10
1 Ruhr-Universität-Bochum Fakultät für Philosophie Veranstaltung: Die Ethik der Existenzphilosophie Semester: SoSe 2006 VeranstalterIn: Prof. Scholtz Thema: Das mittelmeerische Denken Referent: Stefan Gassner Zusammenfassung des letzten Kapitels aus „Der Mensch in der Revolte“ aus dem Jahr 1951 von Albert Camus (S. 315-345): Das mittelmeerische Denken Revolte und Mord Einleitend sagt Camus, dass durch die Überwindung der Religion die Tugend, die Moral gestorben sei, nun aber „noch wilder als zuvor“ (S.315) auferstehe, indem sie zur Polizeigewalt umgewandelt werde. Er sieht vor allem darin eine Neuerung, dass zu Zeiten der Religiosität es angesichts der Opfer der beiden Weltkriege ein „heiliges Grauen“ (ebd.) hervorgerufen hätte, heute dagegen die Opfer nur langweilen würden. Im folgenden zeigt der Autor das Dilemma auf, in welchem sich diejenigen, die sich gegen den Mord und für Gerechtigkeit und Freiheit auflehnen. „Die Revoltierenden [...] im Aufstand gegen den Tod“ (S.316) seien gezwun- gen den eigenen Tod in Kauf zu nehmen oder selbst zu morden, sie befänden sich also in der Entscheidung Opfer oder Täter zu sein. In dieser Situation müsse also auf jede Revolte verzichtet werden, entweder durch das Akzeptie- ren der Ungerechtigkeit oder durch den Kampf gegen den Menschen, der die systematische Vernichtung desselben zur Gerechtigkeit erklärt. Camus hinterfragt dieses Bild der Revolte, das nur die Möglichkeit zur Resignation oder zum Verinnerlichen der Ungerechtigkeit indem mensch mordet bietet. So erkennt er die Grenze der Unterdrückung in der Menschenwürde, die gleichzeitig auch das Gemeinsame der Menschen, der Ausgangspunkt von Solidarität untereinander sei, was einen Fortschritt im Ringen mit dem Absurden bedeute. Gleichzeitig werfe das Gemeinsame das Problem des Mordes in der, bzw. für die Revolte auf. Denn anstatt nur ein logischer Widerspruch zu sein, wie es im Absurden der Fall sei, führt der Mord in der Revolte zu innerer Zerrissenheit, da Mord und Revolte widerspruchsvoll seien. Die/Der Revoltierende beruft sich durch das Gemeinsame der Menschen auf das Recht zu revoltieren. Wenn er/sie nun aber mordet, verachte und vernichte er/sie das Gemeinsame und entziehe sich selbst das Recht auf Revolte.

Camus-Das Mittelmeerische Denken

  • Upload
    zubber

  • View
    213

  • Download
    0

Embed Size (px)

DESCRIPTION

camus

Citation preview

Page 1: Camus-Das Mittelmeerische Denken

1

Ruhr-Universität-Bochum Fakultät für Philosophie Veranstaltung: Die Ethik der Existenzphilosophie Semester: SoSe 2006 VeranstalterIn: Prof. Scholtz Thema: Das mittelmeerische Denken Referent: Stefan Gassner Zusammenfassung des letzten Kapitels aus „Der Mensch in der Revolte“ aus dem Jahr 1951 von Albert Camus (S. 315-345):

Das mittelmeerische Denken

Revolte und Mord

Einleitend sagt Camus, dass durch die Überwindung der Religion die Tugend,

die Moral gestorben sei, nun aber „noch wilder als zuvor“ (S.315) auferstehe,

indem sie zur Polizeigewalt umgewandelt werde. Er sieht vor allem darin eine

Neuerung, dass zu Zeiten der Religiosität es angesichts der Opfer der beiden

Weltkriege ein „heiliges Grauen“ (ebd.) hervorgerufen hätte, heute dagegen

die Opfer nur langweilen würden.

