb-licherweise geltenden Normen und Wertesup3⁶⁵ Neben den anderen Elementen desFestes wie sie z B in Macrobiusrsquo Saturnalia (1 7ndash 10 1 24 22 f) beschriebenwerden (traditionelle Geschenke Festmahl fuumlr die Sklaven etc) hat gerade dieUmkehrung der Herrschaftsverhaumlltnisse im Haus Niederschlag in der Literaturgefunden

Gerade durch diese Rolleninversion treten einige wichtige gesellschaftlicheNormvorstellungen und Grundannahmen prominent hervor Dazu zaumlhlt das Be-wusstsein dass es eine befehlende und eine ausfuumlhrende Gruppe von Menschengibt oder dass im Prinzip ein Rollenwechsel moumlglich sein kann Alle Beteiligten

Ἐπειδὴ δίδωσιν ὁ θεὸς παίζειν ndash ἔστι γὰρ Κρόνια ndash hellip (sbquoDa der Gott das Scherzen erlaubt ndashes sind ja die Kronia helliplsquo Caes 1 = 306a Spanheim) Zur Frage ob es sich bei Caesares auch umdas Werk handle auf das zu Ende der Rede auf Koumlnig Helios verwiesen wird (Or in Sol reg 44 =157c Spanheim) vgl Muumlller in seiner Uumlbersetzung (39 ablehnend) und Lacombrade im Vorwortseiner Budeacute-Ausgabe (3 und 18 Anm 3) der aufgrund des Handschriftenbefundes Kronia auchals Titelbestandteil fuumlr die Caesares uumlbernimmt Es handelt sich um Sen apocol 8 1 (Claudius als Saturnalienprinz) und 12 2 (Herrschaftdes Claudius als andauerndes Saturnalienfest) ndash Dass Lukian nicht auf die Saturnalien alsRahmen fuumlr seine Werke zuruumlckgreift entwertet die Beobachtungen nicht Lukian musste auf-grund seines Selbstbewusstseins als satirischer Schriftsteller und aufgrund der Menge seinersatirischen Schriften nicht jedes Mal einen eigenen literarischen Rahmen herstellen in demeinzelne Dialoge stattfinden konnten Das Saturnalienfest selbst erscheint bei Lukian als Ge-genstand der Satire nicht als deren literarische Rahmung (Τὰ πρὸς Κρόνον) Zuerst bei Furneaux 1896 23 Anm 11 In der neueren Forschung vgl bes Nauta 1987Kritisch dazu u a Doumlpp 1993 159 f Petron 44 3 58 2 69 9 zu Horaz vgl z B serm 2 7 (libertas Decembris) Ein gelungenesBeispiel der Anpassung und Anwendung der bachtinschen Konzepte mit Ertrag fuumlr die Inter-pretation unter Einbezug von serm 2 7 bietet Sharland 2010 Distelrath 1999 114 Vgl weiterhin Versnel 1993 136ndash227 und Doumlpp 1993 Eine plastischeSchilderung der Rollenvertauschung bei der der Sklave dem Herrn die Leviten liest bietet Horserm 2 7

2 De nuptiis als literarisches Werk 149

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Herren wie Sklaven spielen also mit den Moumlglichkeiten einer alternativen Wirk-lichkeit

Das Besondere im Spiel mit den Moumlglichkeiten liegt aber in seiner zeitlichenBegrenzung Nach der Zeit des Ausnahmezustands gelten wieder die normalenimmer guumlltigen Regeln Die Rolleninversion erlaubt also ndash oder erzwingt gera-dezu ndash das Nachdenken uumlber bestimmte gesellschaftliche Normen und Wertvor-stellungen Durch die Ritualisierung und enge zeitliche Begrenzung ist darausjedoch keineswegs die Notwendigkeit entstanden die Verhaumlltnisse tatsaumlchlich zuhinterfragen oder gar zu aumlndern Daher lassen sich die Saturnalien auch als ein dieKonventionen bestaumlrkendes Fest verstehen Das Spiel mit der Moumlglichkeit eineranderen Gesellschaftsordnung hat durch seine Ritualisierung letztlich eine dieTradition legitimierende Funktion bekommen

In De nuptiis finden sich jedoch houmlchstens spaumlrliche Hinweise auf das Sa-turnalienfest Am ehesten weist das grob scherzende Agieren Saturas in diesenBereich Die bdquolangen Winternaumlchteldquo (1 2) koumlnnten (statt als Bezug auf Gellius) alsAnspielung auf das Saturnalienfest verstandenwerden ndash die Saturnalien finden inden laumlngsten Naumlchten uumlberhaupt statt seit der Kaiserzeit vom 17 bis 23 DezemberDies ndash wie die Spekulation uumlber eine spielerische etymologische Verbindung vonSatura und Saturnaliensup3⁶⁶ ndash ist aber insofern nicht von Belang da die Gattung alsGanze karnevaleske Zuumlge traumlgt und als gewissermaszligen institutionalisierter Kar-neval vom eigentlichen Fest losgeloumlst istsup3⁶⁷

Die Aufhebung der uumlblichen Ordnung (was Teuber im Ruumlckgriff auf Limina-litaumltskonzepte als praumlliminale Phase bezeichnet)sup3⁶⁸ beginnt mit der VorbereitungPhilologias zum Aufstieg in den Himmel Bereits das Erbrechen stellt eine mar-kante Umkehrung der alltaumlglichen Welt dar Statt sich Wissen anzueignen er-bricht Philologia es nun In der Goumltterversammlung auf der Milchstraszlige ist dieOrdnung sodann voumlllig verkehrt Philologia als Meisterin aller Disziplinen und

Zwar sind die einschlaumlgigen etymologischen Woumlrterbuumlcher skeptisch (v a WaldeHof-mann 2007 II 482 neutral ErnoutMeillet 2001 596) jedoch gibt es dahin gehende moderneDeutungen (aufgefuumlhrt bei WaldeHofmann 2007 II 482) und auch antike ParallelisierungenCic nat deor 2 64 Saturnus hellip est appellatus quod saturaretur annis (sbquoSaturn hellip wurde ergenannt weil er an Jahren gesaumlttigt istlsquo) Fulg myth 1 2 (p 17 16) a saturando Saturnus dictusest (sbquoDa er (die Menschen) saumlttigt wurde er Saturn genanntlsquo) Aug cons euang 1 23 35 Sa-turnus tamquam satur hellip νοῦς (sbquoSaturn gleichsam der gesaumlttigte hellip νοῦςlsquo) Vgl auch Gowers diedie etymologischen Verbindungen von satura Satyrspiel und Saturnalien untersucht (Gowers1993 109ndash 117) Sie kommt zu dem Befund dass keine Verbindung bestehe wohl aber verbin-dende Elemente identifiziert werden koumlnnten bdquocarnival licence parody uninhibited mockeryand excessive consumptionldquo (ibid 117) Vgl z B Teuber 1993 183 f Teuber 1993 183

150 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

bedeutende Lehrinstanz muss sich ihrerseits belehren lassen ndash mit dem Wissendas urspruumlnglich ihres war

Durch die Inversion wird die (vielleicht uumlblicherweise nicht prominente)Philologia in den Mittelpunkt geruumlckt und ihre zentrale Rolle im Wissenssystemtritt markant vor Augen Gleichzeitig kann darin eine leise Anfrage an ihre Lehr-autoritaumlt und eventuell auch ihre Eignung zur Lehre gesehen werden

Aufgrund des zeitlich begrenzten Rahmens der Verkehrung (diemit dem Endeder Vortraumlge voruumlber ist aber nicht explizit zuruumlckverwandelt wird) dessen Be-grenztheit durch Bezug auf die Form der menippeischen Satire ergaumlnzt werdenkann wird das System der Bildung und der Bildungsvermittlung jedoch nichtgrundsaumltzlich infrage gestellt Die Suspendierung Philologias ist temporaumlr

Dem Konzept der Dialogizitaumlt oder Mehrstimmigkeit folgend erklaumlrt sich auchdie Doppelung und Verunklarung der Erzaumlhlinstanz In den drei Dialogen indenen Satura und Martianus aufeinandertreffen behandeln sie die Frage desrichtigen Erzaumlhlens Dies beschraumlnkt sich nicht nur auf die Satire sondern umfasstalle auftretenden literarischen Formen Martianus und Satura sind sich uneinswie weit der Mythos reichen soll und ob eine Enzyklopaumldie trocken oder auchunterhaltsam erzaumlhlt werden soll (2 219ndash3 222) ob ein Symposion auch Zechenund Spaszlig vertraumlgt (8 803ndash810) oder ob und wie stark Satire Dinge vermischendarf (9 997ndash 1000)

Die unterschiedlichen Meinungen zu den Fragen werden zwar diskutiert undfuumlhren zu einem Ergebnis ndash der Erzaumlhlfluss versiegt ja an keiner Stelle oder setztneu an Allerdings entsteht in der Folge kein homogenes Werk und am Schlussmag keiner der beiden Erzaumlhler dafuumlr die Verantwortung uumlbernehmen Der Wi-derwillen sich zu dem Werk zu bekennen bedeutet aber gleichzeitig auch dassMartianus sich nicht festlegt welche Position er fuumlr die richtige haumllt Die Fragenach der rechten Art der Wissensvermittlung die auch in der Ent- und Inthroni-sierung Philologias anklang bleibt unbeantwortet

Schlieszliglich bringt der Blick auf die Aurelian-Vita aus der Historia Augustanoch einen weiteren Aspekt ein Parallel zur Aufteilung der Erzaumlhlinstanzen in Denuptiiswird der Erzaumlhlprozess in derHistoria Augusta aufmehrere AutorenverteiltWie zuerst Hermann Dessau und in der Folge Ronald Syme nachdruumlcklich gezeigthaben handelt es sich allerdings um nur einen Verfasser der uumlberdies auch inBezug auf die Abfassungszeit falsche Angaben gemacht hat und Quellen erfundenhatsup3⁶⁹ Insofern laumlsst sich der in der Historia Augusta gepraumlgte Begriff der

Auf den Charakter der Sammlung die Syme u a als bdquohoaxldquo bezeichnet (1983a 11 1983b13 1983c 219) die fingierten Autoren die manipulierten Quellen etc soll an dieser Stelle nurhingewiesen werden Vgl auch Cameron 2011 Kap 20 mit ausfuumlhrlicher Diskussion relevanterFragen

2 De nuptiis als literarisches Werk 151

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mythistoria der Vermischung von Mythischem und Historischem auch auf dieSammlung selbst anwendensup3⁷⁰

Als Menippee im engeren Sinne laumlsst sich weiterhin die Aurelian-Vita die 26Vita der Sammlung fassen und bezeichnenderweise spielt die Rahmenhandlungan denHilariasup3⁷sup1Wie zu den Saturnalien gehoumlren zu diesem Fest Scherze und ndash imRahmen von Maskierungen ndash Rollenwechselsup3⁷sup2

Noch in der rahmenden Einleitung zur Vita spielt sich folgender Dialog ab

1 et quoniam sermo nobis de Trebltellgtio Pollione qui a duobus Philippis usque ad divumClaudium et eius fratrem Quintillum imperatores tam claros quam obscuros memoriaeprodidit in eodem vehiculo fuit adserente Tiberiano quod Pollio multa incuriose multabreviter prodidisset me contra dicente neminem scriptorum quantum ad historiam pertinetnon aliquid esse mentitum prodente quin etiam in quo Livius in quo Sallustius in quoCornelius Tacitus in quo denique Trogus manifestis testibus convincerentur pedibus insententiam transitum faciens ac manum porrigens iocando[m] praeterea sbquoscribelsquo inquit sbquout

quae ille [scil Iunius Cordus] omnia exsequendo libros mythistoriis replevit talia scribendocum omnino rerum vilium aut nulla scribenda sint aut nimis pauca si tamen ex his morespossint animadverti qui re vera sciendi sunt hellip sed ex parte ut ex ea cetera colligantur(SHA Opil 1 5)

Bei der Anfuumlhrung von all diesen Informationen hat er die Buumlcher mit fabuloumlsen Ge-schichten angefuumlllt indem er Dinge von dieser Art schrieb wo doch uumlberhaupt keinenutzlosen Dinge geschrieben werden duumlrfen oder nur sehr wenige sofern daraus Verhal-tensweisen erkannt werden koumlnnen die wirklich wissenswert sind hellip aber zum Teil(schreibe ich) damit daraus das Andere gefolgert werden kann

quid Marius Maximus homo omnium verbosissimus qui et mythist[h]oricis se voluminibusinplicavit num ad istam descriptionem curamque descendit (SHA Quadr tyr 1 2)

Wie Hat sich Marius Maximus der groumlszligte Schwaumltzer vor dem Herrn der sich in seinenmythistorischen Werken verfangen hat etwa zu dieser Art der Darstellung und des sorg-faumlltigen Arbeitens herabgelassen

Hilaribus quibus omnia festa et fieri debere scimus et dici impletis sollemnibus vehiculo suome hellip Iunius Tiberianus accepit (SHA Aurelian 1 1)

An den Hilaria an denen alles zum Fest Gehoumlrende getan und gesagt werden muss wieman weiszlig empfing mich nach Erledigung der Zeremonien Iunius Tiberianus in seinemGefaumlhrt

Pausch bemerkt dieses besondere Datum zwar und erwaumlgt ob es sich um ein bdquoweitergehendesLesesignalldquo beispielsweise im Sinne karnevalesker Literatur handeln koumlnne verfolgt diese Spuraber nicht weiter (Pausch 2011 130 Anm 1) Herodian 1 10 5 ndash Einige Hinweise auf die Hilaria die im Kontext des Magna Mater-Festesam 25 Maumlrz gefeiert wurden bietet Fraser in seinem Kommentar zu Ovids Fasti (Fraser 1929244ndash248)

152 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

libet 2 securus quod velis dices habiturus mendaciorum comites quos historicae elo-quentiae miramur auctoreslsquo (SHA Aurelian 2 1ndash2)

1 Und weil unser Gespraumlch uumlber Trebellius Pollio der von den beiden Philippi bis zumvergoumlttlichten Claudius und dessen Bruder Quintillus gleichermaszligen uumlber beruumlhmte wieunbekannte Kaiser fuumlr die Nachwelt schrieb in derselben Saumlnfte stattfand behauptete erdass Pollio vieles ohne Sorgfalt und nur kurz dargelegt habe Ich erwiderte dass keinSchriftsteller sofern es um die Geschichte gehe nicht irgendwo gelogen habe und legtesodann dar worin sogar Livius Sallust Tacitus schlieszliglich sogar Trogus mit eindeutigenBelegen uumlberfuumlhrt werden koumlnnten Darauf sagte Tiberianus schlieszliglich scherzend indem ermeiner Meinung beipflichtete und mir seine Hand darbot bdquoSchreibe sowie du es fuumlr richtighaumlltst 2 Sage unbesorgt was du willst du wirst diejenigen als Gefaumlhrten fuumlr deine Taumlu-schungen haben die wir als Schoumlpfer historiographischer Beredsamkeit bewundernldquo

So sympathisch dieser Anspruch auch erscheinen mag ist er doch fuumlr das Ver-trauen in die Gattung der Geschichtsschreibung fatal Gerade in der Einleitungeiner Vita jedoch ndash zumal es der Fiktion nach die erste des Flavius Vopiscus Sy-racusius im Corpus der Historia Augusta ist ndash kann eine solche Anekdote ei-gentlich keinen Platz haben Sie erweckt beim Leser den Eindruck dass er dennachfolgend dargebotenen Informationen kein Vertrauen schenken duumlrfesup3⁷sup3

Die Parallelen zwischen der Historia Augusta insbesondere dem Vorgehen inder Vita Aureliani und De nuptiis liegen auf der Hand Verunklarung der Autor-schaft bzw der Erzaumlhlhaltung einerseits Erwecken von Zweifeln an der Glaub-wuumlrdigkeit des Dargebotenen andererseits

In der Historia Augusta sind die Inkongruenzen mit der Freude des Autors amliterarischen Spiel erklaumlrt worden Der Autor habe aus Freude am Fabulieren(vielleicht auchumein dafuumlr empfaumlngliches Publikum zu befriedigen) die Viten indieser Form verfasstsup3⁷⁴ Mag man dies fuumlr die Historia Augusta noch zugestehenderen Text uumlber einen laumlngeren Zeitraum vielleicht zunaumlchst ohne eine Gesamt-konzeption entstanden ist und auch sprachlich nicht herausragt stellt sich derSachverhalt fuumlr Martianusrsquo De nuptiis anders dar Das Werk hat durchaus einenliterarischen Anspruch und es folgt eindeutig einer vorab geplanten Gesamtan-lage Die Freude am Spiel mag vielleicht manches Detail beigesteuert haben fuumlrdie verschraumlnkte Anlage des Textes ist sie aber keine Erklaumlrung

Ganz anders ist der Anspruch zum Ende der Darstellung der Viten der bdquoDreiszligig Tyrannenldquoin dem der Autor beteuert seinem Werk mangele es zwar an literarischer Ausgefeiltheit nichtjedoch an Faktentreue da nunc cuivis libellum non tam diserte quam fideliter scriptum ndash sbquoGibnun dieses Buumlchleinwem du magst es ist nicht so sehr kunstvoll geschrieben wie es sachgetreuistlsquo (SHA Quadr tyr 33 8) Syme nennt dies bdquodeceit for its own sweet sakeldquo (1983c 217) Im gleichen Aufsatz spe-kuliert er auch uumlber das Interesse des Publikums an einer solchen Art von geistigem Spiel(ibid 221)

2 De nuptiis als literarisches Werk 153

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Es lohnt sich jedoch auch fuumlr die Historia Augusta einen Schritt weiter zugehen Ausgangspunkt dafuumlr ist die obige Beobachtungdass das literarische Spielder Historia Augusta nur durchschaut wer die Werke der historischen Literaturkennt Durch die Lektuumlre historiographischer Biographien bringt der Leser einebestimmte Leseerwartung also implizite Vorstellungen mit wie das Werk aus-sehen soll und wird Diese Erwartungen werden aber nicht oder nur teilweisebedient Formal gesehen weisen die Viten in der Historia Augusta zwar die Cha-rakteristika der Gattung auf ndash doch indem sie sie inhaltlich nicht adaumlquat aus-fuumlllen treten deren Konventionen vor Augen

Durch die uumlbermaumlszligige Verwendung falscher Verweise und erfundener Quel-len geraumlt zudem das Beglaubigungsverfahren historischer Texte in den Blick-punkt Der Leser erkennt anwelchen Stellenwelche Beglaubigungsmechanismenansetzen und auf welche Weise sie unterlaufen werden koumlnnen Uumlberspitzt lieszligesich behaupten DieHistoria Augusta verfolgt ein aufklaumlrerisches Interesse indemsie (spielerisch) aufzeigt welche Beglaubigungsverfahren die Geschichtsschrei-bung nutzt und wie sie manipuliert werden koumlnnen dadurch wird auch die Ma-nipulierbarkeit von Geschichte und Leser deutlich

In De nuptiis werden ebenfalls die Konventionen der Einzelgattungen ndash zu-mindest ansatzweise ndash hervorgehoben Dass kein perfektes Musterbeispiel derjeweiligen Einzelgattung entstehen kann liegt darin begruumlndet dass durch dieVerbindung der vier literarischen Genres keine oberflaumlchliche Konsistenz derFiktion entstehen kannVielmehr entstehen Bruumlche die ndash ebenso wie die Bruumlchein der Erzaumlhlhaltung ndash auch die Gattungskonventionen und ihre Annahmendeutlich werden lassen Dies gilt besonders fuumlr die Satire deren Vorgehen imKontrast zur eigentlichen Hochzeitshandlung aus dem Rahmen faumlllt und somitbesonderes Augenmerk erhaumllt Hinzu tritt mit der Figur Satura auch eine Perso-nifikation der Gattung die in theoretischen Diskussionen Annahmen und Vor-gehen mit Martianus eroumlrtert Grunduumlberlegungen der Gattung Satire werden sotheoretisch eroumlrtert und praktisch erprobt Gleiches giltwenn auch zT inwenigerdeutlicher Form auch fuumlr die anderen Formen Die Enzyklopaumldie in ihren langenMonologen wird durch Spott markiert die trockenen Kuumlnste werden probeweisedurch Allegorien zugaumlnglicher gemacht im Symposiondialog wird uumlberlegt in-wieweit uumlbliche Rollenmuster (der Zecher) einen Platz haben oder wie weit mandie fuumlr die Feier typischen Reden fuumlhren kann und immythischen Teil wird durchdie Gegenuumlberstellung mit dem handfesten Wissensbetrieb die Andersartigkeitdes Erzaumlhlens deutlich

So werden neben den Inhalten der Wissenschaften auch verschiedene lite-rarische Formen bewahrt Neben der reinen Anwendung und somit Tradierungwerden gleichzeitig auch die Mechanismen verdeutlicht deren sich die jeweilige

154 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Gattung bedient Somit wird ihr Funktionieren nachvollziehbar und in der Folgeauch nachahmbar

3 Zusammenfassung

Martianus weckt also durch die Wahl mehrerer gleichberechtigter Erzaumlhler diesomit das Erzaumlhlen unzuverlaumlssig werden lassen besonders aber durch dieUumlbernahme satirischer Gattungselemente ein Bewusstsein fuumlr die traditionellenGrundlagen desWissens- und Lehrsystems seiner Zeit ImGegensatz zur Satire diediese Fragen kategorisch stellt handelt es sich in De nuptiis um ein Spiel damitDer Satirebezug dient als Anknuumlpfung an die traditionellen Gattungsmerkmaleder menippeischen Satire Karnevaleske und Dialogizitaumlt

Durch die (temporaumlre) Rolleninversion richtet sich das Augenmerk aufPhilologia als Wissenszentrum und Wissensmittlerin und fordert zum Nach-denken daruumlber heraus Im Kern hinterfragt das Werk alle Bereiche die mit Bil-dung und Bildungsvermittlung zu tun haben Was sind die Inhalte wahrer Bil-dung Gibt es eine Einheit von Bildung Wie kann sie vermittelt werden

Allerdings zielt die Kritik nicht auf eine Aufloumlsung klassischer Bildungsinhalteund Vermittlungsformen Sie regt vielmehr durch Scherz und Bruumlche zumNachdenken uumlber diese Fragen an Dabei verzichtet Martianus auf eigene Vor-schlaumlge und Konzepte und festigt so gleichsam den traditionellen Bildungs-betrieb Das von ihm dargestellte Wissen wird kanonisiert und die Darstel-lungsform in langen Reden wird es auch Die mittelalterliche Rezeption von Denuptiis zeigt dies eindrucksvoll

Wissen umfasst dabei nicht nur das Faktenwissen der Vortraumlge sondern auchdas Wissen um bestimmte literarische Formen Durch die Verbindung von vierGattungen und die Doppelung der Erzaumlhlerfigur mit Reflexion uumlber angemessenesErzaumlhlen entstehen Inkonsistenzen die die Konventionen der einzelnen Gattun-gen hervortreten lassen Nicht alle Elementewerden auf dieseWeise deutlich aberMartianus bietet einen Ansatzpunkt die Fiktion auch unter der Fragestellung zulesen was einen Text der jeweiligen Gattung ausmacht ndash sowohl positiv wie ne-gativ formuliert

Mit seiner kreativen Konzeption und ihrer literarischen Umsetzung gelingt esMartianus eindrucksvoll Heiteres und Belehrendes zu verbindenwomit er an dieTradition Varros und die klassische antike Poetik anknuumlpft Es gelingt ihm daruumlberhinaus aber auchWissen zu vermitteln und die traditionellen Vorstellungen vonder Bedeutung dieses Wissens wie der Form seiner Vermittlung herauszustellenSpielerisch wird also gelehrt und hinterfragt nicht jedoch kategorisch kritisiertoder kuumlhn neu entworfen Gerade dadurch zeichnet sich Martianusrsquo De nuptiis

3 Zusammenfassung 155

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

tatsaumlchlich als nescioquid inopinum intactumque (sbquoetwas Ungewohntes und nochnie Gewagteslsquo 1 2) aus und macht es zu einem der bedeutendsten Buumlcher derSpaumltantike und zu einer interessanten Quelle fuumlr die Frage nach Bildungsvor-stellungen im fuumlnften Jahrhundert

156 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Page 30: Bildungsvorstellungen im 5. Jahrhundert n. Chr. (Macrobius, Martianus Capella und Sidonius Apollinaris) || III Martianus Capella, De nuptiis Philologiae et Mercurii

praumlsentieren ohne Zweifel an der Glaubwuumlrdigkeit und Zuverlaumlssigkeit desWerkes und der praumlsentierten Inhalte zu weckensup3⁴sup2

Wenn Martianus auch die Konventionen der Gattung menippeische Satireaufnimmt und sein Werk also nur folgerichtig unter anderem eine unzuverlaumlssigeErzaumlhlsituation aufweist ist dies noch keine Erklaumlrung an sich Die regelkonformeUmsetzung gattungstypischer Anspruumlche erklaumlrt noch nicht die Wahl der Gattungan sich ndash einer Gattung die trotz ihrer Benennung als solche nicht zu denStandardformen und akzeptierten Gattungen zaumlhlte insbesondere nicht fuumlrLehrwerkesup3⁴sup3

Auch Martianusrsquo Verweis auf etwas bislang noch nicht Unternommenes(nescioquid inopinum intactumque 1 2) vermag den Widerspruch nicht zu loumlsenDie Wendung zeigt zwar dass Martianus die Ungewoumlhnlichkeit seines Ansatzesbewusst war (sofern sich die Phrase uumlberhaupt auf die Komposition des Werkesbezieht)sup3⁴⁴ beseitigt aber nicht das interpretatorische Problem ZuwelchemZweckverbindet Martianus also zwei so widerspruumlchliche Gattungen wie Enzyklopaumldieund Satiresup3⁴⁵

Drei Antwortansaumltze lassen sich grob umreiszligen 1 Die Verbindung ist nuraumluszligerlich bzw oberflaumlchlich 2 durch die Verbindung soll ein bestimmter Aspektparodiert und somit Spott und Kritik ausgesetzt werden 3 die Verbindung erfuumlllt

Dieses Problem hat bereits Westra in seinem Aufsatz bdquoThe juxtaposition of the ridiculousand the sublime in Martianus Capellaldquo benannt (Westra 1981) Allerdings beschraumlnkt sich auchdieser Aufsatz auf die Darstellung des Problems und die Zusammenstellung der Belege EineLoumlsung hat Westra nicht anzubieten ndash sein Aufsatz endet mit der eher apologetischen Bemer-kung das Eingestaumlndnis der Unvereinbarkeit von Satire und Lehrwerk durch Martianus in 9 997sei prima facie ein Spiel dahinter stecke jedoch die Absicht Problembewusstsein zu demon-strieren und Verantwortung fuumlr die unterlassene Loumlsung zu negieren bdquoEven though I would claim that prose and verse must be present in an ancient Menippeansatire it must be seen as one of a number of shocking juxtapositions of oppositesldquo (Relihan 198760) ndash In der Folge kann die prosimetrische Form durchaus auch Mittel belehrender Werkewerden vgl Pabst 1994 133 Denkbar (und wohl wahrscheinlich) waumlre auch dass damit die Inhalte besonders desMythos gemeint sind Der Verweis auf Unterhaltung fuumlhrt nicht zum Kern der Frage denn die satirische Formstellt mehr dar als reine Unterhaltung Auch das horazische Diktum ridentem dicere verum quidvetat ndashsbquolachend das Wahre zu sagen ndash was spricht dagegenlsquo (Hor serm 1 1 23) als Kern vonMartianusrsquo Satireverstaumlndnisses greift zu kurz ebenso wie vergleichbare Konzeptionen in derLiteratur Dort geht es bei Belehrung immer um einzelne philosophische Saumltze (nie beispiels-weise um die Vermittlung von Philosophie an sich) Folglich bezeichnet das bdquoverumldquo nichtkognitives Lernen sondern moralisches Der grundlegende Unterschied zur Konzeption desMartianus liegt somit auf der Hand Vgl zu diesem Aspekt im Allgemeinen z B Shanzer 1986c42 und im Speziellen u a Woytek 1986 339ndash345 Keulen 2009 bes Kap 2 und 3

2 De nuptiis als literarisches Werk 143

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

einen literarischen und belehrenden Zweck zugleich Aufgrund der komplexenSachlage und der unmittelbaren Bedeutung der Beantwortung der Frage nachdieser Verbindung fuumlr das Gesamtverstaumlndnis von De nuptiis werden alle Alter-nativen vorgestellt und bewertet

Rein formale Verbindung von Satire und EnzyklopaumldieEventuell laumlsst sich die Mischung aus enzyklopaumldischen und satirischen Ele-menten (mit den zur Satire gehoumlrigen Verspartien) als Sonderform der Varro-Re-zeption bei Martianus auffassenVarro von Reate verfasste sowohl umfangreicheFachliteratur als auch menippeische Satiren Fuumlr beides war er in der Antikebekannt und beruumlhmt ndash doch ist es wahrscheinlich dass Martianus die Werkebereits nicht mehr ndash oder allenfalls nur in Auszuumlgen ndash vorliegen hattesup3⁴⁶ Aus demWissen um die beiden Schaffensbereiche des republikanischen Autors die beideder Unterweisung dienen solltensup3⁴⁷ koumlnnte Martianus auf den Gedanken verfallensein die literarischen Formen und Inhalte in seinem Werk zu verbindensup3⁴⁸Vielleicht saszlig er auch einemMissverstaumlndnis auf indem ermeinte dass Varro seinsatirisches wie enzyklopaumldisches Koumlnnen in nur einem Werk demonstriert habeDies hieszlige jedoch dass Martianus sich der Problematik dieser Verbindung nicht

So aumluszligert sich beispielsweise Kindermann in den Vorstudien seiner Ausgabe der Conso-latio des Laurentius von Durham Er billigt Martianus nur eine sekundaumlre Varro-Kenntnis zu(Kindermann 1969 60) Entschieden verneint wird die Frage von Schievenin (2009f) und Hadotdie vor allem neuplatonische Quellen vermutet (Hadot 2005 149) Schneider jedoch nimmt andass sowohl Augustin als auch Martianus die Disciplinae noch vorliegen hatten (Schneider 1999109 f) und dass die Satiren-Exzerpte des Nonius Marcellus (fl um 400 in Afrika) ebenfalls ausdem Originaltext Varros angefertigt wurden (ibid 96 Anm 12) Abwaumlgend aumluszligert sich Huumlbner2004 passim Vgl Cic ac 1 8 (es spricht Varro)

et tamen in illis veteribus nostris quae Menippum imitati non interpretati quadam hilaritateconspersimus multa admixta ex intima philosophia multa dicta dialectice quae quo faciliusminus docti intellegerent iucunditate quadam ad legendum invitati

Jedoch findet sich in meinen fruumlhen Schriften die ich in kreativer Nachfolge (und nicht nurUumlbersetzung) Menipps mit einer gewissen Heiterkeit benetzt habe vieles aus den Kernbe-reichen der Philosophie beigemengt und vieles das nach Art der Dialektiker gesagt istdamit die weniger Gelehrten es leichter verstuumlnden nachdem sie durch eine Art von Scherzzur Lektuumlre ermuntert worden sind

Vielleicht hatte Martianus diese Stelle sogar im Kopf als er die Anlage von De nuptiis plante So z BWeinreich in der Einleitung zu seiner Uumlbersetzung roumlmischer Satiren bdquoMartianusCapella glaubte gewiszlig ein Varro redivivus zu sein sozusagen die Quintessenz des Gelehrten unddes Satirikersldquo (Weinreich 1962 XCIII) Ebenso Shanzer 1986c 42

144 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

bewusst gewesen sei ndash was ihm sicher nicht gerecht wird Auszligerdem wird so dieBezugnahme auf weitere formale Elemente der menippeischen Tradition und dieuumlbrigen Vorlaumlufer der Gattung mit anderer Konzeption (Lukian Julian) nichtausreichend beruumlcksichtigt

Ebenfalls beim Autor koumlnnte eine zweite Erklaumlrung ansetzen Im Zuge derAbfassung seiner Enzyklopaumldie hat sichMartianus nach horazischer Vorgabe (unddem Beispiel Varros)sup3⁴⁹ um Auflockerung und heitere Elemente bemuumlht Diespontanen Einfaumllle wurden ins Werk integriert und die sich daraus ergebendenInkonsistenzen entweder uumlbersehen oder billigend in Kauf genommen Beideswuumlrde gut zum klassisch negativen Martian-Bild in der Forschung passensup3⁵⁰Abgesehen davon dass Annahmen uumlber das Vorgehen beim Schreiben weitge-hend auf Spekulation beruhensup3⁵sup1 widersprechen drei Beobachtungen dieser Er-klaumlrung Erstens gelingt es Martianus De nuptiis uumlber neun Buumlcher vorauszu-planen so dass am Ende ein ndash zunaumlchst abgesehen von der Satire-Problematik ndashkohaumlrentes Werk entsteht Die Fuumllle der behandelten Themen Motive und lite-rarischen Elemente weist eher auf ein planvolles Arbeiten hin und macht es un-wahrscheinlich dass Martianus Probleme an dieser Stelle nicht wahrgenommenbzw nicht korrigiert haumltte Zweitens ist die Verbindungvon Satire und den anderenElementen nicht nur oberflaumlchlich so dass sie nachtraumlglich eingefuumlgt sein koumlnnteoder sich im Schreibprozess so ergeben haben koumlnnte Da bereits im zweitenKapitel des ersten Buches Satura eingefuumlhrt wirdwar sie von vornherein Teil des

Gemeint ist das beruumlhmte zunaumlchst nur fuumlr die Dichtung relevante prodesse aut delectare(Hor ars 333 f) zu Varro vgl die schon angefuumlhrte Stelle aus Cic ac Vgl z B die sehr bildliche Beschreibung von C S Lewis bdquo[hellip] this universe which hasproduced the bee-orchid and the giraffe has produced nothing stranger than Martianus Capella[hellip] the curiosity shop of his mind [hellip] a chaos beside which the work of Rabelais has unity andthat of Mandeville probabilityldquo (Lewis 1936 78 f) Gleiches gilt fuumlr Spekulationen uumlber eine andere Auffassung von Literatur und ihrenRegeln in Martianusrsquo Zeit oder Umfeld Einerseits kennen wir keine Texte die sich mit De nuptiisvergleichen lieszligen (was per se nichts beweist aber doch Indiziencharakter hat) andererseitshielten sich auch die spaumltantiken Autoren uumlblicherweise an die klassischen Vorgaben Ich teiledaher auch Schneiders Ansicht nicht der die Skepsis an dieser Verbindung allein der modernenLeseerfahrung zuschreibt bdquoWenn den Heutigen diese Kombination der forcierten Gelehrsamkeiteines Curriculums und der spielerisch-saloppen Causerie seltsam beruumlhren mag so waumlre dazuimmerhin schon an ein ciceronisches Dictum zu erinnern non est enim seiunctus iocus a phi-lologia (ad fam 16214) ndash sbquoSpieltrieb und Pedanterie diktieren und widersprechen sich nichtlsquo(sbquoErste Fruumlhschichtlsquo aus Grassrsquo sbquoHundejahrelsquo)ldquo (Schneider 1999 94 Anm 2) Der Verweis aufCicero traumlgt nichts zum Verstaumlndnis von Martianus bei Cicero geht es an der zitierten Stelle umden Ablauf des Tages mit seinem Schuumller der aus ernsteren und heitereren Abschnitten bestehtDaraus folgt nicht dass das Lernen mit Scherz verbunden ist ndash auszligerdem duumlrfte Cicero unteriocus (sbquo[urbaner] Scherzlsquo) anderes verstanden haben als Martianus in seiner Satura bietet

2 De nuptiis als literarisches Werk 145

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Kompositionsplans Drittens hat Schievenin gezeigt dass Martianus keineswegsoberflaumlchlich und eigenwillig arbeitet Durch eine gruumlndliche Untersuchung derSilen-Passage (8 803ndash805) kann er nachweisen dass Martianus ndash wie vieleAutoren vor ihm ndash uumlber ein umfangreiches literarisches Wissen verfuumlgte daraufbei der Abfassung seines Werkes zugreifen konnte und durch gezielte Anspie-lungen neue Bezuumlge herstelltesup3⁵sup2

Satire als Mittel der KritikWaumlhrend die antike Satire (im Gegensatz zur modernen) nicht zwangslaumlufig Kritikan Missstaumlnden uumlben wollte ist diese Moumlglichkeit umgekehrt auch nicht auszu-schlieszligen Martianus koumlnnte also bewusst eine solide Darstellung der Kuumlnste inliterarischem Gewandmit der Gattung der Satire verbunden haben um Zweifel ander Ernsthaftigkeit der uumlbrigen Teile des Werkes zu wecken Er wuumlrde somit einaufklaumlrerisches Interesse verfolgen das zugleich auch unterhaltsame Zuumlge traumlgt

Eine erste Schwierigkeit dieser Lesart von De nuptiis ergibt sich bereits bei derFrage nach dem Objekt der SatireWerden die Wissensinhalte in Zweifel gezogenoder nur die Art ihrer Vermittlung in langen Reden bzwTraktaten Soll der Glaubean die umfassende Einheit des Wissens kritisiert werden oder die Vorstellungsaumlmtliches Wissen lasse sich vermitteln gar kohaumlrent in einem Werksup3⁵sup3 Ist dieVorstellung dass Wissen goumlttlich mache parodiert oder nur die abwegige Vor-stellung dass auf einer Hochzeit solche Reden gehalten werden Oder richtet sichdie Kritik letztlich gegen die Auffassung Philologia als Vorbild zu sehen oder garals Mittlerin alles Wissens ja sogar als Mittlerin zwischen Menschen und Goumlttern

Aus der Tatsache dass das Objekt der Satire keineswegs leicht zu bestimmenist kann nicht gefolgert werden dass in De nuptiis keine Satire vorliege die be-stimmte Sachverhalte kritisiere Aber es kann durchaus gefolgert werden dass eskeine expliziten textinternen Merkmale gibt die das Lesen steuern und den Ge-genstand der Kritik deutlich hervortreten lassen Die Deutungen gehen also vonmodernen Annahmen uumlber das Umfeld bzw die Gedankenwelt von Martianus aus

Im Kern handle es sich um bdquouna narrazione tersa e brillanteldquo verbunden mit einemDickicht an Verweisen Die Silen-Szene habe einen bdquocarattere colto e della dottrina e dellalingualdquo (Schievenin 1984 132) Das Fazit seiner Untersuchung formuliert Schievenin folgen-dermaszligen bdquoIl De nuptiis si rivela dunque opera di vasti orizzonti non solo per lrsquointento dida-scalico che la pervade e che ne determineragrave la fortuna ma anche per la costante presenza nellafabula della tradizione classica e dei suoi echildquo (ibid 136) Vgl zu dieser Stelle auch Bovey2003 275ndash288 ndash Den geschickten Umgang mit mehreren Quellen ndash erzaumlhlerisch wie seman-tisch ndash kann Schievenin auch fuumlr 7 725ndash727 nachweisen (Schievenin 2009e) So z B Relihan 1993 138 bdquoMartianus writes not an encyclopedia but a Menippean satirethat parodies encyclopedic knowledgeldquo

146 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

und weisen zudem meist nicht kleinschrittig auf wie der Interpret zu seiner (oftapodiktisch dargelegten) Ansicht gelangt

Nun folgt daraus noch nicht dass Martianus De nuptiis nicht als kritisierendeSatire konzipiert haumltte die Vielzahl der (wenn auch differierenden) modernenDeutungenweist ja darauf hin Zwei Uumlberlegungenwenn auch keine schlagendenBeweise lassen die Hypothese der parodierenden Satire unwahrscheinlich wer-den der Umfang von De nuptiis und seine Rezeption Eine Satire die beispiels-weise die Verbindung von Weltwissen und menschlicher Vervollkommnung in-frage stellt benoumltigt nicht noch eine umfassende Darlegung eben diesenWissensDies gilt besonders da diese Darlegung den Hauptteil des Werks ausmacht und ndashzumindest dem Umfang nach ndash die uumlbrigen Partien weit uumlberragt Eine Deutungvon De nuptiis als kritischer Satire muumlsste also besonders die Frage beantwortenzu welchem Zweck die umfangreichen Darstellungen der Freien Kuumlnste aufge-nommen sind (und nicht nur angedeutet werden)

Die Rezeption eignet sich zwar ebenfalls nicht zu sicheren Ruumlckschluumlssen aufdie originale Intention eines Werkes haumlufig bietet sie aber interessante EinblickeDie Martianus-Rezeption stellt sich bald ein Cassiodor beruft sich in seinen In-stitutiones auf ihn Dort erscheint Martianus nicht als Satiriker oder Zeitkritikersondern als Gelehrtersup3⁵⁴ In dieser Tradition wird Martianus auch im Mittelaltergelesen und rezipiertsup3⁵⁵

Aumlhnliches laumlsst sich fuumlr Boethiusrsquo Anknuumlpfen an die prosimetrische Form inder Ausgestaltung von Martianus sagen Boethius verfasst zweifelsfrei keine kri-tische Satire kann aber trotzdem an die Form und den Inhalt von De nuptiisproblemlos anknuumlpfen Sowohl der Form nach wie auch durch einzelne Zitatemacht er deutlich dass erDe nuptiis kennt und als eine seiner Vorlagen benutzt Esist zu bezweifeln dass Boethius in seinem Bemuumlhen um eine adaumlquatewerbendeDarstellung der Philosophie auf Form und Zitate des Martianus zuruumlckgegriffenhaumltte haumltte er nicht die Moumlglichkeit der gefahrlosen Uumlbernahme gesehen

Satirische Elemente als Mittel der BelehrungDer dritte Erklaumlrungsansatz fuumlr die Verbindung von Satire und Belehrung be-trachtet die Wahl Saturas als Figur und die Bezugnahme auf die Gattung zunaumlchst

Cassiod inst 2 2 17 Zur mittelalterlichen Martianus-Rezeption vgl bes Nuchelmans 1950 Lutz 1971 und 1976Willis 1973 sowie die Ausgaben und Literatur u a zu folgenden Werken Konrad von MureFabularius Hugo von Sankt Victor Didascalicon de studio legendi Johannes von SalisburyMetalogicon Kindermann kann weiterhin nachweisen dass De nuptiis auch durch seine Forminspirierend gewirkt hat (Kindermann 1969 61 f)

2 De nuptiis als literarisches Werk 147

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

als reine Fortsetzungder literarischen Form Fuumlr diese spezielle Formder Literaturdie menippeische Satire hat der russische Literaturwissenschaftler MichailBachtin Beobachtungen aufgestellt die auch fuumlr De nuptiis zutreffen Durch denRuumlckgriff auf zwei zentrale Konzepte Bachtins das Karnevaleske und die Dialo-gizitaumlt wird ein Verstaumlndnis von De nuptiis ermoumlglicht

Auf der Suche nach Vorlagen und Urformen der Gattung des Romans ins-besondere in der Form von Dostojewskis Romanen stieszlig Bachtin unter anderemauch auf die menippeische Satire die er bis in die Antike zuruumlckverfolgtesup3⁵⁶ Zuihren Vertretern zaumlhlt er unter anderem Varro Apuleius Petron Seneca oderLukiansup3⁵⁷ Martianus Capella wird nicht erwaumlhnt was aber nicht verwundernmuss da Bachtin keine Literaturgeschichte der menippeischen Satire schriebsup3⁵⁸

