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KINDLER KOMPAKTRUSSISCHELITERATUR20. JAHRHUNDERT

Ausgewählt von Matthias Freise

J. B. Metzler Verlag

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Kindler Kompakt bietet Auszüge aus der dritten, völlig neu bearbei-teten Auflage von Kindlers Literatur Lexikon, herausgegeben von Heinz Ludwig Arnold. – Die Einleitung wurde eigens für diese Auswahl verfasst und die Artikel wurden, wenn notwendig, aktualisiert.

Dr. Matthias Freise ist Professor für Slavistik an der Georg-August-Universität Göttingen; er hat für die dritte Auflage von Kindlers Literatur Lexikon als Fachberater die Artikel zu slavischen Literaturen betreut.

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Inhalt

MATTHIAS FREISEDie russische Literatur im 20. Jahrhundert 9

MAKSIM GOR’KIJFrühe Erzählungen 29Sommergäste / Dačniki. Sceny 33Autobiographie 35Erzählungen der 1920er Jahre 39LEONID NIKOLAEVIČ ANDREEVDas erzählerische Werk 43VJAČESLAV IVANOVDas lyrische Werk 48NIKOLAJ GUMILËVDas lyrische Werk 52ANNA ACHMATOVADas lyrische Werk 57Requiem / Rekviem 61ALEKSANDR BLOKVerse von der Schönen Dame / Stichi o prekrasnoj dame 64Die Unbekannte / Neznakomka 66Die Zwölf / Dvenadcat’ 68FËDOR SOLOGUBDer kleine Dämon / Melkij bes 71VELIMIR CHLEBNIKOVDas lyrische Werk 74ANDREJ BELYJDie silberne Taube / Serebrjanyj golub’ 78Petersburg / Peterburg 79MARINA CVETAEVADas lyrische Werk 83VLADIMIR MAJAKOVSKIJDas lyrische Werk 86Wolke in Hosen. Ein Tetraptychon / Oblako v štanach. Tetraptich 90Aus vollem Halse / Vo ves’golos. Pervoe vstuplenie v poėmu 92

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BORIS PASTERNAKDas lyrische Werk 94Doktor Schiwago / Doktor Živago 99OSIP MANDEL’ŠTAMDas lyrische Werk 103Das Rauschen der Zeit / Šum vremeni 107Die ägyptische Briefmarke / Egipetskaja marka 109EVGENIJ ZAMJATINDie Erzählungen 113Wir / My 116ISAAK EMMANUILOVITČ BABEL’Geschichten aus Odessa / Odesskie rasskazy 119Budjonnys Reiterarmee / Konarmija 121MICHAIL MICHAJLOVIČ ZOŠČENKOErzählungen 124LEONID LEONOVErzählungen und Povesti 127SERGEJ ESENINDas Moskau der Kneipen / Moskva kabackaja 133Die sowjetische Rußj / Rus’ sovetskaja 134DANIIL CHARMSElizaveta Bam / Elizaveta Bam 136IL’JA IL’F / EVGENIJ PETROVZwölf Stühle / Dvenadcat’ stul’ev 139ANDREJ PLATONOVUnterwegs nach Tschevengur / Čevengur 141Die Baugrube / Kotlovan 143VLADIMIR NABOKOVLushins Verteidigung / Zaščita Lužina 146Verzweifl ung / Otčajanie 149Einladung zur Enthauptung / Priglašenie na kazn’ 151MICHAIL ŠOLOCHOVDer stille Don / Tichij Don 154IVAN ALEKSEEVIČ BUNINLiebe und andere Unglücksfälle / Tëmnye allei 158

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JOSEPH BRODSKYDas lyrische Werk 160ALEKSANDR SOLŽENICYNMatrjonas Hof / Matrënin dvor 165Der Archipel GULAG 1918–1956. Versuch einer künst lerischen Bewältigung / Archipelag GULag 1918–1956. Opyt chudožestvennogo issledovanija 166MICHAIL BULGAKOVDas hündische Herz / Sobač’e serdce. Čudoviščnaja istorija 169Der Meister und Margarita / Master i Margarita 171ANDREJ BITOVDas erzählerische Werk 174Das Puschkinhaus / Puškinskij dom. Roman-muzej 176JURIJ TRIFONOVDer Tausch / Obmen 179VENEDIKT EROFEEVMoskau – Petuški. Ein Poem / Moskva – Petuški. Poėma 182VASILIJ ŠUKŠINDer rote Holunder / Kalina krasnaja 185VALENTIN RASPUTINAbschied von Matjora / Proščanie s Matëroj 187TAT’JANA TOLSTAJADas erzählerische Werk 190LJUDMILA PETRUŠEVSKAJADas erzählerische Werk 193VLADIMIR SOROKINDer Tag des Opritschniks / Den’ opričnika 197

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Die russische Literatur im 20. Jahrhundert

Matthias Freise

Ihre Geltung als eine der ganz großen Literaturen der Welt ver-dankt die russische Literatur nicht nur den Klassikern der Literatur

des 19. Jahrhunderts, deren höchste Blüte zur Zeit Puškins in Anleh-nung an den antiken, von Hesiod und Ovid geprägten Mythos als das Goldene Zeitalter bezeichnet wird. Auf diese Blüte folgte nämlich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert eine zweite »Phalanx« von russischen Schriftstellern weltliterarischen Ranges. Man nennt diese Zeit in Russland das Silberne Zeitalter. Die Abfolge der Metalle im Mythos suggeriert dabei die Vorstellung von einem Abstieg, aber es ist sehr die Frage, ob das Silberne Zeitalter der russischen Literatur eine »Schwundstufe« des Goldenen Zeitalters war. Vollzog sich doch in den vierzig Jahren von 1890 bis 1930 in Russland geradezu eine Explosion literarischer Möglichkeiten, Strömungen und Stile. Umso grausamer muss das gewaltsame Ende dieser kreativen Explosion erscheinen, die weitgehende Vernichtung der russischen Literatur durch Stalin.

Zwei der großen russischen Klassiker des 19. Jahrhunderts überleb-ten die Wende zum 20. Jahrhundert um ein paar Jahre: Anton Čechov starb 1904, Lev Tolstoj 1911. Wichtiger als der Generationswechsel war aber, dass im 20. Jahrhundert nicht mehr so geschrieben werden konnte wie zur Blütezeit des Realismus. Zwar hatte der Realismus überaus wirksame Mittel für die Verwandlung von Realität zu Sinn. Doch er ging am eigenen Erfolg zu Grunde. Der Zustrom von sozialer Realität in die Kunst wurde so gewaltig, dass sich der Realismus an ihr am Ende überfraß, d. h. hinter den thematischen Massen verschwand der konstruktive Charakter der fi ktiven literarischen Welt, und die realen Ereignisse und Probleme avancierten vom Material zum Ziel der Kunst. Man hatte verlernt, die ästhetische Funktion der Literatur wahrzunehmen, die wie für jede literarische Strömung auch für den

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Realismus entscheidend war, wollte die Literatur nicht zum Pro-pagandainstrument verkommen. Selbst Leo Tolstoj, der mit seinen Romanen doch die formale Beherrschung gigantischer thematischer Materialmassen demonstriert hatte, kapitulierte schließlich vor der ständig wachsenden Macht des thematischen Materials, indem er die ästhetische Funktion der Literatur für überfl üssig erklärte.

