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Critical Care. Architektur für einen Planeten in der Krise
Ausstellung in den Technischen Sammlungen Dersden
28.05.–13.09.2020 | Emanuel Goldberg Saal
Planet in der Krise. Die Erde in der Notaufnahme. Der menschengemachte Klimawandel
droht den Planeten unbewohnbar zu machen. Ökologische und soziale Katastrophen be-
stimmen den Alltag im 21. Jahrhundert. Die Lage ist kritisch, und dominiert von den Interes-
sen des Kapitals sind Architektur und Urbanismus in die Krise verstrickt. Doch es geht auch
anders, wie die Ausstellung „Critical Care“ anhand von 21 aktuellen internationalen Beispie-
len zeigt, darunter erdbebensichere und nachhaltige Dorfentwicklung in China, Über-
schwemmungsschutz durch traditionelle CO2-arme Bautechniken in Pakistan und
Bangladesch, die vielfältige Umnutzung modernistischer Bauten in Brasilien und Europa,
ein ökologischer Community Land Trust in Puerto Rico, die Revitalisierung historischer Be-
wässerungssysteme in Spanien, neue Konzepte für öffentliche Räume und durchmischte
Quartiere in Wien, London und Nairobi. Die Ausstellung „Critical Care“ beweist, dass Archi-
tektur und Urbanismus dafür sorgen können, den Planeten „wiederzubeleben“ – verweist
der Begriff „Critical Care“ doch auf beides, die Intensivstation und das Sorgetragen. Die Re-
paratur der Zukunft hat begonnen.
Rural Urban Framework (RUF): Wiederaufbau des Dorfes Jintai, Provinz Sichuan, China, 2017 © Rural Urban Framework (RUF)
Der Kapitalismus hat zu einem neuen Erdzeitalter geführt, dem Anthropozän, auch als Kapi-
talozän bezeichnet. Es geht darum, das Anthropozän „so kurz/so dünn wie nur möglich zu
halten und miteinander auf jede vorstellbare Art und Weise kommende Epochen zu kultivie-
ren“, wie die Philosophin Donna Haraway schreibt. Die von Angelika Fitz und Elke Krasny
kuratierte Ausstellung „Critical Care. Architektur für einen Planeten in der Krise“ ist ein Plä-
doyer für eine Architektur des Sorgetragens. Die 21 Fallbeispiele demonstrieren, dass Ar-
chitektur und Stadtentwicklung sich nicht dem Diktat des Kapitals und der Ausbeutung von
Ressourcen und Arbeit unterwerfen müssen. In jedem der Projekte werden die Beziehun-
gen zwischen Ökonomie, Ökologie und Arbeit neu bestimmt. Das erfordert neue Allianzen,
auch zwischen top-down und bottom-up. Akteur*innen des Sorgetragens in Architektur und
Urbanismus kommen auch aus Stadtverwaltungen, NGOs, der Zivilgesellschaft, internatio-
nalen Organisationen oder nachhaltig orientierten Unternehmen. Viele Wissenssorten tra-
gen neben den Planungsdisziplinen zu Architektur und Urbanismus des Sorgetragens bei,
wie Anthropologie, Soziologie, Umweltwissenschaften, Rechtswissenschaften, Landschafts-
planung, Kunst und andere mehr.
Sorgetragende Zusammenarbeit ist immer konkret. Ausgangspunkt für Erhaltung, Fortset-
zung und Reparatur des Planeten in der Krise sind die je spezifischen lokalen Verhältnisse.
Dies zeigt die Ausstellung anhand von konkreten Situationen: Überschwemmungsgebiete in
Pakistan, fehlende Infrastrukturen für geflüchtete Menschen in Jordanien, Weiternutzung
der Architekturmoderne in Europa und Brasilien, Erdbebengebiete in China, von Hurrikans
und Gentrifizierung bedrohte informelle Siedlungen in Puerto Rico, Überflutungen und Um-
weltverschmutzung in Kenya, von globalen Developern dominierte Stadtentwicklung in Lon-
don.
Die vom Architekturzentrum Wien konzipierte Ausstellung veranschaulicht die Projekte mit
großformatigen Bilderzählungen, Modellen und Objekten. Filme und kurze Videos vermitteln
Hintergründe zu den Entstehungsprozessen und lassen die vielfältigen Akteur*innen zu
Wort kommen. Verbindende Analyseraster ermöglichen die Vergleichbarkeit und zeigen Zu-
sammenhänge zwischen den Fallbeispielen aus mehreren Kontinenten.