Kern der Uumlberlegungen Bachtins zurmenippeischen Satire ist das Konzept desKarnevals Unter Karneval versteht er folkloristische Feste waumlhrend deren diebestehende Ordnung verkehrt wird uumlbliche Regeln nicht mehr gelten Herr-schende gestuumlrzt und Machtlose maumlchtig werden ndash auf Zeit Die Karnevalisierungalso die Uumlbernahme der Kennzeichen dieses Festes in neue oder bestehende li-terarische Formen institutionalisiert diese Ausnahmesituation und loumlst sie vomkonkreten Fest Der so entstandene Text wird bdquozum karnevalesken Spiel an demder Autor und sein Publikum einverstaumlndlich teilhaben und das keines kalen-darisch oder institutionell abgesicherten Karnevalsrahmens mehr bedarfldquosup3⁵⁹

Diese Karnevalisierung fuumlhrt unter anderem zu einer Vielstimmigkeit vonMeinungen und Positionen im Text z B durch mehrere Figurenvon denen keinebevorzugt oder gar als autoritativ gekennzeichnet wird In dieser Dialogizitaumlt wirdkein allgemein guumlltiger Sinnmehr vermittelt sondern dieWahrheit suspendiertsup3⁶⁰

Dass der Bezug auf karnevalsartige Feste der Gattung menippeische Satire (inTeilen auch der Verssatire) eignet zeigt ein kurzer Blick auf wichtige Vertreter derTradition

Julians Symposion Caesares spielt zur Zeit der Saturnalien Die Bedeutungdieses Festes fuumlr das Werk wird dadurch verdeutlicht dass es den Handlungs-

Bachtin 1971 126ndash 135 Bachtin 1971 126 128 132f Kritik an den z T pauschalisierenden und verfaumllschenden Aussagen Bachtins uumlber antikeLiteratur oder an der ununterbrochenen Traditionslinie von der Antike bis in die Moderne (z BRelihan 1987 59 Lachmann 2006 23ndash25) muumlsste auch auf manche moderne Literaturwissen-schaftler in der Nachfolge Bachtins angewandt werden (vgl Branham 2005 6 wo es uumlberSenecas Apocolocyntosis heiszligt bdquoour only extant Menippean satire in Latinldquo) Teuber 1993 182 Eine gut verstaumlndliche Einfuumlhrung in das Konzept der Dialogizitaumlt im Sinne der bach-tinschen Terminologie bietet Sharland 2010 Einfuumlhrung (1ndash51)

148 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

rahmen fuumlr den in der Folge erzaumlhlten Mythos bildet Bereits im ersten Satz wirdauf das Fest und die Tradition Heiteres frei zu erzaumlhlen Bezug genommensup3⁶sup1

Auch Senecas Apocolocyntosis stellt einen engen Bezug zum Saturnalienfesther Das Werk spielt zwar nicht an den Saturnalien sondern am Todestag desClaudius im Oktober doch wird an zwei Stellen eine Verbindung zwischen derHerrschaft des verstorbenen Kaisers und den dargestellten Sitten waumlhrend derRegierungszeit mit dem Saturnalienfest gezogensup3⁶sup2 Manche Interpreten gehensogar davon aus dass die Apocolocyntosis an den Saturnalien des Jahres 54vorgetragen wurdesup3⁶sup3 Auch bei Petron und Horaz finden sich Bezugnahmen aufdie Saturnaliensup3⁶⁴

Ein zentrales Element des Saturnalienfestes liegt in der Suspension der uumlb-licherweise geltenden Normen und Wertesup3⁶⁵ Neben den anderen Elementen desFestes wie sie z B in Macrobiusrsquo Saturnalia (1 7ndash 10 1 24 22 f) beschriebenwerden (traditionelle Geschenke Festmahl fuumlr die Sklaven etc) hat gerade dieUmkehrung der Herrschaftsverhaumlltnisse im Haus Niederschlag in der Literaturgefunden

Gerade durch diese Rolleninversion treten einige wichtige gesellschaftlicheNormvorstellungen und Grundannahmen prominent hervor Dazu zaumlhlt das Be-wusstsein dass es eine befehlende und eine ausfuumlhrende Gruppe von Menschengibt oder dass im Prinzip ein Rollenwechsel moumlglich sein kann Alle Beteiligten

Ἐπειδὴ δίδωσιν ὁ θεὸς παίζειν ndash ἔστι γὰρ Κρόνια ndash hellip (sbquoDa der Gott das Scherzen erlaubt ndashes sind ja die Kronia helliplsquo Caes 1 = 306a Spanheim) Zur Frage ob es sich bei Caesares auch umdas Werk handle auf das zu Ende der Rede auf Koumlnig Helios verwiesen wird (Or in Sol reg 44 =157c Spanheim) vgl Muumlller in seiner Uumlbersetzung (39 ablehnend) und Lacombrade im Vorwortseiner Budeacute-Ausgabe (3 und 18 Anm 3) der aufgrund des Handschriftenbefundes Kronia auchals Titelbestandteil fuumlr die Caesares uumlbernimmt Es handelt sich um Sen apocol 8 1 (Claudius als Saturnalienprinz) und 12 2 (Herrschaftdes Claudius als andauerndes Saturnalienfest) ndash Dass Lukian nicht auf die Saturnalien alsRahmen fuumlr seine Werke zuruumlckgreift entwertet die Beobachtungen nicht Lukian musste auf-grund seines Selbstbewusstseins als satirischer Schriftsteller und aufgrund der Menge seinersatirischen Schriften nicht jedes Mal einen eigenen literarischen Rahmen herstellen in demeinzelne Dialoge stattfinden konnten Das Saturnalienfest selbst erscheint bei Lukian als Ge-genstand der Satire nicht als deren literarische Rahmung (Τὰ πρὸς Κρόνον) Zuerst bei Furneaux 1896 23 Anm 11 In der neueren Forschung vgl bes Nauta 1987Kritisch dazu u a Doumlpp 1993 159 f Petron 44 3 58 2 69 9 zu Horaz vgl z B serm 2 7 (libertas Decembris) Ein gelungenesBeispiel der Anpassung und Anwendung der bachtinschen Konzepte mit Ertrag fuumlr die Inter-pretation unter Einbezug von serm 2 7 bietet Sharland 2010 Distelrath 1999 114 Vgl weiterhin Versnel 1993 136ndash227 und Doumlpp 1993 Eine plastischeSchilderung der Rollenvertauschung bei der der Sklave dem Herrn die Leviten liest bietet Horserm 2 7

2 De nuptiis als literarisches Werk 149

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Herren wie Sklaven spielen also mit den Moumlglichkeiten einer alternativen Wirk-lichkeit

Das Besondere im Spiel mit den Moumlglichkeiten liegt aber in seiner zeitlichenBegrenzung Nach der Zeit des Ausnahmezustands gelten wieder die normalenimmer guumlltigen Regeln Die Rolleninversion erlaubt also ndash oder erzwingt gera-dezu ndash das Nachdenken uumlber bestimmte gesellschaftliche Normen und Wertvor-stellungen Durch die Ritualisierung und enge zeitliche Begrenzung ist darausjedoch keineswegs die Notwendigkeit entstanden die Verhaumlltnisse tatsaumlchlich zuhinterfragen oder gar zu aumlndern Daher lassen sich die Saturnalien auch als ein dieKonventionen bestaumlrkendes Fest verstehen Das Spiel mit der Moumlglichkeit eineranderen Gesellschaftsordnung hat durch seine Ritualisierung letztlich eine dieTradition legitimierende Funktion bekommen

In De nuptiis finden sich jedoch houmlchstens spaumlrliche Hinweise auf das Sa-turnalienfest Am ehesten weist das grob scherzende Agieren Saturas in diesenBereich Die bdquolangen Winternaumlchteldquo (1 2) koumlnnten (statt als Bezug auf Gellius) alsAnspielung auf das Saturnalienfest verstandenwerden ndash die Saturnalien finden inden laumlngsten Naumlchten uumlberhaupt statt seit der Kaiserzeit vom 17 bis 23 DezemberDies ndash wie die Spekulation uumlber eine spielerische etymologische Verbindung vonSatura und Saturnaliensup3⁶⁶ ndash ist aber insofern nicht von Belang da die Gattung alsGanze karnevaleske Zuumlge traumlgt und als gewissermaszligen institutionalisierter Kar-neval vom eigentlichen Fest losgeloumlst istsup3⁶⁷

Die Aufhebung der uumlblichen Ordnung (was Teuber im Ruumlckgriff auf Limina-litaumltskonzepte als praumlliminale Phase bezeichnet)sup3⁶⁸ beginnt mit der VorbereitungPhilologias zum Aufstieg in den Himmel Bereits das Erbrechen stellt eine mar-kante Umkehrung der alltaumlglichen Welt dar Statt sich Wissen anzueignen er-bricht Philologia es nun In der Goumltterversammlung auf der Milchstraszlige ist dieOrdnung sodann voumlllig verkehrt Philologia als Meisterin aller Disziplinen und

Zwar sind die einschlaumlgigen etymologischen Woumlrterbuumlcher skeptisch (v a WaldeHof-mann 2007 II 482 neutral ErnoutMeillet 2001 596) jedoch gibt es dahin gehende moderneDeutungen (aufgefuumlhrt bei WaldeHofmann 2007 II 482) und auch antike ParallelisierungenCic nat deor 2 64 Saturnus hellip est appellatus quod saturaretur annis (sbquoSaturn hellip wurde ergenannt weil er an Jahren gesaumlttigt istlsquo) Fulg myth 1 2 (p 17 16) a saturando Saturnus dictusest (sbquoDa er (die Menschen) saumlttigt wurde er Saturn genanntlsquo) Aug cons euang 1 23 35 Sa-turnus tamquam satur hellip νοῦς (sbquoSaturn gleichsam der gesaumlttigte hellip νοῦςlsquo) Vgl auch Gowers diedie etymologischen Verbindungen von satura Satyrspiel und Saturnalien untersucht (Gowers1993 109ndash 117) Sie kommt zu dem Befund dass keine Verbindung bestehe wohl aber verbin-dende Elemente identifiziert werden koumlnnten bdquocarnival licence parody uninhibited mockeryand excessive consumptionldquo (ibid 117) Vgl z B Teuber 1993 183 f Teuber 1993 183

150 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

bedeutende Lehrinstanz muss sich ihrerseits belehren lassen ndash mit dem Wissendas urspruumlnglich ihres war

Durch die Inversion wird die (vielleicht uumlblicherweise nicht prominente)Philologia in den Mittelpunkt geruumlckt und ihre zentrale Rolle im Wissenssystemtritt markant vor Augen Gleichzeitig kann darin eine leise Anfrage an ihre Lehr-autoritaumlt und eventuell auch ihre Eignung zur Lehre gesehen werden

Aufgrund des zeitlich begrenzten Rahmens der Verkehrung (diemit dem Endeder Vortraumlge voruumlber ist aber nicht explizit zuruumlckverwandelt wird) dessen Be-grenztheit durch Bezug auf die Form der menippeischen Satire ergaumlnzt werdenkann wird das System der Bildung und der Bildungsvermittlung jedoch nichtgrundsaumltzlich infrage gestellt Die Suspendierung Philologias ist temporaumlr

Dem Konzept der Dialogizitaumlt oder Mehrstimmigkeit folgend erklaumlrt sich auchdie Doppelung und Verunklarung der Erzaumlhlinstanz In den drei Dialogen indenen Satura und Martianus aufeinandertreffen behandeln sie die Frage desrichtigen Erzaumlhlens Dies beschraumlnkt sich nicht nur auf die Satire sondern umfasstalle auftretenden literarischen Formen Martianus und Satura sind sich uneinswie weit der Mythos reichen soll und ob eine Enzyklopaumldie trocken oder auchunterhaltsam erzaumlhlt werden soll (2 219ndash3 222) ob ein Symposion auch Zechenund Spaszlig vertraumlgt (8 803ndash810) oder ob und wie stark Satire Dinge vermischendarf (9 997ndash 1000)

Die unterschiedlichen Meinungen zu den Fragen werden zwar diskutiert undfuumlhren zu einem Ergebnis ndash der Erzaumlhlfluss versiegt ja an keiner Stelle oder setztneu an Allerdings entsteht in der Folge kein homogenes Werk und am Schlussmag keiner der beiden Erzaumlhler dafuumlr die Verantwortung uumlbernehmen Der Wi-derwillen sich zu dem Werk zu bekennen bedeutet aber gleichzeitig auch dassMartianus sich nicht festlegt welche Position er fuumlr die richtige haumllt Die Fragenach der rechten Art der Wissensvermittlung die auch in der Ent- und Inthroni-sierung Philologias anklang bleibt unbeantwortet

Schlieszliglich bringt der Blick auf die Aurelian-Vita aus der Historia Augustanoch einen weiteren Aspekt ein Parallel zur Aufteilung der Erzaumlhlinstanzen in Denuptiiswird der Erzaumlhlprozess in derHistoria Augusta aufmehrere AutorenverteiltWie zuerst Hermann Dessau und in der Folge Ronald Syme nachdruumlcklich gezeigthaben handelt es sich allerdings um nur einen Verfasser der uumlberdies auch inBezug auf die Abfassungszeit falsche Angaben gemacht hat und Quellen erfundenhatsup3⁶⁹ Insofern laumlsst sich der in der Historia Augusta gepraumlgte Begriff der

Auf den Charakter der Sammlung die Syme u a als bdquohoaxldquo bezeichnet (1983a 11 1983b13 1983c 219) die fingierten Autoren die manipulierten Quellen etc soll an dieser Stelle nurhingewiesen werden Vgl auch Cameron 2011 Kap 20 mit ausfuumlhrlicher Diskussion relevanterFragen

2 De nuptiis als literarisches Werk 151

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mythistoria der Vermischung von Mythischem und Historischem auch auf dieSammlung selbst anwendensup3⁷⁰

Als Menippee im engeren Sinne laumlsst sich weiterhin die Aurelian-Vita die 26Vita der Sammlung fassen und bezeichnenderweise spielt die Rahmenhandlungan denHilariasup3⁷sup1Wie zu den Saturnalien gehoumlren zu diesem Fest Scherze und ndash imRahmen von Maskierungen ndash Rollenwechselsup3⁷sup2

Noch in der rahmenden Einleitung zur Vita spielt sich folgender Dialog ab

1 et quoniam sermo nobis de Trebltellgtio Pollione qui a duobus Philippis usque ad divumClaudium et eius fratrem Quintillum imperatores tam claros quam obscuros memoriaeprodidit in eodem vehiculo fuit adserente Tiberiano quod Pollio multa incuriose multabreviter prodidisset me contra dicente neminem scriptorum quantum ad historiam pertinetnon aliquid esse mentitum prodente quin etiam in quo Livius in quo Sallustius in quoCornelius Tacitus in quo denique Trogus manifestis testibus convincerentur pedibus insententiam transitum faciens ac manum porrigens iocando[m] praeterea sbquoscribelsquo inquit sbquout

quae ille [scil Iunius Cordus] omnia exsequendo libros mythistoriis replevit talia scribendocum omnino rerum vilium aut nulla scribenda sint aut nimis pauca si tamen ex his morespossint animadverti qui re vera sciendi sunt hellip sed ex parte ut ex ea cetera colligantur(SHA Opil 1 5)

Bei der Anfuumlhrung von all diesen Informationen hat er die Buumlcher mit fabuloumlsen Ge-schichten angefuumlllt indem er Dinge von dieser Art schrieb wo doch uumlberhaupt keinenutzlosen Dinge geschrieben werden duumlrfen oder nur sehr wenige sofern daraus Verhal-tensweisen erkannt werden koumlnnen die wirklich wissenswert sind hellip aber zum Teil(schreibe ich) damit daraus das Andere gefolgert werden kann

quid Marius Maximus homo omnium verbosissimus qui et mythist[h]oricis se voluminibusinplicavit num ad istam descriptionem curamque descendit (SHA Quadr tyr 1 2)

Wie Hat sich Marius Maximus der groumlszligte Schwaumltzer vor dem Herrn der sich in seinenmythistorischen Werken verfangen hat etwa zu dieser Art der Darstellung und des sorg-faumlltigen Arbeitens herabgelassen

Hilaribus quibus omnia festa et fieri debere scimus et dici impletis sollemnibus vehiculo suome hellip Iunius Tiberianus accepit (SHA Aurelian 1 1)

An den Hilaria an denen alles zum Fest Gehoumlrende getan und gesagt werden muss wieman weiszlig empfing mich nach Erledigung der Zeremonien Iunius Tiberianus in seinemGefaumlhrt

Pausch bemerkt dieses besondere Datum zwar und erwaumlgt ob es sich um ein bdquoweitergehendesLesesignalldquo beispielsweise im Sinne karnevalesker Literatur handeln koumlnne verfolgt diese Spuraber nicht weiter (Pausch 2011 130 Anm 1) Herodian 1 10 5 ndash Einige Hinweise auf die Hilaria die im Kontext des Magna Mater-Festesam 25 Maumlrz gefeiert wurden bietet Fraser in seinem Kommentar zu Ovids Fasti (Fraser 1929244ndash248)

152 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

libet 2 securus quod velis dices habiturus mendaciorum comites quos historicae elo-quentiae miramur auctoreslsquo (SHA Aurelian 2 1ndash2)

1 Und weil unser Gespraumlch uumlber Trebellius Pollio der von den beiden Philippi bis zumvergoumlttlichten Claudius und dessen Bruder Quintillus gleichermaszligen uumlber beruumlhmte wieunbekannte Kaiser fuumlr die Nachwelt schrieb in derselben Saumlnfte stattfand behauptete erdass Pollio vieles ohne Sorgfalt und nur kurz dargelegt habe Ich erwiderte dass keinSchriftsteller sofern es um die Geschichte gehe nicht irgendwo gelogen habe und legtesodann dar worin sogar Livius Sallust Tacitus schlieszliglich sogar Trogus mit eindeutigenBelegen uumlberfuumlhrt werden koumlnnten Darauf sagte Tiberianus schlieszliglich scherzend indem ermeiner Meinung beipflichtete und mir seine Hand darbot bdquoSchreibe sowie du es fuumlr richtighaumlltst 2 Sage unbesorgt was du willst du wirst diejenigen als Gefaumlhrten fuumlr deine Taumlu-schungen haben die wir als Schoumlpfer historiographischer Beredsamkeit bewundernldquo

So sympathisch dieser Anspruch auch erscheinen mag ist er doch fuumlr das Ver-trauen in die Gattung der Geschichtsschreibung fatal Gerade in der Einleitungeiner Vita jedoch ndash zumal es der Fiktion nach die erste des Flavius Vopiscus Sy-racusius im Corpus der Historia Augusta ist ndash kann eine solche Anekdote ei-gentlich keinen Platz haben Sie erweckt beim Leser den Eindruck dass er dennachfolgend dargebotenen Informationen kein Vertrauen schenken duumlrfesup3⁷sup3

Die Parallelen zwischen der Historia Augusta insbesondere dem Vorgehen inder Vita Aureliani und De nuptiis liegen auf der Hand Verunklarung der Autor-schaft bzw der Erzaumlhlhaltung einerseits Erwecken von Zweifeln an der Glaub-wuumlrdigkeit des Dargebotenen andererseits

In der Historia Augusta sind die Inkongruenzen mit der Freude des Autors amliterarischen Spiel erklaumlrt worden Der Autor habe aus Freude am Fabulieren(vielleicht auchumein dafuumlr empfaumlngliches Publikum zu befriedigen) die Viten indieser Form verfasstsup3⁷⁴ Mag man dies fuumlr die Historia Augusta noch zugestehenderen Text uumlber einen laumlngeren Zeitraum vielleicht zunaumlchst ohne eine Gesamt-konzeption entstanden ist und auch sprachlich nicht herausragt stellt sich derSachverhalt fuumlr Martianusrsquo De nuptiis anders dar Das Werk hat durchaus einenliterarischen Anspruch und es folgt eindeutig einer vorab geplanten Gesamtan-lage Die Freude am Spiel mag vielleicht manches Detail beigesteuert haben fuumlrdie verschraumlnkte Anlage des Textes ist sie aber keine Erklaumlrung

Ganz anders ist der Anspruch zum Ende der Darstellung der Viten der bdquoDreiszligig Tyrannenldquoin dem der Autor beteuert seinem Werk mangele es zwar an literarischer Ausgefeiltheit nichtjedoch an Faktentreue da nunc cuivis libellum non tam diserte quam fideliter scriptum ndash sbquoGibnun dieses Buumlchleinwem du magst es ist nicht so sehr kunstvoll geschrieben wie es sachgetreuistlsquo (SHA Quadr tyr 33 8) Syme nennt dies bdquodeceit for its own sweet sakeldquo (1983c 217) Im gleichen Aufsatz spe-kuliert er auch uumlber das Interesse des Publikums an einer solchen Art von geistigem Spiel(ibid 221)

2 De nuptiis als literarisches Werk 153

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Es lohnt sich jedoch auch fuumlr die Historia Augusta einen Schritt weiter zugehen Ausgangspunkt dafuumlr ist die obige Beobachtungdass das literarische Spielder Historia Augusta nur durchschaut wer die Werke der historischen Literaturkennt Durch die Lektuumlre historiographischer Biographien bringt der Leser einebestimmte Leseerwartung also implizite Vorstellungen mit wie das Werk aus-sehen soll und wird Diese Erwartungen werden aber nicht oder nur teilweisebedient Formal gesehen weisen die Viten in der Historia Augusta zwar die Cha-rakteristika der Gattung auf ndash doch indem sie sie inhaltlich nicht adaumlquat aus-fuumlllen treten deren Konventionen vor Augen

Durch die uumlbermaumlszligige Verwendung falscher Verweise und erfundener Quel-len geraumlt zudem das Beglaubigungsverfahren historischer Texte in den Blick-punkt Der Leser erkennt anwelchen Stellenwelche Beglaubigungsmechanismenansetzen und auf welche Weise sie unterlaufen werden koumlnnen Uumlberspitzt lieszligesich behaupten DieHistoria Augusta verfolgt ein aufklaumlrerisches Interesse indemsie (spielerisch) aufzeigt welche Beglaubigungsverfahren die Geschichtsschrei-bung nutzt und wie sie manipuliert werden koumlnnen dadurch wird auch die Ma-nipulierbarkeit von Geschichte und Leser deutlich

In De nuptiis werden ebenfalls die Konventionen der Einzelgattungen ndash zu-mindest ansatzweise ndash hervorgehoben Dass kein perfektes Musterbeispiel derjeweiligen Einzelgattung entstehen kann liegt darin begruumlndet dass durch dieVerbindung der vier literarischen Genres keine oberflaumlchliche Konsistenz derFiktion entstehen kannVielmehr entstehen Bruumlche die ndash ebenso wie die Bruumlchein der Erzaumlhlhaltung ndash auch die Gattungskonventionen und ihre Annahmendeutlich werden lassen Dies gilt besonders fuumlr die Satire deren Vorgehen imKontrast zur eigentlichen Hochzeitshandlung aus dem Rahmen faumlllt und somitbesonderes Augenmerk erhaumllt Hinzu tritt mit der Figur Satura auch eine Perso-nifikation der Gattung die in theoretischen Diskussionen Annahmen und Vor-gehen mit Martianus eroumlrtert Grunduumlberlegungen der Gattung Satire werden sotheoretisch eroumlrtert und praktisch erprobt Gleiches giltwenn auch zT inwenigerdeutlicher Form auch fuumlr die anderen Formen Die Enzyklopaumldie in ihren langenMonologen wird durch Spott markiert die trockenen Kuumlnste werden probeweisedurch Allegorien zugaumlnglicher gemacht im Symposiondialog wird uumlberlegt in-wieweit uumlbliche Rollenmuster (der Zecher) einen Platz haben oder wie weit mandie fuumlr die Feier typischen Reden fuumlhren kann und immythischen Teil wird durchdie Gegenuumlberstellung mit dem handfesten Wissensbetrieb die Andersartigkeitdes Erzaumlhlens deutlich

So werden neben den Inhalten der Wissenschaften auch verschiedene lite-rarische Formen bewahrt Neben der reinen Anwendung und somit Tradierungwerden gleichzeitig auch die Mechanismen verdeutlicht deren sich die jeweilige

154 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Gattung bedient Somit wird ihr Funktionieren nachvollziehbar und in der Folgeauch nachahmbar

3 Zusammenfassung

Martianus weckt also durch die Wahl mehrerer gleichberechtigter Erzaumlhler diesomit das Erzaumlhlen unzuverlaumlssig werden lassen besonders aber durch dieUumlbernahme satirischer Gattungselemente ein Bewusstsein fuumlr die traditionellenGrundlagen desWissens- und Lehrsystems seiner Zeit ImGegensatz zur Satire diediese Fragen kategorisch stellt handelt es sich in De nuptiis um ein Spiel damitDer Satirebezug dient als Anknuumlpfung an die traditionellen Gattungsmerkmaleder menippeischen Satire Karnevaleske und Dialogizitaumlt

Durch die (temporaumlre) Rolleninversion richtet sich das Augenmerk aufPhilologia als Wissenszentrum und Wissensmittlerin und fordert zum Nach-denken daruumlber heraus Im Kern hinterfragt das Werk alle Bereiche die mit Bil-dung und Bildungsvermittlung zu tun haben Was sind die Inhalte wahrer Bil-dung Gibt es eine Einheit von Bildung Wie kann sie vermittelt werden

Allerdings zielt die Kritik nicht auf eine Aufloumlsung klassischer Bildungsinhalteund Vermittlungsformen Sie regt vielmehr durch Scherz und Bruumlche zumNachdenken uumlber diese Fragen an Dabei verzichtet Martianus auf eigene Vor-schlaumlge und Konzepte und festigt so gleichsam den traditionellen Bildungs-betrieb Das von ihm dargestellte Wissen wird kanonisiert und die Darstel-lungsform in langen Reden wird es auch Die mittelalterliche Rezeption von Denuptiis zeigt dies eindrucksvoll

Wissen umfasst dabei nicht nur das Faktenwissen der Vortraumlge sondern auchdas Wissen um bestimmte literarische Formen Durch die Verbindung von vierGattungen und die Doppelung der Erzaumlhlerfigur mit Reflexion uumlber angemessenesErzaumlhlen entstehen Inkonsistenzen die die Konventionen der einzelnen Gattun-gen hervortreten lassen Nicht alle Elementewerden auf dieseWeise deutlich aberMartianus bietet einen Ansatzpunkt die Fiktion auch unter der Fragestellung zulesen was einen Text der jeweiligen Gattung ausmacht ndash sowohl positiv wie ne-gativ formuliert

Mit seiner kreativen Konzeption und ihrer literarischen Umsetzung gelingt esMartianus eindrucksvoll Heiteres und Belehrendes zu verbindenwomit er an dieTradition Varros und die klassische antike Poetik anknuumlpft Es gelingt ihm daruumlberhinaus aber auchWissen zu vermitteln und die traditionellen Vorstellungen vonder Bedeutung dieses Wissens wie der Form seiner Vermittlung herauszustellenSpielerisch wird also gelehrt und hinterfragt nicht jedoch kategorisch kritisiertoder kuumlhn neu entworfen Gerade dadurch zeichnet sich Martianusrsquo De nuptiis

3 Zusammenfassung 155

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

tatsaumlchlich als nescioquid inopinum intactumque (sbquoetwas Ungewohntes und nochnie Gewagteslsquo 1 2) aus und macht es zu einem der bedeutendsten Buumlcher derSpaumltantike und zu einer interessanten Quelle fuumlr die Frage nach Bildungsvor-stellungen im fuumlnften Jahrhundert

156 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Page 31: Bildungsvorstellungen im 5. Jahrhundert n. Chr. (Macrobius, Martianus Capella und Sidonius Apollinaris) || III Martianus Capella, De nuptiis Philologiae et Mercurii

einen literarischen und belehrenden Zweck zugleich Aufgrund der komplexenSachlage und der unmittelbaren Bedeutung der Beantwortung der Frage nachdieser Verbindung fuumlr das Gesamtverstaumlndnis von De nuptiis werden alle Alter-nativen vorgestellt und bewertet

Rein formale Verbindung von Satire und EnzyklopaumldieEventuell laumlsst sich die Mischung aus enzyklopaumldischen und satirischen Ele-menten (mit den zur Satire gehoumlrigen Verspartien) als Sonderform der Varro-Re-zeption bei Martianus auffassenVarro von Reate verfasste sowohl umfangreicheFachliteratur als auch menippeische Satiren Fuumlr beides war er in der Antikebekannt und beruumlhmt ndash doch ist es wahrscheinlich dass Martianus die Werkebereits nicht mehr ndash oder allenfalls nur in Auszuumlgen ndash vorliegen hattesup3⁴⁶ Aus demWissen um die beiden Schaffensbereiche des republikanischen Autors die beideder Unterweisung dienen solltensup3⁴⁷ koumlnnte Martianus auf den Gedanken verfallensein die literarischen Formen und Inhalte in seinem Werk zu verbindensup3⁴⁸Vielleicht saszlig er auch einemMissverstaumlndnis auf indem ermeinte dass Varro seinsatirisches wie enzyklopaumldisches Koumlnnen in nur einem Werk demonstriert habeDies hieszlige jedoch dass Martianus sich der Problematik dieser Verbindung nicht

So aumluszligert sich beispielsweise Kindermann in den Vorstudien seiner Ausgabe der Conso-latio des Laurentius von Durham Er billigt Martianus nur eine sekundaumlre Varro-Kenntnis zu(Kindermann 1969 60) Entschieden verneint wird die Frage von Schievenin (2009f) und Hadotdie vor allem neuplatonische Quellen vermutet (Hadot 2005 149) Schneider jedoch nimmt andass sowohl Augustin als auch Martianus die Disciplinae noch vorliegen hatten (Schneider 1999109 f) und dass die Satiren-Exzerpte des Nonius Marcellus (fl um 400 in Afrika) ebenfalls ausdem Originaltext Varros angefertigt wurden (ibid 96 Anm 12) Abwaumlgend aumluszligert sich Huumlbner2004 passim Vgl Cic ac 1 8 (es spricht Varro)

et tamen in illis veteribus nostris quae Menippum imitati non interpretati quadam hilaritateconspersimus multa admixta ex intima philosophia multa dicta dialectice quae quo faciliusminus docti intellegerent iucunditate quadam ad legendum invitati

Jedoch findet sich in meinen fruumlhen Schriften die ich in kreativer Nachfolge (und nicht nurUumlbersetzung) Menipps mit einer gewissen Heiterkeit benetzt habe vieles aus den Kernbe-reichen der Philosophie beigemengt und vieles das nach Art der Dialektiker gesagt istdamit die weniger Gelehrten es leichter verstuumlnden nachdem sie durch eine Art von Scherzzur Lektuumlre ermuntert worden sind

Vielleicht hatte Martianus diese Stelle sogar im Kopf als er die Anlage von De nuptiis plante So z BWeinreich in der Einleitung zu seiner Uumlbersetzung roumlmischer Satiren bdquoMartianusCapella glaubte gewiszlig ein Varro redivivus zu sein sozusagen die Quintessenz des Gelehrten unddes Satirikersldquo (Weinreich 1962 XCIII) Ebenso Shanzer 1986c 42

144 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

bewusst gewesen sei ndash was ihm sicher nicht gerecht wird Auszligerdem wird so dieBezugnahme auf weitere formale Elemente der menippeischen Tradition und dieuumlbrigen Vorlaumlufer der Gattung mit anderer Konzeption (Lukian Julian) nichtausreichend beruumlcksichtigt

Ebenfalls beim Autor koumlnnte eine zweite Erklaumlrung ansetzen Im Zuge derAbfassung seiner Enzyklopaumldie hat sichMartianus nach horazischer Vorgabe (unddem Beispiel Varros)sup3⁴⁹ um Auflockerung und heitere Elemente bemuumlht Diespontanen Einfaumllle wurden ins Werk integriert und die sich daraus ergebendenInkonsistenzen entweder uumlbersehen oder billigend in Kauf genommen Beideswuumlrde gut zum klassisch negativen Martian-Bild in der Forschung passensup3⁵⁰Abgesehen davon dass Annahmen uumlber das Vorgehen beim Schreiben weitge-hend auf Spekulation beruhensup3⁵sup1 widersprechen drei Beobachtungen dieser Er-klaumlrung Erstens gelingt es Martianus De nuptiis uumlber neun Buumlcher vorauszu-planen so dass am Ende ein ndash zunaumlchst abgesehen von der Satire-Problematik ndashkohaumlrentes Werk entsteht Die Fuumllle der behandelten Themen Motive und lite-rarischen Elemente weist eher auf ein planvolles Arbeiten hin und macht es un-wahrscheinlich dass Martianus Probleme an dieser Stelle nicht wahrgenommenbzw nicht korrigiert haumltte Zweitens ist die Verbindungvon Satire und den anderenElementen nicht nur oberflaumlchlich so dass sie nachtraumlglich eingefuumlgt sein koumlnnteoder sich im Schreibprozess so ergeben haben koumlnnte Da bereits im zweitenKapitel des ersten Buches Satura eingefuumlhrt wirdwar sie von vornherein Teil des

Gemeint ist das beruumlhmte zunaumlchst nur fuumlr die Dichtung relevante prodesse aut delectare(Hor ars 333 f) zu Varro vgl die schon angefuumlhrte Stelle aus Cic ac Vgl z B die sehr bildliche Beschreibung von C S Lewis bdquo[hellip] this universe which hasproduced the bee-orchid and the giraffe has produced nothing stranger than Martianus Capella[hellip] the curiosity shop of his mind [hellip] a chaos beside which the work of Rabelais has unity andthat of Mandeville probabilityldquo (Lewis 1936 78 f) Gleiches gilt fuumlr Spekulationen uumlber eine andere Auffassung von Literatur und ihrenRegeln in Martianusrsquo Zeit oder Umfeld Einerseits kennen wir keine Texte die sich mit De nuptiisvergleichen lieszligen (was per se nichts beweist aber doch Indiziencharakter hat) andererseitshielten sich auch die spaumltantiken Autoren uumlblicherweise an die klassischen Vorgaben Ich teiledaher auch Schneiders Ansicht nicht der die Skepsis an dieser Verbindung allein der modernenLeseerfahrung zuschreibt bdquoWenn den Heutigen diese Kombination der forcierten Gelehrsamkeiteines Curriculums und der spielerisch-saloppen Causerie seltsam beruumlhren mag so waumlre dazuimmerhin schon an ein ciceronisches Dictum zu erinnern non est enim seiunctus iocus a phi-lologia (ad fam 16214) ndash sbquoSpieltrieb und Pedanterie diktieren und widersprechen sich nichtlsquo(sbquoErste Fruumlhschichtlsquo aus Grassrsquo sbquoHundejahrelsquo)ldquo (Schneider 1999 94 Anm 2) Der Verweis aufCicero traumlgt nichts zum Verstaumlndnis von Martianus bei Cicero geht es an der zitierten Stelle umden Ablauf des Tages mit seinem Schuumller der aus ernsteren und heitereren Abschnitten bestehtDaraus folgt nicht dass das Lernen mit Scherz verbunden ist ndash auszligerdem duumlrfte Cicero unteriocus (sbquo[urbaner] Scherzlsquo) anderes verstanden haben als Martianus in seiner Satura bietet

2 De nuptiis als literarisches Werk 145

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Kompositionsplans Drittens hat Schievenin gezeigt dass Martianus keineswegsoberflaumlchlich und eigenwillig arbeitet Durch eine gruumlndliche Untersuchung derSilen-Passage (8 803ndash805) kann er nachweisen dass Martianus ndash wie vieleAutoren vor ihm ndash uumlber ein umfangreiches literarisches Wissen verfuumlgte daraufbei der Abfassung seines Werkes zugreifen konnte und durch gezielte Anspie-lungen neue Bezuumlge herstelltesup3⁵sup2

Satire als Mittel der KritikWaumlhrend die antike Satire (im Gegensatz zur modernen) nicht zwangslaumlufig Kritikan Missstaumlnden uumlben wollte ist diese Moumlglichkeit umgekehrt auch nicht auszu-schlieszligen Martianus koumlnnte also bewusst eine solide Darstellung der Kuumlnste inliterarischem Gewandmit der Gattung der Satire verbunden haben um Zweifel ander Ernsthaftigkeit der uumlbrigen Teile des Werkes zu wecken Er wuumlrde somit einaufklaumlrerisches Interesse verfolgen das zugleich auch unterhaltsame Zuumlge traumlgt

Eine erste Schwierigkeit dieser Lesart von De nuptiis ergibt sich bereits bei derFrage nach dem Objekt der SatireWerden die Wissensinhalte in Zweifel gezogenoder nur die Art ihrer Vermittlung in langen Reden bzwTraktaten Soll der Glaubean die umfassende Einheit des Wissens kritisiert werden oder die Vorstellungsaumlmtliches Wissen lasse sich vermitteln gar kohaumlrent in einem Werksup3⁵sup3 Ist dieVorstellung dass Wissen goumlttlich mache parodiert oder nur die abwegige Vor-stellung dass auf einer Hochzeit solche Reden gehalten werden Oder richtet sichdie Kritik letztlich gegen die Auffassung Philologia als Vorbild zu sehen oder garals Mittlerin alles Wissens ja sogar als Mittlerin zwischen Menschen und Goumlttern

Aus der Tatsache dass das Objekt der Satire keineswegs leicht zu bestimmenist kann nicht gefolgert werden dass in De nuptiis keine Satire vorliege die be-stimmte Sachverhalte kritisiere Aber es kann durchaus gefolgert werden dass eskeine expliziten textinternen Merkmale gibt die das Lesen steuern und den Ge-genstand der Kritik deutlich hervortreten lassen Die Deutungen gehen also vonmodernen Annahmen uumlber das Umfeld bzw die Gedankenwelt von Martianus aus

Im Kern handle es sich um bdquouna narrazione tersa e brillanteldquo verbunden mit einemDickicht an Verweisen Die Silen-Szene habe einen bdquocarattere colto e della dottrina e dellalingualdquo (Schievenin 1984 132) Das Fazit seiner Untersuchung formuliert Schievenin folgen-dermaszligen bdquoIl De nuptiis si rivela dunque opera di vasti orizzonti non solo per lrsquointento dida-scalico che la pervade e che ne determineragrave la fortuna ma anche per la costante presenza nellafabula della tradizione classica e dei suoi echildquo (ibid 136) Vgl zu dieser Stelle auch Bovey2003 275ndash288 ndash Den geschickten Umgang mit mehreren Quellen ndash erzaumlhlerisch wie seman-tisch ndash kann Schievenin auch fuumlr 7 725ndash727 nachweisen (Schievenin 2009e) So z B Relihan 1993 138 bdquoMartianus writes not an encyclopedia but a Menippean satirethat parodies encyclopedic knowledgeldquo

146 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

und weisen zudem meist nicht kleinschrittig auf wie der Interpret zu seiner (oftapodiktisch dargelegten) Ansicht gelangt

Nun folgt daraus noch nicht dass Martianus De nuptiis nicht als kritisierendeSatire konzipiert haumltte die Vielzahl der (wenn auch differierenden) modernenDeutungenweist ja darauf hin Zwei Uumlberlegungenwenn auch keine schlagendenBeweise lassen die Hypothese der parodierenden Satire unwahrscheinlich wer-den der Umfang von De nuptiis und seine Rezeption Eine Satire die beispiels-weise die Verbindung von Weltwissen und menschlicher Vervollkommnung in-frage stellt benoumltigt nicht noch eine umfassende Darlegung eben diesenWissensDies gilt besonders da diese Darlegung den Hauptteil des Werks ausmacht und ndashzumindest dem Umfang nach ndash die uumlbrigen Partien weit uumlberragt Eine Deutungvon De nuptiis als kritischer Satire muumlsste also besonders die Frage beantwortenzu welchem Zweck die umfangreichen Darstellungen der Freien Kuumlnste aufge-nommen sind (und nicht nur angedeutet werden)

Die Rezeption eignet sich zwar ebenfalls nicht zu sicheren Ruumlckschluumlssen aufdie originale Intention eines Werkes haumlufig bietet sie aber interessante EinblickeDie Martianus-Rezeption stellt sich bald ein Cassiodor beruft sich in seinen In-stitutiones auf ihn Dort erscheint Martianus nicht als Satiriker oder Zeitkritikersondern als Gelehrtersup3⁵⁴ In dieser Tradition wird Martianus auch im Mittelaltergelesen und rezipiertsup3⁵⁵

Aumlhnliches laumlsst sich fuumlr Boethiusrsquo Anknuumlpfen an die prosimetrische Form inder Ausgestaltung von Martianus sagen Boethius verfasst zweifelsfrei keine kri-tische Satire kann aber trotzdem an die Form und den Inhalt von De nuptiisproblemlos anknuumlpfen Sowohl der Form nach wie auch durch einzelne Zitatemacht er deutlich dass erDe nuptiis kennt und als eine seiner Vorlagen benutzt Esist zu bezweifeln dass Boethius in seinem Bemuumlhen um eine adaumlquatewerbendeDarstellung der Philosophie auf Form und Zitate des Martianus zuruumlckgegriffenhaumltte haumltte er nicht die Moumlglichkeit der gefahrlosen Uumlbernahme gesehen

Satirische Elemente als Mittel der BelehrungDer dritte Erklaumlrungsansatz fuumlr die Verbindung von Satire und Belehrung be-trachtet die Wahl Saturas als Figur und die Bezugnahme auf die Gattung zunaumlchst

Cassiod inst 2 2 17 Zur mittelalterlichen Martianus-Rezeption vgl bes Nuchelmans 1950 Lutz 1971 und 1976Willis 1973 sowie die Ausgaben und Literatur u a zu folgenden Werken Konrad von MureFabularius Hugo von Sankt Victor Didascalicon de studio legendi Johannes von SalisburyMetalogicon Kindermann kann weiterhin nachweisen dass De nuptiis auch durch seine Forminspirierend gewirkt hat (Kindermann 1969 61 f)

2 De nuptiis als literarisches Werk 147

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

als reine Fortsetzungder literarischen Form Fuumlr diese spezielle Formder Literaturdie menippeische Satire hat der russische Literaturwissenschaftler MichailBachtin Beobachtungen aufgestellt die auch fuumlr De nuptiis zutreffen Durch denRuumlckgriff auf zwei zentrale Konzepte Bachtins das Karnevaleske und die Dialo-gizitaumlt wird ein Verstaumlndnis von De nuptiis ermoumlglicht

Auf der Suche nach Vorlagen und Urformen der Gattung des Romans ins-besondere in der Form von Dostojewskis Romanen stieszlig Bachtin unter anderemauch auf die menippeische Satire die er bis in die Antike zuruumlckverfolgtesup3⁵⁶ Zuihren Vertretern zaumlhlt er unter anderem Varro Apuleius Petron Seneca oderLukiansup3⁵⁷ Martianus Capella wird nicht erwaumlhnt was aber nicht verwundernmuss da Bachtin keine Literaturgeschichte der menippeischen Satire schriebsup3⁵⁸

Kern der Uumlberlegungen Bachtins zurmenippeischen Satire ist das Konzept desKarnevals Unter Karneval versteht er folkloristische Feste waumlhrend deren diebestehende Ordnung verkehrt wird uumlbliche Regeln nicht mehr gelten Herr-schende gestuumlrzt und Machtlose maumlchtig werden ndash auf Zeit Die Karnevalisierungalso die Uumlbernahme der Kennzeichen dieses Festes in neue oder bestehende li-terarische Formen institutionalisiert diese Ausnahmesituation und loumlst sie vomkonkreten Fest Der so entstandene Text wird bdquozum karnevalesken Spiel an demder Autor und sein Publikum einverstaumlndlich teilhaben und das keines kalen-darisch oder institutionell abgesicherten Karnevalsrahmens mehr bedarfldquosup3⁵⁹

Diese Karnevalisierung fuumlhrt unter anderem zu einer Vielstimmigkeit vonMeinungen und Positionen im Text z B durch mehrere Figurenvon denen keinebevorzugt oder gar als autoritativ gekennzeichnet wird In dieser Dialogizitaumlt wirdkein allgemein guumlltiger Sinnmehr vermittelt sondern dieWahrheit suspendiertsup3⁶⁰

