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Weihnachten 2016, Nr. 59 Rundbrief English version on the back Pädagogische Sektion am Goetheanum

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Der Rundbrief der Pädagogischen Sektion

Herausgeber: Pädagogische Sektion am GoetheanumPostfach, CH 4143 Dornach 1Telefon: 0041 61 706 43 15Telefon: 0041 61 706 43 73 Telefax: 0041 61 706 44 74E-Mail: [email protected]: www.goetheanum-paedagogik.ch

Redaktion: Florian Osswald, Dorothee Prange, Claus-Peter RöhLektorat: Angela WesserPhoto: 3. Klasse Gamot Cogon Schule, Iloilo, Philippinen

Spenden und Beiträge zu Gunsten des RundbriefesRichtsatz pro Jahr CHF 30 / EUR 30

Innerhalb Allgemeine Anthroposophische Gesellschaftder Schweiz Goetheanum, CH-4143 Dornach

Raiffeisenbank DornachKonto-Nr.: 10060.71Clearing Nr.: 80939Postscheckkonto: 40-9606-4Vermerk: 1060

Internationale Allgemeine Anthroposophische GesellschaftÜberweisungen Postfach, CH-4143 DornachUSD-Konto IBAN: CH48 8093 9000 0010 0604 9

Raiffeisenbank Dornach, CH–4143 DornachBIC: RAIFCH22Vermerk: 1060

Euro Anthroposophische Gesellschaft DornachÜberweisungen GLS Gemeinschaftsbank Bochum

Konto-Nr.: 988 100BLZ: 430 609 67IBAN: DE 53 4306 0967 0000 9881 00BIC: GENODEM1GLSVermerk: 1060

Aus Deutschland Freunde der Erziehungskunst e.V.Postbank StuttgartKonto-Nr.: 398 007 04BLZ: 600 100 70Vermerk: Pädagogische Sektion, Rundbrief

Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 59

Impressum

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Inhaltsverzeichnis

3 Zu dieser Ausgabe Dorothee Prange

4 Künstlerisches Empfinden in der Erziehungskunst – Teil II Michael Grimley

12 Angesichts der Nacht – Teil II Florian Osswald

15 Individualität im Zeitgeschehen – Teil ISprache als Ausdruck der Individualität Claus-Peter Röh

20 Bericht des Treffens der Internationalen Konferenz in Dornach Sigurd Borghs

23 Aus dem Schulalltag im KlassenzimmerBienenprojekt in Iloilo Max van der Made

26 Agenda

Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 59 1

Inhaltsverzeichnis

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in Kürze beginnt die Adventszeit, eine Zeit derVorbereitung. In den Strassen und Geschäftender Städte leuchten die Lichter, erstrahlen be-reits die aufgestellten Bäume. In den Schau-fenstern liegen geschmückte Pakete. Die Zeitdes Wartens, der Vorbereitung auf Weihnach-ten ist nicht mehr spürbar. Es ist äusserlichschon da. Wie gehen wir in der Erziehung mitdieser Situation um? Können wir warten, kön-nen wir vorbereiten, auf etwas hinarbeitenoder ist immer gleich ein Ergebnis, eine Ant-wort da? Das gilt für Erwachsene wie Schülergleichermassen. Heute geht alles schnell undimmer schneller, mit Knopfdruck kommenAntworten, das Wissen ist abrufbar. Dieses istjedoch nicht erarbeitet, erübt. Wir müssen unswillentlich bemühen, wenn wir uns etwas er-arbeiten, wir müssen üben, um Fähigkeiten zuerlangen. Das fällt uns heute nicht immerleicht. Geschieht es, sind wir erfüllt und gehenfreudig die nächsten Schritte.

Zwei Artikel in dieser Rundbriefausgabe, diedas in der Michaeliausgabe Begonnene fort-setzen, gehen besonders auf diese Thematikein. Florian Osswald führt uns weiter in dieÜbungen zur Nacht ein, wobei es dieses Malum die Verbindung der Übung zur Men-schenkunde geht. Michael Grimley schliesstmit dem 2. Teil seines Artikels an die Ausfüh-rungen zum künstlerischen Empfinden in derErziehungskunst an. Das übende Element des

Erziehers kommt hier stark zum Ausdruck alsGrundlage für die Lehrertätigkeit. Claus-Peter Röh bringt einen ersten Beitrag zumThema Individualität im Zeitgeschehen indeutscher Sprache, wobei in dieser Ausgabeder Fokus auf der Sprache als Ausdruck derIndividualität liegt. Des Weiteren erscheintein Bericht des letzten Treffens der Interna-tionalen Konferenz der Waldorfpädagogi-schen Bewegung (Haager Kreis) am Goethea-num in Dornach. Wir möchten die Kollegienimmer wieder darüber informieren, so dassdie Schulbewegung einen kleinen Eindruckvon der inhaltlichen Arbeit dieses internatio-nalen Gremiums bekommt.

Der kleine Vorblick von Claus-Peter Röh aufdie Hochschultagung der Pädagogischen Sek-tion im März kommenden Jahres erscheint indieser Ausgabe in englischer Sprache.

In der neuen Rubrik 'Aus dem Schulalltag imKlassenzimmer' finden Sie einen Beitrag vonMax van der Made über seine Arbeit an derGamot Cogon Schule auf den Philippinen undden Beitrag aus Holland von Werner Govaertsin englischer Sprache. Wir freuen uns stetsüber weitere Beiträge aus dem Schulalltag.

Mit guten Wünschen für die Weihnachtszeit

Ihre Pädagogische Sektion

Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 59 3

Einleitung

Einleitung

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

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Künstlerisches Fühlen, Empathieund HingabeWas den Charakter und die Qualität deskünstlerischen Empfindens in der Erzie-hungskunst von seinem Einsatz in anderenKunstformen unterscheidet ist, dass das Me-dium mit dem wir es zu tun haben, keinKlumpen Ton ist, den es zu formen gilt, auchkeine Saite, die man zupft oder eine Trommelist, zu der man tanzt, sondern ein Heran-wachsender ist.

Das künstlerische Fühlen in der „großen Le-benskunst“ ist darum nicht nur ein künstleri-scher, sondern auch ein moral-ästhetischerImperativ.

Die Förderung und Entwicklung dieser Kunstist möglicherweise die Hauptaufgabe in dergegenwärtigen menschlichen Kultur. Die Pa-rameter dieser Aufgabe wurden vor 200 Jah-ren von Friedrich Schiller skizziert als eineReaktion auf die Französische Revolution. Ineinem Abschnitt, der sich hauptsächlich mitder Art und Weise, wie Kunsthandwerker undKünstler mit ihrem Material umgehen, ver-gleicht er diese mit der Art, wie die Situationfür einen dritten, den erzieherischen und wieer es nennt politischen Künstler aussieht:

„Ganz anders verhält es sich mit dem päda-gogischen und politischen Künstler, der denMenschen zugleich zu seinem Material undzu seiner Aufgabe macht. Hier kehrt derZweck in den Stoff zurück ,und nur weil dasGanze den Teilen dient, dürfen sich die Teile

dem Ganzen fügen. Mit einer ganz andernAchtung, als diejenige ist, die der schöneKünstler gegen seine Materie vorgibt, mussder Staatskünstler sich der seinigen nahen,und nicht bloß subjektiv und für einen täu-schendem Effekt in den Sinnen, sondern ob-jektiv und für das innere Wesen muss erihrer Eigentümlichkeit und Persönlichkeitschonen.“1

Doch welches ist diese einzigartige Qualitätdes künstlerischen Fühlens, die es dem päda-gogischen Künstler erlaubt sowohl schöpfe-risch mit dem innersten Wesens des Kindeszu arbeiten und gleichzeitig seinen objekti-ven Zustand zu betrachten und anzuerken-nen?

Das innerste Wesen eines Kindes ist heilig.Anders als das des Erwachsenen ist die innereNatur des Kindes mit der Welt auf mannig-faltige Weise verbunden – körperlich, see-lisch und geistig. In seiner Beziehung zumKind verbindet der künstlerische Erzieher daskünstlerische Fühlen mit einer Stimmung, dieman lediglich als heilig beschreiben kann. Indiesem Sinne machen die Qualitäten desFühlens Erziehung zu einer authentischenKunstform so wie es Rudolf Steiner in denabschließenden Abschnitten des 10. Kapitelsin der Allgemeinen Menschenkunde zumAusdruck bringt:

„Wir sind da im Schulzimmer: In jedem Kindliegt ein Zentrum von der Welt aus, vom Ma-krokosmos aus. Dieses Schulzimmer ist der

4 Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 59

Künstlerisches Empfinden in der Erziehungskunst, Teil 2

Künstlerisches Empfinden in der Erziehungskunst, Teil 2

Michael GrimleyÜbersetzt von Ulrike Creyaufmüller

1 Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 4. Brief

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Mittelpunkt, ja viele Mittelpunkte für denMakrokosmos. – Denken Sie sich, lebendigdas gefühlt, was das bedeutet! Wie da dieIdee vom Weltenall und seinem Zusammen-hang mit dem Menschen übergeht in ein Ge-fühl, welches durchheiligt alle einzelnen Vor-nahmen des Unterrichtes. Ohne dass wirsolche Gefühle vom Menschen und vom Wel-tenall haben, kommen wir nicht dazu, ernst-haftig und richtig zu unterrichten. In demAugenblick, wo wir solche Gefühle haben,übertragen sich diese durch unterirdischeVerbindungen zu den Kindern […]. Die Päda-gogik darf nicht eine Wissenschaft sein, siemuss eine Kunst sein. Und wo gibt es eineKunst, die man lernen kann, ohne dass manfortwährend in Gefühlen lebt? Die Gefühleaber, in denen man leben muss, um jenegroße Lebenskunst auszuüben, die Pädagogikist, diese Gefühle, die man haben muss zurPädagogik, die feuern sich nur an an der Be-trachtung des großen Weltalls und seinesZusammenhangs mit dem Menschen.“2