Das aber konnte nicht die angemessene Reaktion der Literatur sein – sie hätte sich ja selbst aufgehoben. Vielmehr galt es, der ästheti-schen Überforderung der Leser durch den Realismus gegenzusteuern. In den gewaltigen Materialmassen eines Romans die alles durchwal-tende Gestaltungskraft des Sinns wahrzunehmen, ist eine anspruchs-volle Aufgabe, zu der die Leser seit den 1830er Jahren, als Puškin und Gogol’ die moderne russische Prosa begründeten, mühsam erzogen worden waren. Die neuen Leserschichten, die der Realismus in der sich alphabetisierenden Gesellschaft Russlands rekrutierte, waren dazu nicht bereit und auch nicht in der Lage.

Prosa im frühen 20. Jahrhundert

Eine erste Reaktion der Autoren auf diese Lage war die Hinwendung zur kleinen Prosaform – die Erzählung brach die Vorherrschaft des Romans. Doch die Verkürzung des Textes reichte nicht. Um das Missverstehen der Literatur als »Abbildung der Wirklichkeit« zu verhindern, musste die Prosa auch eine neue Sprache finden, damit die konstruktiven Faktoren der Literatur wieder in den Vordergrund traten. Zum Vorbild hierfür wurde ein scheinbarer Erzrealist, der Prosaiker und Dramatiker Anton Čechov. Tatsächlich enthalten die anscheinend so realistischen Geschichten und Dramen Čechovs eine intensive Symbolsprache, die den symbolistischen Dichter Andrej Belyj begeisterte. Sie enthalten ebenso ein Spiel mit semantisch auf-geladenen Klangbildern und Klangwiederholungen, das den Avant-gardisten Majakovskij zu der Bemerkung hinriss, der nach gängiger Auffassung so melancholische Čechov sei in Wahrheit ein »fröhlicher Künstler des Wortes«. Die neue Prosasprache fanden nach Čechov und in Fortführung des čechovschen Programms allerdings Andere, und man kann sagen, dass durch sie Čechovs künstlerische Form, ganz

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abgesehen von ihrer internationalen Wirkung, bis in die sowjetische Prosa der 1970er Jahre nachhallte.

Wir können drei Spielarten der nach-čechovschen Prosa unter-scheiden. Da wäre als erste die poetische Prosa des unmittelbaren Čechov-Schülers Ivan Bunin. Bunin verpackt Lebensereignisse, deren außerordentliche Bedeutsamkeit sich dem Leser und oft auch dem Helden selbst erst über die Symbolsprache erschließt, in eine sug-gestive, weil durch die Sprachlaute instrumentierte und semantisch rhythmisierte »poetische« Sprache. Die Poetisierung ist bei Bunin in der Regel an die Erinnerung geknüpft , die das Leben in der Rückschau poetisch einfärbt. Dies gibt der Prosa Bunins ihre charakteristisch wehmütige Note. Ein scheinbar fl üchtiger Lebensmoment erweist sich in der Rückschau als ungeheuer bedeutungsschwer, als für den sich erinnernden Helden entscheidende psychische Prägung und als für den Leser unerwartet stark mit Bedeutung aufgeladen. Dieser Auf-ladung war in Čechovs Prosa nur ganz subtil angedeutet, bei Bunin wird sie alles beherrschend, so dass Čechov seinem jungen Freund und Schüler mit leichter Missbilligung bescheinigte, seine Erzählun-gen schmeckten wie »konzentrierte Boullion«. Wer einmal in England war und »Marmite« probiert hat, der weiß, dass das ein in seiner Inten-sität gewöhnungsbedürft iger Geschmack ist.

Als zweite Spielart der neuen Prosa kann die so genannte Orna-mentale Prosa gelten. Wie viele Bezeichnungen literarischer Richtun-gen und Epochen ist auch diese aus einer abwertenden Kritik hervor-gegangen. Die Kulturkommissare der jungen Sowjetunion konnten mit dieser Prosa nichts anfangen, sie erschien ihnen wie überfl üssige Spitzenklöpplerei. Doch diese Prosa ist hoch funktional. Die bilder-reiche Sprache Isaak Babel’s, Pil’njaks, aber auch des frühen Leonid Leonov und der Künstlergruppe »Serapionsbrüder« (in Anspielung auf E.T.A. Hoff mann) erschafft mithilfe einer suggestiven Symbolik und Metaphorik, verbunden mit einer gezielten Archaisierung des Settings – zum Beispiel werden Petersburger Mietshäuser zu eis-gepanzerten prähistorischen Wohnhöhlen – eine mythische Welt, die immer auch psychologisch motiviert ist. Die psychologische Motivierung verweist dabei auf das Unbewusste, das Archaische und Atavistische, das auch oder sogar gerade im modernen Menschen des

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20. Jahrhunderts steckt. Es handelt sich also nicht um im eigentlichen Sinne »mythische« Texte, sondern um die Gestaltung prärationaler Welten und Wahrnehmungen, durch die seelische Räume sichtbar werden.

Die Prosatexte werden »poetisch«, aber in einem anderen Sinne als bei Bunin. Die Sprache mit ihrem Duktus, mit ihren sprachlichen Verfahren, mit ihrer Sprach-Kunst drängt sich in den Vordergrund und verdrängt den Gegenstand der Rede. Klangwiederholungen, erschwerte Syntax, »sujetloses«, d. h. scheinbar ereignisloses Erzählen kennzeichnen diese Prosa. An die Stelle der Ereignisse, aus denen übli-cherweise ein Plot, eine Story besteht, tritt die beschreibende Funk-tion der Sprache, treten zyklische Geschehnisse oder Rituale. Dass das nicht langweilig wird, ist der Macht und Suggestivität der Sprache zu verdanken.