Dass der Bezug auf karnevalsartige Feste der Gattung menippeische Satire (inTeilen auch der Verssatire) eignet zeigt ein kurzer Blick auf wichtige Vertreter derTradition

Julians Symposion Caesares spielt zur Zeit der Saturnalien Die Bedeutungdieses Festes fuumlr das Werk wird dadurch verdeutlicht dass es den Handlungs-

Bachtin 1971 126ndash 135 Bachtin 1971 126 128 132f Kritik an den z T pauschalisierenden und verfaumllschenden Aussagen Bachtins uumlber antikeLiteratur oder an der ununterbrochenen Traditionslinie von der Antike bis in die Moderne (z BRelihan 1987 59 Lachmann 2006 23ndash25) muumlsste auch auf manche moderne Literaturwissen-schaftler in der Nachfolge Bachtins angewandt werden (vgl Branham 2005 6 wo es uumlberSenecas Apocolocyntosis heiszligt bdquoour only extant Menippean satire in Latinldquo) Teuber 1993 182 Eine gut verstaumlndliche Einfuumlhrung in das Konzept der Dialogizitaumlt im Sinne der bach-tinschen Terminologie bietet Sharland 2010 Einfuumlhrung (1ndash51)

148 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

rahmen fuumlr den in der Folge erzaumlhlten Mythos bildet Bereits im ersten Satz wirdauf das Fest und die Tradition Heiteres frei zu erzaumlhlen Bezug genommensup3⁶sup1

Auch Senecas Apocolocyntosis stellt einen engen Bezug zum Saturnalienfesther Das Werk spielt zwar nicht an den Saturnalien sondern am Todestag desClaudius im Oktober doch wird an zwei Stellen eine Verbindung zwischen derHerrschaft des verstorbenen Kaisers und den dargestellten Sitten waumlhrend derRegierungszeit mit dem Saturnalienfest gezogensup3⁶sup2 Manche Interpreten gehensogar davon aus dass die Apocolocyntosis an den Saturnalien des Jahres 54vorgetragen wurdesup3⁶sup3 Auch bei Petron und Horaz finden sich Bezugnahmen aufdie Saturnaliensup3⁶⁴

Ein zentrales Element des Saturnalienfestes liegt in der Suspension der uumlb-licherweise geltenden Normen und Wertesup3⁶⁵ Neben den anderen Elementen desFestes wie sie z B in Macrobiusrsquo Saturnalia (1 7ndash 10 1 24 22 f) beschriebenwerden (traditionelle Geschenke Festmahl fuumlr die Sklaven etc) hat gerade dieUmkehrung der Herrschaftsverhaumlltnisse im Haus Niederschlag in der Literaturgefunden

Gerade durch diese Rolleninversion treten einige wichtige gesellschaftlicheNormvorstellungen und Grundannahmen prominent hervor Dazu zaumlhlt das Be-wusstsein dass es eine befehlende und eine ausfuumlhrende Gruppe von Menschengibt oder dass im Prinzip ein Rollenwechsel moumlglich sein kann Alle Beteiligten

Ἐπειδὴ δίδωσιν ὁ θεὸς παίζειν ndash ἔστι γὰρ Κρόνια ndash hellip (sbquoDa der Gott das Scherzen erlaubt ndashes sind ja die Kronia helliplsquo Caes 1 = 306a Spanheim) Zur Frage ob es sich bei Caesares auch umdas Werk handle auf das zu Ende der Rede auf Koumlnig Helios verwiesen wird (Or in Sol reg 44 =157c Spanheim) vgl Muumlller in seiner Uumlbersetzung (39 ablehnend) und Lacombrade im Vorwortseiner Budeacute-Ausgabe (3 und 18 Anm 3) der aufgrund des Handschriftenbefundes Kronia auchals Titelbestandteil fuumlr die Caesares uumlbernimmt Es handelt sich um Sen apocol 8 1 (Claudius als Saturnalienprinz) und 12 2 (Herrschaftdes Claudius als andauerndes Saturnalienfest) ndash Dass Lukian nicht auf die Saturnalien alsRahmen fuumlr seine Werke zuruumlckgreift entwertet die Beobachtungen nicht Lukian musste auf-grund seines Selbstbewusstseins als satirischer Schriftsteller und aufgrund der Menge seinersatirischen Schriften nicht jedes Mal einen eigenen literarischen Rahmen herstellen in demeinzelne Dialoge stattfinden konnten Das Saturnalienfest selbst erscheint bei Lukian als Ge-genstand der Satire nicht als deren literarische Rahmung (Τὰ πρὸς Κρόνον) Zuerst bei Furneaux 1896 23 Anm 11 In der neueren Forschung vgl bes Nauta 1987Kritisch dazu u a Doumlpp 1993 159 f Petron 44 3 58 2 69 9 zu Horaz vgl z B serm 2 7 (libertas Decembris) Ein gelungenesBeispiel der Anpassung und Anwendung der bachtinschen Konzepte mit Ertrag fuumlr die Inter-pretation unter Einbezug von serm 2 7 bietet Sharland 2010 Distelrath 1999 114 Vgl weiterhin Versnel 1993 136ndash227 und Doumlpp 1993 Eine plastischeSchilderung der Rollenvertauschung bei der der Sklave dem Herrn die Leviten liest bietet Horserm 2 7

2 De nuptiis als literarisches Werk 149

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Herren wie Sklaven spielen also mit den Moumlglichkeiten einer alternativen Wirk-lichkeit

Das Besondere im Spiel mit den Moumlglichkeiten liegt aber in seiner zeitlichenBegrenzung Nach der Zeit des Ausnahmezustands gelten wieder die normalenimmer guumlltigen Regeln Die Rolleninversion erlaubt also ndash oder erzwingt gera-dezu ndash das Nachdenken uumlber bestimmte gesellschaftliche Normen und Wertvor-stellungen Durch die Ritualisierung und enge zeitliche Begrenzung ist darausjedoch keineswegs die Notwendigkeit entstanden die Verhaumlltnisse tatsaumlchlich zuhinterfragen oder gar zu aumlndern Daher lassen sich die Saturnalien auch als ein dieKonventionen bestaumlrkendes Fest verstehen Das Spiel mit der Moumlglichkeit eineranderen Gesellschaftsordnung hat durch seine Ritualisierung letztlich eine dieTradition legitimierende Funktion bekommen

In De nuptiis finden sich jedoch houmlchstens spaumlrliche Hinweise auf das Sa-turnalienfest Am ehesten weist das grob scherzende Agieren Saturas in diesenBereich Die bdquolangen Winternaumlchteldquo (1 2) koumlnnten (statt als Bezug auf Gellius) alsAnspielung auf das Saturnalienfest verstandenwerden ndash die Saturnalien finden inden laumlngsten Naumlchten uumlberhaupt statt seit der Kaiserzeit vom 17 bis 23 DezemberDies ndash wie die Spekulation uumlber eine spielerische etymologische Verbindung vonSatura und Saturnaliensup3⁶⁶ ndash ist aber insofern nicht von Belang da die Gattung alsGanze karnevaleske Zuumlge traumlgt und als gewissermaszligen institutionalisierter Kar-neval vom eigentlichen Fest losgeloumlst istsup3⁶⁷

Die Aufhebung der uumlblichen Ordnung (was Teuber im Ruumlckgriff auf Limina-litaumltskonzepte als praumlliminale Phase bezeichnet)sup3⁶⁸ beginnt mit der VorbereitungPhilologias zum Aufstieg in den Himmel Bereits das Erbrechen stellt eine mar-kante Umkehrung der alltaumlglichen Welt dar Statt sich Wissen anzueignen er-bricht Philologia es nun In der Goumltterversammlung auf der Milchstraszlige ist dieOrdnung sodann voumlllig verkehrt Philologia als Meisterin aller Disziplinen und

Zwar sind die einschlaumlgigen etymologischen Woumlrterbuumlcher skeptisch (v a WaldeHof-mann 2007 II 482 neutral ErnoutMeillet 2001 596) jedoch gibt es dahin gehende moderneDeutungen (aufgefuumlhrt bei WaldeHofmann 2007 II 482) und auch antike ParallelisierungenCic nat deor 2 64 Saturnus hellip est appellatus quod saturaretur annis (sbquoSaturn hellip wurde ergenannt weil er an Jahren gesaumlttigt istlsquo) Fulg myth 1 2 (p 17 16) a saturando Saturnus dictusest (sbquoDa er (die Menschen) saumlttigt wurde er Saturn genanntlsquo) Aug cons euang 1 23 35 Sa-turnus tamquam satur hellip νοῦς (sbquoSaturn gleichsam der gesaumlttigte hellip νοῦςlsquo) Vgl auch Gowers diedie etymologischen Verbindungen von satura Satyrspiel und Saturnalien untersucht (Gowers1993 109ndash 117) Sie kommt zu dem Befund dass keine Verbindung bestehe wohl aber verbin-dende Elemente identifiziert werden koumlnnten bdquocarnival licence parody uninhibited mockeryand excessive consumptionldquo (ibid 117) Vgl z B Teuber 1993 183 f Teuber 1993 183

150 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

bedeutende Lehrinstanz muss sich ihrerseits belehren lassen ndash mit dem Wissendas urspruumlnglich ihres war

Durch die Inversion wird die (vielleicht uumlblicherweise nicht prominente)Philologia in den Mittelpunkt geruumlckt und ihre zentrale Rolle im Wissenssystemtritt markant vor Augen Gleichzeitig kann darin eine leise Anfrage an ihre Lehr-autoritaumlt und eventuell auch ihre Eignung zur Lehre gesehen werden

Aufgrund des zeitlich begrenzten Rahmens der Verkehrung (diemit dem Endeder Vortraumlge voruumlber ist aber nicht explizit zuruumlckverwandelt wird) dessen Be-grenztheit durch Bezug auf die Form der menippeischen Satire ergaumlnzt werdenkann wird das System der Bildung und der Bildungsvermittlung jedoch nichtgrundsaumltzlich infrage gestellt Die Suspendierung Philologias ist temporaumlr

Dem Konzept der Dialogizitaumlt oder Mehrstimmigkeit folgend erklaumlrt sich auchdie Doppelung und Verunklarung der Erzaumlhlinstanz In den drei Dialogen indenen Satura und Martianus aufeinandertreffen behandeln sie die Frage desrichtigen Erzaumlhlens Dies beschraumlnkt sich nicht nur auf die Satire sondern umfasstalle auftretenden literarischen Formen Martianus und Satura sind sich uneinswie weit der Mythos reichen soll und ob eine Enzyklopaumldie trocken oder auchunterhaltsam erzaumlhlt werden soll (2 219ndash3 222) ob ein Symposion auch Zechenund Spaszlig vertraumlgt (8 803ndash810) oder ob und wie stark Satire Dinge vermischendarf (9 997ndash 1000)

Die unterschiedlichen Meinungen zu den Fragen werden zwar diskutiert undfuumlhren zu einem Ergebnis ndash der Erzaumlhlfluss versiegt ja an keiner Stelle oder setztneu an Allerdings entsteht in der Folge kein homogenes Werk und am Schlussmag keiner der beiden Erzaumlhler dafuumlr die Verantwortung uumlbernehmen Der Wi-derwillen sich zu dem Werk zu bekennen bedeutet aber gleichzeitig auch dassMartianus sich nicht festlegt welche Position er fuumlr die richtige haumllt Die Fragenach der rechten Art der Wissensvermittlung die auch in der Ent- und Inthroni-sierung Philologias anklang bleibt unbeantwortet

Schlieszliglich bringt der Blick auf die Aurelian-Vita aus der Historia Augustanoch einen weiteren Aspekt ein Parallel zur Aufteilung der Erzaumlhlinstanzen in Denuptiiswird der Erzaumlhlprozess in derHistoria Augusta aufmehrere AutorenverteiltWie zuerst Hermann Dessau und in der Folge Ronald Syme nachdruumlcklich gezeigthaben handelt es sich allerdings um nur einen Verfasser der uumlberdies auch inBezug auf die Abfassungszeit falsche Angaben gemacht hat und Quellen erfundenhatsup3⁶⁹ Insofern laumlsst sich der in der Historia Augusta gepraumlgte Begriff der

Auf den Charakter der Sammlung die Syme u a als bdquohoaxldquo bezeichnet (1983a 11 1983b13 1983c 219) die fingierten Autoren die manipulierten Quellen etc soll an dieser Stelle nurhingewiesen werden Vgl auch Cameron 2011 Kap 20 mit ausfuumlhrlicher Diskussion relevanterFragen

2 De nuptiis als literarisches Werk 151

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mythistoria der Vermischung von Mythischem und Historischem auch auf dieSammlung selbst anwendensup3⁷⁰

Als Menippee im engeren Sinne laumlsst sich weiterhin die Aurelian-Vita die 26Vita der Sammlung fassen und bezeichnenderweise spielt die Rahmenhandlungan denHilariasup3⁷sup1Wie zu den Saturnalien gehoumlren zu diesem Fest Scherze und ndash imRahmen von Maskierungen ndash Rollenwechselsup3⁷sup2

Noch in der rahmenden Einleitung zur Vita spielt sich folgender Dialog ab

1 et quoniam sermo nobis de Trebltellgtio Pollione qui a duobus Philippis usque ad divumClaudium et eius fratrem Quintillum imperatores tam claros quam obscuros memoriaeprodidit in eodem vehiculo fuit adserente Tiberiano quod Pollio multa incuriose multabreviter prodidisset me contra dicente neminem scriptorum quantum ad historiam pertinetnon aliquid esse mentitum prodente quin etiam in quo Livius in quo Sallustius in quoCornelius Tacitus in quo denique Trogus manifestis testibus convincerentur pedibus insententiam transitum faciens ac manum porrigens iocando[m] praeterea sbquoscribelsquo inquit sbquout

quae ille [scil Iunius Cordus] omnia exsequendo libros mythistoriis replevit talia scribendocum omnino rerum vilium aut nulla scribenda sint aut nimis pauca si tamen ex his morespossint animadverti qui re vera sciendi sunt hellip sed ex parte ut ex ea cetera colligantur(SHA Opil 1 5)

Bei der Anfuumlhrung von all diesen Informationen hat er die Buumlcher mit fabuloumlsen Ge-schichten angefuumlllt indem er Dinge von dieser Art schrieb wo doch uumlberhaupt keinenutzlosen Dinge geschrieben werden duumlrfen oder nur sehr wenige sofern daraus Verhal-tensweisen erkannt werden koumlnnen die wirklich wissenswert sind hellip aber zum Teil(schreibe ich) damit daraus das Andere gefolgert werden kann

quid Marius Maximus homo omnium verbosissimus qui et mythist[h]oricis se voluminibusinplicavit num ad istam descriptionem curamque descendit (SHA Quadr tyr 1 2)

Wie Hat sich Marius Maximus der groumlszligte Schwaumltzer vor dem Herrn der sich in seinenmythistorischen Werken verfangen hat etwa zu dieser Art der Darstellung und des sorg-faumlltigen Arbeitens herabgelassen

Hilaribus quibus omnia festa et fieri debere scimus et dici impletis sollemnibus vehiculo suome hellip Iunius Tiberianus accepit (SHA Aurelian 1 1)

An den Hilaria an denen alles zum Fest Gehoumlrende getan und gesagt werden muss wieman weiszlig empfing mich nach Erledigung der Zeremonien Iunius Tiberianus in seinemGefaumlhrt

Pausch bemerkt dieses besondere Datum zwar und erwaumlgt ob es sich um ein bdquoweitergehendesLesesignalldquo beispielsweise im Sinne karnevalesker Literatur handeln koumlnne verfolgt diese Spuraber nicht weiter (Pausch 2011 130 Anm 1) Herodian 1 10 5 ndash Einige Hinweise auf die Hilaria die im Kontext des Magna Mater-Festesam 25 Maumlrz gefeiert wurden bietet Fraser in seinem Kommentar zu Ovids Fasti (Fraser 1929244ndash248)

152 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

libet 2 securus quod velis dices habiturus mendaciorum comites quos historicae elo-quentiae miramur auctoreslsquo (SHA Aurelian 2 1ndash2)

1 Und weil unser Gespraumlch uumlber Trebellius Pollio der von den beiden Philippi bis zumvergoumlttlichten Claudius und dessen Bruder Quintillus gleichermaszligen uumlber beruumlhmte wieunbekannte Kaiser fuumlr die Nachwelt schrieb in derselben Saumlnfte stattfand behauptete erdass Pollio vieles ohne Sorgfalt und nur kurz dargelegt habe Ich erwiderte dass keinSchriftsteller sofern es um die Geschichte gehe nicht irgendwo gelogen habe und legtesodann dar worin sogar Livius Sallust Tacitus schlieszliglich sogar Trogus mit eindeutigenBelegen uumlberfuumlhrt werden koumlnnten Darauf sagte Tiberianus schlieszliglich scherzend indem ermeiner Meinung beipflichtete und mir seine Hand darbot bdquoSchreibe sowie du es fuumlr richtighaumlltst 2 Sage unbesorgt was du willst du wirst diejenigen als Gefaumlhrten fuumlr deine Taumlu-schungen haben die wir als Schoumlpfer historiographischer Beredsamkeit bewundernldquo

So sympathisch dieser Anspruch auch erscheinen mag ist er doch fuumlr das Ver-trauen in die Gattung der Geschichtsschreibung fatal Gerade in der Einleitungeiner Vita jedoch ndash zumal es der Fiktion nach die erste des Flavius Vopiscus Sy-racusius im Corpus der Historia Augusta ist ndash kann eine solche Anekdote ei-gentlich keinen Platz haben Sie erweckt beim Leser den Eindruck dass er dennachfolgend dargebotenen Informationen kein Vertrauen schenken duumlrfesup3⁷sup3

Die Parallelen zwischen der Historia Augusta insbesondere dem Vorgehen inder Vita Aureliani und De nuptiis liegen auf der Hand Verunklarung der Autor-schaft bzw der Erzaumlhlhaltung einerseits Erwecken von Zweifeln an der Glaub-wuumlrdigkeit des Dargebotenen andererseits

In der Historia Augusta sind die Inkongruenzen mit der Freude des Autors amliterarischen Spiel erklaumlrt worden Der Autor habe aus Freude am Fabulieren(vielleicht auchumein dafuumlr empfaumlngliches Publikum zu befriedigen) die Viten indieser Form verfasstsup3⁷⁴ Mag man dies fuumlr die Historia Augusta noch zugestehenderen Text uumlber einen laumlngeren Zeitraum vielleicht zunaumlchst ohne eine Gesamt-konzeption entstanden ist und auch sprachlich nicht herausragt stellt sich derSachverhalt fuumlr Martianusrsquo De nuptiis anders dar Das Werk hat durchaus einenliterarischen Anspruch und es folgt eindeutig einer vorab geplanten Gesamtan-lage Die Freude am Spiel mag vielleicht manches Detail beigesteuert haben fuumlrdie verschraumlnkte Anlage des Textes ist sie aber keine Erklaumlrung

Ganz anders ist der Anspruch zum Ende der Darstellung der Viten der bdquoDreiszligig Tyrannenldquoin dem der Autor beteuert seinem Werk mangele es zwar an literarischer Ausgefeiltheit nichtjedoch an Faktentreue da nunc cuivis libellum non tam diserte quam fideliter scriptum ndash sbquoGibnun dieses Buumlchleinwem du magst es ist nicht so sehr kunstvoll geschrieben wie es sachgetreuistlsquo (SHA Quadr tyr 33 8) Syme nennt dies bdquodeceit for its own sweet sakeldquo (1983c 217) Im gleichen Aufsatz spe-kuliert er auch uumlber das Interesse des Publikums an einer solchen Art von geistigem Spiel(ibid 221)

2 De nuptiis als literarisches Werk 153

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Es lohnt sich jedoch auch fuumlr die Historia Augusta einen Schritt weiter zugehen Ausgangspunkt dafuumlr ist die obige Beobachtungdass das literarische Spielder Historia Augusta nur durchschaut wer die Werke der historischen Literaturkennt Durch die Lektuumlre historiographischer Biographien bringt der Leser einebestimmte Leseerwartung also implizite Vorstellungen mit wie das Werk aus-sehen soll und wird Diese Erwartungen werden aber nicht oder nur teilweisebedient Formal gesehen weisen die Viten in der Historia Augusta zwar die Cha-rakteristika der Gattung auf ndash doch indem sie sie inhaltlich nicht adaumlquat aus-fuumlllen treten deren Konventionen vor Augen

Durch die uumlbermaumlszligige Verwendung falscher Verweise und erfundener Quel-len geraumlt zudem das Beglaubigungsverfahren historischer Texte in den Blick-punkt Der Leser erkennt anwelchen Stellenwelche Beglaubigungsmechanismenansetzen und auf welche Weise sie unterlaufen werden koumlnnen Uumlberspitzt lieszligesich behaupten DieHistoria Augusta verfolgt ein aufklaumlrerisches Interesse indemsie (spielerisch) aufzeigt welche Beglaubigungsverfahren die Geschichtsschrei-bung nutzt und wie sie manipuliert werden koumlnnen dadurch wird auch die Ma-nipulierbarkeit von Geschichte und Leser deutlich

In De nuptiis werden ebenfalls die Konventionen der Einzelgattungen ndash zu-mindest ansatzweise ndash hervorgehoben Dass kein perfektes Musterbeispiel derjeweiligen Einzelgattung entstehen kann liegt darin begruumlndet dass durch dieVerbindung der vier literarischen Genres keine oberflaumlchliche Konsistenz derFiktion entstehen kannVielmehr entstehen Bruumlche die ndash ebenso wie die Bruumlchein der Erzaumlhlhaltung ndash auch die Gattungskonventionen und ihre Annahmendeutlich werden lassen Dies gilt besonders fuumlr die Satire deren Vorgehen imKontrast zur eigentlichen Hochzeitshandlung aus dem Rahmen faumlllt und somitbesonderes Augenmerk erhaumllt Hinzu tritt mit der Figur Satura auch eine Perso-nifikation der Gattung die in theoretischen Diskussionen Annahmen und Vor-gehen mit Martianus eroumlrtert Grunduumlberlegungen der Gattung Satire werden sotheoretisch eroumlrtert und praktisch erprobt Gleiches giltwenn auch zT inwenigerdeutlicher Form auch fuumlr die anderen Formen Die Enzyklopaumldie in ihren langenMonologen wird durch Spott markiert die trockenen Kuumlnste werden probeweisedurch Allegorien zugaumlnglicher gemacht im Symposiondialog wird uumlberlegt in-wieweit uumlbliche Rollenmuster (der Zecher) einen Platz haben oder wie weit mandie fuumlr die Feier typischen Reden fuumlhren kann und immythischen Teil wird durchdie Gegenuumlberstellung mit dem handfesten Wissensbetrieb die Andersartigkeitdes Erzaumlhlens deutlich

So werden neben den Inhalten der Wissenschaften auch verschiedene lite-rarische Formen bewahrt Neben der reinen Anwendung und somit Tradierungwerden gleichzeitig auch die Mechanismen verdeutlicht deren sich die jeweilige

154 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Gattung bedient Somit wird ihr Funktionieren nachvollziehbar und in der Folgeauch nachahmbar

3 Zusammenfassung

Martianus weckt also durch die Wahl mehrerer gleichberechtigter Erzaumlhler diesomit das Erzaumlhlen unzuverlaumlssig werden lassen besonders aber durch dieUumlbernahme satirischer Gattungselemente ein Bewusstsein fuumlr die traditionellenGrundlagen desWissens- und Lehrsystems seiner Zeit ImGegensatz zur Satire diediese Fragen kategorisch stellt handelt es sich in De nuptiis um ein Spiel damitDer Satirebezug dient als Anknuumlpfung an die traditionellen Gattungsmerkmaleder menippeischen Satire Karnevaleske und Dialogizitaumlt

Durch die (temporaumlre) Rolleninversion richtet sich das Augenmerk aufPhilologia als Wissenszentrum und Wissensmittlerin und fordert zum Nach-denken daruumlber heraus Im Kern hinterfragt das Werk alle Bereiche die mit Bil-dung und Bildungsvermittlung zu tun haben Was sind die Inhalte wahrer Bil-dung Gibt es eine Einheit von Bildung Wie kann sie vermittelt werden

Allerdings zielt die Kritik nicht auf eine Aufloumlsung klassischer Bildungsinhalteund Vermittlungsformen Sie regt vielmehr durch Scherz und Bruumlche zumNachdenken uumlber diese Fragen an Dabei verzichtet Martianus auf eigene Vor-schlaumlge und Konzepte und festigt so gleichsam den traditionellen Bildungs-betrieb Das von ihm dargestellte Wissen wird kanonisiert und die Darstel-lungsform in langen Reden wird es auch Die mittelalterliche Rezeption von Denuptiis zeigt dies eindrucksvoll

Wissen umfasst dabei nicht nur das Faktenwissen der Vortraumlge sondern auchdas Wissen um bestimmte literarische Formen Durch die Verbindung von vierGattungen und die Doppelung der Erzaumlhlerfigur mit Reflexion uumlber angemessenesErzaumlhlen entstehen Inkonsistenzen die die Konventionen der einzelnen Gattun-gen hervortreten lassen Nicht alle Elementewerden auf dieseWeise deutlich aberMartianus bietet einen Ansatzpunkt die Fiktion auch unter der Fragestellung zulesen was einen Text der jeweiligen Gattung ausmacht ndash sowohl positiv wie ne-gativ formuliert

Mit seiner kreativen Konzeption und ihrer literarischen Umsetzung gelingt esMartianus eindrucksvoll Heiteres und Belehrendes zu verbindenwomit er an dieTradition Varros und die klassische antike Poetik anknuumlpft Es gelingt ihm daruumlberhinaus aber auchWissen zu vermitteln und die traditionellen Vorstellungen vonder Bedeutung dieses Wissens wie der Form seiner Vermittlung herauszustellenSpielerisch wird also gelehrt und hinterfragt nicht jedoch kategorisch kritisiertoder kuumlhn neu entworfen Gerade dadurch zeichnet sich Martianusrsquo De nuptiis

3 Zusammenfassung 155

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

tatsaumlchlich als nescioquid inopinum intactumque (sbquoetwas Ungewohntes und nochnie Gewagteslsquo 1 2) aus und macht es zu einem der bedeutendsten Buumlcher derSpaumltantike und zu einer interessanten Quelle fuumlr die Frage nach Bildungsvor-stellungen im fuumlnften Jahrhundert

156 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Page 32: Bildungsvorstellungen im 5. Jahrhundert n. Chr. (Macrobius, Martianus Capella und Sidonius Apollinaris) || III Martianus Capella, De nuptiis Philologiae et Mercurii

bewusst gewesen sei ndash was ihm sicher nicht gerecht wird Auszligerdem wird so dieBezugnahme auf weitere formale Elemente der menippeischen Tradition und dieuumlbrigen Vorlaumlufer der Gattung mit anderer Konzeption (Lukian Julian) nichtausreichend beruumlcksichtigt

Ebenfalls beim Autor koumlnnte eine zweite Erklaumlrung ansetzen Im Zuge derAbfassung seiner Enzyklopaumldie hat sichMartianus nach horazischer Vorgabe (unddem Beispiel Varros)sup3⁴⁹ um Auflockerung und heitere Elemente bemuumlht Diespontanen Einfaumllle wurden ins Werk integriert und die sich daraus ergebendenInkonsistenzen entweder uumlbersehen oder billigend in Kauf genommen Beideswuumlrde gut zum klassisch negativen Martian-Bild in der Forschung passensup3⁵⁰Abgesehen davon dass Annahmen uumlber das Vorgehen beim Schreiben weitge-hend auf Spekulation beruhensup3⁵sup1 widersprechen drei Beobachtungen dieser Er-klaumlrung Erstens gelingt es Martianus De nuptiis uumlber neun Buumlcher vorauszu-planen so dass am Ende ein ndash zunaumlchst abgesehen von der Satire-Problematik ndashkohaumlrentes Werk entsteht Die Fuumllle der behandelten Themen Motive und lite-rarischen Elemente weist eher auf ein planvolles Arbeiten hin und macht es un-wahrscheinlich dass Martianus Probleme an dieser Stelle nicht wahrgenommenbzw nicht korrigiert haumltte Zweitens ist die Verbindungvon Satire und den anderenElementen nicht nur oberflaumlchlich so dass sie nachtraumlglich eingefuumlgt sein koumlnnteoder sich im Schreibprozess so ergeben haben koumlnnte Da bereits im zweitenKapitel des ersten Buches Satura eingefuumlhrt wirdwar sie von vornherein Teil des

Gemeint ist das beruumlhmte zunaumlchst nur fuumlr die Dichtung relevante prodesse aut delectare(Hor ars 333 f) zu Varro vgl die schon angefuumlhrte Stelle aus Cic ac Vgl z B die sehr bildliche Beschreibung von C S Lewis bdquo[hellip] this universe which hasproduced the bee-orchid and the giraffe has produced nothing stranger than Martianus Capella[hellip] the curiosity shop of his mind [hellip] a chaos beside which the work of Rabelais has unity andthat of Mandeville probabilityldquo (Lewis 1936 78 f) Gleiches gilt fuumlr Spekulationen uumlber eine andere Auffassung von Literatur und ihrenRegeln in Martianusrsquo Zeit oder Umfeld Einerseits kennen wir keine Texte die sich mit De nuptiisvergleichen lieszligen (was per se nichts beweist aber doch Indiziencharakter hat) andererseitshielten sich auch die spaumltantiken Autoren uumlblicherweise an die klassischen Vorgaben Ich teiledaher auch Schneiders Ansicht nicht der die Skepsis an dieser Verbindung allein der modernenLeseerfahrung zuschreibt bdquoWenn den Heutigen diese Kombination der forcierten Gelehrsamkeiteines Curriculums und der spielerisch-saloppen Causerie seltsam beruumlhren mag so waumlre dazuimmerhin schon an ein ciceronisches Dictum zu erinnern non est enim seiunctus iocus a phi-lologia (ad fam 16214) ndash sbquoSpieltrieb und Pedanterie diktieren und widersprechen sich nichtlsquo(sbquoErste Fruumlhschichtlsquo aus Grassrsquo sbquoHundejahrelsquo)ldquo (Schneider 1999 94 Anm 2) Der Verweis aufCicero traumlgt nichts zum Verstaumlndnis von Martianus bei Cicero geht es an der zitierten Stelle umden Ablauf des Tages mit seinem Schuumller der aus ernsteren und heitereren Abschnitten bestehtDaraus folgt nicht dass das Lernen mit Scherz verbunden ist ndash auszligerdem duumlrfte Cicero unteriocus (sbquo[urbaner] Scherzlsquo) anderes verstanden haben als Martianus in seiner Satura bietet

2 De nuptiis als literarisches Werk 145

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Kompositionsplans Drittens hat Schievenin gezeigt dass Martianus keineswegsoberflaumlchlich und eigenwillig arbeitet Durch eine gruumlndliche Untersuchung derSilen-Passage (8 803ndash805) kann er nachweisen dass Martianus ndash wie vieleAutoren vor ihm ndash uumlber ein umfangreiches literarisches Wissen verfuumlgte daraufbei der Abfassung seines Werkes zugreifen konnte und durch gezielte Anspie-lungen neue Bezuumlge herstelltesup3⁵sup2

Satire als Mittel der KritikWaumlhrend die antike Satire (im Gegensatz zur modernen) nicht zwangslaumlufig Kritikan Missstaumlnden uumlben wollte ist diese Moumlglichkeit umgekehrt auch nicht auszu-schlieszligen Martianus koumlnnte also bewusst eine solide Darstellung der Kuumlnste inliterarischem Gewandmit der Gattung der Satire verbunden haben um Zweifel ander Ernsthaftigkeit der uumlbrigen Teile des Werkes zu wecken Er wuumlrde somit einaufklaumlrerisches Interesse verfolgen das zugleich auch unterhaltsame Zuumlge traumlgt

Eine erste Schwierigkeit dieser Lesart von De nuptiis ergibt sich bereits bei derFrage nach dem Objekt der SatireWerden die Wissensinhalte in Zweifel gezogenoder nur die Art ihrer Vermittlung in langen Reden bzwTraktaten Soll der Glaubean die umfassende Einheit des Wissens kritisiert werden oder die Vorstellungsaumlmtliches Wissen lasse sich vermitteln gar kohaumlrent in einem Werksup3⁵sup3 Ist dieVorstellung dass Wissen goumlttlich mache parodiert oder nur die abwegige Vor-stellung dass auf einer Hochzeit solche Reden gehalten werden Oder richtet sichdie Kritik letztlich gegen die Auffassung Philologia als Vorbild zu sehen oder garals Mittlerin alles Wissens ja sogar als Mittlerin zwischen Menschen und Goumlttern

Aus der Tatsache dass das Objekt der Satire keineswegs leicht zu bestimmenist kann nicht gefolgert werden dass in De nuptiis keine Satire vorliege die be-stimmte Sachverhalte kritisiere Aber es kann durchaus gefolgert werden dass eskeine expliziten textinternen Merkmale gibt die das Lesen steuern und den Ge-genstand der Kritik deutlich hervortreten lassen Die Deutungen gehen also vonmodernen Annahmen uumlber das Umfeld bzw die Gedankenwelt von Martianus aus

Im Kern handle es sich um bdquouna narrazione tersa e brillanteldquo verbunden mit einemDickicht an Verweisen Die Silen-Szene habe einen bdquocarattere colto e della dottrina e dellalingualdquo (Schievenin 1984 132) Das Fazit seiner Untersuchung formuliert Schievenin folgen-dermaszligen bdquoIl De nuptiis si rivela dunque opera di vasti orizzonti non solo per lrsquointento dida-scalico che la pervade e che ne determineragrave la fortuna ma anche per la costante presenza nellafabula della tradizione classica e dei suoi echildquo (ibid 136) Vgl zu dieser Stelle auch Bovey2003 275ndash288 ndash Den geschickten Umgang mit mehreren Quellen ndash erzaumlhlerisch wie seman-tisch ndash kann Schievenin auch fuumlr 7 725ndash727 nachweisen (Schievenin 2009e) So z B Relihan 1993 138 bdquoMartianus writes not an encyclopedia but a Menippean satirethat parodies encyclopedic knowledgeldquo

146 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

und weisen zudem meist nicht kleinschrittig auf wie der Interpret zu seiner (oftapodiktisch dargelegten) Ansicht gelangt

Nun folgt daraus noch nicht dass Martianus De nuptiis nicht als kritisierendeSatire konzipiert haumltte die Vielzahl der (wenn auch differierenden) modernenDeutungenweist ja darauf hin Zwei Uumlberlegungenwenn auch keine schlagendenBeweise lassen die Hypothese der parodierenden Satire unwahrscheinlich wer-den der Umfang von De nuptiis und seine Rezeption Eine Satire die beispiels-weise die Verbindung von Weltwissen und menschlicher Vervollkommnung in-frage stellt benoumltigt nicht noch eine umfassende Darlegung eben diesenWissensDies gilt besonders da diese Darlegung den Hauptteil des Werks ausmacht und ndashzumindest dem Umfang nach ndash die uumlbrigen Partien weit uumlberragt Eine Deutungvon De nuptiis als kritischer Satire muumlsste also besonders die Frage beantwortenzu welchem Zweck die umfangreichen Darstellungen der Freien Kuumlnste aufge-nommen sind (und nicht nur angedeutet werden)

Die Rezeption eignet sich zwar ebenfalls nicht zu sicheren Ruumlckschluumlssen aufdie originale Intention eines Werkes haumlufig bietet sie aber interessante EinblickeDie Martianus-Rezeption stellt sich bald ein Cassiodor beruft sich in seinen In-stitutiones auf ihn Dort erscheint Martianus nicht als Satiriker oder Zeitkritikersondern als Gelehrtersup3⁵⁴ In dieser Tradition wird Martianus auch im Mittelaltergelesen und rezipiertsup3⁵⁵

Aumlhnliches laumlsst sich fuumlr Boethiusrsquo Anknuumlpfen an die prosimetrische Form inder Ausgestaltung von Martianus sagen Boethius verfasst zweifelsfrei keine kri-tische Satire kann aber trotzdem an die Form und den Inhalt von De nuptiisproblemlos anknuumlpfen Sowohl der Form nach wie auch durch einzelne Zitatemacht er deutlich dass erDe nuptiis kennt und als eine seiner Vorlagen benutzt Esist zu bezweifeln dass Boethius in seinem Bemuumlhen um eine adaumlquatewerbendeDarstellung der Philosophie auf Form und Zitate des Martianus zuruumlckgegriffenhaumltte haumltte er nicht die Moumlglichkeit der gefahrlosen Uumlbernahme gesehen

Satirische Elemente als Mittel der BelehrungDer dritte Erklaumlrungsansatz fuumlr die Verbindung von Satire und Belehrung be-trachtet die Wahl Saturas als Figur und die Bezugnahme auf die Gattung zunaumlchst

Cassiod inst 2 2 17 Zur mittelalterlichen Martianus-Rezeption vgl bes Nuchelmans 1950 Lutz 1971 und 1976Willis 1973 sowie die Ausgaben und Literatur u a zu folgenden Werken Konrad von MureFabularius Hugo von Sankt Victor Didascalicon de studio legendi Johannes von SalisburyMetalogicon Kindermann kann weiterhin nachweisen dass De nuptiis auch durch seine Forminspirierend gewirkt hat (Kindermann 1969 61 f)

2 De nuptiis als literarisches Werk 147

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

als reine Fortsetzungder literarischen Form Fuumlr diese spezielle Formder Literaturdie menippeische Satire hat der russische Literaturwissenschaftler MichailBachtin Beobachtungen aufgestellt die auch fuumlr De nuptiis zutreffen Durch denRuumlckgriff auf zwei zentrale Konzepte Bachtins das Karnevaleske und die Dialo-gizitaumlt wird ein Verstaumlndnis von De nuptiis ermoumlglicht

Auf der Suche nach Vorlagen und Urformen der Gattung des Romans ins-besondere in der Form von Dostojewskis Romanen stieszlig Bachtin unter anderemauch auf die menippeische Satire die er bis in die Antike zuruumlckverfolgtesup3⁵⁶ Zuihren Vertretern zaumlhlt er unter anderem Varro Apuleius Petron Seneca oderLukiansup3⁵⁷ Martianus Capella wird nicht erwaumlhnt was aber nicht verwundernmuss da Bachtin keine Literaturgeschichte der menippeischen Satire schriebsup3⁵⁸

Kern der Uumlberlegungen Bachtins zurmenippeischen Satire ist das Konzept desKarnevals Unter Karneval versteht er folkloristische Feste waumlhrend deren diebestehende Ordnung verkehrt wird uumlbliche Regeln nicht mehr gelten Herr-schende gestuumlrzt und Machtlose maumlchtig werden ndash auf Zeit Die Karnevalisierungalso die Uumlbernahme der Kennzeichen dieses Festes in neue oder bestehende li-terarische Formen institutionalisiert diese Ausnahmesituation und loumlst sie vomkonkreten Fest Der so entstandene Text wird bdquozum karnevalesken Spiel an demder Autor und sein Publikum einverstaumlndlich teilhaben und das keines kalen-darisch oder institutionell abgesicherten Karnevalsrahmens mehr bedarfldquosup3⁵⁹

Diese Karnevalisierung fuumlhrt unter anderem zu einer Vielstimmigkeit vonMeinungen und Positionen im Text z B durch mehrere Figurenvon denen keinebevorzugt oder gar als autoritativ gekennzeichnet wird In dieser Dialogizitaumlt wirdkein allgemein guumlltiger Sinnmehr vermittelt sondern dieWahrheit suspendiertsup3⁶⁰

Dass der Bezug auf karnevalsartige Feste der Gattung menippeische Satire (inTeilen auch der Verssatire) eignet zeigt ein kurzer Blick auf wichtige Vertreter derTradition

Julians Symposion Caesares spielt zur Zeit der Saturnalien Die Bedeutungdieses Festes fuumlr das Werk wird dadurch verdeutlicht dass es den Handlungs-

Bachtin 1971 126ndash 135 Bachtin 1971 126 128 132f Kritik an den z T pauschalisierenden und verfaumllschenden Aussagen Bachtins uumlber antikeLiteratur oder an der ununterbrochenen Traditionslinie von der Antike bis in die Moderne (z BRelihan 1987 59 Lachmann 2006 23ndash25) muumlsste auch auf manche moderne Literaturwissen-schaftler in der Nachfolge Bachtins angewandt werden (vgl Branham 2005 6 wo es uumlberSenecas Apocolocyntosis heiszligt bdquoour only extant Menippean satire in Latinldquo) Teuber 1993 182 Eine gut verstaumlndliche Einfuumlhrung in das Konzept der Dialogizitaumlt im Sinne der bach-tinschen Terminologie bietet Sharland 2010 Einfuumlhrung (1ndash51)

148 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

rahmen fuumlr den in der Folge erzaumlhlten Mythos bildet Bereits im ersten Satz wirdauf das Fest und die Tradition Heiteres frei zu erzaumlhlen Bezug genommensup3⁶sup1

Auch Senecas Apocolocyntosis stellt einen engen Bezug zum Saturnalienfesther Das Werk spielt zwar nicht an den Saturnalien sondern am Todestag desClaudius im Oktober doch wird an zwei Stellen eine Verbindung zwischen derHerrschaft des verstorbenen Kaisers und den dargestellten Sitten waumlhrend derRegierungszeit mit dem Saturnalienfest gezogensup3⁶sup2 Manche Interpreten gehensogar davon aus dass die Apocolocyntosis an den Saturnalien des Jahres 54vorgetragen wurdesup3⁶sup3 Auch bei Petron und Horaz finden sich Bezugnahmen aufdie Saturnaliensup3⁶⁴

Ein zentrales Element des Saturnalienfestes liegt in der Suspension der uumlb-licherweise geltenden Normen und Wertesup3⁶⁵ Neben den anderen Elementen desFestes wie sie z B in Macrobiusrsquo Saturnalia (1 7ndash 10 1 24 22 f) beschriebenwerden (traditionelle Geschenke Festmahl fuumlr die Sklaven etc) hat gerade dieUmkehrung der Herrschaftsverhaumlltnisse im Haus Niederschlag in der Literaturgefunden

Gerade durch diese Rolleninversion treten einige wichtige gesellschaftlicheNormvorstellungen und Grundannahmen prominent hervor Dazu zaumlhlt das Be-wusstsein dass es eine befehlende und eine ausfuumlhrende Gruppe von Menschengibt oder dass im Prinzip ein Rollenwechsel moumlglich sein kann Alle Beteiligten

Ἐπειδὴ δίδωσιν ὁ θεὸς παίζειν ndash ἔστι γὰρ Κρόνια ndash hellip (sbquoDa der Gott das Scherzen erlaubt ndashes sind ja die Kronia helliplsquo Caes 1 = 306a Spanheim) Zur Frage ob es sich bei Caesares auch umdas Werk handle auf das zu Ende der Rede auf Koumlnig Helios verwiesen wird (Or in Sol reg 44 =157c Spanheim) vgl Muumlller in seiner Uumlbersetzung (39 ablehnend) und Lacombrade im Vorwortseiner Budeacute-Ausgabe (3 und 18 Anm 3) der aufgrund des Handschriftenbefundes Kronia auchals Titelbestandteil fuumlr die Caesares uumlbernimmt Es handelt sich um Sen apocol 8 1 (Claudius als Saturnalienprinz) und 12 2 (Herrschaftdes Claudius als andauerndes Saturnalienfest) ndash Dass Lukian nicht auf die Saturnalien alsRahmen fuumlr seine Werke zuruumlckgreift entwertet die Beobachtungen nicht Lukian musste auf-grund seines Selbstbewusstseins als satirischer Schriftsteller und aufgrund der Menge seinersatirischen Schriften nicht jedes Mal einen eigenen literarischen Rahmen herstellen in demeinzelne Dialoge stattfinden konnten Das Saturnalienfest selbst erscheint bei Lukian als Ge-genstand der Satire nicht als deren literarische Rahmung (Τὰ πρὸς Κρόνον) Zuerst bei Furneaux 1896 23 Anm 11 In der neueren Forschung vgl bes Nauta 1987Kritisch dazu u a Doumlpp 1993 159 f Petron 44 3 58 2 69 9 zu Horaz vgl z B serm 2 7 (libertas Decembris) Ein gelungenesBeispiel der Anpassung und Anwendung der bachtinschen Konzepte mit Ertrag fuumlr die Inter-pretation unter Einbezug von serm 2 7 bietet Sharland 2010 Distelrath 1999 114 Vgl weiterhin Versnel 1993 136ndash227 und Doumlpp 1993 Eine plastischeSchilderung der Rollenvertauschung bei der der Sklave dem Herrn die Leviten liest bietet Horserm 2 7

