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© Ernst & Sohn Verlag für Architektur und technische Wissenschaften GmbH & Co. KG, Berlin. Bautechnik 90 (2013), Heft 12 777 BERICHT REPORT Anke Bernotat Cellular Loop: Ein Freischwinger, entwickelt nach dem Vorbild der Natur 1 Einleitung Das Gestalten eines Stuhles wird gerne als die Königsdis- ziplin der Designer verstanden. Der Mensch, sein Wohl- befinden, ästhetische Ansprüche und Technologieeinsatz fügen sich in diesem Gebrauchsobjekt sichtbar und fühl- bar zu einer Einheit. Die Natur bietet dem Menschen seit jeher eine Fülle von Inspirationen. Der Wissenschaftler und Künstler LEO- NARDO DA VINCI war ein scharfsinniger Beobachter sei- ner Zeit und beobachtete die Natur, im Besonderen bei- spielsweise den Vogelflug. Er zeichnete Beobachtungen und Erkenntnisse auf und baute erste Flugapparate [1]. Zahlreiche Beispiele folgten, man denke an Fluggeräte von OTTO LILIENTHAL oder IGO ETRICH. Aber kann die Natur auch bei der Gestaltung eines Freischwingers Vor- bild sein? Additive Fertigung für das Rapid Prototyping ist seit 20 Jahren für die werkzeugfreie Fertigung im Einsatz. Heute spricht man vom Rapid Manufacturing (RM), Einzel- stücke und Kleinserien können mit diesen Verfahren ver- schiedene Materialien beispielsweise Metalle, Beton, Keramik, Kunststoffe und Gips verarbeitet werden. Der Cellular Loop wird aus Kunststoff durch Lasersintern als RM gefertigt. 2 Transfer von Natur zur Technik, von Natur zu Design Der Begriff Bionik setzt sich zusammen aus den Worten Biologie und Technik und verbindet diese in interdiszipli- närere Zusammenarbeit mit dem Ziel, durch Abstraktion, Übertragung und Anwendung von Erkenntnissen, die an biologischen Vorbildern gewonnen werden, technische Fragestellungen zu lösen [2]. „Das transwissenschaftliche interdisziplinäre Arbeiten und die Erforschung der Natur dienen den eher generalistisch arbeitenden Produktdesig- nern als weitere Methodik, um in spezifischen Arbeitsfel- dern zu neuen Fragen und neuen Antworten zu kom- men“ [3]. In der Regel ist in der Natur innerhalb eines Kontextes eine Form nicht nur aufgrund einer Funktion optimiert, sondern aufgrund von vielen verschiedenen. Beispielswei- DOI: 10.1002 / bate.201300091 Beim ersten Blick könnte der Cellular Loop ein gewöhnlicher Freischwingerstuhl sein, wären da nicht die außergewöhnliche Zellstruktur und hätte er nicht die Form ähnlich der eines naht- und endlosen Möbiusbandes. Cellular Loop ist leicht, besitzt aber auch die Stabilität und Steifigkeit sowie die Elastizität, die man von einem Freischwingerstuhl erwartet. All diese Eigen- schaften verdankt er der Übertragung von Konzepten aus der Natur auf seine Konstruktion und Form. Der Cellular Loop ist der erste Freischwinger, der im Rapid-Manufacturing-Verfah- ren hergestellt wurde. Ziel des Forschungsprojekts war die Ent- wicklung einer Fertigungstechnik für die Bauteileherstellung nach biologischen Konstruktions- und Strukturierungsprinzi- pien. Ein Freischwingerstuhl wurde als Demonstrator gewählt, weil Stühle im Design als die Königsdisziplin gelten und weil sich anhand eines Freischwingers Themen wie dynamische Kräfte, Elastizität und Materialminimierung gut untersuchen lassen. Dank der Übertragung von Vorbildern aus der Natur auf die additive Fertigungstechnik konnte ein leichter, aber auch stabiler Stuhl entstehen, dessen innere Baustruktur an unter- schiedliche lokale Belastungen angepasst ist. Selektives Lasersintering ermöglichte ein schichtweises Wachstum der Bauteile nach bionischem Vorbild. Keywords Rapid Manufacturing; Freischwinger; Fertigung, additive; Strukturen, zellulare; Produktdesign; Leichtbau; Freischwinger; Bionik Cellular Loop: a chair based on biomimetics At first sight, Cellular Loop might be mistaken for an ordinary cantilever chair – if it wasn’t for its eye-catching cell structure and its seamless, endless ribbon shape, similar to a moebius strip. The chair is lightweight, but also possesses the stiffness and stability as well as the elasticity one would expect from a cantilever chair. In order to achieve these characteristics, con- cepts from the natural world have been transferred to its con- struction and production method. Cellular Loop is also the first cantilever chair to be produced by Rapid Manufacturing. The aim of the research project was to develop a production method for components, inspired by biological construction principles and based on selective laser sintering. A cantilever chair was chosen as demonstration object, because chairs are considered the supreme discipline of design, but also because a cantilever chair is the perfect object for testing issues like dynamic strain, basic stiffness and minimal use of material. Keywords rapid manufacturing; additive production; cantilever chair; lightweight construction; biomimetics; product design BERICHT