Die dritte Spielart der neuen Prosasprache konzentriert sich ganz auf die Subjektivität der Rede. Die so genannten Skaz-Erzähler, wie wir sie nun vor allem bei dem in der jungen Sowjetunion ungeheuer populären Michail Zoščenko fi nden, drängen mit ihrer individuellen Erzählweise das, wovon in ihrem Erzählen die Rede ist, ganz in den Hintergrund. Das Erzählen wird zur Physiognomie des Erzählers, zu seiner Charakterologie bis hin zur Selbstentblößung. Oft wird dieser Erzählstil in satirischer Funktion eingesetzt. Die Form seiner Rede entlarvt den Sprecher dann als Schwätzer, Gernegroß, Wichtigtuer oder Emporkömmling. Davon gab es nach den gesellschaft lichen Umbrüchen mehr als genug. Prototypisch ist dabei der Parteifunkti-onär oder Blockwart, der in seinen Versuchen, auf Versammlungen eine »erhabene« offi zielle Sprache zu sprechen, seine Unbildung und seinen Analphabetismus off enbart. Es versteht sich von selbst, dass diese Literatur den sowjetischen Kulturfunktionären ein Dorn im Auge war. Der Skaz wurde jedoch nicht immer in satirischer Funktion eingesetzt. Der junge Leonid Leonov hat mit seiner Hilfe durchaus sympathische Figuren gezeichnet, Figuren, die mit der neuen Welt, vor allem aber mit der neuen Sprache, dem Newspeak der Sowjets überhaupt nicht zurechtkamen. Leonov und auch Evgenij Zamjatin, der den »Serapionsbrüdern« eine Art Vaterfi gur war, konnten beides – Ornamentale Prosa und auch Skaz. Leonov aber war zugleich der

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wandlungsfähigste unter den Prosaikern des 20. Jahrhunderts, denn er konnte auch Sozialistischen Realismus. Doch dazu später.

Lyrik im frühen 20. Jahrhundert

Der Modernismus und damit das 20. Jahrhundert begann in der Dich-tung früher als in der Prosa. Modernistische Dichtung schwappte schon in den letzten zwei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts von Frank-reich nach Russland. Was war geschehen? Das Vergessen der ästheti-schen Funktion der Literatur im Realismus zwang die Schriftsteller in der Konsequenz zur kulturellen Entwertung der Alltagsrealität, und darum wandte sich die neue Schriftsteller-Generation der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts von der dem Alltag verbundenen realistischen Prosa ab und widmete sich ganz überwiegend der Lyrik, denn diese erschien ihnen als Garant eines Zugangs zu Sinn »aller sinnlosen Rea-lität zum Trotz«. Was machte die lyrische Form für die neue Schrift-stellergeneration so attraktiv? Zum einen konnte die Geformtheit der literarischen Rede wieder im Vordergrund stehen. Sie garantiert ja die Wahrnehmung der ästhetischen Funktion und damit die literari-sche Sinngenese. Zum anderen schien sich der Sinn, da er der Realität draußen nicht mehr anhaftete, wieder in das Schneckenhaus zurück-gezogen zu haben, aus dem er einst gekrochen war: in das Zeichen. Dadurch war die denotative, d. h. wirkliche Gegenstände in der Welt bezeichnende Funktion des Zeichens, sein »äußerer« Anschluss, dis-kreditiert, und die literarische Kunst zog sich auf ihre Essenz zurück: das Zeichen in ästhetischer Funktion. Daher rührt der vielfach als »weltfremd« und »elitär« kritisierte Ästhetizismus der modernisti-schen Dichter.

Diese Wende zur Moderne begründete das Silberne Zeitalter der russischen Literatur. Dieses Zeitalter erstreckt sich von den 1890er Jahren bis zum Ende der 1920er Jahre. Eine Besonderheit dieses Silber-nen Zeitalters ist das nahezu gleichzeitige Auft reten von drei einander ebenbürtigen und dabei doch grundsätzlich verschiedenen Strömun-gen – dem Symbolismus, der Avantgarde und des Akmeismus. Jede dieser Strömungen hat Schrift steller ersten Ranges hervorgebracht und jede hat auch eine lange Nachwirkung gehabt.

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Symbolismus

Die zunächst dominierende literarische Strömung der Epoche war der Symbolismus. In ihm war die Neigung zum Elitären und Vergeistig-ten besonders stark ausgeprägt – der Symbolismus war ästhetizistisch. Gemeinhin versteht man unter Ästhetizismus oder l’art pour l’art eine Haltung, die sich kennerhaft und genießerisch an der filigranen Spitz-findigkeit poetischer Texte delektiert und jene verachtet, denen sie nicht zugänglich ist. Für den Symbolismus aber war der Rückzug der Kunst auf die ästhetische Funktion notwendig. Er diente nicht etwa, wie Pierre Bourdieu sicherlich vermutet hätte, dazu, eine soziale Elite der Ästheten abzusondern. Die Symbolisten verstanden das Zeichen in ästhetischer Funktion vielmehr als Arche oder Rettungskapsel für Sinn in der Sintflut banaler Alltäglichkeit.

Dem »Realisten«, d. h. dem Leser, der im Kunstwerk nur »Als-ob-Wirklichkeit« wahrnimmt, bleibt die Zeichenhaft igkeit der Welt verborgen. Der Ursprung des Sinns im Wort und im Bild lag darum im Zeitalter des Realismus unter einer Masse banaler Realität begraben. Sinn musste aus dieser Masse gehoben, aus ihr mühsam gewonnen werden. Darum war jetzt das Deuten von Zeichen gefragt, und da fast alle für diese Zeichen blind geworden waren, war dieses Deuten zu einem elitären Anspruch geworden. Die Quelle literarischen Sinns musste zunächst einmal wieder freigelegt werden. Ein Weg dazu war der Rückgriff auf eine Zeit der heiligen Texte und der heiligen Zeichen, für die alles nur dadurch real war, dass es zeichenhaft war, auf eine archaische Zeit, in der die Macht der Zeichen höher eingeschätzt wurde als die Macht der Kausalität. Darum waren viele Symbolisten leidenschaft liche Philologen (Philologie als Liebe zu den Zeichen verstanden), insbesondere Altphilologen oder Kenner und Liebhaber archaischer Kulturen wie Vjačeslav Ivanov.

