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Brigie Obermayr (Hg.) JENSEITS DER PARODIE Dmitrij A. Prigovs Werk als neues poetisches Paradigma Brigie Obermayr (Hg.) JENSEITS DER PARODIE Dmitrij A. Prigovs Werk als neues poetisches Paradigma Brigie Obermayr (Hg.) JENSEITS DER PARODIE Dmitrij A. Prigovs Werk als neues poetisches Paradigma

Brigitte Obermayr (Hg.) JENSEITS DER PARODIE … · Grundlagen für eine bislang in der Slawistik fehlende systematisch- ... Materialität bekanntlich posthum zu einer ... der, ausgehend

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Brigitte Obermayr (Hg.)

JENSEITS DER PARODIE

Dmitrij A. Prigovs Werk als neues poetisches Paradigma

Brigitte Obermayr (Hg.)

JENSEITS DER PARODIE

Dmitrij A. Prigovs Werk als neues poetisches Paradigma

Brigitte Obermayr (Hg.)

JENSEITS DER PARODIE

Dmitrij A. Prigovs Werk als neues poetisches Paradigma

Wiener Slawistischer AlmanachLiterarische reiheHerausgegeben von Aage A. Hansen-Löve

Sonderband 81

Brigitte Obermayr (Hg.)

Jenseits der ParodieDmitrij A. Prigovs Werk als

neues poetisches Paradigma

Wiener Slawistischer AlmanachSonderband 81Wien/München/Berlin 2013

HERAUSGEBER DER REIHE

Aage A. Hansen-Löve HERAUSGABE UND REDAKTION DIESES BANDES Brigitte Obermayr ERSTELLUNG DER DRUCKVORLAGE Erika Nagler REDAKTIONSADRESSE Institut für Slavische Philologie, Universität München Geschwister-Scholl-Platz 1, 80539 München Tel.: +49-89-2180-2373, Fax: +49-89-2180-6263 e-mail: [email protected] EIGENTÜMER Gesellschaft zur Förderung slawistischer Studien (Wien) Liechtensteinstraße 45a/10, A-1090 Wien Tel.: +43-1-94 67 232 VERLAG Verlag Otto Sagner, c/o Kubon&Sagner Heßstraße 39/41, 80798 München [email protected], Fax: +49-89-54218-226 DRUCK Difo-Druck GmbH Lauganger 15, 96052 Bamberg Tel.: +49-951-64321, Fax: +49-951-67483 © Gesellschaft zur Förderung Slawistischer Studien, Wien Verlag Otto Sagner, München - Berlin Alle Rechte vorbehalten ISBN: 978-3-86688-149-5

ISBN (eBook): 978-3-86688-150-1

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INHALT

VOrWOrT 6

GEOrG WIttEPrigov, ein Phänomenologe des Verses 16

IGOr P. SMIrNOVDasein und Sein in D. A. Prigovs Gedichten 54

HOLT MEyEr„Ja vot vidite – Unreadabilities and/as Autophilology in (Prigov’s) Letter Work: Onegin as an Alphabet and the Azbuki 72

BrIGIttE OBErMAyrDate Poems, oder: Lyrik, die zur Sache geht 162

LENA SZILArDrenat i Drakon (renat und der Drache): Das Dasein und das Ereignis des Seins 210

OLGA MArTINDer Milizionär: Das Ende eines Heldenepos 252

SABINE HäNSGENPoetische Performance: Schrift und Stimme 306

VALENTINA PArISIPrigovs Alphabete als mediales Ereignis 334

GEraLD JANEcEKSeriality in Prigov: The Alphabet Poems 356

ALExANDEr SKIDANPrigov, Brecht und Warhol oder Golem sovieticus 386

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IN DIE 22. ETAGE... ANLEITENDES zUM BAND JENSEITS DER PARODIE

VOrWOrT DEr HEraUSGEBErIN

Der vorliegende Band versammelt die Beiträge der Konferenz Prigov lesen. Untersuchungen zu einem unaufhörlichen poetischen Werk. Die Tagung wurde vom 11.-12. Juli 2008 im Literaturhaus Fasanenstra-ße in Berlin abgehalten und war eigentlich schon für Herbst 2007 geplant gewesen – mit Dmitrij A. Prigov. Er wollte an der Konfe-renz teilnehmen und sollte in einem Lese- und Performancemara-thon sämtliche Azbuki-Texte vortragen. Durch Dmitrij A. Prigovs Tod am 16. Juli 2007 konnte dieser Plan nicht mehr realisiert wer-den und das Konferenzvorhaben als solches wollte neu Luft holen. Ein knappes Jahr nach Prigovs Tod fand die Konferenz dann unter dem noch zu Prigovs Lebzeiten geplanten Titel an jenem Ort statt, an dem Prigov einen seiner ersten Auftritte in Deutschland hatte: im Kaminraum des Literaturhauses in der Fasanenstraße.Die Konferenz wie dieser Tagungsband haben sich zum Ziel gesetzt, Grundlagen für eine bislang in der Slawistik fehlende systematisch- literaturwissenschaftliche Erschließung des literarischen Werks Prigovs zu schaffen. Dem Konferenztitel „Prigov lesen“ gemäß, sollten Me-thoden zur Verortung des poetischen Schreibens Prigovs gefunden werden, die dessen rezeption und Analyse über eine bislang dominie-rende Festschreibung als ‚künstlerische Ideologiekritik‘ hinaustreiben und seine literarischen Anliegen beim Wort nehmen:Prigov zu lesen heißt, literarische Phänomene zwischen Lyrik und Pro-sa zu verorten. Prigov zu lesen fordert zu einem abtastenden Durch-laufen poetischer Passagen auf, von Texten, die zwischen schutz- loser, naiver Affirmation und abstrakter Negation des Lyrischen chan-gieren. Man wird sich dabei explizit und extensiv dem Materiellen zuwenden – der Schrift, der Stimme, der Typographie. Dies ist mit Blick auf die das Werk auszeichnende quantitas eine methodische und aisthetische Herausforderung: Es gilt, die Aufmerksamkeit Texten, Schriftbildern und Zeichenanhäufungen zu widmen, die in serieller

