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D e r B e t r i e b s r a t b e i V W - S a l z g i t t e ... · Werk verkaufte. Im Mai 1969 war Baube-ginn und nur 14 Monate später, am 1. Juli 1970, offizieller Produktionsbeginn

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    40 Jahre Volkswagenwerk Salzgitter

    Jahre40

    40 JahreInteressenvertretung imVolkswagenwerk Salzgitter

    1970 - 2010D e r B e t r i e b s r a t b e i V W - S a l z g i t t e r i n f o r m i e r t

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    Liebe Kolleginnen und Kollegen,Liebe Leserinnen und Leser,

    50 Jahre VW Gesetz, 20 Jahre Euro-Konzernbe-triebsrat und dazwischen 40 Jahre Volkswagen Salzgitter - 2010 ist ein richtiges Jubiläumsjahr für wichtige Errungenschaften der Beschäftig-ten bei Volkswagen.

    Am 1. Juli 1970 begann mit der Grundsteinlegung die Geschichte des Werkes Volkswagen Salzgit-ter und ist es wert, erzählt zu werden.

    Geschichte wird von Menschen gemacht, die Geschichte eines Betriebes von den Beschäftigten und ihrer Interessenvertretung - in Auseinandersetzung mit dem Management. Aus dem Kampf um Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen resultiert, wie viele Menschen wie im Werk arbeiten: mit welcher Arbeitszeit und Geschwindigkeit, mit welchen Inhalten und Entgelten, mit welchen Quali-fikationen und nicht zuletzt mit welcher Motivation…

    Nicht ohne Stolz blicken wir auf die letzten 40 Jahre zurück, auf eine wahrhaft bewegte Erfolgs-geschichte - vom Fahrzeug produzierenden Werk zum Motorenleitwerk des Volkswagen Konzerns! Wir haben viele Höhen erlebt: 10.000 Beschäftigte im Jahr 1986, die Einführung der Vier-Tage-Woche, Salzgitter als Motorenleitwerk, Ausbau der Komponente. Aber auch Tiefen waren zu über-stehen: die Schließung des Fahrzeugbaus 1974/75 mit massivem Belegschaftsabbau, Kurzarbeits-phasen …

    Solche Krisen haben die Belegschaft immer weiter zu einer solidarischen Einheit zusammenge-schweißt. Wo immer nötig, wehren wir uns gemeinsam und schlagkräftig gegen die Verlagerung von Arbeitsplätzen, Entgeltkürzungen etc. Nur so konnten wir - gemeinsam mit den Belegschaften der anderen deutschen VW AG Werke - Beschäftigungssicherung tarifvertraglich absichern und neue zukunftsfähige Produkte in unser Werk holen.

    Die Zukunft wird dies auch weiter von uns abfordern. Klimaprobleme, Konkurrenz und Absatzkri-sen sind heute global und betreffen uns gleichzeitig lokal. Seit 40 Jahren sind wir ein Garant für Beschäftigung in der Stadt und Region Salzgitter. Dies soll auch so bleiben, dafür setzt sich der Betriebsrat Salzgitter ein.

    Die vorliegende Broschüre bietet einen kurzen Überblick über die lebhafte, wechselvolle Ent-wicklung von Volkswagen Salzgitter in den letzten 40 Jahre, mit Schwerpunkt auf die letzten zehn Jahre. Eine ausführliche Darstellung der Geschichte bis zum Jahr 2000 liegt vor mit dem Buch von Andrea Eckardt, Diskutieren Streiten Mitgestalten! 30 Jahre Kampf um Arbeit im weltgrößten Motorenwerk Volkswagen Salzgitter (VSA-Verlag 2003, ISBN 3-89965-026-3, oder beim Betriebs-rat Volkswagen Salzgitter).

    Andreas BlechnerBetriebsratsvorsitzender

    Dirk Windmüllerstellvertretender Betriebsratsvorsitzender

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    40 Jahre Volkswagenwerk Salzgitter

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    Die ersten zehn Jahre des Volkswagenwerkes Salzgitter

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    Die ersten zehn Jahre des Volkswagenwerkes Salzgitter

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    40 Jahre Volkswagenwerk Salzgitter

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    Die ersten zehn Jahre des Volkswagenwerkes Salzgitter

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    Die ersten zehn Jahre des Volkswagenwerkes Salzgitter

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    40 Jahre Volkswagenwerk Salzgitter

    Die Geschichte des Volkswagenwerkes Salzgitter ist die Geschichte der Belegschaft und ihrer Interessenvertre-tung um den Kampf von Arbeitsplätzen und -bedingun-gen.

    Das Volkswagenwerk Salzgitter hat seit seiner Grün-dung vor 30 Jahren als sechster und jüngster Standort der Volkswagen AG eine kurze, aber durchaus wechsel-volle Zeit hinter sich. In den 60er Jahren war die Region Salzgitter durch die Monostruktur des Stahlwerkes Salz-gitter - später Stahlwerke Peine + Salzgitter bzw. Peine-Salzgitter AG - und das damit verknüpfte Auf und Ab der wirtschaftlichen Entwicklung gekennzeichnet. Vor diesem Hintergrund und mit der zusätzlichen Pro-blematik eines Zonenrandgebietes bemühten sich die Stadtväter von Salzgitter um ein weiteres Standbein zur Schaffung von Arbeitsplätzen.

    I. DIE 70ER JAHRE

    Gründerzeit, Existenzkrise und innovative Gruppen-arbeit

    Sozial-liberale Rahmenpolitik der 70er: Demokratische Reformziele und Krisenmanagement

    Die Entscheidung für ein neues Werk traf Volkswa-gen Ende der 60er Jahre zu einem Zeitpunkt des aus-gesprochenen Wirtschaftsaufschwungs. Dieser sollte sich jedoch in den darauf folgenden Jahren, als die Be-schäftigten des Werkes dann ihre Arbeit aufnahmen, nicht fortsetzen. Im Gegen-teil, die 70er Jahre waren gekennzeichnet durch die Ölkrise von 1973 und die Welt-wirtschaftskrise von 1974/75. Auf dem Höhepunkt der Krise im Jahr 1975 war die Zahl der Arbeitslosen erstmalig seit 20 Jahren wieder über die Millionengrenze angestiegen.

    Inflation, Staatsverschuldung und Mas-senarbeitslosigkeit waren die Probleme, mit denen sich die 1969 erstmals gewählte sozialdemokratische Bundesregierung mit Unterstützung der Liberalen auseinander-

    setzen musste. Ursprünglich mit einem ambitionierten Reformprogramm unter dem Motto „Mehr Demokratie wagen“ und „Humanisierung des Arbeitslebens“ ange-treten, wandelte sich die Regierungspolitik, insbesonde-re unter der zweiten sozial-liberalen Regierung Schmidt/Genscher im Laufe des Jahrzehnts zum Krisenmanage-ment. Die anvisierten Reformen im Bildungsbereich sowie der Ausbau des Sozialstaates konnten nur bruch-stückhaft realisiert werden. Wichtige Fortschritte im Bereich der Beschäftigungs-politik zu jener Zeit waren das Arbeitsförderungsgesetz 1969, die grundsätzliche Gleichstellung von Arbeitern und Angestellten im Krankheitsfall 1970, die Rentenre-form 1972 - hier vor allem die Einführung der flexib-len Altersgrenze ab dem 63. Lebensjahr, das Gesetz zur Verbesserung der Leistungen in der gesetzlichen Kran-kenversicherung 1974 sowie gesetzliche Regelungen zur Verbesserung des Arbeitsschutzes mit dem Arbeitssi-cherungsgesetz 1974 und der Arbeitsstättenverordnung 1975.