2 De nuptiis als literarisches Werk 149

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Herren wie Sklaven spielen also mit den Moumlglichkeiten einer alternativen Wirk-lichkeit

Das Besondere im Spiel mit den Moumlglichkeiten liegt aber in seiner zeitlichenBegrenzung Nach der Zeit des Ausnahmezustands gelten wieder die normalenimmer guumlltigen Regeln Die Rolleninversion erlaubt also ndash oder erzwingt gera-dezu ndash das Nachdenken uumlber bestimmte gesellschaftliche Normen und Wertvor-stellungen Durch die Ritualisierung und enge zeitliche Begrenzung ist darausjedoch keineswegs die Notwendigkeit entstanden die Verhaumlltnisse tatsaumlchlich zuhinterfragen oder gar zu aumlndern Daher lassen sich die Saturnalien auch als ein dieKonventionen bestaumlrkendes Fest verstehen Das Spiel mit der Moumlglichkeit eineranderen Gesellschaftsordnung hat durch seine Ritualisierung letztlich eine dieTradition legitimierende Funktion bekommen

In De nuptiis finden sich jedoch houmlchstens spaumlrliche Hinweise auf das Sa-turnalienfest Am ehesten weist das grob scherzende Agieren Saturas in diesenBereich Die bdquolangen Winternaumlchteldquo (1 2) koumlnnten (statt als Bezug auf Gellius) alsAnspielung auf das Saturnalienfest verstandenwerden ndash die Saturnalien finden inden laumlngsten Naumlchten uumlberhaupt statt seit der Kaiserzeit vom 17 bis 23 DezemberDies ndash wie die Spekulation uumlber eine spielerische etymologische Verbindung vonSatura und Saturnaliensup3⁶⁶ ndash ist aber insofern nicht von Belang da die Gattung alsGanze karnevaleske Zuumlge traumlgt und als gewissermaszligen institutionalisierter Kar-neval vom eigentlichen Fest losgeloumlst istsup3⁶⁷

Die Aufhebung der uumlblichen Ordnung (was Teuber im Ruumlckgriff auf Limina-litaumltskonzepte als praumlliminale Phase bezeichnet)sup3⁶⁸ beginnt mit der VorbereitungPhilologias zum Aufstieg in den Himmel Bereits das Erbrechen stellt eine mar-kante Umkehrung der alltaumlglichen Welt dar Statt sich Wissen anzueignen er-bricht Philologia es nun In der Goumltterversammlung auf der Milchstraszlige ist dieOrdnung sodann voumlllig verkehrt Philologia als Meisterin aller Disziplinen und

Zwar sind die einschlaumlgigen etymologischen Woumlrterbuumlcher skeptisch (v a WaldeHof-mann 2007 II 482 neutral ErnoutMeillet 2001 596) jedoch gibt es dahin gehende moderneDeutungen (aufgefuumlhrt bei WaldeHofmann 2007 II 482) und auch antike ParallelisierungenCic nat deor 2 64 Saturnus hellip est appellatus quod saturaretur annis (sbquoSaturn hellip wurde ergenannt weil er an Jahren gesaumlttigt istlsquo) Fulg myth 1 2 (p 17 16) a saturando Saturnus dictusest (sbquoDa er (die Menschen) saumlttigt wurde er Saturn genanntlsquo) Aug cons euang 1 23 35 Sa-turnus tamquam satur hellip νοῦς (sbquoSaturn gleichsam der gesaumlttigte hellip νοῦςlsquo) Vgl auch Gowers diedie etymologischen Verbindungen von satura Satyrspiel und Saturnalien untersucht (Gowers1993 109ndash 117) Sie kommt zu dem Befund dass keine Verbindung bestehe wohl aber verbin-dende Elemente identifiziert werden koumlnnten bdquocarnival licence parody uninhibited mockeryand excessive consumptionldquo (ibid 117) Vgl z B Teuber 1993 183 f Teuber 1993 183

150 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

bedeutende Lehrinstanz muss sich ihrerseits belehren lassen ndash mit dem Wissendas urspruumlnglich ihres war

Durch die Inversion wird die (vielleicht uumlblicherweise nicht prominente)Philologia in den Mittelpunkt geruumlckt und ihre zentrale Rolle im Wissenssystemtritt markant vor Augen Gleichzeitig kann darin eine leise Anfrage an ihre Lehr-autoritaumlt und eventuell auch ihre Eignung zur Lehre gesehen werden

Aufgrund des zeitlich begrenzten Rahmens der Verkehrung (diemit dem Endeder Vortraumlge voruumlber ist aber nicht explizit zuruumlckverwandelt wird) dessen Be-grenztheit durch Bezug auf die Form der menippeischen Satire ergaumlnzt werdenkann wird das System der Bildung und der Bildungsvermittlung jedoch nichtgrundsaumltzlich infrage gestellt Die Suspendierung Philologias ist temporaumlr

Dem Konzept der Dialogizitaumlt oder Mehrstimmigkeit folgend erklaumlrt sich auchdie Doppelung und Verunklarung der Erzaumlhlinstanz In den drei Dialogen indenen Satura und Martianus aufeinandertreffen behandeln sie die Frage desrichtigen Erzaumlhlens Dies beschraumlnkt sich nicht nur auf die Satire sondern umfasstalle auftretenden literarischen Formen Martianus und Satura sind sich uneinswie weit der Mythos reichen soll und ob eine Enzyklopaumldie trocken oder auchunterhaltsam erzaumlhlt werden soll (2 219ndash3 222) ob ein Symposion auch Zechenund Spaszlig vertraumlgt (8 803ndash810) oder ob und wie stark Satire Dinge vermischendarf (9 997ndash 1000)

Die unterschiedlichen Meinungen zu den Fragen werden zwar diskutiert undfuumlhren zu einem Ergebnis ndash der Erzaumlhlfluss versiegt ja an keiner Stelle oder setztneu an Allerdings entsteht in der Folge kein homogenes Werk und am Schlussmag keiner der beiden Erzaumlhler dafuumlr die Verantwortung uumlbernehmen Der Wi-derwillen sich zu dem Werk zu bekennen bedeutet aber gleichzeitig auch dassMartianus sich nicht festlegt welche Position er fuumlr die richtige haumllt Die Fragenach der rechten Art der Wissensvermittlung die auch in der Ent- und Inthroni-sierung Philologias anklang bleibt unbeantwortet

Schlieszliglich bringt der Blick auf die Aurelian-Vita aus der Historia Augustanoch einen weiteren Aspekt ein Parallel zur Aufteilung der Erzaumlhlinstanzen in Denuptiiswird der Erzaumlhlprozess in derHistoria Augusta aufmehrere AutorenverteiltWie zuerst Hermann Dessau und in der Folge Ronald Syme nachdruumlcklich gezeigthaben handelt es sich allerdings um nur einen Verfasser der uumlberdies auch inBezug auf die Abfassungszeit falsche Angaben gemacht hat und Quellen erfundenhatsup3⁶⁹ Insofern laumlsst sich der in der Historia Augusta gepraumlgte Begriff der

Auf den Charakter der Sammlung die Syme u a als bdquohoaxldquo bezeichnet (1983a 11 1983b13 1983c 219) die fingierten Autoren die manipulierten Quellen etc soll an dieser Stelle nurhingewiesen werden Vgl auch Cameron 2011 Kap 20 mit ausfuumlhrlicher Diskussion relevanterFragen

2 De nuptiis als literarisches Werk 151

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mythistoria der Vermischung von Mythischem und Historischem auch auf dieSammlung selbst anwendensup3⁷⁰

Als Menippee im engeren Sinne laumlsst sich weiterhin die Aurelian-Vita die 26Vita der Sammlung fassen und bezeichnenderweise spielt die Rahmenhandlungan denHilariasup3⁷sup1Wie zu den Saturnalien gehoumlren zu diesem Fest Scherze und ndash imRahmen von Maskierungen ndash Rollenwechselsup3⁷sup2

Noch in der rahmenden Einleitung zur Vita spielt sich folgender Dialog ab

1 et quoniam sermo nobis de Trebltellgtio Pollione qui a duobus Philippis usque ad divumClaudium et eius fratrem Quintillum imperatores tam claros quam obscuros memoriaeprodidit in eodem vehiculo fuit adserente Tiberiano quod Pollio multa incuriose multabreviter prodidisset me contra dicente neminem scriptorum quantum ad historiam pertinetnon aliquid esse mentitum prodente quin etiam in quo Livius in quo Sallustius in quoCornelius Tacitus in quo denique Trogus manifestis testibus convincerentur pedibus insententiam transitum faciens ac manum porrigens iocando[m] praeterea sbquoscribelsquo inquit sbquout

quae ille [scil Iunius Cordus] omnia exsequendo libros mythistoriis replevit talia scribendocum omnino rerum vilium aut nulla scribenda sint aut nimis pauca si tamen ex his morespossint animadverti qui re vera sciendi sunt hellip sed ex parte ut ex ea cetera colligantur(SHA Opil 1 5)

Bei der Anfuumlhrung von all diesen Informationen hat er die Buumlcher mit fabuloumlsen Ge-schichten angefuumlllt indem er Dinge von dieser Art schrieb wo doch uumlberhaupt keinenutzlosen Dinge geschrieben werden duumlrfen oder nur sehr wenige sofern daraus Verhal-tensweisen erkannt werden koumlnnen die wirklich wissenswert sind hellip aber zum Teil(schreibe ich) damit daraus das Andere gefolgert werden kann

quid Marius Maximus homo omnium verbosissimus qui et mythist[h]oricis se voluminibusinplicavit num ad istam descriptionem curamque descendit (SHA Quadr tyr 1 2)

Wie Hat sich Marius Maximus der groumlszligte Schwaumltzer vor dem Herrn der sich in seinenmythistorischen Werken verfangen hat etwa zu dieser Art der Darstellung und des sorg-faumlltigen Arbeitens herabgelassen

Hilaribus quibus omnia festa et fieri debere scimus et dici impletis sollemnibus vehiculo suome hellip Iunius Tiberianus accepit (SHA Aurelian 1 1)

An den Hilaria an denen alles zum Fest Gehoumlrende getan und gesagt werden muss wieman weiszlig empfing mich nach Erledigung der Zeremonien Iunius Tiberianus in seinemGefaumlhrt

Pausch bemerkt dieses besondere Datum zwar und erwaumlgt ob es sich um ein bdquoweitergehendesLesesignalldquo beispielsweise im Sinne karnevalesker Literatur handeln koumlnne verfolgt diese Spuraber nicht weiter (Pausch 2011 130 Anm 1) Herodian 1 10 5 ndash Einige Hinweise auf die Hilaria die im Kontext des Magna Mater-Festesam 25 Maumlrz gefeiert wurden bietet Fraser in seinem Kommentar zu Ovids Fasti (Fraser 1929244ndash248)

152 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

libet 2 securus quod velis dices habiturus mendaciorum comites quos historicae elo-quentiae miramur auctoreslsquo (SHA Aurelian 2 1ndash2)

1 Und weil unser Gespraumlch uumlber Trebellius Pollio der von den beiden Philippi bis zumvergoumlttlichten Claudius und dessen Bruder Quintillus gleichermaszligen uumlber beruumlhmte wieunbekannte Kaiser fuumlr die Nachwelt schrieb in derselben Saumlnfte stattfand behauptete erdass Pollio vieles ohne Sorgfalt und nur kurz dargelegt habe Ich erwiderte dass keinSchriftsteller sofern es um die Geschichte gehe nicht irgendwo gelogen habe und legtesodann dar worin sogar Livius Sallust Tacitus schlieszliglich sogar Trogus mit eindeutigenBelegen uumlberfuumlhrt werden koumlnnten Darauf sagte Tiberianus schlieszliglich scherzend indem ermeiner Meinung beipflichtete und mir seine Hand darbot bdquoSchreibe sowie du es fuumlr richtighaumlltst 2 Sage unbesorgt was du willst du wirst diejenigen als Gefaumlhrten fuumlr deine Taumlu-schungen haben die wir als Schoumlpfer historiographischer Beredsamkeit bewundernldquo

So sympathisch dieser Anspruch auch erscheinen mag ist er doch fuumlr das Ver-trauen in die Gattung der Geschichtsschreibung fatal Gerade in der Einleitungeiner Vita jedoch ndash zumal es der Fiktion nach die erste des Flavius Vopiscus Sy-racusius im Corpus der Historia Augusta ist ndash kann eine solche Anekdote ei-gentlich keinen Platz haben Sie erweckt beim Leser den Eindruck dass er dennachfolgend dargebotenen Informationen kein Vertrauen schenken duumlrfesup3⁷sup3

Die Parallelen zwischen der Historia Augusta insbesondere dem Vorgehen inder Vita Aureliani und De nuptiis liegen auf der Hand Verunklarung der Autor-schaft bzw der Erzaumlhlhaltung einerseits Erwecken von Zweifeln an der Glaub-wuumlrdigkeit des Dargebotenen andererseits

In der Historia Augusta sind die Inkongruenzen mit der Freude des Autors amliterarischen Spiel erklaumlrt worden Der Autor habe aus Freude am Fabulieren(vielleicht auchumein dafuumlr empfaumlngliches Publikum zu befriedigen) die Viten indieser Form verfasstsup3⁷⁴ Mag man dies fuumlr die Historia Augusta noch zugestehenderen Text uumlber einen laumlngeren Zeitraum vielleicht zunaumlchst ohne eine Gesamt-konzeption entstanden ist und auch sprachlich nicht herausragt stellt sich derSachverhalt fuumlr Martianusrsquo De nuptiis anders dar Das Werk hat durchaus einenliterarischen Anspruch und es folgt eindeutig einer vorab geplanten Gesamtan-lage Die Freude am Spiel mag vielleicht manches Detail beigesteuert haben fuumlrdie verschraumlnkte Anlage des Textes ist sie aber keine Erklaumlrung

Ganz anders ist der Anspruch zum Ende der Darstellung der Viten der bdquoDreiszligig Tyrannenldquoin dem der Autor beteuert seinem Werk mangele es zwar an literarischer Ausgefeiltheit nichtjedoch an Faktentreue da nunc cuivis libellum non tam diserte quam fideliter scriptum ndash sbquoGibnun dieses Buumlchleinwem du magst es ist nicht so sehr kunstvoll geschrieben wie es sachgetreuistlsquo (SHA Quadr tyr 33 8) Syme nennt dies bdquodeceit for its own sweet sakeldquo (1983c 217) Im gleichen Aufsatz spe-kuliert er auch uumlber das Interesse des Publikums an einer solchen Art von geistigem Spiel(ibid 221)

2 De nuptiis als literarisches Werk 153

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Es lohnt sich jedoch auch fuumlr die Historia Augusta einen Schritt weiter zugehen Ausgangspunkt dafuumlr ist die obige Beobachtungdass das literarische Spielder Historia Augusta nur durchschaut wer die Werke der historischen Literaturkennt Durch die Lektuumlre historiographischer Biographien bringt der Leser einebestimmte Leseerwartung also implizite Vorstellungen mit wie das Werk aus-sehen soll und wird Diese Erwartungen werden aber nicht oder nur teilweisebedient Formal gesehen weisen die Viten in der Historia Augusta zwar die Cha-rakteristika der Gattung auf ndash doch indem sie sie inhaltlich nicht adaumlquat aus-fuumlllen treten deren Konventionen vor Augen

Durch die uumlbermaumlszligige Verwendung falscher Verweise und erfundener Quel-len geraumlt zudem das Beglaubigungsverfahren historischer Texte in den Blick-punkt Der Leser erkennt anwelchen Stellenwelche Beglaubigungsmechanismenansetzen und auf welche Weise sie unterlaufen werden koumlnnen Uumlberspitzt lieszligesich behaupten DieHistoria Augusta verfolgt ein aufklaumlrerisches Interesse indemsie (spielerisch) aufzeigt welche Beglaubigungsverfahren die Geschichtsschrei-bung nutzt und wie sie manipuliert werden koumlnnen dadurch wird auch die Ma-nipulierbarkeit von Geschichte und Leser deutlich

In De nuptiis werden ebenfalls die Konventionen der Einzelgattungen ndash zu-mindest ansatzweise ndash hervorgehoben Dass kein perfektes Musterbeispiel derjeweiligen Einzelgattung entstehen kann liegt darin begruumlndet dass durch dieVerbindung der vier literarischen Genres keine oberflaumlchliche Konsistenz derFiktion entstehen kannVielmehr entstehen Bruumlche die ndash ebenso wie die Bruumlchein der Erzaumlhlhaltung ndash auch die Gattungskonventionen und ihre Annahmendeutlich werden lassen Dies gilt besonders fuumlr die Satire deren Vorgehen imKontrast zur eigentlichen Hochzeitshandlung aus dem Rahmen faumlllt und somitbesonderes Augenmerk erhaumllt Hinzu tritt mit der Figur Satura auch eine Perso-nifikation der Gattung die in theoretischen Diskussionen Annahmen und Vor-gehen mit Martianus eroumlrtert Grunduumlberlegungen der Gattung Satire werden sotheoretisch eroumlrtert und praktisch erprobt Gleiches giltwenn auch zT inwenigerdeutlicher Form auch fuumlr die anderen Formen Die Enzyklopaumldie in ihren langenMonologen wird durch Spott markiert die trockenen Kuumlnste werden probeweisedurch Allegorien zugaumlnglicher gemacht im Symposiondialog wird uumlberlegt in-wieweit uumlbliche Rollenmuster (der Zecher) einen Platz haben oder wie weit mandie fuumlr die Feier typischen Reden fuumlhren kann und immythischen Teil wird durchdie Gegenuumlberstellung mit dem handfesten Wissensbetrieb die Andersartigkeitdes Erzaumlhlens deutlich

So werden neben den Inhalten der Wissenschaften auch verschiedene lite-rarische Formen bewahrt Neben der reinen Anwendung und somit Tradierungwerden gleichzeitig auch die Mechanismen verdeutlicht deren sich die jeweilige

154 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Gattung bedient Somit wird ihr Funktionieren nachvollziehbar und in der Folgeauch nachahmbar

3 Zusammenfassung

Martianus weckt also durch die Wahl mehrerer gleichberechtigter Erzaumlhler diesomit das Erzaumlhlen unzuverlaumlssig werden lassen besonders aber durch dieUumlbernahme satirischer Gattungselemente ein Bewusstsein fuumlr die traditionellenGrundlagen desWissens- und Lehrsystems seiner Zeit ImGegensatz zur Satire diediese Fragen kategorisch stellt handelt es sich in De nuptiis um ein Spiel damitDer Satirebezug dient als Anknuumlpfung an die traditionellen Gattungsmerkmaleder menippeischen Satire Karnevaleske und Dialogizitaumlt

Durch die (temporaumlre) Rolleninversion richtet sich das Augenmerk aufPhilologia als Wissenszentrum und Wissensmittlerin und fordert zum Nach-denken daruumlber heraus Im Kern hinterfragt das Werk alle Bereiche die mit Bil-dung und Bildungsvermittlung zu tun haben Was sind die Inhalte wahrer Bil-dung Gibt es eine Einheit von Bildung Wie kann sie vermittelt werden

Allerdings zielt die Kritik nicht auf eine Aufloumlsung klassischer Bildungsinhalteund Vermittlungsformen Sie regt vielmehr durch Scherz und Bruumlche zumNachdenken uumlber diese Fragen an Dabei verzichtet Martianus auf eigene Vor-schlaumlge und Konzepte und festigt so gleichsam den traditionellen Bildungs-betrieb Das von ihm dargestellte Wissen wird kanonisiert und die Darstel-lungsform in langen Reden wird es auch Die mittelalterliche Rezeption von Denuptiis zeigt dies eindrucksvoll

Wissen umfasst dabei nicht nur das Faktenwissen der Vortraumlge sondern auchdas Wissen um bestimmte literarische Formen Durch die Verbindung von vierGattungen und die Doppelung der Erzaumlhlerfigur mit Reflexion uumlber angemessenesErzaumlhlen entstehen Inkonsistenzen die die Konventionen der einzelnen Gattun-gen hervortreten lassen Nicht alle Elementewerden auf dieseWeise deutlich aberMartianus bietet einen Ansatzpunkt die Fiktion auch unter der Fragestellung zulesen was einen Text der jeweiligen Gattung ausmacht ndash sowohl positiv wie ne-gativ formuliert

Mit seiner kreativen Konzeption und ihrer literarischen Umsetzung gelingt esMartianus eindrucksvoll Heiteres und Belehrendes zu verbindenwomit er an dieTradition Varros und die klassische antike Poetik anknuumlpft Es gelingt ihm daruumlberhinaus aber auchWissen zu vermitteln und die traditionellen Vorstellungen vonder Bedeutung dieses Wissens wie der Form seiner Vermittlung herauszustellenSpielerisch wird also gelehrt und hinterfragt nicht jedoch kategorisch kritisiertoder kuumlhn neu entworfen Gerade dadurch zeichnet sich Martianusrsquo De nuptiis

3 Zusammenfassung 155

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

tatsaumlchlich als nescioquid inopinum intactumque (sbquoetwas Ungewohntes und nochnie Gewagteslsquo 1 2) aus und macht es zu einem der bedeutendsten Buumlcher derSpaumltantike und zu einer interessanten Quelle fuumlr die Frage nach Bildungsvor-stellungen im fuumlnften Jahrhundert

156 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Page 33: Bildungsvorstellungen im 5. Jahrhundert n. Chr. (Macrobius, Martianus Capella und Sidonius Apollinaris) || III Martianus Capella, De nuptiis Philologiae et Mercurii

Kompositionsplans Drittens hat Schievenin gezeigt dass Martianus keineswegsoberflaumlchlich und eigenwillig arbeitet Durch eine gruumlndliche Untersuchung derSilen-Passage (8 803ndash805) kann er nachweisen dass Martianus ndash wie vieleAutoren vor ihm ndash uumlber ein umfangreiches literarisches Wissen verfuumlgte daraufbei der Abfassung seines Werkes zugreifen konnte und durch gezielte Anspie-lungen neue Bezuumlge herstelltesup3⁵sup2

Satire als Mittel der KritikWaumlhrend die antike Satire (im Gegensatz zur modernen) nicht zwangslaumlufig Kritikan Missstaumlnden uumlben wollte ist diese Moumlglichkeit umgekehrt auch nicht auszu-schlieszligen Martianus koumlnnte also bewusst eine solide Darstellung der Kuumlnste inliterarischem Gewandmit der Gattung der Satire verbunden haben um Zweifel ander Ernsthaftigkeit der uumlbrigen Teile des Werkes zu wecken Er wuumlrde somit einaufklaumlrerisches Interesse verfolgen das zugleich auch unterhaltsame Zuumlge traumlgt

Eine erste Schwierigkeit dieser Lesart von De nuptiis ergibt sich bereits bei derFrage nach dem Objekt der SatireWerden die Wissensinhalte in Zweifel gezogenoder nur die Art ihrer Vermittlung in langen Reden bzwTraktaten Soll der Glaubean die umfassende Einheit des Wissens kritisiert werden oder die Vorstellungsaumlmtliches Wissen lasse sich vermitteln gar kohaumlrent in einem Werksup3⁵sup3 Ist dieVorstellung dass Wissen goumlttlich mache parodiert oder nur die abwegige Vor-stellung dass auf einer Hochzeit solche Reden gehalten werden Oder richtet sichdie Kritik letztlich gegen die Auffassung Philologia als Vorbild zu sehen oder garals Mittlerin alles Wissens ja sogar als Mittlerin zwischen Menschen und Goumlttern

Aus der Tatsache dass das Objekt der Satire keineswegs leicht zu bestimmenist kann nicht gefolgert werden dass in De nuptiis keine Satire vorliege die be-stimmte Sachverhalte kritisiere Aber es kann durchaus gefolgert werden dass eskeine expliziten textinternen Merkmale gibt die das Lesen steuern und den Ge-genstand der Kritik deutlich hervortreten lassen Die Deutungen gehen also vonmodernen Annahmen uumlber das Umfeld bzw die Gedankenwelt von Martianus aus

Im Kern handle es sich um bdquouna narrazione tersa e brillanteldquo verbunden mit einemDickicht an Verweisen Die Silen-Szene habe einen bdquocarattere colto e della dottrina e dellalingualdquo (Schievenin 1984 132) Das Fazit seiner Untersuchung formuliert Schievenin folgen-dermaszligen bdquoIl De nuptiis si rivela dunque opera di vasti orizzonti non solo per lrsquointento dida-scalico che la pervade e che ne determineragrave la fortuna ma anche per la costante presenza nellafabula della tradizione classica e dei suoi echildquo (ibid 136) Vgl zu dieser Stelle auch Bovey2003 275ndash288 ndash Den geschickten Umgang mit mehreren Quellen ndash erzaumlhlerisch wie seman-tisch ndash kann Schievenin auch fuumlr 7 725ndash727 nachweisen (Schievenin 2009e) So z B Relihan 1993 138 bdquoMartianus writes not an encyclopedia but a Menippean satirethat parodies encyclopedic knowledgeldquo

146 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

und weisen zudem meist nicht kleinschrittig auf wie der Interpret zu seiner (oftapodiktisch dargelegten) Ansicht gelangt

Nun folgt daraus noch nicht dass Martianus De nuptiis nicht als kritisierendeSatire konzipiert haumltte die Vielzahl der (wenn auch differierenden) modernenDeutungenweist ja darauf hin Zwei Uumlberlegungenwenn auch keine schlagendenBeweise lassen die Hypothese der parodierenden Satire unwahrscheinlich wer-den der Umfang von De nuptiis und seine Rezeption Eine Satire die beispiels-weise die Verbindung von Weltwissen und menschlicher Vervollkommnung in-frage stellt benoumltigt nicht noch eine umfassende Darlegung eben diesenWissensDies gilt besonders da diese Darlegung den Hauptteil des Werks ausmacht und ndashzumindest dem Umfang nach ndash die uumlbrigen Partien weit uumlberragt Eine Deutungvon De nuptiis als kritischer Satire muumlsste also besonders die Frage beantwortenzu welchem Zweck die umfangreichen Darstellungen der Freien Kuumlnste aufge-nommen sind (und nicht nur angedeutet werden)

Die Rezeption eignet sich zwar ebenfalls nicht zu sicheren Ruumlckschluumlssen aufdie originale Intention eines Werkes haumlufig bietet sie aber interessante EinblickeDie Martianus-Rezeption stellt sich bald ein Cassiodor beruft sich in seinen In-stitutiones auf ihn Dort erscheint Martianus nicht als Satiriker oder Zeitkritikersondern als Gelehrtersup3⁵⁴ In dieser Tradition wird Martianus auch im Mittelaltergelesen und rezipiertsup3⁵⁵

Aumlhnliches laumlsst sich fuumlr Boethiusrsquo Anknuumlpfen an die prosimetrische Form inder Ausgestaltung von Martianus sagen Boethius verfasst zweifelsfrei keine kri-tische Satire kann aber trotzdem an die Form und den Inhalt von De nuptiisproblemlos anknuumlpfen Sowohl der Form nach wie auch durch einzelne Zitatemacht er deutlich dass erDe nuptiis kennt und als eine seiner Vorlagen benutzt Esist zu bezweifeln dass Boethius in seinem Bemuumlhen um eine adaumlquatewerbendeDarstellung der Philosophie auf Form und Zitate des Martianus zuruumlckgegriffenhaumltte haumltte er nicht die Moumlglichkeit der gefahrlosen Uumlbernahme gesehen

Satirische Elemente als Mittel der BelehrungDer dritte Erklaumlrungsansatz fuumlr die Verbindung von Satire und Belehrung be-trachtet die Wahl Saturas als Figur und die Bezugnahme auf die Gattung zunaumlchst

Cassiod inst 2 2 17 Zur mittelalterlichen Martianus-Rezeption vgl bes Nuchelmans 1950 Lutz 1971 und 1976Willis 1973 sowie die Ausgaben und Literatur u a zu folgenden Werken Konrad von MureFabularius Hugo von Sankt Victor Didascalicon de studio legendi Johannes von SalisburyMetalogicon Kindermann kann weiterhin nachweisen dass De nuptiis auch durch seine Forminspirierend gewirkt hat (Kindermann 1969 61 f)

2 De nuptiis als literarisches Werk 147

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

als reine Fortsetzungder literarischen Form Fuumlr diese spezielle Formder Literaturdie menippeische Satire hat der russische Literaturwissenschaftler MichailBachtin Beobachtungen aufgestellt die auch fuumlr De nuptiis zutreffen Durch denRuumlckgriff auf zwei zentrale Konzepte Bachtins das Karnevaleske und die Dialo-gizitaumlt wird ein Verstaumlndnis von De nuptiis ermoumlglicht

Auf der Suche nach Vorlagen und Urformen der Gattung des Romans ins-besondere in der Form von Dostojewskis Romanen stieszlig Bachtin unter anderemauch auf die menippeische Satire die er bis in die Antike zuruumlckverfolgtesup3⁵⁶ Zuihren Vertretern zaumlhlt er unter anderem Varro Apuleius Petron Seneca oderLukiansup3⁵⁷ Martianus Capella wird nicht erwaumlhnt was aber nicht verwundernmuss da Bachtin keine Literaturgeschichte der menippeischen Satire schriebsup3⁵⁸

Kern der Uumlberlegungen Bachtins zurmenippeischen Satire ist das Konzept desKarnevals Unter Karneval versteht er folkloristische Feste waumlhrend deren diebestehende Ordnung verkehrt wird uumlbliche Regeln nicht mehr gelten Herr-schende gestuumlrzt und Machtlose maumlchtig werden ndash auf Zeit Die Karnevalisierungalso die Uumlbernahme der Kennzeichen dieses Festes in neue oder bestehende li-terarische Formen institutionalisiert diese Ausnahmesituation und loumlst sie vomkonkreten Fest Der so entstandene Text wird bdquozum karnevalesken Spiel an demder Autor und sein Publikum einverstaumlndlich teilhaben und das keines kalen-darisch oder institutionell abgesicherten Karnevalsrahmens mehr bedarfldquosup3⁵⁹

Diese Karnevalisierung fuumlhrt unter anderem zu einer Vielstimmigkeit vonMeinungen und Positionen im Text z B durch mehrere Figurenvon denen keinebevorzugt oder gar als autoritativ gekennzeichnet wird In dieser Dialogizitaumlt wirdkein allgemein guumlltiger Sinnmehr vermittelt sondern dieWahrheit suspendiertsup3⁶⁰

Dass der Bezug auf karnevalsartige Feste der Gattung menippeische Satire (inTeilen auch der Verssatire) eignet zeigt ein kurzer Blick auf wichtige Vertreter derTradition

Julians Symposion Caesares spielt zur Zeit der Saturnalien Die Bedeutungdieses Festes fuumlr das Werk wird dadurch verdeutlicht dass es den Handlungs-

Bachtin 1971 126ndash 135 Bachtin 1971 126 128 132f Kritik an den z T pauschalisierenden und verfaumllschenden Aussagen Bachtins uumlber antikeLiteratur oder an der ununterbrochenen Traditionslinie von der Antike bis in die Moderne (z BRelihan 1987 59 Lachmann 2006 23ndash25) muumlsste auch auf manche moderne Literaturwissen-schaftler in der Nachfolge Bachtins angewandt werden (vgl Branham 2005 6 wo es uumlberSenecas Apocolocyntosis heiszligt bdquoour only extant Menippean satire in Latinldquo) Teuber 1993 182 Eine gut verstaumlndliche Einfuumlhrung in das Konzept der Dialogizitaumlt im Sinne der bach-tinschen Terminologie bietet Sharland 2010 Einfuumlhrung (1ndash51)

148 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

rahmen fuumlr den in der Folge erzaumlhlten Mythos bildet Bereits im ersten Satz wirdauf das Fest und die Tradition Heiteres frei zu erzaumlhlen Bezug genommensup3⁶sup1

Auch Senecas Apocolocyntosis stellt einen engen Bezug zum Saturnalienfesther Das Werk spielt zwar nicht an den Saturnalien sondern am Todestag desClaudius im Oktober doch wird an zwei Stellen eine Verbindung zwischen derHerrschaft des verstorbenen Kaisers und den dargestellten Sitten waumlhrend derRegierungszeit mit dem Saturnalienfest gezogensup3⁶sup2 Manche Interpreten gehensogar davon aus dass die Apocolocyntosis an den Saturnalien des Jahres 54vorgetragen wurdesup3⁶sup3 Auch bei Petron und Horaz finden sich Bezugnahmen aufdie Saturnaliensup3⁶⁴

Ein zentrales Element des Saturnalienfestes liegt in der Suspension der uumlb-licherweise geltenden Normen und Wertesup3⁶⁵ Neben den anderen Elementen desFestes wie sie z B in Macrobiusrsquo Saturnalia (1 7ndash 10 1 24 22 f) beschriebenwerden (traditionelle Geschenke Festmahl fuumlr die Sklaven etc) hat gerade dieUmkehrung der Herrschaftsverhaumlltnisse im Haus Niederschlag in der Literaturgefunden

Gerade durch diese Rolleninversion treten einige wichtige gesellschaftlicheNormvorstellungen und Grundannahmen prominent hervor Dazu zaumlhlt das Be-wusstsein dass es eine befehlende und eine ausfuumlhrende Gruppe von Menschengibt oder dass im Prinzip ein Rollenwechsel moumlglich sein kann Alle Beteiligten

Ἐπειδὴ δίδωσιν ὁ θεὸς παίζειν ndash ἔστι γὰρ Κρόνια ndash hellip (sbquoDa der Gott das Scherzen erlaubt ndashes sind ja die Kronia helliplsquo Caes 1 = 306a Spanheim) Zur Frage ob es sich bei Caesares auch umdas Werk handle auf das zu Ende der Rede auf Koumlnig Helios verwiesen wird (Or in Sol reg 44 =157c Spanheim) vgl Muumlller in seiner Uumlbersetzung (39 ablehnend) und Lacombrade im Vorwortseiner Budeacute-Ausgabe (3 und 18 Anm 3) der aufgrund des Handschriftenbefundes Kronia auchals Titelbestandteil fuumlr die Caesares uumlbernimmt Es handelt sich um Sen apocol 8 1 (Claudius als Saturnalienprinz) und 12 2 (Herrschaftdes Claudius als andauerndes Saturnalienfest) ndash Dass Lukian nicht auf die Saturnalien alsRahmen fuumlr seine Werke zuruumlckgreift entwertet die Beobachtungen nicht Lukian musste auf-grund seines Selbstbewusstseins als satirischer Schriftsteller und aufgrund der Menge seinersatirischen Schriften nicht jedes Mal einen eigenen literarischen Rahmen herstellen in demeinzelne Dialoge stattfinden konnten Das Saturnalienfest selbst erscheint bei Lukian als Ge-genstand der Satire nicht als deren literarische Rahmung (Τὰ πρὸς Κρόνον) Zuerst bei Furneaux 1896 23 Anm 11 In der neueren Forschung vgl bes Nauta 1987Kritisch dazu u a Doumlpp 1993 159 f Petron 44 3 58 2 69 9 zu Horaz vgl z B serm 2 7 (libertas Decembris) Ein gelungenesBeispiel der Anpassung und Anwendung der bachtinschen Konzepte mit Ertrag fuumlr die Inter-pretation unter Einbezug von serm 2 7 bietet Sharland 2010 Distelrath 1999 114 Vgl weiterhin Versnel 1993 136ndash227 und Doumlpp 1993 Eine plastischeSchilderung der Rollenvertauschung bei der der Sklave dem Herrn die Leviten liest bietet Horserm 2 7

2 De nuptiis als literarisches Werk 149

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Herren wie Sklaven spielen also mit den Moumlglichkeiten einer alternativen Wirk-lichkeit

Das Besondere im Spiel mit den Moumlglichkeiten liegt aber in seiner zeitlichenBegrenzung Nach der Zeit des Ausnahmezustands gelten wieder die normalenimmer guumlltigen Regeln Die Rolleninversion erlaubt also ndash oder erzwingt gera-dezu ndash das Nachdenken uumlber bestimmte gesellschaftliche Normen und Wertvor-stellungen Durch die Ritualisierung und enge zeitliche Begrenzung ist darausjedoch keineswegs die Notwendigkeit entstanden die Verhaumlltnisse tatsaumlchlich zuhinterfragen oder gar zu aumlndern Daher lassen sich die Saturnalien auch als ein dieKonventionen bestaumlrkendes Fest verstehen Das Spiel mit der Moumlglichkeit eineranderen Gesellschaftsordnung hat durch seine Ritualisierung letztlich eine dieTradition legitimierende Funktion bekommen

In De nuptiis finden sich jedoch houmlchstens spaumlrliche Hinweise auf das Sa-turnalienfest Am ehesten weist das grob scherzende Agieren Saturas in diesenBereich Die bdquolangen Winternaumlchteldquo (1 2) koumlnnten (statt als Bezug auf Gellius) alsAnspielung auf das Saturnalienfest verstandenwerden ndash die Saturnalien finden inden laumlngsten Naumlchten uumlberhaupt statt seit der Kaiserzeit vom 17 bis 23 DezemberDies ndash wie die Spekulation uumlber eine spielerische etymologische Verbindung vonSatura und Saturnaliensup3⁶⁶ ndash ist aber insofern nicht von Belang da die Gattung alsGanze karnevaleske Zuumlge traumlgt und als gewissermaszligen institutionalisierter Kar-neval vom eigentlichen Fest losgeloumlst istsup3⁶⁷

Die Aufhebung der uumlblichen Ordnung (was Teuber im Ruumlckgriff auf Limina-litaumltskonzepte als praumlliminale Phase bezeichnet)sup3⁶⁸ beginnt mit der VorbereitungPhilologias zum Aufstieg in den Himmel Bereits das Erbrechen stellt eine mar-kante Umkehrung der alltaumlglichen Welt dar Statt sich Wissen anzueignen er-bricht Philologia es nun In der Goumltterversammlung auf der Milchstraszlige ist dieOrdnung sodann voumlllig verkehrt Philologia als Meisterin aller Disziplinen und

Zwar sind die einschlaumlgigen etymologischen Woumlrterbuumlcher skeptisch (v a WaldeHof-mann 2007 II 482 neutral ErnoutMeillet 2001 596) jedoch gibt es dahin gehende moderneDeutungen (aufgefuumlhrt bei WaldeHofmann 2007 II 482) und auch antike ParallelisierungenCic nat deor 2 64 Saturnus hellip est appellatus quod saturaretur annis (sbquoSaturn hellip wurde ergenannt weil er an Jahren gesaumlttigt istlsquo) Fulg myth 1 2 (p 17 16) a saturando Saturnus dictusest (sbquoDa er (die Menschen) saumlttigt wurde er Saturn genanntlsquo) Aug cons euang 1 23 35 Sa-turnus tamquam satur hellip νοῦς (sbquoSaturn gleichsam der gesaumlttigte hellip νοῦςlsquo) Vgl auch Gowers diedie etymologischen Verbindungen von satura Satyrspiel und Saturnalien untersucht (Gowers1993 109ndash 117) Sie kommt zu dem Befund dass keine Verbindung bestehe wohl aber verbin-dende Elemente identifiziert werden koumlnnten bdquocarnival licence parody uninhibited mockeryand excessive consumptionldquo (ibid 117) Vgl z B Teuber 1993 183 f Teuber 1993 183

150 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

bedeutende Lehrinstanz muss sich ihrerseits belehren lassen ndash mit dem Wissendas urspruumlnglich ihres war

Durch die Inversion wird die (vielleicht uumlblicherweise nicht prominente)Philologia in den Mittelpunkt geruumlckt und ihre zentrale Rolle im Wissenssystemtritt markant vor Augen Gleichzeitig kann darin eine leise Anfrage an ihre Lehr-autoritaumlt und eventuell auch ihre Eignung zur Lehre gesehen werden

Aufgrund des zeitlich begrenzten Rahmens der Verkehrung (diemit dem Endeder Vortraumlge voruumlber ist aber nicht explizit zuruumlckverwandelt wird) dessen Be-grenztheit durch Bezug auf die Form der menippeischen Satire ergaumlnzt werdenkann wird das System der Bildung und der Bildungsvermittlung jedoch nichtgrundsaumltzlich infrage gestellt Die Suspendierung Philologias ist temporaumlr

Dem Konzept der Dialogizitaumlt oder Mehrstimmigkeit folgend erklaumlrt sich auchdie Doppelung und Verunklarung der Erzaumlhlinstanz In den drei Dialogen indenen Satura und Martianus aufeinandertreffen behandeln sie die Frage desrichtigen Erzaumlhlens Dies beschraumlnkt sich nicht nur auf die Satire sondern umfasstalle auftretenden literarischen Formen Martianus und Satura sind sich uneinswie weit der Mythos reichen soll und ob eine Enzyklopaumldie trocken oder auchunterhaltsam erzaumlhlt werden soll (2 219ndash3 222) ob ein Symposion auch Zechenund Spaszlig vertraumlgt (8 803ndash810) oder ob und wie stark Satire Dinge vermischendarf (9 997ndash 1000)

Die unterschiedlichen Meinungen zu den Fragen werden zwar diskutiert undfuumlhren zu einem Ergebnis ndash der Erzaumlhlfluss versiegt ja an keiner Stelle oder setztneu an Allerdings entsteht in der Folge kein homogenes Werk und am Schlussmag keiner der beiden Erzaumlhler dafuumlr die Verantwortung uumlbernehmen Der Wi-derwillen sich zu dem Werk zu bekennen bedeutet aber gleichzeitig auch dassMartianus sich nicht festlegt welche Position er fuumlr die richtige haumllt Die Fragenach der rechten Art der Wissensvermittlung die auch in der Ent- und Inthroni-sierung Philologias anklang bleibt unbeantwortet

Schlieszliglich bringt der Blick auf die Aurelian-Vita aus der Historia Augustanoch einen weiteren Aspekt ein Parallel zur Aufteilung der Erzaumlhlinstanzen in Denuptiiswird der Erzaumlhlprozess in derHistoria Augusta aufmehrere AutorenverteiltWie zuerst Hermann Dessau und in der Folge Ronald Syme nachdruumlcklich gezeigthaben handelt es sich allerdings um nur einen Verfasser der uumlberdies auch inBezug auf die Abfassungszeit falsche Angaben gemacht hat und Quellen erfundenhatsup3⁶⁹ Insofern laumlsst sich der in der Historia Augusta gepraumlgte Begriff der

Auf den Charakter der Sammlung die Syme u a als bdquohoaxldquo bezeichnet (1983a 11 1983b13 1983c 219) die fingierten Autoren die manipulierten Quellen etc soll an dieser Stelle nurhingewiesen werden Vgl auch Cameron 2011 Kap 20 mit ausfuumlhrlicher Diskussion relevanterFragen