In der Erziehungskunst ist ein wesentlichesElement in der Beziehung des Lehrers zu denKindern die heilige Stimmung der Hingabe, dieauf einem künstlerischen Verstehen beruht.Anzeichen für die Grundlage solch einer Stim-mung erscheinen als Leitmotiv in dem Eröff-nungsvortrag zur Allgemeinen Menschen-kunde und tauchen später wieder auf. Imersten Vortrag, kurz nach der Gründungsima-gination, wird die rechte Stimmung und dasrechte Gefühl erwähnt für alle Aspekte der

Unterrichtspraxis, eine Stimmung , die sichgründet auf das volle Bewusstsein des Lehrers,dass er die Arbeit höherer Wesen vor der Ge-burt fortsetzt3. Im 2. Vortrag wird diese Stim-mung beschrieben als nötige „Weihe“ ohne dieman gar nicht erziehen kann.4 Die abschlie-ßenden Abschnitte des 10. Vortrags stellen dar,wie solche Gefühle jegliches Erziehen „durch-heiligt“5 und den Erzieher befähigt, „ernsthaf-tig und richtig zu unterrichten“6 und auf ver-steckte Weise („unterirdisch“) mit den Kindernverbunden zu sein.

Eine hingebungsvolle Stimmung wie diesekann nur durch eine empathische Verbin-dung zwischen Erzieher und Kind hervorge-bracht werden. Empathie beinhaltet eine Fä-higkeit, sich in den andern einzufühlen, dochanders als Mitgefühl bedeutet es nicht denVerlust eines objektiven Abstandnehmens.Der Begriff „Empathie“ hat seine Wurzeln imBereich der Ästhetik bevor er in die Spracheder Psychologie aufgenommen wurde. DieFähigkeit sich in den anderen einzufühlenbezog sich ursprünglich auf eine besondereQualität des künstlerischen Gefühls, auf einegesteigerte Form des Fühlens, die sich überdas bloße Persönliche und Subjektive erhob.Anders ausgedrückt, es ist eine Qualität deskünstlerischen Gefühls, das Subjekt und Ob-jekt vereint, d.h. der Künstler oder Betrachterwird eins mit dem Objekt seiner Aufmerk-samkeit.7 In der Arena des Klassenzimmersstellt eine authentische Stimmung der Em-pathie und Hingabe die wesentliche Voraus-

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Künstlerisches Empfinden in der Erziehungskunst, Teil 2

2 GA293, S. 158-1593 GA 293, 1. Vortrag4 Ebenda, 2. Vortrag5 Ebenda, 10. Vortrag6 Ebenda7 Das Wort 'Empathie' ist in der Sprachgeschichte überraschend neu. Sein Ursprung war verbunden dem

'Einfühlen', was von Friedrich Theodor Vischer (1807 – 1870) in Bezug zur architektonischen Form ge-braucht wurde und wurde dann ausgeweitet durch seinen Sohn, Robert Vischer (1847 – 1933), um dieWerke der Kunst und Natur einzubeziehen in sein Werk 'On the Optical Sense of Form: A Contribution toAesthetics' aus dem Jahre 1873. 1858 wurde das Wort 'Empathie' wahrscheinlich zum ersten Mal ersonnen

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setzung für die besondere Qualität deskünstlerischen Fühlens in der Unterrichtspra-xis dar, eine heilige Stimmung der Hingabe,die durch die empathische Beziehung desLehrers zu den Kindern hervorgerufen wird.Durch die auf künstlerisches Fühlen gegrün-dete empathische Beziehung zu den Kindern,gestützt durch ein ständiges kontemplativesStudium des menschlichen Wesens mag dieErkenntnis im Lehrer wachsen, sodass ernicht der einzige schöpferische Gestalter imKlassenraum ist und wenn der Lehrer er-kennt, dass das Kind aktiv an seinem oderihrem schöpferischen Prozess der Selbstwer-dung teilnimmt, getragen durch andereschöpferische Kräfte – kosmische Wesen –dann kann eine authentische Stimmung derHingabe erwachen.

Die Haltung des Lehrers sollte darum anderssein als die der Ausübenden aller anderenKünste. Der Lehrer als Künstler ist nicht diePrimadonna im Klassenzimmer, sondern einmitgestaltender Teilnehmer im gesamten Er-ziehungsvorgang und im höheren Sinn als le-diglich den Stundenplan mit anderen Kolle-gen teilend. So wie die anonymen Schöpferder späten mittelalterlichen Kathedralen, diesich als mit den schöpferischen Engelwesender Welt verbunden fühlten, so sind die Leh-rer an einer Schule Co-Künstler gemeinsammit der Gemeinschaft der schöpferischengeistigen Wesen, die es mit der Entwicklungder Menschen zu tun haben. Es ist das Kind,das das Gesamtkunstwerk darstellt und die

Schule ist das architektonische Gebilde, inwelcher das Gesamtkunstwerk „die größtekünstlerische Errungenschaft des Kosmos“sich entwickeln, gedeihen und leben kann.8

Der Lehrer als KünstlerDie Bedeutung der Stimmung der Hingabe inder Erziehungskunst hilft Rudolf Steiners pro-vokative Aufforderung am Ende des 1. Kapi-tels der Allgemeinen Menschenkunde zu ver-stehen, dass er den Kollegen, zu denen ersprach, sagte: „… Sie werden nicht gute Er-zieher und Unterrichter werden, wenn Siebloß auf dasjenige sehen werden, was Sietun, wenn Sie nicht auf dasjenige sehenwerden, was Sie sind.“9. Der Unterschied zwi-schen solch einem Lehrer und einem anderen„… rührt her von dem, was der Lehrer in derganzen Zeit seines Daseins an Gedanken-richtung hat, die er durch die Klassentür he-reinträgt. Ein Lehrer, der sich beschäftigt mitGedanken vom werdenden Menschen …“10,die, wie eben schon ausgeführt die heiligeStimmung in der Atmosphäre im Klassenzim-mer fördert. In einem Vortrag, den er 3 Jahrespäter hielt, wiederholt er diese Aufforde-rung und erinnert an die existenzielle Posi-tion des Lehrers, jedoch diesmal direkt aufdie Unterrichtspraxis als Kunstform bezogen:

Dazu muss dieser Erzieher so wirken, dass ergewissermassen das Wahre, Gute undSchöne dem Kinde nicht bloss darstellt, son-dern es ist. Was er ist, geht auf das Kindüber, nicht, was er ihm lehrt. Alle Lehre muss

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Künstlerisches Empfinden in der Erziehungskunst, Teil 2

durch Rudolf Hermann Lotze (1817 – 1881), der das griechische 'empatheia' (Leidenschaft), von 'en-' (ein)und 'pathos' (Fühlen) verwendete. Von 1902 an begann man es vom ästhetischen Diskurs auf die Psycholo-gie zu übertragen. Das geschah durch Wilhelm Wundt (1832 – 1920, Gründungsvater der experimentellenPsychologie und besonders durch seinen Nachfolger Theodor Lipps (1851– 1914). Es wird allgemeinangenommen, dass ein weiterer Nachfolger von Wundt, Edward B. Titchener (1867 – 1927) das Wort 'Em-pathie' in die englische Sprache eingeführt hat. (Quelle: History of the Evolution of the Word, Concept,Phenomenon Empathy. http:// cultureofempathy.com/references/History.htm).

8 GA 307, 1.Vortrag9 GA 293, S. 2710 Ebenda

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wesenhaft, im Vorbilde vor das Kind hinge-stellt werden. Das Lehren selbst muss einKunstwerk, kein theoretischer Inhalt sein.11

Wie jedoch wird Unterricht in der Praxis zueinem Kunstwerk bezüglich dessen, was derLehrer ist? Eine umfassende Antwort daraufgibt Rudolf Steiner in dem einleitenden Vor-trag zu „Erziehung und Unterricht aus Men-schenerkenntnis“12. Dort fügt er einen weiterenAspekt zu den bisher erwähnten Qualitäten deskünstlerischen Empfindens hinzu, nämlich dieBeziehung des Lehrers zum Kinde als einenkünstlerischen Prozess zu fühlen.

Bei vielen Gelegenheiten wies Rudolf Steinerdarauf hin, dass die Erziehungskunst durcheine Erkenntnis des werdenden Menschen,durch, wie er es nannte, die „pädagogischeIntuition“ angeregt wird. Doch betonte er indiesem Vortrag, dass die Wirksamkeit dieserErkenntnis nur erreicht werden kann durcheine ständige empathische Verbindung zumsich entwickelnden Kind. („Wir müssen indieser Beziehung als Lehrer zu Künstlernwerden.“13) Solch eine Erkenntnis kann nichtdurch ein bloßes theoretisches Studium er-worben werden, sondern nur durch eineständige praktische und schöpferische Bezie-hung zu den Kindern im Klassenzimmer.Genau an dieser Stelle gab er möglicherweisedie Aufforderung an die Kollegen der erstenWaldorfschule, als er die grundlegende Stim-mung betonte, die der Lehrer mit allen ande-ren authentischen Künstlern in der Praxis ge-mein hat, dem Gefühl, ein Künstler in einemständigen Selbstwerdungsprozess zu sein.