Im folgenden zeigt der Autor das Dilemma auf, in welchem sich diejenigen, die

sich gegen den Mord und für Gerechtigkeit und Freiheit auflehnen.

„Die Revoltierenden [...] im Aufstand gegen den Tod“ (S.316) seien gezwun-

gen den eigenen Tod in Kauf zu nehmen oder selbst zu morden, sie befänden

sich also in der Entscheidung Opfer oder Täter zu sein. In dieser Situation

müsse also auf jede Revolte verzichtet werden, entweder durch das Akzeptie-

ren der Ungerechtigkeit oder durch den Kampf gegen den Menschen, der die

systematische Vernichtung desselben zur Gerechtigkeit erklärt.

Camus hinterfragt dieses Bild der Revolte, das nur die Möglichkeit zur

Resignation oder zum Verinnerlichen der Ungerechtigkeit indem mensch

mordet bietet. So erkennt er die Grenze der Unterdrückung in der

Menschenwürde, die gleichzeitig auch das Gemeinsame der Menschen, der

Ausgangspunkt von Solidarität untereinander sei, was einen Fortschritt im

Ringen mit dem Absurden bedeute. Gleichzeitig werfe das Gemeinsame das

Problem des Mordes in der, bzw. für die Revolte auf. Denn anstatt nur ein

logischer Widerspruch zu sein, wie es im Absurden der Fall sei, führt der Mord

in der Revolte zu innerer Zerrissenheit, da Mord und Revolte widerspruchsvoll

seien. Die/Der Revoltierende beruft sich durch das Gemeinsame der

Menschen auf das Recht zu revoltieren. Wenn er/sie nun aber mordet,

verachte und vernichte er/sie das Gemeinsame und entziehe sich selbst das

Recht auf Revolte.

Page 2: Camus-Das Mittelmeerische Denken

2

Der Ausweg aus diesem Dilemma sieht Camus darin, das Gemeinsame nicht

als ‚Wir sind’, sondern als ein ‚Wir werden sein’ zu formulieren. So könne der

Mord, anstatt ihn zu systematisieren, zur Ausnahme erklärt werden, die aber

mit dem eigenen Tod bezahlt werden müsse. Denn erst wenn der Mordende,

in diesem Falle also die/der Rebell/in selbst, überwunden wird, kann das ‚Wir

sind’ zur Entfaltung kommen.

Der nihilistische Mord

Der Nihilismus, in Form des irrationalen, aber auch des rationalen Verbre-

chens, richtet sich zugleich gegen das Geschöpf, den Menschen, und den

Schöpfer, die Revolte. Ihm sei es gleichgültig „das ohnehin Todgeweihte zu

töten“ (S. 319) und verrate somit den Wert, welchen die Bewegung der Revol-

te zustande gebracht und dem sie sich selbst verpflichtet hat, nämlich die

Verbundenheit der Menschen. Die Revolte stelle sich deshalb gegen den Nihi-

lismus, indem ihre Moralprinzipien „erst in der Hitze des Aufstands“ (ebd.) ent-

stünden. Und selbst in diesem Gefecht müsse die Moral der Revolte „die

Knechtschaft, die Lüge und den Terror“ (ebd.) negieren, selbst aber nicht

dogmatisch festgeschrieben werden, sondern veränderbar bleiben, immer

dem Jetzt verpflichtet. Der freie Dialog (über die ethischen Grundsätze) müsse

in der Revolte bestehen bleiben, um die Komplizität und Solidarität des Men-

schen nicht in einem Schweigen zu ersticken und um nicht in den Monolog der

Herrschaft zu verfallen. Erst der Erhalt der Komplizität rette den Menschen vor

dem Nihilismus. Deshalb sind Mord und Revolte auch nicht vereinbar, weil die

Revolte der Freiheit eine Grenze zuweist, nämlich die Freiheit des Anderen.

Freiheit könne also nie eine totale Freiheit sein, die das Töten mit einschließt,

sondern bleibe immer eine relative Freiheit.