2 De nuptiis als literarisches Werk 151

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mythistoria der Vermischung von Mythischem und Historischem auch auf dieSammlung selbst anwendensup3⁷⁰

Als Menippee im engeren Sinne laumlsst sich weiterhin die Aurelian-Vita die 26Vita der Sammlung fassen und bezeichnenderweise spielt die Rahmenhandlungan denHilariasup3⁷sup1Wie zu den Saturnalien gehoumlren zu diesem Fest Scherze und ndash imRahmen von Maskierungen ndash Rollenwechselsup3⁷sup2

Noch in der rahmenden Einleitung zur Vita spielt sich folgender Dialog ab

1 et quoniam sermo nobis de Trebltellgtio Pollione qui a duobus Philippis usque ad divumClaudium et eius fratrem Quintillum imperatores tam claros quam obscuros memoriaeprodidit in eodem vehiculo fuit adserente Tiberiano quod Pollio multa incuriose multabreviter prodidisset me contra dicente neminem scriptorum quantum ad historiam pertinetnon aliquid esse mentitum prodente quin etiam in quo Livius in quo Sallustius in quoCornelius Tacitus in quo denique Trogus manifestis testibus convincerentur pedibus insententiam transitum faciens ac manum porrigens iocando[m] praeterea sbquoscribelsquo inquit sbquout

quae ille [scil Iunius Cordus] omnia exsequendo libros mythistoriis replevit talia scribendocum omnino rerum vilium aut nulla scribenda sint aut nimis pauca si tamen ex his morespossint animadverti qui re vera sciendi sunt hellip sed ex parte ut ex ea cetera colligantur(SHA Opil 1 5)

Bei der Anfuumlhrung von all diesen Informationen hat er die Buumlcher mit fabuloumlsen Ge-schichten angefuumlllt indem er Dinge von dieser Art schrieb wo doch uumlberhaupt keinenutzlosen Dinge geschrieben werden duumlrfen oder nur sehr wenige sofern daraus Verhal-tensweisen erkannt werden koumlnnen die wirklich wissenswert sind hellip aber zum Teil(schreibe ich) damit daraus das Andere gefolgert werden kann

quid Marius Maximus homo omnium verbosissimus qui et mythist[h]oricis se voluminibusinplicavit num ad istam descriptionem curamque descendit (SHA Quadr tyr 1 2)

Wie Hat sich Marius Maximus der groumlszligte Schwaumltzer vor dem Herrn der sich in seinenmythistorischen Werken verfangen hat etwa zu dieser Art der Darstellung und des sorg-faumlltigen Arbeitens herabgelassen

Hilaribus quibus omnia festa et fieri debere scimus et dici impletis sollemnibus vehiculo suome hellip Iunius Tiberianus accepit (SHA Aurelian 1 1)

An den Hilaria an denen alles zum Fest Gehoumlrende getan und gesagt werden muss wieman weiszlig empfing mich nach Erledigung der Zeremonien Iunius Tiberianus in seinemGefaumlhrt

Pausch bemerkt dieses besondere Datum zwar und erwaumlgt ob es sich um ein bdquoweitergehendesLesesignalldquo beispielsweise im Sinne karnevalesker Literatur handeln koumlnne verfolgt diese Spuraber nicht weiter (Pausch 2011 130 Anm 1) Herodian 1 10 5 ndash Einige Hinweise auf die Hilaria die im Kontext des Magna Mater-Festesam 25 Maumlrz gefeiert wurden bietet Fraser in seinem Kommentar zu Ovids Fasti (Fraser 1929244ndash248)

152 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

libet 2 securus quod velis dices habiturus mendaciorum comites quos historicae elo-quentiae miramur auctoreslsquo (SHA Aurelian 2 1ndash2)

1 Und weil unser Gespraumlch uumlber Trebellius Pollio der von den beiden Philippi bis zumvergoumlttlichten Claudius und dessen Bruder Quintillus gleichermaszligen uumlber beruumlhmte wieunbekannte Kaiser fuumlr die Nachwelt schrieb in derselben Saumlnfte stattfand behauptete erdass Pollio vieles ohne Sorgfalt und nur kurz dargelegt habe Ich erwiderte dass keinSchriftsteller sofern es um die Geschichte gehe nicht irgendwo gelogen habe und legtesodann dar worin sogar Livius Sallust Tacitus schlieszliglich sogar Trogus mit eindeutigenBelegen uumlberfuumlhrt werden koumlnnten Darauf sagte Tiberianus schlieszliglich scherzend indem ermeiner Meinung beipflichtete und mir seine Hand darbot bdquoSchreibe sowie du es fuumlr richtighaumlltst 2 Sage unbesorgt was du willst du wirst diejenigen als Gefaumlhrten fuumlr deine Taumlu-schungen haben die wir als Schoumlpfer historiographischer Beredsamkeit bewundernldquo

So sympathisch dieser Anspruch auch erscheinen mag ist er doch fuumlr das Ver-trauen in die Gattung der Geschichtsschreibung fatal Gerade in der Einleitungeiner Vita jedoch ndash zumal es der Fiktion nach die erste des Flavius Vopiscus Sy-racusius im Corpus der Historia Augusta ist ndash kann eine solche Anekdote ei-gentlich keinen Platz haben Sie erweckt beim Leser den Eindruck dass er dennachfolgend dargebotenen Informationen kein Vertrauen schenken duumlrfesup3⁷sup3

Die Parallelen zwischen der Historia Augusta insbesondere dem Vorgehen inder Vita Aureliani und De nuptiis liegen auf der Hand Verunklarung der Autor-schaft bzw der Erzaumlhlhaltung einerseits Erwecken von Zweifeln an der Glaub-wuumlrdigkeit des Dargebotenen andererseits

In der Historia Augusta sind die Inkongruenzen mit der Freude des Autors amliterarischen Spiel erklaumlrt worden Der Autor habe aus Freude am Fabulieren(vielleicht auchumein dafuumlr empfaumlngliches Publikum zu befriedigen) die Viten indieser Form verfasstsup3⁷⁴ Mag man dies fuumlr die Historia Augusta noch zugestehenderen Text uumlber einen laumlngeren Zeitraum vielleicht zunaumlchst ohne eine Gesamt-konzeption entstanden ist und auch sprachlich nicht herausragt stellt sich derSachverhalt fuumlr Martianusrsquo De nuptiis anders dar Das Werk hat durchaus einenliterarischen Anspruch und es folgt eindeutig einer vorab geplanten Gesamtan-lage Die Freude am Spiel mag vielleicht manches Detail beigesteuert haben fuumlrdie verschraumlnkte Anlage des Textes ist sie aber keine Erklaumlrung

Ganz anders ist der Anspruch zum Ende der Darstellung der Viten der bdquoDreiszligig Tyrannenldquoin dem der Autor beteuert seinem Werk mangele es zwar an literarischer Ausgefeiltheit nichtjedoch an Faktentreue da nunc cuivis libellum non tam diserte quam fideliter scriptum ndash sbquoGibnun dieses Buumlchleinwem du magst es ist nicht so sehr kunstvoll geschrieben wie es sachgetreuistlsquo (SHA Quadr tyr 33 8) Syme nennt dies bdquodeceit for its own sweet sakeldquo (1983c 217) Im gleichen Aufsatz spe-kuliert er auch uumlber das Interesse des Publikums an einer solchen Art von geistigem Spiel(ibid 221)

2 De nuptiis als literarisches Werk 153

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Es lohnt sich jedoch auch fuumlr die Historia Augusta einen Schritt weiter zugehen Ausgangspunkt dafuumlr ist die obige Beobachtungdass das literarische Spielder Historia Augusta nur durchschaut wer die Werke der historischen Literaturkennt Durch die Lektuumlre historiographischer Biographien bringt der Leser einebestimmte Leseerwartung also implizite Vorstellungen mit wie das Werk aus-sehen soll und wird Diese Erwartungen werden aber nicht oder nur teilweisebedient Formal gesehen weisen die Viten in der Historia Augusta zwar die Cha-rakteristika der Gattung auf ndash doch indem sie sie inhaltlich nicht adaumlquat aus-fuumlllen treten deren Konventionen vor Augen

Durch die uumlbermaumlszligige Verwendung falscher Verweise und erfundener Quel-len geraumlt zudem das Beglaubigungsverfahren historischer Texte in den Blick-punkt Der Leser erkennt anwelchen Stellenwelche Beglaubigungsmechanismenansetzen und auf welche Weise sie unterlaufen werden koumlnnen Uumlberspitzt lieszligesich behaupten DieHistoria Augusta verfolgt ein aufklaumlrerisches Interesse indemsie (spielerisch) aufzeigt welche Beglaubigungsverfahren die Geschichtsschrei-bung nutzt und wie sie manipuliert werden koumlnnen dadurch wird auch die Ma-nipulierbarkeit von Geschichte und Leser deutlich

In De nuptiis werden ebenfalls die Konventionen der Einzelgattungen ndash zu-mindest ansatzweise ndash hervorgehoben Dass kein perfektes Musterbeispiel derjeweiligen Einzelgattung entstehen kann liegt darin begruumlndet dass durch dieVerbindung der vier literarischen Genres keine oberflaumlchliche Konsistenz derFiktion entstehen kannVielmehr entstehen Bruumlche die ndash ebenso wie die Bruumlchein der Erzaumlhlhaltung ndash auch die Gattungskonventionen und ihre Annahmendeutlich werden lassen Dies gilt besonders fuumlr die Satire deren Vorgehen imKontrast zur eigentlichen Hochzeitshandlung aus dem Rahmen faumlllt und somitbesonderes Augenmerk erhaumllt Hinzu tritt mit der Figur Satura auch eine Perso-nifikation der Gattung die in theoretischen Diskussionen Annahmen und Vor-gehen mit Martianus eroumlrtert Grunduumlberlegungen der Gattung Satire werden sotheoretisch eroumlrtert und praktisch erprobt Gleiches giltwenn auch zT inwenigerdeutlicher Form auch fuumlr die anderen Formen Die Enzyklopaumldie in ihren langenMonologen wird durch Spott markiert die trockenen Kuumlnste werden probeweisedurch Allegorien zugaumlnglicher gemacht im Symposiondialog wird uumlberlegt in-wieweit uumlbliche Rollenmuster (der Zecher) einen Platz haben oder wie weit mandie fuumlr die Feier typischen Reden fuumlhren kann und immythischen Teil wird durchdie Gegenuumlberstellung mit dem handfesten Wissensbetrieb die Andersartigkeitdes Erzaumlhlens deutlich

So werden neben den Inhalten der Wissenschaften auch verschiedene lite-rarische Formen bewahrt Neben der reinen Anwendung und somit Tradierungwerden gleichzeitig auch die Mechanismen verdeutlicht deren sich die jeweilige

154 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Gattung bedient Somit wird ihr Funktionieren nachvollziehbar und in der Folgeauch nachahmbar

3 Zusammenfassung

Martianus weckt also durch die Wahl mehrerer gleichberechtigter Erzaumlhler diesomit das Erzaumlhlen unzuverlaumlssig werden lassen besonders aber durch dieUumlbernahme satirischer Gattungselemente ein Bewusstsein fuumlr die traditionellenGrundlagen desWissens- und Lehrsystems seiner Zeit ImGegensatz zur Satire diediese Fragen kategorisch stellt handelt es sich in De nuptiis um ein Spiel damitDer Satirebezug dient als Anknuumlpfung an die traditionellen Gattungsmerkmaleder menippeischen Satire Karnevaleske und Dialogizitaumlt

Durch die (temporaumlre) Rolleninversion richtet sich das Augenmerk aufPhilologia als Wissenszentrum und Wissensmittlerin und fordert zum Nach-denken daruumlber heraus Im Kern hinterfragt das Werk alle Bereiche die mit Bil-dung und Bildungsvermittlung zu tun haben Was sind die Inhalte wahrer Bil-dung Gibt es eine Einheit von Bildung Wie kann sie vermittelt werden

Allerdings zielt die Kritik nicht auf eine Aufloumlsung klassischer Bildungsinhalteund Vermittlungsformen Sie regt vielmehr durch Scherz und Bruumlche zumNachdenken uumlber diese Fragen an Dabei verzichtet Martianus auf eigene Vor-schlaumlge und Konzepte und festigt so gleichsam den traditionellen Bildungs-betrieb Das von ihm dargestellte Wissen wird kanonisiert und die Darstel-lungsform in langen Reden wird es auch Die mittelalterliche Rezeption von Denuptiis zeigt dies eindrucksvoll

Wissen umfasst dabei nicht nur das Faktenwissen der Vortraumlge sondern auchdas Wissen um bestimmte literarische Formen Durch die Verbindung von vierGattungen und die Doppelung der Erzaumlhlerfigur mit Reflexion uumlber angemessenesErzaumlhlen entstehen Inkonsistenzen die die Konventionen der einzelnen Gattun-gen hervortreten lassen Nicht alle Elementewerden auf dieseWeise deutlich aberMartianus bietet einen Ansatzpunkt die Fiktion auch unter der Fragestellung zulesen was einen Text der jeweiligen Gattung ausmacht ndash sowohl positiv wie ne-gativ formuliert

Mit seiner kreativen Konzeption und ihrer literarischen Umsetzung gelingt esMartianus eindrucksvoll Heiteres und Belehrendes zu verbindenwomit er an dieTradition Varros und die klassische antike Poetik anknuumlpft Es gelingt ihm daruumlberhinaus aber auchWissen zu vermitteln und die traditionellen Vorstellungen vonder Bedeutung dieses Wissens wie der Form seiner Vermittlung herauszustellenSpielerisch wird also gelehrt und hinterfragt nicht jedoch kategorisch kritisiertoder kuumlhn neu entworfen Gerade dadurch zeichnet sich Martianusrsquo De nuptiis

3 Zusammenfassung 155

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

tatsaumlchlich als nescioquid inopinum intactumque (sbquoetwas Ungewohntes und nochnie Gewagteslsquo 1 2) aus und macht es zu einem der bedeutendsten Buumlcher derSpaumltantike und zu einer interessanten Quelle fuumlr die Frage nach Bildungsvor-stellungen im fuumlnften Jahrhundert

156 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Page 34: Bildungsvorstellungen im 5. Jahrhundert n. Chr. (Macrobius, Martianus Capella und Sidonius Apollinaris) || III Martianus Capella, De nuptiis Philologiae et Mercurii

und weisen zudem meist nicht kleinschrittig auf wie der Interpret zu seiner (oftapodiktisch dargelegten) Ansicht gelangt

Nun folgt daraus noch nicht dass Martianus De nuptiis nicht als kritisierendeSatire konzipiert haumltte die Vielzahl der (wenn auch differierenden) modernenDeutungenweist ja darauf hin Zwei Uumlberlegungenwenn auch keine schlagendenBeweise lassen die Hypothese der parodierenden Satire unwahrscheinlich wer-den der Umfang von De nuptiis und seine Rezeption Eine Satire die beispiels-weise die Verbindung von Weltwissen und menschlicher Vervollkommnung in-frage stellt benoumltigt nicht noch eine umfassende Darlegung eben diesenWissensDies gilt besonders da diese Darlegung den Hauptteil des Werks ausmacht und ndashzumindest dem Umfang nach ndash die uumlbrigen Partien weit uumlberragt Eine Deutungvon De nuptiis als kritischer Satire muumlsste also besonders die Frage beantwortenzu welchem Zweck die umfangreichen Darstellungen der Freien Kuumlnste aufge-nommen sind (und nicht nur angedeutet werden)

Die Rezeption eignet sich zwar ebenfalls nicht zu sicheren Ruumlckschluumlssen aufdie originale Intention eines Werkes haumlufig bietet sie aber interessante EinblickeDie Martianus-Rezeption stellt sich bald ein Cassiodor beruft sich in seinen In-stitutiones auf ihn Dort erscheint Martianus nicht als Satiriker oder Zeitkritikersondern als Gelehrtersup3⁵⁴ In dieser Tradition wird Martianus auch im Mittelaltergelesen und rezipiertsup3⁵⁵

Aumlhnliches laumlsst sich fuumlr Boethiusrsquo Anknuumlpfen an die prosimetrische Form inder Ausgestaltung von Martianus sagen Boethius verfasst zweifelsfrei keine kri-tische Satire kann aber trotzdem an die Form und den Inhalt von De nuptiisproblemlos anknuumlpfen Sowohl der Form nach wie auch durch einzelne Zitatemacht er deutlich dass erDe nuptiis kennt und als eine seiner Vorlagen benutzt Esist zu bezweifeln dass Boethius in seinem Bemuumlhen um eine adaumlquatewerbendeDarstellung der Philosophie auf Form und Zitate des Martianus zuruumlckgegriffenhaumltte haumltte er nicht die Moumlglichkeit der gefahrlosen Uumlbernahme gesehen

Satirische Elemente als Mittel der BelehrungDer dritte Erklaumlrungsansatz fuumlr die Verbindung von Satire und Belehrung be-trachtet die Wahl Saturas als Figur und die Bezugnahme auf die Gattung zunaumlchst

Cassiod inst 2 2 17 Zur mittelalterlichen Martianus-Rezeption vgl bes Nuchelmans 1950 Lutz 1971 und 1976Willis 1973 sowie die Ausgaben und Literatur u a zu folgenden Werken Konrad von MureFabularius Hugo von Sankt Victor Didascalicon de studio legendi Johannes von SalisburyMetalogicon Kindermann kann weiterhin nachweisen dass De nuptiis auch durch seine Forminspirierend gewirkt hat (Kindermann 1969 61 f)

2 De nuptiis als literarisches Werk 147

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

als reine Fortsetzungder literarischen Form Fuumlr diese spezielle Formder Literaturdie menippeische Satire hat der russische Literaturwissenschaftler MichailBachtin Beobachtungen aufgestellt die auch fuumlr De nuptiis zutreffen Durch denRuumlckgriff auf zwei zentrale Konzepte Bachtins das Karnevaleske und die Dialo-gizitaumlt wird ein Verstaumlndnis von De nuptiis ermoumlglicht

Auf der Suche nach Vorlagen und Urformen der Gattung des Romans ins-besondere in der Form von Dostojewskis Romanen stieszlig Bachtin unter anderemauch auf die menippeische Satire die er bis in die Antike zuruumlckverfolgtesup3⁵⁶ Zuihren Vertretern zaumlhlt er unter anderem Varro Apuleius Petron Seneca oderLukiansup3⁵⁷ Martianus Capella wird nicht erwaumlhnt was aber nicht verwundernmuss da Bachtin keine Literaturgeschichte der menippeischen Satire schriebsup3⁵⁸

Kern der Uumlberlegungen Bachtins zurmenippeischen Satire ist das Konzept desKarnevals Unter Karneval versteht er folkloristische Feste waumlhrend deren diebestehende Ordnung verkehrt wird uumlbliche Regeln nicht mehr gelten Herr-schende gestuumlrzt und Machtlose maumlchtig werden ndash auf Zeit Die Karnevalisierungalso die Uumlbernahme der Kennzeichen dieses Festes in neue oder bestehende li-terarische Formen institutionalisiert diese Ausnahmesituation und loumlst sie vomkonkreten Fest Der so entstandene Text wird bdquozum karnevalesken Spiel an demder Autor und sein Publikum einverstaumlndlich teilhaben und das keines kalen-darisch oder institutionell abgesicherten Karnevalsrahmens mehr bedarfldquosup3⁵⁹

Diese Karnevalisierung fuumlhrt unter anderem zu einer Vielstimmigkeit vonMeinungen und Positionen im Text z B durch mehrere Figurenvon denen keinebevorzugt oder gar als autoritativ gekennzeichnet wird In dieser Dialogizitaumlt wirdkein allgemein guumlltiger Sinnmehr vermittelt sondern dieWahrheit suspendiertsup3⁶⁰

Dass der Bezug auf karnevalsartige Feste der Gattung menippeische Satire (inTeilen auch der Verssatire) eignet zeigt ein kurzer Blick auf wichtige Vertreter derTradition

Julians Symposion Caesares spielt zur Zeit der Saturnalien Die Bedeutungdieses Festes fuumlr das Werk wird dadurch verdeutlicht dass es den Handlungs-

Bachtin 1971 126ndash 135 Bachtin 1971 126 128 132f Kritik an den z T pauschalisierenden und verfaumllschenden Aussagen Bachtins uumlber antikeLiteratur oder an der ununterbrochenen Traditionslinie von der Antike bis in die Moderne (z BRelihan 1987 59 Lachmann 2006 23ndash25) muumlsste auch auf manche moderne Literaturwissen-schaftler in der Nachfolge Bachtins angewandt werden (vgl Branham 2005 6 wo es uumlberSenecas Apocolocyntosis heiszligt bdquoour only extant Menippean satire in Latinldquo) Teuber 1993 182 Eine gut verstaumlndliche Einfuumlhrung in das Konzept der Dialogizitaumlt im Sinne der bach-tinschen Terminologie bietet Sharland 2010 Einfuumlhrung (1ndash51)

148 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

rahmen fuumlr den in der Folge erzaumlhlten Mythos bildet Bereits im ersten Satz wirdauf das Fest und die Tradition Heiteres frei zu erzaumlhlen Bezug genommensup3⁶sup1

Auch Senecas Apocolocyntosis stellt einen engen Bezug zum Saturnalienfesther Das Werk spielt zwar nicht an den Saturnalien sondern am Todestag desClaudius im Oktober doch wird an zwei Stellen eine Verbindung zwischen derHerrschaft des verstorbenen Kaisers und den dargestellten Sitten waumlhrend derRegierungszeit mit dem Saturnalienfest gezogensup3⁶sup2 Manche Interpreten gehensogar davon aus dass die Apocolocyntosis an den Saturnalien des Jahres 54vorgetragen wurdesup3⁶sup3 Auch bei Petron und Horaz finden sich Bezugnahmen aufdie Saturnaliensup3⁶⁴

Ein zentrales Element des Saturnalienfestes liegt in der Suspension der uumlb-licherweise geltenden Normen und Wertesup3⁶⁵ Neben den anderen Elementen desFestes wie sie z B in Macrobiusrsquo Saturnalia (1 7ndash 10 1 24 22 f) beschriebenwerden (traditionelle Geschenke Festmahl fuumlr die Sklaven etc) hat gerade dieUmkehrung der Herrschaftsverhaumlltnisse im Haus Niederschlag in der Literaturgefunden

Gerade durch diese Rolleninversion treten einige wichtige gesellschaftlicheNormvorstellungen und Grundannahmen prominent hervor Dazu zaumlhlt das Be-wusstsein dass es eine befehlende und eine ausfuumlhrende Gruppe von Menschengibt oder dass im Prinzip ein Rollenwechsel moumlglich sein kann Alle Beteiligten

Ἐπειδὴ δίδωσιν ὁ θεὸς παίζειν ndash ἔστι γὰρ Κρόνια ndash hellip (sbquoDa der Gott das Scherzen erlaubt ndashes sind ja die Kronia helliplsquo Caes 1 = 306a Spanheim) Zur Frage ob es sich bei Caesares auch umdas Werk handle auf das zu Ende der Rede auf Koumlnig Helios verwiesen wird (Or in Sol reg 44 =157c Spanheim) vgl Muumlller in seiner Uumlbersetzung (39 ablehnend) und Lacombrade im Vorwortseiner Budeacute-Ausgabe (3 und 18 Anm 3) der aufgrund des Handschriftenbefundes Kronia auchals Titelbestandteil fuumlr die Caesares uumlbernimmt Es handelt sich um Sen apocol 8 1 (Claudius als Saturnalienprinz) und 12 2 (Herrschaftdes Claudius als andauerndes Saturnalienfest) ndash Dass Lukian nicht auf die Saturnalien alsRahmen fuumlr seine Werke zuruumlckgreift entwertet die Beobachtungen nicht Lukian musste auf-grund seines Selbstbewusstseins als satirischer Schriftsteller und aufgrund der Menge seinersatirischen Schriften nicht jedes Mal einen eigenen literarischen Rahmen herstellen in demeinzelne Dialoge stattfinden konnten Das Saturnalienfest selbst erscheint bei Lukian als Ge-genstand der Satire nicht als deren literarische Rahmung (Τὰ πρὸς Κρόνον) Zuerst bei Furneaux 1896 23 Anm 11 In der neueren Forschung vgl bes Nauta 1987Kritisch dazu u a Doumlpp 1993 159 f Petron 44 3 58 2 69 9 zu Horaz vgl z B serm 2 7 (libertas Decembris) Ein gelungenesBeispiel der Anpassung und Anwendung der bachtinschen Konzepte mit Ertrag fuumlr die Inter-pretation unter Einbezug von serm 2 7 bietet Sharland 2010 Distelrath 1999 114 Vgl weiterhin Versnel 1993 136ndash227 und Doumlpp 1993 Eine plastischeSchilderung der Rollenvertauschung bei der der Sklave dem Herrn die Leviten liest bietet Horserm 2 7

2 De nuptiis als literarisches Werk 149

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Herren wie Sklaven spielen also mit den Moumlglichkeiten einer alternativen Wirk-lichkeit

Das Besondere im Spiel mit den Moumlglichkeiten liegt aber in seiner zeitlichenBegrenzung Nach der Zeit des Ausnahmezustands gelten wieder die normalenimmer guumlltigen Regeln Die Rolleninversion erlaubt also ndash oder erzwingt gera-dezu ndash das Nachdenken uumlber bestimmte gesellschaftliche Normen und Wertvor-stellungen Durch die Ritualisierung und enge zeitliche Begrenzung ist darausjedoch keineswegs die Notwendigkeit entstanden die Verhaumlltnisse tatsaumlchlich zuhinterfragen oder gar zu aumlndern Daher lassen sich die Saturnalien auch als ein dieKonventionen bestaumlrkendes Fest verstehen Das Spiel mit der Moumlglichkeit eineranderen Gesellschaftsordnung hat durch seine Ritualisierung letztlich eine dieTradition legitimierende Funktion bekommen

In De nuptiis finden sich jedoch houmlchstens spaumlrliche Hinweise auf das Sa-turnalienfest Am ehesten weist das grob scherzende Agieren Saturas in diesenBereich Die bdquolangen Winternaumlchteldquo (1 2) koumlnnten (statt als Bezug auf Gellius) alsAnspielung auf das Saturnalienfest verstandenwerden ndash die Saturnalien finden inden laumlngsten Naumlchten uumlberhaupt statt seit der Kaiserzeit vom 17 bis 23 DezemberDies ndash wie die Spekulation uumlber eine spielerische etymologische Verbindung vonSatura und Saturnaliensup3⁶⁶ ndash ist aber insofern nicht von Belang da die Gattung alsGanze karnevaleske Zuumlge traumlgt und als gewissermaszligen institutionalisierter Kar-neval vom eigentlichen Fest losgeloumlst istsup3⁶⁷

Die Aufhebung der uumlblichen Ordnung (was Teuber im Ruumlckgriff auf Limina-litaumltskonzepte als praumlliminale Phase bezeichnet)sup3⁶⁸ beginnt mit der VorbereitungPhilologias zum Aufstieg in den Himmel Bereits das Erbrechen stellt eine mar-kante Umkehrung der alltaumlglichen Welt dar Statt sich Wissen anzueignen er-bricht Philologia es nun In der Goumltterversammlung auf der Milchstraszlige ist dieOrdnung sodann voumlllig verkehrt Philologia als Meisterin aller Disziplinen und

Zwar sind die einschlaumlgigen etymologischen Woumlrterbuumlcher skeptisch (v a WaldeHof-mann 2007 II 482 neutral ErnoutMeillet 2001 596) jedoch gibt es dahin gehende moderneDeutungen (aufgefuumlhrt bei WaldeHofmann 2007 II 482) und auch antike ParallelisierungenCic nat deor 2 64 Saturnus hellip est appellatus quod saturaretur annis (sbquoSaturn hellip wurde ergenannt weil er an Jahren gesaumlttigt istlsquo) Fulg myth 1 2 (p 17 16) a saturando Saturnus dictusest (sbquoDa er (die Menschen) saumlttigt wurde er Saturn genanntlsquo) Aug cons euang 1 23 35 Sa-turnus tamquam satur hellip νοῦς (sbquoSaturn gleichsam der gesaumlttigte hellip νοῦςlsquo) Vgl auch Gowers diedie etymologischen Verbindungen von satura Satyrspiel und Saturnalien untersucht (Gowers1993 109ndash 117) Sie kommt zu dem Befund dass keine Verbindung bestehe wohl aber verbin-dende Elemente identifiziert werden koumlnnten bdquocarnival licence parody uninhibited mockeryand excessive consumptionldquo (ibid 117) Vgl z B Teuber 1993 183 f Teuber 1993 183

150 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

bedeutende Lehrinstanz muss sich ihrerseits belehren lassen ndash mit dem Wissendas urspruumlnglich ihres war

Durch die Inversion wird die (vielleicht uumlblicherweise nicht prominente)Philologia in den Mittelpunkt geruumlckt und ihre zentrale Rolle im Wissenssystemtritt markant vor Augen Gleichzeitig kann darin eine leise Anfrage an ihre Lehr-autoritaumlt und eventuell auch ihre Eignung zur Lehre gesehen werden

Aufgrund des zeitlich begrenzten Rahmens der Verkehrung (diemit dem Endeder Vortraumlge voruumlber ist aber nicht explizit zuruumlckverwandelt wird) dessen Be-grenztheit durch Bezug auf die Form der menippeischen Satire ergaumlnzt werdenkann wird das System der Bildung und der Bildungsvermittlung jedoch nichtgrundsaumltzlich infrage gestellt Die Suspendierung Philologias ist temporaumlr

Dem Konzept der Dialogizitaumlt oder Mehrstimmigkeit folgend erklaumlrt sich auchdie Doppelung und Verunklarung der Erzaumlhlinstanz In den drei Dialogen indenen Satura und Martianus aufeinandertreffen behandeln sie die Frage desrichtigen Erzaumlhlens Dies beschraumlnkt sich nicht nur auf die Satire sondern umfasstalle auftretenden literarischen Formen Martianus und Satura sind sich uneinswie weit der Mythos reichen soll und ob eine Enzyklopaumldie trocken oder auchunterhaltsam erzaumlhlt werden soll (2 219ndash3 222) ob ein Symposion auch Zechenund Spaszlig vertraumlgt (8 803ndash810) oder ob und wie stark Satire Dinge vermischendarf (9 997ndash 1000)

Die unterschiedlichen Meinungen zu den Fragen werden zwar diskutiert undfuumlhren zu einem Ergebnis ndash der Erzaumlhlfluss versiegt ja an keiner Stelle oder setztneu an Allerdings entsteht in der Folge kein homogenes Werk und am Schlussmag keiner der beiden Erzaumlhler dafuumlr die Verantwortung uumlbernehmen Der Wi-derwillen sich zu dem Werk zu bekennen bedeutet aber gleichzeitig auch dassMartianus sich nicht festlegt welche Position er fuumlr die richtige haumllt Die Fragenach der rechten Art der Wissensvermittlung die auch in der Ent- und Inthroni-sierung Philologias anklang bleibt unbeantwortet

Schlieszliglich bringt der Blick auf die Aurelian-Vita aus der Historia Augustanoch einen weiteren Aspekt ein Parallel zur Aufteilung der Erzaumlhlinstanzen in Denuptiiswird der Erzaumlhlprozess in derHistoria Augusta aufmehrere AutorenverteiltWie zuerst Hermann Dessau und in der Folge Ronald Syme nachdruumlcklich gezeigthaben handelt es sich allerdings um nur einen Verfasser der uumlberdies auch inBezug auf die Abfassungszeit falsche Angaben gemacht hat und Quellen erfundenhatsup3⁶⁹ Insofern laumlsst sich der in der Historia Augusta gepraumlgte Begriff der

Auf den Charakter der Sammlung die Syme u a als bdquohoaxldquo bezeichnet (1983a 11 1983b13 1983c 219) die fingierten Autoren die manipulierten Quellen etc soll an dieser Stelle nurhingewiesen werden Vgl auch Cameron 2011 Kap 20 mit ausfuumlhrlicher Diskussion relevanterFragen

2 De nuptiis als literarisches Werk 151

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mythistoria der Vermischung von Mythischem und Historischem auch auf dieSammlung selbst anwendensup3⁷⁰

Als Menippee im engeren Sinne laumlsst sich weiterhin die Aurelian-Vita die 26Vita der Sammlung fassen und bezeichnenderweise spielt die Rahmenhandlungan denHilariasup3⁷sup1Wie zu den Saturnalien gehoumlren zu diesem Fest Scherze und ndash imRahmen von Maskierungen ndash Rollenwechselsup3⁷sup2

Noch in der rahmenden Einleitung zur Vita spielt sich folgender Dialog ab

1 et quoniam sermo nobis de Trebltellgtio Pollione qui a duobus Philippis usque ad divumClaudium et eius fratrem Quintillum imperatores tam claros quam obscuros memoriaeprodidit in eodem vehiculo fuit adserente Tiberiano quod Pollio multa incuriose multabreviter prodidisset me contra dicente neminem scriptorum quantum ad historiam pertinetnon aliquid esse mentitum prodente quin etiam in quo Livius in quo Sallustius in quoCornelius Tacitus in quo denique Trogus manifestis testibus convincerentur pedibus insententiam transitum faciens ac manum porrigens iocando[m] praeterea sbquoscribelsquo inquit sbquout

quae ille [scil Iunius Cordus] omnia exsequendo libros mythistoriis replevit talia scribendocum omnino rerum vilium aut nulla scribenda sint aut nimis pauca si tamen ex his morespossint animadverti qui re vera sciendi sunt hellip sed ex parte ut ex ea cetera colligantur(SHA Opil 1 5)

Bei der Anfuumlhrung von all diesen Informationen hat er die Buumlcher mit fabuloumlsen Ge-schichten angefuumlllt indem er Dinge von dieser Art schrieb wo doch uumlberhaupt keinenutzlosen Dinge geschrieben werden duumlrfen oder nur sehr wenige sofern daraus Verhal-tensweisen erkannt werden koumlnnen die wirklich wissenswert sind hellip aber zum Teil(schreibe ich) damit daraus das Andere gefolgert werden kann

quid Marius Maximus homo omnium verbosissimus qui et mythist[h]oricis se voluminibusinplicavit num ad istam descriptionem curamque descendit (SHA Quadr tyr 1 2)

Wie Hat sich Marius Maximus der groumlszligte Schwaumltzer vor dem Herrn der sich in seinenmythistorischen Werken verfangen hat etwa zu dieser Art der Darstellung und des sorg-faumlltigen Arbeitens herabgelassen

Hilaribus quibus omnia festa et fieri debere scimus et dici impletis sollemnibus vehiculo suome hellip Iunius Tiberianus accepit (SHA Aurelian 1 1)

An den Hilaria an denen alles zum Fest Gehoumlrende getan und gesagt werden muss wieman weiszlig empfing mich nach Erledigung der Zeremonien Iunius Tiberianus in seinemGefaumlhrt

Pausch bemerkt dieses besondere Datum zwar und erwaumlgt ob es sich um ein bdquoweitergehendesLesesignalldquo beispielsweise im Sinne karnevalesker Literatur handeln koumlnne verfolgt diese Spuraber nicht weiter (Pausch 2011 130 Anm 1) Herodian 1 10 5 ndash Einige Hinweise auf die Hilaria die im Kontext des Magna Mater-Festesam 25 Maumlrz gefeiert wurden bietet Fraser in seinem Kommentar zu Ovids Fasti (Fraser 1929244ndash248)

152 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

libet 2 securus quod velis dices habiturus mendaciorum comites quos historicae elo-quentiae miramur auctoreslsquo (SHA Aurelian 2 1ndash2)

1 Und weil unser Gespraumlch uumlber Trebellius Pollio der von den beiden Philippi bis zumvergoumlttlichten Claudius und dessen Bruder Quintillus gleichermaszligen uumlber beruumlhmte wieunbekannte Kaiser fuumlr die Nachwelt schrieb in derselben Saumlnfte stattfand behauptete erdass Pollio vieles ohne Sorgfalt und nur kurz dargelegt habe Ich erwiderte dass keinSchriftsteller sofern es um die Geschichte gehe nicht irgendwo gelogen habe und legtesodann dar worin sogar Livius Sallust Tacitus schlieszliglich sogar Trogus mit eindeutigenBelegen uumlberfuumlhrt werden koumlnnten Darauf sagte Tiberianus schlieszliglich scherzend indem ermeiner Meinung beipflichtete und mir seine Hand darbot bdquoSchreibe sowie du es fuumlr richtighaumlltst 2 Sage unbesorgt was du willst du wirst diejenigen als Gefaumlhrten fuumlr deine Taumlu-schungen haben die wir als Schoumlpfer historiographischer Beredsamkeit bewundernldquo

So sympathisch dieser Anspruch auch erscheinen mag ist er doch fuumlr das Ver-trauen in die Gattung der Geschichtsschreibung fatal Gerade in der Einleitungeiner Vita jedoch ndash zumal es der Fiktion nach die erste des Flavius Vopiscus Sy-racusius im Corpus der Historia Augusta ist ndash kann eine solche Anekdote ei-gentlich keinen Platz haben Sie erweckt beim Leser den Eindruck dass er dennachfolgend dargebotenen Informationen kein Vertrauen schenken duumlrfesup3⁷sup3

Die Parallelen zwischen der Historia Augusta insbesondere dem Vorgehen inder Vita Aureliani und De nuptiis liegen auf der Hand Verunklarung der Autor-schaft bzw der Erzaumlhlhaltung einerseits Erwecken von Zweifeln an der Glaub-wuumlrdigkeit des Dargebotenen andererseits

In der Historia Augusta sind die Inkongruenzen mit der Freude des Autors amliterarischen Spiel erklaumlrt worden Der Autor habe aus Freude am Fabulieren(vielleicht auchumein dafuumlr empfaumlngliches Publikum zu befriedigen) die Viten indieser Form verfasstsup3⁷⁴ Mag man dies fuumlr die Historia Augusta noch zugestehenderen Text uumlber einen laumlngeren Zeitraum vielleicht zunaumlchst ohne eine Gesamt-konzeption entstanden ist und auch sprachlich nicht herausragt stellt sich derSachverhalt fuumlr Martianusrsquo De nuptiis anders dar Das Werk hat durchaus einenliterarischen Anspruch und es folgt eindeutig einer vorab geplanten Gesamtan-lage Die Freude am Spiel mag vielleicht manches Detail beigesteuert haben fuumlrdie verschraumlnkte Anlage des Textes ist sie aber keine Erklaumlrung

Ganz anders ist der Anspruch zum Ende der Darstellung der Viten der bdquoDreiszligig Tyrannenldquoin dem der Autor beteuert seinem Werk mangele es zwar an literarischer Ausgefeiltheit nichtjedoch an Faktentreue da nunc cuivis libellum non tam diserte quam fideliter scriptum ndash sbquoGibnun dieses Buumlchleinwem du magst es ist nicht so sehr kunstvoll geschrieben wie es sachgetreuistlsquo (SHA Quadr tyr 33 8) Syme nennt dies bdquodeceit for its own sweet sakeldquo (1983c 217) Im gleichen Aufsatz spe-kuliert er auch uumlber das Interesse des Publikums an einer solchen Art von geistigem Spiel(ibid 221)

2 De nuptiis als literarisches Werk 153

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Es lohnt sich jedoch auch fuumlr die Historia Augusta einen Schritt weiter zugehen Ausgangspunkt dafuumlr ist die obige Beobachtungdass das literarische Spielder Historia Augusta nur durchschaut wer die Werke der historischen Literaturkennt Durch die Lektuumlre historiographischer Biographien bringt der Leser einebestimmte Leseerwartung also implizite Vorstellungen mit wie das Werk aus-sehen soll und wird Diese Erwartungen werden aber nicht oder nur teilweisebedient Formal gesehen weisen die Viten in der Historia Augusta zwar die Cha-rakteristika der Gattung auf ndash doch indem sie sie inhaltlich nicht adaumlquat aus-fuumlllen treten deren Konventionen vor Augen

Durch die uumlbermaumlszligige Verwendung falscher Verweise und erfundener Quel-len geraumlt zudem das Beglaubigungsverfahren historischer Texte in den Blick-punkt Der Leser erkennt anwelchen Stellenwelche Beglaubigungsmechanismenansetzen und auf welche Weise sie unterlaufen werden koumlnnen Uumlberspitzt lieszligesich behaupten DieHistoria Augusta verfolgt ein aufklaumlrerisches Interesse indemsie (spielerisch) aufzeigt welche Beglaubigungsverfahren die Geschichtsschrei-bung nutzt und wie sie manipuliert werden koumlnnen dadurch wird auch die Ma-nipulierbarkeit von Geschichte und Leser deutlich

In De nuptiis werden ebenfalls die Konventionen der Einzelgattungen ndash zu-mindest ansatzweise ndash hervorgehoben Dass kein perfektes Musterbeispiel derjeweiligen Einzelgattung entstehen kann liegt darin begruumlndet dass durch dieVerbindung der vier literarischen Genres keine oberflaumlchliche Konsistenz derFiktion entstehen kannVielmehr entstehen Bruumlche die ndash ebenso wie die Bruumlchein der Erzaumlhlhaltung ndash auch die Gattungskonventionen und ihre Annahmendeutlich werden lassen Dies gilt besonders fuumlr die Satire deren Vorgehen imKontrast zur eigentlichen Hochzeitshandlung aus dem Rahmen faumlllt und somitbesonderes Augenmerk erhaumllt Hinzu tritt mit der Figur Satura auch eine Perso-nifikation der Gattung die in theoretischen Diskussionen Annahmen und Vor-gehen mit Martianus eroumlrtert Grunduumlberlegungen der Gattung Satire werden sotheoretisch eroumlrtert und praktisch erprobt Gleiches giltwenn auch zT inwenigerdeutlicher Form auch fuumlr die anderen Formen Die Enzyklopaumldie in ihren langenMonologen wird durch Spott markiert die trockenen Kuumlnste werden probeweisedurch Allegorien zugaumlnglicher gemacht im Symposiondialog wird uumlberlegt in-wieweit uumlbliche Rollenmuster (der Zecher) einen Platz haben oder wie weit mandie fuumlr die Feier typischen Reden fuumlhren kann und immythischen Teil wird durchdie Gegenuumlberstellung mit dem handfesten Wissensbetrieb die Andersartigkeitdes Erzaumlhlens deutlich

So werden neben den Inhalten der Wissenschaften auch verschiedene lite-rarische Formen bewahrt Neben der reinen Anwendung und somit Tradierungwerden gleichzeitig auch die Mechanismen verdeutlicht deren sich die jeweilige

154 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Gattung bedient Somit wird ihr Funktionieren nachvollziehbar und in der Folgeauch nachahmbar

3 Zusammenfassung

Martianus weckt also durch die Wahl mehrerer gleichberechtigter Erzaumlhler diesomit das Erzaumlhlen unzuverlaumlssig werden lassen besonders aber durch dieUumlbernahme satirischer Gattungselemente ein Bewusstsein fuumlr die traditionellenGrundlagen desWissens- und Lehrsystems seiner Zeit ImGegensatz zur Satire diediese Fragen kategorisch stellt handelt es sich in De nuptiis um ein Spiel damitDer Satirebezug dient als Anknuumlpfung an die traditionellen Gattungsmerkmaleder menippeischen Satire Karnevaleske und Dialogizitaumlt

Durch die (temporaumlre) Rolleninversion richtet sich das Augenmerk aufPhilologia als Wissenszentrum und Wissensmittlerin und fordert zum Nach-denken daruumlber heraus Im Kern hinterfragt das Werk alle Bereiche die mit Bil-dung und Bildungsvermittlung zu tun haben Was sind die Inhalte wahrer Bil-dung Gibt es eine Einheit von Bildung Wie kann sie vermittelt werden