Der Rückzug der Symbolisten aus der sozialen Realität erklärt das große Interesse der Epoche für weltverneinende weltanschauliche Konzepte wie den Buddhismus. Ich entziehe mich der Realität, indem ich sie zur Täuschung, zum bloßen Schein erkläre. Damit dreht der Symbolist gegenüber der Realität, die ihn zu objektivieren droht, d. h. ihm zu einem Objekt innerhalb der realen Welt zu degradieren droht,

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den Spieß um. Sie ist ja bloßer Schein, Abglanz einer transzendenten, dem gemeinen Volk unzugänglichen göttlichen Welt. Als solche kann sie ihm nichts mehr anhaben, und er muss mit ihr nicht mehr kommunizieren, denn er kommuniziert vermittels der Zeichen direkt mit dem göttlichen Ursprung des Sinns. Damit ist der Rückzug aus der Realität keine Flucht, kein Sich-Verstecken. Vielmehr werden die Machtverhältnisse zwischen Realität und Ich umgekehrt. Die Macht-ergreifung des Ich gegenüber der Welt thematisiert der Symbolist Fjodor Sologub (1863–1927) in einem Gedicht wie folgt:

Ich bin der Gott einer geheimnisvollen Welt, Die ganze Welt ist nur in meinen Träumen …

Es ist leicht, sich über eine solche Haltung lustig zu machen. Der Symbolist kennt praktisch keine Außenseite, er ist ganz Innerlichkeit, die von außen betrachtet als ein merkwürdiges Getue erscheinen kann. Ein wenig hallt diese Möglichkeit, die symbolistischen Anwälte des Sinns zu parodieren, bis heute in den »Waldorfwitzen« nach. Die Anthroposophie und damit auch die Waldorfschulen sind nämlich ein direktes Produkt dieser Epoche, konserviert bis auf den heutigen Tag. Das liegt daran, dass einer der exponiertesten Dichter des Symbolis-mus, Andrej Belyj (Pseudonym für Boris Bugaev – wie »niedrig« und »alltäglich« klingt dieser Name, wie erhaben dagegen das Pseudonym, wörtlich »Der Weiße«!) mit dem Begründer der Anthroposophie, Rudolf Steiner, eng befreundet war. Wer wissen will, wie Symbolismus sich angefühlt hat, sollte sich unter Anthroposophen begeben. Und als wenn es einen in der Nase kitzelt, möchte man sie parodieren, doch das wäre unfair – in dunklen, sinnfernen Zeiten muss es Priester des Sinns geben, die den unsichtbaren Astralleib des Menschen wichtiger finden als seinen schweren, rohen, realen Leib.

Darum musste man als Symbolist elitär sein. So traf sich der innere Kreis der symbolistischen Dichter Mittwochabends mit gleichgesinn-ten Musikern, Malern und Philosophen in Petersburg im legendären »Turm«, dem runden »Eckzimmer« der Dachgeschosswohnung des Dichters Vjačeslav Ivanovič Ivanov. Die Anlehnung an den auch im Russischen sprichwörtlichen Elfenbeinturm war dabei durchaus

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gewollt. Allerdings einte diese Dichter- und Künstlerelite nicht eine Verachtung für das »gemeine Volk«. Vielmehr sah man sich als »Argo-nauten« – so der Name einer symbolistischen Künstlergruppe –, d. h. als Suchende nach dem verloren gegangenen legendären goldenen Widderfell, dem Goldenen Vlies, zu dem Jason mit seinen Argonauten der griechischen Sage nach einst aufgebrochen waren. »Das Goldene Vlies« war auch der Titel einer Zeitschrift , in der symbolistische Dich-ter und modernistische Maler ihre Werke veröff entlichten. Die Exem-plare dieser Zeitschrift , die zweimal im Jahr erschien, wahren opulent ausgestattete Buchkunstwerke auf kostbarem Papier, fi nanziert vom Moskauer Millionärssohn Nikolaj Rjabušinskij – die aufwändigste Zeitschrift aller Zeiten, die anfangs sogar gleichzeitig auf Russisch und Französisch erschien.

Doch was hieß es für die Symbolisten, »Argonauten« zu sein und in das ferne Land Kolchis aufzubrechen, um von dort das Goldene Vlies zu holen? Zunächst einmal bedeutete es, als eine verschworene Gemeinschaft Wagemutiger zu einem großen Abenteuer aufzubre-chen. Dann aber auch, wie Jason als rechtmäßiger Thronerbe – hier: der russischen Kultur – verdrängt worden zu sein und durch das Lösen der schier unlösbaren Aufgabe – hier: die Kultur aus ihren antiken und mittelalterlichen Wurzeln heraus zu erneuern – seinen Herrschaft san-spruch einzulösen; eine Hoff nung indes, die sich schon für Jason nicht erfüllt hatte. Drittens bedeutete es, mit dem Goldenen Vlies das einst von den Göttern gesandte Zeichen, mit anderen Worten: das Symbol aller Symbole wiederzuerlangen. Viertens schließlich leitet sich vom realistischen Ursprung der Sage vom Goldenen Vlies – der Nutzung von Schaff ellen, um Goldstaub aus den Flüssen zu fi ltern – die Auf-gabe des Kunstwerks ab, die im Fluss der Alltäglichkeit treibenden winzigen Goldkörner wahrer Poesie herauszufi ltern. Das Schaff ell steht in diesem Fall also nicht nur symbolisch, sondern zugleich meto-nymisch (stellvertretend) für das Kunstwerk.

Der Symbolismus war vor allem eine Blüte der Dichtkunst. Zugleich aber war man bestrebt, die Dichtung mit der Musik und der Kunst, ja mit dem Leben selbst zu einem Gesamtkunstwerk zu formen. Dazu gehörte, dass Farbadjektiven und Farbensymbolik in der Dichtung wichtig wurden. Noch wichtiger aber war der Klang der

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Wörter. Dichtung hatte durch ihren Klang zu wirken. Das bedeutete aber nicht bloßen Wohlklang. Die Sprachlaute hatten bedeutsam zu sein. Dies geschah im Symbolismus zunächst durch Reime und Klangwiederholungen, so genannte Assonanzen. Die Semantik der zusammenklingenden Wörter verbindet sich dabei assoziativ. Spä-ter, in der russischen Avantgarde, radikalisierte der Dichter Velimir Chlebnikov dieses Prinzip, indem er eine »Ursprache der Menschheit« entdeckte oder vielmehr schuf, bei der jeder einzelne Laut eine eigene spezifi sche Bedeutsamkeit trägt. Die Bedeutungen der Wörter setzen sich dann aus den Bedeutungen der sie bildenden Laute zusammen. Es versteht sich von selbst, dass diese »Ursprache« der Poesie nur das Russische sein konnte.

Aber auch Musik und visuelle Kunst verschmolzen. Der Kom-ponist und Synästhetiker Aleksandr Skrjabin komponierte 1910 ein Konzert für Orchester und Farbenklavier, d. h. für ein Klavier, das Farben projizierte statt Töne von sich zu geben. Für die Verbindung der Künste traf es sich im Übrigen gut, dass sich gleich unter Ivanovs Petersburger Turmzimmer Elizaveta Zvancevas Kunstakademie ein-quartiert hatte. Bei Zvanceva studierten die später als Mitbegründer der künstlerischen Avantgarde gefeierten Mstislav Dobuschinski und Elena Guro.