Die/Der Revoltierende kann aber nicht absolut darauf verzichten zu töten oder

zu lügen, ohne die Knechtschaft, den Mord, das Böse hinzunehmen.

Der Revoltierende kann somit keine Ruhe finden. Er kennt das Gute und tut das Böse gegen seinen Willen. Der Wert, der ihn aufrechthält, ist ihm nicht ein für allemal gegeben, er muß ihn unablässig hochhalten. (S. 322)

Wenn der/die Rebell/in mordet, müsse er/sie also den Tod auf sich nehmen

und opfere sich damit selbst. So erlange er „wahre Freiheit nicht in Hinsicht

auf den Mord, sondern auf seinen eigenen Tod“ (ebd.).

Page 3: Camus-Das Mittelmeerische Denken

3

Der geschichtliche Mord

Im Rahmen der Geschichte, bzw. in der Geschichtsphilosophie würden be-

ständige Haltungen, wie der historische Materialismus, Determinismus, etc.,

verlangt, die sich nach Wirksamkeit richteten, wodurch der rationale Mord ge-

rechtfertigt werden könnte. Für Camus ergibt sich daraus ein Widerspruch zur

Revolte, der sich in den Gegensätzen von Gewalt und Gewaltlosigkeit, sowie

Freiheit und Gerechtigkeit manifestiert. Im Folgenden versucht er diese Anti-

nomien „in ihrem Paradox zu definieren“ (S. 323). Camus unterscheidet hier

zwischen Revolte, als Aufstand/Rebellion/Auflehnung aus individuellem An-

trieb heraus, und Revolution, als kollektiv-revolutionäre Handlung im Sinne der

teleologischen Geschichtsfestlegung des historischen Materialismus.

Da die Revolte Gewaltlosigkeit als Ausgangspunkt hat, werde die Revolution

unmöglich, da diese ja Gewalt notwendig mache. Wird sich nun aber der Re-

volution enthalten, werde damit der Gewalt des Unterdrückers recht gegeben

und sich so in einen konservativen Nihilismus zurückgezogen. Wird der Revo-

lution zugestimmt, werde das gewaltlose Menschenbild und die Revolte selbst

verraten. Daraus ergebe sich das Dilemma des Rebells/der Rebellin, der/die

sich nun zwischen Schweigen und Mord entscheiden müsse. Für Camus kann

nur eine „Philosophie der Ewigkeit“ (ebd.) als Vermittlerin aus diesem Dilem-

ma führen und die Gewaltlosigkeit rechtfertigen, indem sie sich auf die Er-

schaffung der Geschichte, statt auf die Festlegung der Geschichte (wie es die

Geschichtsphilosophie tut) einlässt.

Auch absolute Freiheit und absolute Gerechtigkeit seien nicht vereinbar, da

die Freiheit, die das Recht zu töten einschließt, zu einem Recht des Stärkeren

werde und somit die Gerechtigkeit zerstöre. Absolute Gerechtigkeit zerstöre

wiederum die Freiheit, da sie versuche alle Widersprüche, also alle Verschie-

denheit zu unterdrücken.

So ergibt sich für Camus der Gegensatz zwischen der Bewegung der Revolte

und den Errungenschaften der Revolution: Die Revolte entsteht durch die

Forderung nach Freiheit und Gerechtigkeit. Dies nimmt die Revolution auf,

verneint aber gleichzeitig die Revolte (durch Gewaltanwendung und Teleolo-

gie/Absolutheitsanspruch). Da aber Freiheit und Gerechtigkeit sich nicht ohne

Vermittlung vereinbaren ließen, müsse die Revolution zu einer neuen Revolte

führen, in der sich Freiheit und Gerechtigkeit gegenüberstehen, und somit die

Revolution zu einem Misserfolg werden lassen.

Page 4: Camus-Das Mittelmeerische Denken

4

Erst ein vermittelnder Wert könne Freiheit und Gerechtigkeit aus ihren Gegen-

sätzlichkeiten herausführen, und diesen offenbare die Revolte.