Kounkuey Design Initiative: Kibera Public Space Projekt, Nairobi, Kenia, seit 2006 © Kounkuey Design Initiative, Foto: Jesús Porras
21 Beispiele des Sorgetragens in Architektur und Urbanismus für das 21. Jahrhundert
Die Ausstellung „Critical Care“ versammelt 21 architektonische und urbanistische Projekte
aus Asien, Afrika, Europa, dem Nahen Osten, der Karibik, den USA und Lateinamerika und
gruppiert sie entlang von fünf Feldern des Sorgetragens: Sorgetragen für Wasser sowie
Grund und Boden, Sorgetragen für den öffentlichen Raum, Sorgetragen für Fertigkeiten und
Kenntnisse, Sorgetragen für Reparatur, Sorgetragen für lokale Produktion. Jedes der 21
Fallbeispiele arbeitet an konkreten Problemen, sei es im städtischen oder ländlichen Raum,
und bestimmt gleichzeitig auf einer prototypischen Ebene die Verhältnisse zwischen Arbeit,
Ökonomie und Ökologie neu.
Paulo Mendes da Rocha und MMBB Architekt*innen: SESC 24 Maio, São Paulo, Brasilien, 2017 © Foto: Ana Mello
Sorgetragen für Wasser, Grund und Boden
URBANA, das Architekturbüro von Kashef Mahboob Chowdhury, hat beim
Friendship Center in Gaibandha, Bangladesch, auf kostenaufwändige
Aufschüttungen als Überflutungsschutz verzichtet und mit dem Wasser, nicht gegen
dieses gearbeitet.
CICLICA und CAVAA, zwei Architekturkollektive aus Barcelona, haben gemeinsam
mit dem Gartenverein das brachliegende römische Bewässerungssystem im
spanischen Caldes de Montbui reaktiviert und die Kleingärten öffentlich zugänglich
gemacht.
ENLACE in San Juan, Puerto Rico, hat in einem mehrere Jahre dauernden
Prozess von über 700 Konsultationen Grund und Boden, auf dem sich die
informellen Siedlungen in nächster Nähe zum Financial District befinden, in einen
Community Land Trust verwandelt und die ökologische Reparatur des Martin Pena
Kanals vorangetrieben.
Estudio Teddy Cruz + Fonna Forman erarbeitet für das Grenzgebiet zwischen den
USA und Mexiko grenzübergreifende ökologische Konzepte und neue Vorstellungen
von Grenz-Staatsbürger*innenschaft.
Colectivo 720 hat im kolumbianischen Medellin riesige modernistische
Wasserspeicheranlagen in einen neuen, sicheren öffentlichen Raum für die
benachteiligten Nachbarschaften verwandelt.
Sorgetragen für Reparatur
Die Architekten de vylder vinck taillieu haben in Melle aus der Ruine eines
Spitals-Pavillons einen großzügigen öffentlichen Raum für Patient*innen,
Besucher*innen, Pflanzen und Tiere geschaffen.
Paulo Mendes da Rocha und MMBB Architekt*innen haben ein modernistisches
Kaufhausgebäude in São Paulo in ein soziales Kultur-, Sport- und
Gesundheitszentrum umgebaut, das natürlich ventilierte öffentlich zugängliche
Räume bietet, mit Swimmingpool auf dem Dach.
Lacaton & Vassal haben gemeinsam mit Frédéric Druot und Christophe Hutin
einen modernistischen Großwohnbau saniert, dabei dessen Qualitäten konsequent
fortgesetzt und um großzügige Wintergärten und Balkone erweitert.
ZUsammenKUNFT, eine breite Allianz aus zivilgesellschaftlichen
Stadtmacher*innen, transformiert gemeinsam mit der Stadtverwaltung und
Architekt*innen am Berliner Alexanderplatz das ehemalige Haus der Statistik aus
DDR-Zeiten in ein gemeinwohlorientiertes Stadtquartier mit leistbarem Wohnen,
Kultur, Bildung und dem „Rathaus von Morgen“ .
Sorgetragen für Fertigkeiten und Kenntnisse
Rural Urban Framework hat nach schweren Erdbeben und Erdrutschen in der
chinesischen Provinz Sichuan in Zusammenarbeit mit der lokalen Regierung in
Jintai ein Modellprojekt für eine nachhaltige Dorfentwicklung realisiert.
