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Janet S. Charles Der Mond über Odessa

Charles Mond Odessa - bücher.de · Mit rotem Gesicht kehrte ich an meinen Schreibtisch zurück ... Eine Frau mittle-ren Alters wuselte herein, breitete ein weißleinenes Tuch über

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Janet S. Charles

Roman

Deutsch von Astrid Arz

C. Bertelsmann

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Die Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel »Moonlight in Odessa«im Verlag Bloomsbury Publishing in New York und London.

Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100

Das für dieses Buch verwendete FSC-zertifizierte Papier EOSliefert Salzer, St. Pölten, Austria.

1. AuflageCopyright © 2009 by Janet Skeslien Charles

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2010beim C. Bertelsmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbHUmschlaggestaltung: R·M·E Roland Eschlbeck und Rosemarie Kreuzer

unter Verwendung einer Illustration von Sarah MorrisSatz: Uhl + Massopust, Aalen

Druck und Bindung: GGP Media GmbH, PößneckPrinted in Germany

ISBN 978-3-570-01116-4

www.bertelsmann.de

Zert.-Nr. SGS-COC-001940

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Für meine Schwester, Kathy Skeslien

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»Die Sprache … bleibt also eine äußerst vieldeutige Angelegenheit, Treibsand oder Trampolin, ein gefrorener Teich, auf dem man … jederzeit einbrechen könnte.«

Harold Pinter

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Teil I

Bräute auf Bestellung sind kein neues Phäno-men, sondern nicht wegzudenken aus der Geschichte Nordamerikas und der Besiedlung der Vereinigten Staaten.

Aus einem Bericht an den Amerikanischen Kongressüber internationale Partnervermittlungsagenturen aus dem Jahr 1999

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1. Kapitel

Mr. Harmon trieb mich seit genau sechs Monaten, drei Wo-chen und zwei Tagen in den Wahnsinn. Montags bis freitags, acht Stunden täglich. Er stoppte sogar die Zeit, wenn ich un-seren Morgenkaffee holte. Bestzeit: 56 Sekunden. Da hatte ihn gerade jemand frisch aufgebrüht. Schlechtestes Ergebnis: sie-ben Minuten 48 Sekunden. Da musste ich den Kaffee selbst zubereiten, er hingegen bestand darauf, dass ich beim Flirten mit einem Wachmann Zeit vergeudet hätte. Schon möglich, doch ich hatte auch den Kaffee beim Kochen beobachtet. Ich musste immer meine Arbeit im einen und Mr. Harmon im an-deren Auge behalten. Wenn er sich nicht an mich ranschlich, belauschte er meine Telefongespräche. Wenn er mir nicht über die Schulter (und in den Ausschnitt) spähte, hockte er hinter seinem Schreibtisch und schmiedete Pläne, wie er mich in die Finger kriegen und begrapschen könnte. Bislang war ich schnel-ler gewesen.

Und dieses Bedrängen war noch gar nichts im Vergleich zu seinen neuesten Umtrieben. Vor einem Monat war er endlich einverstanden gewesen, meinen Computer ans Internet an-schließen zu lassen. Nun ja, die Hauptniederlassung in Haifa hatte ihn dazu angehalten. Ich war ganz versessen darauf, es zu haben (auch wenn ich nicht wusste, was genau es war), aber Mr. Harmon ließ sich ständig etwas Neues einfallen, um den Anschluss zu vereiteln. Heute gestattete ich mir ein Fünkchen Hoffnung. Vielleicht würde ich endlich Verbindung zur Welt bekommen. Der dritte Computertechniker, den ich engagiert hatte, war für ukrainische Verhältnisse nach dem letzten Schrei,

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ca. 1966, gekleidet – akkurat gebügelte Jeans, Hosenbund bis über den Bauchnabel, braune Lederjacke – und stellte sich mit dem sorglosen Lächeln eines Mannes vor, der noch bei seiner Mut-ter wohnt. Er kam mir ein Ideechen zu nah, während er mir er-klärte, wie man sich einwählt und verbunden wird; ich rückte meinen Stuhl etwas ab, weil ich wusste, dass es Mr. Harmon auf-regen würde, dessen dunkles Jackett ich immer mal wieder auf-scheinen sah, während er in seinem Büro auf und ab marschierte und uns finster beäugte.