Die Revolution und mit ihr die Geschichtsphilosophie des 20. Jahrhunderts

setzten die Geschichte an die Stelle Gottes und verrieten sie damit. Denn Ge-

schichte schafft nach Camus keinen Wert aus sich selbst heraus, sondern

fordere ein Leben, das sich nach der unmittelbaren Wirksamkeit richten müs-

se und so zu Berechnung und systematischer Gewalt führe. Rein geschichtli-

ches Denken, für das die Vernunft erst am Ende der Geschichte vollendet wird

und bis dahin ohne Moral handelt, sei also nihilistisch und stehe damit im Ge-

gensatz zur Revolte. Camus sieht darin einen politischen Zynismus, der nur

als absoluter Nihilismus oder als absoluter Rationalismus in Erscheinung tre-

ten könne, in jedem Fall aber die Welt ins Verderben führe.

Eine Geschichtsteleologie, eine totale Festlegung, das „rein geschichtliche

Absolute“ (S. 326) ist für den Autor nicht einmal vorstellbar, weil es kein Han-

deln geben könne, das die Totalität der Weltgeschichte umfassen, das einen

absoluten Standpunkt rechtfertigen könnte. Er argumentiert dabei mit Jaspers,

für den die Geschichte als Ganzes nur von außerhalb, im Endeffekt also nur

von Gott, erkannt werden könne.

Die Mystifikation des revolutionären Geistes nehme lediglich die bürgerliche

Mystifikation auf und verstärke sie, indem sie durch das Versprechen der ab-

soluten Gerechtigkeit die ewige Ungerechtigkeit in Form von Kompromissen

und Unwürdigkeit einführe.

Das rationale Verbrechen, der geplante Mord im Namen der Revolution, be-

deute den Tod der Revolte, die gegen eine vergöttlichte Geschichte ankämpft.

Gegen die Geschichtsphilosophie des Absoluten setzt Camus das Bild der

einzigen Philosophie, die die Revolte hervorbringen könne: „eine Philosophie

der Grenzen“ (ebd.). Der/Die Revoltierende beziehe sich dabei auf die Ge-

schichte der Gegenwart, die er/sie „im Namen einer Idee“ (S. 327) erschafft.

Die Revolte zielt ab auf das Relative, die begrenzte, relative Gerechtigkeit, in

der alles möglich, anstatt, wie Hegel und Marx es fordern, alles notwendig sei.

Die Revolte bahne sich ihren Weg zwischen Gott und der Geschichte hin-

durch, indem sie die Widersprüche lebt und so auch überwindet.

Eine revolutionäre Tat im Sinne der Revolte müsse also dem Relativen zu-

stimmen, um das Gemeinsame, die Verbundenheit aufrechtzuerhalten und

sich selbst zu rechtfertigen. Daraus ergäben sich auch die relativen Begriffe

von Freiheit und Gerechtigkeit:

Page 5: Camus-Das Mittelmeerische Denken

5

So kann es keine Gerechtigkeit ohne natürliches oder bürgerliches Recht ge-

ben. „Das Recht zum Verstummen bringen, bis die Gerechtigkeit eingeführt

ist, heißt es für immer verstummen zu lassen.“ (S. 328) Des weiteren würde

die Aufgabe des Rechts bedeuten, dass mensch aufs Neue dem „allergnä-

digsten Willen“ (ebd.) derjenigen ausgeliefert sei, die während oder nach der

Revolution die Macht innehalten.

Die relative Freiheit ist notwendig, um Gerechtigkeit herstellen zu können. „Die

Freiheit töten, um die Gerechtigkeit zur Herrschaft zu bringen“ (ebd.) würde

bedeuten, das Recht auf Protest und die Gemeinsamkeit der Menschen auf-

zugeben.

„Um fruchtbar zu sein, müssen beide Begriffe [, Gerechtigkeit und Freiheit,]

sich gegenseitig begrenzen.“ (ebd.)

