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:: Die neuen Preisträger: Marjana Gaponenko, Matthias Nawrat und Anila Wilms Februar 2013 – Nr. 8 A d e l b e r t - v o n - C h a m i s s o - P r e i s 2 0 1 3 * * *

Februar 2013 – Nr...Reise in die Ferne. Majak Verlag, Odessa 2003 Nachtflug. Gedichte. Polonius Verlag, Frankfurt am Main 2007 Die Löwenschule. Eine wahre Geschichte für Kinder

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:: Die neuen Preisträger: Marjana Gaponenko, Matthias Nawrat und Anila Wilms

Februar 2013 – Nr. 8

Ade

lber

t-von-Chamisso-Preis

2013

** *

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Nach heftigen Schneefällen macht der Winter einePause an eben dem Tag, an dem Marjana Gaponenko inihrer Mainzer Wohnung zur vorweihnachtlichen Tee-stunde gebeten hat. In der Bibliothek ist der Bieder-meiertisch gedeckt. Er steht nah vor dem größtenFenster des Raumes, das den Blick auf die kahlen Bäu-me einer kleinen Parkanlage freigibt. In einer Silber-kanne dampft Tee, geschmückte Tannenzweige stehendaneben. Die Autorin wird sich im Laufe des Gesprächsals »riesiger Weihnachtsfan« zu erkennen geben. Inhohen Regalen, die entlang dreier Wände laufen, ste-hen neben belletristischen Bänden neuere und antikeLexika, botanische, zoologische, darunter vor allemornithologische. Draußen vor Balkonfenster und -türebaumeln Meisenknödel, liegen in einer Schale Sonnen-blumenkerne. Zweifellos wohnt hier jemand, die sichauf Arrangements versteht, und neben Büchern, Musikund Weihnachten auch Vögel liebt.

Marjana Gaponenko empfiehlt den Sessel mit demBlick aus dem Fenster und fordert auf, die Vögel genauzu beobachten: Draußen flattern nicht nur die in unse-ren Breiten heimischen Blau- und Kohlmeisen herum,sondern auch kleine grüne Papageien, die sich hin undwieder in den kahlen Zweigen niederlassen – exotischeVögel südlicher Provenienz mitten im Dezember!

Wer Gaponenkos Romane kennt, wird Papageienmitten im Mainzer Winter allerdings nicht überra-schend finden. Sie passen einfach gut in die phantasti-schen, präzise choreographierten literarischen Szene-rien, in denen Tiere, insbesondere Vögel, zu symbol-

trächtigen Wesen werden, für deren Sprache sich nichtnur die alternde Dorflehrerin Anna, die Protagonistinin Gaponenkos Romanerstling Annuschka Blume ausdem Jahr 2010 interessiert.

Auch Luka Lewadski begeistert sich für Vögel; dieHauptfigur in ihrem zweitem Roman Wer ist Martha?ist Ornithologe. Zum Zeitpunkt des Geschehens erfährtder 96-jährige Professor emeritus durch einen Anruf,dass sein Lungenkarzinom es erforderlich macht,sofort ins Krankenhaus zu kommen. Doch obschonLewadski um die Begrenztheit des Lebens weiß – »Nunja, Grenzen, Grenzen, Grenzen, Sie sehen, Madame,dauernd stößt der Mensch an Grenzen, innere oderäußere… Mal drückt der Schuh, mal drückt der Sarg,verstehen Sie, was ich meine?« –, sterben will er nichtsang- und klanglos. Und ganz bestimmt nicht im Kran-kenhaus! Er besorgt sich eine Kreditkarte, stattet sichmit feinen neuen Hemden aus und reist nach Wien, woer sich im Hotel Imperial einmietet. Als »Lachmöwe aufdem Deck« genießt er seine letzten Tage in einer Opu-lenz, die Gaponenko eindrücklich schildert: »Klavier-klänge umspülen seine alte Karkasse, ein Ober mit derSpeisekarte in der Hand entsteigt der Musikkulisseund geleitet den Gast zu einem der Tische in der Näheder Flügels. Alles passt zueinander, das Licht zumTeppichboden, das gedämpfte Klimpern zum sanftenSchimmer der Spiegel.«

Neben dem Hotelangestellten Habib unterstütztihn der unwesentlich jüngere Herr Witzturn, eine ArtAlter Ego Lewadskis. Sahnetorte, Cocktails, Gespräche,

Umflattert von grünen Papageien

Marjana Gaponenko erzählt unter den Fittichen der Poesie von Leben und Tod

Von Beate Tröger

4 :: Adelbert-von-Chamisso-Preisträgerin 2013

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schwelgende Erinnerungen an Vergangenes und einKonzert im Wiener Musikverein verschönernLewadskis letzte Tage, in denen er »so viel redet wie inden letzten zwanzig Jahren nicht«. Jenseits des lustvollzelebrierten Luxus und Humors grundiert der Molltondes nahen Todes diesen Roman, doch dank seinesbizarren Humors, funkelnder Wortspiele und unbändi-ger Fabulierlust stellt Wer ist Martha? ein ausgespro-chen lebenslustiges Memento mori dar.