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Unüberschaubarkeit vorbeiziehen und vielfach den charme von Ak-tennotizen und maschinenschriftlichen Tippübungen ausstrahlen – so also eher zum Durchblättern und Überlesen einladen. Zudem wird die Materialität bekanntlich posthum zu einer besonderen Herausforde-rung: Was ändert sich jenseits der lebendigen Präsenz, des performa-tiv Ephemeren, welche rolle spielt der sinnlich wahrnehmbare ‚rest‘? Dieser Band zeigt und thematisiert den Status des visuellen, akusti-schen oder audiovisuellen Dokuments, das bei Prigov immer schon autonom sein und nicht in die unglückliche bis unmögliche Lage des Illustrativen gelangen wollte (vgl. dazu etwa die Beiträge von Hänsgen, Meyer, Witte).Die seinerzeit im Konferenztitel formulierte Aufgabenstellung ‚Prigov (zu) lesen‘, hat, wie im Titel des vorliegenden Bandes angezeigt wer-den will, zu einem ersten wesentlichen Ergebnis geführt: Unter der Überschrift Jenseits der Parodie geht es, in unterschiedlicher Form, in allen Beiträgen dieses Bandes um eine originäre Ontologie der Ly-rik, der Schrift- und Buchkunst Prigovs, des Gesamtprojekts „DAP“: sei es die Serialität ( Janecek, Skidan), die Autophilologie (Meyer), die Versform (Witte), das Buchobjekt in Aktion (Parisi), die Stimme (Hänsgen) oder seien es Daten und Zahlen (Obermayr). Es geht in Prigovs (literarischem) Werk nicht um Gegengesang, nicht um Para-sitentum, nicht um die travestierende Partizipation am auratischen Prätext. Es ist ein schöner, und Prigov würde wohl sogar gesagt haben, ein lehrreicher Zufall, dass uns als Prigovs letztes Projekt das Vorha-ben „Voznesenie“ (Aufstieg) gelten muss: Prigov wollte sich in einem Schrank sitzend in die 22. Etage der Moskauer Staatlichen Universität (MGU) tragen lassen und hatte vor, dabei seine Mantren der ersten Strophe des Evgenij Onegin zu rezitieren. Aus dieser Verbindung zwi-schen physikalischer Überwindung der Schwerkraft, äußerster kör-perlicher Anstrengung, die zu keinem Ende führt1 und einer aus dem Insistieren, dem andauernden Arbeiten, das weder Kompromiss noch ein Anderes kennt, sich ergebenden Schwerelosigkeit resultiert die me-taphysische Dimension – nicht nur des uns als letztes gebliebenen Vor-

Vgl. auch die Figur des Sisyphus in der gleichnamigen Performance oder den Versuch, der Katze das Wort „rossija“ zu entlocken(‚Mediaopera’ Rossija).

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habens Dmitrij Aleksandrovičs. Das ist von Anfang an ernster gemeint, als Parodie das jemals vermögen könnte und steht gleichzeitig immer schon so sehr über den Dingen, als dass ein mühevolles Abarbeiten an Vorgegebenem und Vorbildern möglich oder nötig wäre. Und doch setzt dieses ‚Darüber‘, dieses ‚Meta‘, dieses auf eine vierte oder fünfte Dimension fokussierende Denken und Tun dort ein, wo es darum geht, zu überlegen, wer denn in der Lage sein könnte, einen Schrank samt darin deklamierendem Dichter in die 22. Etage zu befördern. Nicht der im Schrank Sitzende ist originell, vielmehr ist es die realisierung die-ses Topos.In diesem Sinne ist der Beitrag von Igor P. Smirnov, der philoso-phisch und textanalytisch die Meinung dekonstruiert, Prigovs (lyrisches) Werk stünde in einem parodierenden Bezug zu litera-rischen Prätexten, bzw., was viel öfter zur Debatte steht, zum Dis-kurs der sowjetischen Lebenswelt, paradigmenbildend für diesen Band. Das Motto Jenseits der Parodie kann zahlreiche charakteris-tika des gesamten Schaffensprojekts Prigovs aus einer in der bis-herigen Diskussion immer wieder unproduktiven Verklammerung reißen: Die Verschränkung der lyrischen Form mit alltagssprachli-chen Banalien, der Akzent auf Menge und Masse, die undramati-sche Dynamik, mit der Prigov konstant, scheinbar unabhängig von den Gegenständen und Situationen auf einem Höhepunkt, einem Maximum – nicht nur des Stimmlichen, einer performativen Prä-senz, sondern auch einer Bedeutungsdimension verharrt: Smirnov sieht darin weniger das Projekt einer ‚subversiven Affirmation‘ to-talitärer Machtansprüche, als vielmehr das epochale Unternehmen, das künstlerische, das literarische Schaffen einer Differenzlogik zu entreißen.

