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V Charakterfokalisation in direkter Rede
1 Einfacher Erzählertext und direkte Rede
1.1 Narratologische Charakteristika direkter Rede
In fiktionalen Erzähltexten ist direkte Rede als „Figurentext“ in den Erzähler-
text eingebettet.⁷²⁷ Lämmert widmet ihr in den „Bauformen des Erzählens“ ein
eigenes Kapitel⁷²⁸ und hebt dabei mehrere Besonderheiten hervor: 1. Direkte
Rede von Figuren kann in einem Spannungsverhältnis zur Meinung des Erzäh-
lers sowie zum Fortgang der Handlung stehen.⁷²⁹ 2. Während die Rede selbst wie
jede andere Form der Aktion im Zeitablauf der Handlung festgelegt ist, bleibt
ihre Aussage „keineswegs an eine zeitliche Sukzession gebunden“, sodass sich
die direkte Rede ebenso wie der Erzählertext auf Zeitpunkte vor oder nach dem
momentanen Punkt der Handlung beziehen kann. Somit kann sie auch auf deren
aktuelle oder sogar zeitlose Bedeutung hindeuten.⁷³⁰
Stanzel weist auf den unmittelbaren Charakter direkter Rede hin: „Als
direkte Rede gehören sie [Aussagen über Sachverhalte] streng genommen nicht
zum narrativen, d. h. mittelbar dargestellten, sondern zum mimetischen, d. h.
unmittelbar dargestellten Teil einer Erzählung.“⁷³¹ Doch obwohl sie der „Mimesis“
am nächsten kommt, wird auch direkte Rede wie überhaupt der gesamte Text
vom Erzähler NF wiedergegeben.⁷³²
Dadurch wird deutlich, dass Präsentation direkter Rede vom NF „kontrol-
liert“ wird: Der NF bestimmt, ob direkte Rede überhaupt präsentiert wird, und,
wenn ja, wie lange ein Charakter spricht.⁷³³ Man muss davon ausgehen, dass auf
727 De Jong 2004, S. 149.
728 Lämmert 1955, S. 195 – 242.
729 ibid., S. 196.
730 ibid., S. 196 f.
731 Stanzel 1989, S. 42. Vgl. Laird 1999, S. 131: Bei direkter Rede sei der Erzähler sozusagen
„off-stage“.
732 Rimmon-Kenan 2002, S. 109. Für Lämmert 1955, S. 200 f. steht eher der Aspekt im Vorder-
grund, dass Erzählzeit und erzählte Zeit auch bei der Präsentation direkter Rede keineswegs
deckungsgleich sein müssen, wenn er anmerkt: „Der Wirklichkeitsraum der Erzählung hat eben
ein eigenes und grundsätzlich mit der realen Wirklichkeit nicht verwechselbares Gefüge, und so
erhalten wir auch hier nur eine mehr oder minder wirklichkeitsnahe Fiktion objektiver Verläu-
fe. Immerhin bleibt aber die Gesprächsdarbietung in der Erzählung im Vergleich mit anderen
Erzählweisen die relativ unmittelbarste, d. h. wirklichkeitsnächste Form der Geschehenswieder-
gabe.“
733 De Jong 2004, S. 149.
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190 Charakterfokalisation in direkter Rede
fabula-Ebene sehr viel mehr direkte Rede stattfindet, als im text schließlich vor-
handen ist, wie es überhaupt für alle Ereignisse der fabula zutrifft. Diese Auswahl
ist ein Resultat der Erzählerfokalisation.
Der Inhalt einer direkten Rede steht als Information nicht nur dem Adressa-
ten der Rede zur Verfügung, einer anderen Figur auf fabula-Ebene, sondern auch
dem Adressaten des NF, dem NeFe.⁷³⁴ Dadurch wird beispielsweise dramatische
Ironie möglich, wenn etwas, was eine Figur sagt, für den NeFe einen anderen
Inhalt hat als für die Figur selbst.⁷³⁵
Eine Figur, deren direkte Rede vom NF präsentiert wird, ist für die Dauer
seiner Rede ein sekundärer Erzähler⁷³⁶ und Fokalisator.
Laut Laird gibt es drei Arten, Figurenrede zu präsentieren: Formen direkter
Rede (direct discourse), Formen indirekter Rede (indirect discourse) und Erwäh-
nungen von Sprechakten (records of speech acts).⁷³⁷
Indirekte Rede in der Pharsalia wurde bereits im Abschnitt über Charakter-
fokalisation behandelt,⁷³⁸ Erwähnungen von Sprechakten sind für diese Arbeit
nicht relevant.⁷³⁹ In diesem Kapitel geht es vor allem um die Funktion von Cha-
rakterfokalisation in direkter Rede. Eine Unterscheidung zwischen direkter und
freier direkter Rede wird in dieser Arbeit aus praktischen Gründen nicht vorge-
nommen.
734 De Jong 2004, S. 149.
735 De Jong 2004, S. 149 f. Lucan macht allerdings in der Pharsalia von diesem erzählerischen
Mittel nur selten Gebrauch. Schmitt 1995, S. 94 f. erkennt tragische Ironie in der Aussage der
Massilioten gegenüber Caesar, niemand könne ohne Weiteres die eigenen Verwandten angreifen
(3, 326 f.).
736 Genette 1998, S. 249 – 256, Rimmon-Kenan 2002, S. 95 – 97. Es kann nicht nur sekundäre,
sondern auch tertiäre usw. Erzähler geben, vgl. Bal 2009, S. 57 erläutert das am Beispiel der
Erzählungen aus Tausend und einer Nacht: „Scheherazade tells A that B tells that C tells, etc.,
sometimes until the eighth degree.“ Eine derart verschachtelte Erzählsituation entsteht in der
Pharsalia nicht, direkte Rede innerhalb direkter Rede kommt jedoch mitunter vor, etwa in der
Erzählung des alten Mannes in 2, 68 – 232, die im Folgenden analysiert wird, der Antaeus-Sage
(4, 593 – 660) oder als Cornelia wörtlich wiedergibt, was sie in Pompeius’ Auftrag seinen Söhnen
nach seinem Tod ausrichten soll (9, 87 – 97). Bal 2009 unterscheidet zwischen Embedded Nar-
rative Texts (S. 57 – 64), Erzählungen, die in eine andere Erzählung eingebettet sind, und Non-
Narrative Embedded Texts (S. 64 – 71), die keine spezielle Erzählung enthalten.
737 Laird 1999, S. 87 – 89.
738 Vgl. III. 2. 2. dieser Arbeit.
739 Zur Erwähnung von Sprechakten Laird 1999, S. 99 – 101.
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Einfacher Erzählertext und direkte Rede 191
1.2 Direkte Rede in der Pharsalia – Forschungsstand
Der Anteil direkter Rede am überlieferten Gesamttext der Pharsalia beträgt
ungefähr 32 %.⁷⁴⁰ Eine Übersicht über die direkten Reden in Lucans Epos bieten
Tasler⁷⁴¹ und Sangmeister.⁷⁴²
Wegen der unüberschaubaren Anzahl der Publikationen, die Äußerungen
von Figuren in der Pharsalia thematisieren, sollen im Folgenden ausführlicher
vor allem diejenigen Arbeiten vorgestellt werden, die sich ausschließlich mit dem
Aufbau und der Funktion direkter Rede befassen.
Bereits zu Beginn des letzten Jahrhunderts liefert Basore⁷⁴³ eine kurze Unter-
suchung der direkten Rede bei Lucan, vor allem im Vergleich mit der direkten
Rede in Vergils Aeneis. Er arbeitet einige ihrer Funktionen heraus: Während
manche völlig belanglos für die Erzählung seien,⁷⁴⁴ dienten andere der Figuren-
charakterisierung, der Einleitung von Handlungen oder führten die Situation
durch ihre Detailliertheit weiter aus.⁷⁴⁵ Insgesamt hält Basore fest, bei der Ver-
wendung direkter Rede nähere sich Lucan Vergil vor allem in Hinblick auf die
Verwendung von Monologen an.⁷⁴⁶
Faust untersucht die direkten Reden der ersten drei Bücher der Pharsalia
vor allem im Hinblick auf ihre Quellen.⁷⁴⁷ Das Kernstück der Arbeit bildet ein
Kommentar zum Friedensgesuch der Massilioten.⁷⁴⁸ Interessant in Hinblick auf
Charakterfokalisation ist dabei, dass Faust nicht nur die Gedanken der Arimi-
nenser in 1, 248 – 257, sondern auch das Selbstgespräch des gefangenen Domitius
(2, 522 – 525) als oratio intima bzw. sermo intimus bezeichnet.⁷⁴⁹
Tasler⁷⁵⁰ analysiert Inhalt, Aufbau und Sprache zahlreicher direkten Reden in
der Pharsalia. Er hebt in Übereinstimmung mit Basore die weitgehende Funkti-
onslosigkeit der Reden für den Fortgang der Handlung hervor und bezeichnet sie
740 Tasler 1972, S. 5, Marti 1975, S. 80 und Sangmeister 1978, S. 4 geben das Verhältnis von Er-
zählertext zu direkter Rede folgendermaßen an: 68 % Erzählertext, 32 % direkte Rede. Tasler 1972,
S. 252, S. 254 und Sangmeister 1978, S. 55 rechnen die stummen inneren Monologe wie die Gedan-
ken der Ariminenser oder Pompeius’ Gedanken vor seinem Tod zur direkten Rede. Diese Arbeit
zählt die entsprechenden Textstellen nicht als direkte Rede, sondern als Charakterfokalisation.
741 Tasler 1972, S. 252 – 254.
742 Sangmeister 1978, S. 55.
743 Basore 1904.
744 Ibid., S. xcv f.
745 Ibid., S. xcvi.
746 Ibid., S. xcvi.
747 Faust 1908.
748 Ibid., S. 49 – 64.
749 Ibid., S. 24, S. 40.
750 Tasler 1972.
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192 Charakterfokalisation in direkter Rede
als „stationär“.⁷⁵¹ Sie würden den Gefühlen der sprechenden Personen Ausdruck
verleihen, wobei der vernunftbestimmte Cato eine Ausnahme bilde.⁷⁵² Auf die
Frage, worin die Funktion der „stationären“ Reden bestehen könne, wenn sie für
die Handlung weitgehend bedeutungslos seien, findet Tasler folgende Antwor-
ten, von denen einige ebenfalls mit den Ergebnissen von Basore übereinstimmen:
1. Lucan mache „viele seiner Personen zu Sprechern seiner eigenen Anschauun-
gen und Empfindungen […]. Die Reden üben insofern dieselbe Funktion aus, die
sie z. B. auch in der Geschichtsschreibung seit Herodot und Thukydides haben.“⁷⁵³
2. Die Reden dienten der Charakterisierung des Sprechers, die aber nicht unbedingt
konsistent, sondern häufig situationsbezogen sei.⁷⁵⁴ 3. „Zu den genannten Funkti-
onen der Rede kommt noch hinzu die Deutung des Menschen, bei Lucan vor allem
vom Affekt her.“⁷⁵⁵ 4. Die Reden erfüllen die Funktion, die Handlung zu deuten und
den Sinn des Geschehens aufzuzeigen, was Lucan „in die Nähe der Ursachenfor-
schung Sallusts und seiner Vorgänger“ rücke.⁷⁵⁶ 5. Durch ihre Detailliertheit trügen
die Reden zur Anschaulichkeit, Variation und „Farbigkeit“ des Epos bei.⁷⁵⁷ 6. Lucan
möchte dem Leser durch die Reden einen Blick in den Abgrund seiner Zeit bieten.⁷⁵⁸
Eine Untersuchung speziell der direkten Rede anonymer Gruppen oder ihrer
Repräsentanten in der Pharsalia stammt von Schmitt.⁷⁵⁹ Er betont das besondere
Interesse Lucans an Psyche und Stimmung der Massen⁷⁶⁰ und analysiert deren
Reden formal, inhaltlich und in Hinblick auf narrative Techniken, wobei er häufig
auch die historische Überlieferung einbezieht. Dabei erkennt er vor allem zwei
Funktionen der Massenreden: 1. Die Reden geben die Stimmung der Bevölke-
rung bzw. der Soldaten wieder. 2. Sie deuten das Bürgerkriegsgeschehen.⁷⁶¹ Rein
formal stehe Lucan dabei in der Tradition Homers, der in τις-Reden Personen als
Repräsentanten einer größeren Gruppe zu Wort kommen lasse, doch auch Anleh-
nungen an Ovids Metamorphosen seien zu finden.⁷⁶² Die Relevanz von Livius hebt
751 Ibid., S. 248 f.
752 Ibid., S. 249.
753 Ibid., S. 250.
754 Ibid.
755 Ibid.
756 Ibid.
757 Ibid., S. 250 f.
758 Ibid., S. 251.
759 Schmitt 1995.
760 Ibid., S. 11. Die besondere Aufmerksamkeit, die Gruppen in der Pharsalia entgegengebracht
wird, drückt sich auch darin aus, dass Personengruppen häufig zu Charakterfokalisatoren wer-
den, vgl. III. 3. 3. dieser Arbeit.