    Im 1972 novellierten Betriebsverfassungsgesetz konnten einzelne Fortschritte erzielt werden wie die Einführung von Mitbestimmungsrechten in personellen und sozialen Angelegenheiten, verbesserter Kündigungsschutz und Freistellungs- und Bildungsmöglichkeiten der Betriebs-rätinnen und -räte. Daneben wurde auch das Personal-vertretungsgesetz 1974 erneuert sowie das Mitbestim-mungsgesetz 1976 eingeführt.

    Baubeginn im Mai 1969

    40 Jahre Betriebsratsarbeit im Volkswagenwerk Salzgitter 1970-2010

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    Im Laufe des Jahrzehnts entwickelten sich neue politi-sche Kräfte, die in Form der so genannten neuen sozialen Bewegungen, der Frauenbewegung und der Grünen mit den teilweise neuartigen Themen Frieden, Fraueneman-zipation und Umweltschutz aktiv wurden. Die Gewerk-schaften erweiterten in diesem Zeitrahmen ihre Tarifpo-litik um qualitative Aspekte wie Arbeitsbedingungen, Bildung und egalitäre Lohnstrukturen von Angestellten und Arbeitern.

    Das Volkswagenwerk Salzgitter entsteht ...

    Ende der 60er Jahre wurde in Rekordzeit ein Werk auf die grüne Wiese gestellt. Wichtige Faktoren für die Wahl des Standortes waren neben der Tatsache, dass der dama-lige Aufsichtsratsvorsitzende der Volkswagen AG, Herr Birnbaum, zugleich Vorstandsvorsitzender der Stahl-werke Peine + Salzgitter war, die unmit-telbare Nähe zu Autozulieferern, vor allem der Autoelektrik-Industrie sowie zum wich-tigen Blechlieferanten, dem Hüttenwerk selbst. Dieses war es auch, das Volkswa-gen ein passendes Grundstück für das neue Werk verkaufte. Im Mai 1969 war Baube-ginn und nur 14 Monate später, am 1. Juli 1970, offizieller Produktionsbeginn.

    Die Aufbauphase des Werkes war eine ge-waltige Leistung aller Beteiligten. Allem voran war es eine Pionierzeit der ersten Be-schäftigten. Ein Großteil von ihnen stamm-te aus den VW-Werken Hannover, Braun-schweig und Wolfsburg.

    Entsprechend der ursprünglich sehr ehrgeizigen Beleg-schafts- und Produktionsziele - im Endausbau sollten rund 20.000 Beschäftigte auf dem 2.800.000 m˝ großen Werkgelände arbeiten - wurde die Belegschaft schnell und massiv aufgebaut.

    An der ersten Betriebsversammlung am 17. Dezember 1970 nahmen bereits über 5.000 Werkangehörige teil, ein Jahr später war die Belegschaft auf rund 8.000 Be-schäftigte angewachsen; mit etwa 4.800 Männern und Frauen arbeiteten davon über die Hälfte im Fahrzeugbau.

    Anders als in den folgenden Jahren mit hoher Arbeitslo-sigkeit, war es Anfang der 70er Jahre nicht unproblema-tisch, Personal in so kurzer Zeit, in einer Größenordnung von 3.000 Menschen, einzustellen. Unabhängig von Herkunft, Bildung, Geschlecht und Nationalität hatte na-hezu jede und jeder eine Chance, eingestellt zu werden.

    Die Personalabteilung griff in dieser Situation zu unkon-ventionellen Mitteln der Personalwerbung, etwa indem zwei Sachbearbeiter in den verschiedensten Städten des Umfeldes Gaststätten anmieteten und Bier und Würst-chen ausgaben. Aus Wettbewerbsgründen musste diese Methode jedoch wieder eingestellt werden. Angestellte der Personalabteilung wurden ins Ausland geschickt, um dort vor Ort Menschen einzustellen. Italien, die Tür-kei, Tunesien und Jugoslawien waren die bevorzugten Länder.

    Im weiteren Entwicklungsverlauf konnten die ursprüng-lichen Planziele jedoch nie auch nur annähernd erreicht werden. Zum Vergleich: 30 Jahre später sind mit 7.300 Beschäftigten etwa 36 Prozent der angestrebten Beleg-schaftsstärke auf nur cirka einem Drittel des Geländes mit 810.000 m˝ bebauter Fläche verwirklicht.

    Das K70-Montageband

    Was die Mitbestimmung anbelangt...

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    40 Jahre Volkswagenwerk Salzgitter

    Ich bin 42 Jahre alt, komme aus Moknine, einer Kleinstadt in Tunesien und habe dort die Schule besucht. Die Schulausbildung be-inhaltete unter anderem verschiedene Berufs -Praktika. So erlernte ich Grundkenntnisse als Schlosser, Schweißer und Elektriker. Mir ging es im Großen und Ganzen recht gut. Leider fehlten bei uns Arbeitsplätze.

    Ich erfuhr, dass das Arbeitsamt in Sousse junge und gesunde Arbeitskräfte für die deutsche Industrie suchte. Dort bewarb ich mich und bekam auch gleich eine Zusage. Ich fuhr mit dem Bus nach Tunis, um einige Formalitäten zu erledigen. Dort fand auch eine Untersuchung durch deutsche Ärzte statt. Diese Untersuchung war nicht sehr gründlich. Uns wurde gesagt, VW würde jeden brauchen, der zwei Hände, zwei Beine und zwei Augen habe.

    Wenig später, im Winter 1971, ich war 18 Jahre alt, begann unsere große Reise nach Deutschland. Wir fuhren mit dem Schiff zwölf Stunden lang von Tunis nach Palermo. Von dort aus ging es mit dem Zug weiter nach Braunschweig. Die Zugfahrt dauerte zwei Tage und drei Nächte. Anschließend wurden wir nach Salzgit-ter-Thiede, zum Brotweg, gefahren. Dort wurden wir im „Ledigenheim“ einquartiert. Zwei Kollegen teilten sich hier ein Zimmer; für je zehn Kollegen gab es eine Gemeinschaftsküche sowie eine Toilette beziehungsweise ein Badezimmer. Wir waren von der langen Reise so erschöpft, dass wir alles andere kaum wahrgenommen haben. Nun hieß es erst einmal: Schlafen!

    Übrigens: Frauen war der Zutritt zum Wohnheim Brotweg streng verboten. Es fanden auch Kontrollen statt. Ein Verstoß gegen diesen Punkt der Hausordnung hätte mit Kündigung geahndet werden können. Am ersten Arbeitstag bekamen wir unsere Arbeitsplätze zugewiesen, unsere Gruppe wurde getrennt. Mein Arbeitsplatz war in der Kostenstelle 7137. Dort bin ich auch heute noch! Dieser Arbeitstag verging recht schnell. Doch schon am nächsten Tag hieß es: Akkord! Die Belastungen erdrückten mich fast: Schwere körperliche Arbeit und enormer Zeitdruck! Die Pausen waren kurz. Nach der Schicht kam ich total erschöpft zum Wohnheim zurück. Die Arbeit, oder besser gesagt, die Erholung von dieser Arbeit bestimmte meinen Tag. An Freizeit-gestaltung war nicht zu denken.