Gleiches gelte für die Gewaltanwendung: vollständige Gewaltlosigkeit und

systematische Gewalt müssten sich ebenfalls gegenseitig begrenzen. So dür-

fe Gewalt für den/die Rebell/in immer nur äußerstes und letztes Mittel sein,

und nur dann, wenn sie sich gegen eine andere Gewalt richte. Dabei müsse

sich die/der Revoltierende aber von vornherein systematischer Gewalt ver-

weigern und sich nicht in den Dienst einer Doktrin o.ä. stellen.

Die echte Tat der Revolte wird nur für Einrichtungen zu den Waffen grei-fen, die die Gewalt einschränken [...]. Nur dann lohnt eine Revolution den Tod, wenn sie unverzüglich die Abschaffung der Todesstrafe versi-chert [...].“ (S. 329)

Gewalt darf sich für Camus aber nur auf dem Weg zu fortschrittlichen Errun-

genschaften entfalten, nicht für ein festgeschriebenes absolutes Ziel. Denn

Geschichte, bzw. Geschichtsphilosophie, bzw. historischer Materialismus,

etc., könne kein absolutes Ziel, keine Teleologie, keinen Determinismus recht-

fertigen. Nur die Mittel rechtfertigen das Ziel, und den Einsatz der Mittel be-

stimmt die Ethik der Revolte.

In der 1951, für Camus aktuellen, politischen Situation habe der geschichtliche

Absolutismus die Macht ergriffen und zerstöre die Möglichkeit zur emanzipato-

rischen Veränderung der Wirklichkeit, die die Revolte anstrebe und ermögli-

che. Die Revolution, der ‚realexistierende Sozialismus’, müsse die Gefahr des

Scheiterns akzeptieren und von ihren absoluten Zielen abtreten, da sie sonst

nur ein „Unternehmen neuer Herren“ (S. 330) sei. Sie solle weg von der Be-

rechnung „weltumfassend oder gar nicht“ (ebd.), und sich wieder auf Näheres,

Page 6: Camus-Das Mittelmeerische Denken

6

auf das Dringendste konzentrieren. In der gegenwärtigen Situation stünden

die Chancen der Revolution mit den Risiken eines erneuten Weltkrieges glei-

chauf. Camus ruft deshalb die materialistisch-revolutionären Eliten dazu auf

über ihre Prinzipien noch einmal erneut nachzudenken und ihre Theorien zu

hinterfragen, um herauszufinden welcher Fehler zu „Terror und Krieg“ (S. 331)

geführt habe. So könnten sie die ursprünglichen Gründe der Revolte und die

Treue zu ihr wiedergefunden werden.

Maß und Maßlosigkeit

Die oben angeprangerte „revolutionäre Verirrung“ (ebd.) stammt für Camus

aus dem nihilistischen Denken, das totale Zerstörung und unbegrenzte Erobe-

rung und Knechtschaft rechtfertige. Sie verkenne die Grenze, die durch die

Revolte aufgezeigt wird. Der revolutionäre Geist müsse also zu den Quellen

der Revolte, zum Denken des Relativen, zur Philosophie der Grenzen zurück-

finden und das Prinzip der menschlichen Natur, „ein Maß der Dinge und des

Menschen“ (ebd.) entdecken.

Heute schaffe jeder Gedanke und auch die Wissenschaft diese Grenzen, in-

dem nicht in absoluten Größen, wie z.B. ‚die Wahrheit’, also nicht in Ideolo-

gien gedacht werde, sondern in relativen Größen, indem sich Kenntnis von

etwas als Annäherung an die Wahrheit, als vorläufige Wirklichkeit versteht.

