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48 Weltwoche Nr. 44.15 Am 19. September 1946 befand sich Zürich im Ausnahmezustand: Tausende säumten die Strassen, lehnten sich aus den Fenstern; überall Blumen, winkende Hände, lachende Gesichter. Der Jubel galt einem Mann, der in seiner Hei- mat abgewählt worden war und vielen bereits als Gestalt von gestern erschien: Winston Spen- cer Churchill, Britanniens konservativer Kriegs- premier und Held des bewaffneten Widerstands gegen Adolf Hitler. Der Besuch ging in die Annalen ein, Churchills Rede in der Aula der Zürcher Uni- versität, in der er zur Versöhnung zwischen den Erbfeinden Deutschland und Frankreich aufrief und die Gründung einer «Art Vereinig- ter Staaten von Europa» anregte, wurde zu ei- nem rhetorischen Meilenstein der Nachkriegs- zeit und des Aufbruchs in eine friedlichere Zukunft. Bei seinem insgesamt vierwöchigen Aufenthalt in der Romandie und der Deutsch- schweiz wurde Churchill von städtischen und kantonalen Behörden sowie ranghohen Ver- tretern des Internationalen Roten Kreuzes und auch vom Gesamtbundesrat empfangen. Doch das offizielle Programm war nur ein Teil seiner Mission. Churchill war auch des- halb in die Schweiz und nach Zürich gereist, weil er dort einen innovativen Unternehmer treffen wollte: Willy Sax aus Dietikon. Getrie- ben war er dabei von seiner grossen Leiden- schaft: dem Malen. Der Staatsmann und histo- rische Schriftsteller war nämlich auch ein talentierter Künstler, der praktisch jede freie Minute vor seiner Staffelei verbrachte, und er schwor auf die Farben, die Sax in seiner Fabrik in Urdorf herstellte. Um diesen zu sehen, ver- schob er sogar den Rückflug nach London. Eigentlich hätte das Treffen am Nachmittag des 19. September in der Papeterie der Gebrü- der Scholl an der Poststrasse 3 in Zürich statt- finden sollen (heute ist dort der Gucci-Store untergebracht). Die Firma Scholl vertrieb die Sax-Farben im Raum Zürich, und Churchill wollte sich die Ware vor Ort vom Hersteller persönlich zeigen lassen. Doch er wich kurz- fristig vom geplanten Ablauf ab, ermüdet und erschöpft — denn bis in die Morgenstunden hatte er an seiner Zürcher Rede gefeilt. Zur Er- holung zog er sich ins Hotel «Dolder» zurück, dort belegte er mit seiner Entourage, darunter seine jüngste Tochter Mary, einige Zimmer. Nachdem er ein erfrischendes Bad genom- men hatte, liess Churchill Sax telefonisch zu sich rufen. Dieser eilte in einer rasenden Taxi- fahrt den Zürichberg hinauf. Empfangen wurde er im Hotelzimmer, man unterhielt sich auf Französisch. Schliesslich kramte Churchill drei leere Farbtuben hervor: «Glau- ben Sie, mir diese drei Farbtöne beschaffen zu können, Monsieur Sax?» Er habe sie überall vergebens gesucht – halb Europa lag nach dem Krieg in Trümmern, die Schweiz war ver- gleichsweise glimpflich davongekommen. «Sie sollen die Farben in drei Wochen in Eng- land haben», antwortete Sax. Über Churchills Gesicht huschte ein Lächeln: «Sie sind ein guter Mann. Ich wusste, dass ich mich auf Sie verlassen kann.» Schon am nächsten Vormittag traf man sich ein zweites Mal, Churchill wollte die verpasste Demonstration in der Papeterie Scholl unbe- dingt nachholen. Am Ende liess er sich Mal- gegenstände im Wert von 150 Franken ein- packen und bestand darauf, «personally cash» zu bezahlen. Bevor er den Laden verliess, wandte er sich noch einmal an Sax und lud die- sen ein, ihn doch einmal in Chartwell zu besu- chen, seinem Landsitz in der Grafschaft Kent. Hinter den Kulissen der grossen Politik Es war der Beginn einer dauerhaften Ge- schäftsbeziehung und einer aussergewöhn- lichen Freundschaft. Sax besuchte Churchill in den folgenden Jahren regelmässig, in Chart- well, aber auch in dessen Stadthaus am Londo- ner Hyde Park Gate; und an der französischen Riviera verbrachten sie gemeinsame Mal- ferien. Hinzu kam eine rege Korrespondenz, die unzählige Briefe, Telegramme, Karten und Telefongespräche umfasst. An dieser Stelle ist es vielleicht angebracht, dass der Autor kurz seinen Kopf durch die Tapete steckt: Ich habe diesen historischen Schatz im Privatarchiv der Familie Sax ent- deckt. Zunächst ist daraus ein Zeitungsartikel entstanden (Weltwoche Nr. 20/14). Doch das Material liess mich nicht mehr los: die Briefe mit Churchills handgeschriebener Signatur, die Stempel des prime minister’s office in der Downing Street, die minutiösen Erinnerun- gen von Willy Sax – und nicht zuletzt die Ge- mälde des malenden Premierministers. Dazu Churchills Schweiz-Liebe Den britischen Kriegspremier beeindruckten die bewaffnete Neutralität, das Réduit und die Unabhängigkeit der Schweiz. Als begeisterter Maler pflegte er aber auch Beziehungen zu Schweizer Künstlern und zum Farbenfabrikanten Willy Sax. Von Philipp Gut Nachdem er ein erfrischendes Bad genommen hatte, liess Churchill Sax telefonisch zu sich rufen. «Sie sollen die Farben in drei Wochen in England haben»:

Churchills Schweiz-Liebe - sax.ch · lichen Freundschaft. Sax besuchte Churchill in den folgenden Jahren regelmässig, in Chart - well, aber auch in dessen Stadthaus am Londo -

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48 Weltwoche Nr. 44.15

Am 19. September 1946 befand sich Zürich im Ausnahmezustand: Tausende säumten die Strassen, lehnten sich aus den Fenstern; überall Blumen, winkende Hände, lachende Gesichter. Der Jubel galt einem Mann, der in seiner Hei-mat abgewählt worden war und vielen bereits als Gestalt von gestern erschien: Winston Spen-cer Churchill, Britanniens konservativer Kriegs-premier und Held des bewaffneten Widerstands gegen Adolf Hitler.

Der Besuch ging in die Annalen ein, Churchills Rede in der Aula der Zürcher Uni-versität, in der er zur Versöhnung zwischen den Erbfeinden Deutschland und Frankreich aufrief und die Gründung einer «Art Vereinig-ter Staaten von Europa» anregte, wurde zu ei-nem rhetorischen Meilenstein der Nachkriegs-zeit und des Aufbruchs in eine friedlichere Zukunft. Bei seinem insgesamt vierwöchigen

Aufenthalt in der Romandie und der Deutsch-schweiz wurde Churchill von städtischen und kantonalen Behörden sowie ranghohen Ver-tretern des Internationalen Roten Kreuzes und auch vom Gesamtbundesrat empfangen.

Doch das offizielle Programm war nur ein Teil seiner Mission. Churchill war auch des-halb in die Schweiz und nach Zürich gereist, weil er dort einen innovativen Unternehmer treffen wollte: Willy Sax aus Dietikon. Getrie-ben war er dabei von seiner grossen Leiden-schaft: dem Malen. Der Staatsmann und histo-rische Schriftsteller war nämlich auch ein talentierter Künstler, der praktisch jede freie Minute vor seiner Staffelei verbrachte, und er schwor auf die Farben, die Sax in seiner Fabrik in Urdorf herstellte. Um diesen zu sehen, ver-schob er sogar den Rückflug nach London.

Eigentlich hätte das Treffen am Nachmittag des 19. September in der Papeterie der Gebrü-der Scholl an der Poststrasse 3 in Zürich statt-finden sollen (heute ist dort der Gucci-Store untergebracht). Die Firma Scholl vertrieb die Sax-Farben im Raum Zürich, und Churchill wollte sich die Ware vor Ort vom Hersteller persönlich zeigen lassen. Doch er wich kurz-fristig vom geplanten Ablauf ab, ermüdet und erschöpft — denn bis in die Morgenstunden hatte er an seiner Zürcher Rede gefeilt. Zur Er-

holung zog er sich ins Hotel «Dolder» zurück, dort belegte er mit seiner Entourage, darunter seine jüngste Tochter Mary, einige Zimmer.