    Das erste halbe Jahr hier in Deutschland war für mich sehr schlimm. So erging es auch vielen anderen tunesischen Kollegen: Die Arbeitsbedingungen machten uns sehr zu schaffen! Die Mentalität war grundver-schieden, die Sprache fremd. Das Wetter, die Ernährung, die gesamte Umgebung war ganz anders als bei uns. Wir hatten alle Heimweh. Einige von uns hielten das nicht aus und gingen nach Tunesien zurück. Von den insgesamt 300 tunesischen Kollegen, die mit mir zusammen hier im Werk die Arbeit aufnahmen, sind heute noch etwa 35 Kollegen hier. In der Krise 1974/75 sind viele nach Tunesien zurückgegangen.

    Nach einiger Zeit lernte ich in meiner Freizeit deutsch. Von Volkswagen gab es keinen Sprachkurs. Das Ver-hältnis zu den deutschen Kollegen und Vorgesetzten war in Ordnung. Zwar gab es Fragen wie: Habt ihr in Tunesien Wasser und Strom; gibt es bei euch Autos? Es war jedoch zu dieser Zeit von Ausländerdiskriminie-rung oder Ausländerhass nichts zu spüren. Ich war fünf Jahre lang, von 1972 bis 1977, Vertrauensmann für die etwa 150 tunesischen Kollegen in der Halle 1. Die Zusammenarbeit mit dem Betriebsrat war gut. Später heiratete ich eine deutsche Frau. Wir haben drei Kinder.

    Ich möchte, dass alle Menschen auf dieser Welt tolerant miteinander umgehen. Unsere Kinder sollen nicht mit Hass und Gewalt, sondern friedlich mit Liebe und in Geborgenheit aufwachsen!

    Von Tunis nach Thiede

    Kollege Salem Msolli, 1995, Fünf-Zylinder-Montage

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    Die ersten Beschäftigten waren 1970 im Werk in drei verschiedenen Produktionsfeldern tätig. Mit dem von der Neckarsulmer Automobilfabrik NSU konzipierten Fahr-zeug „K70“ kam der erste Frontantriebler einschließlich erstem wassergekühlten Motor unter der Volkswagen-marke auf den Markt. Das Werk Salzgitter war alleiniger Produzent. Als maximale Stückzahl sollten 500 Fahrzeu-ge pro Tag in Halle 1 und 2 gefertigt werden. Parallel zu Fahrzeugen stellte das Werk die neuen wassergekühlten Motoren für den K70 und Audi 100 in Halle 1 sowie ab 1973 den neuen Golf-Motor EA-827 in Halle 4 her. Zu-dem wurde zeitweilig auch ein aus dem Werk Hannover übernommenes Automaten- und Kleinteileprogramm ebenfalls in Halle 1 produziert.

    Im Rückblick stand der Autobau in Salzgitter unter kei-nem günstigen Stern. Die Nachfrage nach den „K70“ entwickelte sich nicht in gewünschtem Umfang, so dass bereits 1971 zur Beschäftigungssicherung die Mittel-klasselimousine, der VW 411/412 von Wolfsburg nach Salzgitter geholt wurde; ab 1973 kam aus dem gleichen Grunde der Passat hinzu.

    Aufbau der Interessenvertretung, erster Betriebsratsvorsitzender Rudi Anklam

    Um mit Beginn der Produktion auch die Rechte der Be-schäftigten vertreten zu können, wechselten ab Januar 1970 zum Aufbau der Interessenvertretung der Betriebs-rat Rudi Anklam mit den beiden Vertrauensleuten Hein-rich Buhmann und Willi Ide aus dem VW-Werk Hanno-ver nach Salzgitter. Der Hannoveraner Betriebsrat hatte sich gegenüber dem Wolfsburger Betriebsrat dafür stark gemacht, die „Aufbaugruppe“ aus seinen Reihen zu stel-len, zumal man Erfahrungen auch im Motorenbau besaß.

    Im Werk Salzgitter angekommen, wurden aus der Be-legschaft vier weitere Beschäftigte ausgesucht, die einschlägige Erfahrungen in der Gewerkschafts- bzw. Vertrauensleutearbeit mitbrachten. Mit Gert Beinsen und Robert Müller - aus dem Hannoveraner VW-Werk kommend – Klaus Homburg und Gerhard Köhler – ehe-mals Beschäftigte des VW-Werkes Braunschweig - so-wie Siegfried Küster – vormals Wolfsburg - war die erste Mannschaft komplett. Die Mitglieder waren alle freigestellt und erfüllten kom-missarisch die Aufgaben eines Betriebsrates, wobei der damals 32jährige Rudi Anklam zunächst den provisori-schen Vorsitzenden stellte.

    Am 26. März 1971, ein Jahr vor der nächsten turnusmä-ßigen Betriebsratswahl 1972, wurde die erste offizielle Betriebsratswahl durchgeführt. Der erste Betriebsrat, in dem auch zwei Frauen vertreten waren, setzte sich aus 20 Arbeiter- und drei Angestelltenvertretern zusammen. Rudi Anklam wurde zum ersten Betriebsratsvorsitzenden des Werkes gewählt.

    Rudi Anklam wurde am 28. Juni 1938 in Gajewo/ Pom-mern als Sohn von Landwirten geboren. Im Zuge der Umsiedlung kam er mit seinen Eltern und den beiden älteren Schwestern in die heutige Wedemark bei Hanno-ver. Nach seiner Ausbildung als Zimmermann begann er 1961 als Bandarbeiter im VW-Werk Hannover. Bereits zwei Jahre später wurde er dort zum Betriebsrat gewählt. Als nicht freigestellter Betriebsrat ging er im-mer wieder in die Produktion zum Arbeiten zurück mit den Worten: „Ich gehe jetzt Ventile mit dem Zollstock einstellen“. 1970 wechselte er zum Aufbau des Betriebs-rates in das neue VW-Werk Salzgitter über. 1971 wurde er zum Betriebsratsvorsitzenden gewählt. Dieses Amt be-kleidete er bis zu seinem vorzeitigen Tod im Jahre 1983.

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    40 Jahre Volkswagenwerk Salzgitter

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    Die Interessenvertretung fußte von Anfang an auf einer starken IG Metall im Betrieb. 1972 waren 22 der insge-samt 23 Betriebsrätinnen und -räte in der IG Metall or-ganisiert. Das erste, kleine Betriebsratsbüro des Werkes war in Halle 1, Sektor 3, untergebracht. In neun thema-tischen Ausschüssen wurden die wichtigen Themen der Interessenvertretung bearbeitet:Personalausschuss für Lohnempfänger, Lohnkommis-sion, Personalausschuss für Angestellte, Gehaltsaus-schuss, Arbeitssicherheitsausschuss, Wohnungs- und So-zialausschuss, Vorschlagwesen, Wirtschaftsausschuss, Verkehrs- und Kantinenausschuss.

    Die Arbeit der Betriebsrätinnen und -räte der ersten Stunde war geprägt durch Neueinstellungen - bis zu 80 Neueinstellungen pro Tag - sowie Informationen der Beschäftigten über Gewerkschaftsarbeit und Mitglie-derwerbung. Bis Sommer 1970 bezogen die Betriebsräte auch ein Zimmer direkt im Arbeitsamt, um die Einstel-lungsverträge sofort unterzeichnen zu können.