Prigov zu lesen, den ‚späten‘ Prigov zu lesen, heißt auch, sich seinen romanen zu widmen, die dieses Genre nicht weniger erklärungsbe-dürftig realisieren wie Prigovs Lyrik das Gedicht. Živite v Moskve (Lebt in Moskau!) ist der wahrscheinlich zugänglichste der vier Pro-salangtexte Prigovs. Nicht nur auf den ersten Blick liest sich Živite v Moskve spiegelbildlich zu den „Preduvedomlenija“ (Vorbekundun-

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gen), wie eine prosaische Nach- bzw. Umschrift seiner Lyrik, nicht nur der frühen: So ist Živite v Moskve vom „Moskauer Milizionär“ strukturiert und sind die als Gedichte vielfach bereits bekannten Anekdoten aus dem Alltag der ordnungshütenden Instanz hier nun in ihrer ‚ursprünglichen‘, der epischen Kleinform wieder anzutreffen. In allen romanen Prigovs expliziert sich aber der im Spätwerk, unter an-derem in den Isčislenija i Ustanovlenija, sehr explizit werdende Wille, ein allgemeinverbindliches und das Allgemeine mit dem Konkreten, Vereinzelten verbindendes Ordnungsprinzip zu beherrschen, und vor allem: es in jeder Situation anzuwenden. Die Digression, das Beispiel, das Gerücht, der unwahrscheinliche Vorfall – sie alle bilden Ebenen ei-nes umfassenden Beschreibungs- und Kategorisierungswillens. Dieser verselbständigt sich so sehr, dass von einem Erzählen in den romanen die rede eigentlich nicht sein kann, gleichzeitig das Erzählen dabei aber doch wieder auf einem Nullpunkt anlangt. Beschrieben wird, was andere, die vorgeben, es zu können, erzählen würden. Im vorliegenden Band gehen die Beiträge von Olga Martin und Lena Szilard explizit auf Prigovs romane ein. Im Zuge von Martins Beschäf-tigung mit der Figur, der Gestalt, dem Mythos „Milizionär“ wird die Entfaltung der autobiographischen Dimensionen dieses Helden in den romanen gezeigt, wobei hier einmal mehr Verfahren der Schließung einer Differenz zwischen öffentlicher diskursiver Erscheinung und pri-vater Erinnerung im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Auch hier wird das ‚Jenseits‘ der Parodie greifbar: Prigovs Milizionär ist keine Parodie auf Mythen oder populärkulturelle Klischees – auch und ge-rade der Milizionär ist privatisiert, die aufgehobene Parodie, so Igor Smirnov, ist bei Prigov vom modus operandi zum modus vivendi – zum Projekt DAP – hin verschoben. Prigov faszinierte gleichzeitig mit den banalen Gesetzmäßigkeiten des Alltags und in einem völlig nivellier-ten Maß an Aufmerksamkeit dafür das Esoterische, Phantastische, Außerirdische, Kosmische („nezemnoj“). Ausgelebt, ausbuchstabiert hat Prigov diese Leidenschaft gewiss in Renat i Drakon, einem Text, den er immer wieder stolz und völlig unironisch als seinen Beitrag zur „fėntezi“ vorstellte. Lena Szilards Beschäftigung mit Renat i Drakon fokussiert einerseits auf Bezüge der Ebenen und Schichten dieses ro-

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mans zu Symbolismus und Esoterik (wobei sie eben auch die Beziehun-gen zwischen den beiden letzteren unterstreicht), verweist gleichzeitig auch hier auf biographische und autobiographische Fakten (die nicht zuletzt Szilard selbst betreffen). Während Živite v Moskve den chro-notopos Moskau um die zentrale Achse des Moskauer Milizionärs er-richtet (vgl. das vierte der sieben Kapitel – „Milicaner Moskovskij“), gliedert die 44 Kapitel von Renat i Drakon ein un- bzw. umgeordnetes kyrillisches Alphabet. Alleine schon zum Verhältnis zwischen der Un-ordnung der alphabetischen Dinge und ihrer Überordnung in der Zahl 44 wissen Prigov und Szilard einiges zu sagen.

Ist die rede von einem ‚Jenseits der Parodie‘ und – quasi daraus folgend – neuen poetischen Paradigmen, zeigen die Beiträge von Georg Witte und Sabine Hänsgen grundlegende Aspekte formaler Innovation bei Prigov. Sabine Hänsgen beschreibt nicht nur ein-zelne Dimensionen von Prigovs Vortragskunst (wobei sie von den historischen Untersuchungen und frühen Aufnahmen von Dichter-lesungen u.a. Bernštejns ausgeht), sie zeigt auch, wie die Gedicht-form – Zeilenlänge, visuelle Markierung durch Wortwiederholun-gen etc. – zur Partitur der stimmlichen Aufführung wird. In eine vergleichbare richtung gehen übrigens auch die Überlegungen Valentina Parisis zu Prigovs Azbuki. Parisi hebt in ihrem Beitrag nicht so sehr auf den vielfach mit den Azbuki verbundenen Aspekt der stimmlichen Performanz ab, sondern geht von einer synästhe-tischen Grunddisposition dieser Texte aus, von deren Existenz als Buchobjekte, für deren Performanz die schlichte Handgreiflickeit wesentlich wird. Die Untersuchungen von Parisi und Hänsgen sind ‚jenseits der Parodie‘ auch deshalb interessant, weil Stimmlichkeit und Schriftlichkeit hier einen äquivalenten Status materieller Prä-senz haben, einander initiierende Faktur, und nicht, wie in einem zu kurz gegriffenen Verständnis einer Dekonstruktion der Präsenz der phoné, der typographische Exzess sich gegen letztere richtet.Verszeilen und Versformen sind es auch, die Georg Witte interessie-ren, der, ausgehend von einer Phänomenologie der Schriftlichkeit (nicht nur bei Prigov: „Es gibt, seit Gedichte aufgeschrieben wer-

