21
31 Geboren wurde ich Ende 1980. Man könnte meinen, ich habe zu dem vorgegebenen Thema wohl nichts zu sagen. Der Krieg ist lange vorbei, der Eiserne Vorhang wurde vor mehr als zwanzig Jahren niedergerissen, und die tschechisch- deutschen Beziehungen scheinen nicht schlechter zu sein als die Beziehungen der Tschechischen Republik zu unseren anderen Nachbarn, zu den anderen Ländern der Europäischen Union beziehungsweise zum Rest der Welt. Mit Deutschland verbinden uns mehr oder weniger gemeinsame Ziele, die Vision eines geeinigten Europas und offener Märkte. Als Angehörige der drien Nachkriegsgeneration sollte ich eigentlich über irgendwelche tschechisch-deutschen Beziehungen erst gar nicht nachdenken müssen. Ähnlich wie die meisten meiner Altersgenossen sollte ich zu dem Klotz am Bein, den die Gene- ration unserer Großeltern in Form von unterdrückten oder ab und zu auch freigelassenen Emotionen mit sich schleppt, abwinken und mir einfach sagen, dass sie den Klotz selbst an ihren Beinen festhalten und es mir egal sein könnte. Ähn- lich wie die meisten anderen Anfang-Vierziger sollte ich mich eigentlich eher nach einer araktiveren Zukunſtstätigkeit Kateřina Tučková Mein Brünner Sudetenland

Brünner Todesmarsches

Embed Size (px)

DESCRIPTION

Errinerungswege

Citation preview

Page 1: Brünner Todesmarsches

31

Geboren wurde ich Ende 1980. Man könnte meinen, ich habe zu dem vorgegebenen Thema wohl nichts zu sagen.

Der Krieg ist lange vorbei, der Eiserne Vorhang wurde vor mehr als zwanzig Jahren niedergerissen, und die tschechisch-deutschen Beziehungen scheinen nicht schlechter zu sein als die Beziehungen der Tschechischen Republik zu unseren anderen Nachbarn, zu den anderen Ländern der Europäischen Union beziehungsweise zum Rest der Welt. Mit Deutschland verbinden uns mehr oder weniger gemeinsame Ziele, die Vision eines geeinigten Europas und off ener Märkte. Als Angehörige der dritt en Nachkriegsgeneration sollte ich eigentlich über irgendwelche tschechisch-deutschen Beziehungen erst gar nicht nachdenken müssen. Ähnlich wie die meisten meiner Altersgenossen sollte ich zu dem Klotz am Bein, den die Gene-ration unserer Großeltern in Form von unterdrückten oder ab und zu auch freigelassenen Emotionen mit sich schleppt, abwinken und mir einfach sagen, dass sie den Klotz selbst an ihren Beinen festhalten und es mir egal sein könnte. Ähn-lich wie die meisten anderen Anfang-Vierziger sollte ich mich eigentlich eher nach einer att raktiveren Zukunft stätigkeit

Kateřina Tučková

Mein Brünner Sudetenland

Page 2: Brünner Todesmarsches

32

umsehen und für mich eine lukrative Stelle bei einer freigiebigen multinationalen — am besten bei einer deuts-chen — Gesellschaft ergatt ern, um nach und nach das Ruder aus den Händen meines Vorgesetzten zu übernehmen, nach dem er im Wasser des Flusses der Generationen untergegangen sein würde .

Irgendwie so sollte jetzt mein Leben aussehen, und trotz-dem sieht es doch anders aus. Vor zehn Jahren bin ich in ein Viertel gezogen, um welches jeder anständige Brünner einen breiten Bogen gemacht hätt e — und gerade diese Tatsache wurde zu einem der wichtigsten Momente meines bisherigen Lebens. Sie hatt e mir die Augen geöff net, denen sich wie durch einen Zauberstab die Vergangenheit off enbarte. Sie wandelte durch die Etagen unseres Hauses, sie marschierte unter den Fenstern meiner Wohnung, sie lungerte an den Straßenecken herum — in Geschichten dreier Nachkriegsgenerationen, als wäre sie immer noch lebendig.

Doch beginnen wir von vorn… Meine Wohnung ist Teil eines Hauses, das im Herzen des

Stadtviertels Brno-Zábrdovice (Brünn-Obrowitz) steht, welches wiederum im nördlichen Teil dicht an den historischen Stadt-kern anknüpft . Das Zentrum aller Obrowitzer Quartiere wird wie ein Dreieck von den Straßen Koliště, Cejl und Francouzská fl ankiert, zwischen denen die Bratislavská-Straße verläuft . Und gerade dort, wo aus der Bratislavská die Hvězdová-Gasse abzweigt, wohne ich nun. In einem vormals luxuriösen Stadt-teil, in dem die schönen Gründerzeit- und Jugendstilhäuser mit reich geschmückten Fronten in die Höhe von vier oder gar fünf Stockwerken ragen, unter die sich in den 1920er und 1930er Jahren die Mietshäuser der Moderne hineingezwängt hatt en, deren puristische Einfachheit scharf mit der sie umgeben-den heiteren Üppigkeit kontrastiert. Reiche Bürger ließen hier

Page 3: Brünner Todesmarsches

33

diese Häuser errichten, die Villen, in denen sie lebten, bauten sie nur einige zig Meter weiter, hinterm Berg, in dem leiseren und noch luxuriöseren Viertel Černá Pole (Schwarze Felder). Vor allem die Villa der Familie Tugendhat, als berühmtes archi-tektonisches Denkmal in die UNESCO-Welterbeliste aufge-nommen, zieht unter den hiesigen Villen die Aufmerksamkeit besonders an.