Warum schreibt eine so junge Autorin – MarjanaGaponenko wurde 1981 in Odessa geboren – über älte-re Menschen? Sie hat sich schon sehr früh mit denSinnfragen beschäftigt und im Alter von dreizehnbeschlossen, sich aus ihrer Clique und den Parties derJugendlichen zurückzuziehen. Anlass dazu war einJunge, der nachmittags mit einer geöffneten Schaum-weinflasche, mit »Schampanskoje«, bei ihr und ihrenFreundinnen in einem Park auftauchte. Die Leere, diesie aus den Ritualen unter den Gleichaltrigen angähn-te, wollte sie nicht teilen.

Mit sechzehn sah sie sich mit dem Problem derStudien- und Berufswahl konfrontiert, »eine großeKrise«, wie sie erzählt. Hin- und hergerissen zwischendem Beruf der Botanikerin oder der Visagistin, ent-schied sich Gaponenko für ein Drittes: Sie begann,Deutsch zu studieren, das sie neben dem Englischen inder Schule gelernt hatte. Die Entscheidung geschahsehr bewusst, die deutsche Sprache kam ihr vor »wieein Tisch voller Schachteln, die man anordnen undineinander stapeln konnte«, als eine logische und, wenn-gleich komplexe, so doch beherrschbare Angelegen-heit. Sie paukte hart und begann, auf Deutsch zu schrei-ben, zunächst für sich und vor allem Gedichte, die ihrhalfen, sich in der fremden Sprache auf höchstemNiveau zu üben und zu vervollkommnen.

Die Entscheidung erwies sich als richtig, doch diephilosophischen Fragen nach Leben und Tod beschäf-tigten sie weiter. Insbesondere die Angst des Menschen

6 :: Marjana Gaponenko

Auf der Treppe in der »Villa Bonn« der Frankfurter Gesell-

schaft für Handel, Industrie und Wissenschaft, einem be-

liebten Ort für kulturelle Ereignisse

Die deutsche Sprache kam ihr vor wie ein Tisch voller Schachteln

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vor dem Sterben sieht sie bis heute als »eine, über dieman verrückt werden kann, wenn man sie sich langegenug in aller Klarheit und ungefiltert vorlegt« und diesich um so dräuender stellt, je älter ein Mensch wird.

Die Endlichkeit des Lebens und die Einsamkeit,die jeder Mensch mehr oder weniger verspürt, sind inihren Büchern präsent. Doch ihr Erzählen motivieresich, so Gaponenko, aus dem Wunsch, der menschli-chen Angst vor dem Tod etwas entgegenzusetzen –oder die Leser zumindest so gut zu unterhalten, dasssie diese Angst für die Dauer der Lektüre vergessen.

Gaponenkos überbordende Phantasie, ihr Wort-witz und eine große Liebe zu ihren vornehmlich altenProtagonisten erzeugen einen Sog, das Alltägliche unddie Sprache selbst erscheinen in einem neuen, farbi-geren Licht. Dabei sei nichts in den Büchern frei erfun-den, alles der Beobachtung und gründlicher Recherche

geschuldet, versichert die Autorin. Den alten Mann,der ihr als Vorbild für Lewadski diente, habe sie einmalin einer Bar gesehen und bei seinem Anblick sofortgewusst, dass sie über ihn schreiben muss. Er habesich regelrecht dazwischengedrängt, das Manuskript,in dem Gaponenko von einer holländischen Schiff-fahrtsgesellschaft, vom Teehandel und von Katharinader Großen erzählt, blieb dafür bis auf weiteres in derSchublade.

Lewadskis Charisma war einfach größer, dieAutorin wollte ihn so genau wie möglich kennenlernenund darstellen. Monatelang recherchierte sie für Werist Martha? in der ihr gewohnten Weise: beginnend mitdem Schreiben einer kurzen Passage, dann stöbernd inFachbüchern und Lexika, nebenbei voller Lust amMaterialsammeln, Karteikarte um Karteikarte mit ihrenNotizen beschreibend, bis sich ein hoher Stapel von

Adelbert-von-Chamisso-Preisträgerin 2013 :: 7

Marjana Gaponeko schreibt lieber im stillen Kämmerlein als in der Öffentlichkeit

»Ein Vogel singt nicht, weil er eine Antwort weiß, sondern weil er ein Lied kennt.« Chinesisches Sprichwort*

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Karten angesammelt hat. So erging es ihr auch bei derArbeit an ihrem derzeit entstehenden Roman, in des-sen Mittelpunkt ein älterer Geschichtsphilosoph undsein Schüler stehen werden. Es sei im Eifer des Recher-chierens manchmal gar nicht so leicht, den Punkt zumAufhören zu finden, um zum Schreiben zu wechseln.Als der Anruf mit der Nachricht kam, dass sie mit demAdelbert-von-Chamisso-Preis ausgezeichnet wird,stellte sich nach der ersten überwältigenden Freudeder Moment ein, in dem Gaponenko wusste: Jetztkannst du dich an das Weiterschreiben des neuenRomans machen.