Allerdings zielt die Kritik nicht auf eine Aufloumlsung klassischer Bildungsinhalteund Vermittlungsformen Sie regt vielmehr durch Scherz und Bruumlche zumNachdenken uumlber diese Fragen an Dabei verzichtet Martianus auf eigene Vor-schlaumlge und Konzepte und festigt so gleichsam den traditionellen Bildungs-betrieb Das von ihm dargestellte Wissen wird kanonisiert und die Darstel-lungsform in langen Reden wird es auch Die mittelalterliche Rezeption von Denuptiis zeigt dies eindrucksvoll

Wissen umfasst dabei nicht nur das Faktenwissen der Vortraumlge sondern auchdas Wissen um bestimmte literarische Formen Durch die Verbindung von vierGattungen und die Doppelung der Erzaumlhlerfigur mit Reflexion uumlber angemessenesErzaumlhlen entstehen Inkonsistenzen die die Konventionen der einzelnen Gattun-gen hervortreten lassen Nicht alle Elementewerden auf dieseWeise deutlich aberMartianus bietet einen Ansatzpunkt die Fiktion auch unter der Fragestellung zulesen was einen Text der jeweiligen Gattung ausmacht ndash sowohl positiv wie ne-gativ formuliert

Mit seiner kreativen Konzeption und ihrer literarischen Umsetzung gelingt esMartianus eindrucksvoll Heiteres und Belehrendes zu verbindenwomit er an dieTradition Varros und die klassische antike Poetik anknuumlpft Es gelingt ihm daruumlberhinaus aber auchWissen zu vermitteln und die traditionellen Vorstellungen vonder Bedeutung dieses Wissens wie der Form seiner Vermittlung herauszustellenSpielerisch wird also gelehrt und hinterfragt nicht jedoch kategorisch kritisiertoder kuumlhn neu entworfen Gerade dadurch zeichnet sich Martianusrsquo De nuptiis

3 Zusammenfassung 155

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

tatsaumlchlich als nescioquid inopinum intactumque (sbquoetwas Ungewohntes und nochnie Gewagteslsquo 1 2) aus und macht es zu einem der bedeutendsten Buumlcher derSpaumltantike und zu einer interessanten Quelle fuumlr die Frage nach Bildungsvor-stellungen im fuumlnften Jahrhundert

156 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Page 35: Bildungsvorstellungen im 5. Jahrhundert n. Chr. (Macrobius, Martianus Capella und Sidonius Apollinaris) || III Martianus Capella, De nuptiis Philologiae et Mercurii

als reine Fortsetzungder literarischen Form Fuumlr diese spezielle Formder Literaturdie menippeische Satire hat der russische Literaturwissenschaftler MichailBachtin Beobachtungen aufgestellt die auch fuumlr De nuptiis zutreffen Durch denRuumlckgriff auf zwei zentrale Konzepte Bachtins das Karnevaleske und die Dialo-gizitaumlt wird ein Verstaumlndnis von De nuptiis ermoumlglicht

Auf der Suche nach Vorlagen und Urformen der Gattung des Romans ins-besondere in der Form von Dostojewskis Romanen stieszlig Bachtin unter anderemauch auf die menippeische Satire die er bis in die Antike zuruumlckverfolgtesup3⁵⁶ Zuihren Vertretern zaumlhlt er unter anderem Varro Apuleius Petron Seneca oderLukiansup3⁵⁷ Martianus Capella wird nicht erwaumlhnt was aber nicht verwundernmuss da Bachtin keine Literaturgeschichte der menippeischen Satire schriebsup3⁵⁸

Kern der Uumlberlegungen Bachtins zurmenippeischen Satire ist das Konzept desKarnevals Unter Karneval versteht er folkloristische Feste waumlhrend deren diebestehende Ordnung verkehrt wird uumlbliche Regeln nicht mehr gelten Herr-schende gestuumlrzt und Machtlose maumlchtig werden ndash auf Zeit Die Karnevalisierungalso die Uumlbernahme der Kennzeichen dieses Festes in neue oder bestehende li-terarische Formen institutionalisiert diese Ausnahmesituation und loumlst sie vomkonkreten Fest Der so entstandene Text wird bdquozum karnevalesken Spiel an demder Autor und sein Publikum einverstaumlndlich teilhaben und das keines kalen-darisch oder institutionell abgesicherten Karnevalsrahmens mehr bedarfldquosup3⁵⁹

Diese Karnevalisierung fuumlhrt unter anderem zu einer Vielstimmigkeit vonMeinungen und Positionen im Text z B durch mehrere Figurenvon denen keinebevorzugt oder gar als autoritativ gekennzeichnet wird In dieser Dialogizitaumlt wirdkein allgemein guumlltiger Sinnmehr vermittelt sondern dieWahrheit suspendiertsup3⁶⁰

Dass der Bezug auf karnevalsartige Feste der Gattung menippeische Satire (inTeilen auch der Verssatire) eignet zeigt ein kurzer Blick auf wichtige Vertreter derTradition

Julians Symposion Caesares spielt zur Zeit der Saturnalien Die Bedeutungdieses Festes fuumlr das Werk wird dadurch verdeutlicht dass es den Handlungs-

Bachtin 1971 126ndash 135 Bachtin 1971 126 128 132f Kritik an den z T pauschalisierenden und verfaumllschenden Aussagen Bachtins uumlber antikeLiteratur oder an der ununterbrochenen Traditionslinie von der Antike bis in die Moderne (z BRelihan 1987 59 Lachmann 2006 23ndash25) muumlsste auch auf manche moderne Literaturwissen-schaftler in der Nachfolge Bachtins angewandt werden (vgl Branham 2005 6 wo es uumlberSenecas Apocolocyntosis heiszligt bdquoour only extant Menippean satire in Latinldquo) Teuber 1993 182 Eine gut verstaumlndliche Einfuumlhrung in das Konzept der Dialogizitaumlt im Sinne der bach-tinschen Terminologie bietet Sharland 2010 Einfuumlhrung (1ndash51)

148 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

rahmen fuumlr den in der Folge erzaumlhlten Mythos bildet Bereits im ersten Satz wirdauf das Fest und die Tradition Heiteres frei zu erzaumlhlen Bezug genommensup3⁶sup1

Auch Senecas Apocolocyntosis stellt einen engen Bezug zum Saturnalienfesther Das Werk spielt zwar nicht an den Saturnalien sondern am Todestag desClaudius im Oktober doch wird an zwei Stellen eine Verbindung zwischen derHerrschaft des verstorbenen Kaisers und den dargestellten Sitten waumlhrend derRegierungszeit mit dem Saturnalienfest gezogensup3⁶sup2 Manche Interpreten gehensogar davon aus dass die Apocolocyntosis an den Saturnalien des Jahres 54vorgetragen wurdesup3⁶sup3 Auch bei Petron und Horaz finden sich Bezugnahmen aufdie Saturnaliensup3⁶⁴

Ein zentrales Element des Saturnalienfestes liegt in der Suspension der uumlb-licherweise geltenden Normen und Wertesup3⁶⁵ Neben den anderen Elementen desFestes wie sie z B in Macrobiusrsquo Saturnalia (1 7ndash 10 1 24 22 f) beschriebenwerden (traditionelle Geschenke Festmahl fuumlr die Sklaven etc) hat gerade dieUmkehrung der Herrschaftsverhaumlltnisse im Haus Niederschlag in der Literaturgefunden

Gerade durch diese Rolleninversion treten einige wichtige gesellschaftlicheNormvorstellungen und Grundannahmen prominent hervor Dazu zaumlhlt das Be-wusstsein dass es eine befehlende und eine ausfuumlhrende Gruppe von Menschengibt oder dass im Prinzip ein Rollenwechsel moumlglich sein kann Alle Beteiligten

Ἐπειδὴ δίδωσιν ὁ θεὸς παίζειν ndash ἔστι γὰρ Κρόνια ndash hellip (sbquoDa der Gott das Scherzen erlaubt ndashes sind ja die Kronia helliplsquo Caes 1 = 306a Spanheim) Zur Frage ob es sich bei Caesares auch umdas Werk handle auf das zu Ende der Rede auf Koumlnig Helios verwiesen wird (Or in Sol reg 44 =157c Spanheim) vgl Muumlller in seiner Uumlbersetzung (39 ablehnend) und Lacombrade im Vorwortseiner Budeacute-Ausgabe (3 und 18 Anm 3) der aufgrund des Handschriftenbefundes Kronia auchals Titelbestandteil fuumlr die Caesares uumlbernimmt Es handelt sich um Sen apocol 8 1 (Claudius als Saturnalienprinz) und 12 2 (Herrschaftdes Claudius als andauerndes Saturnalienfest) ndash Dass Lukian nicht auf die Saturnalien alsRahmen fuumlr seine Werke zuruumlckgreift entwertet die Beobachtungen nicht Lukian musste auf-grund seines Selbstbewusstseins als satirischer Schriftsteller und aufgrund der Menge seinersatirischen Schriften nicht jedes Mal einen eigenen literarischen Rahmen herstellen in demeinzelne Dialoge stattfinden konnten Das Saturnalienfest selbst erscheint bei Lukian als Ge-genstand der Satire nicht als deren literarische Rahmung (Τὰ πρὸς Κρόνον) Zuerst bei Furneaux 1896 23 Anm 11 In der neueren Forschung vgl bes Nauta 1987Kritisch dazu u a Doumlpp 1993 159 f Petron 44 3 58 2 69 9 zu Horaz vgl z B serm 2 7 (libertas Decembris) Ein gelungenesBeispiel der Anpassung und Anwendung der bachtinschen Konzepte mit Ertrag fuumlr die Inter-pretation unter Einbezug von serm 2 7 bietet Sharland 2010 Distelrath 1999 114 Vgl weiterhin Versnel 1993 136ndash227 und Doumlpp 1993 Eine plastischeSchilderung der Rollenvertauschung bei der der Sklave dem Herrn die Leviten liest bietet Horserm 2 7

2 De nuptiis als literarisches Werk 149

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Herren wie Sklaven spielen also mit den Moumlglichkeiten einer alternativen Wirk-lichkeit

Das Besondere im Spiel mit den Moumlglichkeiten liegt aber in seiner zeitlichenBegrenzung Nach der Zeit des Ausnahmezustands gelten wieder die normalenimmer guumlltigen Regeln Die Rolleninversion erlaubt also ndash oder erzwingt gera-dezu ndash das Nachdenken uumlber bestimmte gesellschaftliche Normen und Wertvor-stellungen Durch die Ritualisierung und enge zeitliche Begrenzung ist darausjedoch keineswegs die Notwendigkeit entstanden die Verhaumlltnisse tatsaumlchlich zuhinterfragen oder gar zu aumlndern Daher lassen sich die Saturnalien auch als ein dieKonventionen bestaumlrkendes Fest verstehen Das Spiel mit der Moumlglichkeit eineranderen Gesellschaftsordnung hat durch seine Ritualisierung letztlich eine dieTradition legitimierende Funktion bekommen

In De nuptiis finden sich jedoch houmlchstens spaumlrliche Hinweise auf das Sa-turnalienfest Am ehesten weist das grob scherzende Agieren Saturas in diesenBereich Die bdquolangen Winternaumlchteldquo (1 2) koumlnnten (statt als Bezug auf Gellius) alsAnspielung auf das Saturnalienfest verstandenwerden ndash die Saturnalien finden inden laumlngsten Naumlchten uumlberhaupt statt seit der Kaiserzeit vom 17 bis 23 DezemberDies ndash wie die Spekulation uumlber eine spielerische etymologische Verbindung vonSatura und Saturnaliensup3⁶⁶ ndash ist aber insofern nicht von Belang da die Gattung alsGanze karnevaleske Zuumlge traumlgt und als gewissermaszligen institutionalisierter Kar-neval vom eigentlichen Fest losgeloumlst istsup3⁶⁷

Die Aufhebung der uumlblichen Ordnung (was Teuber im Ruumlckgriff auf Limina-litaumltskonzepte als praumlliminale Phase bezeichnet)sup3⁶⁸ beginnt mit der VorbereitungPhilologias zum Aufstieg in den Himmel Bereits das Erbrechen stellt eine mar-kante Umkehrung der alltaumlglichen Welt dar Statt sich Wissen anzueignen er-bricht Philologia es nun In der Goumltterversammlung auf der Milchstraszlige ist dieOrdnung sodann voumlllig verkehrt Philologia als Meisterin aller Disziplinen und

Zwar sind die einschlaumlgigen etymologischen Woumlrterbuumlcher skeptisch (v a WaldeHof-mann 2007 II 482 neutral ErnoutMeillet 2001 596) jedoch gibt es dahin gehende moderneDeutungen (aufgefuumlhrt bei WaldeHofmann 2007 II 482) und auch antike ParallelisierungenCic nat deor 2 64 Saturnus hellip est appellatus quod saturaretur annis (sbquoSaturn hellip wurde ergenannt weil er an Jahren gesaumlttigt istlsquo) Fulg myth 1 2 (p 17 16) a saturando Saturnus dictusest (sbquoDa er (die Menschen) saumlttigt wurde er Saturn genanntlsquo) Aug cons euang 1 23 35 Sa-turnus tamquam satur hellip νοῦς (sbquoSaturn gleichsam der gesaumlttigte hellip νοῦςlsquo) Vgl auch Gowers diedie etymologischen Verbindungen von satura Satyrspiel und Saturnalien untersucht (Gowers1993 109ndash 117) Sie kommt zu dem Befund dass keine Verbindung bestehe wohl aber verbin-dende Elemente identifiziert werden koumlnnten bdquocarnival licence parody uninhibited mockeryand excessive consumptionldquo (ibid 117) Vgl z B Teuber 1993 183 f Teuber 1993 183

150 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

bedeutende Lehrinstanz muss sich ihrerseits belehren lassen ndash mit dem Wissendas urspruumlnglich ihres war

Durch die Inversion wird die (vielleicht uumlblicherweise nicht prominente)Philologia in den Mittelpunkt geruumlckt und ihre zentrale Rolle im Wissenssystemtritt markant vor Augen Gleichzeitig kann darin eine leise Anfrage an ihre Lehr-autoritaumlt und eventuell auch ihre Eignung zur Lehre gesehen werden

Aufgrund des zeitlich begrenzten Rahmens der Verkehrung (diemit dem Endeder Vortraumlge voruumlber ist aber nicht explizit zuruumlckverwandelt wird) dessen Be-grenztheit durch Bezug auf die Form der menippeischen Satire ergaumlnzt werdenkann wird das System der Bildung und der Bildungsvermittlung jedoch nichtgrundsaumltzlich infrage gestellt Die Suspendierung Philologias ist temporaumlr

Dem Konzept der Dialogizitaumlt oder Mehrstimmigkeit folgend erklaumlrt sich auchdie Doppelung und Verunklarung der Erzaumlhlinstanz In den drei Dialogen indenen Satura und Martianus aufeinandertreffen behandeln sie die Frage desrichtigen Erzaumlhlens Dies beschraumlnkt sich nicht nur auf die Satire sondern umfasstalle auftretenden literarischen Formen Martianus und Satura sind sich uneinswie weit der Mythos reichen soll und ob eine Enzyklopaumldie trocken oder auchunterhaltsam erzaumlhlt werden soll (2 219ndash3 222) ob ein Symposion auch Zechenund Spaszlig vertraumlgt (8 803ndash810) oder ob und wie stark Satire Dinge vermischendarf (9 997ndash 1000)

Die unterschiedlichen Meinungen zu den Fragen werden zwar diskutiert undfuumlhren zu einem Ergebnis ndash der Erzaumlhlfluss versiegt ja an keiner Stelle oder setztneu an Allerdings entsteht in der Folge kein homogenes Werk und am Schlussmag keiner der beiden Erzaumlhler dafuumlr die Verantwortung uumlbernehmen Der Wi-derwillen sich zu dem Werk zu bekennen bedeutet aber gleichzeitig auch dassMartianus sich nicht festlegt welche Position er fuumlr die richtige haumllt Die Fragenach der rechten Art der Wissensvermittlung die auch in der Ent- und Inthroni-sierung Philologias anklang bleibt unbeantwortet

Schlieszliglich bringt der Blick auf die Aurelian-Vita aus der Historia Augustanoch einen weiteren Aspekt ein Parallel zur Aufteilung der Erzaumlhlinstanzen in Denuptiiswird der Erzaumlhlprozess in derHistoria Augusta aufmehrere AutorenverteiltWie zuerst Hermann Dessau und in der Folge Ronald Syme nachdruumlcklich gezeigthaben handelt es sich allerdings um nur einen Verfasser der uumlberdies auch inBezug auf die Abfassungszeit falsche Angaben gemacht hat und Quellen erfundenhatsup3⁶⁹ Insofern laumlsst sich der in der Historia Augusta gepraumlgte Begriff der

Auf den Charakter der Sammlung die Syme u a als bdquohoaxldquo bezeichnet (1983a 11 1983b13 1983c 219) die fingierten Autoren die manipulierten Quellen etc soll an dieser Stelle nurhingewiesen werden Vgl auch Cameron 2011 Kap 20 mit ausfuumlhrlicher Diskussion relevanterFragen

2 De nuptiis als literarisches Werk 151

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mythistoria der Vermischung von Mythischem und Historischem auch auf dieSammlung selbst anwendensup3⁷⁰

Als Menippee im engeren Sinne laumlsst sich weiterhin die Aurelian-Vita die 26Vita der Sammlung fassen und bezeichnenderweise spielt die Rahmenhandlungan denHilariasup3⁷sup1Wie zu den Saturnalien gehoumlren zu diesem Fest Scherze und ndash imRahmen von Maskierungen ndash Rollenwechselsup3⁷sup2

Noch in der rahmenden Einleitung zur Vita spielt sich folgender Dialog ab

1 et quoniam sermo nobis de Trebltellgtio Pollione qui a duobus Philippis usque ad divumClaudium et eius fratrem Quintillum imperatores tam claros quam obscuros memoriaeprodidit in eodem vehiculo fuit adserente Tiberiano quod Pollio multa incuriose multabreviter prodidisset me contra dicente neminem scriptorum quantum ad historiam pertinetnon aliquid esse mentitum prodente quin etiam in quo Livius in quo Sallustius in quoCornelius Tacitus in quo denique Trogus manifestis testibus convincerentur pedibus insententiam transitum faciens ac manum porrigens iocando[m] praeterea sbquoscribelsquo inquit sbquout

quae ille [scil Iunius Cordus] omnia exsequendo libros mythistoriis replevit talia scribendocum omnino rerum vilium aut nulla scribenda sint aut nimis pauca si tamen ex his morespossint animadverti qui re vera sciendi sunt hellip sed ex parte ut ex ea cetera colligantur(SHA Opil 1 5)

Bei der Anfuumlhrung von all diesen Informationen hat er die Buumlcher mit fabuloumlsen Ge-schichten angefuumlllt indem er Dinge von dieser Art schrieb wo doch uumlberhaupt keinenutzlosen Dinge geschrieben werden duumlrfen oder nur sehr wenige sofern daraus Verhal-tensweisen erkannt werden koumlnnen die wirklich wissenswert sind hellip aber zum Teil(schreibe ich) damit daraus das Andere gefolgert werden kann

quid Marius Maximus homo omnium verbosissimus qui et mythist[h]oricis se voluminibusinplicavit num ad istam descriptionem curamque descendit (SHA Quadr tyr 1 2)

Wie Hat sich Marius Maximus der groumlszligte Schwaumltzer vor dem Herrn der sich in seinenmythistorischen Werken verfangen hat etwa zu dieser Art der Darstellung und des sorg-faumlltigen Arbeitens herabgelassen

Hilaribus quibus omnia festa et fieri debere scimus et dici impletis sollemnibus vehiculo suome hellip Iunius Tiberianus accepit (SHA Aurelian 1 1)

An den Hilaria an denen alles zum Fest Gehoumlrende getan und gesagt werden muss wieman weiszlig empfing mich nach Erledigung der Zeremonien Iunius Tiberianus in seinemGefaumlhrt

Pausch bemerkt dieses besondere Datum zwar und erwaumlgt ob es sich um ein bdquoweitergehendesLesesignalldquo beispielsweise im Sinne karnevalesker Literatur handeln koumlnne verfolgt diese Spuraber nicht weiter (Pausch 2011 130 Anm 1) Herodian 1 10 5 ndash Einige Hinweise auf die Hilaria die im Kontext des Magna Mater-Festesam 25 Maumlrz gefeiert wurden bietet Fraser in seinem Kommentar zu Ovids Fasti (Fraser 1929244ndash248)

152 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

libet 2 securus quod velis dices habiturus mendaciorum comites quos historicae elo-quentiae miramur auctoreslsquo (SHA Aurelian 2 1ndash2)

1 Und weil unser Gespraumlch uumlber Trebellius Pollio der von den beiden Philippi bis zumvergoumlttlichten Claudius und dessen Bruder Quintillus gleichermaszligen uumlber beruumlhmte wieunbekannte Kaiser fuumlr die Nachwelt schrieb in derselben Saumlnfte stattfand behauptete erdass Pollio vieles ohne Sorgfalt und nur kurz dargelegt habe Ich erwiderte dass keinSchriftsteller sofern es um die Geschichte gehe nicht irgendwo gelogen habe und legtesodann dar worin sogar Livius Sallust Tacitus schlieszliglich sogar Trogus mit eindeutigenBelegen uumlberfuumlhrt werden koumlnnten Darauf sagte Tiberianus schlieszliglich scherzend indem ermeiner Meinung beipflichtete und mir seine Hand darbot bdquoSchreibe sowie du es fuumlr richtighaumlltst 2 Sage unbesorgt was du willst du wirst diejenigen als Gefaumlhrten fuumlr deine Taumlu-schungen haben die wir als Schoumlpfer historiographischer Beredsamkeit bewundernldquo

So sympathisch dieser Anspruch auch erscheinen mag ist er doch fuumlr das Ver-trauen in die Gattung der Geschichtsschreibung fatal Gerade in der Einleitungeiner Vita jedoch ndash zumal es der Fiktion nach die erste des Flavius Vopiscus Sy-racusius im Corpus der Historia Augusta ist ndash kann eine solche Anekdote ei-gentlich keinen Platz haben Sie erweckt beim Leser den Eindruck dass er dennachfolgend dargebotenen Informationen kein Vertrauen schenken duumlrfesup3⁷sup3

Die Parallelen zwischen der Historia Augusta insbesondere dem Vorgehen inder Vita Aureliani und De nuptiis liegen auf der Hand Verunklarung der Autor-schaft bzw der Erzaumlhlhaltung einerseits Erwecken von Zweifeln an der Glaub-wuumlrdigkeit des Dargebotenen andererseits

In der Historia Augusta sind die Inkongruenzen mit der Freude des Autors amliterarischen Spiel erklaumlrt worden Der Autor habe aus Freude am Fabulieren(vielleicht auchumein dafuumlr empfaumlngliches Publikum zu befriedigen) die Viten indieser Form verfasstsup3⁷⁴ Mag man dies fuumlr die Historia Augusta noch zugestehenderen Text uumlber einen laumlngeren Zeitraum vielleicht zunaumlchst ohne eine Gesamt-konzeption entstanden ist und auch sprachlich nicht herausragt stellt sich derSachverhalt fuumlr Martianusrsquo De nuptiis anders dar Das Werk hat durchaus einenliterarischen Anspruch und es folgt eindeutig einer vorab geplanten Gesamtan-lage Die Freude am Spiel mag vielleicht manches Detail beigesteuert haben fuumlrdie verschraumlnkte Anlage des Textes ist sie aber keine Erklaumlrung

Ganz anders ist der Anspruch zum Ende der Darstellung der Viten der bdquoDreiszligig Tyrannenldquoin dem der Autor beteuert seinem Werk mangele es zwar an literarischer Ausgefeiltheit nichtjedoch an Faktentreue da nunc cuivis libellum non tam diserte quam fideliter scriptum ndash sbquoGibnun dieses Buumlchleinwem du magst es ist nicht so sehr kunstvoll geschrieben wie es sachgetreuistlsquo (SHA Quadr tyr 33 8) Syme nennt dies bdquodeceit for its own sweet sakeldquo (1983c 217) Im gleichen Aufsatz spe-kuliert er auch uumlber das Interesse des Publikums an einer solchen Art von geistigem Spiel(ibid 221)

2 De nuptiis als literarisches Werk 153

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Es lohnt sich jedoch auch fuumlr die Historia Augusta einen Schritt weiter zugehen Ausgangspunkt dafuumlr ist die obige Beobachtungdass das literarische Spielder Historia Augusta nur durchschaut wer die Werke der historischen Literaturkennt Durch die Lektuumlre historiographischer Biographien bringt der Leser einebestimmte Leseerwartung also implizite Vorstellungen mit wie das Werk aus-sehen soll und wird Diese Erwartungen werden aber nicht oder nur teilweisebedient Formal gesehen weisen die Viten in der Historia Augusta zwar die Cha-rakteristika der Gattung auf ndash doch indem sie sie inhaltlich nicht adaumlquat aus-fuumlllen treten deren Konventionen vor Augen

Durch die uumlbermaumlszligige Verwendung falscher Verweise und erfundener Quel-len geraumlt zudem das Beglaubigungsverfahren historischer Texte in den Blick-punkt Der Leser erkennt anwelchen Stellenwelche Beglaubigungsmechanismenansetzen und auf welche Weise sie unterlaufen werden koumlnnen Uumlberspitzt lieszligesich behaupten DieHistoria Augusta verfolgt ein aufklaumlrerisches Interesse indemsie (spielerisch) aufzeigt welche Beglaubigungsverfahren die Geschichtsschrei-bung nutzt und wie sie manipuliert werden koumlnnen dadurch wird auch die Ma-nipulierbarkeit von Geschichte und Leser deutlich

In De nuptiis werden ebenfalls die Konventionen der Einzelgattungen ndash zu-mindest ansatzweise ndash hervorgehoben Dass kein perfektes Musterbeispiel derjeweiligen Einzelgattung entstehen kann liegt darin begruumlndet dass durch dieVerbindung der vier literarischen Genres keine oberflaumlchliche Konsistenz derFiktion entstehen kannVielmehr entstehen Bruumlche die ndash ebenso wie die Bruumlchein der Erzaumlhlhaltung ndash auch die Gattungskonventionen und ihre Annahmendeutlich werden lassen Dies gilt besonders fuumlr die Satire deren Vorgehen imKontrast zur eigentlichen Hochzeitshandlung aus dem Rahmen faumlllt und somitbesonderes Augenmerk erhaumllt Hinzu tritt mit der Figur Satura auch eine Perso-nifikation der Gattung die in theoretischen Diskussionen Annahmen und Vor-gehen mit Martianus eroumlrtert Grunduumlberlegungen der Gattung Satire werden sotheoretisch eroumlrtert und praktisch erprobt Gleiches giltwenn auch zT inwenigerdeutlicher Form auch fuumlr die anderen Formen Die Enzyklopaumldie in ihren langenMonologen wird durch Spott markiert die trockenen Kuumlnste werden probeweisedurch Allegorien zugaumlnglicher gemacht im Symposiondialog wird uumlberlegt in-wieweit uumlbliche Rollenmuster (der Zecher) einen Platz haben oder wie weit mandie fuumlr die Feier typischen Reden fuumlhren kann und immythischen Teil wird durchdie Gegenuumlberstellung mit dem handfesten Wissensbetrieb die Andersartigkeitdes Erzaumlhlens deutlich

So werden neben den Inhalten der Wissenschaften auch verschiedene lite-rarische Formen bewahrt Neben der reinen Anwendung und somit Tradierungwerden gleichzeitig auch die Mechanismen verdeutlicht deren sich die jeweilige

154 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Gattung bedient Somit wird ihr Funktionieren nachvollziehbar und in der Folgeauch nachahmbar

3 Zusammenfassung

Martianus weckt also durch die Wahl mehrerer gleichberechtigter Erzaumlhler diesomit das Erzaumlhlen unzuverlaumlssig werden lassen besonders aber durch dieUumlbernahme satirischer Gattungselemente ein Bewusstsein fuumlr die traditionellenGrundlagen desWissens- und Lehrsystems seiner Zeit ImGegensatz zur Satire diediese Fragen kategorisch stellt handelt es sich in De nuptiis um ein Spiel damitDer Satirebezug dient als Anknuumlpfung an die traditionellen Gattungsmerkmaleder menippeischen Satire Karnevaleske und Dialogizitaumlt

Durch die (temporaumlre) Rolleninversion richtet sich das Augenmerk aufPhilologia als Wissenszentrum und Wissensmittlerin und fordert zum Nach-denken daruumlber heraus Im Kern hinterfragt das Werk alle Bereiche die mit Bil-dung und Bildungsvermittlung zu tun haben Was sind die Inhalte wahrer Bil-dung Gibt es eine Einheit von Bildung Wie kann sie vermittelt werden

Allerdings zielt die Kritik nicht auf eine Aufloumlsung klassischer Bildungsinhalteund Vermittlungsformen Sie regt vielmehr durch Scherz und Bruumlche zumNachdenken uumlber diese Fragen an Dabei verzichtet Martianus auf eigene Vor-schlaumlge und Konzepte und festigt so gleichsam den traditionellen Bildungs-betrieb Das von ihm dargestellte Wissen wird kanonisiert und die Darstel-lungsform in langen Reden wird es auch Die mittelalterliche Rezeption von Denuptiis zeigt dies eindrucksvoll

Wissen umfasst dabei nicht nur das Faktenwissen der Vortraumlge sondern auchdas Wissen um bestimmte literarische Formen Durch die Verbindung von vierGattungen und die Doppelung der Erzaumlhlerfigur mit Reflexion uumlber angemessenesErzaumlhlen entstehen Inkonsistenzen die die Konventionen der einzelnen Gattun-gen hervortreten lassen Nicht alle Elementewerden auf dieseWeise deutlich aberMartianus bietet einen Ansatzpunkt die Fiktion auch unter der Fragestellung zulesen was einen Text der jeweiligen Gattung ausmacht ndash sowohl positiv wie ne-gativ formuliert

Mit seiner kreativen Konzeption und ihrer literarischen Umsetzung gelingt esMartianus eindrucksvoll Heiteres und Belehrendes zu verbindenwomit er an dieTradition Varros und die klassische antike Poetik anknuumlpft Es gelingt ihm daruumlberhinaus aber auchWissen zu vermitteln und die traditionellen Vorstellungen vonder Bedeutung dieses Wissens wie der Form seiner Vermittlung herauszustellenSpielerisch wird also gelehrt und hinterfragt nicht jedoch kategorisch kritisiertoder kuumlhn neu entworfen Gerade dadurch zeichnet sich Martianusrsquo De nuptiis

3 Zusammenfassung 155

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

tatsaumlchlich als nescioquid inopinum intactumque (sbquoetwas Ungewohntes und nochnie Gewagteslsquo 1 2) aus und macht es zu einem der bedeutendsten Buumlcher derSpaumltantike und zu einer interessanten Quelle fuumlr die Frage nach Bildungsvor-stellungen im fuumlnften Jahrhundert

156 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Page 36: Bildungsvorstellungen im 5. Jahrhundert n. Chr. (Macrobius, Martianus Capella und Sidonius Apollinaris) || III Martianus Capella, De nuptiis Philologiae et Mercurii

rahmen fuumlr den in der Folge erzaumlhlten Mythos bildet Bereits im ersten Satz wirdauf das Fest und die Tradition Heiteres frei zu erzaumlhlen Bezug genommensup3⁶sup1

Auch Senecas Apocolocyntosis stellt einen engen Bezug zum Saturnalienfesther Das Werk spielt zwar nicht an den Saturnalien sondern am Todestag desClaudius im Oktober doch wird an zwei Stellen eine Verbindung zwischen derHerrschaft des verstorbenen Kaisers und den dargestellten Sitten waumlhrend derRegierungszeit mit dem Saturnalienfest gezogensup3⁶sup2 Manche Interpreten gehensogar davon aus dass die Apocolocyntosis an den Saturnalien des Jahres 54vorgetragen wurdesup3⁶sup3 Auch bei Petron und Horaz finden sich Bezugnahmen aufdie Saturnaliensup3⁶⁴

Ein zentrales Element des Saturnalienfestes liegt in der Suspension der uumlb-licherweise geltenden Normen und Wertesup3⁶⁵ Neben den anderen Elementen desFestes wie sie z B in Macrobiusrsquo Saturnalia (1 7ndash 10 1 24 22 f) beschriebenwerden (traditionelle Geschenke Festmahl fuumlr die Sklaven etc) hat gerade dieUmkehrung der Herrschaftsverhaumlltnisse im Haus Niederschlag in der Literaturgefunden

Gerade durch diese Rolleninversion treten einige wichtige gesellschaftlicheNormvorstellungen und Grundannahmen prominent hervor Dazu zaumlhlt das Be-wusstsein dass es eine befehlende und eine ausfuumlhrende Gruppe von Menschengibt oder dass im Prinzip ein Rollenwechsel moumlglich sein kann Alle Beteiligten

Ἐπειδὴ δίδωσιν ὁ θεὸς παίζειν ndash ἔστι γὰρ Κρόνια ndash hellip (sbquoDa der Gott das Scherzen erlaubt ndashes sind ja die Kronia helliplsquo Caes 1 = 306a Spanheim) Zur Frage ob es sich bei Caesares auch umdas Werk handle auf das zu Ende der Rede auf Koumlnig Helios verwiesen wird (Or in Sol reg 44 =157c Spanheim) vgl Muumlller in seiner Uumlbersetzung (39 ablehnend) und Lacombrade im Vorwortseiner Budeacute-Ausgabe (3 und 18 Anm 3) der aufgrund des Handschriftenbefundes Kronia auchals Titelbestandteil fuumlr die Caesares uumlbernimmt Es handelt sich um Sen apocol 8 1 (Claudius als Saturnalienprinz) und 12 2 (Herrschaftdes Claudius als andauerndes Saturnalienfest) ndash Dass Lukian nicht auf die Saturnalien alsRahmen fuumlr seine Werke zuruumlckgreift entwertet die Beobachtungen nicht Lukian musste auf-grund seines Selbstbewusstseins als satirischer Schriftsteller und aufgrund der Menge seinersatirischen Schriften nicht jedes Mal einen eigenen literarischen Rahmen herstellen in demeinzelne Dialoge stattfinden konnten Das Saturnalienfest selbst erscheint bei Lukian als Ge-genstand der Satire nicht als deren literarische Rahmung (Τὰ πρὸς Κρόνον) Zuerst bei Furneaux 1896 23 Anm 11 In der neueren Forschung vgl bes Nauta 1987Kritisch dazu u a Doumlpp 1993 159 f Petron 44 3 58 2 69 9 zu Horaz vgl z B serm 2 7 (libertas Decembris) Ein gelungenesBeispiel der Anpassung und Anwendung der bachtinschen Konzepte mit Ertrag fuumlr die Inter-pretation unter Einbezug von serm 2 7 bietet Sharland 2010 Distelrath 1999 114 Vgl weiterhin Versnel 1993 136ndash227 und Doumlpp 1993 Eine plastischeSchilderung der Rollenvertauschung bei der der Sklave dem Herrn die Leviten liest bietet Horserm 2 7

2 De nuptiis als literarisches Werk 149

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Herren wie Sklaven spielen also mit den Moumlglichkeiten einer alternativen Wirk-lichkeit

Das Besondere im Spiel mit den Moumlglichkeiten liegt aber in seiner zeitlichenBegrenzung Nach der Zeit des Ausnahmezustands gelten wieder die normalenimmer guumlltigen Regeln Die Rolleninversion erlaubt also ndash oder erzwingt gera-dezu ndash das Nachdenken uumlber bestimmte gesellschaftliche Normen und Wertvor-stellungen Durch die Ritualisierung und enge zeitliche Begrenzung ist darausjedoch keineswegs die Notwendigkeit entstanden die Verhaumlltnisse tatsaumlchlich zuhinterfragen oder gar zu aumlndern Daher lassen sich die Saturnalien auch als ein dieKonventionen bestaumlrkendes Fest verstehen Das Spiel mit der Moumlglichkeit eineranderen Gesellschaftsordnung hat durch seine Ritualisierung letztlich eine dieTradition legitimierende Funktion bekommen

In De nuptiis finden sich jedoch houmlchstens spaumlrliche Hinweise auf das Sa-turnalienfest Am ehesten weist das grob scherzende Agieren Saturas in diesenBereich Die bdquolangen Winternaumlchteldquo (1 2) koumlnnten (statt als Bezug auf Gellius) alsAnspielung auf das Saturnalienfest verstandenwerden ndash die Saturnalien finden inden laumlngsten Naumlchten uumlberhaupt statt seit der Kaiserzeit vom 17 bis 23 DezemberDies ndash wie die Spekulation uumlber eine spielerische etymologische Verbindung vonSatura und Saturnaliensup3⁶⁶ ndash ist aber insofern nicht von Belang da die Gattung alsGanze karnevaleske Zuumlge traumlgt und als gewissermaszligen institutionalisierter Kar-neval vom eigentlichen Fest losgeloumlst istsup3⁶⁷

Die Aufhebung der uumlblichen Ordnung (was Teuber im Ruumlckgriff auf Limina-litaumltskonzepte als praumlliminale Phase bezeichnet)sup3⁶⁸ beginnt mit der VorbereitungPhilologias zum Aufstieg in den Himmel Bereits das Erbrechen stellt eine mar-kante Umkehrung der alltaumlglichen Welt dar Statt sich Wissen anzueignen er-bricht Philologia es nun In der Goumltterversammlung auf der Milchstraszlige ist dieOrdnung sodann voumlllig verkehrt Philologia als Meisterin aller Disziplinen und

Zwar sind die einschlaumlgigen etymologischen Woumlrterbuumlcher skeptisch (v a WaldeHof-mann 2007 II 482 neutral ErnoutMeillet 2001 596) jedoch gibt es dahin gehende moderneDeutungen (aufgefuumlhrt bei WaldeHofmann 2007 II 482) und auch antike ParallelisierungenCic nat deor 2 64 Saturnus hellip est appellatus quod saturaretur annis (sbquoSaturn hellip wurde ergenannt weil er an Jahren gesaumlttigt istlsquo) Fulg myth 1 2 (p 17 16) a saturando Saturnus dictusest (sbquoDa er (die Menschen) saumlttigt wurde er Saturn genanntlsquo) Aug cons euang 1 23 35 Sa-turnus tamquam satur hellip νοῦς (sbquoSaturn gleichsam der gesaumlttigte hellip νοῦςlsquo) Vgl auch Gowers diedie etymologischen Verbindungen von satura Satyrspiel und Saturnalien untersucht (Gowers1993 109ndash 117) Sie kommt zu dem Befund dass keine Verbindung bestehe wohl aber verbin-dende Elemente identifiziert werden koumlnnten bdquocarnival licence parody uninhibited mockeryand excessive consumptionldquo (ibid 117) Vgl z B Teuber 1993 183 f Teuber 1993 183

150 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

bedeutende Lehrinstanz muss sich ihrerseits belehren lassen ndash mit dem Wissendas urspruumlnglich ihres war

Durch die Inversion wird die (vielleicht uumlblicherweise nicht prominente)Philologia in den Mittelpunkt geruumlckt und ihre zentrale Rolle im Wissenssystemtritt markant vor Augen Gleichzeitig kann darin eine leise Anfrage an ihre Lehr-autoritaumlt und eventuell auch ihre Eignung zur Lehre gesehen werden

Aufgrund des zeitlich begrenzten Rahmens der Verkehrung (diemit dem Endeder Vortraumlge voruumlber ist aber nicht explizit zuruumlckverwandelt wird) dessen Be-grenztheit durch Bezug auf die Form der menippeischen Satire ergaumlnzt werdenkann wird das System der Bildung und der Bildungsvermittlung jedoch nichtgrundsaumltzlich infrage gestellt Die Suspendierung Philologias ist temporaumlr

Dem Konzept der Dialogizitaumlt oder Mehrstimmigkeit folgend erklaumlrt sich auchdie Doppelung und Verunklarung der Erzaumlhlinstanz In den drei Dialogen indenen Satura und Martianus aufeinandertreffen behandeln sie die Frage desrichtigen Erzaumlhlens Dies beschraumlnkt sich nicht nur auf die Satire sondern umfasstalle auftretenden literarischen Formen Martianus und Satura sind sich uneinswie weit der Mythos reichen soll und ob eine Enzyklopaumldie trocken oder auchunterhaltsam erzaumlhlt werden soll (2 219ndash3 222) ob ein Symposion auch Zechenund Spaszlig vertraumlgt (8 803ndash810) oder ob und wie stark Satire Dinge vermischendarf (9 997ndash 1000)

Die unterschiedlichen Meinungen zu den Fragen werden zwar diskutiert undfuumlhren zu einem Ergebnis ndash der Erzaumlhlfluss versiegt ja an keiner Stelle oder setztneu an Allerdings entsteht in der Folge kein homogenes Werk und am Schlussmag keiner der beiden Erzaumlhler dafuumlr die Verantwortung uumlbernehmen Der Wi-derwillen sich zu dem Werk zu bekennen bedeutet aber gleichzeitig auch dassMartianus sich nicht festlegt welche Position er fuumlr die richtige haumllt Die Fragenach der rechten Art der Wissensvermittlung die auch in der Ent- und Inthroni-sierung Philologias anklang bleibt unbeantwortet

Schlieszliglich bringt der Blick auf die Aurelian-Vita aus der Historia Augustanoch einen weiteren Aspekt ein Parallel zur Aufteilung der Erzaumlhlinstanzen in Denuptiiswird der Erzaumlhlprozess in derHistoria Augusta aufmehrere AutorenverteiltWie zuerst Hermann Dessau und in der Folge Ronald Syme nachdruumlcklich gezeigthaben handelt es sich allerdings um nur einen Verfasser der uumlberdies auch inBezug auf die Abfassungszeit falsche Angaben gemacht hat und Quellen erfundenhatsup3⁶⁹ Insofern laumlsst sich der in der Historia Augusta gepraumlgte Begriff der

Auf den Charakter der Sammlung die Syme u a als bdquohoaxldquo bezeichnet (1983a 11 1983b13 1983c 219) die fingierten Autoren die manipulierten Quellen etc soll an dieser Stelle nurhingewiesen werden Vgl auch Cameron 2011 Kap 20 mit ausfuumlhrlicher Diskussion relevanterFragen

2 De nuptiis als literarisches Werk 151

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mythistoria der Vermischung von Mythischem und Historischem auch auf dieSammlung selbst anwendensup3⁷⁰

Als Menippee im engeren Sinne laumlsst sich weiterhin die Aurelian-Vita die 26Vita der Sammlung fassen und bezeichnenderweise spielt die Rahmenhandlungan denHilariasup3⁷sup1Wie zu den Saturnalien gehoumlren zu diesem Fest Scherze und ndash imRahmen von Maskierungen ndash Rollenwechselsup3⁷sup2

Noch in der rahmenden Einleitung zur Vita spielt sich folgender Dialog ab

1 et quoniam sermo nobis de Trebltellgtio Pollione qui a duobus Philippis usque ad divumClaudium et eius fratrem Quintillum imperatores tam claros quam obscuros memoriaeprodidit in eodem vehiculo fuit adserente Tiberiano quod Pollio multa incuriose multabreviter prodidisset me contra dicente neminem scriptorum quantum ad historiam pertinetnon aliquid esse mentitum prodente quin etiam in quo Livius in quo Sallustius in quoCornelius Tacitus in quo denique Trogus manifestis testibus convincerentur pedibus insententiam transitum faciens ac manum porrigens iocando[m] praeterea sbquoscribelsquo inquit sbquout

quae ille [scil Iunius Cordus] omnia exsequendo libros mythistoriis replevit talia scribendocum omnino rerum vilium aut nulla scribenda sint aut nimis pauca si tamen ex his morespossint animadverti qui re vera sciendi sunt hellip sed ex parte ut ex ea cetera colligantur(SHA Opil 1 5)