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den, keine andere Poesie als visuelle Poesie”), eine grundlegende Typologie neuer Versformen Prigovs anbietet. Witte holt weit aus und kontextualisiert Prigovs Gedichtschreiben mit fotografischen Inszenierungen wie mit graphischen Arbeiten (Zeitungsüberma-lungen, Bestiarien). Bezeichnenderweise spielen auch bei Witte die Grenzverhandlungen zwischen Poesie und Prosa eine zentrale rolle, wenn es dann schließlich um die Versform im engeren Sinne des Begriffs geht (überhängende Zeile, verschobener und unseg-mentierter tautologischer reim, serialisierter tautologischer reim etc.).Zu formalen Aspekten in einer allgemeineren Hinsicht, nämlich bezogen auf Entwicklungen in der Kunst des 20. Jahrhunderts, ar-beiten die Beiträge von Gerald Janecek und Aleksandr Skidan. Jan-ecek geht es um eine Abgrenzung des Seriellen hin zum Zyklischen einerseits (anhand von frühen Gedichtzyklen und vor allem der Az-buki), vor allem aber mit Blick auf serielle Verfahren und Formen in Minimalismus und Pop-Art. Skidan versucht, das grundsätzlich neue Kunstverständnis und eine neue Kunstpraxis, wie sie bei Ber-tolt Brecht und Andy Warhol hervortreten, als Grundlagen für das ‚Projekt DAP‘ zu fassen. Seine Überlegungen entfaltet Skidan in einer dem zu fassenden Phänomen wohl angemessenen Mischung aus Verweisen auf Gedichte Prigovs genauso wie äußerungen in späten Interviews, die die Grenzen zwischen Dasein und Sein wei-ter durchlässig machen.Holt Meyer nähert sich dem ‚Universum Prigov‘, indem er das Projekt ‚DAP‘ in aller Konsequenz als literarisches bzw. ‚letterari-sches‘ liest. Als „Autophilologie“ untersucht Meyer selbstanalyti-sche Operationen und Effekte von Prigovs immer wieder auf den Buchstaben, das Buchstäbliche hinauslaufende Schaffen. Signifi-kantenketten bilden jene symptomatische Oberfläche, auf der sich immer schon auch der Name des Autors als Buchstabe ausstellt („exhibiting letters“). So will Meyer Setzungen wie „PrIGOV-JA“ oder „PUŠKIN-JA“ gelesen bzw. gesehen wissen – die Wörter und Namen treten aus Prigovs literarischen Verarbeitungen immer als das auf, was sie de facto sind: Buchstabenketten. Diese Überlegun-

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gen wendet Holt Meyer im vorliegenden Beitrag auf die Abschrift des Evgenij Onegin an, die Prigov 1992 vorgelegt hat. Die gülden-stählern glitzernde Signifikantenkette, die eine Abschrift dieses Textes auf einer mechanischen Schreibmaschine Marke Samizdat in Bewegung zu setzen vermag, dekliniert Meyer diskursanalytisch durch. Hier tritt dann der buchstäblich stalinistische Puškin oder jener der Tauwetterzeit hervor. Nicht als Parodie, sondern in ei-ner ontologischen Ernsthaftigkeit, die sich alleine schon in der An-strengung manifestiert, die es bedeutet, diesen inflationären Text auf der Schreibmaschine abzutippen.Bei der Onegin-Abschrift handelt es sich also um ein weiteres jener Großprojekte und Kraftakte, von denen hier im Zusammenhang mit dem Unternehmen DAP bereits die rede war. Evgenij Onegin Puškina hilft vielleicht auch, die Differenz zu schmälern zwischen Erledigtem und der Wiedervorlage Harrendem ...Weder der für die Konferenz geplante Lese- und Perforamancema-rathon Prigovs noch sein Projekt „Voznesenie“ konnten realisiert werden – „[...] i žizn‘ vmešalas‘, vernee – smert‘“2 ([...] und das Leben hat sich eingemischt, vielmehr der Tod). Prigov hinterlässt uns jede Menge Arbeit – es gibt viel zu lesen...

„Вознесение

Образ сидящего в шкафу, в скорлупе, в футляре, в шинели давно из-вестен. Некий укрытый, ушедший из мира сего человек подвала и ан-дреграунда, тайного подвижничества – укрытый от внешних взглядов труд души и духа. Как тот же Святой Иероним в пещере, куда, нако-нец, проглядывает возносящий его к небесам луч высшего произво-ления. Так же, наконец, дождался и своего часа вознесения на 22 этаж человек в шкафу за все свои страдания, муки, потерпленные от мира, как награда за необъявленные духовные подвиги. Соответственно, поручить это вознесение высшие силы не могли простым работни-кам подъема и перемещения простых физических и плотских тяже-стей на разные высоты и расстояния. Для них это был бы рутинный нефиксированный скудно или щедро оплачиваемый физический труд.