    Im Werk hatte man hierfür einen Schreibtisch neben der Personalabteilung. Parallel zur Unterzeichnung nutzten die Betriebsräte die Situation zur Mitgliederwerbung für die IG Metall. Ein Großteil der eingestellten Frauen und Männer war damals bereits organisiert, da viele von anderen Firmen mit hohem gewerkschaftlichen Organi-sationsgrad -Hütte, Linke-Hoffmann-Busch, MAN und anderen - kamen. Ende 1971 waren 96,8 Prozent der Be-schäftigten in der IG Metall organisiert.

    Ab 1971 wurde im Werk eine neue, dezentrale Lohn-kommission geschaffen, die sich paritätisch aus je drei Unternehmens- und Gewerkschaftsverterterinnen und -vertretern zusammensetzte. Diese war weisungsfrei und hatte die Aufgabe der Lohneinstufung auf Basis der Ta-rifverträge.

    Die ehemals zentrale Lohnkommission von Volkswagen war damit aufgelöst. Mittels eines analytischen Verfah-rens mussten die beteiligten IG Metall-Betriebsrätinnen und -räte entscheiden, welcher Lohn zukünftig an wel-chem Arbeitsplatz bezahlt werden sollte. Dies war eine sehr weitreichende Aufgabe, da durch die Definition von Aufgaben Organisationsstrukturen beein-flusst wurden.

    Ein weiterer Schwerpunkt der frühen Betriebsratsarbeit entstand nach der Neuordnung der Lohntafel. Die Ein-führung von Zwischenlohngruppen machte die Über-prüfung jeder Lohngruppe und damit die Neueinstufung aller Arbeitsfolgen eines jeden Arbeitsplatzes notwen-dig. Dies war für die Mannschaft der ersten Stunde, die sich in der Aufbauphase des Werkes nicht auf jahrelange Abläufe stützen konnte, keine leichte Aufgabe und sehr aufwendig. Die Lohnkommission tagte nicht selten von morgens 8 Uhr bis abends 23 Uhr. In diesem Rahmen holte man sich den Betriebsrat Gert Schulz aus dem VW-Werk Han-nover zur Unterstützung hinzu. Bei allem verfolgte der Betriebsrat das Ziel, entgegen tayloristischer Arbeitszer-legung die Arbeitssysteme mit möglichst qualifiziertem Arbeitsinhalt anzureichern.

    Angesichts der umfangreichen Aufbauarbeiten war die Zusammenarbeit zwischen dem Betriebsrat und der Personalabteilung relativ eng. Vieles beruhte auf Ab-sprachen. Aufgrund der Unerfahrenheit vieler neuer Betriebsräte und auch Manager wurde intensiv um die richtige Auslegung der Tarifverträge gestritten. In der internen Arbeit war dem Betriebsratsvorsitzenden Rudi Anklam die Fähigkeiten seiner Betriebsratskolleginnen und -kollegen nicht egal. Bekannt war er zum Beispiel für seine Forderung, ihm die Berechnungsweise der Vor-gabe- und Taktzeiten vorzuführen. Diese stellten ein da-mals wichtiges Rüstzeug für die Arbeit vor Ort dar.

    Der erste gewählte Betriebsrat 1971Stehend von links: Buhmann, Brukardt, Ristau, Rogasch, Menzel, Huberts, Müller, Lachnit, Ränsch, Beinsen, Werneke, Momsen, Lippmann, Buchardt, Ide, Peglow, Leistner; Sitzend von links: Küster, Wilmsmeier, Anklam, Köhler, Homburg

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    40 Jahre Volkswagenwerk Salzgitter

    Existenzkrise 1974/75 und Schließung des Fahrzeugbaus

    Nur einige Jahre später war alles auf den Kopf gestellt, Aufhebungs- und nicht Einstellungsverträge wurden zum Schwerpunkt der Betriebsratsarbeit. Während man noch Anfang 1974 überlegte, wie der zehntausendste Werkangehörige würdig begrüßt werden könnte - Be-legschaftsstand am 31. Dezember 1973: insgesamt 9.387 Beschäftigte! - führte einige Monate später eine massive Absatzkrise von Volkswagen zu insgesamt zehn Kurzar-beitsperioden im Unternehmen. In Salzgitter wurde fünf mal an 25 Tagen kurzgearbeitet. Für die Betroffenen be-deutete dies mindestens die Vorstufe zur Arbeitslosigkeit -unter finanziellen Gesichtspunkten gar die faktische, denn es gab damals noch keine Ausgleichzahlung von Volkswagen, und das vom Arbeitsamt bezahlte Kurzar-beitergeld belief sich auf 67 Prozent des Lohnes. Aus So-lidarität gingen große Teile des damaligen Betriebsrates mit in Kurzarbeit. Diese wurden daraufhin aber vom Ar-beitsamt kritisiert mit dem Argument, dass in einer der-artigen Krise genug Arbeit für sie anstünde. Daraufhin nahmen die Betriebsrätinnen und -räte ihre Arbeit wieder auf.

    Zusätzlich zur Kurzarbeit trat ein genereller Einstellstopp in Kraft, wenig später gefolgt von Aufhebungsverträgen. Aufhebungsverträge stellten damals ein Novum dar. Sie waren Mittel einer neuartigen Beschäftigungspolitik, die auf der freiwilligen Entscheidung von Einzelpersonen beruht, das Werk zu verlassen.Dafür zahlte das Unternehmen eine finanzielle Abfin-dung. Anders als bei Massenentlassungen konnte der Arbeitgeber damit ohne größere politische Konflikte Arbeitsplätze in großer Zahl streichen und so die Ge-samtbelegschaft in einem bis dahin bei Volkswagen un-bekannten Maße reduzieren. Die Volkswagen-Betriebs-rätinnen und -räte trugen diese Maßnahmen mehrheitlich - als bessere Alternative zu Entlassungen - mit. Im Werk Salzgitter wurden im Verlauf des Jahres 1974 etwa 1.000 Beschäftigte „freigesetzt“; im Frühjahr 1975 arbeiteten noch 8.300 Kolleginnen und Kollegen im Werk. Da in der Region Salzgitter zu dieser Zeit ein positives Wirt-schaftsklima herrschte, konnten viele der ausscheiden-den Beschäftigten sofort eine Anstellung, zum Beispiel bei der heutigen Salzgitter AG, bei LHB, MAN und an-deren finden.

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    Ein ehemaliger Kollege vom Hochband 411/412 erzählt:

    „1971 habe ich als Überkopfschweißer im Werk ange-fangen. Das war eine sehr schwere körperliche Arbeit, aber gut bezahlt. Ein Jahr später konnte ich mich dann als Vorrichtungsschlosser in den Schnittbau versetzen lassen.

    Als klar wurde, dass der Fahrzeugbau geschlossen wer-den sollte, ich zum Teil selbst die Oval- und Rundbänder im Rohbau mit demontieren musste, war für mich die berufliche Zukunft im Werk mehr als fraglich geworden. Ein junger Familienvater mit ungewisser Zukunft... Die angebotenen Aufhebungsverträge wurden heiß disku-tiert. Aber freiwillig aufhören zu arbeiten, ohne gleich-zeitig eine neue Stelle antreten zu können, war unmög-lich für mich; selbst das angebotene Geld konnte nicht locken. In der Region weigerten sich einige Betriebe, obwohl sie Bedarf an Arbeitskräften hatten, VW-Werker einzustellen, da 1970 Volkswagen viele Mitarbeiter von ihnen abgeworben und einige Betriebe damit sogar in eine schlimme Existenzkrise getrieben hatte.