»Darja, kommen Sie hiiiieeeerher!«, brüllte er.Der Techniker zog die Brauen hoch, ich verdrehte die Augen

und erklärte, dass ich rübermüsste.»Dieser Mann flirtet mit Ihnen«, sagte Mr. Harmon.Wohl wahr. Aber in Odessa scherzt und flirtet jeder. So sind

wir nun mal. Selbst wenn ich eine Rentnerin mit Glupschaugen und schütterem Haar gewesen wäre, hätte der Techniker mir zu-gezwinkert und dieselben Witze erzählt. Kommen vier Schriftzei-chen in eine Kneipe. Sagt der Wirt: ›Raus mit euch! Typen wie ihr werden hier nicht bedient.‹ Oder, während er dem Monitor wie einem eigensinnigen Kind den Kopf tätschelte, Seien Sie bloß vor-sichtig mit dem Gerät. Computer verleiten einen rascher als jede vor-herige menschliche Erfindung zu Fehlern, Kalaschnikows und Wodka vielleicht ausgenommen.

»Er macht nur seine Arbeit.« Ich zeigte auf den Mann, der gerade zum zehnten Mal die Zugangsnummer tippte. In der Ukrai ne dauert alles seine Zeit. Und kostet Geld. Wenn Mr. Harmon diesen nicht feuerte, wären wir eins der ersten Büros mit Internet in ganz Odessa.

»Er gefällt mir nicht«, sagte Mr. Harmon.»Muss er auch nicht. In zwanzig Minuten ist er fertig, dann

sehen wir den Mann nie wieder.«»Feuern Sie ihn. Und zahlen Sie ihm nichts! Er hat seine

Arbeit nicht erledigt.«»Bitte verlangen Sie nicht von mir, noch einen wegzuschi-

cken«, flüsterte ich.

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»Keine Widerrede, Darja.«Mit rotem Gesicht kehrte ich an meinen Schreibtisch zurück

und sagte auf Russisch: »Es tut mir leid. Sie müssen gehen.«Der Techniker schaute bestürzt drein. »Der alte Knabe ist ei-

fersüchtig, was?«Ich nickte. Es war schwer, wenn das eigene Wohl und Wehe

von wankelmütigen Westlern abhing. Sie hatten die Macht, wir hatten die Verzweiflung.

»Ich hab über eine Stunde für den Weg hierher gebraucht«, sagte er. »Sie wissen, wie das ist. Ich brauch diesen Auftrag. Meine Mutter … ihre Medikamente –«

»Ich weiß. Es tut mir leid.«»Was flüstern Sie beide da draußen?«, rief Mr. Harmon.

»Reden Sie Englisch!«Ich wühlte in meiner Handtasche nach Geld und versuchte,

ihn zu bezahlen. Er lehnte die Scheine ab und lud mich mit gro-ßer Geste auf einen Drink ein, sein ganzer Odessaer Stolz wie-derhergestellt. Wir sind so gut im Vortäuschen. Ich spürte Mr. Harmons eindringlichen Blick zwischen den Schulterblättern und schüttelte den Kopf. »Gehen Sie. Bevor er den Wachschutz ruft.«

Es war nicht das erste Mal, dass Mr. Harmon einen Mann entlassen hatte, weil er mit mir redete. Ich hatte versucht, eine Technikerin ausfindig zu machen, doch es gab keine. Ich hatte versucht, einen unansehnlichen alten Mann aufzutreiben, aber in Odessa kannten sich nur junge Leute mit Computern aus. Wann immer ich jemand Neuen engagiert hatte, umschlich Mr. Harmon meinen Schreibtisch, die gut aussehenden, wenn auch austauschbaren jungen Männer beschnüffelnd und wie eine Bulldogge anknurrend, um sicherzustellen, dass sie sich nicht etwa an mich, seinen Knochen, heranmachten.