„Im Leben hat nicht das fertige Wissen einenWert, sondern die Arbeit, die zu dem fertigen

Wissen hinführt; und insbesondere bei derpädagogischen Kunst hat diese Arbeit ihrenganz besonderen Wert. Es ist da eigentlichso wie in den Künsten. Ich glaube nicht, daßeiner ein ganz richtig gesinnter Künstler ist,der nach Abschluß eines Werkes sich nichtsagte: Jetzt könntest du es eigentlich erst.Ich glaube nicht, dass einer ein richtig ge-sinnter Künstler ist, der mit irgendeinemWerke, das er gemacht hat, zufrieden ist […]Diese eigentümliche Art von innerster Be-scheidenheit, dieses Gefühl des eigenenWerdens – das ist etwas, was den Lehrer tra-gen muß; denn aus diesem Gefühl geht mehrhervor als aus irgendwelchen abstraktenGrundsätzen.“14

Die Bedeutung dieser Aufforderung solltenicht unterschätzt werden. Künstler handelnin der unmittelbaren Gegenwart, indem sieunmittelbar auf die Herausforderung der Ge-genstände ihres schöpferischen Handelns,mit denen sie konfrontiert sind, antworten.Nur durch eine ständige Reflexion des In-Be-ziehung-Tretens mit dem betreffenden Me-dium kann der Künstler die Relevanz seineroder ihrer Antworten auf die Notwendigkei-ten des kreativen Augenblicks bewerten.

Für den authentischen Künstler jedoch ist esauch bedeutsam, dass die innere Motivationfür solch eine Reflexion ein ständiges Gefühlder Unzufriedenheit mit jeglichen erreichtenErgebnissen ist. Für den Lehrer ist diese Stim-mung besonders schmerzlich, da sie oftmalsden Charakter von Scham und Schuld an-nimmt. In extremen Situationen kann sieüberwältigend sein. Sie können entweder zueiner Willenslähmung führen, die das Ver-trauen des Lehrers als eine positive, kreative,

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Künstlerisches Empfinden in der Erziehungskunst, Teil 2

11 GA 36, Vortrag vom 16.09.192212 GA 302a13 GA 302a 14 GA 302a

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selbstbestimmte Präsenz im Klassenraum un-tergräbt, oder, mit ähnlicher Tragweite, dieEntschlossenheit des Lehrers, seinen Willenden Kindern aufzuerlegen verstärkt, indem ersie zwingt, den festgelegten Stundenergeb-nissen zu folgen, sich ihnen zu fügen. Wiekann dann solch ein Gefühl der Unzufrieden-heit ein positiver, motivierender Faktor imKlassenzimmer sein?

Rudolf Steiners Antwort ist die provokativeAussage, dass unser Unterrichten immerschlecht sein wird, wenn wir uns nicht nacheinem Jahr die Frage stellen können:

„Wer hat denn da am meisten gelernt?“ unddie Antwort finden: „Das bin ich, der Lehrer![…] Man würde aber ganz gewiß am aller-besten unterrichtet haben, wenn man anjedem Morgen mit Beben und Zagen in dieKlasse gegangen ist und sich gar nicht sehrauf sich selbst verlassen hat, dann sich aberam Ende des Jahres sagt: … Du hast selbstam meisten während dieser Zeit gelernt. […]was man eigentlich getan hat, hängt davonab, dass man fortwährend das Gefühl ge-habt hat: Du wächst, indem du die Kinderwachsen machst. Du probierst im edelstenSinne des Wortes, du kannst eigentlich nichtsonderlich viel; aber es erwächst dir eine ge-wisse Kraft, indem du mit den Kindern arbei-test. […] man geht als ein ganz anderer ausder Kampagne hervor, als man vorher hi-neingegangen ist. Und man hat das gelernt,was man vor einem Jahr, als man zu lehrenangefangen hatte, nicht gekonnt hat. Mansagt sich am Ende des Schuljahres: Ja, jetztkannst du eigentlich erst das, was du hät-test ausführen sollen!“15

Rudolf Steiner erläutert die Konsequenzendieser Selbstreflexion weiter, indem er die

wichtigsten Gründe skizziert, warum einKlassenlehrer dieselbe Schülerschaft übermehrere Jahre unterrichten soll:

„Aber wenn Sie mit einer inneren, wahren,edlen, nicht mit der geckenhaften Skepsis,von der ich gesprochen habe, durch IhreLehrerschaft durchgehen, dann werden Sieaus dieser Skepsis heraus eine neue impon-derable Kraft bringen, die Sie ganz beson-ders veranlagen wird, mit den Kindern,welche Ihnen dann anvertraut sind, mehrzu erreichen. Das ist zweifellos richtig.Aber der Effekt im Leben wird eigentlichdann nur ein anderer sein, nicht ein um soviel besserer, sondern ein anderer. Ichmöchte sagen, die Qualität desjenigen, wasSie aus den Kindern machen, wird jetztnicht viel besser sein, als es das erste Malwar; der Effekt wird nur ein anderer sein.Sie werden qualitativ etwas anderes errei-chen, nicht so sehr quantitativ mehr errei-chen. Sie werden qualitativ etwas andereserreichen, und das genügt im Grunde ge-nommen. Denn alles, was wir mit der nöti-gen edlen Skepsis und der inneren Beschei-denheit uns auf die geschilderte Weiseaneignen, läuft darauf hinaus, dass wir ausden Menschen Individualitäten machen,Individualitäten im grossen. Wir könnennicht zweimal dieselbe Klasse haben undzweimal dieselben Abbilder der pädagogi-schen Schablone in die Welt hinausstellen!Wir können aber der Welt individuell ver-schiedene Gestaltungen der Menschenübergeben. Wir bewirken Mannigfaltigkeitim Leben; aber die beruht nicht auf demAusgestalten abstrakter Grundsätze, son-dern diese Mannigfaltigkeit im Leben be-ruht tatsächlich auf einem gewissen tiefe-ren Erfassen des Lebens, wie wir es jetztdargestellt haben.“16

8 Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 59

Künstlerisches Empfinden in der Erziehungskunst, Teil 2

15 GA 302a16 GA 302a, S. 21/ 22

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Die Fähigkeit der Selbstreflexion unterschei-det sich nicht von der des Künstlers in seinemStreben. Die „imponderabile Kraft“, die ge-wonnen werden mag, ist die besondere Qua-lität des künstlerischen Gefühls, die die Un-terrichtspraxis des Lehrers auszeichnet. Diefortwährende empathische Beziehung zumKind stärkt die kreative Verbindung des Leh-rers in jedem Augenblick durch, wie es Stei-ner nennt, Intuition oder Instinkt.

‘Es kommt ganz darauf an, dass der Kontaktzwischen dem Lehrer und dem Kinde durch-aus in ein künstlerisches Element getauchtist. Dadurch wird eben in dem Lehrer selbervieles eine Art intuitiven, instinktiven Cha-rakter annehmen, was er in bezug auf die In-dividualität des Kindes im gegebenen Mo-ment zu tun hat.’17

Das künstlerische Empfinden als eineGrundlage für pädagogische ErkenntnisIn dem 3. Kapitel der Allgemeinen Men-schenkunde charakterisiert Rudolf Steinerdas kontemplative Studium des Menschen-wesens als einen meditativen Prozess, dersich von dem, was man üblicherweise unterwissenschaftlicher Forschung versteht, un-terscheidet.18 Es dient auch dazu, Erkenntnisüber das menschliche Wesen zu gewinnen,doch mit einer Verstehensqualität, die einpädagogisches Verstehen ermöglicht, das denerzieherischen Notwendigkeiten des sichentwickelnden Kindes mit sofortiger Wir-kung Rechnung trägt.

In dem in diesem Vortrag enthaltenen Bei-spiel für meditative Praxis legt er besondereAufmerksamkeit darauf, wie Urteile im Ge-fühlsbereich in der Region des rhythmischenSystems von Herz und Lunge entstehen. Er

deutet an, dass wir die Früchte eines solchenVerstehens durch das Bilden genauer imagi-nativer Bilder wie bildliche und musikalischeWahrnehmungen verwandelt werden durchpolare Bewegungsvorgänge in der menschli-chen Konstitution.

Diese Bewegungsvorgänge meint Rudolf Stei-ner, wenn er darauf hinweist, dass wir unsereAufmerksamkeit auf den gesamten Prozesskonzentrieren sollen, wo „seelische Strömun-gen und leibliche Vorgänge“19 ineinanderwir-ken. Wenn wir beispielsweise ein Bild wahr-nehmen, können drei innere Tätigkeiten unter-schieden werden: das Wahrnehmen, Verstehenund Erinnern. Zuerst nehmen wir den Gegen-stand mit unseren Augen, einem Organ desNerven-Sinnes-Systems, wahr. Das Verstehenwird nicht durch das Nerven-Sinnes-System,sondern durch das rhythmische System ver-mittelt. Sodann nehmen wir das Verstandenein unser Gedächtnis auf, welches wiederumverbunden ist mit feinsten inneren Stoffwech-selvorgängen und der Tätigkeit des Willens.

Bei musikalischen Wahrnehmungen sind dieVorgänge vergleichbar, doch verlaufen sieumgekehrt. Beim Hörvorgang laufen zu-nächst Stoffwechselvorgänge im Ohr ab,durch das rhythmische System wird verstan-den, erinnert wird im Bereich der sichtbarenWahrnehmung.