Auch das Leben selbst wurde zum Teil des modernistischen Gesamtkunstwerks gemacht. Dies bedeutete für die Symbolisten einerseits einen Panerotizismus – künstlerische und erotische Bezie-hung verschwammen, wechselnde Dreier- und Viererbeziehungen waren eher die Regel als die Ausnahme. Andererseits führte es zu einer mystischen Überhöhung der Frau als Muse und Heilige. Der symbo-listische Dichter Aleksandr Blok überhöhte seine Geliebte und spätere Frau, die Tochter des berühmten Petersburger Genetikers Mendeleev, in seinem Poetischen Tagebuch und off enbar auch in ihren Begegnun-gen derart zur Göttin, dass sie ihm irgendwann zu verstehen gab, sie sei übrigens auch eine ganz normale Frau mit ganz normalen Bedürf-nissen.

Aus dem fi ligranem Meeresschaum der symbolistischen Dichtung ragt als schwarzer Fels der Romanprosa »Peterburg« des Dichters Andrej Belyj heraus. Hier ist nicht der Ort, um auf einzelne Werke

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einzugehen. Es sei aber erwähnt, dass Vladimir Nabokov, in einem späten Interview nach »den größten Werken des 20. Jahrhunderts« gefragt, neben den üblichen Verdächtigen (Proust, Joyce, Kafk a) nur ein russisches Werk nennt – eben jenen Petersburg-Roman, dem es gelingt, das Wechselspiel poetischer Bilder so mit der Konstruktion einer Handlung zu verweben, dass ein mit poetischer Energie zum Bersten geladener Roman entsteht. Dies gelang, so Nabokov, vor Belyj nur Puschkin mit seinem Versroman Evgenij Onegin. Und wie dieser greift auch Belyjs Roman mit seiner realistischen Story, seinem sym-bolistischen Setting und seiner avantgardistische Komposition über seine Epoche hinaus.

Der Symbolismus ist in der Literatur gar nicht in erster Linie durch die massenhaft e Verwendung von Symbolen geprägt. Seine Grundprinzipien sind vielmehr einerseits ein fundamentaler Seins-Dualismus und andererseits die neoplatonische Vorstellung von einer Sphäre des göttlichen Lichtes absoluten Sinns, die für uns uner-reichbar ist und von der zu uns nur ein schwacher Abglanz dringt. In Verbindung mit dem genannten Dualismus führt das dazu, dass wir durch eine Art Panzerglas-Kuppel vom Göttlichen getrennt sind. Wir können den Sinn sehen oder wenigstens erahnen, doch unser Aufstieg dorthin muss an der Glaskuppel unserer irdischen Sphäre abprallen. Symptomatisch hierfür ist Konstantin Bal’monts Gedicht »Unterwasserpfl anzen«. Im Dämmerlicht tief unter Wasser streben die Wasserpfl anzen nach oben, zum Licht, doch die Wasseroberfl äche ist unendlich fern für die blassen Triebe. Die Dichtung des Symbolis-mus ist auch oft mals »hermetisch«, d. h. in einer »Zwiesprache mit dem Göttlichen« abgefasst, die normalen Sterblichen unzugänglich ist. Das ist keine Spinnerei, sondern der verzweifelte Versuch, Sinn, dessen der Künstler ansichtig wird, der eigentlich für die Banalitäten des Alltags geschaff enen Sprache zum Trotz doch irgendwie zu artikulieren.

Avantgarde

Die Avantgarde ist die international wohl bekannteste literarische Strömung im Russland dieser Zeit. Das liegt auch daran, dass sie sich eng mit der Avantgarde in der Malerei verbündet hat. Einige avant-

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gardistische Dichter waren auch Maler, wie die Brüder Burljuk, die bei einem Besuch in Paris Picassos »Demoiselles d’Avingnon«, ein Schlüsselwerk der Avantgardemalerei sahen und sofort alle Freunde zusammentrommelten, um in einer Kunstorgie massenhaft avantgar-distische Malerei und auch Dichtung produzierten.

Die Avantgarde brachte gegen den Geist der Körper in Stellung, gegen die Seelenschau das leibhaft ige Schauen, Hören und Tasten, gegen die seelischen die handfesten körperlichen Bedürfnisse und gegen die Astralleiber der symbolistischen Esoterik den realen, pral-len, drohenden oder verführerischen menschliche Leib. Kein Wunder, dass Malerei und Bildhauerei zu den führenden Künsten der Avant-garde wurden. Nicht mehr der Geist, sondern das Ding galt nun als Ursprung des Sinns. Sinn entsteht unmittelbar aus sinnlicher Erfah-rung, aus der Konfrontation mit der dinglichen Welt. Diese Konfron-tation geschieht vor allem bei körperlicher Arbeit, und damit war das Proletariat »am nächsten dran« am Sinn. Die Symbolisten waren mit ihrem Elitarismus und mit ihrer Flucht vor der dinglichen Welt nun plötzlich am weitesten weg vom Sinn.

Damit hängt das Ideal der Avantgardisten einer »sinnlichen Unmittelbarkeit« zusammen, die in der Literatur durch den Klang der Worte gegeben ist. Dieser Wortklang soll vollkommen ungefi ltert in uns eindringen und darum unmittelbar auf uns wirken. Zugleich überfällt uns die Avantgardedichtung mit einer Flut von kühnsten Metaphern und Metonymien. Niemand konstruierte diese so gekonnt wie Vladimir Majakovskij. Diese poetischen Verfahren waren nicht einfach gut funktionierende literarische Tricks. Metaphern und Met-onymien reißen die Wörter semantisch aus ihrer Mitte, dezentrieren sie und verändern (»verfremden«) damit unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit. Darauf berief sich auch die von den Literaturwissen-schaft lern der Zehner und Zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts ent-wickelte Theorie der »Verfremdung der Wirklichkeit durch die Kunst«. Diese Theorie geht von dem wahrnehmungspsychologisch gesicher-ten und aus alltäglicher Erfahrung bekannten Eff ekt aus, dass unser Bewusstsein sich stets wiederholende oder andauernde Sinneswahr-nehmungen als »irrelevant« hinausfi ltert. So kommt, wenn man neben einer Kirche mit Turmuhr wohnt, das viertelstündige Schlagen der

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Uhr nach einer Woche nicht mehr im Bewusstsein an. Anfangs bekam man kein Auge zu, doch nun ist es weg, man weiß nicht mehr, wie spät es ist. Nach Šklovskij, dem wichtigsten Vertreter dieser literaturwis-senschaft lichen Schule, »frisst« dieser »Automatisierung« genannte Eff ekt nicht nur das Läuten der Turmuhr, sondern auch die Möbel, das Zimmer und schließlich auch die eigene Frau. Es ist nun die vornehme Aufgabe der Kunst, uns die uns auf diese Weise fortwährend abhan-den kommende Wirklichkeit zurückzugeben. Dies leistet sie durch eine abweichende Darstellung der Wirklichkeit, durch die wir diese »wie zum ersten Mal« wahrnehmen können. Die Sprache, die Dinge der Wirklichkeit und vor allem die literarischen Verfahren selbst wer-den »verfremdet«, damit sie wieder erlebt werden und damit letztere wieder die Wirkung entfalten können, die sie durch Gewöhnung ver-loren haben.