Nachdem er ein erfrischendes Bad genom-men hatte, liess Churchill Sax telefonisch zu sich rufen. Dieser eilte in einer rasenden Taxi-fahrt den Zürichberg hinauf. Empfangen wurde er im Hotelzimmer, man unterhielt sich auf Französisch. Schliesslich kramte Churchill drei leere Farbtuben hervor: «Glau-ben Sie, mir diese drei Farbtöne beschaffen zu können, Monsieur Sax?» Er habe sie überall vergebens gesucht – halb Europa lag nach dem Krieg in Trümmern, die Schweiz war ver-gleichsweise glimpflich davongekommen. «Sie sollen die Farben in drei Wochen in Eng-land haben», antwortete Sax. Über Churchills Gesicht huschte ein Lächeln: «Sie sind ein guter Mann. Ich wusste, dass ich mich auf Sie verlassen kann.»

Schon am nächsten Vormittag traf man sich ein zweites Mal, Churchill wollte die verpasste Demonstration in der Papeterie Scholl unbe-dingt nachholen. Am Ende liess er sich Mal-gegenstände im Wert von 150 Franken ein-packen und bestand darauf, «personally cash» zu bezahlen. Bevor er den Laden verliess, wandte er sich noch einmal an Sax und lud die-sen ein, ihn doch einmal in Chartwell zu besu-chen, seinem Landsitz in der Grafschaft Kent.

Hinter den Kulissen der grossen Politik

Es war der Beginn einer dauerhaften Ge-schäftsbeziehung und einer aussergewöhn-lichen Freundschaft. Sax besuchte Churchill in den folgenden Jahren regelmässig, in Chart-well, aber auch in dessen Stadthaus am Londo-ner Hyde Park Gate; und an der französischen Riviera verbrachten sie gemeinsame Mal-ferien. Hinzu kam eine rege Korrespondenz, die unzählige Briefe, Telegramme, Karten und Telefongespräche umfasst.

An dieser Stelle ist es vielleicht angebracht, dass der Autor kurz seinen Kopf durch die Tapete steckt: Ich habe diesen historischen Schatz im Privatarchiv der Familie Sax ent-deckt. Zunächst ist daraus ein Zeitungsartikel entstanden (Weltwoche Nr. 20/14). Doch das Material liess mich nicht mehr los: die Briefe mit Churchills handgeschriebener Signatur, die Stempel des prime minister’s office in der Downing Street, die minutiösen Erinnerun-gen von Willy Sax – und nicht zuletzt die Ge-mälde des malenden Premierministers. Dazu

Churchills Schweiz-LiebeDen britischen Kriegspremier beeindruckten die bewaffnete Neutralität, das Réduit und die Unabhängigkeit der Schweiz. Als begeisterter Maler pflegte er aber auch Beziehungen zu Schweizer Künstlern und zum Farbenfabrikanten Willy Sax. Von Philipp Gut

Nachdem er ein erfrischendes Bad genommen hatte, liess Churchill Sax telefonisch zu sich rufen.

«Sie sollen die Farben in drei Wochen in England haben»: Solothurner Maler Cuno Amiet, Winston Churchill, Willy und Martha Sax (v. l.) an der Côte d’Azur, 1952.

49Weltwoche Nr. 44.15Bild: zVg

«Sie sollen die Farben in drei Wochen in England haben»: Solothurner Maler Cuno Amiet, Winston Churchill, Willy und Martha Sax (v. l.) an der Côte d’Azur, 1952.

50 Weltwoche Nr. 44.15Bild: (2) zVg

kommen Originalfotografien und Schreiben weiterer bedeutender Zeitgenossen, darunter des schweizerischen Aussenministers Max Petitpierre und von US-Präsident Dwight D. Eisenhower. Der Weltkriegsgeneral im Weis sen Haus hatte, angeregt durch Churchill, ebenfalls zu malen begonnen und liess sich von Sax mit Farben und Paletten beliefern.