Wenn wir dieses imaginative Bild nehmen, sofolgen die drei Schritte in dem Prozess derkonzentrierten Meditation denselben Wegvon der Wahrnehmung zum Verstehen unddann zum schöpferischen Sich-Erinnern:

„So also haben wir: Zuerst ein Aufnehmenoder Wahrnehmen der Menschenkunde, dann

Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 59 9

Künstlerisches Empfinden in der Erziehungskunst, Teil 2

17 Die geistig-seelischen Grundkräfte der Erziehungskunst, 6. Vortrag, Oxford, 22.08.192218 GA 302a, 3. Vortrag19 GA 302a, S. 43

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ein Verstehen, ein meditierendes Verstehendieser Menschenkunde, indem wir in unsimmer mehr hineingehen, innerlich hinein-gehen, wo die Menschenkunde empfangenwird von unserem ganzen rhythmischen Sys-tem, und dann haben wir ein Erinnern derMenschenkunde aus dem Geistigen heraus.[…] So müssen Sie den Menschen an-schauen, dass Sie auch da die drei Etappenfortwährend in sich fühlen. Und je mehr Siedazu kommen, sich zu sagen: Da ist meinäußerer Leib, da ist meine Haut; das um-schließt in mir den die Menschenkunde Auf-nehmenden, den die Menschenkunde medi-tierend Verstehenden, den von Gott durchdas Erinnern der Menschenkunde Befruch-tenden – je mehr Sie dieses Gefühl in sichtragen, desto mehr sind Sie Erzieher und un-terrichtender Erzieher.“20

Bedeutsam bei diesem Vorgehen ist, wie sichder zweite Schritt, nämlich die meditativeTätigkeit in dem rhythmischen System befin-det, wo sich die zwei Wege der Wahrneh-mung des Sicht- und Hörbaren im Bereichdes Verstehens und Fühlens begegnen.

„Verstanden wird alles, was wir wahrneh-men, durch das rhythmische System. Da-durch aber, dass das rhythmische Systemmit dem Verstehen zusammenhängt, kommtdas Verstehen in enge Beziehung zum Fühlendes Menschen. Und wer intime Selbstwahr-nehmung pflegt, wird sehen, welche Zusam-menhänge bestehen zwischen dem Verste-hen und dem eigentlichen Fühlen. Im Grundegenommen müssen wir die Wahrheit einesVerstandenen fühlen, wenn wir uns dazu be-kennen wollen. Es treffen da eben in uns zu-

sammen dasjenige, was vom verstehendenErkennen kommt, mit dem Seelischen desFühlens durch das rhythmische System.“ 21

Hier finden wir die Bestätigung bezüglich derRolle des Fühlens beim Verstehensprozess wiezuvor beschrieben; doch in diesem Fall direktbezogen auf das künstlerische/ästhetischeVerstehen, das aus der bildlichen und musi-kalischen Wahrnehmung entsteht.22

Durch genau solch eine meditative Tätigkeit,die in dem mittleren System lokalisiert ist,verwandeln sich solche Wahrnehmungen inkünstlerisches Fühlen, das den schöpferi-schen Willen des Lehrers stärkt.

Rudolf Steiner hat nicht nur gezeigt, wie daskünstlerische Empfinden des Lehrers als einpädagogisches Erkenntnisorgan durch Medi-tation, sondern auch durch andere Künsteentwickelt werden kann. In einem seinerletzten Vorträge betont er die Notwendig-keit, dass der Lehrer durch die Ausübung an-derer Künste sein differenziertes künstleri-sches Gefühl erwecken kann, um zu einerumfassenden Erkenntnis des kindlichen We-sens und seiner Leibeshüllen zu kommen23. Erbetont, wie sich der Lehrer das Verständnisdes Ätherleibs des Kindes nur durch das Mo-dellieren des menschlichen Organismus, denAstralleib durch Musik, das Ich durch ein ver-feinertes Gefühl für die Struktur der Spracheerwerben kann.24

Künstlerisches Fühlen durch meditative Pra-xis, künstlerische Tätigkeit, ein Bewusstseindes Lehrers für seine eigene Entwicklung alsLehrer-Künstler, verbunden mit einer wahr-

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Künstlerisches Empfinden in der Erziehungskunst, Teil 2

20 GA 302a, S. 52, 5321 GA 302a, S. 43 / 4422 GA 302a23 GA 31024 Lehrerbildung war ursprünglich in einigen Waldorflehrerausbildungsstätten um die künstlerische Tätigkeit

von Plastizieren, Musik und Sprache aufgebaut: den drei ' ‘Lehrerkünsten’.

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haften Stimmung der Hingabe und eine em-pathische Beziehung zu den Kindern befähigtden Lehrer, schöpferisch auf die unmittelba-ren Bedürfnisse eines jeden Kindes einzuge-hen. Jede Situation erfordert eine angemes-sene Reaktion, die den Bedürfnissen desKindes als eines Vertreters der Gegenwart

entspricht. Die Wirksamkeit der Waldorfpä-dagogik in jedem Klassenzimmer, in jederSchule hängt von der Gegenwärtigkeit, in dersolche kreativen Momente erreicht werden,ab. Darum gründet sich die Bedeutung undIdentität der Waldorfschulbewegung auf derEntwicklung des künstlerischen Fühlens.

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Künstlerisches Empfinden in der Erziehungskunst, Teil 2

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RückblickDer Ausgangspunkt dieser kurzen Betrach-tung ist eine Übung, die sich aus einem Vor-trag von Rudolf Steiner vom 10. Oktober19181 ergibt. Es handelt sich um eine Rück-schauübung, die folgenden Ablauf hat:

Kurze Zeit nach dem Aufwachen blicken wirzurück auf den Morgen, die Nacht und denAbend. Wir gehen in Bildern rückwärts durchden noch jungen Tag bis zum Moment desAufwachens. Vielleicht sehen wir uns selbstbeim Ankleiden, bei Zähneputzen, wie wir dieBettdecke zurückschlagen oder das Fensteröffnen. Nun gehen wir noch einen Momentweiter rückwärts und begegnen einem Über-

gang, einer Schwelle. Wir gehen weiter inBildern rückwärts, in einem gewissen Sinne„in die Nacht hinein“. Vielleicht erinnern wiruns noch an einen Traum. Die Schlafphaseverläuft meistens unbewusst. Wir habenkeine Erinnerungen bis wir zum Moment desEinschlafens kommen. Woran können wir unsnoch erinnern? Was waren die letzten Ge-danken, Gefühle vor dem Einschlafen? Wirschauen uns die Bilder noch ein paar Minu-ten zurück in den Abend an und beenden dieÜbung.

Diese kleine Übung, die nur wenig Zeit in An-spruch nehmen muss, beherbergt grosseSchätze.

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Angesichts der Nacht – Teil II

Angesichts der Nacht – Teil II

Florian Osswald

1 Steiner, R. Der geisteswissenschaftliche Aufbau der Seelenforschung von deren Grundlagen bis zu den le-benswichtigen Grenzfragen des Menschendasein. Zürich, 10. Oktober 1918, GA 73

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Im Rundbrief Nr. 58 wurden die Übergangs-momente Einschlafen und Aufwachen underste Gedanken zum Schlaf – der Nachtseitedes Bewusstseins – angestellt.

Im zweiten Beitrag hier betrachten wir nunden Zusammenhang der Übung mit dem Stu-dium der Menschenkunde.

Menschenkunde und lebendige BegriffeFür viele Menschen ist das Studieren der All-gemeinen Menschenkunde2, mit der Steinereine erste Grundlage für die konkrete Umset-zung seines pädagogischen Impulses legt,eine grosse Herausforderung. Ein Beispieldafür ist der 2. Vortrag, in dem Rudolf Stei-ner neue Ansätze zu einer erlebbaren Psy-chologie formuliert, die das geistige Lebenim Vorgeburtlichen und Nachtodlichen mit-einbezieht. Den Ausgangspunkt bilden diebeiden Begriffe „Vorstellung“ und „Wille“.Wie können wir ein klares Bild dieser zweiBegriffe entwickeln? Steiner charakterisiertin der Allgemeinen Menschenkunde Vorstel-lung als etwas, das nicht Seins-, sondernBildcharakter aufweist. Sie ist uns ein Abbildeiner Wirklichkeit. Wovon ist sie Abbild? DieAntwort lautet: „Und auf diese Weise, indemdie Tätigkeit, die Sie vor der Geburt bezie-hungsweise der Empfängnis ausgeführthaben in der geistigen Welt, zurückgeworfenwird durch Ihre Leiblichkeit, dadurch erfah-ren Sie das Vorstellen.“3

Und was ist Wille? Er ist „Keim in uns für das,was nach dem Tode in uns geistig-seelischeRealität sein wird“4. Vorstellende Tätigkeit istalso Bild von dem vorgeburtlichen Leben, ist„geistvergangen“ wie Steiner es nennt, ist

Bild von etwas, das nicht mehr ist. Die Wil-lenstätigkeit ist zurückgehaltene, im Keimgehaltene, geistig-seelische Wirklichkeit desNachtodlichen, etwas was noch nicht ist son-dern erst wird. Steiner braucht dafür den Be-griff „geistzukünftig“.