    Freiwillig sind damals nicht genug über Aufhebungsver-träge gegangen, so dass sozusagen übers Wochenende die Abfindungen pro „Nase“ um 5.000 DM erhöht wur-den. Mein Kollege und seine Frau hatten eine Woche zu-vor aufgehört und ärgerten sich jetzt, da nur einige Tage später 10.000 DM mehr drin gewesen wären.

    Ich hatte mich dann bei anderen Arbeitgebern umgehört und eine Zusage von der SMAG, der heutigen Salzgitter Maschinenbau GmbH, in der Tasche. Daraufhin unter-zeichnete ich am 16. Mai 1975 einen Aufhebungsvertrag

    mit einer circa 14.000 DM hohen Abfindung. Dabei war die Hälfte der Bundeswehrzeit auf die Werkzugehörigkeit angerechnet worden. Vom Geld bezahlte ich meinen neu-en Golf in bar, kaufte ein neues Schlafzimmer und ging mit meiner Frau einmal gut essen.

    Viele ehemalige Kollegen, die ich später gesprochen habe, hatten schon kurz nach ihrem freiwilligen Weg-gang ihre Entscheidung bitter bereut. Die Sozialleistun-gen und Löhne von Volkswagen konnte kein Kleinbetrieb bieten. Ich selbst stand zehn Jahre später, im Jahr 1985, wieder vor der Frage: „Was nun“? Die Salzgitter AG hatte entschieden, einen Teil der Fertigung nach Würz-burg zu verlagern, und die SMAG musste Personal ab-bauen. Im Februar 1986 habe ich mich dann sowohl bei der neuen Firma Nöll in Würzburg als auch bei VW-Salzgitter beworben. Volkswagen war eine gute Alterna-tive und Chance, wie meine Frau meinte, um sesshaft zu werden. Viel hatte ich von meinen Söhnen, damals zwölf und sieben Jahre alt, nicht mitbekommen, da ich viel auf Auslandsmontage unterwegs war.

    Zwei Tage später hatte ich einen Vorstellungstermin inklusive ärztlicher Untersuchung bei VW-Salzgitter. Meine alte Stammnummer lag auf dem Tisch der Per-sonalabteilung, sämtliche Unterlagen waren noch vor-handen. Der Arzt meinte scherzhaft: „Sie haben aber gut abgenommen, vor elf Jahren haben sie noch viel mehr gewogen“. Ich hab` dann als Neuer in der Zylinderkopf-Transferstraße wieder angefangen.

    Seit 1994 bis zu meinem Ausscheiden im Jahr 2004 war ich Betriebsrat im mechanischen Bereich und Fraktions-sprecher“.

    Erhard Raimer

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    40 Jahre Volkswagenwerk Salzgitter

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    Doch sollte der Personalabbau damit nicht zu Ende sein. Während noch zwei Monate vorher der Betriebsratsvor-sitzende davon ausging, dass mit Kurzarbeit die weiteren Probleme zu bewältigen wären, trat am 14. April 1975 der Personaleinsparungsplan „S1“ in Kraft. Dieser war entgegen der Ablehnung der Arbeitnehmerseite im Auf-sichtsrat durchgesetzt worden. Bezüglich seiner Umset-zung führten die Volkswagen-Betriebsrätinnen und -räte harte Auseinandersetzungen. Der Gesamtbetriebsrat ver-handelte über einen Sozialplan und einen Interessenaus-gleich mit dem Unternehmen.

    Auf Grundlage des „S1“-Planes wurde nur fünf Jah-re nach seinem Aufbau der Fahrzeugbau in Gänze ge-schlossen und die Produktion nach Wolfsburg verlagert. Der Vorstand tat dies, obwohl das Werk Salzgitter mit die höchsten Produktivitätskennziffern unter den VW-Werken aufweisen konnte. Daraus wird ersichtlich, dass es sich bei der Schließung um eine weitgehend politische Entscheidung handelte. Von Juni 1970 bis Juni 1975 hat-ten insgesamt 418.353 Fahrzeuge - „K 70“, 411/412er, Passat-Variant - das Werk verlassen.

    Die Bemühungen des Betriebsrates, den Fahrzeug-bau zumindest einschichtig im Werk Salzgitter zu erhalten, schlugen fehl, obwohl der Betriebsrat zahlreiche Gespräche mit vielen Vertretern aus Wirt-schaft und Politik geführt hatte. Von der IG Metall organisiert und vom Gesamtbetriebsrat unterstützt war auch eine große Protestkundgebung der Beleg-schaft vor dem Rathaus Salzgitter-Lebenstedt im Ap-ril 1975 durchgeführt worden. Die Stadt Salzgitter hatte außerdem am 11. April 1975 eine „Resolution zur Lage des VW-Werkes“ verabschiedet, in welcher sie eine Verdopplung der Arbeitslosenquote der Re-gion, die mit 6,4 Prozent bereits überdurchschnitt-lich hoch war, befürchtete. Nicht zuletzt durch die Anstrengungen der Interessenvertretung und der IG

    Metall konnte zumindest die vom Betriebsrat befürchtete Schließung des Gesamtwerkes verhindert werden. Durch die Beendigung des Fahrzeugbaus war die Be-legschaft in Salzgitter seit 1974 auf rund 5.300 Beschäf-tigte, vor allem durch den Abschluss freiwilliger Aufhe-bungsverträge mit minus 43 Prozent nun nahezu halbiert worden. Die Belegschaft der inländischen Volkswagen-werke wurde in den Jahren 1974/75 um insgesamt über 40.000 Beschäftigte reduziert. Zugleich wurden nahezu 33.000 Arbeitsplätze gestrichen.

    Die „Personalfreisetzungen“ können hierbei als eine ver-steckte Personalauswahl, jedoch ohne Berücksichtigung der sozialen Verpflichtungen eines Sozialplanes, verstan-den werden. Dementsprechend stellten Akkordarbeiter und Randgruppen wie Ältere, Frauen und Ausländer die verhältnismäßig größten Gruppen der Ausscheidenden. 1975 war der Anteil der im Werk Salzgitter beschäftigten Ausländerinnen und Ausländer gegenüber 1973 um 75 Prozent zurückgegangen.

    Ver- und Umsetzungen

    Begleitet wurden diese Maßnahmen von umfangreichen Versetzungen auf allen Ebenen. Diese wurden aufgrund der Stilllegung von spezifischen Arbeitsplätzen notwen-dig, da nur zufallsbedingt genau die Beschäftigten aus-schieden, deren Arbeitsplätze auch wegfallen sollten. 1974 wechselten insgesamt 513 Beschäftigte aus den VW-Werken Hannover und Braunschweig nach Salzgit-ter; von Salzgitter nach Wolfsburg wechselten ein Jahr darauf insgesamt 259 Beschäftigte. Auch innerhalb des Werkes mussten umfangreiche und komplizierte Verset-zungen vorgenommen werden, da rund die Hälfte der im Fahrzeugbau beschäftigten Kolleginnen und Kollegen nun im Motorenbau mit sehr unterschiedlichen Anforde-rungen arbeiten sollten.

