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Bob Dylan 1987-1989 – ein Mann sucht (immer noch!) seinen Weg
Im Oktober 1987 spielte Bob Dylan auf der Piazza Grande in Locarno. Ein
weiteres Konzert im Rahmen seiner Europa-Tournee (mit der Tom
Petty-Band). Tourstress, Routine, Bob geht gegen die 50 – es ist schwer
zu sagen, was die Ursache oder vielleicht eher der Vorbote war für jenes
Ereignis, dass nach seinen eigenen Wahrnehmungen fundamental für
die nächsten Jahrzehnte sein sollte und das zum inneren Entschluss
führte, 1988 die „Never Ending Tour“ zu starten. Seither reist Dylan
jedes Jahr um die Welt und gibt zwischen 70 und 100 Konzerte (in den
Neunzigern teilweise auch deutlich mehr!).
Er beschreibt jenes Gefühl auf der Bühne in Locarno in etwa so: „Alles war plötzlich weg („it all fell
apart“), nichts mehr von dem, an das ich mich halten konnte, war noch verfügbar („nothing came
out“) – ein Fall ins Leere („I fell into a black hole“)!“ Noch Monate zuvor hatte sich Dylan nur mühsam
zu einer Tour mit den Greatful Dead durchringen können, wobei er während der Proben in New
Orleans eine Art zu singen gefunden hatte, durch die er wieder zu seinen eigenen Songs
durchdringen konnte (wie er selber schreibt). Doch all das war plötzlich weg an jenem Abend in
Locarno – zumindest für einige Sekunden oder Minuten (niemand scheint es auf jeden Fall wirklich
bemerkt zu haben). Dann kam es ebenso plötzlich zurück („everything came back“), aber in einer
neuen Dimension, gleichsam verwandelt und multipliziert. Dylan beschreibt dies als das
Hereinbrechen von Vollblutpferden. Das Gefühl für die Songs war plötzlich multidimensional und
eine neue Energie durchdrang sie. Er fühlte sich als Performer wiedergeboren („It was like I’d become
a new performer“) und an einem völlig neuen Ort („I had never seen this place before, never been
here“), d.h. in einer völlig neuen inneren Position.
Dieses Geschehen einer zweiten
Wiedergeburt, oder vielleicht war es
die einzige und eigentliche
Wiedergeburt Dylans, nämlich die zu
einem neuen Musiker, hat die Zukunft
des Künstlers verändert. Im Jahre 1988
startete Dylan die „Never-Ending-
Tour“, die zwar nicht sofort bei
Publikum ankam, sondern musikalisch
eher zu einer Zangengeburt zu werden
schien. Zu Beginn ging es darum, sich
an die neue Energie zu gewöhnen, das
neue Tempo und den neuen Rhythmus
zu finden. Langsam nur begannen die
Fans sich an den „neuen Dylan“
(wieder einmal!) zu gewöhnen!
Das Frühjahr 1989 verbringt Dylan in New Orleans, um mit den Produzenten und Musiker Daniel
Lenois eine neue Platte aufzunehmen. Die Songs dazu waren auf Dylans Farm in Minnesota in der
Zeit Ende 1987 während der Rekonvaleszenz nach einer Handverletzung entstanden (zumindest die
Texte) und waren teilweise auch Reflexe von zeitgeschichtlichen Ereignissen, wie etwa dem Skandal
um den TV-Prediger Jimmy Swaggart, der übrigens ein Cousin des Rock n’Rollers Jerry Lee Lewis ist
(der Song „Disease Of Conceit“ ist unter dem Eindruck dieses Geschehens entstanden). Er mietet ein
Haus und macht zwischen den Aufnahmen ausgedehnte Motorradtouren ins Bayou, das sumpfige
Mündungsdelta des Mississippi. Die Aufnahmen ziehen sich hin. Nur langsam entsteht ein Sound, der
sowohl dem Produzenten Lanois als auch Dylan entspricht. Dylans eigene Reflexionen in den
„Chronicles Vol 1“ belegen, dass er nur zu einigen wenigen Songs auch schon eine Melodie hatte, als
er ins Studio kam. Die Musik (wie etwa die zu „Most Of The Time“) entsteht gleichsam ad hoc. Aber
schliesslich sind Songs wie „Political World“, „Broken“ oder „Man In The Long Black Coat“ (meine
ganz persönliche Lieblingsnummer auf diesem Album“, aber auch „What Good Am I“ Beispiele für
das exzellente Resultat der Zusammenarbeit von Dylan und Lanois. Die CD „Oh Mercy“ erscheint im
Herbst des Jahres 1989. Das Album wird allgemein als eines besten von Dylan in den Achzigern
angesehen. Die neue Inspiration ist spürbar in den Songs – wenn auch noch längst nicht das gesamte
Potential durchkommt. Es scheint, als versuche er, den alten Weg mit der neuen Kraft weiter zu
gehen. Das funktioniert nur teilweise.
Der Dylan-Autor Olaf Benzinger ordnete Oh Mercy mit folgendem Resümee in das Gesamtoeuvre des
Sängers ein: „‚Oh Mercy‘ ist ein eindringliches Album mit Songs voller Intuition und einer nun wieder
poetischen und kraftvollen Sprache. Das Hauptthema findet sich im Eröffnungssong ‚Political World‘:
die Irrungen und Wirrungen, die der Einzelne in einer aus der Ordnung geratenen Welt erlebt. In
seiner Mischung aus Liedern der Hoffnungslosigkeit und daneben des kleinen und ganz privaten
Glücks zwischendrin zeigt sich ein Künstler, der seinen Platz in der Welt wieder gefunden hat, ohne
diese Welt verdammen oder schönfärben zu müssen.“(O.Benziger 2006).