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Bootsflüchtlinge in Tunesien Gestrandet vor dem Tor zu Europa Zahlreiche Schiffbrüchige, die aus Libyen nach Europa zu gelangen versuchten, stranden in Tunesien. Hier stossen sie auf Ablehnung. Und eine Rückkehr in die Heimat ist für viele keine Option. Das Ehepaar M'Charek wusste zunächst nicht, was geschehen war. Über Nacht waren die Lampen am Strand vor ihrem kleinen Hotel zerstört worden – Vandalismus im Paradies? Die beiden führen uns durch die liebevoll hergerichtete Gartenanlage der weiss getünchten Hotelresidenz, deren mehrheitlich europäische Stammkundschaft Jahr für Jahr wiederkehrt, um hier zwischen Palmen die Seele baumeln zu lassen. Doch in jener Nacht vom 30. Januar 2011, kurz nach dem Sturz von Ben Ali, nutzten andere, die auf der paradiesischen Halbinsel keinen Frieden fanden, den Steg vor dem Hotel für die riskante Fahrt übers Mittelmeer. Die M'Chareks, sichtlich aufgewühlt von den Erinnerungen, haben danach eine Gedenktafel im Hotelgarten errichtet. Aufbruch nach der Revolution Tausende von Tunesiern suchten in jenen Monaten nach der tunesischen Revolution ihr Glück, der Steg vor dem Hotel der M'Chareks war einer von vielen Ausgangspunkten. Jede Nacht sah man die Lichter der Boote. Der Hafen von Zarzis hat sich sichtlich geleert wegen all der Fischerboote, die Richtung Italien in See stachen. Mindestens 400 Boote hätten abgelegt und seien nicht zurückgekehrt, sagt Dhaou Maatoug, ein Journalist aus Zarzis. Inzwischen begannen die Behörden mithilfe Italiens, die Küste wieder stärker zu kontrollieren. Unterwegs treffen wir in einem Markt zwei Händler, die sagen, sie hätten früher Hunderte in Fischerbooten nach Italien gebracht. Ertrunken sei keiner, denn sie verstünden etwas von der Seefahrt, beteuern die beiden. Sie hätten damit verzweifelten Menschen geholfen. Hier in Tunesien gebe es keine Arbeit und keine Zukunft für die Jungen. Jetzt sei es allerdings schwieriger geworden, erklären die beiden. Noch immer versuchen Flüchtlinge und Migranten von Tunesien aus nach Europa zu gelangen. Doch die meisten starten inzwischen von Libyen aus, wo Schlepper-Netzwerke vom Zerfall der Staatsmacht profitieren. Blühender Schmuggel Die libysche Grenze liegt nur wenige Kilometer entfernt von hier, und die Gegend ist voll von Autos mit libyschen Nummernschildern. Unterwegs kann man am Strassenrand Benzin kaufen, das über die Grenze geschmuggelt wurde. Auch Drogen und Waffen werden transportiert. Hin und wieder passieren wir einen Kontrollposten der tunesischen Sicherheitskräfte. Der Schmuggel dürfte mit dem Bau der Grenzmauer, den die tunesische von Monika Bolliger, Zarzis 28.7.2015, 05:30 Uhr Bootsflüchtlinge in Tunesien: Gestrandet vor dem Tor zu Euro... http://www.nzz.ch/international/naher-osten-und-nordafrika/ge... 1 von 4 28.07.15 09:46

Bootsflüchtlinge in Tunesien: Gestrandet vor dem Tor zu Europa - NZZ Naher Osten & Nordafrika

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  • Bootsflchtlinge in Tunesien

    Gestrandet vor dem Tor zu EuropaZahlreiche Schiffbrchige, die aus Libyen nach Europa zu gelangenversuchten, stranden in Tunesien. Hier stossen sie auf Ablehnung. Und eineRckkehr in die Heimat ist fr viele keine Option.