    Der letzte in Salzgitter gebaute Passat läuft im Juli 1975 vom Band

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    40 Jahre Volkswagenwerk Salzgitter

    Neueinstellungen folgten

    Von allen unerwartet setzte in der zweiten Jahreshälfte 1975 ein ausgesprochener Nachfrageboom ein, der die Auslastung des Werkes glücklicherweise schnell wieder stabilisierte. Die Motorenfertigung wurde weiter ausge-baut. Täglich verließen nun 3.778 Motoren das Werk - rund 800 Stück mehr als 1974. So kam es weder zu Ent-lassungen noch zum Abschluss eines Sozialplans, wie im S1-Plan als letztes Mittel vorgesehen. Im Gegenteil wur-de fast unmittelbar nach dem Abbau der Belegschaft für bestimmte Tätigkeiten wieder Personal eingestellt. Kurz zuvor ausgeschiedene Beschäftigte versuchten, sich er-neut zu bewerben mit den Worten: „Wir zahlen das gan-ze Geld, was wir bekommen haben, wieder zurück, aber stellt uns wieder ein“! Im Laufe von 13 Jahren konnte so in zwei Schüben mit 9.985 Beschäftigten im Jahr 1986 wieder ein ähnlich hohes Personalniveau erreicht wer-den wie vor der Krise. Von 1975 bis 1980 wurde die Be-legschaft um rund 2.000, von 1984 bis 1986 um weitere 2.600 Beschäftigte aufgestockt.

    Bundesweites Pilotprojekt zur Gruppenarbeit durchge-führt

    Ein wichtiger Baustein der Betriebsratsarbeit schon in der Entstehungsgeschichte des Werkes war die Grup-penarbeit. Von 1975 bis 1978 wurde im Rahmen des sogenannten „HdA -Humanisierung des Arbeitslebens-Projektes“ zum ersten Mal in der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte eine Alternative zum Fließband ausprobiert. Das Projekt wurde vom Bundesministerium für Forschung und Technologie finanziell gefördert und von den Technischen Hochschulen Zürich und Darm-stadt begleitet. Insgesamt 28 Beschäftigte montierten an der „Teletraktlinie“ in Gruppen, so genannten „Monta-genestern“, mit jeweils sieben Personen komplette Fünf-Zylinder-Motoren. Der Montagezyklus dauerte 35 bis 45 Minuten, anstatt des vormaligen Arbeitstaktes von cir-ca 30 Sekunden. Die Beschäftigten führten im Wechsel neben der Montage auch die Materialbereitstellung, das Fahren der Einlaufstände und die Nacharbeit durch.

    Das Projektergebnis sprach deutlich für die Gruppen-arbeit. Die Beanspruchung war erheblich geringer als am Montageband und die Arbeitsinhalte zugleich an-spruchsvoller. Die hier Beschäftigten zeigten sich mit der Arbeit zufriedener als die Kolleginnen und Kolle-gen der herkömmlichen Bandmontage. Effiziente Ferti-gung ließ sich mit sozial fortschrittlicher Gruppenarbeit verbinden. Mit der Argumentation des Unternehmens, Gruppenarbeit sei nur bei Stückzahlen unter 400 Moto-

    ren wirtschaftlich, stoppte Volkswagen in der Folgezeit jedoch die Fortsetzung dieser humanisierten Arbeitsform zugunsten rein betriebswirtschaftlicher Managementkal-küle. Der Betriebsrat ließ sich davon nicht beirren und verfolgte das Ziel der Einführung einer menschenge-rechten Arbeitsorganisation weiter. In den 80er Jahren sollte es zu einem Neuanlauf kommen.

    Urabstimmung im Rahmen des 78er-Tarifkampfes

    Am 19. und 20. April 1978 fand die bislang einzige Urabstimmung statt. Auf Basis des Ergebnisses einer rund 88-prozentigen Zustimmung konnte die Große Ta-rifkommission der IG Metall bereits zwei Tage später eine 5,9-prozentige Lohn- und Gehaltsanhebung sowie weitere Erhöhungen der Ausbildungsvergütung und der Leistungszulagen im Zeitlohnbereich abschließen. Der Großteil der Beschäftigten, die im Vorfeld an mehreren Warnstreiks teilgenommen hatten, begrüßte dies aber nicht vorbehaltlos. Vielmehr herrschte aufgrund der vo-rangehenden Beschließung von Kampfmaßnahmen auch Unmut darüber, dass der Abschluss über Nacht und rein auf dem Verhandlungswege zustande gekommen war. Mit Verzicht auf Kampfmaßnahmen sei das bestehende Handlungspotential nicht voll ausgeschöpft worden, so die Kritiker/innen.

    Ausbildungswerkstatt

    Fast zehn Jahre nach der Eröffnung des Werkes, am 12. September 1979, wurde die langjährige Forderung des Betriebsrates erfüllt, eine Ausbildungswerkstatt zu er-öffnen. Bis dahin hatte sich Volkswagen den schlechten Ruf geleistet, als zweitgrößtes Unternehmen im Raum Salzgitter nicht auszubilden. Die ersten 20 jungen Leute

    Weg vom Fließband durch Gruppenarbeit: Bis zu drei Beschäftigte montieren gleichzeitig auf Montagewagen EA-827-Motoren

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    40 Jahre Volkswagenwerk Salzgitter

    konnten nun unter Anleitung von drei Meistern ihre Aus-bildung als Werkzeugmacher/innen, Betriebsschlosser/innen und Maschinenschlosser/innen in Halle 1 aufneh-men.

    II. DIE 80ER JAHRE

    Von der Kurzarbeitskrise zum „Motorenleitwerk“, Personalhöchststand und Ausbau des Werkes

    Christlich-liberale Rahmenpolitik der 80er Jahre: Konservative Wende und Sozialabbau

    Nach dem Koalitionswechsel der FDP 1982 von der SPD zur CDU und mit den Wahlen von 1983 übernahm eine konservativ-liberale Regierung das politische Steu-er in der Bundesrepublik. Die Sozialdemokraten erlitten eine dramatische Niederlage. Als neue Kraft etablierten sich die Grünen. Die neue „Kohl-Regierung“ trat an, die sozial-liberale Wirtschafts- und Sozialpolitik zu „korri-gieren“ mit dem Ziel, die Verwertungsbedingungen des eingesetzten Kapitals zu verbessern. Unter dem Motto der „Deregulierung“ - Zurücknahme von Regeln - soll-ten angebliche Investitionshemmnisse abgebaut und die internationale Wettbewerbsfähigkeit verbessert werden. Als Hauptgegner galten nun der Sozialstaat und die Ge-werkschaften. Sozialleistungen wurden auf breitem Feld abgebaut. Die wichtigsten angekündigten Stoßrichtun-gen waren: Flexibilisierung der Arbeitszeiten und der Entgeltsysteme, Absenkung der Lohnersatzleistungen, Strukturreformen in der Kranken- und Rentenversiche-rung, Sozialhilfe, Privatisierung öffentlicher Dienstleis-tungen und Unternehmen.