Die Bratislavská-Straße ist lang, breit und gerade, im Raster der asymmetrisch hin- und herlaufenden Gassen von Zábr-dovice liegt sie schnurstracks, als hätt e man dort mit einer Peitsche eingeschlagen. Auch zu Zeiten der ersten Tschecho-slowakischen Republik, als auf ihr jüdische, deutsche sowie tschechische Familien spazierten, hätt e keiner sie anders als mit ihrem alten Namen Preßburger Straße genannt. Damals promenierten entlang der Straße reichere Bürgerfamilien, die anschließend das angesagte Café Esplanade aufsuchten, das Haus der Künste oder beispielweise die nahgelegene Staatsoper ansteuern konnten. In dieser Straße und dem gesamten Viertel pulsierte, kurz gesagt, einstmals das Leben, so dass der Rest Brünns danach nur so schielte. So ging es bis zu den Krieg-sjahren, als aus einigen Wohnungen innerhalb von wenigen Wochen ganze Familien verschwanden, an deren Schicksale heute lediglich etliche zwischen den Gehwegpfl astersteinen eingesetzte Messingtäfelchen erinnern. Vor dem Haus Brati-slavská-Str. Nr. 2: Hier lebte Louis Zeisel, geb. 1880, Lina Zei-selová, geb. Rothschildová, geb. 1891, 1942 nach Theresienstadt deportiert, in Izbica ermordet. Vor dem Haus Bratislavská-Str. Nr. 67: Hier lebte Berthold Oppenheim, geb. 1878, Marta Oppenheim, geb. 1896 und Margit Oppenheim, geb. 1934, 1942 nach Theresienstadt deportiert, in Auschwitz ermordet… Und ähnliche Worte fi ndet man auch auf den anderen Täfelchen. Diese Täfelchen sind von alten Kaugummis verschmiert,

Page 4: Brünner Todesmarsches

34

mit Schlamm und Zigarett enkippen zugedeckt, manchmal in Pfützen versunken, ich habe sie erst nach Jahren bemerkt, als ich schon lange meinen Wohnort in diesem Viertel hatt e, auch wenn ich auf ihnen Tag für Tag gegangen bin. Der Ort für ein pietätsvolles Gedenken an die Schicksale dieser Leute hatt e man wirklich nicht mit Vorbedacht gewählt. Trotzdem ist es letzten Endes wichtig, dass es dort die Täfelchen über-haupt gibt, die Vorbeigehende an das tragische Los der Fami-lien erinnern, in deren Wohnungen bereits einige Tage nach deren Abtransport neue deutsche Familien reinrutschten.

Wir wissen auch, dass Ende Mai 1945 in diese und andere prächtige Wohnungen zwischen den Straßen Cejl und Fran-couzská „unterdrückte gerechte“, sprich tschechische Brünner eingedrungen sind, um sich diese mit von den ehemaligen Eigentümern noch warmen Federdecken anzueignen — inne-rhalb einer kurzen Zeit hieß es wieder „Taler, Taler, du musst wandern“. Die ehemaligen Bewohner traten noch des Nachts ihren zumeist letzten tschechischen Weg an. Und viele der „Gerechten“ haben sie auf diesem Weg in der Rolle der Aufpas-ser begleitet — es handelte sich dabei hauptsächlich um die Arbeiter der unweit gelegenen Waff enfabrik, die den ganzen Krieg lang ohne eine einzige Sabotageaktion Waff en für die Wehrmacht herstellten, überdurchschnitt lich viele Essens- und Kleidermarken bezogen, einen Anspruch auf verdienten Urlaub hatt en. Und während diese Männer mit den Waff en der Revolutionsgarden über den Köpfen der unvollständi-gen deutschen Familien schwangen, die ohne jegliche Un-terscheidung oder Prüfung auf die Straße geführt und zum heutigen Mendlplatz getrieben wurden, haben ihre Frauen und Verwandten Wohnungen besetzt, welche mit von ihnen noch nie gesehenen Teppichen, Porzellanservices und Glaslüs-tern ausgestatt et waren. Angeblich haben sie dort nicht nur

Page 5: Brünner Todesmarsches

35

Besitztümer vorgefunden. Die Erinnerungen der Augenzeu-gen, die diese Nacht und viele nachfolgende qualvolle Nächte im Frühjahr und Sommer 1945 überlebt hatt en und sich mit ihren Geschichten dem Band Němci ven! Die Deutschen raus! anvertrauten, kehren in diesem Buch zu denjenigen zurück, die sich entschlossen hatt en, in ihren Wohnungen zu bleiben. Ob sie nun aus Stolz blieben oder durch ihre Ohnmacht zum Bleiben verdammt waren — sie wählten lieber freiwillig, aus dem Leben zu scheiden, anstatt zu einer Reise aufzubrechen, die sie womöglich rein körperlich nicht verkraft et hätt en und an deren Ende sowieso der Tod lauern könnte, denn wer sollte schon wissen, wohin er von den Waff enfabrikarbeitern geführt würde?. So hatt en sie den neuen Eigentümern zusammen mit ihrem Besitz auch ihren Körper überlassen.