Cellular Loop: Ein Freischwinger, entwickelt nach dem Vorbild der Natur

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© Ernst & Sohn Verlag für Architektur und technische Wissenschaften GmbH & Co. KG, Berlin. Bautechnik 90 (2013), Heft 12 777

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Anke Bernotat

Cellular Loop: Ein Freischwinger, entwickelt nach dem Vorbild der Natur

1 Einleitung

Das Gestalten eines Stuhles wird gerne als die Königsdis-ziplin der Designer verstanden. Der Mensch, sein Wohl-befinden, ästhetische Ansprüche und Technologieeinsatzfügen sich in diesem Gebrauchsobjekt sichtbar und fühl-bar zu einer Einheit.

Die Natur bietet dem Menschen seit jeher eine Fülle vonInspirationen. Der Wissenschaftler und Künstler LEO-NARDO DA VINCI war ein scharfsinniger Beobachter sei-ner Zeit und beobachtete die Natur, im Besonderen bei-spielsweise den Vogelflug. Er zeichnete Beobachtungenund Erkenntnisse auf und baute erste Flugapparate [1].Zahlreiche Beispiele folgten, man denke an Fluggerätevon OTTO LILIENTHAL oder IGO ETRICH. Aber kann dieNatur auch bei der Gestaltung eines Freischwingers Vor-bild sein?

Additive Fertigung für das Rapid Prototyping ist seit 20Jahren für die werkzeugfreie Fertigung im Einsatz. Heutespricht man vom Rapid Manufacturing (RM), Einzel -stücke und Kleinserien können mit diesen Verfahren ver-

schiedene Materialien beispielsweise Metalle, Beton, Keramik, Kunststoffe und Gips verarbeitet werden. DerCellular Loop wird aus Kunststoff durch Lasersintern alsRM gefertigt.

2 Transfer von Natur zur Technik, von Natur zu Design

Der Begriff Bionik setzt sich zusammen aus den WortenBiologie und Technik und verbindet diese in interdiszipli-närere Zusammenarbeit mit dem Ziel, durch Abstraktion,Übertragung und Anwendung von Erkenntnissen, die anbiologischen Vorbildern gewonnen werden, technischeFragestellungen zu lösen [2]. „Das transwissenschaftlicheinterdisziplinäre Arbeiten und die Erforschung der Naturdienen den eher generalistisch arbeitenden Produktdesig-nern als weitere Methodik, um in spezifischen Arbeitsfel-dern zu neuen Fragen und neuen Antworten zu kom-men“ [3].