Bei der Anfuumlhrung von all diesen Informationen hat er die Buumlcher mit fabuloumlsen Ge-schichten angefuumlllt indem er Dinge von dieser Art schrieb wo doch uumlberhaupt keinenutzlosen Dinge geschrieben werden duumlrfen oder nur sehr wenige sofern daraus Verhal-tensweisen erkannt werden koumlnnen die wirklich wissenswert sind hellip aber zum Teil(schreibe ich) damit daraus das Andere gefolgert werden kann

quid Marius Maximus homo omnium verbosissimus qui et mythist[h]oricis se voluminibusinplicavit num ad istam descriptionem curamque descendit (SHA Quadr tyr 1 2)

Wie Hat sich Marius Maximus der groumlszligte Schwaumltzer vor dem Herrn der sich in seinenmythistorischen Werken verfangen hat etwa zu dieser Art der Darstellung und des sorg-faumlltigen Arbeitens herabgelassen

Hilaribus quibus omnia festa et fieri debere scimus et dici impletis sollemnibus vehiculo suome hellip Iunius Tiberianus accepit (SHA Aurelian 1 1)

An den Hilaria an denen alles zum Fest Gehoumlrende getan und gesagt werden muss wieman weiszlig empfing mich nach Erledigung der Zeremonien Iunius Tiberianus in seinemGefaumlhrt

Pausch bemerkt dieses besondere Datum zwar und erwaumlgt ob es sich um ein bdquoweitergehendesLesesignalldquo beispielsweise im Sinne karnevalesker Literatur handeln koumlnne verfolgt diese Spuraber nicht weiter (Pausch 2011 130 Anm 1) Herodian 1 10 5 ndash Einige Hinweise auf die Hilaria die im Kontext des Magna Mater-Festesam 25 Maumlrz gefeiert wurden bietet Fraser in seinem Kommentar zu Ovids Fasti (Fraser 1929244ndash248)

152 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

libet 2 securus quod velis dices habiturus mendaciorum comites quos historicae elo-quentiae miramur auctoreslsquo (SHA Aurelian 2 1ndash2)

1 Und weil unser Gespraumlch uumlber Trebellius Pollio der von den beiden Philippi bis zumvergoumlttlichten Claudius und dessen Bruder Quintillus gleichermaszligen uumlber beruumlhmte wieunbekannte Kaiser fuumlr die Nachwelt schrieb in derselben Saumlnfte stattfand behauptete erdass Pollio vieles ohne Sorgfalt und nur kurz dargelegt habe Ich erwiderte dass keinSchriftsteller sofern es um die Geschichte gehe nicht irgendwo gelogen habe und legtesodann dar worin sogar Livius Sallust Tacitus schlieszliglich sogar Trogus mit eindeutigenBelegen uumlberfuumlhrt werden koumlnnten Darauf sagte Tiberianus schlieszliglich scherzend indem ermeiner Meinung beipflichtete und mir seine Hand darbot bdquoSchreibe sowie du es fuumlr richtighaumlltst 2 Sage unbesorgt was du willst du wirst diejenigen als Gefaumlhrten fuumlr deine Taumlu-schungen haben die wir als Schoumlpfer historiographischer Beredsamkeit bewundernldquo

So sympathisch dieser Anspruch auch erscheinen mag ist er doch fuumlr das Ver-trauen in die Gattung der Geschichtsschreibung fatal Gerade in der Einleitungeiner Vita jedoch ndash zumal es der Fiktion nach die erste des Flavius Vopiscus Sy-racusius im Corpus der Historia Augusta ist ndash kann eine solche Anekdote ei-gentlich keinen Platz haben Sie erweckt beim Leser den Eindruck dass er dennachfolgend dargebotenen Informationen kein Vertrauen schenken duumlrfesup3⁷sup3

Die Parallelen zwischen der Historia Augusta insbesondere dem Vorgehen inder Vita Aureliani und De nuptiis liegen auf der Hand Verunklarung der Autor-schaft bzw der Erzaumlhlhaltung einerseits Erwecken von Zweifeln an der Glaub-wuumlrdigkeit des Dargebotenen andererseits

In der Historia Augusta sind die Inkongruenzen mit der Freude des Autors amliterarischen Spiel erklaumlrt worden Der Autor habe aus Freude am Fabulieren(vielleicht auchumein dafuumlr empfaumlngliches Publikum zu befriedigen) die Viten indieser Form verfasstsup3⁷⁴ Mag man dies fuumlr die Historia Augusta noch zugestehenderen Text uumlber einen laumlngeren Zeitraum vielleicht zunaumlchst ohne eine Gesamt-konzeption entstanden ist und auch sprachlich nicht herausragt stellt sich derSachverhalt fuumlr Martianusrsquo De nuptiis anders dar Das Werk hat durchaus einenliterarischen Anspruch und es folgt eindeutig einer vorab geplanten Gesamtan-lage Die Freude am Spiel mag vielleicht manches Detail beigesteuert haben fuumlrdie verschraumlnkte Anlage des Textes ist sie aber keine Erklaumlrung

Ganz anders ist der Anspruch zum Ende der Darstellung der Viten der bdquoDreiszligig Tyrannenldquoin dem der Autor beteuert seinem Werk mangele es zwar an literarischer Ausgefeiltheit nichtjedoch an Faktentreue da nunc cuivis libellum non tam diserte quam fideliter scriptum ndash sbquoGibnun dieses Buumlchleinwem du magst es ist nicht so sehr kunstvoll geschrieben wie es sachgetreuistlsquo (SHA Quadr tyr 33 8) Syme nennt dies bdquodeceit for its own sweet sakeldquo (1983c 217) Im gleichen Aufsatz spe-kuliert er auch uumlber das Interesse des Publikums an einer solchen Art von geistigem Spiel(ibid 221)

2 De nuptiis als literarisches Werk 153

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Es lohnt sich jedoch auch fuumlr die Historia Augusta einen Schritt weiter zugehen Ausgangspunkt dafuumlr ist die obige Beobachtungdass das literarische Spielder Historia Augusta nur durchschaut wer die Werke der historischen Literaturkennt Durch die Lektuumlre historiographischer Biographien bringt der Leser einebestimmte Leseerwartung also implizite Vorstellungen mit wie das Werk aus-sehen soll und wird Diese Erwartungen werden aber nicht oder nur teilweisebedient Formal gesehen weisen die Viten in der Historia Augusta zwar die Cha-rakteristika der Gattung auf ndash doch indem sie sie inhaltlich nicht adaumlquat aus-fuumlllen treten deren Konventionen vor Augen

Durch die uumlbermaumlszligige Verwendung falscher Verweise und erfundener Quel-len geraumlt zudem das Beglaubigungsverfahren historischer Texte in den Blick-punkt Der Leser erkennt anwelchen Stellenwelche Beglaubigungsmechanismenansetzen und auf welche Weise sie unterlaufen werden koumlnnen Uumlberspitzt lieszligesich behaupten DieHistoria Augusta verfolgt ein aufklaumlrerisches Interesse indemsie (spielerisch) aufzeigt welche Beglaubigungsverfahren die Geschichtsschrei-bung nutzt und wie sie manipuliert werden koumlnnen dadurch wird auch die Ma-nipulierbarkeit von Geschichte und Leser deutlich

In De nuptiis werden ebenfalls die Konventionen der Einzelgattungen ndash zu-mindest ansatzweise ndash hervorgehoben Dass kein perfektes Musterbeispiel derjeweiligen Einzelgattung entstehen kann liegt darin begruumlndet dass durch dieVerbindung der vier literarischen Genres keine oberflaumlchliche Konsistenz derFiktion entstehen kannVielmehr entstehen Bruumlche die ndash ebenso wie die Bruumlchein der Erzaumlhlhaltung ndash auch die Gattungskonventionen und ihre Annahmendeutlich werden lassen Dies gilt besonders fuumlr die Satire deren Vorgehen imKontrast zur eigentlichen Hochzeitshandlung aus dem Rahmen faumlllt und somitbesonderes Augenmerk erhaumllt Hinzu tritt mit der Figur Satura auch eine Perso-nifikation der Gattung die in theoretischen Diskussionen Annahmen und Vor-gehen mit Martianus eroumlrtert Grunduumlberlegungen der Gattung Satire werden sotheoretisch eroumlrtert und praktisch erprobt Gleiches giltwenn auch zT inwenigerdeutlicher Form auch fuumlr die anderen Formen Die Enzyklopaumldie in ihren langenMonologen wird durch Spott markiert die trockenen Kuumlnste werden probeweisedurch Allegorien zugaumlnglicher gemacht im Symposiondialog wird uumlberlegt in-wieweit uumlbliche Rollenmuster (der Zecher) einen Platz haben oder wie weit mandie fuumlr die Feier typischen Reden fuumlhren kann und immythischen Teil wird durchdie Gegenuumlberstellung mit dem handfesten Wissensbetrieb die Andersartigkeitdes Erzaumlhlens deutlich

So werden neben den Inhalten der Wissenschaften auch verschiedene lite-rarische Formen bewahrt Neben der reinen Anwendung und somit Tradierungwerden gleichzeitig auch die Mechanismen verdeutlicht deren sich die jeweilige

154 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Gattung bedient Somit wird ihr Funktionieren nachvollziehbar und in der Folgeauch nachahmbar

3 Zusammenfassung

Martianus weckt also durch die Wahl mehrerer gleichberechtigter Erzaumlhler diesomit das Erzaumlhlen unzuverlaumlssig werden lassen besonders aber durch dieUumlbernahme satirischer Gattungselemente ein Bewusstsein fuumlr die traditionellenGrundlagen desWissens- und Lehrsystems seiner Zeit ImGegensatz zur Satire diediese Fragen kategorisch stellt handelt es sich in De nuptiis um ein Spiel damitDer Satirebezug dient als Anknuumlpfung an die traditionellen Gattungsmerkmaleder menippeischen Satire Karnevaleske und Dialogizitaumlt

Durch die (temporaumlre) Rolleninversion richtet sich das Augenmerk aufPhilologia als Wissenszentrum und Wissensmittlerin und fordert zum Nach-denken daruumlber heraus Im Kern hinterfragt das Werk alle Bereiche die mit Bil-dung und Bildungsvermittlung zu tun haben Was sind die Inhalte wahrer Bil-dung Gibt es eine Einheit von Bildung Wie kann sie vermittelt werden

Allerdings zielt die Kritik nicht auf eine Aufloumlsung klassischer Bildungsinhalteund Vermittlungsformen Sie regt vielmehr durch Scherz und Bruumlche zumNachdenken uumlber diese Fragen an Dabei verzichtet Martianus auf eigene Vor-schlaumlge und Konzepte und festigt so gleichsam den traditionellen Bildungs-betrieb Das von ihm dargestellte Wissen wird kanonisiert und die Darstel-lungsform in langen Reden wird es auch Die mittelalterliche Rezeption von Denuptiis zeigt dies eindrucksvoll

Wissen umfasst dabei nicht nur das Faktenwissen der Vortraumlge sondern auchdas Wissen um bestimmte literarische Formen Durch die Verbindung von vierGattungen und die Doppelung der Erzaumlhlerfigur mit Reflexion uumlber angemessenesErzaumlhlen entstehen Inkonsistenzen die die Konventionen der einzelnen Gattun-gen hervortreten lassen Nicht alle Elementewerden auf dieseWeise deutlich aberMartianus bietet einen Ansatzpunkt die Fiktion auch unter der Fragestellung zulesen was einen Text der jeweiligen Gattung ausmacht ndash sowohl positiv wie ne-gativ formuliert

Mit seiner kreativen Konzeption und ihrer literarischen Umsetzung gelingt esMartianus eindrucksvoll Heiteres und Belehrendes zu verbindenwomit er an dieTradition Varros und die klassische antike Poetik anknuumlpft Es gelingt ihm daruumlberhinaus aber auchWissen zu vermitteln und die traditionellen Vorstellungen vonder Bedeutung dieses Wissens wie der Form seiner Vermittlung herauszustellenSpielerisch wird also gelehrt und hinterfragt nicht jedoch kategorisch kritisiertoder kuumlhn neu entworfen Gerade dadurch zeichnet sich Martianusrsquo De nuptiis

3 Zusammenfassung 155

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

tatsaumlchlich als nescioquid inopinum intactumque (sbquoetwas Ungewohntes und nochnie Gewagteslsquo 1 2) aus und macht es zu einem der bedeutendsten Buumlcher derSpaumltantike und zu einer interessanten Quelle fuumlr die Frage nach Bildungsvor-stellungen im fuumlnften Jahrhundert

156 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Page 37: Bildungsvorstellungen im 5. Jahrhundert n. Chr. (Macrobius, Martianus Capella und Sidonius Apollinaris) || III Martianus Capella, De nuptiis Philologiae et Mercurii

Herren wie Sklaven spielen also mit den Moumlglichkeiten einer alternativen Wirk-lichkeit

Das Besondere im Spiel mit den Moumlglichkeiten liegt aber in seiner zeitlichenBegrenzung Nach der Zeit des Ausnahmezustands gelten wieder die normalenimmer guumlltigen Regeln Die Rolleninversion erlaubt also ndash oder erzwingt gera-dezu ndash das Nachdenken uumlber bestimmte gesellschaftliche Normen und Wertvor-stellungen Durch die Ritualisierung und enge zeitliche Begrenzung ist darausjedoch keineswegs die Notwendigkeit entstanden die Verhaumlltnisse tatsaumlchlich zuhinterfragen oder gar zu aumlndern Daher lassen sich die Saturnalien auch als ein dieKonventionen bestaumlrkendes Fest verstehen Das Spiel mit der Moumlglichkeit eineranderen Gesellschaftsordnung hat durch seine Ritualisierung letztlich eine dieTradition legitimierende Funktion bekommen

In De nuptiis finden sich jedoch houmlchstens spaumlrliche Hinweise auf das Sa-turnalienfest Am ehesten weist das grob scherzende Agieren Saturas in diesenBereich Die bdquolangen Winternaumlchteldquo (1 2) koumlnnten (statt als Bezug auf Gellius) alsAnspielung auf das Saturnalienfest verstandenwerden ndash die Saturnalien finden inden laumlngsten Naumlchten uumlberhaupt statt seit der Kaiserzeit vom 17 bis 23 DezemberDies ndash wie die Spekulation uumlber eine spielerische etymologische Verbindung vonSatura und Saturnaliensup3⁶⁶ ndash ist aber insofern nicht von Belang da die Gattung alsGanze karnevaleske Zuumlge traumlgt und als gewissermaszligen institutionalisierter Kar-neval vom eigentlichen Fest losgeloumlst istsup3⁶⁷

Die Aufhebung der uumlblichen Ordnung (was Teuber im Ruumlckgriff auf Limina-litaumltskonzepte als praumlliminale Phase bezeichnet)sup3⁶⁸ beginnt mit der VorbereitungPhilologias zum Aufstieg in den Himmel Bereits das Erbrechen stellt eine mar-kante Umkehrung der alltaumlglichen Welt dar Statt sich Wissen anzueignen er-bricht Philologia es nun In der Goumltterversammlung auf der Milchstraszlige ist dieOrdnung sodann voumlllig verkehrt Philologia als Meisterin aller Disziplinen und

Zwar sind die einschlaumlgigen etymologischen Woumlrterbuumlcher skeptisch (v a WaldeHof-mann 2007 II 482 neutral ErnoutMeillet 2001 596) jedoch gibt es dahin gehende moderneDeutungen (aufgefuumlhrt bei WaldeHofmann 2007 II 482) und auch antike ParallelisierungenCic nat deor 2 64 Saturnus hellip est appellatus quod saturaretur annis (sbquoSaturn hellip wurde ergenannt weil er an Jahren gesaumlttigt istlsquo) Fulg myth 1 2 (p 17 16) a saturando Saturnus dictusest (sbquoDa er (die Menschen) saumlttigt wurde er Saturn genanntlsquo) Aug cons euang 1 23 35 Sa-turnus tamquam satur hellip νοῦς (sbquoSaturn gleichsam der gesaumlttigte hellip νοῦςlsquo) Vgl auch Gowers diedie etymologischen Verbindungen von satura Satyrspiel und Saturnalien untersucht (Gowers1993 109ndash 117) Sie kommt zu dem Befund dass keine Verbindung bestehe wohl aber verbin-dende Elemente identifiziert werden koumlnnten bdquocarnival licence parody uninhibited mockeryand excessive consumptionldquo (ibid 117) Vgl z B Teuber 1993 183 f Teuber 1993 183

150 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

bedeutende Lehrinstanz muss sich ihrerseits belehren lassen ndash mit dem Wissendas urspruumlnglich ihres war

Durch die Inversion wird die (vielleicht uumlblicherweise nicht prominente)Philologia in den Mittelpunkt geruumlckt und ihre zentrale Rolle im Wissenssystemtritt markant vor Augen Gleichzeitig kann darin eine leise Anfrage an ihre Lehr-autoritaumlt und eventuell auch ihre Eignung zur Lehre gesehen werden

Aufgrund des zeitlich begrenzten Rahmens der Verkehrung (diemit dem Endeder Vortraumlge voruumlber ist aber nicht explizit zuruumlckverwandelt wird) dessen Be-grenztheit durch Bezug auf die Form der menippeischen Satire ergaumlnzt werdenkann wird das System der Bildung und der Bildungsvermittlung jedoch nichtgrundsaumltzlich infrage gestellt Die Suspendierung Philologias ist temporaumlr

Dem Konzept der Dialogizitaumlt oder Mehrstimmigkeit folgend erklaumlrt sich auchdie Doppelung und Verunklarung der Erzaumlhlinstanz In den drei Dialogen indenen Satura und Martianus aufeinandertreffen behandeln sie die Frage desrichtigen Erzaumlhlens Dies beschraumlnkt sich nicht nur auf die Satire sondern umfasstalle auftretenden literarischen Formen Martianus und Satura sind sich uneinswie weit der Mythos reichen soll und ob eine Enzyklopaumldie trocken oder auchunterhaltsam erzaumlhlt werden soll (2 219ndash3 222) ob ein Symposion auch Zechenund Spaszlig vertraumlgt (8 803ndash810) oder ob und wie stark Satire Dinge vermischendarf (9 997ndash 1000)

Die unterschiedlichen Meinungen zu den Fragen werden zwar diskutiert undfuumlhren zu einem Ergebnis ndash der Erzaumlhlfluss versiegt ja an keiner Stelle oder setztneu an Allerdings entsteht in der Folge kein homogenes Werk und am Schlussmag keiner der beiden Erzaumlhler dafuumlr die Verantwortung uumlbernehmen Der Wi-derwillen sich zu dem Werk zu bekennen bedeutet aber gleichzeitig auch dassMartianus sich nicht festlegt welche Position er fuumlr die richtige haumllt Die Fragenach der rechten Art der Wissensvermittlung die auch in der Ent- und Inthroni-sierung Philologias anklang bleibt unbeantwortet

Schlieszliglich bringt der Blick auf die Aurelian-Vita aus der Historia Augustanoch einen weiteren Aspekt ein Parallel zur Aufteilung der Erzaumlhlinstanzen in Denuptiiswird der Erzaumlhlprozess in derHistoria Augusta aufmehrere AutorenverteiltWie zuerst Hermann Dessau und in der Folge Ronald Syme nachdruumlcklich gezeigthaben handelt es sich allerdings um nur einen Verfasser der uumlberdies auch inBezug auf die Abfassungszeit falsche Angaben gemacht hat und Quellen erfundenhatsup3⁶⁹ Insofern laumlsst sich der in der Historia Augusta gepraumlgte Begriff der

Auf den Charakter der Sammlung die Syme u a als bdquohoaxldquo bezeichnet (1983a 11 1983b13 1983c 219) die fingierten Autoren die manipulierten Quellen etc soll an dieser Stelle nurhingewiesen werden Vgl auch Cameron 2011 Kap 20 mit ausfuumlhrlicher Diskussion relevanterFragen

2 De nuptiis als literarisches Werk 151

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mythistoria der Vermischung von Mythischem und Historischem auch auf dieSammlung selbst anwendensup3⁷⁰

Als Menippee im engeren Sinne laumlsst sich weiterhin die Aurelian-Vita die 26Vita der Sammlung fassen und bezeichnenderweise spielt die Rahmenhandlungan denHilariasup3⁷sup1Wie zu den Saturnalien gehoumlren zu diesem Fest Scherze und ndash imRahmen von Maskierungen ndash Rollenwechselsup3⁷sup2

Noch in der rahmenden Einleitung zur Vita spielt sich folgender Dialog ab

1 et quoniam sermo nobis de Trebltellgtio Pollione qui a duobus Philippis usque ad divumClaudium et eius fratrem Quintillum imperatores tam claros quam obscuros memoriaeprodidit in eodem vehiculo fuit adserente Tiberiano quod Pollio multa incuriose multabreviter prodidisset me contra dicente neminem scriptorum quantum ad historiam pertinetnon aliquid esse mentitum prodente quin etiam in quo Livius in quo Sallustius in quoCornelius Tacitus in quo denique Trogus manifestis testibus convincerentur pedibus insententiam transitum faciens ac manum porrigens iocando[m] praeterea sbquoscribelsquo inquit sbquout

quae ille [scil Iunius Cordus] omnia exsequendo libros mythistoriis replevit talia scribendocum omnino rerum vilium aut nulla scribenda sint aut nimis pauca si tamen ex his morespossint animadverti qui re vera sciendi sunt hellip sed ex parte ut ex ea cetera colligantur(SHA Opil 1 5)

Bei der Anfuumlhrung von all diesen Informationen hat er die Buumlcher mit fabuloumlsen Ge-schichten angefuumlllt indem er Dinge von dieser Art schrieb wo doch uumlberhaupt keinenutzlosen Dinge geschrieben werden duumlrfen oder nur sehr wenige sofern daraus Verhal-tensweisen erkannt werden koumlnnen die wirklich wissenswert sind hellip aber zum Teil(schreibe ich) damit daraus das Andere gefolgert werden kann

quid Marius Maximus homo omnium verbosissimus qui et mythist[h]oricis se voluminibusinplicavit num ad istam descriptionem curamque descendit (SHA Quadr tyr 1 2)

Wie Hat sich Marius Maximus der groumlszligte Schwaumltzer vor dem Herrn der sich in seinenmythistorischen Werken verfangen hat etwa zu dieser Art der Darstellung und des sorg-faumlltigen Arbeitens herabgelassen

Hilaribus quibus omnia festa et fieri debere scimus et dici impletis sollemnibus vehiculo suome hellip Iunius Tiberianus accepit (SHA Aurelian 1 1)

An den Hilaria an denen alles zum Fest Gehoumlrende getan und gesagt werden muss wieman weiszlig empfing mich nach Erledigung der Zeremonien Iunius Tiberianus in seinemGefaumlhrt

Pausch bemerkt dieses besondere Datum zwar und erwaumlgt ob es sich um ein bdquoweitergehendesLesesignalldquo beispielsweise im Sinne karnevalesker Literatur handeln koumlnne verfolgt diese Spuraber nicht weiter (Pausch 2011 130 Anm 1) Herodian 1 10 5 ndash Einige Hinweise auf die Hilaria die im Kontext des Magna Mater-Festesam 25 Maumlrz gefeiert wurden bietet Fraser in seinem Kommentar zu Ovids Fasti (Fraser 1929244ndash248)

152 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

libet 2 securus quod velis dices habiturus mendaciorum comites quos historicae elo-quentiae miramur auctoreslsquo (SHA Aurelian 2 1ndash2)

1 Und weil unser Gespraumlch uumlber Trebellius Pollio der von den beiden Philippi bis zumvergoumlttlichten Claudius und dessen Bruder Quintillus gleichermaszligen uumlber beruumlhmte wieunbekannte Kaiser fuumlr die Nachwelt schrieb in derselben Saumlnfte stattfand behauptete erdass Pollio vieles ohne Sorgfalt und nur kurz dargelegt habe Ich erwiderte dass keinSchriftsteller sofern es um die Geschichte gehe nicht irgendwo gelogen habe und legtesodann dar worin sogar Livius Sallust Tacitus schlieszliglich sogar Trogus mit eindeutigenBelegen uumlberfuumlhrt werden koumlnnten Darauf sagte Tiberianus schlieszliglich scherzend indem ermeiner Meinung beipflichtete und mir seine Hand darbot bdquoSchreibe sowie du es fuumlr richtighaumlltst 2 Sage unbesorgt was du willst du wirst diejenigen als Gefaumlhrten fuumlr deine Taumlu-schungen haben die wir als Schoumlpfer historiographischer Beredsamkeit bewundernldquo

So sympathisch dieser Anspruch auch erscheinen mag ist er doch fuumlr das Ver-trauen in die Gattung der Geschichtsschreibung fatal Gerade in der Einleitungeiner Vita jedoch ndash zumal es der Fiktion nach die erste des Flavius Vopiscus Sy-racusius im Corpus der Historia Augusta ist ndash kann eine solche Anekdote ei-gentlich keinen Platz haben Sie erweckt beim Leser den Eindruck dass er dennachfolgend dargebotenen Informationen kein Vertrauen schenken duumlrfesup3⁷sup3

Die Parallelen zwischen der Historia Augusta insbesondere dem Vorgehen inder Vita Aureliani und De nuptiis liegen auf der Hand Verunklarung der Autor-schaft bzw der Erzaumlhlhaltung einerseits Erwecken von Zweifeln an der Glaub-wuumlrdigkeit des Dargebotenen andererseits

In der Historia Augusta sind die Inkongruenzen mit der Freude des Autors amliterarischen Spiel erklaumlrt worden Der Autor habe aus Freude am Fabulieren(vielleicht auchumein dafuumlr empfaumlngliches Publikum zu befriedigen) die Viten indieser Form verfasstsup3⁷⁴ Mag man dies fuumlr die Historia Augusta noch zugestehenderen Text uumlber einen laumlngeren Zeitraum vielleicht zunaumlchst ohne eine Gesamt-konzeption entstanden ist und auch sprachlich nicht herausragt stellt sich derSachverhalt fuumlr Martianusrsquo De nuptiis anders dar Das Werk hat durchaus einenliterarischen Anspruch und es folgt eindeutig einer vorab geplanten Gesamtan-lage Die Freude am Spiel mag vielleicht manches Detail beigesteuert haben fuumlrdie verschraumlnkte Anlage des Textes ist sie aber keine Erklaumlrung

Ganz anders ist der Anspruch zum Ende der Darstellung der Viten der bdquoDreiszligig Tyrannenldquoin dem der Autor beteuert seinem Werk mangele es zwar an literarischer Ausgefeiltheit nichtjedoch an Faktentreue da nunc cuivis libellum non tam diserte quam fideliter scriptum ndash sbquoGibnun dieses Buumlchleinwem du magst es ist nicht so sehr kunstvoll geschrieben wie es sachgetreuistlsquo (SHA Quadr tyr 33 8) Syme nennt dies bdquodeceit for its own sweet sakeldquo (1983c 217) Im gleichen Aufsatz spe-kuliert er auch uumlber das Interesse des Publikums an einer solchen Art von geistigem Spiel(ibid 221)

2 De nuptiis als literarisches Werk 153

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Es lohnt sich jedoch auch fuumlr die Historia Augusta einen Schritt weiter zugehen Ausgangspunkt dafuumlr ist die obige Beobachtungdass das literarische Spielder Historia Augusta nur durchschaut wer die Werke der historischen Literaturkennt Durch die Lektuumlre historiographischer Biographien bringt der Leser einebestimmte Leseerwartung also implizite Vorstellungen mit wie das Werk aus-sehen soll und wird Diese Erwartungen werden aber nicht oder nur teilweisebedient Formal gesehen weisen die Viten in der Historia Augusta zwar die Cha-rakteristika der Gattung auf ndash doch indem sie sie inhaltlich nicht adaumlquat aus-fuumlllen treten deren Konventionen vor Augen

Durch die uumlbermaumlszligige Verwendung falscher Verweise und erfundener Quel-len geraumlt zudem das Beglaubigungsverfahren historischer Texte in den Blick-punkt Der Leser erkennt anwelchen Stellenwelche Beglaubigungsmechanismenansetzen und auf welche Weise sie unterlaufen werden koumlnnen Uumlberspitzt lieszligesich behaupten DieHistoria Augusta verfolgt ein aufklaumlrerisches Interesse indemsie (spielerisch) aufzeigt welche Beglaubigungsverfahren die Geschichtsschrei-bung nutzt und wie sie manipuliert werden koumlnnen dadurch wird auch die Ma-nipulierbarkeit von Geschichte und Leser deutlich

In De nuptiis werden ebenfalls die Konventionen der Einzelgattungen ndash zu-mindest ansatzweise ndash hervorgehoben Dass kein perfektes Musterbeispiel derjeweiligen Einzelgattung entstehen kann liegt darin begruumlndet dass durch dieVerbindung der vier literarischen Genres keine oberflaumlchliche Konsistenz derFiktion entstehen kannVielmehr entstehen Bruumlche die ndash ebenso wie die Bruumlchein der Erzaumlhlhaltung ndash auch die Gattungskonventionen und ihre Annahmendeutlich werden lassen Dies gilt besonders fuumlr die Satire deren Vorgehen imKontrast zur eigentlichen Hochzeitshandlung aus dem Rahmen faumlllt und somitbesonderes Augenmerk erhaumllt Hinzu tritt mit der Figur Satura auch eine Perso-nifikation der Gattung die in theoretischen Diskussionen Annahmen und Vor-gehen mit Martianus eroumlrtert Grunduumlberlegungen der Gattung Satire werden sotheoretisch eroumlrtert und praktisch erprobt Gleiches giltwenn auch zT inwenigerdeutlicher Form auch fuumlr die anderen Formen Die Enzyklopaumldie in ihren langenMonologen wird durch Spott markiert die trockenen Kuumlnste werden probeweisedurch Allegorien zugaumlnglicher gemacht im Symposiondialog wird uumlberlegt in-wieweit uumlbliche Rollenmuster (der Zecher) einen Platz haben oder wie weit mandie fuumlr die Feier typischen Reden fuumlhren kann und immythischen Teil wird durchdie Gegenuumlberstellung mit dem handfesten Wissensbetrieb die Andersartigkeitdes Erzaumlhlens deutlich

So werden neben den Inhalten der Wissenschaften auch verschiedene lite-rarische Formen bewahrt Neben der reinen Anwendung und somit Tradierungwerden gleichzeitig auch die Mechanismen verdeutlicht deren sich die jeweilige

154 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Gattung bedient Somit wird ihr Funktionieren nachvollziehbar und in der Folgeauch nachahmbar

3 Zusammenfassung

Martianus weckt also durch die Wahl mehrerer gleichberechtigter Erzaumlhler diesomit das Erzaumlhlen unzuverlaumlssig werden lassen besonders aber durch dieUumlbernahme satirischer Gattungselemente ein Bewusstsein fuumlr die traditionellenGrundlagen desWissens- und Lehrsystems seiner Zeit ImGegensatz zur Satire diediese Fragen kategorisch stellt handelt es sich in De nuptiis um ein Spiel damitDer Satirebezug dient als Anknuumlpfung an die traditionellen Gattungsmerkmaleder menippeischen Satire Karnevaleske und Dialogizitaumlt

Durch die (temporaumlre) Rolleninversion richtet sich das Augenmerk aufPhilologia als Wissenszentrum und Wissensmittlerin und fordert zum Nach-denken daruumlber heraus Im Kern hinterfragt das Werk alle Bereiche die mit Bil-dung und Bildungsvermittlung zu tun haben Was sind die Inhalte wahrer Bil-dung Gibt es eine Einheit von Bildung Wie kann sie vermittelt werden

Allerdings zielt die Kritik nicht auf eine Aufloumlsung klassischer Bildungsinhalteund Vermittlungsformen Sie regt vielmehr durch Scherz und Bruumlche zumNachdenken uumlber diese Fragen an Dabei verzichtet Martianus auf eigene Vor-schlaumlge und Konzepte und festigt so gleichsam den traditionellen Bildungs-betrieb Das von ihm dargestellte Wissen wird kanonisiert und die Darstel-lungsform in langen Reden wird es auch Die mittelalterliche Rezeption von Denuptiis zeigt dies eindrucksvoll

Wissen umfasst dabei nicht nur das Faktenwissen der Vortraumlge sondern auchdas Wissen um bestimmte literarische Formen Durch die Verbindung von vierGattungen und die Doppelung der Erzaumlhlerfigur mit Reflexion uumlber angemessenesErzaumlhlen entstehen Inkonsistenzen die die Konventionen der einzelnen Gattun-gen hervortreten lassen Nicht alle Elementewerden auf dieseWeise deutlich aberMartianus bietet einen Ansatzpunkt die Fiktion auch unter der Fragestellung zulesen was einen Text der jeweiligen Gattung ausmacht ndash sowohl positiv wie ne-gativ formuliert

Mit seiner kreativen Konzeption und ihrer literarischen Umsetzung gelingt esMartianus eindrucksvoll Heiteres und Belehrendes zu verbindenwomit er an dieTradition Varros und die klassische antike Poetik anknuumlpft Es gelingt ihm daruumlberhinaus aber auchWissen zu vermitteln und die traditionellen Vorstellungen vonder Bedeutung dieses Wissens wie der Form seiner Vermittlung herauszustellenSpielerisch wird also gelehrt und hinterfragt nicht jedoch kategorisch kritisiertoder kuumlhn neu entworfen Gerade dadurch zeichnet sich Martianusrsquo De nuptiis

3 Zusammenfassung 155

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

tatsaumlchlich als nescioquid inopinum intactumque (sbquoetwas Ungewohntes und nochnie Gewagteslsquo 1 2) aus und macht es zu einem der bedeutendsten Buumlcher derSpaumltantike und zu einer interessanten Quelle fuumlr die Frage nach Bildungsvor-stellungen im fuumlnften Jahrhundert

156 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Page 38: Bildungsvorstellungen im 5. Jahrhundert n. Chr. (Macrobius, Martianus Capella und Sidonius Apollinaris) || III Martianus Capella, De nuptiis Philologiae et Mercurii

bedeutende Lehrinstanz muss sich ihrerseits belehren lassen ndash mit dem Wissendas urspruumlnglich ihres war

Durch die Inversion wird die (vielleicht uumlblicherweise nicht prominente)Philologia in den Mittelpunkt geruumlckt und ihre zentrale Rolle im Wissenssystemtritt markant vor Augen Gleichzeitig kann darin eine leise Anfrage an ihre Lehr-autoritaumlt und eventuell auch ihre Eignung zur Lehre gesehen werden

Aufgrund des zeitlich begrenzten Rahmens der Verkehrung (diemit dem Endeder Vortraumlge voruumlber ist aber nicht explizit zuruumlckverwandelt wird) dessen Be-grenztheit durch Bezug auf die Form der menippeischen Satire ergaumlnzt werdenkann wird das System der Bildung und der Bildungsvermittlung jedoch nichtgrundsaumltzlich infrage gestellt Die Suspendierung Philologias ist temporaumlr

Dem Konzept der Dialogizitaumlt oder Mehrstimmigkeit folgend erklaumlrt sich auchdie Doppelung und Verunklarung der Erzaumlhlinstanz In den drei Dialogen indenen Satura und Martianus aufeinandertreffen behandeln sie die Frage desrichtigen Erzaumlhlens Dies beschraumlnkt sich nicht nur auf die Satire sondern umfasstalle auftretenden literarischen Formen Martianus und Satura sind sich uneinswie weit der Mythos reichen soll und ob eine Enzyklopaumldie trocken oder auchunterhaltsam erzaumlhlt werden soll (2 219ndash3 222) ob ein Symposion auch Zechenund Spaszlig vertraumlgt (8 803ndash810) oder ob und wie stark Satire Dinge vermischendarf (9 997ndash 1000)

Die unterschiedlichen Meinungen zu den Fragen werden zwar diskutiert undfuumlhren zu einem Ergebnis ndash der Erzaumlhlfluss versiegt ja an keiner Stelle oder setztneu an Allerdings entsteht in der Folge kein homogenes Werk und am Schlussmag keiner der beiden Erzaumlhler dafuumlr die Verantwortung uumlbernehmen Der Wi-derwillen sich zu dem Werk zu bekennen bedeutet aber gleichzeitig auch dassMartianus sich nicht festlegt welche Position er fuumlr die richtige haumllt Die Fragenach der rechten Art der Wissensvermittlung die auch in der Ent- und Inthroni-sierung Philologias anklang bleibt unbeantwortet

Schlieszliglich bringt der Blick auf die Aurelian-Vita aus der Historia Augustanoch einen weiteren Aspekt ein Parallel zur Aufteilung der Erzaumlhlinstanzen in Denuptiiswird der Erzaumlhlprozess in derHistoria Augusta aufmehrere AutorenverteiltWie zuerst Hermann Dessau und in der Folge Ronald Syme nachdruumlcklich gezeigthaben handelt es sich allerdings um nur einen Verfasser der uumlberdies auch inBezug auf die Abfassungszeit falsche Angaben gemacht hat und Quellen erfundenhatsup3⁶⁹ Insofern laumlsst sich der in der Historia Augusta gepraumlgte Begriff der

Auf den Charakter der Sammlung die Syme u a als bdquohoaxldquo bezeichnet (1983a 11 1983b13 1983c 219) die fingierten Autoren die manipulierten Quellen etc soll an dieser Stelle nurhingewiesen werden Vgl auch Cameron 2011 Kap 20 mit ausfuumlhrlicher Diskussion relevanterFragen

2 De nuptiis als literarisches Werk 151

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

mythistoria der Vermischung von Mythischem und Historischem auch auf dieSammlung selbst anwendensup3⁷⁰

Als Menippee im engeren Sinne laumlsst sich weiterhin die Aurelian-Vita die 26Vita der Sammlung fassen und bezeichnenderweise spielt die Rahmenhandlungan denHilariasup3⁷sup1Wie zu den Saturnalien gehoumlren zu diesem Fest Scherze und ndash imRahmen von Maskierungen ndash Rollenwechselsup3⁷sup2

Noch in der rahmenden Einleitung zur Vita spielt sich folgender Dialog ab

1 et quoniam sermo nobis de Trebltellgtio Pollione qui a duobus Philippis usque ad divumClaudium et eius fratrem Quintillum imperatores tam claros quam obscuros memoriaeprodidit in eodem vehiculo fuit adserente Tiberiano quod Pollio multa incuriose multabreviter prodidisset me contra dicente neminem scriptorum quantum ad historiam pertinetnon aliquid esse mentitum prodente quin etiam in quo Livius in quo Sallustius in quoCornelius Tacitus in quo denique Trogus manifestis testibus convincerentur pedibus insententiam transitum faciens ac manum porrigens iocando[m] praeterea sbquoscribelsquo inquit sbquout

quae ille [scil Iunius Cordus] omnia exsequendo libros mythistoriis replevit talia scribendocum omnino rerum vilium aut nulla scribenda sint aut nimis pauca si tamen ex his morespossint animadverti qui re vera sciendi sunt hellip sed ex parte ut ex ea cetera colligantur(SHA Opil 1 5)

Bei der Anfuumlhrung von all diesen Informationen hat er die Buumlcher mit fabuloumlsen Ge-schichten angefuumlllt indem er Dinge von dieser Art schrieb wo doch uumlberhaupt keinenutzlosen Dinge geschrieben werden duumlrfen oder nur sehr wenige sofern daraus Verhal-tensweisen erkannt werden koumlnnen die wirklich wissenswert sind hellip aber zum Teil(schreibe ich) damit daraus das Andere gefolgert werden kann

quid Marius Maximus homo omnium verbosissimus qui et mythist[h]oricis se voluminibusinplicavit num ad istam descriptionem curamque descendit (SHA Quadr tyr 1 2)

Wie Hat sich Marius Maximus der groumlszligte Schwaumltzer vor dem Herrn der sich in seinenmythistorischen Werken verfangen hat etwa zu dieser Art der Darstellung und des sorg-faumlltigen Arbeitens herabgelassen

Hilaribus quibus omnia festa et fieri debere scimus et dici impletis sollemnibus vehiculo suome hellip Iunius Tiberianus accepit (SHA Aurelian 1 1)

An den Hilaria an denen alles zum Fest Gehoumlrende getan und gesagt werden muss wieman weiszlig empfing mich nach Erledigung der Zeremonien Iunius Tiberianus in seinemGefaumlhrt

Pausch bemerkt dieses besondere Datum zwar und erwaumlgt ob es sich um ein bdquoweitergehendesLesesignalldquo beispielsweise im Sinne karnevalesker Literatur handeln koumlnne verfolgt diese Spuraber nicht weiter (Pausch 2011 130 Anm 1) Herodian 1 10 5 ndash Einige Hinweise auf die Hilaria die im Kontext des Magna Mater-Festesam 25 Maumlrz gefeiert wurden bietet Fraser in seinem Kommentar zu Ovids Fasti (Fraser 1929244ndash248)

152 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

libet 2 securus quod velis dices habiturus mendaciorum comites quos historicae elo-quentiae miramur auctoreslsquo (SHA Aurelian 2 1ndash2)

1 Und weil unser Gespraumlch uumlber Trebellius Pollio der von den beiden Philippi bis zumvergoumlttlichten Claudius und dessen Bruder Quintillus gleichermaszligen uumlber beruumlhmte wieunbekannte Kaiser fuumlr die Nachwelt schrieb in derselben Saumlnfte stattfand behauptete erdass Pollio vieles ohne Sorgfalt und nur kurz dargelegt habe Ich erwiderte dass keinSchriftsteller sofern es um die Geschichte gehe nicht irgendwo gelogen habe und legtesodann dar worin sogar Livius Sallust Tacitus schlieszliglich sogar Trogus mit eindeutigenBelegen uumlberfuumlhrt werden koumlnnten Darauf sagte Tiberianus schlieszliglich scherzend indem ermeiner Meinung beipflichtete und mir seine Hand darbot bdquoSchreibe sowie du es fuumlr richtighaumlltst 2 Sage unbesorgt was du willst du wirst diejenigen als Gefaumlhrten fuumlr deine Taumlu-schungen haben die wir als Schoumlpfer historiographischer Beredsamkeit bewundernldquo

So sympathisch dieser Anspruch auch erscheinen mag ist er doch fuumlr das Ver-trauen in die Gattung der Geschichtsschreibung fatal Gerade in der Einleitungeiner Vita jedoch ndash zumal es der Fiktion nach die erste des Flavius Vopiscus Sy-racusius im Corpus der Historia Augusta ist ndash kann eine solche Anekdote ei-gentlich keinen Platz haben Sie erweckt beim Leser den Eindruck dass er dennachfolgend dargebotenen Informationen kein Vertrauen schenken duumlrfesup3⁷sup3

Die Parallelen zwischen der Historia Augusta insbesondere dem Vorgehen inder Vita Aureliani und De nuptiis liegen auf der Hand Verunklarung der Autor-schaft bzw der Erzaumlhlhaltung einerseits Erwecken von Zweifeln an der Glaub-wuumlrdigkeit des Dargebotenen andererseits

In der Historia Augusta sind die Inkongruenzen mit der Freude des Autors amliterarischen Spiel erklaumlrt worden Der Autor habe aus Freude am Fabulieren(vielleicht auchumein dafuumlr empfaumlngliches Publikum zu befriedigen) die Viten indieser Form verfasstsup3⁷⁴ Mag man dies fuumlr die Historia Augusta noch zugestehenderen Text uumlber einen laumlngeren Zeitraum vielleicht zunaumlchst ohne eine Gesamt-konzeption entstanden ist und auch sprachlich nicht herausragt stellt sich derSachverhalt fuumlr Martianusrsquo De nuptiis anders dar Das Werk hat durchaus einenliterarischen Anspruch und es folgt eindeutig einer vorab geplanten Gesamtan-lage Die Freude am Spiel mag vielleicht manches Detail beigesteuert haben fuumlrdie verschraumlnkte Anlage des Textes ist sie aber keine Erklaumlrung