(vgl. Poppers Fallibilismus) Sogar die materiellen Kräfte, die Technik und Pro-

duktionsweise mit Hilfe der Automation setzen sich nach Camus solche Gren-

zen, was es unnötig mache diese umzustürzen, denn nur die heutige Anwen-

dung der Maschinen sei schlecht. Würden diese Grenzen nicht geschaffen,

werde „die heutige Maßlosigkeit [...] ihr Gesetz und ihren Frieden erst in der

allgemeinen Vernichtung finden.“ (S. 333)

Das „Gesetz des Maßes“ (ebd.), die Notwendigkeit von Grenzen, bzw. von

gegenseitiger Begrenzung gilt auch für alle Antinomien des revoltierenden

Denkens:

- Wirklichkeit/Irrationalität & Rationalität (Bsp. Surrealismus, vgl. S. 333)

- Sinn & Sinnlosigkeit

- Sein & Werden (Das Werden braucht das Sein als Beginn des Werdens, das „Sein kann sich nur im Werden erfahren“ (ebd.))

Page 7: Camus-Das Mittelmeerische Denken

7

unterschieden von moralischen Antinomien:

- Wirklichkeit & Tugend

- Moral der Revolte & Leben und Geschichte (Gegenüber dieser Verirrung [der materialistischen Ge-schichtsauffassung] lehrt uns das Maß, daß jede Moral ein Teil der Wirklichkeit enthalten muß: die reine Tugend ist mörderisch, und daß jeder Realismus einen Teil Moral braucht: der Zynismus ist auch mörderisch. (S. 334))

- Schuld & Unschuld (Der Mensch sei nicht vollkommen schuldig, da er die Ge-schichte nicht begonnen habe, aber auch nicht völlig un-schuldig, da er sie fortführe. Die Revolte vertritt für Camus eine relative, eine „berechnete[n] Schuld“ (ebd.), die „im Grenzfall durch unschuldige Mörder verkörpert“ (ebd.) wird.)

„An dieser Grenze definiert das ‚Wir sind’ paradoxerweise einen neuen Indivi-

dualismus.“ (ebd.) Das ‚Wir sind’, der Mensch als soziales Wesen das andere

braucht, setze eine Disziplin für die Bildung einer Gesellschaft, für kollektives

Handeln voraus. Wenn dieses ‚Wir sind’ geleugnet würde, würden die Diszip-

lin und die Gesellschaft richtungslos. Den Individualismus sieht Camus darin,

das also jede/r Einzelne die gemeinsame Würde, das ‚Wir sind’ durch die Fä-

higkeit zur Disziplin in sich trage.

Das mittelmeerische Denken

Diese Haltung des Individualismus und des Maßes findet sich für Camus als

aktuelle politische Umsetzung (1951) z.B. im Syndikalismus, dessen Erfolg

offensichtlich sei, da er innerhalb nur eines Jahrhunderts die Arbeitsbedingun-

gen von einem 16-Stunden-Tag zu einer 40-Stunden-Woche verbessert habe.

Im Gegensatz zur Ideologie, die den Sozialismus zum Rückschritt gebracht

und gewerkschaftliche Errungenschaften zerstört habe, setzt der Syndikalis-

mus an der „lebendige[n] Zelle, auf der sich der Organismus aufbaut“ (S. 335),

also an konkreten Grundlagen wie dem Beruf an.

Während die Revolution von oben nach unten agiere, nämlich vom Absoluten

ausgehend die Wirklichkeit formen möchte, stütze sich die Revolte dagegen

auf die Wirklichkeit, um in der Auseinandersetzung, im Kampf mit ihr Verbes-

serungen entwickeln zu können. Sie agiert also von unten nach oben, sodass

sich die Politik den Wahrheiten, dem realen Leben zu beugen habe.

Dass die Revolution von oben, der geschichtliche Absolutismus heute vor-

herrsche (s.o. die aktuelle politische Situation in ‚Der geschichtliche Mord’, S.