So ist daraus ein Buch geworden, das einen Blick hinter die Kulissen der grossen Politik verspricht: auf den Künstler, den Menschen Winston Spencer Churchill (der Titel, «Cham-pagner mit Churchill», spielt darauf an, dass der Premier den Schaumwein gern auch zum Essen trank und dass er dabei einmal die jün-gere Sax-Tochter Maya charmant zum ersten Glas Champagner ihres Lebens überredete — sie war damals fünfzehn).

Wie Stalin Roosevelt austrickste

Das Vertrauensverhältnis, das sich zwischen Churchill und Sax entwickelt hatte, erlaubte es den beiden, sich offen über Politik zu unterhal-ten. Dabei zeigte sich der grosse Mann auch ganz privat, ja intim: Am Morgen des 10. August 1949 — es war der Tag, an dem er in Strassburg an der konstituierenden Sitzung der Parlamen-tarischen Versammlung des Europarats auftre-ten sollte – empfing er Sax, während er noch im Bett lag und dort an seiner Rede schrieb.

In den Tischgesprächen mit seinem Schwei-zer Freund kam immer wieder die Wertschät-zung zum Ausdruck, die Churchill für den neutralen Staat empfand. Ein Beispiel sind die Aussagen, die er im September 1948 bei einem Aufenthalt an der Côte d’Azur machte. Er be-richtete, wie er es häufig tat, anschaulich und anekdotenreich von seinen Erfahrungen in der Kriegszeit, insbesondere über die Konfe-renzen der Grossen Drei in Teheran und Jalta, wo er mit Stalin und dem amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt die Nach-kriegsordnung besprochen hatte. Seine Schil-

derungen vermittelten den Eindruck, als sei es oft schwierig gewesen, die gutgläubigen Ame-rikaner davon zu überzeugen, dass Stalins Ver-sprechen scheinheilig waren. Es habe die Ver-handlungen nicht erleichtert, dass sich auch Roosevelts Gattin Eleanor — eine Frauenrecht-lerin und Diplomatin, die bei der Uno an der Ausarbeitung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte beteiligt war — stark vom Generalissimus der Sowjetunion habe beein-drucken lassen. «Es war peinlich, mir von Uncle Joe [Josef Stalin, die Red.] ihre persön-lichen Ansichten ins Gesicht werfen lassen zu müssen, wenn ich zufällig den gegenteiligen Standpunkt vertrat, und Stalin war gerissen

genug, es dann so erscheinen zu lassen, als ob er glaube, dass sie nur die Meinung ihres Man-nes äussere.» Auf diese Weise habe es Stalin leicht gehabt, immer wieder zielsicher jene Punkte anzusteuern, bei denen er Meinungs-verschiedenheiten zwischen Roosevelt und Churchill vermutet habe.

Sax nahm als Erkenntnis dieser weltpoliti-schen Unterhaltungen mit, dass Europa und der Westen sich gegenwärtig in einer weit bes-seren Position gegenüber der Sowjetunion befänden, wenn die Amerikaner Churchill damals energischer unterstützt hätten.

Als Bürger eines neutralen Landes, das von Kampfhandlungen verschont geblieben war, hielt sich Sax bei solchen Themen zurück. Aller-dings gehörte Churchill nicht zu jenen Alliier-ten, die der schweizerischen Neutralität mit der vorwurfsvollen Frage begegneten: «Und was habt ihr im Krieg getan?» Die Schweiz sei glück-lich gewesen, den Krieg nicht mitmachen zu müssen, warf er ein: «Wenn alle Staaten sich so gut darauf gerüstet hätten wie die Schweiz, wäre die Tragödie vermieden worden.»

Schon bei seinem Besuch im Jahr 1946 hatte Churchill immer wieder betont, wie wichtig

Mentor: Winterthurer Mallehrer Montag.

«Wenn sich alle so gut gerüstet hätten wie die Schweiz, wäre die Tragödie vermieden worden.»

Malferien am Genfersee: «Insel Choisi», 1946.

Vertrauensverhältnis: Farbenfabrikant Sax (l.) mit Churchill (M.) in der Papeterie Scholl, Zürich, 1946.