Immer wieder erzählt die Autorin von glücklichenFügungen, etwa davon, wie sie eingeladen wurde,einen Text für den Erzählungsband Austern im Schneeund andere Sommergeschichten zu schreiben. Sie ver-fasste einen fiktiven Brief, der Aufnahme in den Bandfand und aus dem dann ihr erster Roman entstand.Wenn man Gaponenko reden hört, kommt es einemvor, als teile sie ihre besondere Gabe, mit der sie ausEinzelbeobachtungen und zufälligen Begebenheitendie Saatkörner für ihre Geschichten herauspickt, mitden Vögeln, die auch Lewadski so liebt.

Auch zu Annuschka Blume, ihrem ersten Roman,der sich, von zwei kurzen rahmenden Abschnitten ab-gesehen, ganz aus Briefen zusammensetzt, kenntGaponenko eine Geschichte, wie sich die Dinge fügten:Sie konnte sich von real existierenden Briefen inspirie-ren lassen, die sie, geordnet in zwei Schachteln – ein-mal mehr tauchen hier die Sprachschachteln auf! – voneiner alten Tante geerbt hatte. Ob aber der ersteRomanbrief Annas an Piotr zuerst da war, zu dem danndie Briefe in den Schachteln kamen, oder die geerbtenBriefe, die den ersten fiktiven Brief anstießen, das hatsie inzwischen vergessen. Es spielt auch keine Rolle inihrem Kosmos, in dem weniger sie die Geschichten undFiguren findet als umgekehrt die Figuren und Ge-schichten ihre Autorin zu finden scheinen.

Wundersame Korrespondenzen gibt es in Lebenund Werk Marjana Gaponenkos also allerorten. Dabeikommen ihre Romane mit wenig Personal aus, esbraucht allenfalls zwei, die miteinander sprechen,

wenngleich nicht ganz klar ist, ob die einsame alteDorflehrerin Anna Konstatinowna sich in AnnuschkaBlume ihren Briefpartner, den Journalisten und Welten-bummler Piotr Michailowitsch, nur vorstellt, sich dieKorrespondenz also im Traum abspielt. Wie in derWechselrede zwischen Anna und Piotr findet auchLewadski in Witzturn, der in Wien im Konzertsaal anseiner Seite so fröhlich schnarcht und in der Bar soausdauernd mit ihm trinkt, ein Gegenüber, einenSeelenverwandten, jemanden, mit dem er sich austau-schen kann. Ist am Ende auch er nur eine Fiktion desProtagonisten?

Und wer ist die Martha im Titel des Romans? Die Malerin Anita Albus berichtet in ihrem Buch

Von seltenen Vögeln, dass eine Wandertaube, die letzteihrer Art, den Namen Martha nach der Ehefrau vonGeorge Washington trägt. Diese Taube starb am 1. Sep-tember 1914, an dem Tag, an dem Lewadski das Lichtder Welt erblickte. Ist er Marthas Reinkarnation? Oderist Martha eine Chiffre für die Verdrängten, die Aus-gerotteten und Letzten einer Art? Welche Rolle spieltder biblische Subtext? Vielleicht steht Martha auch alsChiffre für das geliebte Wesen im platonischen und /oder erotischen Sinn, das Lewadski Zeit seines Lebensfür sich nicht dauerhaft gefunden hat. Oder ist Marthaein gedachtes Gegenüber, das ein Zweigespräch er-möglicht? Auf keine dieser Deutungen lässt sich der

Zufällige Begebenheiten undBeobachtungen sind die Saatkörnerfür ihre Geschichten

8 :: Marjana Gaponenko

Die Schriftstellerin liebt die Tiere, sie füttert die Vögel vor dem Fenster und pflegt das Pferd »Miro« in seinem Stall in Mainz-Laubenheim

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Roman einschränken. Jeder wird »seine« Martha er-kennen, sich ihrer erinnern – melancholisch, jubelnd,mit Lust am Pathos, das eine Weisheit in sich birgt.