2 Popov, Evgenij: Duša patriota, ili različnye poslanija k Feričkinu. Moskau

1994, S. 177.

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Нет, высшим силам на то потребны непрофессиональные руки тех, для кого это, в свою очередь, стало бы подвигом и трудом не мышц, но души и духа.“3

Aufstieg

Das Bild des im Schrank, in einer Schale, im Futteral, im Mantel Sitzen-den ist seit Langem bekannt. Ein Mensch im Verborgenen, aus dieser Welt getreten, ein Kellermensch, ein Mensch des Untergrunds, ein Asket, den Blicken von außerhalb bleibt die Anstrengung von Geist und Seele verborgen. So wie der Heilige Hieronymus in der Höhle, wohin schließ-lich jener Strahl gelangt, der ihn zu den Himmeln höheren Willens er-heben soll. Genauso ist nun die Zeit des Aufstiegs in die 22. Etage für den Menschen im Schrank gekommen – als Lohn für alle seine Leiden und Qualen, die er von der Welt erdulden musste, der ihm nun für seine unerklärlichen geistigen Heldentaten zusteht. So konnten die höheren Gewalten diesen Aufstieg auch nicht einfachen Trägern oder anderen für die Verschiebung von einfachen physischen oder leiblichen Lasten in andere Höhenregionen oder Entfernungen Zuständigen anvertrauen. Für sie wäre das routinehafte, beliebige körperliche Arbeit – einerlei, wie gut oder schlecht bezahlt sie ist. Nein, die höheren Gewalten brauchten dafür die unprofessionellen Hände von solchen, für die ihrerseits diese Tätigkeit eine Heldentat nicht der Muskeln, sondern von Geist und Seele darstellt. (Übersetzung B.O.)

Prigov, Dmitrij Aleksandrovič: „Voznesenie“, in: www.prigov.ru (letzer Zu-griff am 16. August 2010).

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Ich bedanke mich bei: Sabine Hänsgen, Holt Meyer und Georg Witte, die die Konferenz mitplanten, der Deutschen Forschungs-gemeinschaft, dem Peter Szondi Institut für Allgemeine und Ver-gleichende Literaturwissenschaft und Slawistik sowie dem Osteu-ropa-Institut an der FU Berlin, die die Finanzierung der Tagung sowie die Übersetzung der russischen Beiträge ermöglichten. Ernest Wichner, Leiter des Literaturhauses, hat der Tagung den Ka-minraum im Literaturhaus Fasanenstraße zur Verfügung gestellt.Erika Nagler hat das Layout dieses Buches angefertigt und wichti-ge Lektoratsarbeiten geleistet. Ihr gilt mein besonderer Dank auch dafür, dass sie noch nach Beendigung ihrer Anstellung als studenti-sche Hilfskraft an diesem Buch arbeitete!Aage A. Hansen-Löve hat das Erscheinen des Bandes als Sonder-band des Wiener Slawistischen Almanachs erst möglich gemacht.

Brigitte Obermayr, Berlin im August 2010

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PRIGOV, EIN PHäNOMENOLOGE DES VERSES

VON GEOrG WIttE

„Versform“ und „visuelle Poesie“

Gedichte sind lesbar – und sichtbar. Die „Versform“ ist nicht nur eine Frage der Metrik, sie ist eine Bedingung der visuellen Erscheinensweise des Gedichts, seiner Textur. Wir sind es ge-wohnt, Vers als Form in erster Linie als eine Frage der rhyth-mischen Organisation zu verstehen und dies primär unter dem Aspekt der Zeitordnung und Zeitdynamik der verbalen Sequenz zu betrachten. Es sind sequenzielle Deformationen, die den Vers von der Prosarede unterscheiden: syntaktische Inversionen, met- rische Überdeterminierungen, markierte Lautwiederholungen. Eine autonome visuelle Erscheinensqualität des Verses ist wenn, dann nur marginal konzeptualisiert. Der deutsche Terminus „Versform“ impliziert jedenfalls ausschließlich Fragen der rhyth-misch-metrischen Organisation der Sequenz. Und vice versa ten-diert die Literaturwissenschaft dazu, dem Schriftbild der Poesie, ihrer Faktur und Textur ein abgesondertes Terrain zuzuweisen. Dieses Terrain ist der „konkreten“ und „visuellen“ Poesie vorbe-halten, so als handle es sich um ein reservat der Sichtbarkeit des poetischen Textes. Ich werde, um zu einem erweiterten Begriff der Versform zu kommen, also zunächst den notwendigen kurzen Umweg über die visuelle Poesie nehmen müssen. Diese lässt sich in zwei Haupttypen unterscheiden: Texte, deren Schriftbild ikonischen charakter hat (das carmen figuratum in sämtlichen denkbaren Spielarten), und Texte mit mehrfach determinierten oder per-mutativen Buchstabenanordnungen (Anagramme, Proteusverse etc.). Im ersten Typ steht das Verhältnis von Bild und Schrift im Vordergrund, die Konkurrenz zweier Modi graphischer Visu-alität: des pikturalen und des notationellen Modus. Im zweiten