Indem der Avantgardist den Sinn aus dem Geist in den Körper des Menschen verlegt, solidarisiert er sich nicht nur mit dem Proleta-riat, er macht den Menschen zugleich zum Ding unter Dingen. Das wertet den Menschen nicht etwa ab, sondern adelt umgekehrt seine leibliche Dimension. Der menschliche Körper wird von einer geisti-gen Einheit zur Summe seiner Körperteile, was einer Zerstückelung gleichkommt. Der Literaturwissenschaft ler Igor’ Smirnov wertet dies als Beleg für eine sadistische Grundtendenz der Avantgarde (Sado-avangard, 1991). Doch wenn man vom Ding und nicht vom Geist ausgeht, dann stehen die Dinge auf gegen die Macht des Geistes und seine ordnende Perspektive, sie geraten in Bewegung, fragmentieren sich, multiplizieren sich.

Den Sturz des Symbolismus inszenierten die Futuristen, die bekannteste Gruppe der russischen Avantgarde, in einem kollektiven Gesamtkunstwerk. Für die Oper Der Sieg über die Sonne schrieb Aleksandr Kručënych das Libretto, Velimir Chlebnikov den Pro-log, Kazimir Malevič schuf Bühnenbild und Kostüme und Michail Matjušin die Musik. Die Sonne wird vom Himmel auf die Erde geholt und gefangengenommen. Ihre Herrschaft ist nicht mehr nötig, denn »das Licht ist in uns«. Der Künstler »befreit« die Dinge zu ihrer »autonomen« Existenz. Dies gilt auch für die Sprache. Sie wird aus ihrer Dienststellung für die Wirklichkeit befreit. die Worte dienen

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nicht mehr den Gegenständen oder Sachverhalten, auf die sie »ver-weisen«. Sie verweisen nur noch auf sich selbst. Darum sprechen die Avantgardisten vom »selbstwertigen Wort« (samovitoe slovo). Der avantgardistische Dichter ist dann der Ingenieur und Manipulator der »freigelassenen« Worte, seine kühnen Wort-Konstruktionen erstaunen und schockieren das Publikum nicht nur, sondern verän-dern, manipulieren es. Der Avantgardist ist der Schamane, der die Welt durch Wortmagie, durch Zaubersprüche beherrscht. Ein solcher moderner Wort-Schamane war Velimir (wörtlich: »Befehle der Welt!«) Chlebnikov. Er hat ein ganzes System der Weltherrschaft durch Worte entwickelt. Benedikt Lifšic, der Chronist der frühen Avantgardebewe-gung, beschreibt die Texte Chlebnikovs: »die Gesetze der Schwerkraft waren nicht mehr gültig. Die Worte wurden lebendig wie außer Rand und Band geratene Gebirgsmassen. Die seit archaischen Zeiten in den Wörtern schlummernde Bedeutungsenergie wurde freigesetzt wie bei einer gewaltigen Explosion. Alle meine sprachlichen Gewohnhei-ten waren in Frage gestellt. Mich ergriff nicht das Gefühl sprachlicher Freiheit, sondern blankes Entsetzen«. Die Spezialität Chlebnikovs– wie auch die der Brüder Burljuk – war die »transrationale Sprache«, die jenseits aller in Wörterbüchern verzeichneter Wörter Lautkombinati-onen produzierten, die ganze Wirbelstürme sprachlicher Assoziatio-nen in Gang setzen.

Akmeismus

Die dritte Strömung des »Silbernen Zeitalters« war der Akmeismus. Literaturhistoriker haben größte Schwierigkeiten, diese durch die Dichter Osip Mandel’štam, Nikolaj Gumilëv und Anna Achmatova prominent repräsentierte Strömung einzuordnen. War es ein Neo-klassizismus, weil sich diese Dichter massiv auf die Antike und auf Puschkins Goldenes Zeitalter bezogen? Doch weder Mandel’štams hoch artifizielle Metaphorik, noch Achmatovas betont gesprächshafte Alltagslexik, noch auch Gumilevs Exotik passen in dieses Schema. In ihren programmatischen Texten betonen die Akmeisten, ähnlich wie die Avantgardisten, das Handwerk des Dichters und die Beschäf-tigung mit der Materialität der Wirklichkeit. Doch sie propagieren

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nicht deren Zerstückelung, sondern im Gegenteil die filigrane Archi-tektonik von Kathedralen und Palmenhäusern, nicht die Wirkung auf den Zuhörer, sondern das Ergreifen des Moments der vollkomme-nen Reife und Erfüllung der Wirklichkeit, der im Griechischen mit dem Wort »Akme« bezeichnet wird. Doch wie kommt es zu diesem Moment? Man kann ihn ja nicht herbeiführen, nicht erzwingen. Mandel’štam versucht zu beschreiben, was in solch einem Moment geschieht. Die Materie selbst spricht zu uns wie ein vom Berg herab-polternder Stein. Es kommt nicht darauf an, ob dieser Stein geworfen wurde oder ob er sich von selbst gelöst hat. Entscheidend ist, wie wir auf seine Stimme reagieren: »Die Akmeisten heben mit Ehrfurcht den geheimnisvollen Stein […] auf und machen ihn zum Grundstein ihres Gebäudes. Als würde der Stein sich nach einem anderen Stein sehnen […], als ob er darum gebeten hätte, ein Teil des ›Kreuzgewölbes‹ zu werden, um an der fröhlichen Wechselwirkung mit seinesgleichen teilzunehmen.« (aus: Der Morgen des Akmeismus)

Der akmeistische Dichter antwortet der Materie, er steht im Dialog mit ihr. Er erlauscht ihre Stimme. Marina Cvetaeva, die dem Akmeismus nahestand und ihm eine stark expressionistische Note gegeben hat, schreibt: »Das Schaff en ist eine Antwort […] nicht auf einen Stoß, sondern auf das Zittern in der Luft – eines Dinges, das sich noch nicht bewegt hat.« Mit anderen Worten: die Erscheinung erscheint erst durch die Antwort. Erst indem wir mit Architekto-nik auf die Steine reagieren, fangen die Steine an zu sprechen. Im »Kreuzgewölbe« kreuzen sich nicht nur die Linien der Statik, sondern vor allen die Stimmen der Dialogpartner. Dies gilt nicht nur für die Materie. Zutiefst dialogisch ist die Haltung des Akmeismus auch zum anderen Ich, wie die kolloquiale Ansprache des Du in den Gedichten Achmatovas zeigt. Auch zum Fremden ist die Haltung dialogisch. Das Fremde ist bei Gumilëv nicht einfach exotisch, sondern immer zugleich Teil meiner selbst. Vor allem aber ist die Haltung zur (kul-turellen) Vergangenheit dialogisch. Puškin, Dante, Vergil sind für Mandel’štam weder Vorbilder wie sie es für Neoklassizisten wären, noch werden sie »vom Sockel gestürzt« wie durch die Avantgardisten. Sie sind Gesprächspartner, und zwar grundsätzlich auf Augenhöhe. So spricht Mandel’štam von der »Flaschenpost« früherer Dichter, auf die

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er antwortet, auch wenn er die Flasche eines Gedichts aus dem »Goldenen Zeitalter« zufällig am Strand gefunden hat.