Unzählige andere aus dem fast zwanzigtausend Seelen zählenden Tross, der in den Nachtstunden auf dem heutigen Mendlplatz versammelt wurde, ließen ihre Körper weitere fünfundzwanzig Kilometer entfernt in das Massengrab hinter Pohrlitz fallen.

Die Opferzahl des Pohrlitzer “Todesmarsches“, wie man ihn später nannte, hat lange Zeit Emotionen auf beiden Sei-ten geschürt und das verhindert, was man als Ausgleich der tschechisch-deutschen Beziehungen zu bezeichnen pfl egt. In der gesamten Zeit, als bei uns die Kommunisten an der Macht waren, hatt e man die Frage nach den Opfern bagatel-lisiert, indem man von drei gewaltsam getöteten Personen und einigen zig solcher Toten sprach, die der Typhus- und Ruhrepidemie infolge schlechter hygienischer Bedingungen im Pohrlitzer Lager zum Opfer gefallen sind. Die Gegenseite ist allerdings von einer Zahl ausgegangen, nach der es ungefähr zehntausend Opfer gegeben haben soll. Eine Version, der beide Seiten zustimmen konnten, musste man sehr lange suchen.

Page 6: Brünner Todesmarsches

36

Auf das Denkmal in der Gestalt eines Eisernen Kreuzes, das vom Österreichischen schwarzen Kreuz mit Unterstützung von der Bruna aufgestellt worden ist, wurde die Ziff er von 890 Opfern geprägt, die auf dem Feld dahinter begraben liegen. Spä-tere Forschungen haben diese Summe der Toten zwar bezwei-felt, doch die letzten seriösen Studien des Historikers Tomáš Staněk arbeiten mit einer noch höheren Ziff er: danach soll es 1.691 Opfer gegeben haben, die beiderseits der Grenze starben, sowohl auf der tschechischen als auch auf der österreichischen Seite, und zwar unmitt elbar im Verlauf des Marsches. Staněk gibt allerdings an, dass die Zahl weder genau noch endgültig sein muss — nach mehr als sechzig Jahren ist es nämlich kaum möglich zu ermitt eln, wie viele Menschen an den Folgen des Marsches in den folgenden Tagen und Wochen gestorben sind, als sich diese Leute in österreichischen Dörfern verstreut oder Wien erreicht hatt en. Die Augenzeugen sprechen dazu von leblosen Körpern, die in die Straßengräben geschoben wurden, von ins Feld geworfenen Neugeborenen, von Opfern, die keine Statistik nach so vielen Jahren der Tabuisierung der Ereignisse erfassen konnte.

Aber wer alles war unter den Opfern? Es waren überwiegend diejenigen, die den Eindruck hatt en, dass sie keine Angst zu haben brauchten. Familien, die beschlossen hatt en, in Brünn zu bleiben, obwohl sich die Front den Brünner Vorstädten näherte. Es ging um fast dreißigtausend Menschen aus der vormals sechzigtausend Angehörige zählenden deutschen Minderheit Brünns. Sie sind nicht gegangen, weil sie davon überzeugt waren, dass ihnen nichts Schlechtes geschieht, dass sie sich im Krieg nicht schuldig gemacht haben. Sie haben ein-fach gedacht, dass sich nur das Regime ändern wird. Und sie blieben relativ ruhig, auch als man arbeitsfähige Männer aus diesen Familien in Arbeitskonzentrationslager ins Kaunitzer

Page 7: Brünner Todesmarsches

37

Kolleg, nach Malomeritz oder Klajdovka gebracht hatt e. In den Wohnungen waren somit in der Nacht vom 30. auf den 31. Mai 1945 größtenteils Frauen, Kinder und alte oder arbeitsunfähige Menschen verblieben.

Beim wiederholten Lesen meiner obigen Zeilen kann ich das Gefühl nicht loswerden, dass da etwas Unverhältnismäßi-ges geschehen ist. Das Bild macht einen so pathetischen Ein-druck — zig Frauen, Kinder und Greise werden nach zehn Uhr nachts von einer Horde von Arbeitern aus ihren Wohnungen gezerrt, die danach trachtet, so die Schande für ihre eigene Kollaboration von sich zu weisen oder noch schlimmer — von der Gier nach einem besseren Wohlleben getrieben wird und dabei Gewalt nicht scheut. Verstörtes Durcheinander, hastige Suche nach Kleinigkeiten, die man laut der am selben Tage von der neuen Brünner Verwaltung bekanntgegebenen Verord-nung mitnehmen durft e, Angst. Sollte ich eine ausgedachte Story über die Abschiebung Hunderter, ja Tausender von Leu-ten aus ihren Wohnstätt en schreiben, würde ich diese Szenen auslassen. Zu aufdringlich würden sie bei den Lesern Mitleid erwecken.

Genau so aber hat es sich zugetragen. Doch das habe ich erst später erfahren. Erst, nachdem ich

danach forschte, warum dieses vormals so prachtvolle Vier-tel, das zu meinem neuen Zuhause wurde, sämtlichen Glanz verloren hat. Wieso ähnelt die berühmte und damals so oft fotografi erte Preßburger Straße, an deren Ende wie ein zum Imperativ aufgerichteter Zeigefi nger der Sankt-Jakobs-Turm ragt, und hinter der man die Rundung der Burg Spielberg erblicken kann, heute einer faltigen Lippenkontur mit aus-gebrochenen Zähnen leerer Parzellen? Warum haben die ein-sam stehenden Gründerzeithäuser ihre Würde verloren, wieso blätt ern von den Fassaden der Jugendstilhäuser die üppigen

Page 8: Brünner Todesmarsches

38

Girlanden ab und weshalb müssen sich die Masken, die die Rampen unter den Dächern säumen, nur mit einem halben Gesicht zufriedengeben? Und warum wurde ausgerechnet die-ses Stadtviertel zum Rückzugsort der Roma, durchwoben von einem feinen Netz aus Pfandhäusern, Spielotheken und Non-Stopp-Bars, weswegen sie im heutigen Brno in jedermanns Mund die Bronx heißt.