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Auch im Austausch mit Sax sprach der Kriegs-premier anerkennend vom Wehrwillen der Eidgenossen, so bei einem Besuch auf Churchills Anwesen Chartwell im Sommer 1948. Mit von der Partie war der Lenzburger Bäckermeister, Wirt und Offizier Hans Haller. Dieser berichtete danach Guisan von dem Treffen, worauf der General in einem bislang unveröffentlichten Brief vom 3. August 1948 antwortete: «Dass Herr Churchill die Wichtig-keit unseres Réduits erkannt hat, habe ich be-reits erfahren können anlässlich seines Auf-enthaltes in der Schweiz, wo ich auch die Ehre hatte, mit ihm darüber diskutieren zu können. Seine Ansicht wird auch von Marschall Mont-gomery geteilt, was mir umso mehr Freude machte und für mich eine besondere Genug-

tuung bedeutet. Es bleibt nur zu hoffen, dass unser gegenwärtig amtierender Generalstab dieses Réduit stets im Auge behält und dassel-be nicht etwa vernachlässigt wird!»

Es sollte anders kommen. Die Armeefüh-rung ist daran, die letzten Verteidigungsbas-tionen in den Alpen, diesen Ausdruck eines felsgewordenen Unabhängigkeitswillens, zu liquidieren. Winston Churchill würde das wohl ebenso sehr bedauern wie der General. Jedenfalls dachte der Premier dem Réduit auch nach dem Zweiten Weltkrieg eine ent-scheidende Funktion zu: Es sollte im Ernstfall die Rote Armee abschrecken oder zumindest so lange binden, bis die Westmächte wieder Kriegsstärke erreicht hätten.

Auch was Churchill teils öffentlich, teils privat über das Wesen der Schweiz und der Schweizer sagte, bleibt bis heute inspirierend: Das Schweizervolk liebe und pflege seine Un-abhängigkeit, während es gleichzeitig ein Weltbewusstsein – im Gegensatz zum Natio-nalbewusstsein – bewahre und vom Willen beseelt sei, Schwächeren hilfreich zur Seite zu stehen. Ein leidenschaftlicher Freiheitsdrang und die Anerkennung der Rechte der anderen, Patriotismus und Weltläufigkeit, das Nationale und das Internationale: Das alles verbinde sich zu einer eigentümlichen und glücklichen Synthese.

Dazu passt Churchills Beurteilung des euro-päischen Einigungsprozesses, den er in seiner Zürcher Rede selbst angestossen hatte. Euro-Enthusiasten ziehen von dieser eine direkte Linie zur EU. Doch Churchill wollte kein Einheitseuropa, dem unterschiedslos alle Staaten angehören sollten. Er bekam recht mit seiner Idee, dass Deutschland und Frankreich aktiv vorangehen müssten, um die Feindselig-keiten der Vergangenheit zu überwinden. Aber Grossbritannien, das zur Gemeinschaft des

Weltwoche Nr. 44.15Bilder: Photo Quest (Getty Images), (2)zVg

für ihn und die Alliierten die Bereitschaft der Schweizer war, ihr Land notfalls mit Waffen-gewalt zu verteidigen. Er urteilte mit Augen-mass, wie eine berühmte Aktennotiz an Aus-senminister Anthony Eden vom Dezember 1944 zeigt: Das von den Achsenmächten um-zingelte Land habe Geschäftsbeziehungen auf beide Seiten unterhalten müssen, um zu über-leben. Dass die Schweiz als demokratischer Staat, umgeben von blutrünstigen Tyrannen, entschlossen für die Freiheit eingestanden sei – das sei die Hauptsache; und nicht die Frage, ob sie den Deutschen wirtschaftlich allenfalls

Seltenes Geschenk: Maya Sax vor Churchill-Bild.

Guisan: «Dass Herr Churchill die Wichtigkeit des Réduits erkannt hat, habe ich erfahren können.»

Malferien am Genfersee: «Insel Choisi», 1946.

«Uncle Joe»: mit Stalin, Konferenz von Jalta, 1945.

etwas mehr entgegengekommen sei, als es die Alliierten gewünscht hätten. Die grosse Mehr-heit der Schweizer stehe innerlich auf Seiten der Westmächte. Gab es dafür einen besseren Beleg als den jubelnden Empfang, den sie ihm bereiteten?