5), sieht Camus in ihrem Sieg in der ersten Internationalen. Dort standen sich

Page 8: Camus-Das Mittelmeerische Denken

8

die deutsche Ideologie Marx’ und das freiheitliche Denken der französischen,

italienischen und spanischen AnarchistInnen, die Camus als den „mittelmeeri-

schen Geist“ (S. 337) bezeichnet, gegenüber. (Camus unterschlägt hier offen-

sichtlich absichtlich die russischen u.a. AnarchistInnen – vor allem Bakunin

hat in der ersten Internationalen eine entscheidende Rolle gespielt – um bei

seinem Begriff des ‚mittelmerischen Denkens’ bleiben zu können.) Der Autor

fasst die hier bestehenden Gegensätzlichkeiten in folgenden Antinomien zu-

sammen:

- Gemeinde & Staat

- konkrete Gesellschaft & absolutistische Gesellschaft

- überlegte Freiheit & rationale Tyrannei

- altruistischer Individualismus & Kolonisierung der Massen

Der eigentliche Konflikt dieses Jahrhunderts besteht vielleicht nicht so sehr zwischen den deutschen Ideologien, der Geschichte und der christ-lichen Politik, auf gewisse Weisen Komplicen, als vielmehr zwischen den deutschen Träumen und der mittelmeerischen Tradition (S. 337)

- Natur & Geschichte

Die deutsche Ideologie verliere die Natur aus den Augen, da sie Erbin des

2000 Jahre langen Kampfes „gegen die Natur im Namen eines geschichtli-

chen Gottes zuerst und einer vergöttlichten Geschichte darauf“ (ebd.) sei. A-

ber noch immer pralle der geschichtliche Absolutismus mit der menschlichen

Natur zusammen, die der revolutionäre Syndikalismus dem bürgerlichen Nihi-

lismus, sowie dem Sozialismus schon immer abgesprochen habe.

Die libertären Ideen seien durch das autoritäre Denken, das drei Kriege und

die „Vernichtung einer Elite von Rebellen“ (S. 338) verursachte, überschattet

und gerieten so in Vergessenheit. Deshalb sei Europa nun heruntergekom-

men, wieder gefangen in christlich-religiöser Ideologie, aber Camus sieht dies

sehr optimistisch nur als vorübergehend an: „der Kampf ist noch nicht zu En-

de.“ (ebd.) In einem gemeinsamen Elend werde die Natur erneut erhoben und

vor die Geschichte gestellt.

Das mittelmeerische Denken soll, so Camus, nicht die Verherrlichung einer

bestimmten Kultur sein, aber ein Denken bezeichnen, „ohne das die Welt heu-

te nicht länger auskommen kann“ (ebd.). Ein Denken, das überlegen sei durch

die Überwindung der Maßlosigkeit, und mitten in der „europäischen Nacht [...]

die Morgendämmerung“ (S. 339) herbeiführen soll.

Page 9: Camus-Das Mittelmeerische Denken

9

Heute sei Maßlosigkeit eine Bequemlichkeit, ein Mitmachen, Mitschwimmen,

ohne die Verhältnisse zu hinterfragen. „Das Maß hingegen [, der Wert der Re-

volte,] ist eine reine Spannung“ (ebd.), ist Auseinandersetzung, „ein ständiger

Konflikt“ (S. 340), Veränderung, und es kann deshalb „nur durch die Revolte

erlebt werden.“ (ebd.) Maßlosigkeit, also Bequemlichkeit in der Auseinander-

setzung mit unserem Leben, müsse in uns selbst und in den anderen be-

kämpft werden. Die Revolte ist der „jahrhundertealte Wille, sich nicht zu beu-

gen“ (ebd.) und halte uns in den Wirren der Geschichte aufrecht.

Jenseits des Nihilismus

Camus fasst in diesem letzten Abschnitt zunächst noch einmal die Errungen-

schaften des Kapitels zusammen.

Es gebe also ein Handeln und ein Denken, welche ausgewogen, weil der Na-

tur des Menschen folgend, möglich seien. Ein zu ehrgeiziges Handeln, ein

Handeln mit Absolutheitsanspruch bleibe immer widerspruchsvoll und könne

nie tatsächlich das Absolute erreichen, und auch das geschichtliche Denken

vermag es nicht das Absolute zu erschaffen. Geschichte könne deshalb nicht

mehr „zum Gegenstand des Kults erhoben werden. Sie ist nur eine Gelegen-

heit, die es gilt, durch eine wachsame Revolte fruchtbar zu machen.“ (ebd.)