Es hat einige Zeit gedauert, bis ich Zeitzeugen gefunden habe, die in diesem Viertel bereits zu Kriegszeiten wohnten und hier auch danach, bis jetzt, geblieben sind. Und es hat einige Zeit gedauert, bis es mir gelungen ist, ihr Vertrauen dermaßen zu gewinnen, dass sie mir ihre Erlebnisse aus dem Krieg sowie den Tagen danach off enbaren, die sie doch lieber vergessen wollten.

Einen solchen Mann habe ich trotzen fi nden und über-zeugen können. Wir trafen uns im Restaurant U Aliho, ein paar Meter von der Bratislavská-Straße entfernt, in einem äußerst merkwürdigen Country-Club, dessen Wände mit Holz verkleidet und von Lederhüten, Strohsombreros und Pferdefo-tos gesäumt waren. Das Restaurant war, zugegebenermaßen überraschend, von einem anständigen Araber geführt, der den Alkohol nicht scheute. Mein Zeitzeuge fühlte sich dort wie zu Hause und vergaß nicht anzumerken, dass dies das einzige anständige Lokal sei, wohin man sich in diesem Viertel zurückziehen kann. Ich zögerte keinen Augenblick und fragte ihn, warum dem so sei. Deswegen bin ich doch hierhergekom-men!

Die Geschichte setzte sich völlig einfach und natürlich von dem Zeitpunkt an fort, an dem wir sie ein paar Absätze höher unterbrochen haben.

Aus dem berühmten Stadtt eil reicher Bürger wurde Ende Mai 1945 von einem Tag auf den anderen das Viertel

Page 9: Brünner Todesmarsches

39

der Arbeiter mit schlechtem Gewissen. Mit dem gewonnen Eigentum und dessen Umgebung sind sie so umgegangen, wie man mit Sachen umgeht, die einem ohne jegliche Mühe in den Schoß fallen. Sie sind damit so umgegangen, wie wir es aus den Erzählungen über die Sudeten kennen, in denen die Bauernhäuser in ursprünglich deutschen Dörfern von Leuten besetzt wurden, die wer weiß woher und mit wer weiß welchen Absichten gekommen sind.

Und sie haben sie gleich wieder verlassen, nachdem die Nachkriegskrise vorbei war und im Lande nach den 50er Jahren ein Arbeiterparadies im Entstehen war. An Brünner Peripherien wuchsen allmählich neue Wohngebiete mit Plat-tenbauten, in denen es nicht nur einen Aufzug, sondern auch eine Zentralheizung und viele andere Errungenschaft en gab. Alte Mietshäuser konnten mit ihnen nicht konkurrieren, so dass viele Arbeiterkader dank der Angebote ihrer Betriebe wieder ein Haus weiter zogen. Die Stadt beschloss danach, in diese somit freigewordenen Wohnungen die Roma anzusie-deln, welche hierhin im Einklang mit der damaligen Politik der Zerstreuung und Ansiedlung der Herumtreiber in dauer-haft en Wohnorten sogar aus der östlichen Slowakei umge-siedelt wurden. In den 1990ern haben diese den Rest ihrer Familie zu sich geholt und das heutige Aussehen des einst prachtvollen Teils von Obrowitz war somit besiegelt. Anstelle der im Sonntagskleid promenierenden Familien bietet sich heutzutage in den Straßen von Zábrdovice ein ziemlich un-terschiedliches Bild: brennende Feuer am späten Nachmitt ag, aus off enen Fenstern herausquellende elektronische Musik, Lokale mit zugeklebten Auslagen, damit keiner hineinschauen kann, vor denen teure Autos stehen und in denen mit schweren Goldkett en behängte Fahrer sitzen. Oder zum Beispiel eine Rauferei um die Zigeunerbraut, die vor einem Jahr den Verkehr

Page 10: Brünner Todesmarsches

40

auf dem Cejl zum Erliegen brachte, sowie einige abgewohnte und ausgebrannte Häuser, die versiegelt zwischen den einst ausgebombten Parzellen oder bereits erwähnten Überres-ten der Gründerzeit- und Jugendstilhäuser stehen. An einer Fassade blätt ert bis heute der Schrift zug Mährische Spiegelin-dustrie vor sich hin, an manchen anderen sind immer noch kleine, während der Befreiung von verirrten Geschossen ent-standene Einschusslöcher zu fi nden.