761 Schmitt 1995, S. 187.
762 Ibid.
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Einfacher Erzählertext und direkte Rede 193
Schmitt besonders hervor: „Das Gemeinsame zwischen Livianischen und Luca-
nischen Reden dieser Art ist die Zeichnung eines Stimmungsbildes.“⁷⁶³ Gerade bei
der Deutung des Bürgerkriegsgeschehens nähern sich laut Schmitt die direkten
Reden der Massen der Funktion eines Chores in der Tragödie an.⁷⁶⁴ Dabei thema-
tisieren die Reden Elemente, die im gesamten Epos von Bedeutung seien, z. B.
die Klage, Rom verschwende seine Kraft im Bürgerkrieg, anstatt gegen auswär-
tige Feinde zu kämpfen,⁷⁶⁵ oder sogar Geschehnisse, die „nur mittelbar mit dem
Bürgerkrieg verknüpft sind, namentlich Entwicklungen in der Kaiserzeit.“⁷⁶⁶
Durch beides würden die Inhalte der Reden über den jeweiligen Handlungskon-
text hinausgehoben.⁷⁶⁷ Schmitt weist aber darauf hin, dass man dabei zwischen
der Intention der Gruppe und der Deutung des Dichters unterscheiden müsse.⁷⁶⁸
Im Zusammenhang mit der Deutung des Bürgerkriegs sei auch der Beitrag von
Reden zur Charakterisierung der Hauptfiguren zu beachten: Sowohl die (meist
angesprochenen) Hauptfigur selbst als auch ihre Politik werde durch die Reden
charakterisiert.⁷⁶⁹ In seinem Resümee legt Schmitt dar, dass die anonymen Mas-
senreden und der Erzähler der Pharsalia z. T. ähnliche Funktionen zu erfüllen
scheinen:
Aus der Analyse der Reden geht hervor, daß sich Lucan mit den Massen ein Sprachrohr der
Opfer des Bürgerkriegs geschaffen hat. Er verwendet sie, weil sie, obwohl in die epische
Erzählung eingebettet, doch ohnmächtig an der Handlung nur als Leidende teilhaben
können. Sie sind in der im Epos geschaffenen Welt […] die einzigen, welche die Leitgedan-
ken des Werkes, die Desintegration der römischen Republik durch den egoistischen Macht-
menschen, dem Leser vermitteln können (abgesehen vom auktorialen Erzähler).⁷⁷⁰
763 Ibid.
764 Ibid., S. 188.
765 Ibid., S. 189 f.
766 Ibid., S. 189. Als Beispiele führt Schmitt z. B. 9, 236 – 239 an: Die Kilikier weigern sich, Cato
im Bürgerkrieg zu unterstützen, und grenzen sich in diesem Zusammenhang von den Barbaren
ab. Schmitt stellt die Frage, weshalb dabei ausgerechnet die Armenier genannt werden, und
beantwortet sie damit, dass 62 n. Chr. „[…] der römische Legat Caesennius Paetus in Armenien
hätte kapitulieren müssen. Damals ging das Gerücht, die römischen Legionen seien unter das
Joch geschickt worden, ein Vorfall, der zwar für Rom in der Folge keinen Schaden brachte, aber
doch Neros Regierung als Schlappe angerechnet wurde. Die Parallelität der Formulierung (die
Betonung des iugum), läßt an eine zeitgenössische Anspielung glauben und damit an einen Sei-
tenhieb gegen den verhaßten Kaiser“ (Schmitt 1995, S. 165 f.). Selbst für den Fall, dass es sich
tatsächlich um eine zeitgenössische Anspielung handeln sollte, ist darauf hinzuweisen, dass
kein Bruch der Fiktion vorliegt: Die Kilikier erwähnen nichts, was sie nicht wissen können.
767 Ibid., S. 88.
768 Ibid., S. 189.
769 Ibid., S. 190.
770 Ibid., S. 191.
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194 Charakterfokalisation in direkter Rede
Helzle untersucht, inwieweit Figuren der Pharsalia durch ihre Sprache charakte-
risiert werden, und ob sich ihre Art zu sprechen in unterschiedlichen Situationen
ändert.⁷⁷¹ Dabei konzentriert er seine Analyse vor allem darauf, welches Vokabu-
lar und welche Wortformen (z. B. Imperative) von den jeweiligen Sprechern ver-
wendet werden, da stilistische Unterschiede zwischen Figurentext und einfachem
Erzählertext kaum vorhanden seien.⁷⁷² Insgesamt kommt er zu dem Ergebnis „the
style is the man“.⁷⁷³ Während sich Caesars Neigung, anderen Personen Befehle zu
erteilen, durch einen häufigen Gebrauch von Imperativen bemerkbar mache,⁷⁷⁴
sei Pompeius in dieser Hinsicht zurückhaltender: Er gebe häufiger Familien-
mitgliedern Befehle als seinen Soldaten.⁷⁷⁵ Cato gebrauche Imperative erst in
höherer Anzahl, nachdem er die Führung von Pompeius’ Truppen übernommen
hat, woraus Helzle schließt, er wisse, wie er sich seiner Rolle gemäß zu verhal-
ten habe.⁷⁷⁶ In Hinblick auf das Vokabular verwende Caesar in weitaus höherem
Maße als andere Figuren militärische und aggressive Begriffe,⁷⁷⁷ während Pom-
peius’ Vokabular ihn als Privatmann zeichne⁷⁷⁸ und Cato eine Vorliebe für das
Vokabular der stoischen Philosophie zeige.⁷⁷⁹
Unter Verwendung narratologischer Terminologie untersucht Ormand in
seinem Aufsatz u. a. Pompeius’ Sprechsituationen und Reden. Er stellt dabei vor
allem den Aspekt heraus, dass Pompeius’ Reden seine Adressaten und damit
seiner Ansicht nach auch den NeFe häufig nicht zu überzeugen vermögen:⁷⁸⁰ „For
both internal and external narratees, then, Pompey’s failure as a leader is mirro-
red (and not undercut, as some have suggested) by his failure as a believable cha-
racter and narrator.“⁷⁸¹ Nicht einmal an den Inhalt seiner eigenen Reden glaube
er.⁷⁸² Dies bringt Ormand in Verbindung mit der Gesamtproblematik eines Epos
über den Bürgerkrieg, das vom Leser aufgrund der Unfassbarkeit der Ereignisse
verlange, das Unglaubliche zu glauben:
771 Helzle 2010, ausführlicher Helzle 1996.
772 Helzle 2010, S. 359: „Testing Caesar’s vocabulary against Lucan’s overall usage is less ap-
propriate than testing one speaker’s lexical choices against another’s since all the words in the
epic are Lucan’s.“
773 Ibid., S. 367.
774 Ibid., S. 366 f.
775 Ibid., S. 367.
776 Ibid., S. 367.
777 Helzle 1996, v. a. S. 119 – 126.
778 Ibid., S. 135 Helzle führt als Begründung Pompeius’ relativ häufige Verwendung von Voka-
bular aus den Bereichen Familie und Freundschaft an.
779 Helzle 1996, S. 138 – 143.
780 Ormand 2010, S. 330 – 337.
781 Ibid., S. 331.
782 Ibid., S. 338.
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Einfacher Erzählertext und direkte Rede 195
Lucan constructs Pompey’s failure as a narrator in order to highlight his failure as a general.
Narrative shows itself deficient in the face of civil war, in the face of traditionally unbe-
lievable events. Such narrative could succeed, in standard terms, only if we are willing to
believe what is pointedly not there: to believe in the lack of expression on Pompey’s face as
he dies, or to believe that his modest lump in the sand is the tomb of Magnus.⁷⁸³
Rolim de Moura untersucht das Verhältnis von direkter Rede und dem Erzäh-
ler der Pharsalia, der die Reden kommentiert.⁷⁸⁴ Er betrachtet die Figurenreden
als eine Art „Debatte“, beispielsweise über politische Ideen und Probleme,⁷⁸⁵ bei
der die Figuren einander antworten, sogar diejenigen, die einander nicht hören
können.⁷⁸⁶ Auch der Erzähler nehme an der „Debatte“ teil und antworte den
Figuren, die wiederum ihm antworteten.⁷⁸⁷ Der Grund für diese Metalepse liege
darin, dass alle „Gesprächsteilnehmer“ zu demselben semiotischen und ideologi-
schen Universum gehören und auch Teil der historischen Realität seien.⁷⁸⁸ Indem
der Erzähler die Figuren „up to his level of consciousness“⁷⁸⁹ bringe, entstehe der
Eindruck, sie hätten den Text, in dem sie als Figuren auftreten, selbst gelesen.⁷⁹⁰
Unüberschaubar ist die Anzahl derjenigen Beiträge, die sich am Rande mit
direkter Figurenrede befassen, z. B. um Aspekte der jeweiligen Rede als Beitrag
zur Figurencharakterisierung, zu ihrer Funktion im Gesamtepos oder als Beispiel
für die Verwendung bestimmter Werte oder Begriffe in der Pharsalia zu beschrei-
ben.⁷⁹¹ Diese Beiträge enthalten nur selten narratologische Elemente im strengen
Sinn.
783 Ibid., S. 338.
784 Rolim de Moura 2008, 2010.
785 Der von Rolim de Moura gewählte Begriff „Dialog“ stiftet Verwirrung, da er auf eine Durch-
brechung der Erzählebenen schließen lässt. Rolim de Moura gebraucht den Begriff jedoch im
Sinn von „Intratextualität“, um Beziehungen zwischen Texten zu beschreiben (Rolim de Moura
2008, S. 52).
786 Ibid., S 88. Ähnlich Wiener 2006, S. 291 zu den Feldherrenreden von Caesar und Pompeius
vor der Schlacht von Pharsalus: „Lucan hat die Argumente in beiden Reden parallel gesetzt, so
als hätten die Feldherren die Rede des Gegners gehört und antworteten darauf.“
787 Rolim de Moura 2010, S. 72, S. 88.
788 Ibid., 2010, S. 89.
789 Ibid. Dass der NF der Pharsalia jedoch als übergeordnete, umfassend informierte Instanz
den Figuren an Wissen weit überlegen ist, sollte in Kapitel II dieser Arbeit ausreichend deutlich
geworden sein.
790 Ibid.
791 Wegen der großen Anzahl an Publikationen muss sich die folgende Auswahl auf repräsen-
tative Beispiele beschränken: Für Schlonski 1995, S. 37 f. dienen Reden bei Lucan dazu, den
Sinn des Geschehens aufzuzeigen, nicht aber der Dramatisierung oder Belebung. In der Tradi-
tion der Reden in der Geschichtsschreibung fasse sie laut Schlonski Tendenzen zusammen,
die Figuren zum Handeln veranlassen. Morford 1967, S. 1 – 12 analysiert den Aufbau mehrerer
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196 Charakterfokalisation in direkter Rede
1.3 Einleitungsformeln: Übergang vom Erzählertext zu direkter Rede
Sangmeister untersucht die Ankündigung der direkten Rede in lateinischer
Epik, „speech formulas“, und hält fest, wie häufig direkte Rede in der Pharsalia
durch welche Worte eingeleitet wird oder endet.⁷⁹² Diese Details sind in narra-
tologischer Hinsicht nicht so unwichtig, wie sie aufgrund ihrer Unauffälligkeit
erscheinen, denn „speech formulas“ markieren den Wechsel vom NF zu einem
anderen Erzähler auf text-Ebene.⁷⁹³ Dabei kann der NF bereits vor dem Beginn
der Rede dem NeFe zusätzliche Informationen über die Rede oder den Sprecher
zur Verfügung stellen.⁷⁹⁴
Ein Beispiel ist der Hinweis auf die Gemütslage des Sprechers. So erfährt der
NeFe, dass Caesar zornig ist, als er auf Metellus’ Weigerung, den Weg zur Staats-
kasse freizugeben, oder auf die Beschwerden seiner revoltierenden Soldaten ant-
wortet (3, 133 – 135: his magnam victor in iram/vocibus accensus […]/inquit; 5, 318:
haec ira dictante profatur). Als Gnaeus Pompeius von seinem Bruder Sextus über
den Tod seines Vaters unterrichtet wird, ist er ebenfalls zornig. Der NF versäumt
es aber nicht, darauf aufmerksam zu machen, dass dieser Zorn berechtigt ist und
auf pietas basiert (9, 145 – 147):⁷⁹⁵
direkter Reden der Pharsalia und weist sie bestimmten Redegattungen zu. Ahl 1976, S. 150 – 279
bezieht sich bei seiner Charakterisierung der Hauptfiguren des Epos wiederholt auf ihre Aussa-
gen in direkter Rede. Zu den zahlreichen interessanten Punkten seiner Ergebnisse gehört z. B.
das unterschiedliche Verhältnis, das Caesar, Pompeius und Cato zu Rom einnehmen und das
z. T. auch durch ihre eigenen Äußerungen deutlich wird: Während Pompeius als eine Art Lieb-
haber Roms auftritt (S. 177 – 180), übernehme Cato eher die Rolle eines Vaters (S. 243). Direkte
Reden des Epos benutzt auch Roller 2001, um seine Theorie des „alienating“ und „assimilating
viewpoint“ (vgl. III. 1.) auszuführen. So sieht er z. B. die Rede des Pompeianers Petreius (S. 36)
und Caesars Rede an seine Soldaten vor Pharsalus (S. 43) als Beispiele für Figurenreden an, die
den „alienating viewpoint“ ausdrücken. Pompeius’ Reden dagegen formulieren für Roller den
„assimilating viewpoint“ (v. a. S. 30 f.). Zu den Feldherrnreden von Pompeius und Caesar vor
der Schlacht von Pharsalus: Lebek 1976, S. 227 – 238, Bartsch 1997, v. a. S. 76 – 82, Leigh 1997,
S. 151 f., Rutz 1989, S. 123 – 125, Glaesser 1984, S. 111 – 114, Sklenář 2003, v. a. S. 106 – 118, Wie-
ner 2006, S. 291, De Nadaï 2000, S. 222 – 238, Schmitt 1995, S. 141 – 155, S. 190, Fantham 2010a.,
Ambühl 2014, v. a. S. 180 f., S. 214 – 218. Zu den Reden Catos Hershkowitz 1998, S. 234 – 237,
Sklenář 2003, S. 66 – 71, Wildberger 2005, S. 59 – 76, Johnson 1987, S. 71 f. (vgl. auch Bartsch
1997, S. 84), D’Alessandro Behr 2007, z. B. S. 138 f., S. 156.
792 Sangmeister 1978, S. 55 – 72.
793 Vgl. de Jong 2004, S. 207.
794 Der Übergang zur direkten Rede kann natürlich auch ohne solche Zusatzinformationen
stattfinden, vgl. dazu Sangmeister 1978, S. 55 – 72.