Genugtuung für General Guisan

Mit Henri Guisan, dem Kopf und Organisator des Widerstands, verstand sich Churchill aus-gezeichnet. Das Réduit beeindruckte ihn, und er hätte es gern persönlich besichtigt, doch ge-sundheitliche Gründe hinderten ihn daran.

52 Weltwoche Nr. 44.15Bild: Fred Eberhard (Photopress-Archiv, Keystone)

Philipp Gut: Champagner mit Churchill

Der Zürcher Farbenfabrikant Willy Sax und der malende Premierminister. Stämpfli. 176 S., Fr. 39.–

Commonwealth gehöre, und die neutrale und unabhängige Schweiz nahm er explizit aus.

So anerkennend sich Churchill über das hel-vetische Staatswesen äusserte, so irritiert blieb er nach seinem Besuch über gewisse Rivalitäten zwischen den städtischen und den kantonalen Zürcher Behörden, und nicht zuletzt über die Professoren der Universität. Diese verweigerten ihm mit fadenscheinigen Gründen die Verlei-hung eines Ehrendoktortitels, die doch nach den Plänen seiner Schweizer Vertrauten den eigentlichen Anlass seiner Reise bilden sollte.

Schweizer Meisterschaften in Chartwell

Auch seinem Freund Sax entging das nicht: Er bemerkte einmal, dass Churchill später nie mehr über die offiziellen Empfänge sprach, sich jedoch stets mit Freuden an die persönli-chen Begegnungen erinnerte. Eine besondere Rolle spielte dabei der Winterthurer Charles Montag, der Maler, Sammler und einfluss-reiche Vermittler französischer Kunst in der Schweiz. Er hatte Churchill schon 1915 in Paris kennengelernt. Dieser befand sich damals am Tiefpunkt seiner politischen Karriere und in einer existenziellen Krise. Nach dem soge-nannten Dardanellen-Debakel, dem geschei-terten Vorstoss der Alliierten auf der osmani-schen Halbinsel Gallipoli, war Churchill als Marineminister zurückgetreten. Dieser Ab-sturz und die plötzliche Untätigkeit schienen bedrohliche Ausmasse anzunehmen. «Galli-poli verfolgte Winston für den Rest seines Lebens. Er meinte, es sei um ihn geschehen. Er glaubte nicht, dass man ihn je in die Regierung zurückholen würde. Ich dachte, er würde vor Kummer sterben», erzählte Clementine Churchill nach dem Tod ihres Gatten. In dieser Notlage entdeckte Churchill die Malerei — ein Rettungsanker für seine gepeinigte, von Depressionen verdunkelte Seele.

Montag wurde Churchills Mentor — furcht-los und streng in der Sache, angetrieben vom heiligen Feuer der Kunst. «Wenn Sie so politi-sieren, wie Sie malen, dann ist Europa verlo-ren», sagte er gleich beim ersten Treffen. Churchill reagierte verdutzt, doch als er die Fassung wiedergefunden hatte, war er über-zeugt, den richtigen Lehrmeister gewählt zu haben. Er sei nach Paris gekommen, um zwei Männer zu treffen, entgegnete er, «Monsieur Poincaré et vous» — er nannte den Winterthu-rer also in einem Atemzug mit dem französi-schen Staatspräsidenten und mehrmaligen Premierminister. So begann, im Alter von vier-zig Jahren, die erstaunliche Karriere des spät-berufenen Kunstmalers Winston S. Churchill. Neben Montag liess sich Churchill von weite-ren Schweizer Malern unterrichten. So reiste im Frühjahr 1951 eine richtige kleine Delega-tion nach England: Dieser gehörten neben Sax der Solothurner Cuno Amiet, der Doyen der Schweizer Künstler, dessen Schüler und Neffe Peter Thalmann sowie der Berner Martin Lau-

terburg an. Auf Chartwell fand sogar ein regel-rechter Wettstreit der drei Schweizer statt: Je-der malte vor den Augen des Hausherrn ein Bild, um diesem zu zeigen, wie es geht.