Diese „wachsame Revolte“ lebt in der Spannung des Maßes, in der Auseinan-

dersetzung mit der Geschichte der Gegenwart, und dies sei wahres Leben:

das Leben in der Zerrissenheit, im Absurden, aber auch in der Beständigkeit

des Willens sich nicht zu beugen.

Die Revolte, so betont Camus, gebe keinen Optimismus, aber Mut für das

Leben in der Spannung, in der Zerrissenheit, im Kampf. Denn Leid und Unge-

rechtigkeit würden immer bleiben, und so könne es der Revolte nur darum

gehen „den Schmerz der Welt“ (S. 341) quantitativ zu mindern. Der Mensch

schreie nach Gerechtigkeit und sei dem schlechten Leben, der Arbeit, des

Leides und des Sterbens überdrüssig. Religion und historischer Materialismus

verlegten die Erlösung in die Zukunft, aber während der Mensch nun schon

seit 2000 Jahren warte „hört der Unschuldige nicht auf zu sterben“ (S. 342)

und das Böse wachse die ganze Zeit über an.

So bleibe also nur die Kraft der Revolte, die eine „sonderbare Liebe“ (ebd.),

die Solidarität mit den Gedemütigten, mit denen, die nicht leben können, ent-

halte. Diese Liebe führe zur Ablehnung jedes Heilsversprechens, wenn dieses

mit Unterdrückung anderer bezahlt werden müsse, denn „wenn sie nicht alle

Page 10: Camus-Das Mittelmeerische Denken

10

gerettet sind, wozu dann das Heil eines Einzigen!“ (ebd.) Diese große Liebe,

dieser Großmut sei Bestandteil der Revolte und bestehe darin „in der Gegen-

wart alles zu geben“ (S. 343). Denn wer die Notwendigkeit zum Handeln in der

Gegenwart, zur Veränderung im Leben leugne, der verzichte damit auf das

Leben, anstatt es durch die Revolte fruchtbar zu machen und mit Liebe zu

füllen.

Die Revolution im Namen der Macht und der Geschichte setzt für Camus das

Ressentiment an die Stelle der Liebe, leugne so das Leben und führe deshalb

nur zu Rachsucht und Tyrannei. Dies führe zu einem Grenzpunkt, der jetzt

(1951) erreicht sei, an dem die Revolte heilig werde und alle sich in den Rui-

nen des Nihilismus auf die Revolte vorbereiten würden.

Europa vergesse die Gegenwart im Blick auf die Zukunft, weil sie das Leben

nicht mehr liebe, sie „die Freude aus der Welt wegwischen“ (S. 344) wolle und

daran verzweifle Mensch zu sein. So stürze sich Europa in eine „unmenschli-

che[n] Maßlosigkeit“ (ebd.).

Camus benennt die einzige Lehre die nun zu ziehen sei: „leben und sterben

lernen und, um Mensch zu sein, sich weigern, Gott zu sein“ (ebd.), sich also

weigern, das Absolute zu wollen. Dann bliebe die Welt unsere erste und einzi-

ge Liebe, die Gerechtigkeit würde leben und eine „sonderbare Freude [er-

weckt], [...] die auf später zu verschieben, wir uns fortan weigern.“ (ebd.) Die-

se Freude, die Liebe und das Gemeinsame der Menschen, die Solidarität hel-

fe in den Kämpfen für die Erneuerung Europas, indem sich alle gegenseitig

verbessern könnten und eine Grenze, ein Maß für alle gelte. Jeder müsse

dann selbst handeln, müsse sich in Spannung begeben, seinen Bogen span-

nen.

Der Bogen krümmt sich, das Holz stöhnt. Ist die höchste Spannung er-reicht, wird ein durchdringender Pfeil abschnellen, das härteste und frei-este Geschoß. (S. 345)