In der Regel ist in der Natur innerhalb eines Kontexteseine Form nicht nur aufgrund einer Funktion optimiert,sondern aufgrund von vielen verschiedenen. Beispielswei-

DOI: 10.1002 / bate.201300091

Beim ersten Blick könnte der Cellular Loop ein gewöhnlicherFreischwingerstuhl sein, wären da nicht die außergewöhnlicheZellstruktur und hätte er nicht die Form ähnlich der eines naht-und endlosen Möbiusbandes. Cellular Loop ist leicht, besitztaber auch die Stabilität und Steifigkeit sowie die Elastizität, dieman von einem Freischwingerstuhl erwartet. All diese Eigen-schaften verdankt er der Übertragung von Konzepten aus derNatur auf seine Konstruktion und Form. Der Cellular Loop istder erste Freischwinger, der im Rapid-Manufacturing-Verfah-ren hergestellt wurde. Ziel des Forschungsprojekts war die Ent-wicklung einer Fertigungstechnik für die Bauteileherstellungnach biologischen Konstruktions- und Strukturierungsprinzi-pien. Ein Freischwingerstuhl wurde als Demonstrator gewählt,weil Stühle im Design als die Königsdisziplin gelten und weilsich anhand eines Freischwingers Themen wie dynamischeKräfte, Elastizität und Materialminimierung gut untersuchenlassen. Dank der Übertragung von Vorbildern aus der Natur aufdie additive Fertigungstechnik konnte ein leichter, aber auchstabiler Stuhl entstehen, dessen innere Baustruktur an unter-schiedliche lokale Belastungen angepasst ist. Selektives Lasersintering ermöglichte ein schichtweises Wachstum derBauteile nach bionischem Vorbild.

Keywords Rapid Manufacturing; Freischwinger; Fertigung, additive;Strukturen, zellulare; Produktdesign; Leichtbau; Freischwinger; Bionik

Cellular Loop: a chair based on biomimeticsAt first sight, Cellular Loop might be mistaken for an ordinarycantilever chair – if it wasn’t for its eye-catching cell structureand its seamless, endless ribbon shape, similar to a moebiusstrip. The chair is lightweight, but also possesses the stiffnessand stability as well as the elasticity one would expect from acantilever chair. In order to achieve these characteristics, con-cepts from the natural world have been transferred to its con-struction and production method. Cellular Loop is also the firstcantilever chair to be produced by Rapid Manufacturing. Theaim of the research project was to develop a productionmethod for components, inspired by biological constructionprinciples and based on selective laser sintering. A cantileverchair was chosen as demonstration object, because chairs areconsidered the supreme discipline of design, but also becausea cantilever chair is the perfect object for testing issues likedynamic strain, basic stiffness and minimal use of material.

Keywords rapid manufacturing; additive production; cantilever chair;lightweight construction; biomimetics; product design

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se baut der Webervogel sein Nest nicht nur, um es zumBrüten zu nutzen, sondern auch, um damit die Aufmerk-samkeit einer attraktiven Gefährtin auf sich zu lenken [4].Die Vogelkralle selber muss auch unterschiedliche Aufga-ben erfüllen. Sie muss Futter, andere Tiere und Objektetransportieren, sich verteidigen, sich an einem Ast imSchlaf klammern und ein Nest bauen können [5]. DasTransferieren von Vorbildern aus der Natur kann zu ver-schiedensten, auch verrücktesten Ergebnissen führen, bei-spielsweise zum Klettband und Klettverschluss, zu ratten-scharfen Messern oder auch zu sich selbst reinigendenOberflächen dank des Lotuseffektes [6]. Im Projekt Bio-nic Manufacturing wurden die Möglichkeiten der digita-len Fertigung mit der Bionik verbunden.