Prigov, ein Phänomenologe des Verses

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Typ geht es um die Möglichkeiten operativer Prozessualisierung notationeller Zeichen. Hier wird das Monopol einer phonogra-phisch-linearen Notationsmethode in Frage gestellt. Solche Irri-tationen eines lautsprachenzentrierten Notationsprinzips laufen auf verschiedenen Ebenen. Es können Mutationen sein, die inner-halb eines als solchen nicht negierten lautsprachennotierenden Schriftkonzepts verbleiben – Anagrammatik im weitesten Sinne des Wortes, inklusive spezifischer Genres wie Palindrom oder Akrostichon (wie etwa im Falle von Prigovs „Alphabeten“ [„Az-buki“]). Es können aber auch Notationen sein, die außerhalb eines solchen Konzepts liegen: durch Integration nicht verbal-sprachlicher Zeichensysteme, z.B. musikalischer oder mathema-tischer Notationen oder verschiedener Formen des Diagramms (man denke an die Notationshybriden des russischen Konstruk-tivisten A. N. Čičerin).Es ist kein Zufall, dass der Samizdat eine Blüte solcher Verfahren der visuellen Poesie war. Dafür gibt es mehrere Gründe. Zwei sei-en genannt:a) ein dezidierter Traditionsbezug des Samizdat zur poetischen Avantgarde, zu den Schriftexperimenten der Futuristen und Kon-struktivisten.b) ein idiosynkratisches Verhältnis der Samizdat-Autoren zur Problematik der Sichtbarkeit der Schrift. Denn der Samizdat ist, unter produktionsästhetischem Aspekt betrachtet, eine auf die Herstellung des Schriftartefakts besonders empfindlich ‚einge-stellte‘ Textpraxis. Unter literaturpragmatischem Aspekt betrach-tet, ist er eine künstlerische Praxis, die die ‚Unsichtbarkeit‘ der Schrift – als verbotene Schrift, als nicht öffentliche Schrift – viel-fältig umspielt und inszeniert. Aus diesen Kontexten heraus erklärt sich eine spezifische ästhe-tik der Textur, die D. A. Prigov und andere Autoren des Moskauer Konzeptualismus entwickelten. Hervorzuheben ist die Differenz zur Fakturästhetik der Avantgarde. Diese war stimulationistisch. In ihrer futuristischen Variante zielte sie, mit der gestischen Inten-sität der Handschrift oder der demonstrativ groben und ‚primiti-

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Georg Witte

ven‘ Form der Gravur, auf einen expressiven und synästhetischen Effekt. Der „Buchstabe als solcher“ war das aus seiner bloßen Funktionalität als Signifikant befreite, zu eigener sinnlicher Qua-lität gelangende Graphem. In der konstruktivistischen Variante stand die wahrnehmungstechnisch optimierte Einwirkungskraft der typographischen Konstellation im Zentrum. Die Schriftfak-tur der Konzeptualisten könnte man im Gegensatz dazu eher als eine anästhetische bezeichnen. Sie setzt auf Nichtprägnanz, auf

Abb. 1

Prigov, ein Phänomenologe des Verses

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Unschärfen des Schriftbilds und benutzt dazu die für die Text-produktion des Samizdat typische Schreibmaschinenschrift. Die Schreibmaschinenfakturen Prigovs versperren sich einer sinnli-chen Aufladung oder einem Hervorskulpturieren des Zeichens in seiner Singularität. Stattdessen bewirken sie dessen Verunkla-rung und Nivellierung. Effekte der Unschärfe und der Verschlie-rung treten an die Stelle von Prägnanzen. Das Schriftbild gewinnt keine virtuelle Plastizität, sondern es wird abgeflacht (Abb. 1).Es ist des Weiteren kein Zufall, dass das notationelle Paradigma der visuellen Poesie im Moskauer konzeptualistischen Samizdat gegenüber dem figurativ-pikturalen dominierte. Das hängt mit der primären Fokussierung des Konzeptualismus auf den Text als semiotisches Objekt zusammen. Nicht das Bildliche im Text ist das Thema konzeptualistischer Kunsttheorie, sondern das Textu-elle im Bild. Prigov hat das in seinem Essay Odna, slovesnaja, sto-rona, dela (Die eine, verbale Seite des Problems, 1991) pointiert:

Надо сказать, что как в свете исторической культурной перспек-тивы (клинопись, иероглифика, каллиграфия), так и в свете нашего нынешнего каждодневного обихода, т.е. немыслимого населения окружающего пространства вербальными текстами (лозунги, пла-каты, реклама, указатели, объявления, надписи на стенах, крышах, стеклах, дверях, майках, сумках, движущиеся тексты на всех видах транспорта, тексты манипулятивного свойства на всякого рода ко-робках, товарах и т.п.) обращение художников к словесному тексту как элементу визуальной изобразительности не представляет со-бой никакой неожиданности, при определенной префокусировке культурного зрения, произведенной поп-артом и революцией масс-медиа, заставившей взглянуть на весь окрестный мир, порожденный и порождаемый человеком на протяжении веков (многие пласты и реликты этой деятельности обнаруживаются среди нас уже в виде поведенческого ритуала или операциональных знаков культуры), взглянуть на этот мир так, как мы глядим на природу – то есть ис-точник, откуда художник может и должен черпать образы и матери-ал для своих произведений.1

1 Prigov, Dmitrij A.: Odna, slovesnaja, storona dela. Typoskript Moskau o.J. (Erstpublikation in Dekorativnoe iskusstvo 9 (1991), S. 10-12.