»Ich erzähle gerne Geschichten, weil ich Freudeam Erzählen hatte und weil ich gerne zusah, wie sichalles vor meinen Augen entfaltete« schreibt die

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Wie tränenlose Ritter. Lyrik aus derUkraine. Geest Verlag, Vechta 2000 Reise in die Ferne. Majak Verlag, Odessa2003 Nachtflug. Gedichte. Polonius Verlag,Frankfurt am Main 2007 Die Löwenschule. Eine wahre Geschichtefür Kinder und Erwachsene. PoloniusVerlag, Frankfurt am Main 2008 Annuschka Blume. Roman. ResidenzVerlag, St. Pölten 2010 Wer ist Martha? Roman. Suhrkamp Verlag,Berlin 2012

Lehrerin Anna in in einem Brief an Piotr. Wer MarjanaGaponenkos Bücher liest, wer mit ihr spricht, wirdZeuge ihrer unbändigen Freude am Erzählen – unddavon, wie das von ihr Erzählte und Imaginierte dieeigene Imagination aufs Eindrücklichste und langenachschwingend in Bewegung versetzt. ::

* Chinesisches Sprichwort, zitiert nachMalcom Tait und Oliver Tayler: Vögel.Geflügelte Wunder, fantastische Schwär-mereien und ordentliche Ornithologie.Aus dem Englischen übersetzt und bearbeitet von Arnulf Conradi.Hamburg 2008.

nster und pflegt das Pferd »Miro« in seinem Stall in Mainz-Laubenheim

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»Schreiben ohne abzusetzen, Schreiben ohne Ziel und Anspruch, Schreiben ohne Ehrgeiz« ist fürMatthias Nawrat höchstes Glück, Schwerarbeit undmanchmal auch Qual, aber immer Bedürfnis, »eine be-stimmte leibliche Art und Weise des In-der-Welt-Seins«.Wenn er ein paar Tage nichts geschrieben hat, fühlt ersich schlecht; für Menschen, die nie schreiben, hat ernur Bedauern übrig. Nawrat spricht selber von Größen-wahn, aber es ist nicht so, dass er sein kleines Ich fürerzählenswert hielte. Im Gegenteil: »Reale Erfahrungen«oder gar subjektive Nabelschau ekeln ihn förmlich an,solange sie nicht restlos in Literatur aufgehoben sind.Nawrat schreibt, um »außerkörperliche« oder »außer-persönliche« Erfahrungen zu machen, um sich von derSprache überraschen und treiben zu lassen. Oder ein-fach nur so, für sich allein. Kein Tag ohne Zeile, keinMorgen ohne rituelle Schreibübung. Manchmal fließenbei seinem »ungerichteten«, fast automatischen Schrei-ben zwanzig oder dreißig Seiten aus ihm heraus. Diewenigsten halten einer späteren Selbstkritik stand,aber das Missverhältnis von Aufwand und Ertrag küm-mert ihn nicht: »Ich kann nicht anders«. »Es ist, alswürde ein unendlich langer Mückenschwarm an mei-nem Fenster vorbeifliegen«, schreibt Nawrat in seinerpoetologischen Selbstauskunft »Der Mückenschwarm«:»Jeden Tag öffne ich das Fenster und halte meine hohleHand hinaus.«

Selbst wenn ihm die Worte immer wieder durchdie Finger fliegen oder als unbrauchbar verworfen

werden: Wenn er nur ein paar aus dem Schwarm dervorbeischwirrenden Möglichkeiten einfangen kann,hat sich die Übung gelohnt. Aus einer Mücke wird einElefant. Schreiben ist für den 33-jährigen BiologenLeben und – das hat er am Schweizerischen Literatur-institut in Biel gelernt – eine »Sache der Übung«. Ein-fach losschreiben, aus der »Bauchgrube« heraus; dasHinterfragen, das »dicke Ende« der Wurst kann immererst danach kommen: Analysieren, Reflektieren, Kons-truieren. Wichtig ist nur: »Die Figuren und Sprachemüssen aus dir sprechen, nicht du aus den Figuren undaus der Sprache.«

Das »Vertrauen, dass die Geschichten dich abholenkommen«, hatte Nawrat schon immer; mit vierzehnJahren schrieb er, zusammen mit einem Freund, seinenersten Roman. In Anbetracht dieses Schreibdrangs istsein veröffentlichtes Werk relativ schmal, ein paarKurzgeschichten (darunter »Arkadiusz Protasiuk«,eine »Schweijkiade« über den Piloten des 2010 abge-stürzten polnischen Regierungsflugzeugs) und einkleiner Roman. Dass er Wir zwei allein von fünfhundertauf gerade mal 190 Seiten zusammengestrichen hat,verrät, dass Nawrat bei allem Selbstvertrauen und aller

10 :: Adelbert-von-Chamisso-Förderpreisträger 2013

Der Mückenfänger

Schreiben in der Multioptionskrise: Matthias Nawrat

Von Martin Halter

Längst nicht alles, was aus ihm her-ausschreibt, findet seine Gnade

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Spontaneität ein durchaus skrupulöser Autor ist.Längst nicht alles, was an ihm vorbei fliegt und aus ihmherausschreibt, findet seine Gnade. Immerhin, nach-dem seine Erzählung »Unternehmer« in Klagenfurt alsausbaufähig gerühmt (und mit dem Kelag-Preis ausge-zeichnet) wurde, will er die Kurzgeschichte jetzt zumRoman erweitern.