795 Weitere Beispiele für Redeeinleitungen in der Pharsalia, in denen der NF auf den Zorn des
Sprechers hinweist ibid., S. 63
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Einfacher Erzählertext und direkte Rede 197
Cum talia Magnus
audisset, non in gemitus lacrimasque dolorem
effudit, iustaque furens pietate profatur:
Das Handeln des Petreius, der die Verbrüderung der Truppen bei Ilerda verhin-
dert, hat der NF bereits in 4, 205 – 210 unter Durchbrechung von Charakterfo-
kalisation negativ bewertet (famulas scelerata ad proelia dextras/excitat, 207 f.).
Auch Petreius ist zornig. Die Einleitung seiner direkten Rede erlaubt dabei zusätz-
lich noch einen Ausblick auf ihre unheilvollen Folgen: addidit ira ferox moturas
proelia voces (4, 211).
Dagegen gibt die Einleitung dignasque tulit modo consule voces (8, 330) dem
NeFe die Information, dass Lentulus’ Antwort auf Pompeius’ Vorschlag, die
Parther um Unterstützung zu bitten, seinem Status als Konsul entspricht – es
handelt sich um eine positive Bewertung. Pompeius verliert das „Rededuell“, und
der Senat beschließt, Lentulus’ Vorschlag zu folgen, was Pompeius’ Tod zur Folge
haben wird.⁷⁹⁶ Umso deutlicher betont der NF, dass Lentulus hier die bessere
Position vertritt.⁷⁹⁷
Wenn Cato spricht, verleihen die Einleitungen seiner direkten Rede den
Worten besonders häufig noch zusätzliche Autorität, unabhängig davon, ob Cato
emotional involviert ist oder nicht:⁷⁹⁸
– beim Gespräch mit Brutus: Sic fatur; at illi/arcano sacras reddit Cato pectore
voces (2, 284 f.)
– bei seinem Nachruf auf Pompeius: quam pauca Catonis/verba sed a pleno
venientia pectore veri (9, 188 f.) Die Rede selbst ist nicht unbedingt von
Freundlichkeit gegenüber Pompeius geprägt,⁷⁹⁹ die Einleitung weist aber
796 Rambaud 1955, S. 284, Fucecchi 2011, S. 256.
797 Laut D’Alessandro Behr 2007, S. 85 verhindert das Eingreifen des Erzählers hier eine Iden-
tifikation des Erzählers mit Pompeius, der mit seinem Plan selbstsüchtige Ziele verfolge und den
Bürgerkrieg als Privatangelegenheit auffasse. Owen Eldred 1997, S. 147, S. 154 geht sogar noch
weiter: Pompeius mache sich durch diesen Vorschlag zum Verräter, seine spätere „Hinrichtung“
sei die Strafe für die von ihm begangene maiestas. Rossi 2000, S. 582 f. sieht in Lentulus’ Rede
ein Beispiel für das unangemessene Verhalten des Senats in Epirus.
798 Vgl. D’Alessandro Behr 2007, S. 119: Der Erzähler unterstütze Catos Selbstaussage, weise
zu sein.
799 Bartsch 1997, S. 84. Sklenář 2003, S. 82 – 85 weist ebenfalls auf die implizite Kritik Catos
an Pompeius hin. Nach Radicke 2004, S. 468 unterstreicht die Rede Pompeius’ Zwiespältigkeit in
politischer und moralischer Hinsicht, zudem enthalte sie Prinzipatskritik (9, 168 f. und 204 – 207)
und und somit einen Bezug zu Lucans Gegenwart. Dieser Aspekt kann jedoch auch Cato als vor-
ausschauenden Menschen charakterisieren, der sowohl die aktuelle Lage als auch die zukünftige
Entwicklung korrekt beurteilen kann, dabei aber nichts sagt, was er nicht wissen kann.
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198 Charakterfokalisation in direkter Rede
durch die Betonung der Wahrhaftigkeit des Sprechers auch auf die Wahrhaf-
tigkeit ihres Inhalts hin.
– gegen die Kilikier, die nach Pompeius’ Tod nicht weiter am Krieg teilnehmen
möchten: erupere ducis sacro de pectore voces (9, 255).⁸⁰⁰
– beim Ammontempel: Ille deo plenus tacita quem mente gerebat/effudit dignas
adytis e pectore voces (9, 564 f.).⁸⁰¹
Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Einleitungen direkter Reden in der Phar-
salia wie in der Ilias häufig zusätzliche Informationen enthalten, z. B. über die
Gemütsverfassung oder den Charakter des Sprechers, darüber, wie der NeFe den
Inhalt der Rede und den Sprecher bewerten sollte,⁸⁰² oder welche Auswirkungen
die Rede haben wird. Somit dienen sie wie zahlreiche andere narrative Mittel vor
allem der Orientierung des NeFe. Sie erleichtern es ihm, sich in der fiktiven Welt
der Pharsalia zurechtzufinden, in der Menschen mit Sprache andere Menschen
manipulieren und sich keineswegs immer die bessere Position durchsetzt.
2 Funktionen von Charakterfokalisation in direkter Rede
Charakterfokalisation kann auch innerhalb einer Figurenrede auftreten und wird
von de Jong als „tertiary focalization“ bezeichnet: Dabei fokalisiert die Person,
die gerade spricht, a) in der Rolle einer anderen Figur oder b) als eine frühere
Version ihrer selbst.⁸⁰³ Sie versetzt sich also a) in jemand anderen oder b) in eine
800 Seewald 2008, S. 157 f. gesteht Cato zwar zu, über die Feigheit der Soldaten empört zu sein,
merkt dabei aber an: „Nicht er ist es, der spricht, sondern die Wahrheit selbst […] spricht durch
ihn wie durch eine inspirierte Orakelpriesterin.“ Wenn starke Gefühle die Redesituation be-
stimmen, verwendet Lucan mehrfach unpersönliche Ausdrucksweisen, vgl. Sangmeister 1978,
S. 57 f., Seewald 2008, S. 157 f.
801 Anzinger 2007, S. 146 spricht von Catos „göttlicher Stimme“. Seewald 2008, S. 315 unter-
streicht die positive Bedeutung dieser Redeeinleitung: „Cato muß nicht überlegen, um die an-
gemessene Antwort auf Labienus’ unbesonnenen Vorschlag zu geben, sondern ist sich über die
Replik von Anfang an im klaren. Trotz Labienus’ törichtem Geschwätz bewahrt er sein Schweigen
und stellt seine Selbstkontrolle unter Beweis.“ Der Vergleich mit der Einleitung von Catos Rede
gegen die Kilikier zeigt, dass Cato nicht immer über diese Selbstkontrolle verfügt, sondern sich
auch bisweilen von seinen Emotionen hinreißen lässt. Umso wichtiger ist es, bei dieser nicht
undifferenzierten Charakterisierung der Figur die Bedeutung des Erzählerkommentars zu Figur
und Redeinhalt hervorzuheben. Wenn Cato spricht, ist der Erzähler trotz der unterschiedlichen
Sprechsituationen um eine positive Bewertung nicht verlegen.
802 Dies beobachtet de Jong 2004, v. a. S. 199 – 205 auch in Homers Ilias.
803 De Jong 2004, S. 169 berücksichtigt in diesem Zusammenhang nur Fokalisierung durch
andere Figuren in direkter Rede. 2. 1. dieses Kapitels zeigt aber, dass es im Fall der Pharsalia
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Funktionen von Charakterfokalisation in direkter Rede 199
Situation ihrer eigenen Vergangenheit hinein. Im letztgenannten Fall kann die
Sprechsituation dabei an eine Ich-Erzählung erinnern.
Da Charakterfokalisation innerhalb direkter Rede zu den selteneren Phäno-
menen in der Pharsalia gehört, wurde sie in Publikationen bislang kaum erwähnt.
Ausnahmen sind die Beiträge von Owen Eldred⁸⁰⁴ und Ambühl⁸⁰⁵, auch wenn
beide Autorinnen keine narratologischen Schwerpunkte setzen.⁸⁰⁶ Diese Arbeit
wird im Folgenden die Besonderheiten und unterschiedlichen Funktionen von
Charakterfokalisation in direkter Rede in Lucans Epos untersuchen.
2.1 Augenzeugen des Schreckens
Zu Beginn des zweiten Buches der Pharsalia sind die Einwohner Roms in großer
Sorge wegen des bevorstehenden Bürgerkriegs. Ein alter Mann, der bereits den
Konflikt zwischen Marius und Sulla miterleben musste, erhebt die Stimme. Die
Bezeichnung des Sprechers als aliquis⁸⁰⁷ – „manch einer“⁸⁰⁸ – lässt vermuten,
relevant sein kann, auch Fall b) mit einzubeziehen.
804 Owen Eldred 1997, v. a. S. 74 – 78 untersucht die direkte Rede des alten Mannes im zweiten
Buch der Pharsalia (vgl. 2. 1. dieses Kapitels) unter dem Aspekt der Gewalt, die ihrer Aussage
nach auch eine identifizierende Funktion erfüllt. So könne man z. B. an der Art, wie jemand
getötet werde, erkennen, welches Verbrechen er begangen habe.
805 Ambühl 2010 und 2014, S. 293 – 325.
806 Fantham 2003, S. 247 erkennt Fokalisierung in Caesars Rede 9, 1064 – 1104, speziell
1101 – 1104, wo der Feldherr über seinen toten Konkurrenten Pompeius spricht: (9, 1098 – 1104):
caruere dies mea vota secundis,
ut te complexus positis felicibus armis
affectus a te veteres vitamque rogarem, 1100
Magne, tuam dignaque satis mercede laborum
contentus par esse tibi. tunc pace fideli
fecissem ut victus posses ignoscere divis,
fecisses ut Roma mihi.
Das Wort ignoscere lasse auf Fokalisierung durch Pompeius schließen, da es keinen Hinweis
darauf gebe, dass der Sprecher Caesar Pompeius’ Tod für eine Ungerechtigkeit der Götter hält.
Caesar versetze sich hier in die Lage seines toten Rivalen.
807 Schrempp 1964, S. 58 ist der Ansicht, bei aliquis würde es sich um einen Senator handeln.
Schmitt 1995, S. 41 widerspricht ihm, da parens nicht synonym für pater verwendet werden
könne. Nach Ambühl 2014, S. 318 reflektiert die Wahl eines männlichen Sprechers eher die
„römisch-politische Dimension von dessen Erinnerungen“. Alexis 2011 hält aliquis für einen
einfachen Soldaten.
808 Vgl. civ. 1, 2, 2. Hier wird der Inhalt verschiedener Reden mit der Formel dixerat aliquis zusam-
mengefasst. Die einzelnen Sprecher sind bekannt und werden im Folgenden namentlich genannt.
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200 Charakterfokalisation in direkter Rede
dass hier die Aussagen verschiedener Personen zusammengefasst werden.⁸⁰⁹ Die
Personengruppe, zu der der Sprecher gehört, charakterisiert der NF folgenderma-
ßen (2, 64 – 66):
at miseros angit sua cura parentes,
oderuntque gravis vivacia fata senectae
servatosque iterum bellis civilibus annos.
Wer der Adressat ist der Rede ist, wird überhaupt nicht vermerkt.⁸¹⁰ Wenn auch
namenlose Personen in der Pharsalia bisweilen zu Wort kommen (beispiels-
weise die matrona in 1, 678 – 694, Argus’ Vater in 3, 742 – 747, der rudis incola in 4,
593 – 660⁸¹¹ oder der wiederbelebte Soldat in 6, 777 – 820), sind sie doch in gewis-
sem Rahmen durch ihre Bezeichnung und den Kontext ihres Auftretens definiert,
was auch auf aliquis zutrifft.
Es handelt sich um die längste direkte Rede des Epos (2, 68 – 232) ⁸¹² Wie
häufig bei Lucan gibt Charakterfokalisation des Sprechers vor der Rede ihren
Anlass an. In diesem Fall befürchtet aliquis zu Recht, einen zweiten Bürgerkrieg
miterleben zu müssen. Dass er sich selbst in diesem Zusammenhang als zu lang-
lebig⁸¹³ beurteilt, legt nahe, dass er lieber sterben würde, als denselben Schre-
cken noch einmal durchzumachen.
Aliquis ist ein interner sekundärer Erzähler, d. h. er tritt als Erzähler inner-
halb der fiktiven Welt auf. In 2, 68 – 168 erläutert er die Vorgeschichte des Marius-
Sulla-Konflikts und des Geschehens in Rom, wobei er sich zeitlich und emotional
mehr und mehr den Ereignissen annähert, die er selbst unmittelbar miterlebt
hat.⁸¹⁴ Davon berichtet er konkret in 169 – 190. Von 190 – 220 werden Ereignisse
geschildert, bei denen unklar ist, wie viel von ihnen der Sprecher aus eigener
Erfahrung berichtet. Er schließt mit einem Urteil über Sulla und setzt das Erzählte
mit der aktuellen Situation in Bezug (221 – 232).⁸¹⁵ Bis auf den Schluss der Rede
809 Laird 1999, S. 93 ordnet diese Art der Rede unter der Kategorie „free direct discourse“ ein.
810 Ambühl 2014, S. 317 sieht hier durch die Klage eines Überlebenden, die keinen expliziten
Adressaten hat, einen Bezug zur Tragödie.
811 Diese direkte Rede ist am ehesten mit der des aliquis zu vergleichen, weil sie mit der An-
taeus-Sage ebenfalls eine Erzählung innerhalb der Erzählung enthält, der rudis incola also wie
der aliquis als sekundärer Erzähler auftritt.