Für Leichtgewicht-Konstruktionen wurde am FraunhoferIWM ein numerisches Werkzeug zur Auslegung, Bewer-tung und Optimierung entwickelt. Dieses füllt vorgegebe-ne äußere Formen mit einer Zellenstruktur aus, die aufeiner Trabekelzelle basiert, ähnlich der Spongiosa in Knochen oder der Struktur eines Glasschwammes [7, 8],(Bild 1, Bild 2).

Im Unterschied zu den meisten technisch hergestelltenMaterialien sind natürliche Materialien nicht homogen,sondern haben sogar eine hochkomplexe hierarchischeinnere Struktur, die ihnen außergewöhnliche Eigenschaf-ten verleiht. Die Beispiele, die im Projekt zur Anwendungkamen, sind die Mikrostrukturen von Schädelknochendes Waldkauzes, die Flügelknochen der Kolibris, die Seileinnerhalb der Bananenblattkiele sowie die Selbstheilungvon Bäumen.

Angewendet wird das alles am Freischwingerstuhl Cel -lular Loop. Dieser ist ausreichend stabil, gleichzeitigauch leicht. Seine innere Zellstruktur passt sich idealer-weise vielfältigen und unterschiedlichen lokalen Kräftenan.

3 Vorbilder aus der Natur

3.1 Knochen

Knochen sind ein besonders geeignetes und beliebtes Vor-bild der Natur, wenn es um Leichtbaustrukturen geht(Bild 3). Sie tragen das ganze Gewicht eines Körpers,während sie gleichzeitig so leicht wie möglich bleibenmüssen, da zusätzliches Gewicht mehr Energie für eineBewegung braucht. Die effizientesten Knochenstrukturenfindet man bei Vögeln. Diese verkraften sehr hohe dyna-mische Beanspruchungen und sind dabei extrem leicht.Dieser Vorteil liegt an der inneren Zellstruktur. Die Kno-chen sind nicht massiv gefüllt, sondern formen im Kno-cheninneren ein Netzwerk aus vielen feinen Verbindun-gen, den sogenannten Trabecula, die eine Struktur – ähn-lich der eines Schwammes – bilden und immer zweiPunkte im Inneren der Schale verbinden. Die Ausrich-tung und Ausbildung der Trabecel ist abhängig von denDruck-, Torsions- und Biegekräften. Für die Entwicklungverschiedener Körper bieten die parametrisch-generati-ven und anpassbaren Trabekelstrukturen die Möglichkeit,mechanische Charakteristiken von der äußeren Form

Bild 1 Trabekelstruktur Trabecular structure

Bild 2 Trabekelstruktur, hergestellt durch Lasersintern Laser-sintered artificial trabecular structure

Bild 3 Knochenstruktur Bonestructure

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eines Objektes zu trennen und diese direkt auf die Struk-tur aufzuteilen und zu verlagern [9].

3.2 Der Bananenbaum/Der Bananenblattkiel

Biologische Strukturen sind bezüglich ihrer Haltbarkeitund ihres Materialgebrauches optimiert. In vielen Fällenverhalten sich einige Komponenten innerhalb natürlicherStrukturen wie Zugseile. Der Vorteil von Zugseilen ge-genüber Druckkräften ist, dass Biegen deren Stabilitätnicht beeinflusst. Der Profilquerschnitt eines Bananen-kielstammes diente als Vorbild für die funktionale Kombi-nation von Sitzkomfort sowie der zugoptimierten Kon-struktion im Cellular Loop Freischwinger (Bild 4, Bild 5).

Bananenblattkiele haben Seilzugkonstruktionen, derenSeile rechtwinklig zur Oberfläche ausgerichtet sind. Dieseabsorbieren die Biegekräfte, wenn das Blatt gebogen wird

[10]. Der Querschnitt des Freischwingers ist nach diesemVorbild gestaltet worden.