Diese Zusammenhänge sind sehr komplexund wir haben sie hier nur kurz skizziert. Ummehr zu erfahren, könnten wir auf die Be-griffsgeschichte zurückgreifen und sehen,wie sich die Bedeutung von „Vorstellung“und „Wille“ gewandelt haben. Wir würdendamit Informationen gewinnen, oft aberwenig innere Veränderung, wenig seelischeBerührung. Manchmal finden wir jedochVerständnishilfen an anderen Stellen. Am10.10.1918 hielt Steiner einen Vortrag in Zü-rich, er setzte sich bereits dort mit der Be-gründung einer neuen Seelenwissenschaftauseinander. Damals wählte er einen anderenWeg, um sich dem Begriffspaar Vorstel-lung/Wille zu nähern:

„Zwei Momente im menschlichen Leben sindes zunächst, an welche die neuere Seelen-wissenschaft anknüpfen muss, von denenausgehend sie wiederum zurückkehren kannzu den Begriffen von Vorstellung, Wille undso weiter, um für diese Begriffe wiederumeinen vollinhaltlichen seelischen Wert zu be-kommen.“5

Die beiden Momente sind das Einschlafenund das Aufwachen. Unsere Übung kannalso zum Verstehen beitragen, denn sie hilftuns, die beiden Begriffe in einer lebendigenWeise zu erleben und zu üben. Der Anspruch,der im 2. Vortrag gesetzt wird, ist hoch, das

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Angesichts der Nacht – Teil II

2 Steiner, R. (2015) Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik. Rudolf Steiner Verlag. Basel.GA 293

3 ebenda, S. 394 ebenda, S. 405 siehe 1, S. 258

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empfinden viele Menschen so. Steiner bestä-tigt dies selbst und gibt zugleich einen Hin-weis, wie wir damit umgehen können:

„Niemand kann in Wahrheit begreifen, wases heisst: Ich stelle vor –, was es heisst: Ichbilde mir in meinem Seelenleben einen Ge-danken –, der nicht den Moment des Aufwa-chens wirklich beobachtend erfasst. (…) Wasgeschieht eigentlich in meiner Seele, wennich eine Vorstellung fasse? – Die Kraft, dieman in der Seele entfaltet, wenn man eineVorstellung fasst, die ist genau dieselbe wiedie Kraft, die man entfalten muss, allerdingsjetzt in viel verstärkterem Masse, wenn manaufwacht.“6

Andererseits erhalten wir einen Bezug zumWillen, wenn wir das Einschlafen beobachten.

„Was eigentlich ist es, welches im Einschla-fen sich besonders im Seelenleben verwan-delt? Was bewirkt durch das Einschlafen dasHerausziehen aus der sinnenfälligen Wirk-lichkeit und das Untertauchen in die über-sinnliche Wirklichkeit? – Das ist die Ver-wandlung des Willens (…) Man kann denWillen nicht greifen, wenn man ihn nicht aufder Grundlage des Einschlafens erfasst".7

Jetzt beginnt die Arbeit. Eine Grundlage fürdas Verständnis bildet die regelmässig aufge-brachte Aufmerksamkeit auf die beiden Mo-mente von Einschlafen und Aufwachen. Diedazwischen liegende Nacht wird immer be-deutungsvoller. In was tauchen wir beim Ein-schlafen ein? Warum vertrauen wir uns derNacht an? Tiere in der tropischen Welt schla-fen nicht wirklich, während in den nördli-chen Breitengraden der Winterschlaf für dasÜberleben notwendig ist. Der Schlaf desMenschen ist ein besonderes Ereignis, Steiner

weist im 1. Vortrag der Allgemeinen Men-schenkunde darauf hin. Es ist eine der erstenAufgaben von Eltern, ihrem Kind zu helfen,seinen Schlafrhythmus zu finden.

Sie können bei sich selbst beobachten, wiedie Übung ihren Schlafrhythmus beeinflusst,wie sich Ihre Aufmerksamkeit auf das Erlebender Nacht auswirkt.

Der spanische Dichter Juan Ramon Jimenezhat die Wirkung der Nacht in einem wunder-baren Gedicht eingefangen:

Tira la piedra de hoy,olvida y duerme. Si es luz,mañana la encontrarás

ante la aurora, hecha sol.

Wirf den Stein von heute weg.Vergiss und schlafe. Wenn er Licht ist,

wirst du ihn morgen wieder finden,zur Dämmerzeit, in Sonne verwandelt.

Wir sehen vorerst ein Rätsel. Was ereignetsich im Schlaf? Was klingt in uns von derNacht nach? Sind wir am Morgen erquicktund voller Einfälle oder haben wir Kopf-schmerzen und fühlen uns leer? Was erwachteigentlich beim Aufwachen in uns? In wel-cher Beziehung steht es zu dem was wir inden Schlaf mitgenommen haben? Was ist ausden Keimen des Tages geworden?

Wir hoffen, dass Sie mithilfe dieser kurzenBetrachtung einen anderen Zugang zu denzitierten Stellen im 2. Vortrag finden können.

Im nächsten Rundbrief wollen wir uns weite-ren Aspekten des Einschlafens und Aufwa-chens zuwenden. Unterdessen wünschen wirIhnen viel Freude am Üben.

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Angesichts der Nacht – Teil II

6 siehe 1, S. 2667 siehe 1, S. 269

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Individualität im Zeitgeschehen – Teil I

Ob im Unterricht, in der Konferenz, auf demElternabend oder in der Pause unter Schülern:wo sich Mensch und Mensch in der Schuleverständigen, steht die Sprache im Mittel-punkt der Begegnung. Beachtlich ist schonauf dem ersten Blick die Vielschichtigkeit dersprachlichen Ausdrucksebenen. Beim Blickeines Schülers an der Haltestelle auf sein I-Phone und den Worten: „14.36, S 11“ oderdem Ruf des Hausmeisters über den Hof: „2 x3.86, 45 Grad, links!“ ist die Sprache am Polder technischen Informationsübermittlungangekommen. – Vollkommen andere Sprach-register zeigen sich dort, wo ein Mensch umWorte ringt, die er zuvor nie ausgesprochenhat: Nach einer Berlin-Fahrt der 10. Klassestehen zwei Schüler vor der Schulgemein-

schaft um von ihrem Besuch im Staatssicher-heits-Gefängnis Hohenschönhausen zu be-richten. „Mich hat richtig erschüttert, –“,schon bei diesen ersten Worten wird es atem-los still im Saal, weil jeder bemerkt, dass dieserJugendliche seine Sprache jetzt neu sucht undfindet: „– dass der Mann, der uns führte,selbst dort drei Jahre lang inhaftiert war. – Erbeschrieb uns, wie er versucht hat, seine in-nere Kraft als Mensch nicht zu verlieren, wasimmer ihm angetan würde.“ Offensichtlichträgt die Sprache die Möglichkeit einer fastgrenzenlosen Verwandlungsfähigkeit in sich:Vom Todespol der rein faktischen Informati-onsübermittlung bis zum vielschichtigen Aus-druck feinster menschlicher Empfindungenund Gedankenverknüpfungen:

Individualität im Zeitgeschehen – Teil ISprache als Ausdruck der Individualität

Claus-Peter Röh

Rein faktische Verwandlungsfähigkeit menschliches Gefühls- Information der Sprache und Gedankenleben

„Sprache ist umgesetzte Bewegung undumgesetztes Gleichgewicht“Die Frage, woher dieses Potential der unmit-telbaren Verwandlungsfähigkeit stammt, führtzunächst zur Bewegungsfreude im Kindheits-alter: Im Miterleben des Spracherwerbs von 2-bis 3-jährigen Kindern kann der Eindruck ent-stehen, dass Bewegung und Lautbildung eineuntrennbare Einheit sind: Impulsgebende Be-wegungen der Arme und Hände begleitenimmer wieder die Bildung von Lauten, Silbenund Worten.

Bei einem kürzlichen Besuch im Berner Kin-derhaus „Vogelflug“ zeigte sich ein weiteresKernelement der Sprachbildung: Nach dem

Einschwingen der Kinder in den gemeinsamenReigen entstand ein rhythmischer Wechselzwischen Bewegung – Innehalten – Sprechenund erneutem Bewegungsimpuls. Die Kindertauchten so freudig in diesen geheimnisvollenWechsel zwischen Bewegung und Innehalten,zwischen Sprechen und Hören ein, als wärensie in diesem stetigen Neufinden des seeli-schen Gleichgewichts im Urelement ihres We-sens.

Was beim Reigen über die Sprache und Be-wegung der Erzieherin angeregt wurde, bil-dete sich später im Freispiel ganz aus der Be-gegnung: Einen der Jungen zieht es zu einemmorschen, alten Baumstumpf. Still „gräbt“ er

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mit einer Schaufel Holzspäne heraus. Kaumaber kommen zwei andere Jungen herzu,verwandelt sich das Geschehen: Abwech-selnd „graben“ sie am Baum. In den Momen-ten des Wartens bildet sich nun die Sprache:Bewegung, Tätigkeit – Innehalten – Spre-chen und Hören. Der Jüngere: „Es geht nochtiefer.“ Darauf der Ältere: „Nein, es gehtnoch viel tiefer!“ Die Verwandtschaft vonBewegung, Gleichgewicht und Sprache kamin diesem rhythmischen Wechselspiel deut-lich zur Erscheinung: In dem Masse, wie dasBewegungselement des astralischen LeibesGrundlage der physischen Bewegungen ist,wird es beim Innehalten frei für die Bewe-gung der Sprache. Dieses Gleichgewicht-Suchen zwischen äusserer Bewegung undinnerer Sprach-Bewegung beschreibt Ru-dolf Steiner mit folgenden Worten: „DieSprache ist umgesetzte Bewegung und um-gesetztes Gleichgewicht des Menschen. …Das Ich ist es, das den Menschen aufrich-tet, der astralische Leib ist es, der dieSprachempfindung hineinwirkt in dem Auf-rechten Wesen …“1

Zwei Ströme der Individualisierung Dieser Strom des Zusammenklangs von Auf-rechte, Bewegung, Empfindung und Sprach-bildung wird mit dem Übergang in die Schuleunter neuen Vorzeichen aufgegriffen: Ge-lingt es in der Unterstufe die Freude derSchüler an Bewegung und Sprache zu we-cken, ist ein erstes Ziel erreicht. Die freudigeVerbindung von seelischer Regsamkeit undleiblicher Tätigkeit steigert sich dort, wo dieBewegungen nicht äusserlich nachgemachtwerden, sondern ganz aus dem inneren Mit-erleben hervorgebracht werden. Eine grosse

Hilfe dafür ist die Bildhaftigkeit der Sprache:Ob Gesten äusserlich übernommen werdenoder das Kind aus sich selbst heraus Armeund Hände „wie ein munteres Bächlein“ flies-sen lässt, ist ein Unterschied wie Tag undNacht.