812 Tasler 1972, S. 235, Fantham 1992a, S. 91. Zur Rede insgesamt Tasler 1972, S. 235 – 247,
Conte 1974, S. 77 – 108, Fantham 1992a, S. 90 – 121, Schmitt 1995, S. 41 – 79, Owen Eldred 1997,
S. 74 – 81, Radicke 2004, S. 204 – 207, Ambühl 2010, Ambühl 2014, S. 298 – 325.
813 Zu dieser Bedeutung von vivax Fantham 1992a, S. 90. Vgl. Schmitt 1995, S. 41: „Der alte
Mann haßt sein Alter, weil es ihn zwingt, eine furchtbare Erfahrung erneut zu durchleben.“
814 Vgl. Alexis 2011, S. 106.
815 Zu einer inhaltlichen Gliederung Tasler 1972, S. 137 f.
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Funktionen von Charakterfokalisation in direkter Rede 201
handelt es sich also um eine externe Analepse: Es wird von Ereignissen berich-
tet, die vor der Handlung des Epos stattgefunden haben.⁸¹⁶ Dabei beschreibt
aliquis sogar Ereignisse detailliert, deren Augenzeuge er auf keinen Fall gewesen
sein kann, beispielsweise den versuchten Mord an dem eingekerkerten Marius.
Bemerkenswert ist, dass er sogar Einblicke in die Wahrnehmung anderer Figuren
gibt. Das gilt etwa bei der Beschreibung dessen, was seiner Aussage nach bei
Marius’ Gefangenschaft im Kerker vor sich ging (2, 75 – 83):
mors ipsa refugit 75
saepe virum, frustraque hosti concessa potestas
sanguinis invisi, primo qui caedis in actu
deriguit ferrumque manu torpente remisit.
viderat immensam tenebroso in carcere lucem
terribilisque deos scelerum Mariumque futurum, 80
audieratque pavens ‚fas haec contingere non est
colla tibi; debet multas hic legibus aevi
ante suam mortes: vanum depone furorem.‘⁸¹⁷
Ein Kimber oder Gallier⁸¹⁸, der ausgeschickt worden ist, um Marius zu ermorden,
kann den tödlichen Schwerthieb nicht zu Ende führen, weil er durch Erscheinun-
gen der Götter, die Marius beschützen, und deren unheilvolle Stimme⁸¹⁹ erschreckt
wird, woraufhin er vor Entsetzen seine Waffe fallen lässt. Der Abschnitt enthält
explizite Charakterfokalisation auf nächstunterer Ebene sowie direkte Rede
innerhalb der Rede. Dabei wird zuerst die Reaktion des Kimbers beschrieben und
anschließend mittels Charakterfokalisation die Begründung für sein Verhalten
gegeben. Die Erzählung lässt offen, ob auch Marius oder nur sein verhinderter
Mörder diese terribilis deos scelerum gesehen und ihre direkte Rede gehört hat.
Festzuhalten ist, dass es sich um keinen direkten Auftritt übernatürlicher Wesen
handelt, sondern nur um eine Erzählung davon,⁸²⁰ die noch einmal durch die
Subjektivität der fokalisierenden Figur gebrochen wird.
816 Faust 1908, S. 35 vermutet, Lucan habe den Marius-Sulla-Konflikt als direkte Rede einem
Zeitzeugen in den Mund gelegt, um die Reihenfolge der Ereignisse nicht zu stören. Diese Erzähl-
technik habe er aus dem zweiten Buch von Vergils Aeneis übernommen, wo Aeneas Dido von
seinen Erlebnissen in Troja berichtet.
817 Die Länge der direkten Rede ist strittig. Schmitt 1995, S. 52 diskutiert das Problem und will
mit Tasler 1972, S. 239 f. auch 84 zu der indirekten Rede rechnen. Dreyling 1999, S. 47 f. wider-
spricht. Dieser Text folgt Fantham 1992a, S. 96.
818 Fantham 1992a, S. 95.
819 Es ist unwahrscheinlich, dass Marius selbst spricht, vgl. Ibid. 1992a, S. 96.
820 Vgl. Tasler 1972, S. 239. Bartsch 1997, S. 110 führt die Textstelle als Beispiel für die Rolle
der Götter an, berücksichtigt dabei aber, dass es sich nur um die Erzählung einer Figur handelt.
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202 Charakterfokalisation in direkter Rede
Bei diesem Ereignis war der Sprecher selbst nicht anwesend, er kann also
weder wissen, was der Kimber gesehen und wie er es interpretiert hat, noch, was
in diesem dramatischen Augenblick womöglich gesprochen wurde. Indem er
präsentiert, was eine andere Person wie wahrgenommen hat,⁸²¹ und Einzelhei-
ten aufzählt, die er möglicherweise nicht selbst miterlebt hat (s. o.), zeigt er ein
umfangreiches Wissen, das ihn zu einem allwissenden Erzähler macht.⁸²²
Anders präsentiert sich der sekundäre Erzähler im mittleren Abschnitt der
Rede. Laut eigener Aussage hat aliquis vor allem zwei Ereignisse unmittelbar
miterlebt:⁸²³ Er hat zum einen nach dem Leichnam seines geköpften Bruders
unter zahlreichen anderen Leichen auf dem Forum gesucht (169 – 173), um ihn
trotz Verbots⁸²⁴ zu bestatten:
meque ipsum memini, caesi deformia fratris
ora rogo cupidum vetitisque imponere flammis, 170
omnia Sullanae lustrasse cadavera pacis
perque omnis truncos, cum qua cervice recisum
conveniat, quaesisse, caput.
Innerhalb dieses fokalisierten Textabschnitts, der die Gefühle und Motive des
erlebenden Ich⁸²⁵ enthält, ist der Ausdruck Sullanae … pacis (171) bemerkens-
wert. Er gibt die tiefe Verbitterung des alten Mannes wieder, der sich als Spre-
cher die Ereignisse aus zeitlichem Abstand ins Gedächtnis zurückruft. Für ihn,
den damaligen Augenzeugen, muss die Bezeichnung pax für den Schrecken, dem
sein Bruder zum Opfer fiel, auch noch zum Zeitpunkt der Rede als bittere Ironie
erscheinen. Diese Wertung ist charakteristisch für die Subjektivität des Spre-
chers, die die gesamte Rede durchzieht.
821 Andere Beispiele in dieser direkten Rede: Karthago und Marius empfinden sich gegenseitig
als Trost für ihr Unglück (2, 91 f., vgl. Tasler 1972, S. 240), die Hoffnung der Samniten (137 f.), die
Stadt Praeneste muss den Tod ihrer Einwohner miterleben (193 – 195).
822 Owen Eldred 1997, S. 74 ist der Ansicht, der alte Mann fokalisiere nur die Verse 169 – 190.
Ambühl 2010, S. 24 – 26 sieht Ähnlichkeiten des alten Mannes mit dem Erzähler der Pharsalia.
So protestiere er z. B. gegen den Mord an Unschuldigen, beklage die Verbrechen und könne den
Verlauf der Geschichte nicht ändern.
823 Narratologisch betrachtet liegt an diesen Stellen eine „Ich-Erzählung“ vor. Das Ich des ak-
tuellen Sprechers ist dabei nicht mit dem des jüngeren Mannes identisch, der den Marius-Sulla-
Konflikt miterlebt hat, es findet ebenso eingebettete Charakterfokalisation statt wie in einer „Er-
Erzählung“.
824 Mit Schmitt 1995, S. 68 f. kann man eine Vorausdeutung auf das Bestattungsverbot vor
Pharsalus und den Tod des Pompeius im siebten bzw. achten Buch der Pharsalia annehmen.
Hier zeigt sich u. a., dass die Erlebnisse des alten Mannes als repräsentativ verstanden werden
können für Personen, die unter den Auswirkungen von Bürgerkriegen zu leiden haben.
825 Mit dem Begriff des erlebenden Ich arbeitet v. a. Stanzel 1989.
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Funktionen von Charakterfokalisation in direkter Rede 203
Zum anderen hat der anonyme Sprecher die Folterung und Tötung des Marius
Gratidianus beobachtet (173 – 191).⁸²⁶ Explizite Charakterfokalisation enthalten
dabei die Verse 177 – 180, aber die Detailkenntnisse des Sprechers könnten nahe-
legen, dass auch der übrige Textabschnitt durch ihn fokalisiert wird. ⁸²⁷
quid sanguine manes 175
placatos Catuli referam? cum victima tristis
inferias Marius forsan nolentibus umbris
pendit inexpleto non fanda piacula busto,
cum laceros artus aequataque vulnera membris
vidimus et toto quamvis in corpore caeso 180
nil animae letale datum, moremque nefandae
dirum saevitiae, pereuntis parcere morti.
avulsae cecidere manus exectaque lingua
palpitat et muto vacuum ferit aera motu.
hic aures, alius spiramina naris aduncae 185
amputat, ille cavis evoluit sedibus orbes
ultimaque effodit spectatis lumina membris.
vix erit ulla fides tam saevi criminis, unum
tot poenas cepisse caput. sic mole ruinae
fracta sub ingenti miscentur pondere membra, 190
nec magis informes veniunt ad litora trunci
qui medio periere freto.
Der Sprecher bewertet die Folterung stark negativ, so etwa als mos nefandae dirus
saevitiae (179 f.) und saevum crimen (186), und bezieht damit eindeutig Position
gegen diese Form der Gewalt. Die Glaubwürdigkeit der Schilderungen unter-
streicht er, indem er eingesteht, dass die Taten sogar ihm als Beobachter unfass-
bar erscheinen (186 f.).⁸²⁸ In diesem Textabschnitt, der in Charakterfokalisation
in der ersten Person wiedergegeben wird, verengt sich auch die Erzählperspektive
entsprechend. Während aliquis im vorigen Teil seiner Rede z. B. noch Marius zum
Fokalisator machte, vermutet er in 174 – 177 nur, dass Catulus’ Schatten das Vor-
gehen der Mörder möglicherweise nicht recht war, und lässt den Schatten nicht
selbst fokalisieren.⁸²⁹ Das zeigt, dass der sekundäre Erzähler zwar allwissend ist,
826 Vgl. Walker 1996, S. 82.
827 Daraus schließt Owen Eldred 1997, S. 78 f. sogar, dass der Sprecher an der Hinrichtung be-
teiligt gewesen sein könnte. Für Schmitt 1995, S. 70, der auf die eingebettete Fokalisierung nicht
eingeht, ist die genau beschriebene Folter des Marius vor allem ein Exempel für den Blutrausch
der perversen Bürgerkriegssituation.
828 Vgl. Ambühl 2010, S. 30 f. Anders Schmitt 1995, S. 71, der der Ansicht ist, Lucan würde
durch diesen Einschub die Glaubwürdigkeit der Überlieferung anzweifeln.
829 Catulus wurde während Marius’ Herrschaft in Rom von Marius Gratidianus verfolgt und in
den Selbstmord getrieben. Aus Rache folterte Catulus’ Sohn ihn daraufhin mit Sullas Erlaubnis
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204 Charakterfokalisation in direkter Rede
bei den Geschehnissen, die sein früheres Ich miterlebt hat, aber die begrenzte
Perspektive der Charakterfokalisation bevorzugt, die ihm einen hohen Grad an
Glaubwürdigkeit verleiht.
Abgesehen von der Verwendung der Bezeichnung aliquis für den Sprecher
legen auch die Detailkenntnis⁸³⁰ und die explizite Augenzeugenschaft unter-
schiedlicher Ereignisse nahe, dass die Erlebnisse verschiedener Personen in
einer einzigen Rede kombiniert werden:
Es zeigt sich ferner, dass beim Umfang der ausgebreiteten Erfahrungen und Beobachtun-
gen die Anonymität des Redners dieser längsten Rede ein dringendes Erfordernis darstellt.
Denn ein mit einem Namen ausgestattetes Individuum könnte schwerlich als Augenzeuge
so vieler Begebenheiten auftreten. Schließlich unterliegt das Berichtete nicht der Befangen-
heit oder Unzulänglichkeit eines bestimmten Berichterstatters, sondern es wird als etwas
verstanden, was jeder, der es erlebte, in dieser Weise erzählen könnte und müßte.⁸³¹
aliquis hat sich auf der Grundlage seiner eigenen Erfahrungen eine bestimmte
Ansicht über die vergangenen Ereignisse und die beteiligten Personen gebil-
det. Die gesamte Rede ist stark von wertenden Begriffen durchzogen. Er nennt
Marius einen vir ferus et Romam cupienti perdere fato/sufficiens (2, 87 f.). Auch
die Berechtigung der Bezeichnung Sullas als felix und salus rerum stellt er nach
seinen Erlebnissen zynisch infrage (221), und die Morde unter Sulla beurteilt er
folgendermaßen (2, 143 f.): periere nocentes, sed cum iam soli possent superesse
nocentes. Seine Aussage, dass zu diesem Zeitpunkt bereits alle Überlebenden
schuldig waren, zeigt deutlich sowohl die Subjektivität als auch die Verbitterung
des Sprechers.
Die Rede des alten Mannes erinnert an die „τις-speeches“ der Ilias⁸³², in
denen ebenfalls ein nicht namentlich genannter Sprecher seine Meinung zu einer
zu Tode (Fantham 1992a, S. 112, ausführlich Dreyling 1999, S. 84 – 91). Offensichtlich sind in
der Pharsalia mehrere Personen an dieser Ermordung beteiligt. Schmitt 1995, S. 70: „Indem die
Vermutung ausgesprochen wird, daß die Schatten das Opfer vielleicht überhaupt nicht wollen
(174f.), zeigt sich sogleich, wie sehr die Heiligkeit der Handlung durch das perverse Gebaren der
Sullaner entwertet wird. Andererseits jedoch wird durch die Beschreibung des Grabes als ‚un-
ersättlich‘ der Verdacht nahegelegt, daß der Tod des Catulus gar nicht gesühnt werden kann.“
Dreyling 1999, S. 86 merkt an, dass inexpleto möglicherweise „aus des Catulus Perspektive sub-
jektiv“ aufgefasst werden kann.
830 So wird z. B. auch der Mord an Auch der Mord an Baebius, Antonius und Scaevola in 2,
119 – 130 ausführlich beschrieben.