Der einzige Mann, den er nicht verscheuchen konnte, war Wladimir Stanislawskij; der war so respekteinflößend, dass Mr. Harmon kein Wort vorzubringen wagte. Schließlich wusste er, dass der letzte Mensch, der unhöflich zu diesem Gangster gewe-

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sen war, in eine Wiener Notaufnahme hatte ausgeflogen werden müssen.

Ich seufzte. Würde ich je ins Internet kommen?

Keiner der anderen potenziellen Arbeitgeber, denen ich mich vorgestellt hatte, hatte das Gehalt übertrumpfen können, das Mr. Harmons Firma, eine israelische Reederei, mir bot: drei-hundert Dollar im Monat, während der Durchschnittsverdienst bei dreißig lag.

Während des Vorstellungsgesprächs war Mr. Harmon mir tatsächlich attraktiv vorgekommen. Anders. Besser. Silberfä-den an den Schläfen verliehen ihm etwas Distinguiertes. Er trug einen gut geschnittenen Anzug. Zwar war er kleiner als ich, aber wer ist das nicht. Er hatte einen Schnurrbart und wirkte recht kräftig, doch wenn er grinste, sah er so fröhlich aus, dass er kaum älter schien als ich, obwohl er als Filialleiter bestimmt an die vierzig war. Auf jeden Fall war Mr. Harmon interessanter als ukrainische Vorgesetzte. Er war weitgereist. Er sprach Eng-lisch und Hebräisch. Seine Finger waren schlank und gepflegt, die Zähne makellos. Er roch frisch und sauber wie eine Wiese. Und – am allerwichtigsten – er war Ausländer.

Während er über die Arbeit redete, strich ich unauffällig über das weiche Leder des Sessels im Konferenzraum und bestaunte alles um mich her  – die seidig schimmernde Wandfarbe, das helle Licht, das schwarz glänzende schnurlose Telefon. Man hätte meinen können, wir hätten die triste, finstere ehemalige Sowjet-union weit hinter uns gelassen, um an der Wall Street zu landen.

Mr. Harmon sah mich gebannt an und schien jedes Wort auf-zusaugen, das aus meinem Mund kam. Er lud mich sogar gleich dort im Konferenzraum zum Mittagessen ein. Eine Frau mittle-ren Alters wuselte herein, breitete ein weißleinenes Tuch über den Tisch und servierte eine köstliche Mahlzeit. Ich hatte noch nie zuvor Käse aus Frankreich gegessen. Der Brie zerging mir auf der Zunge. Und der Wein! Als wir die erste Flasche geleert hatten, stellte ich sie auf den Boden, weil eine leere Flasche auf

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dem Tisch Unglück bringt. Als er die zweite öffnete, fiel mir auf, dass ein richtiger Korken darin war, nicht nur einer aus Plastik wie bei unserem Wein. Das ganze Essen war lecker, aber am bes-ten war das Hummus. Es schmeckte wie Sonnenschein – golden, warm und leicht. Ich schloss die Augen und spürte, wie es mir die Kehle hinabglitt.

»Es ist das Olivenöl«, sagte er, während er mir zusah. »Das gibt es in Odessa bestimmt nicht. Wir bringen all diese Lebens-mittel auf unseren Schiffen her. Wenn Sie hier arbeiten, können Sie jeden Tag so essen.«

Um mein Lächeln zu verbergen, rieb ich mir mit den Fingern das Kinn, als würde ich sorgfältig überlegen, ob ich die Stelle wollte. Wäre Boba, meine Großmutter, da gewesen, hätte sie meine Hände genommen und mir in den Schoß gelegt.