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Georg Witte

Man muss feststellen, dass sowohl im Lichte einer historisch-kultu-rellen Perspektive (Keilschrift, Hieroglyphen, Kalligrafie) als auch im Lichte unserer heutigen alltäglichen Erfahrung, d.h. einer unvor-stellbaren Kolonisierung des umgebenden raums mit verbalen Tex-ten (man denke an die Losungen, Plakate, reklame, Hinweisschilder, Ankündigungen, Aufschriften auf Wänden, Dächern, Fenstern, Türen, Hemden, Taschen, an die sich auf Verkehrsfahrzeugen aller Art bewe-genden Texte, an Texte manipulativer Art auf Verpackungen, Waren usw.), die Hinwendung der Künstler zum verbalen Text als einem Ele-ment der visuellen Darstellung keinerlei Überraschung hervorrufen kann, zumal im Kontext einer gewissen Umfokussierung des kulturel-len Blicks, hervorgerufen durch die Pop-Art und die revolution der Massenmedien, die uns zu einem anderen Blick auf die gesamte um-gebende, vom Menschen geschaffene und im Verlauf der Jahrhunderte weiter zu schaffende Welt zwang (viele Schichten und relikte dieses Schaffens erschienen unter unseren Bedingungen bereits als Verhal-tensrituale oder als operationale Zeichen der Kultur), zu einem Blick also auf diese Welt, wie er sonst auf die Natur geworfen wird – das heißt als auf eine Quelle, aus der der Künstler die Bilder und das Ma-terial für seine Werke schöpfen kann und muss.2

Diese Orientierung hängt in einer generelleren Perspektive, d.h. vor einem weiter gefassten Horizont der Kontextualisierung künstlerischer Sprachen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhun-derts, zweifellos mit einem strukturalistischen Generalbass der Epoche zusammen.Es gilt also, wenn wir im Folgenden die Versform zur Dominan-te einer Sichtbarkeit der Poesie erheben wollen, zunächst einem Missverständnis vorzubeugen, das in Verbindung mit dem Be-griff der visuellen Poesie entstehen könnte. Deren ästhetische Funktion wird üblicher Weise darin gesehen, dass das Sehen des Worts eine Eigenqualität bekommt und nicht mehr nur eine äs-thetisch irrelevante Wahrnehmungsbedingung für das Lesen des Worts ist. Prigov und den anderen Textbildkünstlern des Kon-

Prigov, Dmitrij A.: „Die eine, verbale Seite des Problems.“ In: Hirt, Günther / Wonders, Sascha (Hg.): Präprintium. Moskauer Bücher aus dem Samizdat. Bremen 1998, S. 112-114, hier: S. 113 (zuerst in Schreibheft 42, 1993, S. 102-104).

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zeptualismus geht es aber, wie bereits erwähnt, nicht um den „Buchstaben als solchen“. Visuelle Poesie ist bei Prigov weniger ein Exponieren der sichtbaren Präsenz und graphischen Eigen-wertigkeit des einzelnen Wortes, des einzelnen Buchstabens oder seiner einzelnen Linien. Was Prigov sichtbar macht, sind vielmehr Störungen einer Kohärenz und Autorität des Textes. Diese Form der ‚Textkritik‘ hat zwei zentrale Schauplätze. Der erste, für Prigov wie für andere Konzeptualisten, ist das Buch als kulturelles Institut, als Körper der Schrift und als Symbol für die Wahrheit und Ordnung des Textes. Die Gedichthefte Prigovs sind, in ihrem ganzen paratextuellen Overstatement, in ihrer Be-zeichnung als „Sammelbände“ („Sborniki“), in ihrer Ausstattung mit Vorworten, als eine Kontrafaktur des Buchs zu erfassen. Das gilt für alle Hefte, nicht nur für die, die Prigov als dinghafte Expo-nate, als Artefakte in einer ‚schlechten Mimesis‘ des Buchs kon-struierte. In letzteren wiederholt er ein- und denselben Text in den aufeinanderfolgenden Generationen von Schreibmaschinen-durchschlägen, bis hin zur kompletten Unleserlichkeit. Das Buch wird hier zur Maschine des Verschwindens der Schrift. Letzte Konsequenz sind die an allen vier Seiten zugehefteten „Textgrä-ber“ („grobiki“), die aus zerstörten – verbrannten, zerknickten, in Wasser aufgeweichten – Typoskriptblättern bestehen. Der zweite Schauplatz ist der Vers. Hierin liegt der aus meiner Sicht epochalste und exklusive Beitrag Prigovs zum Konzeptua-lismus. Dieser Aspekt soll hier zumindest in einer ersten Annähe-rung thematisiert werden.Prämisse meiner Überlegungen ist eine phänomenologische Qualität des dem Blick begegnenden Texts, die sowohl das in sei-ner Sichtbarkeit eigens exponierte Schriftartefakt der visuellen Poesie als auch den visuell scheinbar indifferenten und gleichgül-tigen Text des Gedichts in ein register stellt. Wenn ich also im Folgenden die Versform als die Sichtbarkeitsform der Poesie er-örtern werde, dann will ich damit einem poetologischen Partiku-larismus, der die Poesie als Versrede auf der einen Seite von der visuellen Poesie als Schriftbildexperiment auf der anderen Seite

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trennt, entgegenwirken. Es gibt, seit Gedichte aufgeschrieben werden, keine andere Poesie als visuelle Poesie.

Prigov als Wortschreiber

Dmitrij Prigov verstand sich als Produzent von Texten, die – als Gedichte – die exklusive Aura des poetischen Worts subvertierten. Er schrieb „Poesie nach der Poesie“, wie er sich in Gesprächen aus-zudrücken beliebte. Ich möchte im Folgenden untersuchen, wie Prigovs Inszenierung einer poetischen Graphomanie die Sichtbar-keit des Wortes zu ihrer Bedingung und zu ihrem Gegenstand hat.