831 Tasler 1972, S. 236. Schmitt 1995, S. 11 betont, es sei gleichgültig, ob bei Gruppenreden nur
eine Person für die Gruppe spreche oder alle gemeinsam. Für ihn spricht bei der aliquis-Rede
„gleichsam das kollektive Gedächtnis Roms“ (S. 188).
832 Vgl. Conte 1974, S. 100, Fantham 1992a, S. 94, Dreyling 1999, S. 41, Ambühl 2010, S. 29.
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Funktionen von Charakterfokalisation in direkter Rede 205
aktuellen Situation äußert.⁸³³ Laut de Jong bieten diese Reden dem Leser bzw.
Hörer die Möglichkeit, die Meinung der Massen zu hören, die normalerweise in
der Epik nicht zu Wort kommen. Stimmungen und Wünsche dieser anonymen
Masse können sich dabei von denen ihrer Anführer unterscheiden.⁸³⁴ De Jong
schlägt vor, die Sprecher trotz ihrer Anonymität ebenso wie die individuell
genannten Personen als Figuren der Handlung zu betrachten, da es innerhalb
ihrer Reden keinen Hinweis auf Aktivität des NF gebe. Daher seien auch ihre
Reden als tatsächliche direkte Reden anzusehen, die als repräsentativ für eine
Gruppe betrachtet werden müssten:
The iterative verb-form in the introductory formula and plural in the capping formula only
meant as an indication for the narratee that the one speech quoted in the text must be taken
representative for a whole body of speeches with similar content.⁸³⁵
Die Rede des alten Mannes in der Pharsalia erfüllt eine ähnliche Funktion, indem
sie einen Angehörigen der Generation sprechen lässt, die nicht mehr aktiv am
Bürgerkrieg (und damit der Handlung) teilnimmt, sich aber aufgrund ihrer per-
sönlichen Erfahrungen ein Urteil über das bevorstehende Unheil bilden kann.
Die Einleitung (atque aliquis magno quaerens exempla timori […] inquit, 2, 66 f.)
und der Schluss der Rede (sic maesta senectus/praeterique memor flebat metu-
ensque futuri, 2, 233 f.) entsprechen den Formeln der „τις-speech“ in homerischer
Epik.⁸³⁶ Im Gegensatz zu den „τις-speeches“ der Ilias besteht der hauptsächliche
Inhalt der Rede in einer umfangreichen externen Analepse, die durch das Auf-
greifen von Vergangenem auf dessen aktuelle Bedeutung hinweist:⁸³⁷ Sie vermit-
telt dem NeFe zusätzliche Informationen, die dazu dienen, die aktuelle Situation
in den Gesamtkontext der fiktiven Welt einordnen zu können. Der sekundäre
Erzähler bringt Zeitgeschichte sowohl mit seinen eigenen Erlebnissen als auch
den bevorstehenden Ereignissen in Verbindung und verknüpft somit auf subjek-
tive Art Vergangenheit, Erzählzeitpunkt und Zukunft. Als Zeuge bürgt er für die
833 De Jong 1987 unterscheidet zwischen tatsächlichen und möglichen „τις-speeches“. Mögli-
che „τις-speeches“ finden sich innerhalb direkter Figurenrede.
834 De Jong 1987, S. 82.
835 Ibid.
836 Ambühl 2010, S. 30 vergleicht den alten Mann mit einem Tragödien-Chor oder einem Pro-
logsprecher. Diese Idee findet sich auch bei Conte 1974, S. 99 und Schmitt 1995, S. 254 f., der
diesen Vergleich aber aufgrund der Länge der Rede für nicht angemessen hält. Für die „τις-
speeches“ in der Ilias lehnt de Jong 1987, S. 82 einen Vergleich mit dem Chor in Tragödien ab,
weil die Ansichten, die die Sprecher verträten, sehr bodenständig seien. So weist der alte Mann
z. B. ähnlich wie der Chor in Aischylos’ Agamemnon (dazu Käppel 1998, S. 76 – 78) darauf hin,
dass sich die Geschehnisse der Vergangenheit zu wiederholen drohen.
837 Vgl. Lämmert 1955, S. 196 f.
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206 Charakterfokalisation in direkter Rede
Glaubwürdigkeit seiner Schilderung. Die Art der Präsentation durch direkte Rede
und mittels Charakterfokalisation legt dem NeFe nahe, diese subjektive Sicht der
Vorgeschichte zu übernehmen.
Auf die Parallelen von aliquis zum NF der Pharsalia weisen Ambühl und
Alexis hin,⁸³⁸ Unterschiede zwischen den beiden Erzählern zeigen sich jedoch
auch. Beide Erzähler berichten von etwas Vergangenem, das sie während des
Erzählvorgangs fokalisieren, aber während der primäre NF des Epos extern ist,
gehört aliquis zu den Figuren auf der text-Ebene. Die Fokalisation seines frühe-
ren Ich innerhalb seiner Erzählung zeigt, dass er von den Ereignissen tatsächlich
betroffen war, während sich der primäre NF nur so inszenieren kann, als wäre er
von den Ereignissen betroffen, von denen er berichtet.⁸³⁹ Beide Erzähler fokali-
sieren den Bürgerkrieg als etwas Entsetzliches, sie sind ihrer negativen Meinung
über die Ereignisse sicher und verurteilen wiederholt das Geschehen. Dabei
berechtigen die persönlichen Erfahrungen des alten Mannes ihn dazu in beson-
derer Weise. Seine Rede untermauert die Position des primären NF und seiner
Werturteile, die mit denen des sekundären Erzählers übereinstimmen.
Zum Augenzeugen einer schrecklichen Tat, die ihn unmittelbar persönlich
betrifft, wird auch Sextus Pompeius. Hilflos muss er mit ansehen, wie sein Vater
ermordet und enthauptet wird. In 9, 126 – 145 erzählt er seinem Bruder Gnaeus
von diesem Erlebnis. Wie aliquis ist auch Sextus ein interner sekundärer Erzähler,
der als Ich-Erzähler Charakterfokalisation innerhalb direkter Rede präsentiert (9,
133 – 143):
vidi ego magnanimi lacerantes⁸⁴⁰ pectora patris,
nec credens Pharium tantum potuisse tyrannum
litore Niliaco socerum⁸⁴¹ iam stare putavi. 135
sed me nec sanguis nec tantum vulnera nostri
838 Ambühl 2010, S. 24 – 26, Alexis 2011, S. 103. So beklage aliquis z. B. die Ungerechtigkeit der
Verbrechen und könne den Verlauf der Geschichte nicht ändern. Dies rücke ihn in die Nähe des
Erzählers. „In the final comment by the unnamed old man, it is easy to hear the ventriloquised
opinion of the disapproving narrator on the wickedness of civil war and one of its consequences,
the line of Caesars leading to his own emperor, Nero.“
839 Vgl. II. 2. 4. dieser Arbeit.
840 Das AcP verdeutlicht, dass es sich um einen Augenzeugenbericht handelt, vgl. Wick 2004,
S. 49 f., Seewald 2008, S. 88.
841 Wick 2004, S. 50 sieht nicht Sextus’ Perspektive, sondern die des Erzählers im Gebrauch des
Wortes socer: Sextus Pompeius habe keinen Grund, Caesar so zu bezeichnen. Lucan opfere aber
die „Authentizität der Redeweise ganz bewußt zugunsten eines rhetorischen Effekts.“ Die Fokali-
sationsmarker und die begrenzte Perspektive zeigen jedoch an, dass durchgängig Fokalisierung
durch Sextus vorliegt. Eventuell ließe sich das socer dadurch erklären, dass in Pompeius’ gesam-
ter Familie der Gedanke an Caesar als Pompeius’ Schwiegervater allgegenwärtig ist.
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Funktionen von Charakterfokalisation in direkter Rede 207
affecere senis quantum gestata per urbem
ora ducis, quae transfixo sublimia pilo
vidimus: haec fama est oculis victoris iniqui
servari, scelerisque fidem quaesisse tyrannum. 140
nam corpus Phariaene canes avidaeque volucres
distulerint, an furtivus, quem vidimus, ignis
solverit, ignoro.
Trotz seiner emotionalen Involviertheit berichtet Sextus aus zeitlichem Abstand
überraschend sachlich über den Mord und die Schändung der Leiche seines
Vaters. Dabei informiert er Gnaeus sowohl über das Geschehen als auch über
seine damit verbundenen Gefühle und Gedanken: Er hielt es für so unwahr-
scheinlich, dass der Mordanschlag von Ptolemaeus organisiert worden war, dass
er ihn zunächst Caesar zugeschrieben hat –, und mehr als der Mord selbst hat ihn
das Zurschaustellen von Pompeius’ Kopf erschüttert.
Ein Vergleich mit der aliquis-Rede zeigt, dass Sextus während seines gesam-
ten Berichts ein Ich-Erzähler bleibt, der nicht über Allwissenheit verfügt. So
weiß er beispielsweise nicht, was mit dem Leichnam seines Vaters geschehen ist.
Während der NeFe längst die Wahrheit über das Drama um Pompeius’ Bestattung
kennt, hat Sextus zwar ein Feuer gesehen, weiß aber nicht, ob es sich dabei um
Pompeius’ Totenfeuer handelte. Das ist folgerichtig, denn als Cordus am Strand
das Feuer entzündet, befindet sich Sextus zusammen mit Cornelia auf einem
Schiff und ist zu weit vom Strand entfernt, um Genaueres zu erkennen. In 9,
51 – 54 wird beschrieben, wie Cornelia vom Schiff aus das Feuer entdeckt. Dass
Sextus ebenfalls anwesend ist, lässt sich nur aus ihrer direkten Rede schließen
(55 – 108, in 85 spricht sie ihn an). Cornelia zweifelt keinen Augenblick, dass das
Feuer, das sie sieht, durch die Verbrennung von Pompeius’ Leichnam entsteht,
sie bewertet diese Bestattung negativ (64 f., 73) und gibt sich die Schuld daran, da
sie ihren Ehemännern den Tod bringe und ihnen stets eine angemessene Beiset-
zung versagt bleibe (v. a. 55 – 68). Cornelia kann dabei jedoch ebenso wenig wie
Sextus tatsächlich sehen, woher das Feuer stammt. Ihre Einschätzung stimmt
mit dem tatsächlichen Geschehen auf text-Ebene überein, und ihre Bewertung
des Ereignisses als negativ deckt sich mit der des NF, der Pompeius’ Grab am
Strand schon zuvor ebenfalls als unangemessen beurteilt hat.⁸⁴² Das tut der Sub-
jektivität ihrer Rede jedoch keinen Abbruch. Cornelia setzt das, was sie sieht, mit
ihren Befürchtungen und Schuldgefühlen in Beziehung und deutet es entspre-
chend.⁸⁴³ Durch den Vergleich mit Sextus’ Bericht zeigt sich, dass zwei Figuren,
842 Vgl. II. 2. 4. dieser Arbeit.
843 Dass sie ihren Ehemännern tatsächlich Unglück bringt, findet sich als Gedanke allein in
ihren direkten Reden (vgl. Finiello 2005, S. 175). Der NF bestätigt dies an keiner Stelle.
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208 Charakterfokalisation in direkter Rede
die zu einem Zeitpunkt der Handlung dasselbe gesehen haben, dies dennoch
unterschiedlich wahrnehmen und interpretieren. Wahrnehmung ist nicht nur
vom Standpunkt des Charakters, sondern auch von seiner Wesensart, seinen
Erwartungen und seiner Verfassung abhängig. Sowohl Sextus als auch Cornelia
haben Pompeius geliebt, sie sind von den Ereignissen betroffen und fühlen sich
schuldig,⁸⁴⁴ jeweils aus unterschiedlichen Gründen. Die direkte Rede charakteri-
siert somit nicht nur Sextus, sondern indirekt auch Cornelia.⁸⁴⁵
Die Beispiele machen deutlich, dass der Bericht schrecklicher Ereignisse,
deren Zeuge eine Figur war, vielfältige und unterschiedliche Funktionen erfüllt.
2.2 Gefährliche Manipulation
2.2.1 VulteiusKürzere Abschnitte von Charakterfokalisation in direkter Rede kommen häufig in
Reden vor, in denen der Sprecher beim Adressaten Überzeugungsarbeit leisten
muss oder ihn auf sonstige Weise beeinflussen will. Im Folgenden werden einige
Beispiele näher beleuchtet.
In der Vulteius-Episode (4, 465 – 581) gerät der Kapitän Vulteius, ein Anhän-
ger Caesars, samt seiner Mannschaft in eine ausweglose Situation. Er will errei-
chen, dass er und seine Leute sich lieber gegenseitig umbringen, als in die Hände
des Feindes zu geraten. Dabei beschwört er seine Todesbereitschaft u. a. mit den
folgenden Worten (4, 505 – 508):
indomitos sciat esse viros timeatque furentis
et morti faciles animos et gaudeat hostis
non pluris haesisse rates. temptare parabunt
foederibus turpique volent corrumpere vita.
Fokalisator ist der Gegner, der Vulteius umzingelt hat.⁸⁴⁶ Adressaten sind Vulteius’
Soldaten, die davon überzeugt werden sollen, die innere Einstellung ihres Anfüh-
rers zu übernehmen und sich gegenseitig zu töten. Er schildert die Perspektive,
844 Die Verbindung zwischen Augenzeugenschaft und Schuld, die Sextus herstellt (9, 126 – 128),
fehlt in der Rede des aliquis.
845 Ein weiteres Beispiel, in dem Charakterfokalisation in direkter Rede Augenzeugenschaft
markiert, findet sich in der Rede von Iulias Geist zu Beginn von Buch 3. In 3, 14 – 19 beschreibt
sie ihre Eindrücke von der Unterwelt. Im Gegensatz zu Iulias Geist hat der von Erictho beschwo-
rene Geist die Unterwelt nicht gesehen (6, 777 f.), sondern kann nur berichten, was er gehört hat.