3.3 Wundheilung in Bäumen

Dort wo die Rückenlehne die Sitzfläche des Freischwin-gerstuhles durchdringt, wird die Wundheilung von Bäu-men als Inspirationsquelle genutzt. Diese Durchdringungähnelt der Form eines Astloches (Bild 6, Bild 7). Sie be-sitzt eine Anhäufung von Material, um Kerbspannung ab-zubauen und eine gleichmäßige Kräfteverteilung zu errei-chen [11]. Auch die parametrische Trabekelstruktur in-nerhalb der Durchdringung ist besonders engmaschigeingesetzt und nutzt so mehr Material. Dieser Prozesssorgt für Stabilität und für die gleichmäßige Verteilungder Kräfte.

3.4 Der Glasschwamm

Als Inspirationsquelle für die Entwicklung der Trabekel-struktur diente der Glasschwamm. Diese Tiefseekreatu-ren sind filigranste Skelettstrukturen, die aus tausendenvon Silikatnadeln gebildet werden.

4 Design

Bei der Gestaltung eines Stuhles ist das Ziel, eine harmo-nische Synergie von Gebrauchsfunktion, Materialität,technischer Umsetzbarkeit und kulturellen Wertvorstel-lungen zu erzielen. Oder, wie es PETER SMITHSON [12]

Bild 4 Schnitt durch einen Bananenblattkiel Section through banana leaf stem

Bild 5 Schnitt durch den Cellular Loop Aufbau Section through profile cantilever chair

Bild 6 Baumnarbe Partially healed tree wound

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formulierte: „Man könnte behaupten, dass wir bei derEntwicklung eines Stuhles eine Gesellschaft und eineStadt im Kleinen formen.“ Einen Stuhl muss man nichterklären. Jeder Mensch kann ihn „in Besitz nehmen“ undaufgrund seiner Wahrnehmung dessen Qualitäten beur-teilen.

In den 1920er-Jahren wurden erstmals von MART STAM,MARCEL BREUER und LUDWIG MIES VAN DER ROHE Frei-schwinger aus Stahlrohr entwickelt. Das Konstruktions-prinzip lag darin, gebogene Stahlrohre als tragende Struk-tur einzusetzen; Sitz- und Rückenlehnen bestanden ausflexiblen Materialien wie Rohrgeflecht oder Leder. Späterkamen weitere Varianten, beispielsweise aus Bugholz(z. B. ALVAR AALTO), hinzu. Der von VERNER PANTON

1960 entwickelte Panton-Stuhl war der erste spritzgussge-formte Kunststoff-Freischwinger, der aus nur einem Mate-rial bestand und nur mit einer Form gefertigt wurde. Erst2007 entwarf KONSTANTIN GRCIC mit dem Stuhl Mytoaus Ultradur ® High Speed (PBT) einen zweiten Kunst-stoff-Freischwinger, der diesen Kriterien entspricht. Einenim SLS-Verfahren hergestellten Kunststoff-Freischwingergibt es bis dato noch nicht (Bild 8).

Schwingendes Sitzen wirkt entspannend auf den Nutzer.Auf diese Art von Sitzobjekten wird deshalb besondersim Büroarbeitsbereich sowie in privaten Haushalten zu-rückgegriffen. Schwingendes Sitzen kann für überdurch-schnittlich große, schwere, kleine oder leichte Menschennicht erfahrbar sein, da das Schwingen ausschließlich ineinem vorbestimmten Bereich funktionierend umgesetztwerden kann (Bild 9).

Als Demonstrator bietet der Freischwingerstuhl zunächstgroße konzeptionelle Gestaltungsfreiheiten. Die Band-breite reicht von einem ultraleichten Collapsible über denklassischen Freischwinger, Schaukelhocker oder -stuhlbis hin zu federnden Liege-Möbelstücken. Gerade eineauf additiver Fertigung basierende Weiterentwicklungkann das Schwingverhalten auf seinen Nutzer hin opti-mieren. Es können anspruchsvolle Optimierungsziele wieeine hohe zulässige dynamische Beanspruchung bei aus-reichender Grundsteifigkeit, minimalem Materialeinsatzund minimaler punktueller Belastung dargestellt werden.