»Wir haben Niederlassungen auf der ganzen Welt«, fuhr er fort. »Deutschland. Amerika. Es gibt keinen Grund, weshalb eine aufgeweckte junge Frau wie Sie ihr Leben lang in derselben Position bleiben sollte …«

Amerika! Ich traute meinen Ohren nicht. Ich lächelte und hielt mir rasch die Hand vor den Mund. »Den ganzen Tag Eng-lisch reden … das wäre mein Traum.«

»Ihr Englisch ist einwandfrei«, antwortete er. »Haben Sie das in England gelernt?«

Ich schüttelte den Kopf. Niemand in diesem Land fuhr irgendwohin. Wusste er das nicht? Alles, was wir wissen muss-ten, lernten wir hier. Er hatte ja keine Ahnung von den Strapa-zen, denen wir uns in Maria Pavlovnas Unterricht unterzogen hatten. Sie war eine schwierige Lehrerin. Ihre streng zum Dutt aufgesteckten grauen Haare ließen die Glupschaugen und die dünnen Lippen nur noch deutlicher hervortreten. Sie war der einzige mir bekannte Mensch aus Odessa, der nie lächelte oder scherzte. Aber gelernt wurde bei ihr. Sie trieb selbst die größten, schlimmsten Jungs zum Lernen an. Wir mussten Texte memo-rieren und sie vor der Klasse aufsagen. Wenn wir einen Fehler machten, ließ Maria Pavlovna ihren Taktstock auf das Pult nie-

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dersausen. Wenn wir uns erneut versprachen, fürchteten wir, sie würde uns auf die Rückseite der Oberschenkel schlagen. Wieder und wieder spielte sie uns Schallplatten zur korrekten Ausspra-che vor. Though. Thought. Bough. Bought. Einmal, als ich den »ou«-Laut nicht richtig ausgesprochen hatte, packte sie mich am Kinn und zog an meinen Lippen, bis der Laut herauskam, den sie hören wollte.

Auf ihrem Schreibtisch hatte sie ein Metronom, und wir sagten die unregelmäßigen Verben zu einem Ticken auf, das von Tag zu Tag schneller klang. Tick-tack, tick-tack. Ticktacktick. Tackticktack. Arise-arose-arisen, begin-began-begun, break-broke-broken, burst-burst-burst und cut-cut-cut (unsere Lieblingsver-ben, weil sie sich nicht änderten), eat-ate-eaten, fight-fought-fought, get-got-got etc. pp. Noch Jahre später machte mich Uh-renticken entsetzlich nervös, und wenn ich nervös wurde, sagte ich unwillkürlich im Kopf ihre Liste der einhundert unregelmä-ßigen Verben auf.

Trinken-trank-getrunken. Mir wurde ein wenig schwindlig, und ich stellte das Weinglas ab.

»Es gab keine Auslandsreisen«, erklärte ich. »Aber wir hatten sehr strenge Lehrer.«

Er runzelte die Stirn, was mich vermuten ließ, auch er habe so seine Erfahrungen mit schulischer Disziplin.

»Die anderen Kandidatinnen, die sich hier vorgestellt haben, konnten kaum ›guten Tag‹ sagen.«

Ich hatte die Kandidatin gesehen, die sich vor mir »vorge-stellt« hatte. Wo hatte er die aufgetrieben? Im Kasino?

Die Frau von vorhin kam mit Espresso wieder. Ich sog den Dampf ein, der von der weißen Porzellantasse aufstieg. Er duf-tete so gut, so stark und traumhaft, dass mir das Wasser im Mund zusammenlief, obwohl ich satt war. Mr. Harmon bot mir einen Riegel dunkle Schokolade an. Ich griff behutsam zu. Natür-lich gab es solche Luxusartikel auch in Odessa, Mr. Harmon irrte sich. Es war nur so, dass Leute wie ich – 98 Prozent der Bevölke-rung – sie sich nicht leisten konnten. In der Hoffnung, dass er es

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nicht bemerkte, schob ich die Schokolade in meine Handtasche, um sie mit Boba zu teilen.