846 Asso 2010, S. 204: „The viewpoint here is the enemy’s.”
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Funktionen von Charakterfokalisation in direkter Rede 209
die der Gegner einnehmen wird, wenn die Soldaten seinem Vorschlag folgen.
Dabei stehen für ihn mehr noch als die Augenzeugenschaft der Gegner⁸⁴⁷ deren
Gefühle im Vordergrund, wenn sie den Selbstmord beobachten. Nach Vulteius’
Aussage werden sie die indomitos viros fürchten und bewundern. Indem die Sol-
daten veranlasst werden, ihr mögliches Handeln mit den Augen ihrer Gegner zu
betrachten, werden sie zugleich dazu gebracht, auch aus der Sicht anderer Perso-
nen darüber zu urteilen, wenn auch nur so weit, wie es Vulteius’ Absicht zugute
kommt. Das ermöglicht ihnen, Distanz zu ihrer bisherigen Situation einzuneh-
men – wie 4, 520 – 523 zeigt, haben sie den Tod gefürchtet, ehe Vulteius seine
Rede hält – und sich zuletzt vom Plan ihres Anführers überzeugen zu lassen.
Nach Owen Eldred zwingt „Überidentifikation“ von Vulteius mit Caesars
Seite zwinge den Leser, für oder gegen ihn Position zu beziehen. Das Epos selbst
könne jedoch keine Antwort darauf liefern, wie er sich entscheiden solle.⁸⁴⁸
Dies widerlegt D’Alessandro Behr, indem sie auf den negativen Charakter
des Medea-Vergleiches (4, 552 – 556) hinweist: Der Erzähler gebe zu verstehen,
Vulteius’ Position sei nicht korrekt.⁸⁴⁹
Vulteius mag aus Überzeugung sprechen; er schildert jedoch nicht die tat-
sächliche Perspektive des Feindes, sondern seine eigene. Das macht etwa der
wertende Ausdruck foederibus turpique volent corrumpere vita deutlich. Der Satz
enthält eindeutig die Wertung des Vulteius, es sei schändlich weiterzuleben.
Wie sich nach dem Massenselbstmord herausstellt, treffen Vulteius’ Voraus-
sagen über die Wahrnehmung des Gegners nicht ein. Die Anführer der Feinde
reagieren lediglich mit Verwunderung über Vulteius’ Fähigkeit, seine Truppen
zum Massenselbstmord zu veranlassen (4, 570 – 573):
iam strage cruenta
conspicitur cumulata ratis, bustisque remittunt
corpora victores, ducibus mirantibus ulli
esse ducem tanti.
Charakterfokalisation in Vulteius’ direkter Rede dient als tödliche Manipulation
zu einer sinnlosen und selbstzerstörerischen Handlung, deren Absurdität unter
847 Für Owen Eldred 2002, v. a. S. 59 – 67 ist der Aspekt des Sehens in dieser Episode entschei-
dend. Vulteius konstruiere seinen Tod als Spektakel, der nur durch Zeugen seinen Wert erhalte
(S. 61). Er wünsche sich, gesehen zu werden, vor allem von Caesar (S. 65 f.). Bereits sein Name,
den sie als „face-man“ (S. 60) übersetzt, weise auf diesen Charakterzug hin.
848 Owen Eldred 2002, S. 77, S. 80.
849 D’Alessandro Behr 2007, v. a. S. 42 – 44.
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210 Charakterfokalisation in direkter Rede
anderem dadurch enthüllt wird, dass Vulteius’ Aussagen über den Feind mit der
tatsächlichen Wahrnehmung des Gegners konfrontiert werden.⁸⁵⁰
2.2.2 CiceroVor der Schlacht von Pharsalus sucht Cicero Pompeius auf, um ihn davon zu
überzeugen, die Schlacht zu beginnen.⁸⁵¹ Seine Rede (7, 68 – 85) umfasst nur
knapp 18 Verse, enthält dafür drei Beispiele von Charakterfokalisation mit jeweils
unterschiedlichen Fokalisatoren:
– 7, 73 f.: merito Pompeium vincere lente/gentibus indignum est a transcurrente
subactis. (Fokalisator: Pompeius’ Verbündete)
– 7, 78: pudeat vicisse coactum (Fokalisator: Pompeius)⁸⁵²
– 7, 82 f.: vix signa morantia quisquam/expectat (Fokalisator: vix … quisquam)
Ciceros Hauptargument ist, dass sich Pompeius dem Kampf nicht mehr entzie-
hen kann und dass sowohl der Senat als auch seine Verbündeten nur noch auf
sein Signal warten. Die genannten Textstellen unterstreichen in drei Variationen
dieses Argument: Sie sollen Pompeius die Sinnlosigkeit und die unangenehmen
Folgen seines Zögerns verdeutlichen.
Im ersten Beispiel nimmt Cicero die Perspektive von Pompeius’ Verbündeten
ein, die das jetzige Verhalten ihres Anführers mit seinem früheren vergleichen
und daher besonders empört über sein Zögern sein müssen. Cicero verbindet
den fokalisierten Text mit einer Wertung, merito, und einem schmeichelhaften
Hinweis auf Pompeius’ Ruhm.
Das zweite Beispiel fordert Pompeius auf, sich vorzustellen, wie er seine
eigene Situation in der Zukunft wahrnehmen wird. Sich zu schämen, weil er zu
seinem Sieg gezwungen wurde, kann für den Feldherrn natürlich kein erstre-
benswerter Zustand sein. Das impliziert, dass die einzige Möglichkeit, diesen
850 Die Vielfalt der Perspektiven führt in dieser Szene laut D’Alessandro Behr 2007, S. 45 dazu,
dass die Kritik Lucans an Vulteius’ irrationalem und nicht nachahmenswertem Verhalten verlo-
ren zu gehen drohe. Die Perspektive des Feindes unterstützt die Kritik jedoch.
851 Cicero war bei der Schlacht von Pharsalus nicht anwesend. Zu den entsprechenden histori-
schen Quellen z. B. Radicke 2004, S. 379.
852 Galimberti Biffino 2002, S. 93 zitiert diese Textstelle als Indiz dafür, dass Pompeius eine
Figur ist, „die sich der eigenen Unterlegenheit bewußt ist, die mit Scham über diese Inkongruenz
geschlagen ist und die immerhin die Verantwortung für den Krieg von sich abweist […].“ Abgese-
hen davon, dass die Annahme von Pompeius’ Überlegenheit die Grundlage für Ciceros Aussage
bildet, scheint es sinnvoller anzunehmen, dass es sich hier nicht um Pompeius’ tatsächliche
Gefühle handelt, sondern nur um seine potentielle Perspektive in einer fiktiven (und nicht ein-
treffenden) Situation, so wie Cicero sie für seine Argumentation nutzt.
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Funktionen von Charakterfokalisation in direkter Rede 211
Zustand zu vermeiden, darin besteht, möglichst schnell den offenen Konflikt zu
suchen. Dabei versteht sich von selbst, dass Cicero die Aussicht, Pompeius könne
die Schlacht verlieren, gar nicht erst berücksichtigt.
Im dritten Beispiel wird noch einmal zusammengefasst, wie ungeduldig
Pompeius’ Truppen und alle Beteiligten auf sein Signal zum Angriff warten.
Die eingebettete Fokalisation zielt darauf ab, die Emotionen des Adressaten
Pompeius anzusprechen und Ciceros Argumentation zu stützen, wo ein Mangel
an rationalen Argumenten besteht. Dabei kann Cicero seine Aussagen weder
beweisen, noch kann Pompeius sie widerlegen, er wird jedoch in Zugzwang
gebracht.
In seiner Gegenrede greift Pompeius unter anderem Ciceros rhetorische Ver-
wendung der Fokalisation auf. So sagt er über seine Verbündeten und den Senat
pugnare ducem quam vincere malunt (7, 109). Damit geht er wie Cicero davon aus,
dass sich die Truppen eine schnelle Entscheidungsschlacht wünschen, fügt der
Aussage aber noch einen neuen Aspekt hinzu: Es gehe ihnen nur um den Kampf,
wodurch sie den Sieg gefährden. So erscheint die Kampfbereitschaft der Truppen
in einem neuen Licht und kann nicht mehr als Grund dafür dienen, die Schlacht
zu beginnen. Ciceros Argument pudeat vicisse coactum (7, 78), entkräftet Pom-
peius auf vergleichbare Weise. Er geht ebenfalls von einem Zeitpunkt nach der
Schlacht aus, nimmt jedoch nicht seine eigene Perspektive ein, sondern die der-
jenigen, die ihn und sein Handeln nach Pharsalus beurteilen werden: aut populis
invisum hac clade peracta/aut hodie Pompeius erit miserabile nomen (7, 120 f.).
Nur Hass oder Mitleid kann Pompeius nach eigener Aussage zuteil werden, wenn
er Ciceros Aufforderung befolgt. Dagegen erscheint die Zukunft harmlos, die ihm
Cicero für diesen Fall in Aussicht gestellt hat.
Dass sich Pompeius trotz seiner Einwände bereits entschlossen hat, Ciceros
Aufforderung zum Kampf zu folgen, erfährt der NeFe schon vor seiner Rede
durch die Präsentation seiner Charakterfokalisation: (ingemuitque rector sen-sitque deorum/esse dolos et fata suae contraria menti, 7, 85 f.). Pompeius handelt
somit eindeutig gegen seinen Willen und wider besseres Wissen. Der Fortgang
der Handlung zeigt, dass er mit seiner Einschätzung zumindest teilweise Recht
behalten wird, während sich Ciceros Argumente auf einen Fall beziehen, der
nicht eintreten wird. Die negativ wertende Einleitung zu Ciceros Rede und die
Präsentation von Pompeius’ Charakterfokalisation erleichtern es, die Reden
beider Personen entsprechend zu gewichten. Es handelt sich um ein Beispiel
für tragische Ironie in der Pharsalia: Ciceros Vorhersage über die Zukunft wird
nicht eintreffen, was der NeFe weiß. Indem Pompeius durch Ciceros Rede dazu
veranlasst wird, sich auf die Schlacht einzulassen, betrifft die Tragik seiner Fehl-
entscheidung nicht nur den Feldherrn, sondern das gesamte römische Volk und
damit auch den Sprecher Cicero selbst.
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212 Charakterfokalisation in direkter Rede
2.2.3 CaesarAuch Caesar benutzt Charakterfokalisation in direkter Rede, so etwa in der Rede
an seine Soldaten vor Pharsalus (7, 250 – 329). Es handelt sich bei der gesamten
Rede um eine cohortatio,⁸⁵³ die den Kampfeswillen der Soldaten anstacheln soll.
Für den Fall einer Niederlage kündigt Caesar seinen Selbstmord an:⁸⁵⁴ fodi-
entem viscera cernet/me mea qui nondum victo respexerit hoste (7, 309 f.). Dabei
wählt er eine nachdrückliche Art der Präsentation: Vor den Augen der Soldaten
durchbohrt er sich selbst die Eingeweide – zumindest in Worten. Diese Handlung
wird als Teil der zukünftigen Wahrnehmung der Soldaten dargestellt, die ihn
direkt während seines Selbstmordes (wiedergegeben durch das gleichzeitige Par-
tizip fodientem) sehen werden. Dadurch erreicht Caesar einen deutlich eindring-
licheren Effekt als durch die schlichte Information, er werde sich im Fall einer
Niederlage umbringen. Für die Adressaten, Caesars Soldaten, ist die Vorstellung,
mit anzusehen, wie sich ihr Anführer selbst mit dem Schwert durchbohrt, sicher-
lich besonders abschreckend, und umso mehr werden sie motiviert sein, diesen
Fall zu vermeiden. Die Charakterfokalisation in direkter Rede trägt hier durch die
Visualisierung entscheidend zur Dramatisierung bei und ist Teil der Manipula-
tion der Emotionen der Adressaten.
Wirkungsvoll setzt Caesar auch in der folgenden Passage Charakterfokalisa-
tion ein. Obwohl er sich mit dieser Bitte an die Götter gewandt hat, sind Caesars
tatsächliche Adressaten natürlich nach wie vor seine Soldaten (7, 312 – 317):
vincat quicumque necesse
non putat in victos saevum destringere ferrum
quique suos cives, quod signa adversa tulerunt,
non credit fecisse nefas. Pompeius in arto 315
agmina vestra loco vetita virtute moveri
cum tenuit, quanto satiavit sanguine ferrum!
Es gibt nur zwei Personen, die als Sieger aus der Schlacht hervorgehen können,
Caesar oder Pompeius. Obwohl die Fokalisationsmarker verneint sind, lässt sich
aus dem Kontext erschließen, dass es laut Caesar durchaus einer der beiden Kontra-
henten für angemessen hält, gegen die Verlierer der Schlacht brutal vorzugehen –
nämlich Pompeius, der bereits einmal entsprechend gehandelt hat (315 – 317).
853 Tasler 1972, S. 46. Rutz 1989, S. 42 hält die Rede dagegen für „keine wirkliche Anfeuerungs-
rede“, sondern für ein „Musterbeispiel eines nicht mehr zweckgebundenen Affektausbruches“,
weitere Affektreden Caesars analysiert er auf S. 123 – 130. Die Situation und die offensichtliche
Manipulation der Adressaten lassen jedoch einen bloßen Affektausbruch Caesars unwahr-
scheinlich erscheinen, vgl. Tasler 1972, S. 46 – 67.
854 Gagliardi 1975, S. 50.
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Funktionen von Charakterfokalisation in direkter Rede 213
Dadurch grenzt sich Caesar von Pompeius ab. Die Verwendung von Begriffen wie
saevum … ferrum verleiht der Aussage einen zusätzlichen dramatischen Anstrich.