Mandel’štam ist wohl der komplexeste Dichter der Literaturge-schichte, weil seine Dichtung mit dieser gesamten Geschichte im Dialog steht. Der amerikanische Literaturpapst Harold Bloom, der im monumentalen Versuch, seine Liste der besten Bücher aller Zeiten zu begründen (The Western Canon) die gesamte russische Literatur außer Tolstoj ignoriert hat, bekannte mir in einer Mail, der einzige Grund, warum er bedauere, dass seine Eltern ihm nach ihrer Flucht aus Odessa aus Hass auf den Kommunismus ihre ehemalige Mutter-sprache Russisch verweigert hätten, sei, dass er die Dichtung Osip Mandel’štams nicht im Original lesen könne.

Sozialistischer Realismus

Auf das Silberne Zeitalter folgte die düsterste Zeit der Russischen Literatur. Nach der zwangsweisen Vereinheitlichung und Verstaat-lichung des Literaturbetriebs in der Sowjetunion – wer nicht im Staatlichen Schriftstellerverband war, durfte keine Zeile publizieren – wurde auf dem Ersten Schriftstellerkongress die Doktrin des »Sozi-alistischen Realismus« verkündet: Parteilichkeit, Volkstümlichkeit, (ideologisch gefilterte) Widerspiegelung der Wirklichkeit, eindeutig positive Heldenfiguren, Idealisierung des Kampfes für eine bessere Zukunft (revolutionäre Romantik) sowie Darstellung des »Typi-schen« wurden verbindlich. Dazu kam der Zwang zur Normalisierung der Literatursprache, d. h. ein Verbot all der sprachlichen Experimente und poetischen Verfahren, die die Prosa und auch die Dichtung des Silbernen Zeitalters auszeichneten. Einige Schriftsteller wie Leonid Leonov vermochten sich an diese Regeln anzupassen. So überarbei-tete Leonov seine früheren, noch »ornamentalen« Romane nachträg-lich massiv, so dass »neue« Auflagen von ihnen in angepasster Form erscheinen konnten.

Es sollte eine neue, sowjetische Literatur entstehen, und sie ent-stand auf sehr sowjetische Art und Weise. Nach neuesten Forschun-gen des israelischen Wissenschaft lers Bar-Sella war der sowjetische Schrift steller Michail Šolochov, Autor des einzigen weltliterarisch

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bedeutenden Werkes des Sozialistischen Realismus und Nobelpreis-träger von 1965, nicht nur ein gefügiges Werkzeug in den Händen des sowjetischen Geheimdienstes. Darüber hinaus hat er auch kein einzi-ges der Werke selbst geschrieben, für die er berühmt wurde. Das hin-terlassene Manuskript eines im Bürgerkrieg von den »Roten« erschos-senen Kosaken bildete die Grundlage für zwei Drittel von Šolochovs »Durchbruchswerk« Der stille Don, an dem dann talentiertere Ghost-writer für ihn weiterschrieben. Šolochovs zweiter großer Roman, Neuland unterm Pfl ug, ist mit großer Wahrscheinlichkeit ebenfalls eine Gemeinschaft sproduktion unter der Regie des Geheimdienstes. Man muss sagen, dass diese Romane, anders als die des ebenfalls offi -ziell gefeierten und in millionenfacher Aufl age gedruckten Nikolaj Ostrovskij, von hoher literarischer Qualität sind. Der »Nobelpreis für den sowjetischen Geheimdienst« war berechtigt.

Parallel zur »Schaff ung« der Sowjetliteratur lief die Vernichtung der Generation des Silbernen Zeitalters durch den stalinistischen Terror der 1930er und 1940er Jahre. Bei manchem der auff ällig häufi gen Schrift steller-Selbstmorde wird diskutiert, ob sie dem System geschul-det oder doch »privater« Natur waren, doch Verhaft ung, Erschießung, Tod im sibirischen Lager – das sind eindeutige Fälle. Wenige überleb-ten diese düstere Zeit – Zoščenko, Achmatova und Pasternak wurden zwar schweren Repressionen ausgesetzt, man wagte aber aufgrund ihrer großen Popularität nicht, sie einzusperren oder zu ermorden.

Diese Kulturpolitik oder man müsste eher sagen Antikulturpolitik hatte vier Konsequenzen. Erstens entstand eine reiche Exilliteratur derjenigen, die es schafft en, vor dem Terror ins Ausland zu fl iehen. Allerdings ist das Exil für einen Schrift steller, der auf den Kontakt mit der lebendigen Sprache angewiesen ist, eine sehr problematische Situation. Zweitens entstanden Exilverlage, die Bücher, die in Russ-land nicht erscheinen konnten, im Ausland druckten. So publizierte Andrej Sinjavskij einige dem sozialistischen Realismus nicht kon-forme Romane und Essays im Ausland unter dem Pseudonym Abram Terc. Das fl og auf, und er wurde zu zehn Jahren Arbeitslager verurteilt. Drittens entstand in Russland eine Untergrundliteratur der heimlich abgetippten oder gar auswendiggelernten verbotenen Bücher. Das erschütterndste dieser Werke war Anna Achmatovas Requiem,

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in dem die Dichterin ihr Warten auf ein Lebenszeichen von ihrem Sohn, gemeinsam mit anderen Müttern, vor dem Tor des Kresti- (Kreuze!) Gefängnisses in Leningrad zur Leidensgeschichte des russischen Volkes überhöht. In den 1970er Jahren war es für die nonkonformistische und aufmüpfi ge Großstadtjugend Leningrads Pfl ichtprogramm, an der Neva entlang vor dem Kresti-Gefängnis vor-bei zu spazieren und dabei Achmatovas Requiem zu rezitieren.