Churchill war fasziniert von den entstande-nen Gemälden, und er staunte über den Schwung, mit dem insbesondere Altmeister Amiet zu Werke ging. «Wie alt sind Sie?», fragte er ihn. – «83.» Churchill war so erstaunt, dass er hinauseilte und seinen Sohn Randolph holte: «Schau, der da ist 83. Ça donne du courage!» Das mache ihm Mut. Er selbst war damals 76,

und das Alter fing ihn an zu plagen. Trotzdem wurde er sechs Monate später noch einmal Premierminister.

Dank seines privilegierten Zugangs wuchs Sax in die Rolle eines Vermittlers und infor-mellen Botschafters hinein, der bei Churchill und der britischen Regierung für Schweizer Anliegen aller Art warb. Er agierte als Boten-gänger zwischen der Downing Street und Bundesrat Petitpierre, stellte Churchill und dessen Gesundheitsminister Iain Macleod das Projekt eines britischen Tuberkulose-Spitals in den Schweizer Alpen vor oder weibelte für die Kantonsregierungen St. Gallens und des Tessins, die den Premier in ihre touristischen Fänge zu locken suchten.

Zu einem kleinen Zwischenfall kam es beim Versuch, Churchill von der Idee einer Ausstel-lung seiner Gemälde in Zürich zu überzeu-gen. Diese sollte zum Zehn-Jahr-Jubiläum des triumphalen Besuchs von 1946 stattfinden. Zu diesem Zweck nahm Sax im Frühjahr 1956

den Stadtpräsidenten Emil Landolt nach Lon-don mit. Doch Churchill weigerte sich, den Stapi zu begrüssen. Er könne nicht jeden Bür-germeister dieser Welt empfangen, knurrte er. Sax und seine Ehefrau Martha hingegen wurden freundlich wie immer aufgenommen und fürstlich bewirtet. In der Stadtresidenz am Hyde Park Gate Nummer 28 genossen sie einen steak and kidney pie aus der Küche von Clementine, tranken Champagner und Whisky und rauchten Zigarren.

Wie sehr Churchill Willy Sax schätzte, zeigt der Umstand, dass er ihm eines seiner Gemälde schenkte – eine Auszeichnung, die sonst nur ganz wenige erhielten, darunter die Präsiden-ten Roosevelt und Eisenhower sowie die Queen. Vielleicht hatte diese Zuneigung auch damit zu tun, dass Sax Churchills delikatestes Farben-problem löste: Es war ihm einfach nicht gelun-gen, seine Lieblingsfarbe Königsblau richtig zu mischen, und Sax stellte extra den gewünsch-ten Farbton her — «Churchill-Blau» nannten sie ihn im Freundeskreis.

Die Kontakte zwischen dem malenden Pre-mierminister und dem Schweizer Fabrikanten rissen erst mit dessen Tod im Mai 1964 ab. An die Witwe adressierte Churchill ein rührendes Kondolenzschreiben: Er werde die vielen Be-gegnungen und die Freundschaft mit ihrem Mann in Erinnerung behalten und sei ihm stets dankbar gewesen für seine gütige Mithilfe und die Unterstützung beim Malen.

«Wenn ich in den Himmel komme . . .»

Achteinhalb Monate später starb auch Wins-ton Churchill. Es ist wohl kaum übertrieben, wenn man festhält: Churchill rettete Europa — und damit auch die unabhängige Schweiz —, und das Malen, an dem seine Schweizer Freunde wesentlichen Anteil hatten, rettete ihn selbst vor seiner Schwermut, es war ein er-folgreiches Gegenmittel gegen den «schwar-zen Hund der Depression». Wie wichtig dem Jahrhundertpolitiker die künstlerische Tätig-keit und die Farben waren, illustrieren die fol-genden Worte, die fast wie ein Vermächtnis klingen: «Wenn ich in den Himmel komme, gedenke ich, einen erheblichen Teil meiner ersten Million Jahre mit Malen zu verbringen und so der Sache auf den Grund zu kommen. Aber dann werde ich noch eine lustigere Palette brauchen, als ich sie hier unten habe. Ich nehme an, Orange und Scharlachrot wer-den die dunkelsten, stumpfesten Farben dar-auf sein, und dann wird es noch eine ganze Reihe wunderbarer neuer Farben geben, die das himmlische Auge entzücken.»

Kopf des Widerstands: General Guisan.

Die Malerei war ein Gegenmittel gegen den «schwarzen Hund der Depression».