Hier liegt wiederum Textinterferenz vor, weil saevus keine Wertung des Fokali-
sators Pompeius sein kann, sondern des Sprechers Caesar. Die Einzelheiten der
Schilderung sorgen für eine Veranschaulichung des grausamen Schicksals, das
den Besiegten unter Pompeius bevorstünde.⁸⁵⁵ Caesar erreicht hier eine positive
Inszenierung seiner selbst durch eine verneinte Fokalisation, die er seinem Gegner
unterstellt. Es handelt sich um eine „indirekte Selbstcharakteristik“.⁸⁵⁶ Die Adres-
saten können zu keiner anderen Meinung gelangen, als dass ein Sieg Caesars für
alle Beteiligten die beste Entwicklung sein wird.
Dem Feldherrn ist ein Problem bewusst, mit dem sich seine Soldaten mögli-
cherweise in der Schlacht auseinandersetzen müssen: Sie könnten gezwungen
sein, gegen Verwandte und Freunde zu kämpfen. Er gibt ihnen Anweisungen, wie
sie sich in dieser Situation zu verhalten haben, indem er sich in ihre Lage hinein-
versetzt (7, 320 – 325):
sed, dum tela micant, non vos pietatis imago 320
ulla nec adversa conspecti fronte parentes
commoveant; vultus gladio turbate verendos.
sive quis infesto cognata in pectora ferro
ibit, seu nullum violarit vulnere pignus,
ignoti iugulum tamquam scelus inputet hostis. 325
Die Worte pietatis imago⁸⁵⁷ und verendus⁸⁵⁸ geben die Gefühle wieder, die die
Soldaten v. a. mit dem Anblick ihrer Väter verbinden (implizite Charakterfoka-
lisation). Dennoch fordert Caesar sie auf, erbarmungslos gegen die Gegner vor-
zugehen. Die Berücksichtigung der Gefühle der Soldaten hebt die Brutalität des
Befehls umso mehr hervor. Sie charakterisiert Caesar nicht nur als „Barbaren und
Unmenschen“,⁸⁵⁹ sondern zeigt auch seine Intelligenz und seine psychologische
Raffinesse, die er für seine Zwecke einzusetzen weiß.
855 Tasler 1972, S. 60. Heyke 1970, S. 78: „Um den Kampfgeist seiner Soldaten zu reizen, stellt er
ihnen vor Augen, wie grausam Pompeius mit den Besiegten verfahre […].“
856 Ibid., S. 60.
857 Zu pietatis imago als Vergil-Reminiszenz Heyke 1970, S. 78.
858 Tasler 1972, S. 63 bezeichnet verendus als „anerkennendes Attribut“. Es ist aber unwahr-
scheinlich, dass diese Bewertung des Gegners Caesars eigene Meinung wiedergibt.
859 Radicke 2004, S. 398.
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214 Charakterfokalisation in direkter Rede
2.2.4 LentulusAusführlichere Beispiele für Charakterfokalisation in direkter Rede enthält die
Rede des Lentulus in 8, 331 – 453.⁸⁶⁰ Zuvor hat Pompeius dem Senat den Vor-
schlag unterbreitet, sich mit den Parthern gegen Caesar zu verbünden.⁸⁶¹ Len-
tulus erwirkt die Ablehnung dieses Vorschlags. In seiner Rede greift er mehrfach
unterschiedliche Perspektiven auf. Adressat der Rede ist nicht nur Pompeius,
sondern auch der übrige verbliebene Senat.
Zunächst zieht Lentulus implizit Pompeius’ Motive in Zweifel und bezeichnet
ihn als transfuga mundi/terramque totos tractus caelumque perosus (8, 335 f.).
Er stellt den Feldherrn als enttäuschten und hasserfüllten Mann dar, um ihn zu
diskreditieren. Zugleich hat Pompeius keine Möglichkeit, Lentulus’ Aussage zu
widerlegen, da seine tatsächlichen Gefühle und Gedanken von keiner anderen
Figur der Handlung wahrgenommen werden können außer von ihm selbst.
Lentulus schildert, welche Konsequenzen Pompeius’ Bündnisvorschlag
haben könnte. Dabei nimmt er mehrfach sowohl Pompeius’ Perspektive als auch
die des Partherkönigs ein.
In 8, 341 – 346 ist der König Fokalisator:
te, qui Romana regentem
horruit auditu, quem captos ducere reges
vidit ab Hyrcanis, Indoque a litore, silvis,
deiectum fatis, humilem fractumque videbitextolletque animos Latium vaesanus in orbem 345
se simul et Romam Pompeio supplice mensus?
Es findet ähnlich wie beim Übergang von einfachem zu komplexem Erzählertext
ein „gleitender“ Übergang statt: Zunächst werden in neutraler Weise die Wahr-
nehmungen des Partherkönigs beschrieben. Mit te […] deiectum fatis, humilem
fractumque videbit⁸⁶² wird Pompeius durch Lentulus’ Worte gezwungen, sich
selbst mit den Augen eines Feindes als gedemütigten und verzweifelten Mann zu
sehen. Die Demütigung ist umso größer für ihn, als dieses Bild zugleich auch dem
Senat vor Augen gestellt wird.
Lentulus geht jedoch nicht nur darauf ein, wie der Partherkönig Pompeius
wahrnehmen wird, sondern auch auf die Gedanken, zu denen ihn eine solche
Wahrnehmung veranlassen könnte: Er könnte sich durch den Anblick des bitt-
860 Zur Einleitung der Rede durch den NF vgl. 1. 3. dieses Kapitels.
861 Eine ausführliche sprachliche, inhaltliche und rhetorische Analyse dieser Pompeius-Rede
bietet Tasler 1972, S. 133 – 149.
862 Mayer 1981, S. 128 weist auf die hervorgehobene Wortstellung der Ausdrücke des Sehens in
diesem Abschnitt hin.
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Funktionen von Charakterfokalisation in direkter Rede 215
flehenden Pompeius selbst in seiner Macht so bestätigt fühlen, dass er auf den
Gedanken kommen werde, Rom anzugreifen. Erneut lässt sich beobachten, dass
wertende Ausdrücke die Meinung des Sprechers wiedergeben, obwohl Charak-
terfokalisation in direkter Rede vorliegt: Lentulus bezeichnet den Partherkönig
als vaesanus. Die tatsächliche Denkweise des Königs steht als Information in der
Pharsalia nirgends zur Verfügung, und für den Adressaten Pompeius gibt es erst
recht keine Möglichkeit, Lentulus’ Aussagen zu widerlegen.
Doch damit lässt Lentulus es nicht bewenden. Nachdem er sich über das aus-
schweifende Sexualleben des Partherkönigs ausgelassen hat, kommt er auf Pom-
peius’ Ehefrau Cornelia zu sprechen (8, 410 – 415)
proles tam clara Metelli 410
stabit barbarico coniunx millesima lecto.
quamquam non ulli plus regia, Magne, vacabit
saevitia stimulata Venus titulisque virorum;
nam, quo plura iuvent Parthum portenta, fuisse
hanc sciet et Crassi 415
Nach Lentulus’ Worten wird Cornelias Herkunft und die Berühmtheit ihrer
Ehemänner den Partherkönig dazu bringen, ihr besondere Aufmerksamkeit zu
widmen. Diese Aussage gewinnt ihre Plausibilität dadurch, dass Lentulus die
Perspektive des Königs einnimmt, dessen Sichtweise ein bestimmtes Handeln zur
Folge haben muss. Lentulus’ eigene Perspektive schimmert jedoch in der gesam-
ten Aussage durch. So zeigt z. B. der Ausdruck quo plura iuvent Parthum portenta
seine Verachtung für die Haltung der Partherkönigs.
Da wie im vorigen Beispiel die tatsächliche Denkweise des Königs nicht als
Information zur Verfügung steht, verwendet Lentulus ein Argument, das Pom-
peius nicht widerlegen und noch weniger von der Hand weisen kann. Abgesehen
davon, dass Pompeius’ Zuneigung zu seiner Ehefrau bereits mehrfach zuvor im
Epos thematisiert wurde – dass ihm ihre Sicherheit viel bedeutet, zeigt allein die
Tatsache, dass er sie vor der Schlacht von Pharsalus nach Lesbos fortschickt –,
würde es auch seinem Ansehen schaden, wenn er bereit wäre, sie einer solchen
Gefahr auszusetzen. Es handelt sich nicht um ein rationales, sondern in erster
Linie um ein psychologisches und moralisches Argument. Offenbar weiß Lentu-
lus genau, wo Pompeius’ Schwachpunkte liegen, und trifft ihn zielsicher.⁸⁶³ Noch
mehrfach nimmt er daraufhin Pompeius’ Perspektive ein, so in 8, 418 f.: non
solum auxilium funesto ab rege petisse/sed gessisse prius bellum civile pudebit.
Stärker als in den vorigen Beispielen deutet das Futur darauf hin, dass Lentu-
863 Pompeiusʼ Liebe zu Cornelia betrachtet Ahl 1976, S. 173 – 183 als eine seiner Schwächen.
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216 Charakterfokalisation in direkter Rede
lus die Angelegenheit nicht als Vermutung, sondern als Tatsache darstellt. In
430 – 439 schildert Lentulus zum Abschluss seiner Argumentation die Szenerie
der römischen Niederlage, die sich Pompeius im Gebiet der Parther darbieten
würde. Auch Crassus’ Geist, der Pompeius Vorwürfe macht, fehlt nicht. Als Alter-
native zu Pompeius’ Vorschlag rät Lentulus zuletzt dazu, sich lieber an den ägyp-
tischen König Ptolemaeus zu wenden, um Hilfe zu erhalten.
Der emotionale Aspekt, der durch die Verwendung von Charakterfokalisation
in direkter Rede entsteht, trägt entscheidend zur Wirkung von Lentulus’ Rede bei.
Pompeius kann unmöglich auf seinem ursprünglichen Vorschlag bestehen, ohne
sich selbst zu diskreditieren. Das wird seinen Tod zur Folge haben.⁸⁶⁴
2.3 Die emotionale Komponente
Charakterfokalisation tritt in direkter Rede bisweilen auch dann auf, wenn sie der
Argumentation nicht unbedingt dienlich ist oder keine Argumentation im eigent-
lichen Sinn vorliegt, z. B. deshalb, weil der Gesprächspartner nicht überzeugt
werden kann. In diesen Fällen lässt sich beobachten, dass Charakterfokalisation
in direkter Rede der sprechenden Figur eine Möglichkeit gibt, ihren Gefühlen
Ausdruck zu verleihen.
De Jong untersucht das Phänomen, das sie „tertiary focalization“ nennt, in
Homers Ilias und zeigt, was für eine wichtige Rolle die Gefühle der sprechenden
Person für den Inhalt der „tertiary focalization“ spielen. Das kann so weit gehen,
dass der Sprecher seine eigenen Gefühle bzw. Befürchtungen auf eine andere
864 Weitere Beispiele für Textstellen, in denen Charakterfokalisation in direkter Rede manipu-
lativen und/oder argumentativen Zwecken dient: 4, 276 – 278 (Caesar versetzt sich in die Lage
der Angreifer bei Ilerda, was seine eigenen Soldaten vom Angriff abhalten soll), 4, 358 f. (Afra-
nius fordert Caesar auf, sich vorzustellen, seine Gegner wären bereits tot), 8, 136 (die Mytilener
nehmen Caesars Perspektive ein: Für ihn sind sie bereits schuldig), 8, 322 – 325 (am Ende seiner
Ausführungen, warum es sinnvoll sei, die Unterstützung der Parther zu gewinnen, lässt Pompei-
us Rom fokalisieren: Es würde Rom gefallen, die verfeindeten Parther im eigenen Bürgerkrieg
zu dezimieren), 8, 496 f. (Pothinus überzeugt Ptolemaeus davon, einen Anschlag auf Pompeius
zu verüben, indem er Pompeius an Ptolemaeus’ Stärke zweifeln lässt. Ebenso lässt er Pompeius
in 508 f. als feigen Übeltäter dastehen, der sich des Unrechts bewusst ist, das er verübt hat. In
517 f. nimmt Pothinus dagegen ähnlich wie die Mytilener in 8, 136 Caesars Perspektive ein, der sie
bereits für schuldig halte), 9, 196, 199 f. (Cato spricht in seinem Nachruf darüber, was Pompeius
in seinem Leben gewollt hat), 9, 261 (Cato macht seinen römischen Zuhörern den Vorwurf, sich
nach der Alleinherrschaft zu sehnen. In 270 f. beschreibt er aus Caesars Sicht, was er von ihnen
denken wird), 9, 1094 – 1096 (Caesar versetzt sich in die Sichtweise von Pompeiusʼ Geist, der sich
selbst davon überzeugen soll, dass er nur die besten Absichten hat).
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Funktionen von Charakterfokalisation in direkter Rede 217
Person projiziert.⁸⁶⁵ Auch in Lucans Pharsalia lässt sich dies gelegentlich beob-
achten, so beispielsweise in 5, 690 – 692:
tibi causa petendae
haec fuit Herperiae, visum est quod mittere quemquam
tam saevo crudele mari.
Nachdem Caesar sicher von seiner Überfahrt im Sturm zurückgekehrt ist, wird er
von seinen Truppen begrüßt. Die Klagen der Soldaten verraten, dass sie besorgt
um ihren Befehlshaber waren. Sie gehen dabei so weit, anzunehmen, Caesar
habe sich Sorgen um ihre Sicherheit gemacht und daher das Risiko der Über-
fahrt lieber selbst auf sich genommen: Ihre eigene Sorge um Caesar wird dabei zu
seiner Sorge um sie. Unklar bleibt aber, ob sie tatsächlich an solche Beweggründe
Caesars glauben oder ob sie ihm schmeicheln möchten.⁸⁶⁶
Interessante Beispiele für Charakterfokalisation in direkter Rede enthält die
Cordus-Szene am Ende des achten Buches (8, 712 – 793).⁸⁶⁷ Pompeius’ Gefolgs-
mann Cordus birgt die Leiche seines Feldherrn an einem verlassenen Strandstück
aus dem Meer. Er möchte Pompeius bestatten, hat aber Angst, dabei entdeckt
zu werden. Auch weiß er zunächst nicht, wie er die Bestattung vornehmen soll.