Ganz anders ist der Anspruch zum Ende der Darstellung der Viten der bdquoDreiszligig Tyrannenldquoin dem der Autor beteuert seinem Werk mangele es zwar an literarischer Ausgefeiltheit nichtjedoch an Faktentreue da nunc cuivis libellum non tam diserte quam fideliter scriptum ndash sbquoGibnun dieses Buumlchleinwem du magst es ist nicht so sehr kunstvoll geschrieben wie es sachgetreuistlsquo (SHA Quadr tyr 33 8) Syme nennt dies bdquodeceit for its own sweet sakeldquo (1983c 217) Im gleichen Aufsatz spe-kuliert er auch uumlber das Interesse des Publikums an einer solchen Art von geistigem Spiel(ibid 221)

2 De nuptiis als literarisches Werk 153

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Es lohnt sich jedoch auch fuumlr die Historia Augusta einen Schritt weiter zugehen Ausgangspunkt dafuumlr ist die obige Beobachtungdass das literarische Spielder Historia Augusta nur durchschaut wer die Werke der historischen Literaturkennt Durch die Lektuumlre historiographischer Biographien bringt der Leser einebestimmte Leseerwartung also implizite Vorstellungen mit wie das Werk aus-sehen soll und wird Diese Erwartungen werden aber nicht oder nur teilweisebedient Formal gesehen weisen die Viten in der Historia Augusta zwar die Cha-rakteristika der Gattung auf ndash doch indem sie sie inhaltlich nicht adaumlquat aus-fuumlllen treten deren Konventionen vor Augen

Durch die uumlbermaumlszligige Verwendung falscher Verweise und erfundener Quel-len geraumlt zudem das Beglaubigungsverfahren historischer Texte in den Blick-punkt Der Leser erkennt anwelchen Stellenwelche Beglaubigungsmechanismenansetzen und auf welche Weise sie unterlaufen werden koumlnnen Uumlberspitzt lieszligesich behaupten DieHistoria Augusta verfolgt ein aufklaumlrerisches Interesse indemsie (spielerisch) aufzeigt welche Beglaubigungsverfahren die Geschichtsschrei-bung nutzt und wie sie manipuliert werden koumlnnen dadurch wird auch die Ma-nipulierbarkeit von Geschichte und Leser deutlich

In De nuptiis werden ebenfalls die Konventionen der Einzelgattungen ndash zu-mindest ansatzweise ndash hervorgehoben Dass kein perfektes Musterbeispiel derjeweiligen Einzelgattung entstehen kann liegt darin begruumlndet dass durch dieVerbindung der vier literarischen Genres keine oberflaumlchliche Konsistenz derFiktion entstehen kannVielmehr entstehen Bruumlche die ndash ebenso wie die Bruumlchein der Erzaumlhlhaltung ndash auch die Gattungskonventionen und ihre Annahmendeutlich werden lassen Dies gilt besonders fuumlr die Satire deren Vorgehen imKontrast zur eigentlichen Hochzeitshandlung aus dem Rahmen faumlllt und somitbesonderes Augenmerk erhaumllt Hinzu tritt mit der Figur Satura auch eine Perso-nifikation der Gattung die in theoretischen Diskussionen Annahmen und Vor-gehen mit Martianus eroumlrtert Grunduumlberlegungen der Gattung Satire werden sotheoretisch eroumlrtert und praktisch erprobt Gleiches giltwenn auch zT inwenigerdeutlicher Form auch fuumlr die anderen Formen Die Enzyklopaumldie in ihren langenMonologen wird durch Spott markiert die trockenen Kuumlnste werden probeweisedurch Allegorien zugaumlnglicher gemacht im Symposiondialog wird uumlberlegt in-wieweit uumlbliche Rollenmuster (der Zecher) einen Platz haben oder wie weit mandie fuumlr die Feier typischen Reden fuumlhren kann und immythischen Teil wird durchdie Gegenuumlberstellung mit dem handfesten Wissensbetrieb die Andersartigkeitdes Erzaumlhlens deutlich

So werden neben den Inhalten der Wissenschaften auch verschiedene lite-rarische Formen bewahrt Neben der reinen Anwendung und somit Tradierungwerden gleichzeitig auch die Mechanismen verdeutlicht deren sich die jeweilige

154 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Gattung bedient Somit wird ihr Funktionieren nachvollziehbar und in der Folgeauch nachahmbar

3 Zusammenfassung

Martianus weckt also durch die Wahl mehrerer gleichberechtigter Erzaumlhler diesomit das Erzaumlhlen unzuverlaumlssig werden lassen besonders aber durch dieUumlbernahme satirischer Gattungselemente ein Bewusstsein fuumlr die traditionellenGrundlagen desWissens- und Lehrsystems seiner Zeit ImGegensatz zur Satire diediese Fragen kategorisch stellt handelt es sich in De nuptiis um ein Spiel damitDer Satirebezug dient als Anknuumlpfung an die traditionellen Gattungsmerkmaleder menippeischen Satire Karnevaleske und Dialogizitaumlt

Durch die (temporaumlre) Rolleninversion richtet sich das Augenmerk aufPhilologia als Wissenszentrum und Wissensmittlerin und fordert zum Nach-denken daruumlber heraus Im Kern hinterfragt das Werk alle Bereiche die mit Bil-dung und Bildungsvermittlung zu tun haben Was sind die Inhalte wahrer Bil-dung Gibt es eine Einheit von Bildung Wie kann sie vermittelt werden

Allerdings zielt die Kritik nicht auf eine Aufloumlsung klassischer Bildungsinhalteund Vermittlungsformen Sie regt vielmehr durch Scherz und Bruumlche zumNachdenken uumlber diese Fragen an Dabei verzichtet Martianus auf eigene Vor-schlaumlge und Konzepte und festigt so gleichsam den traditionellen Bildungs-betrieb Das von ihm dargestellte Wissen wird kanonisiert und die Darstel-lungsform in langen Reden wird es auch Die mittelalterliche Rezeption von Denuptiis zeigt dies eindrucksvoll

Wissen umfasst dabei nicht nur das Faktenwissen der Vortraumlge sondern auchdas Wissen um bestimmte literarische Formen Durch die Verbindung von vierGattungen und die Doppelung der Erzaumlhlerfigur mit Reflexion uumlber angemessenesErzaumlhlen entstehen Inkonsistenzen die die Konventionen der einzelnen Gattun-gen hervortreten lassen Nicht alle Elementewerden auf dieseWeise deutlich aberMartianus bietet einen Ansatzpunkt die Fiktion auch unter der Fragestellung zulesen was einen Text der jeweiligen Gattung ausmacht ndash sowohl positiv wie ne-gativ formuliert

Mit seiner kreativen Konzeption und ihrer literarischen Umsetzung gelingt esMartianus eindrucksvoll Heiteres und Belehrendes zu verbindenwomit er an dieTradition Varros und die klassische antike Poetik anknuumlpft Es gelingt ihm daruumlberhinaus aber auchWissen zu vermitteln und die traditionellen Vorstellungen vonder Bedeutung dieses Wissens wie der Form seiner Vermittlung herauszustellenSpielerisch wird also gelehrt und hinterfragt nicht jedoch kategorisch kritisiertoder kuumlhn neu entworfen Gerade dadurch zeichnet sich Martianusrsquo De nuptiis

3 Zusammenfassung 155

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

tatsaumlchlich als nescioquid inopinum intactumque (sbquoetwas Ungewohntes und nochnie Gewagteslsquo 1 2) aus und macht es zu einem der bedeutendsten Buumlcher derSpaumltantike und zu einer interessanten Quelle fuumlr die Frage nach Bildungsvor-stellungen im fuumlnften Jahrhundert

156 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Page 39: Bildungsvorstellungen im 5. Jahrhundert n. Chr. (Macrobius, Martianus Capella und Sidonius Apollinaris) || III Martianus Capella, De nuptiis Philologiae et Mercurii

mythistoria der Vermischung von Mythischem und Historischem auch auf dieSammlung selbst anwendensup3⁷⁰

Als Menippee im engeren Sinne laumlsst sich weiterhin die Aurelian-Vita die 26Vita der Sammlung fassen und bezeichnenderweise spielt die Rahmenhandlungan denHilariasup3⁷sup1Wie zu den Saturnalien gehoumlren zu diesem Fest Scherze und ndash imRahmen von Maskierungen ndash Rollenwechselsup3⁷sup2

Noch in der rahmenden Einleitung zur Vita spielt sich folgender Dialog ab

1 et quoniam sermo nobis de Trebltellgtio Pollione qui a duobus Philippis usque ad divumClaudium et eius fratrem Quintillum imperatores tam claros quam obscuros memoriaeprodidit in eodem vehiculo fuit adserente Tiberiano quod Pollio multa incuriose multabreviter prodidisset me contra dicente neminem scriptorum quantum ad historiam pertinetnon aliquid esse mentitum prodente quin etiam in quo Livius in quo Sallustius in quoCornelius Tacitus in quo denique Trogus manifestis testibus convincerentur pedibus insententiam transitum faciens ac manum porrigens iocando[m] praeterea sbquoscribelsquo inquit sbquout

quae ille [scil Iunius Cordus] omnia exsequendo libros mythistoriis replevit talia scribendocum omnino rerum vilium aut nulla scribenda sint aut nimis pauca si tamen ex his morespossint animadverti qui re vera sciendi sunt hellip sed ex parte ut ex ea cetera colligantur(SHA Opil 1 5)

Bei der Anfuumlhrung von all diesen Informationen hat er die Buumlcher mit fabuloumlsen Ge-schichten angefuumlllt indem er Dinge von dieser Art schrieb wo doch uumlberhaupt keinenutzlosen Dinge geschrieben werden duumlrfen oder nur sehr wenige sofern daraus Verhal-tensweisen erkannt werden koumlnnen die wirklich wissenswert sind hellip aber zum Teil(schreibe ich) damit daraus das Andere gefolgert werden kann

quid Marius Maximus homo omnium verbosissimus qui et mythist[h]oricis se voluminibusinplicavit num ad istam descriptionem curamque descendit (SHA Quadr tyr 1 2)

Wie Hat sich Marius Maximus der groumlszligte Schwaumltzer vor dem Herrn der sich in seinenmythistorischen Werken verfangen hat etwa zu dieser Art der Darstellung und des sorg-faumlltigen Arbeitens herabgelassen

Hilaribus quibus omnia festa et fieri debere scimus et dici impletis sollemnibus vehiculo suome hellip Iunius Tiberianus accepit (SHA Aurelian 1 1)

An den Hilaria an denen alles zum Fest Gehoumlrende getan und gesagt werden muss wieman weiszlig empfing mich nach Erledigung der Zeremonien Iunius Tiberianus in seinemGefaumlhrt

Pausch bemerkt dieses besondere Datum zwar und erwaumlgt ob es sich um ein bdquoweitergehendesLesesignalldquo beispielsweise im Sinne karnevalesker Literatur handeln koumlnne verfolgt diese Spuraber nicht weiter (Pausch 2011 130 Anm 1) Herodian 1 10 5 ndash Einige Hinweise auf die Hilaria die im Kontext des Magna Mater-Festesam 25 Maumlrz gefeiert wurden bietet Fraser in seinem Kommentar zu Ovids Fasti (Fraser 1929244ndash248)

152 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

libet 2 securus quod velis dices habiturus mendaciorum comites quos historicae elo-quentiae miramur auctoreslsquo (SHA Aurelian 2 1ndash2)

1 Und weil unser Gespraumlch uumlber Trebellius Pollio der von den beiden Philippi bis zumvergoumlttlichten Claudius und dessen Bruder Quintillus gleichermaszligen uumlber beruumlhmte wieunbekannte Kaiser fuumlr die Nachwelt schrieb in derselben Saumlnfte stattfand behauptete erdass Pollio vieles ohne Sorgfalt und nur kurz dargelegt habe Ich erwiderte dass keinSchriftsteller sofern es um die Geschichte gehe nicht irgendwo gelogen habe und legtesodann dar worin sogar Livius Sallust Tacitus schlieszliglich sogar Trogus mit eindeutigenBelegen uumlberfuumlhrt werden koumlnnten Darauf sagte Tiberianus schlieszliglich scherzend indem ermeiner Meinung beipflichtete und mir seine Hand darbot bdquoSchreibe sowie du es fuumlr richtighaumlltst 2 Sage unbesorgt was du willst du wirst diejenigen als Gefaumlhrten fuumlr deine Taumlu-schungen haben die wir als Schoumlpfer historiographischer Beredsamkeit bewundernldquo

So sympathisch dieser Anspruch auch erscheinen mag ist er doch fuumlr das Ver-trauen in die Gattung der Geschichtsschreibung fatal Gerade in der Einleitungeiner Vita jedoch ndash zumal es der Fiktion nach die erste des Flavius Vopiscus Sy-racusius im Corpus der Historia Augusta ist ndash kann eine solche Anekdote ei-gentlich keinen Platz haben Sie erweckt beim Leser den Eindruck dass er dennachfolgend dargebotenen Informationen kein Vertrauen schenken duumlrfesup3⁷sup3

Die Parallelen zwischen der Historia Augusta insbesondere dem Vorgehen inder Vita Aureliani und De nuptiis liegen auf der Hand Verunklarung der Autor-schaft bzw der Erzaumlhlhaltung einerseits Erwecken von Zweifeln an der Glaub-wuumlrdigkeit des Dargebotenen andererseits

In der Historia Augusta sind die Inkongruenzen mit der Freude des Autors amliterarischen Spiel erklaumlrt worden Der Autor habe aus Freude am Fabulieren(vielleicht auchumein dafuumlr empfaumlngliches Publikum zu befriedigen) die Viten indieser Form verfasstsup3⁷⁴ Mag man dies fuumlr die Historia Augusta noch zugestehenderen Text uumlber einen laumlngeren Zeitraum vielleicht zunaumlchst ohne eine Gesamt-konzeption entstanden ist und auch sprachlich nicht herausragt stellt sich derSachverhalt fuumlr Martianusrsquo De nuptiis anders dar Das Werk hat durchaus einenliterarischen Anspruch und es folgt eindeutig einer vorab geplanten Gesamtan-lage Die Freude am Spiel mag vielleicht manches Detail beigesteuert haben fuumlrdie verschraumlnkte Anlage des Textes ist sie aber keine Erklaumlrung

Ganz anders ist der Anspruch zum Ende der Darstellung der Viten der bdquoDreiszligig Tyrannenldquoin dem der Autor beteuert seinem Werk mangele es zwar an literarischer Ausgefeiltheit nichtjedoch an Faktentreue da nunc cuivis libellum non tam diserte quam fideliter scriptum ndash sbquoGibnun dieses Buumlchleinwem du magst es ist nicht so sehr kunstvoll geschrieben wie es sachgetreuistlsquo (SHA Quadr tyr 33 8) Syme nennt dies bdquodeceit for its own sweet sakeldquo (1983c 217) Im gleichen Aufsatz spe-kuliert er auch uumlber das Interesse des Publikums an einer solchen Art von geistigem Spiel(ibid 221)

2 De nuptiis als literarisches Werk 153

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Es lohnt sich jedoch auch fuumlr die Historia Augusta einen Schritt weiter zugehen Ausgangspunkt dafuumlr ist die obige Beobachtungdass das literarische Spielder Historia Augusta nur durchschaut wer die Werke der historischen Literaturkennt Durch die Lektuumlre historiographischer Biographien bringt der Leser einebestimmte Leseerwartung also implizite Vorstellungen mit wie das Werk aus-sehen soll und wird Diese Erwartungen werden aber nicht oder nur teilweisebedient Formal gesehen weisen die Viten in der Historia Augusta zwar die Cha-rakteristika der Gattung auf ndash doch indem sie sie inhaltlich nicht adaumlquat aus-fuumlllen treten deren Konventionen vor Augen

Durch die uumlbermaumlszligige Verwendung falscher Verweise und erfundener Quel-len geraumlt zudem das Beglaubigungsverfahren historischer Texte in den Blick-punkt Der Leser erkennt anwelchen Stellenwelche Beglaubigungsmechanismenansetzen und auf welche Weise sie unterlaufen werden koumlnnen Uumlberspitzt lieszligesich behaupten DieHistoria Augusta verfolgt ein aufklaumlrerisches Interesse indemsie (spielerisch) aufzeigt welche Beglaubigungsverfahren die Geschichtsschrei-bung nutzt und wie sie manipuliert werden koumlnnen dadurch wird auch die Ma-nipulierbarkeit von Geschichte und Leser deutlich

In De nuptiis werden ebenfalls die Konventionen der Einzelgattungen ndash zu-mindest ansatzweise ndash hervorgehoben Dass kein perfektes Musterbeispiel derjeweiligen Einzelgattung entstehen kann liegt darin begruumlndet dass durch dieVerbindung der vier literarischen Genres keine oberflaumlchliche Konsistenz derFiktion entstehen kannVielmehr entstehen Bruumlche die ndash ebenso wie die Bruumlchein der Erzaumlhlhaltung ndash auch die Gattungskonventionen und ihre Annahmendeutlich werden lassen Dies gilt besonders fuumlr die Satire deren Vorgehen imKontrast zur eigentlichen Hochzeitshandlung aus dem Rahmen faumlllt und somitbesonderes Augenmerk erhaumllt Hinzu tritt mit der Figur Satura auch eine Perso-nifikation der Gattung die in theoretischen Diskussionen Annahmen und Vor-gehen mit Martianus eroumlrtert Grunduumlberlegungen der Gattung Satire werden sotheoretisch eroumlrtert und praktisch erprobt Gleiches giltwenn auch zT inwenigerdeutlicher Form auch fuumlr die anderen Formen Die Enzyklopaumldie in ihren langenMonologen wird durch Spott markiert die trockenen Kuumlnste werden probeweisedurch Allegorien zugaumlnglicher gemacht im Symposiondialog wird uumlberlegt in-wieweit uumlbliche Rollenmuster (der Zecher) einen Platz haben oder wie weit mandie fuumlr die Feier typischen Reden fuumlhren kann und immythischen Teil wird durchdie Gegenuumlberstellung mit dem handfesten Wissensbetrieb die Andersartigkeitdes Erzaumlhlens deutlich

So werden neben den Inhalten der Wissenschaften auch verschiedene lite-rarische Formen bewahrt Neben der reinen Anwendung und somit Tradierungwerden gleichzeitig auch die Mechanismen verdeutlicht deren sich die jeweilige

154 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Gattung bedient Somit wird ihr Funktionieren nachvollziehbar und in der Folgeauch nachahmbar

3 Zusammenfassung

Martianus weckt also durch die Wahl mehrerer gleichberechtigter Erzaumlhler diesomit das Erzaumlhlen unzuverlaumlssig werden lassen besonders aber durch dieUumlbernahme satirischer Gattungselemente ein Bewusstsein fuumlr die traditionellenGrundlagen desWissens- und Lehrsystems seiner Zeit ImGegensatz zur Satire diediese Fragen kategorisch stellt handelt es sich in De nuptiis um ein Spiel damitDer Satirebezug dient als Anknuumlpfung an die traditionellen Gattungsmerkmaleder menippeischen Satire Karnevaleske und Dialogizitaumlt

Durch die (temporaumlre) Rolleninversion richtet sich das Augenmerk aufPhilologia als Wissenszentrum und Wissensmittlerin und fordert zum Nach-denken daruumlber heraus Im Kern hinterfragt das Werk alle Bereiche die mit Bil-dung und Bildungsvermittlung zu tun haben Was sind die Inhalte wahrer Bil-dung Gibt es eine Einheit von Bildung Wie kann sie vermittelt werden

Allerdings zielt die Kritik nicht auf eine Aufloumlsung klassischer Bildungsinhalteund Vermittlungsformen Sie regt vielmehr durch Scherz und Bruumlche zumNachdenken uumlber diese Fragen an Dabei verzichtet Martianus auf eigene Vor-schlaumlge und Konzepte und festigt so gleichsam den traditionellen Bildungs-betrieb Das von ihm dargestellte Wissen wird kanonisiert und die Darstel-lungsform in langen Reden wird es auch Die mittelalterliche Rezeption von Denuptiis zeigt dies eindrucksvoll

Wissen umfasst dabei nicht nur das Faktenwissen der Vortraumlge sondern auchdas Wissen um bestimmte literarische Formen Durch die Verbindung von vierGattungen und die Doppelung der Erzaumlhlerfigur mit Reflexion uumlber angemessenesErzaumlhlen entstehen Inkonsistenzen die die Konventionen der einzelnen Gattun-gen hervortreten lassen Nicht alle Elementewerden auf dieseWeise deutlich aberMartianus bietet einen Ansatzpunkt die Fiktion auch unter der Fragestellung zulesen was einen Text der jeweiligen Gattung ausmacht ndash sowohl positiv wie ne-gativ formuliert

Mit seiner kreativen Konzeption und ihrer literarischen Umsetzung gelingt esMartianus eindrucksvoll Heiteres und Belehrendes zu verbindenwomit er an dieTradition Varros und die klassische antike Poetik anknuumlpft Es gelingt ihm daruumlberhinaus aber auchWissen zu vermitteln und die traditionellen Vorstellungen vonder Bedeutung dieses Wissens wie der Form seiner Vermittlung herauszustellenSpielerisch wird also gelehrt und hinterfragt nicht jedoch kategorisch kritisiertoder kuumlhn neu entworfen Gerade dadurch zeichnet sich Martianusrsquo De nuptiis

3 Zusammenfassung 155

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

tatsaumlchlich als nescioquid inopinum intactumque (sbquoetwas Ungewohntes und nochnie Gewagteslsquo 1 2) aus und macht es zu einem der bedeutendsten Buumlcher derSpaumltantike und zu einer interessanten Quelle fuumlr die Frage nach Bildungsvor-stellungen im fuumlnften Jahrhundert

156 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Page 40: Bildungsvorstellungen im 5. Jahrhundert n. Chr. (Macrobius, Martianus Capella und Sidonius Apollinaris) || III Martianus Capella, De nuptiis Philologiae et Mercurii

libet 2 securus quod velis dices habiturus mendaciorum comites quos historicae elo-quentiae miramur auctoreslsquo (SHA Aurelian 2 1ndash2)

1 Und weil unser Gespraumlch uumlber Trebellius Pollio der von den beiden Philippi bis zumvergoumlttlichten Claudius und dessen Bruder Quintillus gleichermaszligen uumlber beruumlhmte wieunbekannte Kaiser fuumlr die Nachwelt schrieb in derselben Saumlnfte stattfand behauptete erdass Pollio vieles ohne Sorgfalt und nur kurz dargelegt habe Ich erwiderte dass keinSchriftsteller sofern es um die Geschichte gehe nicht irgendwo gelogen habe und legtesodann dar worin sogar Livius Sallust Tacitus schlieszliglich sogar Trogus mit eindeutigenBelegen uumlberfuumlhrt werden koumlnnten Darauf sagte Tiberianus schlieszliglich scherzend indem ermeiner Meinung beipflichtete und mir seine Hand darbot bdquoSchreibe sowie du es fuumlr richtighaumlltst 2 Sage unbesorgt was du willst du wirst diejenigen als Gefaumlhrten fuumlr deine Taumlu-schungen haben die wir als Schoumlpfer historiographischer Beredsamkeit bewundernldquo

So sympathisch dieser Anspruch auch erscheinen mag ist er doch fuumlr das Ver-trauen in die Gattung der Geschichtsschreibung fatal Gerade in der Einleitungeiner Vita jedoch ndash zumal es der Fiktion nach die erste des Flavius Vopiscus Sy-racusius im Corpus der Historia Augusta ist ndash kann eine solche Anekdote ei-gentlich keinen Platz haben Sie erweckt beim Leser den Eindruck dass er dennachfolgend dargebotenen Informationen kein Vertrauen schenken duumlrfesup3⁷sup3

Die Parallelen zwischen der Historia Augusta insbesondere dem Vorgehen inder Vita Aureliani und De nuptiis liegen auf der Hand Verunklarung der Autor-schaft bzw der Erzaumlhlhaltung einerseits Erwecken von Zweifeln an der Glaub-wuumlrdigkeit des Dargebotenen andererseits

In der Historia Augusta sind die Inkongruenzen mit der Freude des Autors amliterarischen Spiel erklaumlrt worden Der Autor habe aus Freude am Fabulieren(vielleicht auchumein dafuumlr empfaumlngliches Publikum zu befriedigen) die Viten indieser Form verfasstsup3⁷⁴ Mag man dies fuumlr die Historia Augusta noch zugestehenderen Text uumlber einen laumlngeren Zeitraum vielleicht zunaumlchst ohne eine Gesamt-konzeption entstanden ist und auch sprachlich nicht herausragt stellt sich derSachverhalt fuumlr Martianusrsquo De nuptiis anders dar Das Werk hat durchaus einenliterarischen Anspruch und es folgt eindeutig einer vorab geplanten Gesamtan-lage Die Freude am Spiel mag vielleicht manches Detail beigesteuert haben fuumlrdie verschraumlnkte Anlage des Textes ist sie aber keine Erklaumlrung

Ganz anders ist der Anspruch zum Ende der Darstellung der Viten der bdquoDreiszligig Tyrannenldquoin dem der Autor beteuert seinem Werk mangele es zwar an literarischer Ausgefeiltheit nichtjedoch an Faktentreue da nunc cuivis libellum non tam diserte quam fideliter scriptum ndash sbquoGibnun dieses Buumlchleinwem du magst es ist nicht so sehr kunstvoll geschrieben wie es sachgetreuistlsquo (SHA Quadr tyr 33 8) Syme nennt dies bdquodeceit for its own sweet sakeldquo (1983c 217) Im gleichen Aufsatz spe-kuliert er auch uumlber das Interesse des Publikums an einer solchen Art von geistigem Spiel(ibid 221)

2 De nuptiis als literarisches Werk 153

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Es lohnt sich jedoch auch fuumlr die Historia Augusta einen Schritt weiter zugehen Ausgangspunkt dafuumlr ist die obige Beobachtungdass das literarische Spielder Historia Augusta nur durchschaut wer die Werke der historischen Literaturkennt Durch die Lektuumlre historiographischer Biographien bringt der Leser einebestimmte Leseerwartung also implizite Vorstellungen mit wie das Werk aus-sehen soll und wird Diese Erwartungen werden aber nicht oder nur teilweisebedient Formal gesehen weisen die Viten in der Historia Augusta zwar die Cha-rakteristika der Gattung auf ndash doch indem sie sie inhaltlich nicht adaumlquat aus-fuumlllen treten deren Konventionen vor Augen

Durch die uumlbermaumlszligige Verwendung falscher Verweise und erfundener Quel-len geraumlt zudem das Beglaubigungsverfahren historischer Texte in den Blick-punkt Der Leser erkennt anwelchen Stellenwelche Beglaubigungsmechanismenansetzen und auf welche Weise sie unterlaufen werden koumlnnen Uumlberspitzt lieszligesich behaupten DieHistoria Augusta verfolgt ein aufklaumlrerisches Interesse indemsie (spielerisch) aufzeigt welche Beglaubigungsverfahren die Geschichtsschrei-bung nutzt und wie sie manipuliert werden koumlnnen dadurch wird auch die Ma-nipulierbarkeit von Geschichte und Leser deutlich

In De nuptiis werden ebenfalls die Konventionen der Einzelgattungen ndash zu-mindest ansatzweise ndash hervorgehoben Dass kein perfektes Musterbeispiel derjeweiligen Einzelgattung entstehen kann liegt darin begruumlndet dass durch dieVerbindung der vier literarischen Genres keine oberflaumlchliche Konsistenz derFiktion entstehen kannVielmehr entstehen Bruumlche die ndash ebenso wie die Bruumlchein der Erzaumlhlhaltung ndash auch die Gattungskonventionen und ihre Annahmendeutlich werden lassen Dies gilt besonders fuumlr die Satire deren Vorgehen imKontrast zur eigentlichen Hochzeitshandlung aus dem Rahmen faumlllt und somitbesonderes Augenmerk erhaumllt Hinzu tritt mit der Figur Satura auch eine Perso-nifikation der Gattung die in theoretischen Diskussionen Annahmen und Vor-gehen mit Martianus eroumlrtert Grunduumlberlegungen der Gattung Satire werden sotheoretisch eroumlrtert und praktisch erprobt Gleiches giltwenn auch zT inwenigerdeutlicher Form auch fuumlr die anderen Formen Die Enzyklopaumldie in ihren langenMonologen wird durch Spott markiert die trockenen Kuumlnste werden probeweisedurch Allegorien zugaumlnglicher gemacht im Symposiondialog wird uumlberlegt in-wieweit uumlbliche Rollenmuster (der Zecher) einen Platz haben oder wie weit mandie fuumlr die Feier typischen Reden fuumlhren kann und immythischen Teil wird durchdie Gegenuumlberstellung mit dem handfesten Wissensbetrieb die Andersartigkeitdes Erzaumlhlens deutlich

So werden neben den Inhalten der Wissenschaften auch verschiedene lite-rarische Formen bewahrt Neben der reinen Anwendung und somit Tradierungwerden gleichzeitig auch die Mechanismen verdeutlicht deren sich die jeweilige

154 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Gattung bedient Somit wird ihr Funktionieren nachvollziehbar und in der Folgeauch nachahmbar

3 Zusammenfassung

Martianus weckt also durch die Wahl mehrerer gleichberechtigter Erzaumlhler diesomit das Erzaumlhlen unzuverlaumlssig werden lassen besonders aber durch dieUumlbernahme satirischer Gattungselemente ein Bewusstsein fuumlr die traditionellenGrundlagen desWissens- und Lehrsystems seiner Zeit ImGegensatz zur Satire diediese Fragen kategorisch stellt handelt es sich in De nuptiis um ein Spiel damitDer Satirebezug dient als Anknuumlpfung an die traditionellen Gattungsmerkmaleder menippeischen Satire Karnevaleske und Dialogizitaumlt

Durch die (temporaumlre) Rolleninversion richtet sich das Augenmerk aufPhilologia als Wissenszentrum und Wissensmittlerin und fordert zum Nach-denken daruumlber heraus Im Kern hinterfragt das Werk alle Bereiche die mit Bil-dung und Bildungsvermittlung zu tun haben Was sind die Inhalte wahrer Bil-dung Gibt es eine Einheit von Bildung Wie kann sie vermittelt werden

Allerdings zielt die Kritik nicht auf eine Aufloumlsung klassischer Bildungsinhalteund Vermittlungsformen Sie regt vielmehr durch Scherz und Bruumlche zumNachdenken uumlber diese Fragen an Dabei verzichtet Martianus auf eigene Vor-schlaumlge und Konzepte und festigt so gleichsam den traditionellen Bildungs-betrieb Das von ihm dargestellte Wissen wird kanonisiert und die Darstel-lungsform in langen Reden wird es auch Die mittelalterliche Rezeption von Denuptiis zeigt dies eindrucksvoll

Wissen umfasst dabei nicht nur das Faktenwissen der Vortraumlge sondern auchdas Wissen um bestimmte literarische Formen Durch die Verbindung von vierGattungen und die Doppelung der Erzaumlhlerfigur mit Reflexion uumlber angemessenesErzaumlhlen entstehen Inkonsistenzen die die Konventionen der einzelnen Gattun-gen hervortreten lassen Nicht alle Elementewerden auf dieseWeise deutlich aberMartianus bietet einen Ansatzpunkt die Fiktion auch unter der Fragestellung zulesen was einen Text der jeweiligen Gattung ausmacht ndash sowohl positiv wie ne-gativ formuliert

Mit seiner kreativen Konzeption und ihrer literarischen Umsetzung gelingt esMartianus eindrucksvoll Heiteres und Belehrendes zu verbindenwomit er an dieTradition Varros und die klassische antike Poetik anknuumlpft Es gelingt ihm daruumlberhinaus aber auchWissen zu vermitteln und die traditionellen Vorstellungen vonder Bedeutung dieses Wissens wie der Form seiner Vermittlung herauszustellenSpielerisch wird also gelehrt und hinterfragt nicht jedoch kategorisch kritisiertoder kuumlhn neu entworfen Gerade dadurch zeichnet sich Martianusrsquo De nuptiis

3 Zusammenfassung 155

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

tatsaumlchlich als nescioquid inopinum intactumque (sbquoetwas Ungewohntes und nochnie Gewagteslsquo 1 2) aus und macht es zu einem der bedeutendsten Buumlcher derSpaumltantike und zu einer interessanten Quelle fuumlr die Frage nach Bildungsvor-stellungen im fuumlnften Jahrhundert

156 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Page 41: Bildungsvorstellungen im 5. Jahrhundert n. Chr. (Macrobius, Martianus Capella und Sidonius Apollinaris) || III Martianus Capella, De nuptiis Philologiae et Mercurii

Es lohnt sich jedoch auch fuumlr die Historia Augusta einen Schritt weiter zugehen Ausgangspunkt dafuumlr ist die obige Beobachtungdass das literarische Spielder Historia Augusta nur durchschaut wer die Werke der historischen Literaturkennt Durch die Lektuumlre historiographischer Biographien bringt der Leser einebestimmte Leseerwartung also implizite Vorstellungen mit wie das Werk aus-sehen soll und wird Diese Erwartungen werden aber nicht oder nur teilweisebedient Formal gesehen weisen die Viten in der Historia Augusta zwar die Cha-rakteristika der Gattung auf ndash doch indem sie sie inhaltlich nicht adaumlquat aus-fuumlllen treten deren Konventionen vor Augen

Durch die uumlbermaumlszligige Verwendung falscher Verweise und erfundener Quel-len geraumlt zudem das Beglaubigungsverfahren historischer Texte in den Blick-punkt Der Leser erkennt anwelchen Stellenwelche Beglaubigungsmechanismenansetzen und auf welche Weise sie unterlaufen werden koumlnnen Uumlberspitzt lieszligesich behaupten DieHistoria Augusta verfolgt ein aufklaumlrerisches Interesse indemsie (spielerisch) aufzeigt welche Beglaubigungsverfahren die Geschichtsschrei-bung nutzt und wie sie manipuliert werden koumlnnen dadurch wird auch die Ma-nipulierbarkeit von Geschichte und Leser deutlich

In De nuptiis werden ebenfalls die Konventionen der Einzelgattungen ndash zu-mindest ansatzweise ndash hervorgehoben Dass kein perfektes Musterbeispiel derjeweiligen Einzelgattung entstehen kann liegt darin begruumlndet dass durch dieVerbindung der vier literarischen Genres keine oberflaumlchliche Konsistenz derFiktion entstehen kannVielmehr entstehen Bruumlche die ndash ebenso wie die Bruumlchein der Erzaumlhlhaltung ndash auch die Gattungskonventionen und ihre Annahmendeutlich werden lassen Dies gilt besonders fuumlr die Satire deren Vorgehen imKontrast zur eigentlichen Hochzeitshandlung aus dem Rahmen faumlllt und somitbesonderes Augenmerk erhaumllt Hinzu tritt mit der Figur Satura auch eine Perso-nifikation der Gattung die in theoretischen Diskussionen Annahmen und Vor-gehen mit Martianus eroumlrtert Grunduumlberlegungen der Gattung Satire werden sotheoretisch eroumlrtert und praktisch erprobt Gleiches giltwenn auch zT inwenigerdeutlicher Form auch fuumlr die anderen Formen Die Enzyklopaumldie in ihren langenMonologen wird durch Spott markiert die trockenen Kuumlnste werden probeweisedurch Allegorien zugaumlnglicher gemacht im Symposiondialog wird uumlberlegt in-wieweit uumlbliche Rollenmuster (der Zecher) einen Platz haben oder wie weit mandie fuumlr die Feier typischen Reden fuumlhren kann und immythischen Teil wird durchdie Gegenuumlberstellung mit dem handfesten Wissensbetrieb die Andersartigkeitdes Erzaumlhlens deutlich

So werden neben den Inhalten der Wissenschaften auch verschiedene lite-rarische Formen bewahrt Neben der reinen Anwendung und somit Tradierungwerden gleichzeitig auch die Mechanismen verdeutlicht deren sich die jeweilige

154 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Gattung bedient Somit wird ihr Funktionieren nachvollziehbar und in der Folgeauch nachahmbar

3 Zusammenfassung

Martianus weckt also durch die Wahl mehrerer gleichberechtigter Erzaumlhler diesomit das Erzaumlhlen unzuverlaumlssig werden lassen besonders aber durch dieUumlbernahme satirischer Gattungselemente ein Bewusstsein fuumlr die traditionellenGrundlagen desWissens- und Lehrsystems seiner Zeit ImGegensatz zur Satire diediese Fragen kategorisch stellt handelt es sich in De nuptiis um ein Spiel damitDer Satirebezug dient als Anknuumlpfung an die traditionellen Gattungsmerkmaleder menippeischen Satire Karnevaleske und Dialogizitaumlt

Durch die (temporaumlre) Rolleninversion richtet sich das Augenmerk aufPhilologia als Wissenszentrum und Wissensmittlerin und fordert zum Nach-denken daruumlber heraus Im Kern hinterfragt das Werk alle Bereiche die mit Bil-dung und Bildungsvermittlung zu tun haben Was sind die Inhalte wahrer Bil-dung Gibt es eine Einheit von Bildung Wie kann sie vermittelt werden

Allerdings zielt die Kritik nicht auf eine Aufloumlsung klassischer Bildungsinhalteund Vermittlungsformen Sie regt vielmehr durch Scherz und Bruumlche zumNachdenken uumlber diese Fragen an Dabei verzichtet Martianus auf eigene Vor-schlaumlge und Konzepte und festigt so gleichsam den traditionellen Bildungs-betrieb Das von ihm dargestellte Wissen wird kanonisiert und die Darstel-lungsform in langen Reden wird es auch Die mittelalterliche Rezeption von Denuptiis zeigt dies eindrucksvoll

Wissen umfasst dabei nicht nur das Faktenwissen der Vortraumlge sondern auchdas Wissen um bestimmte literarische Formen Durch die Verbindung von vierGattungen und die Doppelung der Erzaumlhlerfigur mit Reflexion uumlber angemessenesErzaumlhlen entstehen Inkonsistenzen die die Konventionen der einzelnen Gattun-gen hervortreten lassen Nicht alle Elementewerden auf dieseWeise deutlich aberMartianus bietet einen Ansatzpunkt die Fiktion auch unter der Fragestellung zulesen was einen Text der jeweiligen Gattung ausmacht ndash sowohl positiv wie ne-gativ formuliert

Mit seiner kreativen Konzeption und ihrer literarischen Umsetzung gelingt esMartianus eindrucksvoll Heiteres und Belehrendes zu verbindenwomit er an dieTradition Varros und die klassische antike Poetik anknuumlpft Es gelingt ihm daruumlberhinaus aber auchWissen zu vermitteln und die traditionellen Vorstellungen vonder Bedeutung dieses Wissens wie der Form seiner Vermittlung herauszustellenSpielerisch wird also gelehrt und hinterfragt nicht jedoch kategorisch kritisiertoder kuumlhn neu entworfen Gerade dadurch zeichnet sich Martianusrsquo De nuptiis

3 Zusammenfassung 155

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

tatsaumlchlich als nescioquid inopinum intactumque (sbquoetwas Ungewohntes und nochnie Gewagteslsquo 1 2) aus und macht es zu einem der bedeutendsten Buumlcher derSpaumltantike und zu einer interessanten Quelle fuumlr die Frage nach Bildungsvor-stellungen im fuumlnften Jahrhundert

156 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Page 42: Bildungsvorstellungen im 5. Jahrhundert n. Chr. (Macrobius, Martianus Capella und Sidonius Apollinaris) || III Martianus Capella, De nuptiis Philologiae et Mercurii

Gattung bedient Somit wird ihr Funktionieren nachvollziehbar und in der Folgeauch nachahmbar

3 Zusammenfassung

Martianus weckt also durch die Wahl mehrerer gleichberechtigter Erzaumlhler diesomit das Erzaumlhlen unzuverlaumlssig werden lassen besonders aber durch dieUumlbernahme satirischer Gattungselemente ein Bewusstsein fuumlr die traditionellenGrundlagen desWissens- und Lehrsystems seiner Zeit ImGegensatz zur Satire diediese Fragen kategorisch stellt handelt es sich in De nuptiis um ein Spiel damitDer Satirebezug dient als Anknuumlpfung an die traditionellen Gattungsmerkmaleder menippeischen Satire Karnevaleske und Dialogizitaumlt

Durch die (temporaumlre) Rolleninversion richtet sich das Augenmerk aufPhilologia als Wissenszentrum und Wissensmittlerin und fordert zum Nach-denken daruumlber heraus Im Kern hinterfragt das Werk alle Bereiche die mit Bil-dung und Bildungsvermittlung zu tun haben Was sind die Inhalte wahrer Bil-dung Gibt es eine Einheit von Bildung Wie kann sie vermittelt werden

Allerdings zielt die Kritik nicht auf eine Aufloumlsung klassischer Bildungsinhalteund Vermittlungsformen Sie regt vielmehr durch Scherz und Bruumlche zumNachdenken uumlber diese Fragen an Dabei verzichtet Martianus auf eigene Vor-schlaumlge und Konzepte und festigt so gleichsam den traditionellen Bildungs-betrieb Das von ihm dargestellte Wissen wird kanonisiert und die Darstel-lungsform in langen Reden wird es auch Die mittelalterliche Rezeption von Denuptiis zeigt dies eindrucksvoll

Wissen umfasst dabei nicht nur das Faktenwissen der Vortraumlge sondern auchdas Wissen um bestimmte literarische Formen Durch die Verbindung von vierGattungen und die Doppelung der Erzaumlhlerfigur mit Reflexion uumlber angemessenesErzaumlhlen entstehen Inkonsistenzen die die Konventionen der einzelnen Gattun-gen hervortreten lassen Nicht alle Elementewerden auf dieseWeise deutlich aberMartianus bietet einen Ansatzpunkt die Fiktion auch unter der Fragestellung zulesen was einen Text der jeweiligen Gattung ausmacht ndash sowohl positiv wie ne-gativ formuliert

Mit seiner kreativen Konzeption und ihrer literarischen Umsetzung gelingt esMartianus eindrucksvoll Heiteres und Belehrendes zu verbindenwomit er an dieTradition Varros und die klassische antike Poetik anknuumlpft Es gelingt ihm daruumlberhinaus aber auchWissen zu vermitteln und die traditionellen Vorstellungen vonder Bedeutung dieses Wissens wie der Form seiner Vermittlung herauszustellenSpielerisch wird also gelehrt und hinterfragt nicht jedoch kategorisch kritisiertoder kuumlhn neu entworfen Gerade dadurch zeichnet sich Martianusrsquo De nuptiis

3 Zusammenfassung 155

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

tatsaumlchlich als nescioquid inopinum intactumque (sbquoetwas Ungewohntes und nochnie Gewagteslsquo 1 2) aus und macht es zu einem der bedeutendsten Buumlcher derSpaumltantike und zu einer interessanten Quelle fuumlr die Frage nach Bildungsvor-stellungen im fuumlnften Jahrhundert

156 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM

Page 43: Bildungsvorstellungen im 5. Jahrhundert n. Chr. (Macrobius, Martianus Capella und Sidonius Apollinaris) || III Martianus Capella, De nuptiis Philologiae et Mercurii

tatsaumlchlich als nescioquid inopinum intactumque (sbquoetwas Ungewohntes und nochnie Gewagteslsquo 1 2) aus und macht es zu einem der bedeutendsten Buumlcher derSpaumltantike und zu einer interessanten Quelle fuumlr die Frage nach Bildungsvor-stellungen im fuumlnften Jahrhundert

156 III Martianus Capella De nuptiis Philologiae et Mercurii

Brought to you by | St Petersburg State UniversityAuthenticated | 1349912841

Download Date | 12713 259 PM