    Das Ehepaar M'Charek wusste zunchst nicht, was geschehen war. berNacht waren die Lampen am Strand vor ihrem kleinen Hotel zerstrt worden Vandalismus im Paradies? Die beiden fhren uns durch die liebevollhergerichtete Gartenanlage der weiss getnchten Hotelresidenz, derenmehrheitlich europische Stammkundschaft Jahr fr Jahr wiederkehrt, umhier zwischen Palmen die Seele baumeln zu lassen. Doch in jener Nacht vom30. Januar 2011, kurz nach dem Sturz von Ben Ali, nutzten andere, die auf derparadiesischen Halbinsel keinen Frieden fanden, den Steg vor dem Hotel frdie riskante Fahrt bers Mittelmeer. Die M'Chareks, sichtlich aufgewhlt vonden Erinnerungen, haben danach eine Gedenktafel im Hotelgarten errichtet.

    Aufbruch nach der RevolutionTausende von Tunesiern suchten in jenen Monaten nach der tunesischenRevolution ihr Glck, der Steg vor dem Hotel der M'Chareks war einer vonvielen Ausgangspunkten. Jede Nacht sah man die Lichter der Boote. DerHafen von Zarzis hat sich sichtlich geleert wegen all der Fischerboote, dieRichtung Italien in See stachen. Mindestens 400 Boote htten abgelegt undseien nicht zurckgekehrt, sagt Dhaou Maatoug, ein Journalist aus Zarzis.Inzwischen begannen die Behrden mithilfe Italiens, die Kste wieder strkerzu kontrollieren.

    Unterwegs treffen wir in einem Markt zwei Hndler, die sagen, sie httenfrher Hunderte in Fischerbooten nach Italien gebracht. Ertrunken sei keiner,denn sie verstnden etwas von der Seefahrt, beteuern die beiden. Sie httendamit verzweifelten Menschen geholfen. Hier in Tunesien gebe es keineArbeit und keine Zukunft fr die Jungen. Jetzt sei es allerdings schwierigergeworden, erklren die beiden. Noch immer versuchen Flchtlinge undMigranten von Tunesien aus nach Europa zu gelangen. Doch die meistenstarten inzwischen von Libyen aus, wo Schlepper-Netzwerke vom Zerfall derStaatsmacht profitieren.

    Blhender SchmuggelDie libysche Grenze liegt nur wenige Kilometer entfernt von hier, und dieGegend ist voll von Autos mit libyschen Nummernschildern. Unterwegs kannman am Strassenrand Benzin kaufen, das ber die Grenze geschmuggeltwurde. Auch Drogen und Waffen werden transportiert. Hin und wiederpassieren wir einen Kontrollposten der tunesischen Sicherheitskrfte. DerSchmuggel drfte mit dem Bau der Grenzmauer, den die tunesische

    von Monika Bolliger, Zarzis28.7.2015, 05:30 Uhr

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  • Regierung nach dem Attentat von Sousse begonnen hat, schwieriger werden.Tunesien will damit verhindern, dass Extremisten illegal die Grenzeberqueren. In den Grenzgebieten, wo fr viele der Schmuggel die einzigeEinkommensquelle ist, kam es darauf zu Protesten und Ausschreitungen. InZarzis halten jedoch Flchtlinge die Kstenwache in Atem, ihre Boote stechenvon Libyen aus ins Meer und erleiden manchmal bereits vor der tunesischenKste Schiffbruch. Viele der Bootsflchtlinge, die heute die Fahrt bersMittelmeer wagen, fliehen vor Krieg und Repression in Lndern wie Syrienoder Eritrea. Andere, die aus subsaharischen afrikanischen Lndernstammen, versuchen, der Armut zu entkommen. Auch Tunesier sind dabei,allerdings weniger als frher.