Architektin Yasmeen Lari bildet mit ihrer Heritage Foundation „Barefoot
Entrepreneurs“ darin aus, in traditioneller Lehm- und Bambusbauweise
flutbeständige Häuser und Infrastrukturen zu bauen. Über 40.000 sichere,
kostengünstige und äußerst CO2-arme Gebäude wurden seit 2012 realisiert.
Emergency Architecture & Human Rights EAHR aktiviert gemeinsam mit
Bewohner*innen und geflüchteten Menschen in der Nähe des Za’atari
Flüchtlingslagers in Jordanien traditionelle Baumethoden zur Errichtung von
Schulen.
Anapuma Kundoo verwendet für ihr Volontariat Home für obdachlose Kinder in
Pondicherry alte persische Lehmbautechniken, bei denen das Gebäude selbst zum
Brennofen und somit zum Materialproduzenten wird.
Sorgetragen für den öffentlichen Raum
muf architecture/art hat bei der Planung von Ruskin Square den privaten
Developer des Londoner Stadtteils Croydon davon überzeugt, für den neuen
Masterplan vom öffentlichen Raum auszugehen.
Die Stadtverwaltung in Barcelona gibt mit der Einführung des Superblock Modells
den Menschen den Straßenraum zurück, verbunden mit einer Reduktion des
privaten Verkehrs um 21 Prozent.
StudioVlayStreeruwitz hat für das Stadtentwicklungsgebiet am Wiener
Nordbahnhof ein Leitbild entwickelt, das vom Vorhandenen ausgeht, anstatt Tabula
rasa zu machen. Die Freie Mitte mit ihrer urbanen Wildnis setzt natürliche, kulturelle
und soziale Ressourcen fort.
2017 hat das von Angelika Fitz und Elke Krasny kuratierte Projekt „Care + Repair“
mit sechs internationalen Architekturteams im Tandem mit lokalen Expert*innen an
der Reparatur der Zukunft für die Freie Mitte gearbeitet. Die daraus resultierende
Ausstellung war die erste kulturelle Nutzung der Nordbahnhalle, Teil des
dreijährigen von der TU Wien geleiteten Forschungsprojekts
Mischung:Nordbahnhof.
Sorgetragen für Produktion
atelier d’architecture autogérée arbeitet in französischen Städten an dem Modell
R-Urban, Netzwerken von öko-zivilen Stützpunkten, die auf geschlossene
Kreislaufwirtschaft setzen.
Die Kounkuye Design Initiative entwickelt gemeinsam mit Grassroots
Organisationen produktive öffentliche Räume in Kibera, Nairobi, um ökologische
Anliegen, sanitäre Einrichtungen, lokale Alternativ-Ökonomien und Sicherheit
miteinander zu verbinden.
Architektin Anna Heringer hat gemeinsam mit der Modemacherin Veronika Lena
und der NGO Dipshika die lokale Textilproduktion im Dorf Rudrapur in Bangladesh
aufgebaut, das Handelsflüsse zwischen dem globalen Süden und dem globalen
Norden umkehrt: aus alten Saris werden Designprodukte.
Architekt*in Xu Tiantian hat für den Bezirk Songyang in China eine Reihe von
zusammenhängenden Interventionen zur Stärkung des ländlichen Raums
entworfen; so die Tofu Fabrik in Caizhai, die gleichzeitig Produktionsstätte,
öffentlicher Raum und touristischer Anziehungspunkt ist.
Kuratorinnen: Angelika Fitz, Elke Krasny
Ausstellungsarchitektur: the next ENTERprise
Ausstellungsgrafik: Alexander Schuh
Publikation:
Anlässlich der Ausstellung erscheint bei MIT Press „Critical Care. Architecture and Urba-
nism for a Broken Planet“, herausgegeben von Angelika Fitz, Elke Krasny und Architektur-
zentrum Wien. Das Buch enthält alle 21 Case Studies sowie 12 Essays von internationalen
Autor*innen zu den Themen Arbeit, Ökonomie und Ökologie in der Architektur.
ISBN 978-0-262-53683-7
300 Seiten
Preis: EUR 38,80
Der Pressetext sowie hochauflösende und honorarfreie Pressefotos stehen auf
www.azw.at/presse zum Download bereit.
Pressekontakt: Maria Falkner, +43-1-522 31 15-23, [email protected]