Eltern, die für ihren Aussteigertraum Elektronik-schrott recyceln und Rohstoffe nach skurrilen Verfah-ren abkochen, Kinder, die im Familienbetrieb schonmal einen Arm, aber nie ihren stillen Gleichmut verlie-ren: Die Bachmann-Preis-Jury entdeckte in »Unter-nehmer« realistische Kapitalismuskritik, ein surrealesPubertätsdrama, ein modernes Hänsel-und-Gretel-Märchen und eine Familiengroteske. Die irritierendeVieldeutigkeit der Interpretationen ist ganz nach demGeschmack des Autors und bis zu einem gewissenGrad auch biografisch begründet: 1979 im polnischenOpole (Oppeln) als Sohn eines Psychologen und einerSportlehrerin geboren, ist Nawrat in zwei Kulturen zu-hause. Er kennt und schätzt angelsächsische Erzählerwie Hemingway oder Carver, aber mindestens ebensowichtig für seine literarische Sozialisation waren

Gogols grotesker Humor, Kafkas Parabeln, StanislawLems Solaris und tschechische Märchenfilme. Nawrathält nichts von autobiografisch inspirierten Familien-epen, aber in seinem dritten Roman will er erstmalsüber seine polnische Herkunft schreiben.

Als der Spätaussiedler 1989 nach Bamberg kam,sprach er kein Wort Deutsch. Integrationsproblemehatte er dennoch nicht. Nawrat verstand sich nie alsAutor »mit Migrationshintergrund«, aber dass er sichdas Deutsche hart erarbeiten musste, erscheint ihmheute als Glück. Kein Wort versteht sich von selbst: DieFremd-Sprache bleibt »außerhalb des normalen Ver-wendungszusammenhangs«, geht nicht in ihren kom-munikativen Funktionen auf. Dass Nawrat sich so ver-trauensvoll ihrer Poesie und Eigengesetzlichkeitunterwirft und immer wieder eigenwillige »verglückte«Metaphern findet, hat wohl auch mit diesem »Blick vonaußen« zu tun. Er kann und will nicht den Weg desgeringsten Widerstands, den breiten Pfad des Leich-ten, Naheliegenden und Eingängigen begehen, son-dern sich am Widerständigen, Fremden, Unmöglichenreiben.

Nach Stationen in Bamberg, Heidelberg, Freiburg und Biel lebt Matthias Nawrat nun im Berliner Stadtteil Wedding

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Benz, der dreißigjährige Erzähler von Wir zweiallein, ist ein romantischer Taugenichts, der ziel- undanspruchslos in den Tag hinein lebt. In und umFreiburg (wo Nawrat Biologie studierte), zwischenHimmelreich und Höllental, fährt er mit dem SprinterGemüse aus. Wenn er nicht gerade im Schwarzwaldunterwegs ist, hält er Zwiesprache mit seiner Yucca-palme oder trinkt in Rudis Kneipe Riegeler Landbiermit Freunden. Dass auch Nawrat das Zeug zum Knei-penphilosophen hat, verriet schon sein KlagenfurterSelbstdarstellungsvideo: Mit nicht ganz bierernstenGedanken über Wespen und Gehsteige unterlief erspielend den oft prätentiösen Kunstwillen des Genres.

12 :: Matthias Nawrat

Aber dann taucht ein Mädchen auf und stürzteBenz in alle Himmelreiche und Höllentäler der Liebe.Theres, die Schuhverkäuferin und erfolglose Künstle-rin, ist eine zauberhafte Elfe, widerspenstig, unbe-rechenbar, vielleicht sogar manisch-depressiv, jeden-falls nie zu fassen. Manchmal verschwindet sie wochen-lang, dann wieder will sie sich mit dem Gemüsefahrerin einem Liebesnest im dunkelsten Schwarzwald ver-kriechen; am Ende ist Theres schwanger von einemanderen. Als Liebes- und Aussteigermelodram bietetder Roman wenig Überraschungen. Um so unerhörterist der Erzählton, ein sprunghaftes Hin und Her zwi-schen Konjunktiv und Indikativ, romantischer Unbe-stimmtheit und traumwandlerisch sicherer Präzision,die Beschreibung des nebelverhangenen, psychode-lisch verfremdeten Schwarzwalds. Nawrats Roman-debüt ist so zart und zweideutig verzipfelt wie die roteMohrrübe auf dem Cover und so grün wie die Öko-

Romantische Unbestimmtheit undtraumwandlerisch sichere Präzision

»Eigentlich könntest du in Zukunft die Bestellungen machen, sagt Ecki. Du hast doch studiert.