Eine weitere Stufe der individuellen Behei-matung und Identitätsfindung wird erreicht,wenn ein Kind erlebt, dass es gesehen, gehörtoder mit seinem Namen lobend oder fragendangesprochen wird. Wer in einer Hospitationmiterlebt hat, wie stark es auf Schüler wirkt,wenn ihr Name in einem positiven Zusam-menhang im Raum erklingt, wird dieses Zau-bermittel der Individualisierung gerne weiteranwenden wollen.

Zwei Ströme der Individualisierung begegnensich also im Unterricht, in denen die Qualitätdes Sprachgefühls eine entscheidende Rollespielt: Auf der einen Seite braucht das Kinddie Grundlage von Eigenbewegung und Tä-tigkeit, um darauf das wachsende Gefühl fürdie Sprache aufzubauen. In dem Masse wiedieses Sprechen aus dem Geschehen, Erlebenund Erfühlen gelingt, kann die Bildung derSprache sich individualisieren. – Auf der an-deren Seite kann die Sprache der ErzieherRäume für diese Individualisierung bilden,indem sie, wie oben beschrieben, das Inhaltli-che in Register der Sinnhaftigkeit, der Bild-haftigkeit und der Tiefe verwandelt. Da dieSprachqualität in der Waldorfpädagogik einentscheidendes Kommunikationselement ist,kann über sie das Lernen der Kinder in beson-derer Weise gefördert werden. Die sich be-gegnenden Ströme der Sprach-Individualisie-rung

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Individualität im Zeitgeschehen – Teil I

1 Rudolf Steiner, Die menschlich Seele in ihrem Zusammenhang mit göttlich-geistigen Individualitäten, GA224 – 28. April 23, S. 115f.

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Das Ich in der SpracheIn Bezug auf die Wirkung ihrer Sprache be-schreiben Kolleginnen und Kollegen heuteoft eine grosse Sensibilität der jungen Men-schen: Schülerinnen und Schüler möchten inder ureigenen Art ihres Lernens und Spre-chens wahrgenommen werden. Zugleichnehmen sie ihre Lehrerinnen und Lehrer inihrem Sprechen und in ihrem ganzen Seinsehr genau wahr. Die hohe Empfindsamkeitfür die Art und Weise angesprochen zu wer-den deutet auf eine tiefe, enge Zusammen-gehörigkeit von Ich und Sprache. Diese zeigtsich besonders wenn Erzieher, Lehrer oderSchüler sich in eine unbekannte Situationgestellt finden. Das können jene Augenblickesein, in denen kein früher erworbenes Wissenund keine Erfahrung trägt, sondern in denendie Betroffenen mit ihrem Ich im Grunde nurvor dem Moment der Ungewissheit stehen.Gerade dann kann das Neu-Finden der Spra-che wie vom Ich gestempelt erscheinen:

Als Beispiel blicken wir in eine 7. Klasse, inder ein junger Mensch versucht, eine Emp-findung auszudrücken oder einen Gedankenzu formulieren, den er nie zuvor gedacht hat:In der Geschichtsepoche war die Szene derfranzösischen Revolution geschildert wor-den, in der die hungernden Mütter und Kin-der von Paris auf der Suche nach Nahrungzum ersten Mal staunend den sogenanntenSpiegelsaal des Königs betreten. Auch in der

Klasse zunächst sprachlose Stille, bis einMädchen das Schweigen bricht: „Ich glaube,sie können das nicht fassen, – Spiegel kannman nicht essen.“ Mit diesem ganz neu for-mulierten Satz beginnt ein Gespräch, in demdie Sprache drei Ebenen zusammenführt:Eine geschichtliche Situation, die Betroffen-heit einzelner Schüler und einen Blick auf dieHungersnöte der Gegenwart.

Das Weisheitsvolle eines solchen Findungs-momentes von Sprache beschreibt RudolfSteiner als zusammenhängend mit dem imMenschen, das von seinem Ich geprägt ist:„In den Worten liegt ausserordentlich undungeheuer viel von Weisheit. Die ganze Ei-gentümlichkeit der Menschen kommt herausin der Art, wie sie ein Wort bilden. … Wennman in dieser inneren Weise die Sprache ver-steht, dann schaut man hinein, wie die Ich-Organisation wirkt.“ 2

Sprache und Dichtung als Durchbruch zumWesenhaften, zum ImaginativenWo sich Sprache im Augenblick originär bil-det, bringt sie einerseits das Wesen des spre-chenden Menschen selbst und mit diesem zu-gleich das Wesen des gesprochenen Inhalteszum Ausdruck. Seelisch durchfühlte und vomIch ergriffene Sprache kann damit durch dieäussere Schicht der Benennung und Einord-nung durchbrechen zum Wesensbild und zueinem ersten imaginativen Erfassen. Beim

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Individualität im Zeitgeschehen – Teil I

beim Kind: beim Erzieher:! Sprachbildung Sinn- und Bildhaftigkeit "

! Durchfühlen, Sprachgefühl, "Erleben Art der Ansprache

! Bewegung, Raumbildung für "Leibeserfahrung innere Beheimatung

2 Rudolf Steiner: Anthroposophische Pädagogik und ihre Voraussetzungen, GA 309, 15.4.24

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Nacherzählen einer Geschichte in der 4. Klassesteuert eine Schülerin zum Beispiel zielbe-wusst auf den dramatischen Höhepunkt zu:Trotz seiner Verkleidung wird ein Junge imTreiben des bevölkerten Marktplatzes plötz-lich wiedererkannt. Aus dem Mitfühlen, wasin diesem Jungen vor sich gehen mochte,wählt die Schülerin die Worte: „Am liebstenwäre Espen vom Boden verschluckt wordensein.“ Bei einem solchen Eintauchen in dietiefere Bedeutung von Worten und Wendun-gen entdecken die Schüler Ebenen und Kräfteder Sprache, die ihnen vorher verborgenwaren.

Zu einem solchen Neu-Entdecken gehörtauch das schrittweise Aufwachen für dieDichtung. Sicher wurden in den ersten Klas-senstufen schon viele Dichtungen bewegtund erlebt. Schüler der 6. Klasse aber könnennun die fast bewusste Erfahrung machen,dass Dichtung ganz andere Seiten und fei-nere Qualitäten eines Themas zur Erschei-nung bringen kann. Gelingt es, Naturstim-mungen, die den Schülern bekannt sind,durch ausgewählte Gedichte einzufangen,kann eine staunende Freude in der Klasseentstehen an dem, was Dichtung vermag. AlsBeispiel dafür mag das folgende Gedicht vonJosef Eberle gelten:

– Der Bussard –Tal und Fluss in schattenkühler Enge,übers Mühlwehr brausend rauscht der Schaum,braune Wiesen, dunkle Hügelhänge,aber hoch im seidenblauen Raumkreist ein Bussard ohne Flügelschlagen,wiegt sich lichtbeglänzt und steigt und fällt,wie ein Lied von seinem Klang getragen,über der noch stumpfen Welt. ––––––

Manche Schüler machen gerade in der Mit-telstufe dann regelrechte Phasen der Dich-

tung durch, die vor nahezu keinem Themazurückschrecken. Auch jedes Referat in derMittelstufe kann einer solchen Dichtungs-freude zum Opfer fallen:

„Schottland im Norden, Highlands im Regen,Nebel liegt über Schlösser und Wegen. …“

Wer solche Phasen durchgemacht hat wirdmit anderem Gehör, mit anderer Wachheitdie nachfolgenden Zeiten der grossen Balla-den und die spätere Poetik-Epoche in derOberstufe erleben.

Not der Sprache heute – aus dem individuellen EntwicklungsmomentunterrichtenIm Blick auf das heutige Zeitgeschehen mitseinen Tendenzen zur Standardisierung,Technisierung und Veräusserlichung derSprache erscheint der Ansatz Rudolf Steinersfür die Waldorfpädagogik nach wie vor revo-lutionär: „So wie die Sprache heute ist, giltsie eigentlich mehr oder weniger nur als einVerständigungsmittel auf dem physischenPlan; … Dasjenige, was die Sprache zur Bild-haftigkeit, zum Rhythmus, zum Takt, zumMelodiös-Dramatischen führt, was also zu-rückführt in das Seelische, und im Seelischensich wiederum durch das Musikalisch-Ima-ginative hinauferhebt in eine geistige Welt, –wir haben erlebt, dass man es abstreift undso, ich möchte sagen, dem Materialismuseine weitere Konzession gemacht hat.“3

Entscheidender Faktor für die beschriebenenkünstlerischen Qualitäten der Sprachent-wicklung ist immer die Aufmerksamkeit fürden individuellen Entwicklungsmoment: Jemehr es gelingt, nicht neben oder gar gegen,sondern mit der inneren Kraft und Aktivitätdes einzelnen jungen Menschen zu unter-richten, desto stärker können neue Schritte

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Individualität im Zeitgeschehen – Teil I

3 R. Steiner, Die Impulsierung des weltgeschichtlichen Geschehens, GA 222, 11. März 1923

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im Lernen gewagt und ausgeführt werden.Ein wesentlicher Indikator für die Qualitätsolcher individuellen Entwicklungsmomenteist die Begegnung in der Sprache.