Abb. 2

Prigov, ein Phänomenologe des Verses

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Die Graphomanie als Merkmal der literarischen Persönlichkeit D. A. Prigov wurde bislang vorwiegend unter dem Aspekt einer parodistischen Inszenierung sowjetischer Schriftindustrie gese-hen. Sie wurde verstanden als rollenspiel des Autors vor dem Hintergrund einer „Schizophrenie der sowjetischen Kultur“.3 Es gibt aber auch andere Begründungsmöglichkeiten. Man kann dem graphomanischen Dichter zum Beispiel eine medienästhe-tische Strategie unterstellen. Prigov ist ein Autor, der als ausge-bildeter plastischer Künstler, als Bildhauer, von der unhintergeh-baren Flächigkeit des Schriftträgers herausgefordert ist. Ein Foto zeigt ihn ‚hinter‘ seiner Schreibmaschine und ‚vor‘ einer Wand mit seinen Textgraphiken. Der Schreibtisch ist Ausstellungsflä-che für plastische Textobjekte (Abb. 2, 1977). Doch diese in der gesamten Ikonographie des Fotos thematisierte raumtiefe eines Schriftsteller-‚Ateliers‘ ist dysfunktional. Der Blick des Autors, der für den kurzen Moment der fotografischen Pose vom Blatt weg auf uns, die Betrachter des Fotos gerichtet ist, fällt zusam-men mit der Bewegung einer Selbstversteckung hinter der Appa-ratur der Schrift. Die momentane Illusion eines Durchbrechens der vierten Wand zwischen den Betrachtern des Fotos und der von diesem gezeigten Bühne wird entzaubert durch die Flächig-keit des gesamten Arrangements, in dem der Kopf des Dichters ein zweidimensionales Icon unter anderen ist.Der Multimedialist Prigov, der eine Symbiose aus Schriftsteller, Graphiker, Bildhauer und Installationskünstler verkörpert, findet im Auftrag der Graphie auf das Papier seine produktionsästheti-sche Urszene. Auf dem Blatt ist Prigov Versdichter, permutativer Textarrangeur, Bildhauer der „Monstren“, Architekt der Instal-lationen. Die Graphik ist virtuelle Plastik. Prigovs gezeichnete Monster (Abb. 3) und Gläser (Abb. 4) sind Medialisierungen ei-ner skulpturalen Plastizität unter den Bedingungen der Schrift, und nur unter diesen Bedingungen. Mit dem Glas verbindet sich der Assoziationshof des Gewölbten, der Schale, des zugleich

Tchouboukov-Pianca, Florence: Die Konzeptualisierung der Graphomanie in der russischsprachigen postmodernen Literatur. München 1995, S. 65-110.

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Abb. 3

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Abb. 4.1

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Abb. 4.2

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Abb. 4.3

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gerundeten und dünnen, geschlossenen und zerbrechlichen raums. Es evoziert die produktionsästhetische Phantasie eines alle Sinne, sowohl den blasenden Mund, das steuernde Auge als auch die formende Hand integrierenden Akts der Herstellung. Es ist ein halb magischer, halb industrieller Akt, der Gebilde her-vorbringt, deren unsicherer Formstatus unsere Aufmerksamkeit fesselt. Gläser und Monster sind sich darin ähnlich, dass sie Ge-stalten haben, die dadurch verwundern, dass sie überhaupt Fe-stigkeit gewinnen konnten, dass sie in einem Moment, für einen Moment, dem metamorphotischen Fluxus entspringen konnten.

Eine weitere Begründungsfigur der Graphomanie ist die Schreib-szene. Es sind Szenen, ausagierte Situationen, in denen Schrift in actu sichtbar wird. Poesie als Handlung macht die Performati-vität der Schrift, das Ereignis des Schreibens, zum Gegenstand ästhetischer Erfahrung. Nicht nur der stimmliche Vortrag ist poetische Performanz, sondern auch das Sichtbarwerden des Worts als Ereignis der poetischen Handlung. Was sich in der gra-phischen Prozedur ereignet, ist das Erscheinen eines Worts im doppelten, räumlichen und zeitlichen Sinne dieses Begriffs. Der räumliche Aspekt des Erscheinens impliziert eine Tiefendimen-sion des Hervortretens von etwas. Erscheinen funktioniert nicht unter ausschließlich zweidimensionalen, flächigen Bedingungen. Die zeitliche Dimension des Erscheinens bestimmt dessen Qua-lität als momentanes oder allmähliches Wahrnehmbarwerden. Die Dauer des Schreibakts wird zum Faktor einer poetischen Phänomenologie. Im Falle Prigovs handelt es sich um eine lange Dauer, um ein Entstehen des Worts aus der ausgedehnten, sich mit jedem Strich multiplizierenden, d.h. gerade nicht skizzenhaft verkürzten graphischen Prozedur. Beide Aspekte, der räumliche und der zeitliche, erklären die Vorliebe Prigovs für eine bestimmte, skulpturale Art von Text-objekten. Das sind zum Beispiel Dosen (Abb. 5), deren Inneres verschlossen und unzugänglich ist, während sie von außen mit beschriebenem Papier beklebt sind. Sie lassen eine Dialektik von

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Abb. 5