Lieber nicht, Ecki, sage ich.« aus: Wir zwei allein

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hauptstadt Freiburg, aber am Ende verdunkelt sich daszweisame Idyll an der Dreisam zur klaustrophoben»folie à deux«. Nawrat lebte selber einmal zwei Wochenauf einem einsamen Schwarzwaldhof. Wenn er heutevon Berlin nach Freiburg zurückkehrt, kommt ihm dieStadt »entzaubert« vor.

Wir zwei allein erzählt von zwei Außenseitern derLeistungs- und Konsumgesellschaft, die, erschlagenvon der Fülle der Möglichkeiten, den Rückzug in Ver-weigerung und Askese wählen, bis hin zum entropi-schen Stillstand: »Besitz abstoßen, Bekanntschafteneinschränken, jede Tätigkeit in Anführungszeichensetzen. Es sind die anderen, die arbeiten, erziehen,sparen. Unsereins sinkt in die Geschichte zurück wieein Stein.« Der kindsköpfige Taugenichts fantasiertsich als Schwarzwaldindianer und Dschingis Khan imGemüsebeet, aber meistens will er sich nur wegducken,abtauchen, verschwinden: »Glauben ablassen, kleinwerden auf rechtwinklige Art und Weise, verräumbarin den Keller, in den Schrank«. Die Kapitulation ist fürihn keine Niederlage, sondern eine Lebensform: »Esgilt, in Vergessenheit zu geraten. Es gilt, einen speziel-

len Neglect für die eigene Person zu erzeugen, einLoch in der Wahrnehmung der anderen. In ein paarJahren wird es so sein, als hätte ich nie gelebt«. WennBenz und Theres Gemüse ausfahren oder in ihrer sturm-umtosten Heidegger-Hütte Tee trinken, fühlen sie sichals »Einheit in einem Land aus Zweisamkeiten«. Aberdas selbstgenügsame Idyll, das defensive Wir-zwei-allein-Gefühl ist selbst der Borderlinerin auf die Dauerzu wenig.

Als Kind konnte Nawrat sich nicht sattsehen anden gut gefüllten Schaufenstern und Warenregalen sei-ner neuen Heimat. Inzwischen empfindet er den»Zwang zur Freiheit« eher als Last und Lähmung. Wirzwei allein – ursprünglich sollte der Roman »Wir könn-ten« heißen – ist auch ein Porträt der »Generation derUnentschlossenen«, jener bindungs- und entschei-dungsscheuen Singles in prekären Arbeitsverhältnissen,Teilzeit-Beziehungen und Patchwork-Familien, die vonder Vielzahl der Optionen überfordert werden. Nawrathat seine Entscheidung getroffen: Für seinen Traumvom Schreiben gab er seinen Brotberuf als Wissen-schaftsjournalist auf. Die nüchterne Sprache der Mole-kularbiologie, die rationale Vermessung der Welt emp-fand er schon während des Studiums als ungenügend.Lieber mit der hohlen Hand und ins Blaue hineinMücken und Schmetterlinge fangen als tote Insektensezieren und klassifizieren. ::

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»Arkadiusz Protasiuk«. In: Happy End – Die besten Geschichten aus dem MDR-Literaturwettbewerb 2011.Herausgegeben von Michael Hamneter.Verlag Neues Leben, Berlin 2011 Wir zwei allein. Roman. Verlag Nagel &Kimche, Zürich 2012

Kapitulation ist keine Niederlage, sondern eine Lebensform

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Anila Wilms’ Roman-Debüt Das albanische Öl oderMord auf der Straße des Nordens ist ein extrem über-raschendes Buch. Nichts ist so, wie man denkt, nichtsso, wie die Konvention es will, nichts so, wie man esgewohnt ist. Aber von Anfang an:

Albanien, 1924. Auf der »Straße des Nordens«,einer der wenigen modernen Verkehrsadern im wildenund einsamen Bergland – gebaut von österreichischenPionieren im Ersten Weltkrieg –, werden zwei amerika-nische Staatsbürger ermordet, ihr Chauffeur ist schwerverwundet. Man bringt die Leichen und den Verletztenin die gerade aus dem historischen Schlaf erwachendeHauptstadt Tirana, wo sofort hektisch über die Täterspekuliert wird. Wer hat die Gäste des albanischen Vol-kes ermordet, wer das heilige Gastrecht gebrochen?Kurz: Wer war’s?

Bis hierhin könnte der Roman ein ganz normalerhistorischer Krimi sein, angesiedelt in einer ungewöhn-lichen und für deutsche Leser eher exotischen Region.Das wundert zunächst wenig in Zeiten der seriellen,kriminalliterarischen Kombinatorik, bei der Erfolgs-rezepte wie »historischer Krimi« und »exotischer Schau-platz« in allen möglichen Kombinationen zusammen ge-tackert werden – Albanien wäre eine echt neue »location«.

Bald ist allerdings klar, dass wir mit Krimi-Para-metern nicht weiterkommen, auch deswegen, weilAnila Wilms keinen Krimi schreiben wollte und geschrie-ben hat. Kriminalliteratur allerdings schon, wenn auchnolens volens, dafür gleich vom Feinsten.