»Haben Sie schon mal Champagner getrunken, meine Liebe?«Ich schüttelte den Kopf. Als er die Frau mit zweimaligem Fin-

gerschnipsen in den Raum zurückrief und sie bat, eine Flasche zu bringen, konnte ich mein Glück kaum fassen. Wenn ich Olga und Boba erzählen würde, dass ich Champagner, richtigen Cham pag-ner getrunken hatte! Aus Frankreich! In meiner Familie tran-ken wir schampanskoje von der Krim, und auch das nur einmal im Jahr, zu Silvester. »Ein Tropfen süßer schampanskoje versüßt das Leben.« So sagen wir in Odessa. Jeder weiß: Wenn man am 31. Dezember keinen schampanskoje trinkt, wird das neue Jahr katastrophal. Fragen Sie Boba, wenn Sie mir nicht glauben. Das einzige Jahr, das wir nicht mit schampanskoje begrüßten, war das Jahr, in dem meine Mutter starb.

Er schenkte den Champagner ein. Die Bläschen glitzerten wie winzige brillianty, Diamanten.

Wir stießen an, und er brachte einen Trinkspruch aus: »Auf eine bedeutsame … Partnerschaft.«

Hieß das, ich hatte die Stelle?Er sah mir zu, wie ich meinen ersten Schluck nahm. Es

schmeckte herb. Ich unterdrückte ein Husten. Er streckte seine Hand aus, und ich legte meine hinein in dem Gefühl, dass wir eine schicksalhafte Begegnung hatten. Dass mir nach so vielen Kämpfen und Verlusten endlich etwas Gutes beschieden war. Dann zwinkerte er und sagte: »Das Beste an dem Job ist natür-lich, dass Sie mit mir schlafen werden.«

Ich riss meine Hand zurück. Es hatte sich wie ein Witz ange-hört, doch er meinte es ernst. Plötzlich kam er mir vor wie ein Walross in dunkelbraunem Jackett – von Versace, worauf hin-zuweisen er nicht versäumt hatte. Die Silberfäden an seinen Schläfen wurden stumpfe graue Schlieren. Er war genau wie die anderen Männer, nur mit strahlenderen Zähnen und ed-lerem Rasierwasser. Wir starrten uns an. Der einzige Laut in dem Raum war das Ticken einer Uhr. Erbleichen-erblich-erblichen.

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Gewinnen-gewann-gewonnen. Zerinnen-zerrann-zeronnen. Hör auf damit! Ich schüttelte den Kopf. Denk nach! Brachte ich es über mich, außer Kaffee zu holen und Texte zu übersetzen mit ihm zu schlafen? Konnte ich das in mein Arbeitspensum aufnehmen? Bei der Vorstellung, von seinen fleischigen Pranken betatscht zu werden, überlief es mich eiskalt – ich bin Vegetarierin. Hin-ter seinen getönten Brillengläsern beobachtete er mich aus glü-hend schwarzen Augen, wartete ab, wie ich mich entscheiden würde.

Er war aus Israel gekommen und hatte sich rasch daran ge-wöhnt, einen Sonderstatus zu genießen. Viele Männer aus dem Westen kamen in die ehemalige Sowjetunion, weil sie hier auf den Putz hauen konnten. Daheim waren sie unsichtbar und schlugen sich mühsam durch. Hier galten sie als reich und hat-ten große Wohnungen, Köchinnen, Putzfrauen und jede Menge andere »Damen«. (Unter Odessiten gilt alles von Tel Aviv bis Tokio als »westlich«; Geographie wird weniger vom Kompass als vom Wohlstandsniveau diktiert.)

Ich dachte an meine Freundinnen. An Olga, die drei Kinder, aber keinen Mann hatte, keine Arbeit und kein Geld. An Va-leria, eine Lehrerin, die jeden Tag zur Arbeit ging, aber wie die meisten staatlichen Angestellten kein Gehalt bezog. An Maria, die ihren Abschluss an der Musikhochschule gemacht hatte, vor kurzem Kellnerin geworden war und bei der Arbeit einen Mini-rock tragen musste. Mir fielen noch zehn, zwanzig andere ein. Ich wollte nicht wie meine Freundinnen enden, ohne Aussich-ten, ohne Geld. Maria mit ihrer schönen Stimme wurde von ih-rem Chef und den Kneipengästen schikaniert. Wenn ich diese Stelle annahm, würde mich wenigstens nur ein Mann belästigen.