Was soll s, ich fand diese lässige Atmosphäre in der Zeit, als in im Viertel meine Wohnung gefunden habe, att raktiv. Und dieser Eindruck bleibt. Ich gelte dort als die Frau, die den kleinen Bett lern ab und zu einen Groschen zusteckt, und die auf das Jauchzen der Nachbarinnen (oder öft er der Nachbarn) mit einem, wenn auch meistens leicht schockierten Lächeln reagiert. Ich gelte hier als die Frau, die manchmal ins Museum der Kultur der Roma an der Straßenecke geht, wo das Museum ein Café mit ausgezeichnetem Kaff e und hervorragendem Per-sonal betreibt; vor allen Dingen gehe ich wegen der einzigarti-gen Ausstellung und dem Programm hin. Dessen ungeachtet bin ich aber auch die Frau, die den rasanten Wandel dieser Gegend wahrnimmt.

„Und dabei waren die Deutschen, die hier vor und während des Krieges lebten, oft mals ganz anständige Menschen! Unweit von hier lebte etwa ein Metzger, und der hatt e zum Kriegsende den größten und angeblich auch sichersten Bunker in Brünn erbaut. Während der Luft angriff e ließ er dann alle herein, Tschechen und Deutsche, ging es doch ums Leben. Da war die Politik für eine Weile nicht mehr wichtig. Aber bei einem Angriff wurde das Haus direkt getroff en, und dessen Betondecke hatt e dort fast achtzig Menschen, darunter auch ihn, begraben“, behauptete mein Augenzeuge in der Kneipe U Aliho.

Page 11: Brünner Todesmarsches

41

Wäre er dabei nicht gestorben und wäre er in stürmis-cher Wut der Arbeiter in der Nacht des 30. Mai 1945 statt -dessen abgeschoben worden, hätt e man zu seiner Ehre kein Messingtäfelchen in den Gehweg gesetzt, fi el mir ein. Nicht einmal zu Ehren solcher Menschen wie einer meiner weiteren Zeitzeugen, die mir erzählt und berichtet haben — zu Ehren der Marie Schrimpelová, die als eine der wenigen keine Angst hatt e, mit mir off en zu reden, ohne mich darum zu bitt en, ihren Namen wegen ihrer heutigen Brünner Nachbarn zu ano-nymisieren, da die keine Ahnung haben, dass sie deutscher Herkunft ist. Sie war sogar so aufgeschlossen, dass sie ihren Namen und ihre Abbildung auch im Dokumentarfi lm Also los Gerta veröff entlichen ließ, den wir zusammen gedreht haben, um die Erzählungen der letzten noch lebenden Zeitzeugen der Brünner Abschiebung sowie deren persönliche Refl exion dieser Ereignisse aufzuzeichnen.

Das Schicksal von Frau Schrimpelová war wie bei den meis-ten ihrer Zeitgenossen bewegt. Mit sieben Jahren wurde sie in der bereits erwähnten Nacht des Jahres 1945 zusammen mit ihrer Mutt er vertrieben, von der sie dann im Verlauf des Marsches für lange Jahre getrennt wurde. Ihre tschechische Verwandte konnte sie aus dem Marsch zu sich holen und sie dann in Brünn wie ihr eigenes Kind großziehen. Noch lange nach dem Krieg wollte die Befürchtung sie jedoch nicht loslas-sen, dass jemand die deutsche Herkunft von Frau Schrimpe-lová enthüllen könnte und sie dann deswegen benachteili-gen würde. Ein solches Gefühl ist nach der Aussage von Frau Schrimpelová auch heute keineswegs eine Ausnahme bei vie-len ihrer Freunde, mit denen sie sich im Rahmen des Brünner Deutschen Sprach- und Kulturvereins triff t. Das Schuldgefühl aus dem Grund, dass sie aus deutschen Familien kommen, hat sie bisher nicht verlassen. So wie auch die durch schlechte

Page 12: Brünner Todesmarsches

42

Erfahrungen genährte Angst, dass sie von manchen mit schee-lem Blick angesehen werden könnten — falls es nicht schlim-mer kommt. Darum haben sie bis heute ein ambivalentes Verhältnis zu ihrer Herkunft .

Nach ersten Gesprächen mit den Zeitzeugen hat mich der Gedanke an die Geschehnisse der Nacht vom 30. auf den 31. Mai 1945 stets verfolgt. Die Vorstellung einer Nacht, in der die Frauen mit ihren Kindern nervös durch die Wo-hnung stampfen, aus der sie in wenigen Augenblicken von tollwütigen Arbeitern der Waff enfabrik herausgezerrt und ins Unbekannte getrieben werden. Die Vorstellung einer Nacht, in der alte Leute vor Angst zitt ern bei dem Gedanken, was sie wohl in der nächsten Zukunft erwarten mag und ob es nicht sogar dazu kommt, dass sie ihren eigen Kindern lästig werden. Die Vorstellung jener Nacht, in der diese Menschen für die Kriegsverbrechen anderer zur Verantwortung gezogen und zu Opfern einer kollektiven Schuldzuweisung gemacht werden. Oder war es doch anders? Konnten diese Menschen vielleicht andere Scheußlichkeiten begehen, als ihre Kinder zum Bund deutscher Mädchen oder zur Hitlerjugend zu schicken, Hit-ler auf dem Friedensplatz willkommen zu heißen oder ein grünes Dirndl zu tragen? Und wenn sie schon irgendwelche Unmenschlichkeiten begangen haben, wieso sind sie nicht lieber gefl ohen, ehe sie von der Front eingeholt würden, wie das die anderen dreißigtausend Brünner Deutschen taten?