Nach einer dreijährigen Arbeit mit einer Ini-tiativgruppe von Sprachgestaltern und Päda-gogen entstand der Impuls, den nächstenSchritt nun zusammen mit Lehrerinnen undLehrern der Schulbewegung zu entwickeln. So

wird vom 12. bis 14. Mai 2017 ein erstes Kollo-quium in Dornach stattfinden zum Thema„Pädagogik und Sprache heute – Schritte insNeuland wagen“.

Ziel ist es, in gemeinsamer Arbeit, in künstleri-schen Übungen und im Austausch jene origi-nären Augenblicke zu bewegen, in denen Spra-che und Individualität vor dem Hintergrunddes Zeitgeschehens neu zusammenklingen.

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Individualität im Zeitgeschehen – Teil I

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Zweimal im Jahr trifft eine grosse GruppePädagogen sich irgendwo in der Welt. Einewichtige Qualität dieser Versammlung ist,dass sie aus einer Gesamtheit heraus arbeitenkann. Die weltweite Bewegung der Waldorf-schulen sitzt – wenigstens im Prinzip – umeinen Tisch. Die Kraft, die davon ausgeht, be-wirkt, dass die Kernfragen unserer Zeit nachoben kommen können. Das Ziel dieser Welt-versammlung ist suchend und tastend – phä-nomenologische – Antworten auf aktuellsich stellende Fragen zu finden. In Dornachsassen wir mit zweiunddreissig Menschen ausdreiundzwanzig verschiedenen Ländern zu-sammen. Im Folgenden finden Sie eine Be-schreibung einiger Punkte, die besprochenwurden.

Die Kraft des SchlafesIn der Waldorfpädagogik spielen der Schlafund die Wirkung des Schlafes eine sehr wich-tige Rolle. Während des Schlafes werden irdi-sche Realitäten losgelassen, eine ausatmendeBewegung findet statt. Das Vergessen tritt andie Stelle des wachen Wissens. Damit durchLoslassen und Vergessen ein tieferes Wissenentstehen kann. Damit arbeiten wir in unse-rer Pädagogik täglich. Das Vergessen ist fes-ter Teil unserer Unterrichtspraxis. Der Epo-chenunterricht als Arbeitsform ist davon eineunmittelbare Folge. Die Nacht spielt aucheine grosse Rolle bei der Vorbereitung undbeim Studium des Lehrers. Während der Vor-bereitung nimmt der Inhalt, dasjenige wasman machen wird, eine kristallisierte Forman. Wenn man nach diesem Prozess, der einefeste Form anstrebt, anfängt zu unterrichten,wird diese Handlung umgesetzt und dann

entstehen oft überraschende Wendungen.Beim Studium zeigt sich das oft folgender-massen: man fängt an aus einem bestimmtenWissen heraus, aber nach und nach bemerktman wie man eine andere, nicht vorher be-stimmte Richtung einschlägt. Aus dem wasman schon wusste, entsteht etwas Neues.

Die Verinnerlichung des DenkensDurch die Einbeziehung des Schlafes in denLernprozess wird das schnelle Wissen, das aufÄusserlichkeiten und Informationen orien-tiert ist, gebremst und zurückgehalten. Einlebendiges und reines Denken kann dadurchentstehen. Wie sieht die Aufgabe des Lehrersaus beim Begleiten dieses Prozesses?

• In der Kindergartenzeit handelt es sichum die richtige Handlung der Kindergärt-nerin oder des Meisters. Das Vor-lebenaus innerer Verbindung mit dem was mantut, wird sichtbar in dem was getan wird.Das Kind lernt durch Nachahmung einBewusstsein entwickeln für dasjenige wases tut. Die Kinder lernen die Welt kennendurch eine Handlung die vorgemachtwird.

• Von Klasse 1 bis Klasse 8 haben die Kinderim Prinzip den gleichen Klassenlehrer. Indieser Zeit begleitet der Lehrer die Kinderbei der Entwicklung vom Gemeinsamenbis zum Individuellen. Das Verinnerlichendes Lebens ist dabei von wichtigem Inte-resse. Dieses kommt zum Ausdruck durchdie Art wie ein Klassenlehrer spricht undwas gesagt wird. Der Klassenlehrer bringtVertiefung in alles was von Aussen

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Bericht des Treffens der Internationalen Konferenz in Dornach

Novembertreffen der Internationalen Konferenz derwaldorfpädagogischen Bewegung in Dornach

Sigurd Borghs

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kommt und die Welt zeigt sich den Schü-lern durch die Verbindung seiner Personmit der Welt.

• In der Oberstufe (Sekundarstufe) lerntder Schüler wie er sein Denken entwi-ckeln kann, wenn er die Urteile des Leh-rers in sich selber spiegelt. Der Schülerfühlt sich angesprochen und dadurchentsteht Deutlichkeit über eigene Idealeund Inspirationen. Die Bedeutung einerSache steht zentral beim Lehrer. Er odersie unterrichtet aus dem reinen Wahr-nehmen heraus, lebt vor wie man zumUrteilen und zum Verstehen kommt.

Pädagogische EurythmieEurythmie gehört zur Eigenheit der Waldorf-pädagogik. Aber warum ist sie wichtig für un-sere Kinder? Tatsache ist, dass wir in einer Zeitleben, wo der Kopf sehr in Anspruch genom-men wird. Die Kinder müssen immer längerstill sitzen. Die einfache Folge davon ist, dassdas sinnvolle Bewegen abnimmt. Und dannsprechen wir hier nur von der äusseren Bewe-gung. Die Eurythmie hilft gerade bei der Ver-innerlichung der Bewegung. Denn eine sinn-volle Bewegung ist diejenige, in der Handelnund Denken sich vereinen und in Harmoniegebracht werden. Wird Eurythmie gut ange-boten, dann vertieft und verinnerlicht sich dasHandeln und es entsteht eine reiche, bildhafteBeweglichkeit im Denken. Auf diese Weisewirkt Eurythmie harmonisierend und bringtExtreme, Gegensätze zusammen. Handeln undDenken werden atmend angesprochen. Da-durch entsteht eine künstlerische Handlung,die grundsätzlich und sicher auch aktuell istfür die emotionale Entwicklung der Kinder.Das verlangt gut geschulte Eurythmisten.Weltweit wird heute Initiative genommen, dieder Not nach Eurythmie in der Pädagogik ent-gegen kommt. Zum Beispiel durch das Stimu-lieren des pädagogischen Ansatzes in den Eu-rythmieausbildungen.

Waldorf 100Vor fast 100 Jahren, im Jahre 1919, entstandder Impuls der Waldorfschule. Unter der Lei-tung Rudolf Steiners entkeimte der Samenaus dem die weltweite Bewegung der Wal-dorfschulen/Rudolf Steinerschulen hervorge-gangen ist. Die Internationale Konferenznahm Waldorf 100 zum Anlass, um die inter-nationale Qualität dieser pädagogischen Er-neuerungsbewegung zu feiern. Der Keim istnämlich wirklich eine echte Pflanze gewor-den! In vielen Ländern der Welt haben inzwi-schen Vorbereitungen angefangen, um diesesFest aktiv zu feiern. Zum Beispiel: An allenunseren Einrichtungen weltweit wollen wirBienen halten und alle Schüler-Altersgruppenintensiv daran teilhaben lassen, von Unter-bis Oberstufe, vom Honigernten bis zu kom-plexen Forschungsaufträgen. Die Erde sollwieder ein Ort werden, an dem die Bienenleben können. Andere Beispiele: das Studiumder „Allgemeinen Menschenkunde“ erneut in-tensivieren, eine Komposition entstehen las-sen, die weltweit gespielt werden kann. Wich-tige und tieferliegende Fragen, die wir unsstellen müssen, sind: was haben wir in diesen100 Jahren geleistet und was haben wir un-terlassen? Was müssen wir noch tun, um in2019 wirklich feiern zu können? Wo wollenwir stehen im Jahre 2030? Das Suchen nachAntworten auf diese Fragen hilft uns auchdas innerliche Fest zu gestalten.

AbschliessendesDie Internationale Konferenz der Waldorfpä-dagogischen Bewegung (Haager Kreis) arbei-tet neben den genannten Themen auch in-tensiv an anderen Punkten. Zum Beispiel: wiekönnen die Namen „Waldorf“ und „RudolfSteiner“ für Kindergärten und Schulen ge-schützt werden? An vielen Orten der Weltwill man diese Namen aus modischen Grün-den an der Schulpforte benutzen. Sie werden dabei missbraucht. Der Inhalt der Pädagogikdeckt nicht was auf dem Schild steht. Eine

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Bericht des Treffens der Internationalen Konferenz in Dornach

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Weltliste der Waldorfschule wird aktualisiertund erweitert. Alle von der InternationalenKonferenz anerkannten Waldorfschulen sindin dieser Liste aufgenommen.