    Trotz massiver Proteste der Gewerkschaften in ganz Deutschland - die Stadt Wolfsburg erlebte am 10. De-

    zember 1985 mit über 30.000 Teilnehmenden die größ-te Demonstration ihrer Geschichte, in Salzgitter gingen über 10.000 Menschen auf die Straße - wurde das Kurz-arbeitergeld im Streikfall abgeschafft - § 116 Arbeitsför-derungsgesetz. Damit wurden die Gewerkschaften deut-lich geschwächt. Die Forderung der Gewerkschaft nach Revidierung dieses veränderten Streikparagraphens hat bis heute Bestand und die derzeit amtierende rot-grüne Regierung ihr Versprechen nach Rücknahme noch nicht eingelöst. Beherrschendes tarifpolitisches Thema der Dekade der 80er Jahre war die 35-Stunden-Woche. Die-ses war mit der Auseinandersetzung um den Streikpara-graphen unmittelbar verknüpft. Aufgrund der massiven Ablehnung von Regierung und Arbeitgebern war der Kampf um die Arbeitszeitverkürzung zu einem gesell-schaftlichen Großkonflikt geworden.

    Die IG Metall hatte in einem der längsten und härtes-ten Arbeitskämpfe seit Bestehen der Bundesrepublik den Einstieg in die Wochenarbeitszeitverkürzung erreicht. Die Arbeitgeber hatten sich dabei nicht gescheut, in ei-nem bis dahin ungekannten Ausmaß hunderttausende von Beschäf-tigten kalt auszusperren. 1984 war aufgrund des Lieferstopps von Lichtmaschinen durch die Firma Bosch auch rund die Hälfte der Volkswagen-Beschäftigten be-troffen. Im Juni 1984 waren fast 60.000 Beschäftigte der Volkswagen AG vier Wochen lang durch die Produkti-onseinstellung in den sechs Werken ohne Arbeit und so-mit ohne Lohn kalt ausgesperrt worden.

    Ausbau des Volkswagenwerkes Salzgitter zum „Motorenleitwerk“

    Nach dem unerwarteten Tod des 45jährigen Rudi Anklam am 6. November 1983 wurde Heinrich Buhmann zwei Wochen später zum neuen Betriebsratsvorsitzenden ge-wählt.

    Die ersten 20 „Azubis” beginnen im September 1979 ihre Berufs-ausbildung in der neuen Ausbildungswerkstatt des Werkes

    Neuer Betriebsratsvorsitzender: Heinrich Buhmann

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    Heinrich Buhmann wurde am 16.April 1937 in Equord, Landkreis Peine, geboren. Dort absolvierte er auch eine Lehre als Schmied, arbeitete in seinem Beruf und wech-selte später als Schlosser in den Bergbau. 1960 fing er als Maschinenarbeiter im Volkswagenwerk Hannover an. Sehr bald wurde er hier zum gewerkschaftlichen Ver-trauensmann gewählt. 1970 wechselte er gemeinsam mit Rudi Anklam in das neue Werk Salzgitter. Bei der ersten Betriebsratswahl des Werkes am 26. März 1971 wurde er in den Betriebsrat gewählt. Dort war er Mitglied des Betriebsausschusses und Vorsitzender des Arbeitssicher-heits- sowie des Planungsausschusses. 1983 wurde er mit 46 Jahren zum neuen Betriebsratsvorsitzenden ge-wählt. Dieses Amt übte er bis zu seinem Wechsel in den Vorruhestand im Jahr 1994 aus.

    Seit Mitte der 80er Jahre wurde der Betriebsrat zuneh-mend zum Schauplatz interner Auseinandersetzungen um die angemessene Politik der Interessenvertretung an-gesichts der sich damals bereits abzeichnenden Proble-matik der Internationalisierung und Produktionsverlage-rung. Eine Gruppe von Belegschaftsvertreterinnen und -vertretern kritisierte die offizielle Betriebsratsstrategie der vertrauensvollen Zusammenarbeit mit der Werk-leitung und dem Vorstand bei gleichzeitig angedrohter Verlagerung von Produktion und damit dem Abbau von 1.968 Arbeitsplätzen.

    Die Mitglieder dieser Gruppe wollten zuerst die Schaf-fung von Ersatzarbeitsplätzen gesichert wissen. Zudem

    verfolgten sie bezüglich der Arbeitsweise in den Gremi-en ein anderes Politikkonzept mit basisdemokratischer Zielsetzung. In einem langwierigen Konflikt konnte man sich schließlich in Form eines „Plattformpapiers“ auf ge-meinsame interne Verfahrensregeln einigen. Durch den Erfolg der Mitglieder dieser „kritischen Gruppe“ in spä-teren Wahlen sollte sich dieser Konflikt als ausschlagge-bend für die Weiterentwicklung der Interessenvertretung des Werkes in den 90er Jahren erweisen.

    Kurzarbeitskrise 1982

    Wiederholt forderte der Betriebsrat die Wiedereröffnung des Fahrzeugbaus. Schließlich gab es vom Vorstand grünes Licht. Der Fahrzeugbau sollte 1982 zurück nach Salzgitter kommen. Insgesamt waren 200 Millionen Mark für 2.500 neue Arbeitsplätze geplant. Dass es dann doch nicht soweit kam, lag an der zweiten Krise, die das Volkswagenwerk Salzgitter zu bestehen hatte. Im September 1982 mussten aufgrund anhaltender Absatz-probleme die Betriebsrätinnen und -räte sowie der Ge-samtbetriebsrat der vom Vorstand für alle sechs inländi-schen Werke beantragten Kurzarbeit zustimmen. Anders als noch 1974/75 erhielten nun die VW-Beschäftigten jedoch zu ihrem Kurzarbeitergeld von 68 Prozent eine Ausgleichzahlung durch das Unternehmen auf 95 Pro-zent ihres Nettoverdienstes. Aufgrund der unsicheren Absatzlage ließ der Vorstand den Plan der Wiedereinfüh-rung des Fahrzeugbaus im Werk Salzgitter fallen.

    20. Oktober 1982, 11.00 Uhr: Der zehnmillionste Motor aus Salzgitter wird „gefeiert”. Am Rednerpult der erste und ein Jahr später leider verstorbene Betriebsratsvorsitzende Rudi Anklam.

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    40 Jahre Volkswagenwerk Salzgitter

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    „Motorenleitwerk“: Personalhöchststand und Ausbau des Werkes

    Parallel zur Forderung nach Wiederaufnahme des Fahr-zeugbaus hatte der Betriebsrat zu Beginn der 80er Jah-re das Konzept „Motorenleit-werk VW-Salzgitter“ ent-wickelt. Mit der Verlagerung des EA-811-Motors von Hannover nach Salzgitter wurde dieses realisiert. Das Werk Salzgitter war nun der größte und wichtigste Mo-torenprodu-zent im weltweiten VW-Verbund. Weitere motoren-produzierende Werke waren Audi-Ingolstadt und VW-Puebla in Mexiko. Mit Stolz konnte das Werk am 20. Oktober 1982 um 11.00 Uhr in der Halle 4 an der Montagelinie 2, der so genannten Rennbahn, den zehn-millionsten Motor präsentieren. Es handelte sich um ei-nen EA-827 Golf-GTI-Motor mit 1,8 Liter und 112 PS. Der Ausbau des Werkes zum Motorenleitwerk und die 1985 eingeführte 38,5-Stunden-Woche führten zwischen 1984 und 1986 zum zweiten „Schub” der Belegschafts-aufstockung um weitere rund 2.600 Beschäftigte. Auf der Betriebsversammlung im März 1986 konnte der Be-

    triebsratsvorsitzende den 10.000sten Beschäftigten, Gerhard Maier, begrüßen. Wenig später, am 31. Juli 1986, erreichte das Werk Salzgitter seinen histo-rischen Personalhöchst-stand: 10.291 Kollegin-nen und Kollegen waren an diesem Tag bei Volks-wagen Salzgitter beschäf-tigt!Neben der Belegschaft wurde in diesem Jahr-zehnt auch das Werk um weitere Hallen und An-bauten erweitert. Bedarf hierfür entstand hauptsächlich durch das „Spanien-Engagement“ von Volkswagen mit dem Automobilhersteller SEAT - 1982 kam es zu ei-nem Vertragsabschluss über Kooperation, Lizenz und technische Unterstützung, 1986 übernahm Volkswagen 75 Prozent des Kapitalanteils des spanischen Unterneh-

    März 1986: Der 10.000ste Beschäf-tigte des Werkes: Gerhard Maier!