Die Angelegenheit wird kompliziert. Der Mord anden beiden Amerikanern gerät zunehmend in ein kom-

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plexes Geflecht aus Konflikten und prekären Konstel-lationen. Albanien steht erst seit wenigen Jahren nichtmehr unter türkischer Herrschaft und ist ein souverä-ner Staat in den Geburtswehen. Außerdem vermutetman beträchtliche Erdölvorkommen, die für die Groß-mächte USA und Großbritannien so interessant sind,dass die albanische Innenpolitik damit ihre jeweiligenEigeninteressen nachdrücklich ins Spiel bringen kann.Regierung und Opposition, Traditionalisten und Mo-dernisierer stehen sich spinnefeind gegenüber, genau-so wie eine allmählich knospende urbane Kultur der(Küsten-)Städte in scharfem Kontrast zu den eherarchaischen Stammeskulturen im Gebirge steht. Nochsind die Grenzen des Landes nicht genau definiert, dasbenachbarte Serbien zeigt Begehrlichkeiten, Griechen-land und Bulgarien sind Machtfaktoren, die man imAuge behalten muss, und Mussolinis Italien interes-siert sich brennend für eine Einfallschneise auf dieserSeite der Adria. Außerdem gibt es in der albanischenRegierung starke Tendenzen, sich ein ProtektoratItaliens mit weitgehender Feudalmacht (als Statthalter)bezahlen zu lassen. Der Mordfall, beziehungsweiseseine politische Bedeutung und Instrumentalisierbar-keit, wird immer brisanter.

Aus dem Krimi ist unter der Hand ein veritablerPolit-Thriller geworden, obwohl Anila Wilms dies nichtbewusst plante und erst, nachdem ihr Roman erschie-nen war, zum Beispiel auf Eric Ambler gestoßen ist. Mitdessen Thrillern, seiner hochintelligenten und coolenSicht auf die Welt weist Das albanische Öl oder Mordauf der Straße des Nordens ein paar verblüffende Ana-

Albanien 1924, auf der »Straße des Nordens«

Anila Wilms und ihr intellektuell avancierter Polit-Thriller

Von Thomas Wörtche

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logien auf. Die wichtigste ist vielleicht die, die aktuelleSituation mitzudenken: Amblers Romane – vor allemdie einschlägigen »Balkan«-Thriller Die Maske desDimitrios, Der Fall Deltchev und Schirmers Erbschaft –spielen in europäischen Umbruchszeiten, zwischenund nach den beiden Weltkriegen, deren Verwerfungensich noch lange nicht geglättet haben.

Sie haben, wie Wilms’ Buch, als Subtext die ver-meintliche Randständigkeit des Balkans in Europa, dienatürlich, eingedenk der geostrategischen Lage, beigenauer Betrachtung keineswegs peripher ist.

Das Albanien von Anila Wilms liegt dabei unter einernoch schärferen Linse des Brennglases. Was sie aus den1920er Jahren erzählt, gilt cum grano salis auch für dasheutige Albanien, das im Text mit keinem Wort vor-kommt, aber selbstverständlich, wie bei allen wichtigen»historischen« Romanen, den Bezugsrahmen abgibt.

Die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen ist dieZeit der zerbröselnden Norm-Systeme. Es entstehenFreiräume, die Karten werden neu gemischt. Im Falleunseres Romans positionieren sich demokratischeBestrebungen, autokratische Tendenzen und das altealbanischen Gewohnheitsrecht inklusive Blutrache,der »Kanun« (der allerdings erst in den 1930er Jahrenschriftlich fixiert wurde) gegeneinander bis an denRand eines Bürgerkrieges.

Die Parallelen zum postkommunistischen Albanien,inklusive der Bürgerkriegsgefahr von 1997, anlässlichderer etwa Wilms’ Bruder das Land verlassen musste,sind kaum zu übersehen. Anila Wilms, geboren 1971 inder Hafenstadt Durrës, dem antiken Dyrrhachium, auf-gewachsen in Tirana, als DAAD-Stipendiatin nachBerlin gekommen und seitdem dort lebend, meint, dassdas Land sich auch heute noch nicht gefunden hat. Diealten Konfliktlinien brachen nach dem Wegfall destotalitären Drucks wieder auf, und es entstand die gro-teske Situation, dass der alte »Kanun«, den das Enver-Hoxha-Regime mirakulöser- und paradoxerweise mitseinem post-stalinistischen, maoistisch-steinzeitlichen»Kommunismus« in eine Art unheilige Allianz gezwun-

Das alte albanische Gewohnheitsrecht:»Kanun« – die Blutrache

Für wissenschaftliche Recherche nutzt sie gern die Universitätsbibliothek der Technischen Universität Berlin