Die Interaktion mit dem Nutzer ist beim Freischwingerim Vergleich zu statischen Sitzmöbeln verstärkt. Er dientdamit als ideales Beispiel für Produkte und Services, diebesonders auf den Nutzerbedarf und deren Nutzen abge-stimmt werden können. Nicht zuletzt ist der Freischwin-ger ein alltägliches und verständliches Produkt; die Neu-artigkeit des Verfahrens kann mit diesem Objekt beson-ders verständlich dargestellt werden. Ein schwingendesSitzmöbel ist darum ein guter Demonstrator wie Kommu-nikator.

5 Digitalfertigung

Ziel war es, ein bionisches Fertigungsverfahren zu entwi-ckeln, das bei der Herstellung von Bauteilen die gleichzei-tige Übertragung von Makro- und Nano-/Mikrostrukturder ausgewählten biologischen Vorbilder ermöglicht.

Bild 9 Schwingungstest mit ProbandenVibration test with test persons

Bild 7 Sicht auf Durchdringung Rückenlehne Cut-through of the Cellular Loop’s back rest

Bild 8 Evolution des Freischwingers Evolution of cantilever chair

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Ein großes Potenzial für die Fertigung von Bauteilennach biologischem Vorbild bietet das selektive Lasersin-tern (SLS), das eine individuelle Herstellung von Kunst-stoffbauteilen erlaubt (Bild 10, Bild 11). Diese Technik ar-beitet „layer by layer“. Sie ermöglicht daher ein schicht-weises generatives Wachstum des Bauteils. Auf Basis derwerkzeuglosen Fertigung der digitalen Fertigungsverfah-ren ergeben sich auch besondere Situationen.

Die „Variable Steifigkeit“ bietet die Möglichkeit, die Fes-tigkeit des Bauteils lokal spezifiziert zu erhöhen – oder zuverringern. Zusätzlich ermöglicht der Produktionspro-zess, gewünschte Materialeigenschaften in das Objekt‘einzubauen’. „Kaschierte Sollbruchstellen“ könnten imFalle einer Überlastung präzise Kräfte ableiten und Brü-che an gewünschten Stellen auftreten lassen [13].

Derartig gefertigte Objekte können im Produktionsver-fahren ‘Production on Demand’ also auf Anfrage erstellt

werden. Die Fertigung komplexester Formgeometrien,hoch belastbarer Produkte (Bild 12, Bild 13) mit gerin-gem Formquerschnitt, ist möglich – eine Lagerhaltung mitdiesem Verfahren entfällt.

Bild 10 Testkörper, Kissen aus Trabekeln, lasergesintert Test object, laser-sintered trabecular structur cushion

Bild 11 Testkörper, Panton-Stuhl aus Trabekeln, lasergesintert Test object, laser sintered Panton chair

Bild 12 Tragfähigkeitstest Capacity test

Bild 13 Hochbelastete Bereiche im Freischwinger findet man innerhalb derRückenlehne (rote Farbe); an diesen Punkten wurden mittels Be-rechnungen und parametrischer Software vom Fraunhofer IWM diestabilsten Trabekelstrukturen einbezogenAreas where the stress inside the cantilever chair is high are visiblein red at the back of the chair. For these areas the parametric software from Fraunhofer IWM made special strong trabecularstructures

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Literatur

[1] BELZER, S.: Die genialsten Erfindungen der Natur. Frank-furt am Main: S. Fischer Verlag, 2011.

[2] VDI 6220: Bionik – Konzeption und Strategie. Abgrenzungzwischen bionischen und konventionellen Verfahren/Pro-dukten. Düsseldorf, 2011, S. 9.

[3] VDI 6226: Bionik – Architektur, Ingenieurbau, Industrie -design. Gründruck, Düsseldorf, 2013.