Viertens schließlich erwählten sich die jungen Sowjetbürger gegen den verordneten, aber langweiligen Sozialistischen Realismus Kultbücher, aus denen sie bei jeder (inoffi ziellen) Gelegenheit zitier-ten. Kultbuch Nr. 1 war »Der Meister und Margarita« von Michail Bulgakov. International noch bekannter wurde das andere Kultbuch, Pasternaks Doktor Živago, dessen Erstpublikation nicht in Russland, sondern in Italien wohl das letzte literarische Ereignis von weltpo-litischer Bedeutung war. So wie nach dem Tod Johannes Pauls II auf dem Petersplatz »santo subito« skandiert wurde, so hatte damals jeder das Wort »Nobelpreis sofort« auf den Lippen. Pasternak, durch seine Popularität geschützt, aber nicht unverwundbar, sah sich gezwungen, auf den ihm zugesprochenen »bourgeoisen« Literaturpreis zu verzich-ten. Die Hollywood-Verfi lmung von Doktor Živago brach weltweit alle Zuschauerrekorde. Was machte die Bücher von Bulgakov und Pasternak so populär? Beiden Autoren gelang es, die Balance zu halten zwischen Verständnis und Kritik. Die kulturelle Schizophenie der Sowjetgesellschaft , die George Orwell in »1984« treff end als »Zwieden-ken« bezeichnet hat, d. h. der Zwang, sich ständig simultan in einem offi ziellen und in einem inoffi ziellen Diskurs zu bewegen, war hier gestaltet, und mit dieser Gestaltung konnten sich Millionen Sowjet-bürger identifi zieren.

Späte Sowjetliteratur und Postmoderne

Nach Stalins Tod erwachte die russische Literatur langsam aus ihrer Totenstarre und gelangte mit der Generation der 1960er (Šestidesjatniki) zu neuer Blüte. Wenn es eines Beweises bedürfte, dass die Literatur nicht aus »Reaktionen« auf soziale oder politische Verhältnisse besteht, sondern ihrer eigenen kulturellen Gesetz-

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mäßigkeit folgt, dann kann man ihn darin sehen, dass nun alles wieder hochkam, was der politische Terror und der Weltkrieg in den Hinter-grund gedrängt hatten. Die Prosaiker und Dramatiker knüpften an die Klassiker des Realismus, vor allem aber an Čechov an. Dies wird sti-listisch sowohl in der Stadtprosa (Jurij Trifonov) als auch in der Dorf-prosa (Valentin Rasputin) der Šestidesjatniki deutlich, aber es zeigt sich auch thematisch in der »Literatur des Moralischen Experiments« (Vladimir Tendrjakov, Boris Vasil’ev), in der moralische Konfliktsitu-ationen des Menschen herauspräpariert werden. Der Skaz erlebte in der Prosa Vasilij Šukšins seine Auferstehung. Die Versdichtung erlebte ähnlich wie im Westen eine experimentelle »Neoavantgarde«. Vor allem aber zeigte die Dichtung Josif Brodskijs (Nobelpreis 1987), dass sich der Akmeismus Osip Mandel’štams und Anna Achmatovas, die in den 1960er Jahren eine späte internationale Anerkennung erfuhr, noch nicht erschöpft hatte. Selbst die seltsam verfremdeten Welten Jurij Olešas aus den 1920er Jahren feierten in der frühen Prosa Andrej Bitovs ihre Auferstehung.

Was bis Mitte der 1980er Jahre folgte, wird zumeist als »Stagna-tion« (zastoj) bezeichnet. Die sowjetische Ideologie und die Kritik an ihr, letztere verkörpert in den monumentalen »Anklageschrift en« Solženicyns (Nobelpreis 1970) Der Archipel Gulag und Das rote Rad, bekämpft en einander. Die Buchmanuskripte vieler Autoren blieben in den Schubladen. Als sie mit Gorbačevs »Perestroika« mit Verzöge-rung erscheinen konnten, blickte man mit Staunen auf eine Literatur der 1970er und 1980er Jahre, die inzwischen das Attribut »Klassiker der Postmoderne« erworben hat – die späteren Romane Bitovs, das Poem Moskva-Petuški von Venedikt Erofeev, die Romane von Mark Charitonov sowie die frühen Werke Vladimir Sorokins. Und erneut gilt das Primat des Literarischen: die Perestroika, der Zusammenbruch der Sowjetunion und die Restauration der Putin-Zeit konnten diese Postmoderne weder schaff en noch prägen, sie wirkten sich lediglich auf ihre Publikationsbedingungen aus. Nach Erofeevs frühem Tod bildete der deutlich jüngere Viktor Pelevin mit Bitov und Sorokin das Dreigestirn der russischen Postmoderne.

Was ist eigentlich die Literatur der Postmoderne? Erstens wandte sich die Postmoderne vom Dogma der Neuheit und Innovation

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ab, das das 20. Jahrhundert zuvor geprägt hatte. An seine Stelle trat die Kombinatorik von Versatzstücken. Mit Klischee, Ideologie und Populär kultur, die zuvor streng gemieden wurden, wurde nun lustvoll gespielt. Erzähllabyrinthe ohne Ein- und Ausgang, mit paradoxen Schleifen fi guren, verwirren die Leser. Die »Kultur«, zuvor als Mot-tenkiste in die Rumpelkammer verbannt, wird zum, »Erhabenen« der neuen Zeit. Während in anderen Ländern wie zum Beispiel in Deutschland fraglich ist, ob es überhaupt eine Postmoderne gegeben hat, hat Russland eine sehr ausgeprägte Postmoderne hervorge-bracht, in der literarischen Praxis wie auch in der Theorie. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass die neue Zeit in Russland in besonders kras-ser Weise als postideologisch erlebt wurde. Der Zusammenbruch der Sowjetideologie hinterließ Tonnen von ideologischem Müll – imma-teriellen und auch materiellen wie Leninbüsten, Fähnchen, Orden und dergleichen. Schutthalden waren immer schon die schönsten Spielplätze, und so wühlte, spielte und bastelte eine ganze Generation russischer Schrift steller und übrigens auch bildender und Action-Künstler auf der postsowjetischen Schutthalde. Auch auf die ukraini-sche Literatur hat diese Hinterlassenschaft der Sowjetunion äußerst anregend gewirkt.

Damit endete das 20. Jahrhundert für die russische Literatur so ful-minant wie es begonnen hatte. Vielleicht wird man die russische Post-moderne einst als das »Bronzene Zeitalter« bezeichnen. Im 21. Jahrhun-dert ist bislang eine ungute Tendenz zu erkennen, die Beschäft igung mit Literatur aus Schule und Hochschule zurückzudrängen. Die Lite-ratur selbst scheint sich von der Postmoderne zu verabschieden – die zuletzt bekanntesten und meistgelesenen Autoren der russischspra-chigen Literatur – denn die Literatur in russischer Sprache gedeiht in letzter Zeit vor allem jenseits der Staatsgrenzen – sind entweder dem Dokumentarischen verpfl ichtet, operieren also an der Grenze zum Journalismus (Michail Šiškin, lebt in der Schweiz; Svetlana Aleksievič, lebt in Weißrussland, Elena Stjažkina, aus Donezk/Ukraine), oder sie schreiben Krimis wie der sehr populäre, aus Georgien stammende Boris Akunin.