Seitdem ich vor einem halben Jahr mein Studium abgeschlos-sen hatte, hatte ich noch keine feste Arbeit gefunden. Ich musste für mich und Boba sorgen, die sich um mich gekümmert hatte, seit ich zehn war. Wir waren knapp bei Kasse – Bobas Rente be-trug nur zwanzig Dollar im Monat. (Die Ukraine hatte 1991 ihre Unabhängigkeit erklärt; jetzt, fünf Jahre später, war unsere Wäh-

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rung immer noch instabil, deshalb rechneten wir in Dollar.) Sein Vorschlag hätte mich nicht überraschen müssen – er war nicht der Erste. Ich hatte es nur nicht von einem Westler erwartet. Vielleicht hatte Boba recht. Vielleicht lastete ein Fluch auf uns. Ich sah wieder Mr. Harmon an.

Schach. Nicht ohne Grund hat die ehemalige Sowjetunion da-rin mehr Weltmeister als jedes andere Land. Schach bedeutet Strategie, Ausdauer, List und die Fähigkeit, weiter in die Zukunft zu schauen als der Gegner. Die Lust zu morden, einen Gegner nach dem anderen. Im Schachspiel kämpft jeder für sich. Stellt Fallen und weicht welchen aus. Man muss geistig durchtrainiert sein. Und Opfer bringen. In Odessa ist das Leben ein Schach-spiel. Züge. Gegenzüge. Finten. Den Gegner kennen und ihm im-mer einen Schritt voraus sein.

Ich nahm die Stelle an.

Eine Stunde nach dem Vorstellungsgespräch spazierte ich auf zittrigen Beinen durch die Innenstadt. Was hatte ich getan? Wenn ich es mir doch nur leisten könnte, in einem Café zu sit-zen und einen Tee zu trinken, nur so lange, bis ich meine Ge-danken wieder geordnet hatte. Der Nachhauseweg kam mir so weit vor. Ich ertappte mich dabei, wie ich zum Meer ging, zu Jane. Sie war so positiv, konnte einen so gut aufbauen – wie nie-mand sonst, den ich kannte. Odessiten sind Fatalisten und Pes-simisten. Jedes Mal, wenn ich vom Reisen sprach, sagten meine Freundinnen: »Aufwachen! Nicht umsonst heißt es der Ame-rikanische Traum.« Die Freundinnen meiner Boba schüttelten die Köpfe über mich und sagten: »Pferde träumen von Zucker«, eine Odessaer Redewendung, die besagt, dass gute Sachen für die anderen sind. Mit Jane konnte ich über meine Hoffnungen und Träume reden, sie gab mir die Zuversicht, dass sie in Erfül-lung gehen würden. Ihre Wohnung – in der Innenstadt, nur drei Straßen vom Meer – war ein sicherer Hafen, paradiesisch. Hohe Decken, Parkett böden, ein Balkon mit Weinranken. Sie hatte ihre eigene Küche, Platz für sich allein. Niemand sonst in unse-

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rem Alter hatte eine eigene Wohnung. Vielleicht war es einfa-cher, Optimistin zu sein, wenn man so vieles hatte.

Als Amerikanka, die hergekommen war, um, wie sie es nannte, »Freiwilligendienst« zu leisten, hatte Jane versucht, Odessaer Schüler in Demokratie zu unterrichten. Sie führte sich auf, als wäre ihr die Bedeutung des Wörtchens »nein« gänzlich unbe-kannt. Sie ging in Hosen zur Schule. Als ob sie nicht wüsste, dass das gegen die Regeln verstieß, selbst für Lehrerinnen. Ich konnte bezeugen, dass sie sich einmal in einem lautstarken Wortgefecht mit einem Bürokraten durchgesetzt und dass sie einen korrup-ten Polizisten geboxt hatte! Ich führte ein Merkheft mit den Wörtern, die sie mir beibrachte. Super. Cool. Fuck. Whatever. Es ist leichter, um Verzeihung als um Erlaubnis zu bitten. Nichts wie ran. Hau rein. Ihr Wortschatz war so grell wie ihre roten Haare. Und die Geschichten, die sie erzählte! Ich ließ mir so gern von Amerika erzählen. Selbst ihre Eindrücke von Odessa waren interessant für mich. In dieser zwielichtigen, für ihre Grautöne berüchtigten Stadt sah Jane nur Schwarz und Weiß. Bei ihr kam einem das Leben so … unkompliziert vor.