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sierung aufgegeben hat. Aus der deprimierenden Engedes Hoxha-Albanien entflohen, drohten mit der ge-planten Dissertation und den strikten Anforderungenan Wissenschaftlichkeit die nächsten Einschränkungen.Fiktion erlaubt mehr Komplexität und mehr Subjekti-vität. Der Stoff verlangt dies, denn die albanische Ge-schichte ist Teil der Familiengeschichte von AnilaWilms, auch wenn deren öffentliche Behandlung dortnicht gerne gesehen wird. Eine der Hauptfiguren desRomans, Adnan Bey Gorica, der Außenminister, der denTürken so problemlos gedient hat wie er auch Musso-lini gerne dienen würde, ist dem Urgroßvater der Auto-rin ziemlich genau nachgebildet. Keine sehr erfreuli-che, aber eine durchaus interessante Gestalt, die AnilaWilms wie alle ihre Figuren – kaum klassische »Sympa-thieträger«, dafür »seriös« gestaltet – mit distanziertemWitz und federleichtem Spott schildert.

Der Roman hat keinen konventionellen »Helden«,aber über weite Strecken eine klare, souveräne Erzähl-stimme aus dem off, die regelmäßig von amtlichenVerlautbarungen, Pressemitteilungen und Depeschendes amerikanischen Botschafters Grant bestätigt oderkonterkariert wird: Ein deutlicher Hinweis darauf,dass bei aller fiktionalen Subjektivität der Roman nureine Möglichkeit ist, reale Begebenheiten zu verarbei-ten. Das fiktionale und nicht-fiktionale Erzählen ste-hen als zwei gleichberechtige Instanzen da, und dieserBalanceakt lässt keine Interpretationshoheit der einenSeite zu. Die Realität ist nicht monolithisch, die narra-tion nur mögliche Variante. Das ist für die emigrierteAutorin – die auf ästhetisch-sprachlichem Weg etwasherausbekommen möchte über sich, über ihr Her-kunftsland und, damit unabdingbar verknüpft, wie siebetont, über das, was Kulturen, Ideologien, Religionenund Mythen ganz konkret mit Menschen machen –durch ihre kreative Selbstermächtigung eine wunder-bare Option: Eine Befreiung von allen möglichenZwängen, Konsistenz und Sinn herzustellen, wenndoch die Paradoxien und Widersprüche viel stärkerund spannender, viel magischer sind.

Der Text, der durch einen komplizierten und ris-kanten Entstehungsprozess gehen musste, bevor er dieaktuelle deutsche Form gefunden hatte (es gibt eine

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gen hatte, auch heute noch in den Köpfen der Leutesiedelt.

Man sieht: Das albanische Öl oder Mord auf derStraße des Nordens ist kein als »Genre« designterRoman, sondern ein Textgebilde mit vielen Schichtenund Dimensionen, deren literarische Inszenierungihrerseits mindestens genauso viele Schichten undDimensionen aufweist.

Das fängt damit an, dass Anila Wilms eine wissen-schaftliche Bearbeitung des Stoffes (der das Buch seinepenible Recherche verdankt) zugunsten der Fiktionali-

Der Text geht durch einen komplizierten Entstehungsprozess

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:: Das albanische Öl oder Mord auf derStraße des Nordens. Roman. TransitVerlag, Berlin 2012

divergierende Variante auf Albanisch, aber das ist einanderes Thema), fasziniert nicht zuletzt durch seineästhetische Flexibilität. Wilms parodiert, persifliert,zitiert und beherrscht damit die nuanciertesten Sprach-milieus – »orientalisch«-blumige Rhetorik genauso wieLakonie, rohe Statements und Zynismen der Beteilig-ten –, erfreut sich an Spott und Witz und erschafft inder Figur der Kaffeehaus-Autorität Keno Effendi eineArt ironisch-selbstreflexiver Instanz.

Überhaupt sind Witz und Komik so wichtig wie dasintellektuelle Understatement. Unter einer leichten,eleganten und amüsanten Oberfläche lauern die Tret-minen der manchmal auch knallharten Dissonanzenund Widersprüche.

Das albanische Öl oder Mord auf der Straße desNordens ist ein vergifteter Kriminalroman, ein intellek-tuell avancierter Polit-Thriller und Teil eines größerenliterarischen Projekts, an dem Anila Wilms arbeitet:Albanien und die Nazis wird ein Thema des nächstenBuches sein, Mutter Teresa, Religion und Mythos ste-hen auf der To-do-Liste. Daraus werden wieder Romaneentstehen – mit, hört man Anila Wilms genau zu, be-trächtlichem Überraschungsfaktor. ::

Ob in der Unibibliothek oder im Café –

Anila Wilms schreibt überall

»Stets stieß das Bergland sie ab: die Osmanen, die Serben, die Österreicher. Am Ende blieben nur ihre Gräber

zurück…« aus: Das albanische Öl oder Mord auf der Straße des Nordens

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