    Mit 14 weg von zu HauseManche Schlepper spielen ein besonders zynisches Spiel. Sie kassieren dasGeld Gesprchspartner berichten von Betrgen zwischen umgerechnet 600und 1000 Franken, die sie bezahlt haben und wissen, dass die Boote schonvor der tunesischen Kste kentern werden. Viele, die in Tunesien gerettetwerden, kehren darauf zurck nach Libyen und versuchen ihr Glck erneut,sobald sie das Geld aufbringen knnen. Fr die Schlepper ist das einlukratives Geschft. Nicht alle werden gerettet. Immer wieder findet dieKstenwache von Zarzis Leichen, die nach einem Schiffbruch an den Strandgesplt werden. Im Monat Juli haben humanitre Organisationen 39gestrandete Leichen gezhlt.

    Soeben erhalten wir die Nachricht, dass erneut ein Boot Schiffbruch erlittenhat. Das lokale Komitee des Roten Halbmonds hat kaum mehr Kapazitten,um die Gestrandeten zu versorgen. Hunderte von Migranten ausverschiedenen subsaharischen Lndern wurden vom Roten Halbmond inimprovisierten Unterknften untergebracht. Sie waren auf zwei Booten,welche Schiffbruch erlitten, und wurden von den Tunesiern gerettet. AmBoden des Raumes einer solchen Unterkunft in Medinine, die wir besuchen,reiht sich Matratze an Matratze. Zwei Toiletten mit Dusche stehen rund 140Leuten zur Verfgung. Viele wollen reden, wollen ihre Geschichten erzhlen.Sie erhoffen sich auch Hilfe, und seien es nur verlssliche Informationen. Siehaben kaum eine Vorstellung, was sie in Europa erwartet und welcheOptionen sie haben.

    Der 17-jhrige Moussa aus Gambia ist durch fnf Lnder gereist, bevor er inLibyen ins Boot stieg. Mit 14 verliess er sein Zuhause. Sein Vater wargestorben, als Moussa sechsjhrig war. Die Mutter wollte, dass er trotzdemzur Schule geht. Doch wir hatten kein Geld. Ich wollte ihr helfen, sagt er.Als er keine Arbeit fand, suchte er sein Glck im Ausland. Ein Senegalesehabe ihm das Handwerk des Elektrikers beigebracht. In Libyen verdiente erGeld, doch dort wurde er mehrere Male von bewaffneten Banden ausgeraubt.So begann er im Internet zu recherchieren, wie man nach Europa kommt, undversuchte schliesslich sein Glck. Er sagt, er knne unmglich mit leerenHnden zurck. Dass die berfahrt gefhrlich ist, weiss er. Aber werdurchgemacht hat, was ich hinter mir habe, ist zu vielen Wagnissen bereit.

    Misstrauen und Ablehnung

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  • Moussas Geschichte ist nicht ungewhnlich, wie sich in Gesprchen mitanderen zeigt. Viele sind seit Monaten oder Jahren kaum in Kontakt mit ihrenVerwandten, deren Erwartungshaltung gross ist. Der Druck, Geld zuverdienen, ist immens. So viele sind in derselben Situation wie ich, sagt er.Die Leute werden es weiter versuchen. Wenn die Europer es stoppenwollen, werden viele sterben. Moussa gehrt nicht zu jenen, die als Anwrterauf Asyl eingestuft werden, und gilt deshalb nicht als schutzbedrftig. Syrer,Eritreer oder Somalier werden in der Regel als Asylsuchende kategorisiertund vom Uno-Hochkommissariat fr Flchtlinge (UNHCR) registriert. Wernicht als Flchtling gilt, fllt in die Zustndigkeit der InternationalenOrganisation fr Migration (IOM). Die IOM untersttzt normalerweise dieMigranten drei Wochen und bietet ihnen Hilfe bei der freiwilligen Rckkehrin die Heimat an. Hier macht die IOM kaum etwas, ausser, die Leute zuregistrieren, erklrt Mongi Slim, der Prsident des regionalen Komitees vomRoten Halbmond, dessen Arbeit hier von der Schweizerischen Direktion frEntwicklungszusammenarbeit untersttzt wird die Einzigen, die Slimderzeit Hilfe zugesichert haben.