[4] ROTHENBERG, D.: Survival of the Beautiful, Art, Scienceand Evolution. 2012.

[5] HILL, BERND: Erfinden mit der Natur: Funktionen undStrukturen biologischer Konstruktionen als Innovations -potentiale für die Technik. Aachen: Shaker, 1998, S. 17.

[6] Was ist Was – Bionik, Band 122, Tessloff Verlag Nürnberg2006.

[7] ZIEGLER, T.; JAEGER, R.: A light weight design approach foraesthetic consumer goods using biomimetic structures. Cel-lular Materials, 07.–09.11.12, Dresden, Germany.

[8] Patent: Verfahren zur Konstruktion mechanischer Kompo-nenten. Patent pending: DE102012203869.8.

[9] ZIEGLER, T.; JAEGER, R.: A light weight design approach foraesthetic consumer goods using biomimetic structures. Cel-lular Materials, 07.–09.11.12, Dresden, Germany.

[10] MATTHECK, C.: Denkwerkzeuge nach der Natur. For-schungszentrum Karlsruhe und Universität Karlsruhe, 2010,S. 124.

[11] MATTHECK, C.: Stupsi erklärt den Baum. Karlsruhe, 2010. [12] Zitiert nach: HAUFFE, THOMAS: Sitzen und Design – Der

Stuhl als Manifest. In: EICKHOFF, HAJO: Sitzen. Eine Be-trachtung der bestuhlten Gesellschaft, Frankfurt am Main,1997.

[13] BLÖMER, J.; et. al: Abschlußbericht Bionik ManufacturingFKZ 01RB0906. 2012.

AutorinProf. Anke BernotatFolkwang Universität der KünsteUniversitätsstraße 1245130 [email protected]

782 Bautechnik 90 (2013), Heft 12

A. Bernotat: Cellular Loop: Ein Freischwinger, entwickelt nach dem Vorbild der Natur

6 Zusammenfassung & Fazit

Cellular Loop ist der erste Freischwinger, der im RapidManufacturing hergestellt wurde. Er erfüllt die erwarteteTragfähigkeit. Seine Gestalt ähnelt der eines naht- undendlosen Möbiusbandes und visualisiert auf allen Struk-turebenen die Verbindung von digitaler Produktion &

Bionik (Bild 14). Die Vorteile der Verbindung sind: dieAnpassbarkeit der Fertigung an lokal vorgegebene Belas-tungen, lokal vorgegebene Mate rialeigenschaften (Elasti-zität, Haptik) und lokal benötigter Materialeinsatz. Kom-plexe wie auch individuelle Formen sind machbar. Formist Funktion und Funktion ist Form, so wie es auch in derNatur gilt.

Aktuell werden mit diesem Herstellungsverfahren fürzwei Athleten des deutschen den Biathlons der kommen-den Winterparalympics individuelle speziell auf die Per-son zugeschnittene Schlitten gestaltet und produziert.Vielfältigste weitere Anwendungen im Hinblick auf Ein-satzmöglichkeiten und -ort, neue Märkte und Benutzersind zu erwarten.

Durch die weltweite Entstehung digitaler Manufakturenwerden für den Designer zukünftig neuartige Arbeitsfel-der und Entwicklungsmodelle möglich. Einzellösungen,Unikate, kleine Serien und Produktion on Demand wer-den neben der großen Serienfertigung wieder wichtig.

CreditsDas Projekt Bionic Manufacturing wurde gefördert durch BIONA, Bundes -ministerium für Bildung und Forschung [FKZ 01RB0506].Partner des Projekts sind Authentics Gmbh, Plant Bio mechanics Group Frei-burg, Folkwang University of the Arts, Fraunhofer IWM, Fraunhofer UMSICHT,Sintermask Gmbh, KIT, rpm Gmbh.

Bild 14 Freischwinger Cellular LoopCantilever Chair Cellular Loop

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