Aufgrund der immer wiederkehrenden Vorstellung dieser Nacht sowie der Tatsache, wie ihr Vermächtnis in den Straßen von Zábrdovice auch mehr als sechzig Jahre danach sicht-bar ist, erwies es sich für mich bei meiner Arbeit am Roman Vyhnání Gerty Schnirch (Die Vertreibung der Gerta Schnirch) als nicht sonderlich schwierig, mich in die Gedanken der jungen Mutt er einzufühlen, die mit ihrer erst einige Monate alten

Page 13: Brünner Todesmarsches

43

Tochter im Kinderwagen nachts aus der Stadt vertrieben wird. Schließlich hatt e ich die Korrespondenz einer tatsächlichen Teilnehmerin an dem Marsch zur Verfügung, die Briefe einer Frau und Mutt er, die diese Nacht, so wie in meinem Buch geschildert, erlebt hatt e. Aus den Briefen, die sie im Laufe der darauf folgenden Jahre schrieb, geht hervor, unter welchen Gefühlen der Schuld, des Verderbens und Unrechts sie gelit-ten haben muss. Sie hatt e sich verzweifelt an das Verrichten basaler Bedürfnisse und die Sorge für ihr Kind geklammert, was sie in ihrer tiefen Depression am Leben hielt.

Und an dieser Stelle höre ich die Stimmen derer, die mir schreiben, mich anrufen, die meine literarischen Auft ritt e besuchen und mich beschimpfen oder mich im Handumdrehen dafür verdammen, weil ich den Mut habe von der Vergangen-heit zu reden, von der ich doch als Jahrgang 1980 nichts wis-sen kann, da ich sie nicht erlebt habe. Dafür, dass ich aus der Stellung einer Unwissenden heraus den Terror, mit dem die deutschen Besatzer das tschechische Volk umzingelten, nicht ernst nehme oder bagatellisiere. Dafür, dass ich für die Feinde (noch heute!) aufstehe und mir widerlich Asche auf den Kopf schütt e, wo es gar nicht Not tut, sich zu entschuldigen — haben uns die Deutschen während der Okkupation im Protektorat etwa nicht mehr Schaden zugefügt und mehr menschliches Leben vernichtet, als wir es doch indirekt im Laufe der im Grunde begreifb aren Vertreibung getan haben? Und letzten Endes, ob ich das alles eigentlich nicht deswegen mache, weil ich von der Gegenseite bezahlt werde?

Kurzum — nein, mache ich nicht. Den Roman Vyhnání Gerty Schnirch habe ich geschrieben, da mich die Schicksale deutscher Frauen faszinierten, die in dem Viertel wohnten, durch das ich heute spaziere. Ich habe ihn geschrieben, weil ich nicht aus dem Staunen herauskam, wie sehr doch die

Page 14: Brünner Todesmarsches

44

Folgen einer Mainacht, die sich vor mehr als sechzig Jahren zugetragen hat, auch in meine Gegenwart hineintreten. Und auch deswegen, weil ich glaube, dass diesen Frauen, ihren Kindern und den alten Menschen, die in jener Nacht in ihren Wohnungen auf ihr weiteres Schicksal warteten, Unrecht geschehen ist.

Und ich habe keineswegs das Gefühl, dabei den Druck der Besatzungszeit zu bagatellisieren oder ihre tschechis-chen Opfer zu verachten. Ich habe nicht den Eindruck, die Schwere des Leidens einer Gruppe von Menschen dadurch zu schmälern, dass ich das Los anderer ins Scheinwerferlicht stelle. Und ich bin ebenso der Ansicht, dass man das begangene Unrecht nicht durch Unrecht an anderen wiedergutmachen kann. So wie es dem Vorbild meiner Romanheldin Gerta Schni-rch und vielen anderen nur aus dem Grunde widerfahren ist, dass sie als Deutsche geboren wurden oder sogar häufi g in gemischten Ehen zur Welt gekommen sind, die für Brünn so typisch waren.

Und ich bin in meiner Generation zum Glück nicht die Einzige, der die Vergeltung an Brünner Deutschen unverhält-nismäßig vorkommt.

2000 ist in Brünn eine von den Studenten der Fakultät für soziale Studien der Masaryk-Universität sowie von deren Mitstreitern getragene bürgerrechtliche Initiative gegründet worden, deren Protagonisten sich Jugend für interkulturelle Verständigung (Mládež pro interkulturní porozumění, MIP) nennen. Sie haben den Magistrat der Stadt Brünn aufgefor-dert, sich bei den Brünner Deutschen für die Abschiebung von 1945 zu entschuldigen. Sie bestanden darauf, dass es sich um einen Akt der Gewalt handelte, bei dem sich keiner die Mühe gab, die eventuelle Schuld einzelner Opfer der Abschiebung zu berücksichtigen. Das Brünner Rathaus hat ein Expertenteam

Page 15: Brünner Todesmarsches

45

aufgestellt, das die gesamten Vorgänge objektiv beurteilen und eine historische Analyse einschließlich eines Berichts erarbeiten sollte, auf deren Grundlage die Vertreter der Stadt zu der ganzen Causa ihre offi zielle Stellungnahme abgeben wollten. Das Ergebnis war trist. Die Kommission hat die Ent-schuldigung nicht empfohlen, da angeblich nicht klar war, wer sich bei wem zu entschuldigen habe. Indessen hat sie empfoh-len, ein Bedauern anlässlich der Ereignisse zum Ausdruck zu bringen, die Ende Mai 1945 den Brünner Deutschen wider-fahren sind.