Ich schlüpfte in den Hof und schlich zu ihrem Eingang, aber die Babuschka im Erdgeschoss hörte mich trotzdem und machte die Tür einen Spaltbreit auf.

In Odessa wird man immer von jemandem beobachtet.»Wollen Sie Janna besuchen?«, fragte sie.»Da«, antwortete ich, obwohl es sie nichts anging.»Dann bleiben Sie mal nicht zu lange. Sie braucht ihre Ruhe.

Die Ärmste hat schon den ganzen Tag mit Packen zu tun.«Niemand brauchte mich daran zu erinnern, dass meine gute

Freundin bald abreisen würde. Ich ging in den zweiten Stock rauf. Jane öffnete die Tür, bevor ich anklopfen konnte.

»Wie war das Vorstellungsgespräch?«, fragte sie und zog mich rein.

»Ich hab die Stelle.«»Super!«, rief sie und umarmte mich fest. Sie stellte den Was-

serkessel auf und wir setzten uns an ihren Tisch. Die reine

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Freude sprach aus ihrem Gesicht, als sie sagte: »Ich hab mir sol-che Sorgen um dich gemacht, immer mit dem Gefühl, ich fahr weg und lass dich praktisch hier sitzen. Aber jetzt weiß ich, dass du es packen wirst.«

»Du wirst mir fehlen«, sagte ich mit einem Blick auf die Klei-der- und Bücherstapel im Wohnzimmer – ihre zwei Jahre in Odessa auf zwei Koffer reduziert. »Du bist so anders als meine anderen Freundinnen.«

»Freundinnen!«, schnaubte sie. »Ich weiß, dass sie es gut mei-nen, aber hör nicht auf sie, erst recht nicht auf diese Olga. Hör auf gar niemand.«

»Du hast recht …«»›Was kann ich schon groß ausrichten. Nichts gewagt, nichts

verloren‹«, ahmte sie den fatalistischen Odessaer Refrain nach. »Nein. Lass dich von den Biestern nicht runterziehen. Du musst an dich selbst glauben. Nicht an eure abergläubischen Odessaer Weisheiten, nicht an den Fluch von deiner Boba, nicht ans Schicksal. Sondern an dich. Du bist stärker, als du denkst.«

»Da bin ich mir nicht so sicher …«»Glaub mir. Ohne dich wär ich vor die Hunde gegangen. Ich

war vollkommen einsam und verschreckt, als ich herkam, aber du hast jeden Abend angerufen, du hast mir Russisch beige-bracht und alles, was ich über die Männer von Odessa wissen musste …«

Wir lachten.Sie streichelte meine Wange. »Gott, was hätte ich ohne dich

angefangen? Du wirst mir fehlen. Aber jetzt weiß ich, dass du klarkommen wirst. Du hast eine gute Arbeit. Nein, eine tolle Ar-beit. Du wirst den ganzen Tag Englisch reden, das ist doch dein Traum.«

»Findest du, mein Englisch ist gut genug?«»Na klar. Du kannst besser Englisch als die meisten Mutter-

sprachler. Dein Wortschatz ist besser als meiner. Du beherrschst die Sprache wie keine Zweite. Du kennst sogar die Unterschiede zwischen britischem und amerikanischem Englisch. Glaub mir,