    Die Gesamtzahl der Flchtlinge und Migranten ist schwer festzulegen. Neuekommen hinzu und andere verschwinden oft, um erneut die Reise bersMittelmeer zu versuchen. Seit Jahresanfang sind um die 1000Bootsflchtlinge in Tunesien gestrandet, andere kamen ber dieLandgrenzen. Im Juli trafen laut Mongi Slim einmal an einem einzigen Tag356 Schiffbrchige in Tunesien ein. Zwei Millionen Libyer sind ausserdemlaut Regierungsangaben nach Tunesien geflohen, mit elf Millionen Brgernein kleines Land.

    Bettler und SchwarzarbeiterIm Camp Choucha an der libyschen Grenze harren bis heute aus Libyengeflohene Gastarbeiter aus. Das 2011 wegen des libyschen Brgerkriegserffnete Flchtlingslager ist inzwischen zwar offiziell geschlossen, existiertaber trotzdem weiter. Jene, die weder vom UNHCR als Flchtlinge anerkanntwurden noch von der IOM in ihre Heimat zurckgeschafft werden konnten,schlagen sich als Bettler und Schwarzarbeiter durch. In Zarzis hat der Exodusder lokalen Jugend nach Europa ironischerweise dazu gefhrt, dass es Arbeitfr Migranten gibt, die wegen ihres illegalen Status allerdings ausgebeutetwerden. Jobs sind vorhanden, bezahlt sind sie schlecht. Der lokale Leiter desRoten Halbmonds, der eine Notunterkunft fr Migranten unterhlt, fordertmehr Pragmatismus. Die IOM solle ihnen Papiere geben, damit sie legalarbeiten knnten, fordert er.

    Sie sind lebende Tote, sagt Pater Jonathan, ein nigerianischer Priester vomOrden der Weissen Vter, der in Sfax lebt und sich fr die Migranten undFlchtlinge einsetzt. Sie tragen schwere Geschichten im Gepck, habenTraumatisches erlebt und stossen auch hier auf Abweisung, sagt er. DasCamp Choucha wurde einmal von einem Mob angegriffen, Zelte brannten ab,mehrere Insassen wurden gettet.

    Unbekannte beerdigtIn Medinine musste eine Notunterkunft geschlossen werden, die laut den

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  • Behrden zu zentral und zu nahe bei einer Schule gelegen war. DenMigranten schlugen Feindseligkeit und Rassismus entgegen; Bewohnersorgten sich um die Kinder, die unweit der Notunterkunft zur Schule gehen;sie glaubten, dass die Schwarzafrikaner gefhrliche Krankheiten mitbrchten.Mehrmals hatten die Bewohner gegen die Notunterkunft demonstriert. Ichfhle mich hier als Brde. Das ist mir zutiefst unangenehm, sagt einMigrant, der vorlufig beim Roten Halbmond in Zarzis untergekommen ist.

    Trotz den Risiken reissen die Strme jener nicht ab, die ihr Glck versuchen,oft mit einfachen Fischerbooten. Das Ziel ist Europa, der Traum von einerArbeit und einem Leben in Sicherheit und Wrde. Diese Leute habenAusdauer. Sie haben diesen Traum, sie werden wieder und wieder versuchen,ihr Ziel zu erreichen, sagt Pater Jonathan. Manchmal muss er Totebeerdigen, die an die Kste gesplt werden. Er ldt dann alle Christen seinerGemeinde zur Beerdigung ein, um den Ertrunkenen die letzte Ehre zuerweisen. ber 70 Schiffbrchige haben auf einem Friedhof bei Sfax denletzten Segen erhalten. Der Pater gibt jedem unbekannten Toten einenNamen, bevor er ihn beerdigt.

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