Auf der Internetseite htt p://www.radio.cz/cz/rubrika/uda-losti/politovani-nad-odsunem-nemcu-z-brna ist der Wortlaut dieses Bedauerns bis heute zu lesen: Die Stadt Brno bedauert alle Mitbürger sehr, die in dieser Zeit ungerechterweise gelitt en haben und Brno unter tragischen Umständen verlassen mussten. Wir bedauern, dass Zehntausende von tschechischen, jüdischen, deutschen, Roma- und anderen Mitbürgern nicht mehr unter uns leben. Alle diese Menschen haben die Stadt Brno in ihrer kulturellen, religiösen, ideellen und nationalen Vielfalt gebildet. Ihr Verlust ist ein Verlust für uns alle. Deshalb bedauern wir auch die deutschen Mitbürger, die Brno gezwungenermaßen 1945 verlassen mussten.

Der damalige Stadtrat und vor allem der Leiter der Arbeits-gruppe, welche die Umstände der Abschiebung untersuchte, Herr Jiří Löv, hat sich dazu am Schluss noch wie folgt ein-gelassen: „Die Zeit nach dem Krieg ist schon so lange her, dass möglicherweise bereits alle Animositäten abgeklungen sind und wir uns damit rational abfi nden können.“

Ich weiß nicht, ich sehe das anders. Bei einer oberfl ächlichen Inaugenscheinnahme der Tatsachen könnte man sagen, dass dem so sei. Aus der supranationalen Sichtweise gibt es hier die schon genannten gemeinsamen europäischen Ziele, und konkret

Page 16: Brünner Todesmarsches

46

in meinem persönlichen Fall habe ich immer das Glück gehabt, bei meiner Zusammenarbeit mit deutschen Künstlern oder Insti-tutionen stets mit freundlicher Umgänglichkeit in Berührung gekommen zu sein, die vom Bemühen um Kooperation moti-viert war. Nichts hat uns junge Enthusiasten der internationalen künstlerischen Zusammenarbeit dazu gezwungen, uns mit der Vergangenheit zu befassen. Doch haben wir dies auch einiger-maßen mit Absicht vermieden — wir wollten etwaige Gespräche über die Erfahrungen unserer Eltern und Großeltern von uns fernhalten.

Aber in der Gesamtheit, die das umfasst, was wir unter dem Begriff tschechisch-deutsche Beziehungen kennen, spielen weit mehr Faktoren und persönliche Erfahrungen eine Rolle. Bei einer tiefgreifenden, detaillierten Betrachtung stellen wir fest, dass dieser Begriff auch Hunderte von Menschen umfasst, die von Erinnerungen belastet werden, die keine Erleichterung fanden. Dies hatt e sich mir mehrmals bei Gesprächen mit deutschen Zeitzeugen bestätigt, denen es nach der Maiabschiebung „gelun-gen“ war, nach Brünn zurückzukehren. An ihrem Lebensabend, nach dem mit ihnen umgegangen worden ist, als hätt en sie ein Verbrechen begangen, hätt e zum Beispiel auch eine offi zielle Entschuldigung der Stadt eine durch nichts ersetzbare Rolle spielen können. Hätt e man sich entschuldigt, wäre ihnen die Last der vermeintlichen Schuld abgenommen gewesen, die auf ihnen aufgrund der Bestrafung lastete, auch wenn sie sich nichts hatt en zu Schulden kommen lassen. Und auch in den Gesprächen mit den Zeitzeugen, die auf die andere Seite der Grenze gerieten, mit denen, die ihr neues Zuhause in Österreich oder in Bayern fanden, kann man bis heute Verbitt erung spüren. Denn aus der Sicht ihrer neuen Nachbarn waren sie es, die unzufriedenen Sudetendeutschen, die Hitler in die Tschechoslowakei eingela-den hatt en und sich somit indirekt der Entfachung des Zweiten

Page 17: Brünner Todesmarsches

47

Weltkrieges schuldig gemacht hatt en. Hunderte von Familien rückten so in dem neuen Land in eine kaum beneidenswerte Stellung und sogar die Generation ihrer Kinder hatt e man als „Kinder der Schuldigen“ bezeichnet. Das hatt e mir eine meiner jüngeren Gesprächspartnerinnen anvertraut, die erst nach dem Krieg in eine aus der Tschechoslowakei abgeschobene Familie in einem kleinen bayrischen Dorf zur Welt kam, in dem sie in den 1950er und 1960er Jahren auch aufgewachsen ist. Sie hatt e Recht, als sie mir sagte, dass ich es mir nicht vorstellen könne, wie es wohl sein mag, in einer Zeit aufwachsen zu müssen, in der man durch solche Ereignisse gebrandmarkt wurde, die nicht einmal das eigene Gedächtnis erfasst.

Die Erlebnisse all dieser Menschen bilden immer noch einen Bestandteil der Gesamtheit unserer (der tschechischen oder der deutschen) kollektiven Mentalität. Solange ihre bit-teren Erfahrungen nicht kanalisiert werden können, wird der Nährboden tschechisch-deutscher Beziehungen eine leben-dige Masse bleiben, die von Zeit zu Zeit durch das Aufb rechen alter neuer Probleme aus nie verheilten Wunden aufgelockert wird, weswegen er keine stabile Platt form für die Zukunft sein dürft e. Die oben erwähnten Tatsachen sind nun einmal geschehen, unabhängig davon, ob sie von den Widersachern einer Anerkennung der Unrechtmäßigkeit der Abschiebung / Vertreibung geleugnet oder nicht geleugnet oder ob sie sie so oder andersherum ausgelegt werden. Und bis diese Vorgänge nicht wenigstens durch eine anständige Entschuldigung gege-nüber den in Brünn verbliebenen oder aus Brünn ausgesie-delten Deutschen ausgeglichen werden, ist das Finden eines neuen Gleichgewichts schlichtweg unmöglich.