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du weißt mehr als ich. Weißt du noch, wie enttäuscht meine Kol-legen waren, als sie erfuhren, dass ich ›nur Amerikanerin‹ bin, wie sie sich ausdrückten? Wie enttäuscht sie waren, weil ich kein ›richtiges Englisch‹ spreche? Und wer hat mir da beim Vokabel-lernen geholfen?«

Ich sonnte mich im Glanz ihres Lobes. Und unterzog sie gleich einer Befragung: »Was ist eine ›flat‹?«

»Eine Wohnung«, gab sie prompt zurück.»Queue!«»Eine Schlange. Oder Schlange stehen.« Sie drückte meine

Hand. »Was wäre ohne dich aus mir geworden?«Während wir beide schwiegen, befielen mich erneut Zweifel.»Aber mein Akzent?«»Wie oft muss ich dir das noch sagen? Jeder hat einen Akzent.

Ich hab einen Akzent – man hört mir sofort an, dass ich Ame-rikanerin bin. Briten haben einen Akzent. Kanadier haben ei-nen Akzent. Deiner ist verschwindend gering – das können New Yorker nicht von sich behaupten!«

Ich lachte. Sie wusste, wie man andere Leute aufbaut.»Du lieber Himmel! Stell dir vor, du wirst ein Spitzengehalt

beziehen. Und nach einem Jahr leitest du wahrscheinlich den ganzen Laden. Ich bin so stolz auf dich.«

Wie konnte ich ihr also die Wahrheit sagen? Dass nichts in Odessa durch und durch gut ist. Dass dieser Vertrag seinen Preis hatte. Für Spitzenjobs zahlten Bewerber Schmiergeld, unter uns Odessiten hieß das »eine Investition«. Und in diesem Job würde meine Investition weitaus persönlicher sein und mir weit mehr abverlangen als normalerweise üblich.

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Page 23: Charles Mond Odessa - bücher.de · Mit rotem Gesicht kehrte ich an meinen Schreibtisch zurück ... Eine Frau mittle-ren Alters wuselte herein, breitete ein weißleinenes Tuch über

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2. Kapitel

An meinem ersten Tag ging ich äußerst beklommen zur Arbeit. Wann? Und wie? In den Büroräumen? Oder in irgendeinem Hotel? Gleich sofort oder nach dem Mittagessen? Wie passie-ren solche Dinge? Wie konnte ich ihn abwehren? Ich habe meine Monatsbeschwerden. Meine Jahresbeschwerden. Mir geht’s nicht so gut. Wollen wir uns nicht erst mal kennenlernen? Das konnte Jahre dauern …

Ich saß hinter meinem Schreibtisch, verkrampft, die Ohren ge-spitzt, Mr. Harmons Überfall erwartend, bereit, mich mit Wor-ten oder Fäusten meiner Haut zu erwehren. Aber er wollte gar nicht mit mir schlafen. Er sagte, meine Zähne gefielen ihm nicht. (Während des Vorstellungsgesprächs hatte ich absichtlich nicht gelächelt. Napoleons Frau Josephine hatte auch schlechte Zähne. Aber abgesehen davon, dass sie mit einem blutrünstigen Tyran-nen verheiratet war, hatte Josephine Glück. Sie wurde in einer Zeit geboren, in der Fächer zum guten Ton gehörten. So einen hielt sie sich vor den Mund, wenn sie lächelte. Als Mr. Harmon mich in sein Büro rief, stellte ich mir kichernd vor, ich würde mir seinen modernen Fächer, den Ventilator, vors Gesicht halten.)

Wie die meisten Odessiten hatte sich meine Großmutter zu Sowjetzeiten entscheiden müssen, ob sie sich den Luxus von Lebensmitteln oder den Luxus von Zahnarztbesuchen leisten wollte. (Theoretisch war die medizinische Versorgung in der ehemaligen Sowjetunion kostenlos. Praktisch sah es allerdings ein wenig anders aus. Man musste dem Arzt ein Geschenk mit-bringen. Kein Geschenk, keine Behandlung. Kein Präsent, keine Zukunft.) Mein Gebiss ließ zwar zu wünschen übrig, aber we-

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