Schließlich kann er aber ein behelfsmäßiges Grab errichten.
Cordus ist allein. Er kann nicht darauf hoffen, gehört zu werden oder gar eine
Antwort zu erhalten, und hat damit, vielleicht abgesehen von gebetsähnlichen
Äußerungen, keinen Grund, überhaupt zu reden. Dennoch spricht er Fortuna
und die Götter, eine anonyme Leiche und den toten Pompeius an (8, 729 – 742,
746 – 751, 759 – 775). Dabei nimmt er wiederholt verschiedene Perspektiven ein.
In 8, 729 – 735 wendet er sich an Fortuna und spricht darüber, welche
Wünsche in Hinblick auf sein Begräbnis Pompeius in dieser Situation nicht hat:
non pretiosa petit cumulato ture sepulchra
Pompeius, Fortuna, tuus, non pinguis ad astra 730
ut ferat e membris Eoos fumus odores,
865 De Jong 2004, S. 169 f. nennt als Beispiel Il. 3, 241 f.: Helena projiziert ihre eigenen Gefühle
von Schuld und Scham auf ihre Brüder, von deren Tod sie nichts weiß.
866 Matthews 2008, S. 268: „Caesar’s men interpret his reasons for undertaking the journey in
a way which flatters him: he was being self-sacrificing.“ Schmitt 1995, S. 132 f. ist dagegen der
Ansicht, dass die Soldaten ihre Worte nicht positiv, sondern disqualifizierend meinen. Caesars
Freude über die Klagen (5, 681) rührt laut Schmitt von seiner Überzeugung, die Soldaten seien
ihm nun vollständig ausgeliefert und könnten kein weiteres Mal revoltieren.
867 Zum Erzählerstandort und der Einstellung des Erzählers gegenüber Cordus in dieser Szene
Schlonski 1995, S. 133 – 157. Bei Cordus handelt es sich vermutlich um eine fiktive Figur, dazu
Radicke 2004, S. 456, Ambühl 2014, S. 266.
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218 Charakterfokalisation in direkter Rede
ut Romana suum gestent pia colla parentem,
praeferat ut veteres feralis pompa triumphos,
ut resonent tristi cantu fora, totus ut ignes
proiectis maerens exercitus ambiat armis.⁸⁶⁸ 735
Hieraus leitet er die Bitte an Fortuna ab, Pompeius wenigstens ein bescheide-
nes Grab zu gönnen (735 f.). Tatsächlich gelingt es ihm im Folgenden, seinen
Feldherrn notdürftig zu bestatten. Die Argumentation scheint daher weniger an
Fortuna gerichtet zu sein, als Cordus’ eigene Gefühle und Gedankengänge wider-
zuspiegeln: Er weiß, dass sich niemand außer ihm um Pompeius’ Begräbnis
kümmern kann, dass es ihm aber angesichts der Umstände nicht gelingen kann,
ihn angemessen zu bestatten. Der Gedanke, Pompeius erwarte kein prunkvolles
Begräbnis, dient Cordus als Entschuldigung seiner eigenen unzulänglichen Mög-
lichkeiten. Nachdem er sich durch seine Rede darüber klar geworden ist, was er
unternehmen will, beginnt er zu handeln.
Um Glut für ein Totenfeuer zu beschaffen, bedient er sich an einem Scheiter-
haufen, den er am Strand vorfindet. Dafür entschuldigt er sich bei der Leiche, die
bereits auf diesem Scheiterhaufen liegt, und argumentiert u. a. folgendermaßen
(8, 749 – 751):
si quid sensus post fata relictum est,
cedis et ipsa rogo paterisque haec damna sepulchri,
teque pudet sparsis Pompei manibus uri.
Hier nimmt Cordus die Sicht des anonymen Toten ein, der sich, wie er sagt,
schämen würde, selbst verbrannt zu werden, während Pompeius noch unbestat-
tet ist. Auf diese Weise rechtfertigt Cordus den Frevel der Grabschändung vor sich
selbst und kann mit seiner Aufgabe fortfahren.
Endlich gelingt es ihm, Pompeius’ Körper zu verbrennen. Aus Cordus’ Rede
an den Toten geht hervor, dass er diese Bestattung selbst als unangemessen emp-
findet, denn er bittet Pompeius um Vergebung.⁸⁶⁹ In 772 – 775 versetzt er sich in
eine Person hinein, die dem Toten vielleicht irgendwann die letzte Ehre erweisen
möchte, für Cordus eine wünschenswerte Vorstellung:
868 Schlonski 1995, S. 137 sieht in diesem Textabschnitt Parallelen zu Catos „Anti-Hochzeit“:
Diesmal stelle jedoch nicht der Erzähler, sondern Cordus fest, dass es sich um ein „Anti-Begräb-
nis“ handelt.
869 Auch Cornelia äußert in 9, 64, Pompeius’ Grab sei grave manibus. Dies ist ebenfalls als Bei-
spiel von Charakterfokalisation in direkter Rede zu betrachten, da es die Ansicht des Pompeius
wiedergibt, wie sie sich Cornelia vorstellt. Dass Pompeius jedoch keineswegs unter seinem be-
scheidenen Grab leidet, wird bereits vorher in 1 – 18 deutlich.
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Funktionen von Charakterfokalisation in direkter Rede 219
si quis placare peremptum
forte volet plenos et reddere mortis honores,
inveniat trunci cineres et norit harenas
ad quas, Magne, tuum referat caput.
Cordus trauert um Pompeius und leidet unter der Situation:⁸⁷⁰ Er möchte dem
Feldherrn ein würdigeres Begräbnis verschaffen, kann es aber nicht. Indem er
die Perspektive anderer (verstorbener oder hypothetischer) Personen auf sein
Handeln einnimmt, kann er die eigenen Gefühle, Befürchtungen und Wünsche
in Worte fassen. Wenn seine Argumente auch keinen Gesprächspartner erreichen
können, überzeugen sie doch ihn selbst, trotz aller Schwierigkeiten und Zweifel
mit der Bestattung fortzufahren. So findet er einen Weg, im Rahmen seiner Mög-
lichkeiten das Äußerste zu tun, was er vermag, auch wenn das dem NF offensicht-
lich nicht genügt.⁸⁷¹
Charakterfokalisation in direkter Rede dient Figuren gelegentlich auch dazu,
Vorwürfen gegenüber anderen Figuren Ausdruck zu verleihen. Sie nehmen dabei
die Sichtweise eines anderen (meist des Adressaten) auf sich selbst ein. So äußern
sich in 5, 262 – 264 Caesars revoltierende Soldaten vorwurfsvoll über das Bild, das
er ihrer Meinung nach von ihnen hat, und seine Pläne mit ihnen:
quaeris terraque marique
his ferrum iugulis animasque effundere viles
quolibet hoste paras
Seinem Verhalten nach zu urteilen, müssen die Soldaten aus Caesars Sicht
animas viles sein.⁸⁷² Caesars folgende Rede (5, 319 – 364) zeigt, dass er sie tat-
sächlich verachtet und für wertlos und ersetzbar hält.
Ähnlich beschimpft Cato den Soldaten, der ihm während des Wüstenmar-
sches Wasser bringt (9, 505 – 508):
870 Schlonski 1995, S. 138 ist der Ansicht, dass Cordus’ Emotionalität, die sich durch Ausdrü-
cke wie z. B. infelix coniunx in 742 äußere, ihn zum „Sprachrohr des Erzählers“ macht.
871 Eine harsche Apostrophe in 8, 781 – 785 tadelt Cordus für das behelfsmäßige Grab, das er für
Pompeius errichtet hat. Zu dieser Apostrophe Zyroff 1971, S. 449, S. 483 f., Johnson 1987, S. 82 f.
872 Tasler 1972, S. 230: Die Soldaten bringen hier die Anschuldigung vor, „Caesar opfere das
Leben seiner Soldaten bedenkenlos […].“ Schmitt 1995, S. 116: „Caesar läßt seine Leute beden-
kenlos in der ganzen Welt hinschlachten […] und achtet ihr Leben für nichts (animas … viles,
263). Um das zu erreichen, ist ihm offenbar jedes Mittel recht: quolibet hoste (264).“ Vgl. Wiener
2006, S. 266. Die Einschätzung der Soldaten ist auch soweit korrekt, als animas viles tatsächlich
kein Gedanke ist, der Caesar fremd wäre: In 7, 730 beurteilt er genau so die Gegner, die er vor
Pharsalus schont. Dabei ist er Fokalisator (vgl. III. 3. 2.).
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220 Charakterfokalisation in direkter Rede
‚mene’ inquit ‚degener unum
miles in hac turba vacuum virtute putasti?usque adeo mollis primisque caloribus impar
sum visus?
Cato nimmt die (vermutlich) freundlich gemeinte Geste als Beleidigung wahr,
entsprechend wirft er dem Soldaten vor, ein unangemessenes Bild von ihm zu
haben. Die Charakterfokalisation enthüllt hier Catos Denkweise, nicht die seines
Adressaten, der in der direkten Rede als Fokalisator dient.⁸⁷³
So gibt Charakterfokalisation innerhalb direkter Rede also auch einen ver-
steckten Hinweis auf die Gedanken und Ansichten des Sprechers.
3 Fazit: Fokalisation in direkter Rede und ihre Funktionen
Trotz ihrer relativen Seltenheit erfüllt Charakterfokalisation in direkter Rede in
der Pharsalia vielfältige Funktionen, häufig mehrere zugleich:
– Wenn sie Augenzeugenschaft thematisiert, unterstreicht sie die persönliche
Betroffenheit des Beobachters.
– Häufig dient sie dem Ausdruck der komplexen Beziehung von Personen bzw.
Interessengruppen untereinander. Die Verwendung von Charakterfokalisa-
tion in direkter Rede trägt der komplizierten politischen und gesellschaftli-
chen Situation Rechnung.
– Sie dient als Argument, das der Adressat nicht widerlegen kann. Dabei
benutzt ein solches Argument oft eine noch nicht eingetretene Situation
als Bedingung für eine nicht verifizierbare Aussage,⁸⁷⁴ erzielt jedoch einen
starken emotionalen Effekt auf den Adressaten.
– In mehrfacher Hinsicht trägt sie zur Personencharakterisierung bei. Dabei ist
vor allem ihr enthüllender Aspekt interessant: Eine Figur, die sich in den Kopf
einer anderen Figur hineinversetzt, enthüllt damit weniger die Gedanken der
anderen Figur als ihre eigene Denkweise und emotionale Verfassung.⁸⁷⁵
873 Vergleichbar nimmt Cornelia in 8, 104 f. die Sicht Iulias auf sich selbst und auf Pompeius
ein: Iulia crudelis, placataque paelice caesa/Magno parce tuo. Wie Finiello 2005, S. 173 und
Rolim de Moura 2008, S. 152 f. anmerken, benutzt sie in ihrer Rede Argumente aus der Rede
Iulias zu Beginn des 3. Buches. Da Cornelia Iulias Rede jedoch nicht kennt, verrät diese Textstelle
mehr über sie selbst – sie glaubt, ihren Ehemännern Unglück zu bringen, und ist der Meinung,
dass die verstorbene Iulia sie als ihre Nebenbuhlerin betrachtet – als über Iulia.
874 Zur Problematik dieser Art „unsauberer“ Argumentationen Kopperschmidt 1989, S. 99 – 103.
875 Dies gehört auch zu den Besonderheiten von „tertiary focalization“ in Homers Ilias, vgl. De
Jong 2004, S. 171.
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Fazit: Fokalisation in direkter Rede und ihre Funktionen 221
Diese Ergebnisse weisen darauf hin, dass Charakterfokalisation in direkter Rede
nicht den Ereignissen auf fabula-Ebene entsprechen muss.⁸⁷⁶ Dies zu überprüfen,
ist jedoch meist nicht möglich, da keine entsprechenden Informationen vorlie-
gen. Ist dies aber der Fall, so kann sie entweder die Aussagen des NF unterstrei-
chen, wenn sie mit ihnen übereinstimmt (so beispielsweise die Vision des aliquis
von den Schrecken des Bürgerkriegs) oder als falsch enthüllt werden (die erwar-
tete Reaktion des Feindes in der Vulteius-Episode).
Zur Charakterfokalisation in direkter Rede in Homers Ilias fasst de Jong
zusammen:
the relation between secondary narration-focalization and tertiary focalization is of a dif-
ferent nature than that between primary narration-focalization and secondary focalization:
whereas the NF1 in cases of embedded focalization does indeed hand over focalization to
the characters and only seldom intrudes (and then only to provide factual information to
the NeFe1), speaking characters (functioning as NF2) to a far greater degree interfere with
tertiary focalization, exploiting it for the purposes of their own speech. In short, the level
of secondary narration-focalization dominates the (hierarchically lower) level of tertiary
focalization.⁸⁷⁷
Die Beispiele aus Lucans Pharsalia haben gezeigt, dass auch hier die Fokalisation
der sprechenden Figur die des Fokalisators in der direkten Rede dominiert. Der
Unterschied zur Ilias besteht darin, dass der NF in der Pharsalia deutlich häufiger
in die Fokalisation eines Charakters eingreift, um Wertmaßstäbe zu setzen oder
Orientierungshilfen zur Verfügung zu stellen. Da somit auch die Fokalisation des
NF die des CF erkennbar dominiert, fällt in der Pharsalia der Unterschied zwi-
schen den beiden Arten von Fokalisation geringer aus als in der Ilias. Die spre-
chenden Figuren bedienen sich ähnlicher Mittel wie der NF. Ein Unterschied
ist dabei jedoch, dass Charakterfokalisation in direkter Rede häufig Mögliches,
Hypothetisches, Bevorstehendes oder nicht Beweisbares thematisiert.
876 Auch darauf weist de Jong 2004, S. 171 mit Blick auf Homers Ilias hin.
877 Ibid., S. 171.
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