Sich zu distanzieren, mit verschränkten Armen herumzu-sitzen und abzuwarten, dass die Situation infolge des Ablebens der alten Generation, die das direkt berührt, von allein gelöst

Page 18: Brünner Todesmarsches

48

wird, ergibt keinen Sinn. Wir wissen doch, dass ähnliche Er-lebnisse in betroff enen Familien an die nächste Generation weitergegeben werden. Es fällt mir schwer zu glauben, dass sich dieses Problem im Laufe der Zeit einfach aufl öst, dass es verschwindet. Ganz im Gegenteil. Es wird weiter vor sich hin gären. Genau wie der entlang der Bürgersteige in der Bra-tislavská-Straße verstreute Müll, in dem ich unlängst eine Ratt e entdeckt habe.

Ungeachtet dessen, dass ich 1980 geboren wurde, also lange nach dem Krieg und der Blutrache in Form der Abschiebung der Deutschen aus Brünn, bin ich davon überzeugt, dass man sich damit befassen muss. Ein Unrecht kann man doch nicht durch ein anders Unrecht gutmachen, und einfach nur mit den Achseln zu zucken oder darüber zu schweigen, ist doch keine Lösung. Ich bin froh, dass ich mich vor einigen Jahren gewagt habe, in diesen sauren Apfel gebissen und ein dreijähriges Forschen und Sammeln von Unterlagen vorge-nommen zu haben, um einen Roman über die Abschiebung der deutschen Brünner zu schreiben. Ich bin froh, dass mein Altersgenosse, der Brünner Regisseur Tomáš Měšťan nach den Motiven meines Romans seinen Dokumentarfi lm Also los Gerta gedreht hat. Ich bin froh, dass ein weiterer Brün-ner Regisseur Jiří Honzírek mit seiner Theatertruppe „Feste“ das Stück Be free! inszenierte, das sich mit dem Kriegs- und Nachkriegsgeschehen in Brünn, welches seinen Höhepunkt in der geschilderten Abschiebung fi ndet, auseinandersetzt. Und das ist bei weitem nicht alles. Ferner würde ich gerne junge Historiker nennen, die kürzlich einen mehrteiligen Sam-melband mit dem Titel Vysídlení Němců a proměny českého pohraničí (Aussiedlung der Deutschen und Veränderung des ts-chechischen Grenzlandes) verfasst haben, in welchem die Nach-kriegsexzesse in der Tschechoslowakei bewertet werden, oder

Page 19: Brünner Todesmarsches

49

die Gruppe „Antikomplex“, die die Geschichten der in den Sudeten lebenden Menschen erkundet, oder die Gruppe Brün-ner Germanisten, die im Rahmen des Österreichisch-Tschechis-chen Dialogforums kulturelle Veranstaltungen organisieren, und das ist längst nicht alles… Es bleibt zu hoff en, dass sol-cherlei Aktivitäten der jüngsten Generation, die kein Problem mehr damit hat zuzugeben, dass auf unserer Seite ein Fehler passiert ist, als Brücke zum Ausgleich und zur Aussöhnung mit den direkt Betroff enen dienen können. Auch wenn es nicht um eine offi zielle Geste geht. Andererseits — bewirken sie nicht etwa eine ausgiebige Revision der ganzen Angelegenheit? Und diese Revision scheint umso mehr interessant zu sein, da sie aus dem Blickwinkel der sich zu Wort meldenden Generation kommt.

Auf diese Weise bleibt noch die Hoff nung, dass der Nach-kriegskonfl ikt von Brünn sowie ähnliche Exzesse doch noch bewältigt werden können, bevor es spät ist.

Apropos: In der Bratislavská-Straße habe ich im letzen Halbjahr einige neue Gerüste entdeckt, hinter denen die Fassa-den erneuert werden. Langsam, sehr langsam sieht man in der Ferne die Lichter einer besseren Zeit.

Page 20: Brünner Todesmarsches

50

Verwendete Literatur:

HERTL, H., PILLWEIN, E., SCHNEIDER, H., ZIEGLER, K. W. (Eds.): Němci ven! Die Deutschen raus! Dauphin, Praha, 2005. ISBN 80-7272-070-8.

KOVAŘÍK, David: Brněnský pochod smrti 1945: Mýty a skutečnost. In: FAJMON, HLOUŠKOVÁ (Eds.): Konec soužití Čechů a Němců v Československu: sborník k 60. výročí ukončení II. světové války. Centrum pro studium demokracie a kultury (Zentrum für das Studium der Demokratie und Kultur), 2005. ISBN 80-7325-065-9.

STANĚK, Tomáš: Poválečné „excesy“ v českých zemích v roce 1945 a jejich vyšetřování. Sešity Ústavu pro soudobé dějiny AV ČR (Heft e des Instituts für zeitgenössische Geschichte der Akademie der Wissenschaft en der Tschechischen Republik), Praha, 2005. ISBN 80-7285-062-8.

Page 21: Brünner Todesmarsches