Die Konferenz versucht sich jedes Mal auchein Bild zu machen von der Arbeit der ver-schiedenen Organisationen, die länderüber-greifende Arbeit für die Pädagogik leisten.Es gibt eine Reihe von Organisationen, dieihre Aufmerksamkeit auf einen Teil der Welt

oder auf ein Teilgebiet der Pädagogik rich-ten. In diesen Gruppen geschieht oft wirkli-che Feldarbeit und sie haben meistens einentief verwurzelten Blick auf heutige Realitä-ten.

Die Internationale Konferenz sucht tastendund unterstützend ihren Weg. Sie hofft undwünscht auf diese Weise, die Entwicklungder Waldorfpädagogik unterstützen und för-dern zu können.

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Bericht des Treffens der Internationalen Konferenz in Dornach

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Wenn man zum ersten Mal die Philippinenbesucht, kann man sehr staunen: so vielMenschen zusammen auf einem Platz! Nichtnur in Manila, wo man ankommt, aber auchin den Strassen, in den Läden, überall sindLeute. Die Reise geht weiter nach Iloilo,Hauptstadt der Insel Panay. Hier, in der Näheder kleinen Stadt Zarraga, liegt die GamotCogon Waldorf Schule, jemals von Jim Shar-man und sein Frau Tessa Janlandoni ange-fangen mit 4 Schülern. Jetzt sind da 241Schüler in 2 Kindergärten und 12 Klassen. Einlanger Betonweg führt zwischen den Reisfel-dern entlang in ein armes Barangay, eine ArtDorf und da ist die Schule. Die Klassen habenWände von Bambus und die kleinen Gebäudeder Unterstufe haben eine hexagonale Form,wie eine Bienezelle und ein Grasdach.(Gamot Cogon = GrasWurzel)

Seit 5 Jahren unterstütze ich diese Schule,hospitiere in den Klassen, coaching-on-the-job, arbeite am Wandtafelzeichnen, Formen-zeichnen usw. und in den Konferenzen.GCWS ist die einzige Schule, die ich besuche.Der Gewinn ist, dass man sich über eine län-gere Periode verbinden kann mit der ganzenEntwicklung der Schule. Nicht nur in denKlassen, wo ich zum Beispiel in der erstenKlasse helfe mit der Gruppenformung nachden Temperamenten, die Frage wie die Kindersitzen, wo die Tische stehen, was an derWand hängt, was auf der Wandtafel steht,was der beste Rhythmus für den Hauptun-terricht ist. Aber auch die Kunst des Kompo-nierens des Hauptunterrichts kommt wiederan die Reihe, die Kunst des Erzählens und desUnterschieds zwischen dem Erzählen eines

Märchens und dem einer Geschichte.

Im Anfang wird in so einer neuen Schuletüchtig gearbeitet: viel studiert und viel or-ganisiert. In den Konferenzen studieren dieLehrer verschiedene Bücher: AllgemeineMenschenkunde – natürlich! – und spezielleVorträge für die Oberstufe. Die Lehrer spre-chen über die Schüler, wie sie arbeiten undauch wie sie spielen. Wann gestattet manzum Beispiel, dass die Kinder mit dem Skate-board rumgehen? Wie hängt das zusammenmit dem Lebensalter?

Die Kinder habe ich allmählich fast alle ken-nen gelernt. Da sind Kinder in der Schuleaus dem armen Barangay. Die Schule liegtnämlich zwischen den Reisfeldern und vieleKinder aus diesem armen Milieu sind ange-meldet. Auch sind Schüler da von „reichen“Familien, denn die Eltern haben in der Stadtgehört, dass da eine Schule in der Naturliegt ,,wo man Musik treibt, malt, zeichnetund auch noch schauspielt!“ So hat sicheine vielfarbige Gemeinschaft gebildet undeinmal hat eine „arme“ Mutter zu ihrerTochter gesagt dass sie nicht mit dem „rei-chen“ Kind spielen solle. Da hat ihr das Kindgeantwortet: „Nein, Mama, hier sind wir allegleich!“

In der Schule sind auch Kinder, die nicht gutmitkommen mit dem Unterricht. Wir kennendas alle: in Europa und in Bergen, Holland, inmeiner eigenen Schule, haben wir Möglich-keiten um individuell zu helfen. Zusammenmit der Schulärztin, Dr. Aimee Chua, einemKinderpsychiater, die ihr Kind auch in die

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Aus dem Schulalltag im Klassenzimmer

Aus dem Schulalltag im KlassenzimmerBienen in der Gamot Cogon Schule

Max van der Made

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Schule bringt, haben wir seit einigen Jahreneine kleine Gruppe von Lehrern ausgebildet,um individuell mit Schülern zu arbeiten. Wirhaben einen kleinen Raum eingerichtet wieeine Klasse für die „Extra Lesson“. Und daswirkt; mit den Kindern werden gewisseÜbungen gemacht, z.B. wenn die Kinder Dys-lexie haben oder wenn die Kinderbetrach-tung eine gewisse Anleitung dazu gibt. Eskommt vor, dass Schüler nicht bis in die12. Klasse mitkommen können. Für diese so-genannten 'non-graded' Kinder suchten wirnach Möglichkeiten, um eine sinnvolle Aus-bildung und Arbeit zu organisieren, damit siein die Philippinische Gesellschaft hineinkom-men können.

Es wurden Versuche gemacht, um Arbeit fürdiese Schüler zu finden. Wir haben Kontaktmit einer Weberei aufgenommen, die Mithel-fer suchte. Im Anfang sah das gut aus, aberes war schlussendlich doch zu weit von derSchule entfernt.

Dann haben wir die Bienen introduziert. Diedahinterliegende Idee war, dass die Schülerlernen wie man Honig erntet, damit sie –später – einiges verdienen können. Langehaben wir nach Bienen gesucht. Und dannist uns etwas Merkwürdiges zugefallen … Ichbegegnete einer holländischen Frau, Yvonneheisst sie, die seit Jahren mit ihrem philippi-

nischen Mann in der Nähe der Schule wohntund sie hat Bienen! Und zwar die Apis Melli-fera, dieselbe Art Bienen, die ich auch in Ber-gen in der Schule habe! Schnell wird dererste Bienenkasten gebaut und auch nochein schöner Bienenstand. Dann haben wirvon Yvonne das erste Bienenvolk gekauft.Jetzt sind schon 3 Völker da. Die Aufgabe istnun, die Bienen in der ganzen Schule einzu-führen und den ganzen Prozess des Versor-gens, Erntens bis hin zum Verkaufen des Ho-nigs zu unterrichten. Die Unterstufen sindsehr interessiert und haben gar keine Angst.Die angenehme Temperatur macht die Bie-nen so freundlich, dass noch nie eine Bienegestochen hat. Kommt dazu, dass es allesüsse Kinder sind … Wie haben wir einen An-fang gemacht mit dem Zusammenleben miteinem Bienenstand in der Schule?

Erst kam die Vorbereitung in der pädagogi-schen Zusammenkunft, der Konferenz. In denKlassen wird dann erzählt über das Lebeneines Bienenvolkes: wie das aussieht, tau-sende von Arbeiterinnen, einige Männer, dienur warten auf das Heiraten, und die wich-tigste Dame, die Königin, um die sich allesdreht. Auf der Wandtafel hatte ich die dreigezeichnet und der Königin eine Krone gege-ben. Im Kasten hatten Jim und ich die Köni-gin mit einem blauen Punkt auf ihrem Rü-cken markiert. Als wir dann mit der Klasse 1

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Aus dem Schulalltag im Klassenzimmer

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den Kasten geöffnet haben, haben die Kinderwirklich die Krone gesucht. Und gefunden!Auch haben sie mit ihrem kleinen FingerHonig geschleckt und geschmeckt ….

Es ist mir aufgefallen, dass immer einige Kin-der dabei sind, die im Nu auch die unmar-kierte Königin finden können. Vermütlichsind das die Imker der Zukunft! Und nochetwas Merkwürdiges: aus Holland hatte ichPlatten aus Bienenwachs mitgenommen,damit die jungen Völker einen Anfang haben.Das hat gar nicht gewirkt. Es war viel zusanft für dieses Land! Ihr eigenes Wachs istdünner, härter und hat eine leichtere Farbe.Es ist wie in der Schule, wir können alles

Mögliche mitnehmen, aber müssen dochimmer nach dem Anschluss in der eigenenKultur suchen.

Für mich war die Frage, ob in der Umgebungder Schule genug Nektar zu finden ist. Dasind Bananen – und einige Acaciabäume,aber nicht viele Blumen zwischen dem Reis.Und dazu kommen die Fragen, wann die Bie-nen in diesem Klima schwärmen, wann kannman ernten, usw.

Die Aufgabe, um der Imkerei einen struktu-rierten Platz im Unterricht der Gamot CogonSchule zu geben, ist eine Herausforderungfür die kommenden Jahre!

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Aus dem Schulalltag im Klassenzimmer

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Agenda

2017

17. – 19. Februar Meditative Praxis im Lehrer- und Erzieherberuf(in deutscher Sprache)

24. – 26. März Hochschultagung der Pädagogischen Sektion(deutsch und englisch)(für Mitglieder der Freien Hochschule fürGeisteswissenschaft)

12. – 14. Mai Sprache und Pädagogik heute, Schritte insNeuland wagenEin Kolloquium in deutscher Sprache

09. – 11. Juni Religionslehrertagung (deutsch und englisch)

11. – 15. Juni Ausbildungsseminar Religion(in deutscher Sprache)

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