    Automatisiertes Ventilestecken in den 80er Jahren: Die Greifer der automatischen Anlage greifen die Ventile, drehen sie um 90° , positionieren sie, ein anderer Greifer führt sie ho-rizontal zu. Der Zylinderkopf kippt automatisch in die passende Stellung (EA-188- bzw. EA-827-Motor).

    Automatisierung - Von der Handarbeit über automatische Anlagen zu Robotern

    Manuelles Ventilestecken in den 70er Jahren: Der Kollege dreht den Zylinderkopf, nimmt die Ventile aus der Palette hinter sich heraus, führt diese horizontal ein und dreht den Zylinderkopf wieder um (alter EA-188-Motor).

    Ventilestecken durch Roboter seit Ende der 80er Jahre: Roboter greifen sich die Ventile und führen sie vertikal in die Zylinderköpfe ein (EA-111-Motor).

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    40 Jahre Volkswagenwerk Salzgitter

    mens. Daneben war es die Entscheidung über eine neue Zylinderkopfstraße in der mechanischen Fertigung für den EA-827-Motor, die der Forderung des Betriebsrates, zusätzliche Hallen in Salzgitter aufzubauen, zum Durch-bruch verhalf. 1988 wurde mit der Halle 3 Raum für die mechanische Fertigung von zum Beispiel Zylinder-köpfen, Kurbelwellen und Pleuel geschaffen und Halle 2 um zusätzliche Flächen erweitert. Heute sind dort die VR6- sowie die EA-111-Montagen der Polo- und Golf-Motoren angesiedelt.

    Einführung der Gruppenarbeit im Rahmen der Automatisierung

    Nach dem ersten zwar vielversprechenden, aber erfolglo-sen Anlauf in den 70er Jahren, Gruppenarbeit einzufüh-ren, gelang es dem Betriebsrat mit Unterstützung der IG Metall und der Belegschaft Anfang der 80er Jahre erst-mals, nachhaltig Gruppenarbeitsstrukturen im Betrieb zu verankern. Anlass war die 1982 vom Unternehmen ange-kündigte Automatisierung der Zylinderkopfmontage des EA-827-Motors, nach deren Realisierung zum Schluss von 125 Arbeitsplätzen nur 18 übrig blieben. Entgegen der traditionellen, tayloristischen Zielsetzung des Unternehmens, in getrennten Arbeitssystemen eine „olympiareife Mannschaft“ von Logistikern, Nacharbei-tern und Anlagenführern an der neuen Linie einzusetzen, gelang es dem Betriebsrat, ein ganzheitliches, durch-lässiges Arbeitssystem in Form des „Anlagenführers“ durchzusetzen. Alle anfallenden Arbeiten wurden nun von einer Gruppe von Anlagenführerinnen und -führern im Wechsel bewältigt.

    Die bis dahin strikt voneinander getrennten Arbeitssys-teme der Lohnstufen F, G und H konnten nun von den Beschäftigten „durchlaufen“ werden, mit dem Ergebnis, dass alle gleichermaßen in die Lohnstufe H eingestuft

    werden konnten. Dies stellte ein Novum in der Volks-wagen AG dar. Bei der Personalrekrutierung für diese neuen, mit Steuerungs- und War-tungsinhalten angerei-cherten Tätigkeiten wurde auf das bestehende Personal der konventionellen Zylinderkopflinie zurückgegriffen. Zum ersten Mal hatte damit ein Betriebsrat in der Bun-desrepublik die Berücksichtigung von Frauen, Auslän-derinnen und Ausländern sowie Schwerbehinderten bei der Personalauswahl einer automatischen Fertigung durchgesetzt. Ein neues, erwachsenengerechtes Qualifi-zierungsprogramm half dabei, die Beschäftigten auf die Arbeit mit den neuen Technologien vorzubereiten.

    Im Zusammenhang mit der Gruppenarbeit machte der Betriebsrat die Erfahrung, dass sich mehr Beteiligung und Mitspracherechte nicht automatisch einstellten. Um diese jedoch zu gewährleisten, und um „Selbstausbeu-tung“ beziehungsweise die Ausgrenzung von „Leis-tungsschwächeren“ zu verhindern, setzte er klar defi-nierte Beteiligungsrechte der Gruppe sowie Regelungen über Leistungen durch.

    Weitere Gruppenarbeit wurde in den darauf folgenden Jahren bei der Automatisierung der Rumpfmotorenlinie, wo es zur Einführung der Lohngruppe I für Instandhalte-rinnen und -halter kam sowie an der Zylinderkopflinie in der damaligen Montagekostenstelle 7186 installiert. Ihre flächendeckende Einführung wurde jedoch erst in den 90er Jahren zum umstrittenen Thema.

    Eröffnung des Bildungszentrums 1989

    Bereits seit Inbetriebnahme einer Ausbildungswerkstatt im September 1979 forderte der Betriebsrat den Bau ei-nes eigenen Bildungszentrums. Erst zehn Jahre später kam der Vorstand dieser Forderung definitiv nach. Zuvor zeigte er sich unentschlossen, indem er bereits für ein Bildungszentrum genehmigte Investitionen in Höhe von 18 Millionen DM wieder zurückzog.

    Die Belegschaft reagierte mit zahlreichen Protesten. In diesem Rahmen tat sich besonders die Jugend- und Aus-zubildendenvertretung hervor, als sie 1986 zusammen mit den rund 160 Auszubildenden erstmalig auf einer Betriebsversammlung für ein Bildungszentrum demons-trierte. Dies war einzigartig für eine Betriebsversamm-lung der inländischen Volkswagenwerke. Hintergrund der Aktionen war die hohe Jugendarbeitslosigkeit: Auf die 68 Ausbildungsplätze, die das Werk Salzgitter zu bieten hatte, bewarben sich beispielsweise 998 Jugendli-che im Jahr 1986 und 1.079 im Jahr 1987! In jenem Jahr stimmte dann auch der Vorstand der Errichtung eines neuen Bildungszentrums zu.

    Die Beschäftigten der manuellen Zylinderkopflinie im Jahr 1982

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    40 Jahre Volkswagenwerk Salzgitter

    Am 29. September 1989 erfolgte der erste Spatenstich. Eineinhalb Jahre später, am 25. Januar 1991, wurde es für die Ausbildung von Elektriker/innen, Werkzeugma-cher/innen, Maschinenschlosser/innen, Kfz-Mechaniker/innen und Bürogehilfinnen eröffnet.Seitdem sind hier rund 1.850 junge Menschen ausgebil-det worden; weitere 182 junge Kolleginnen und Kolle-gen befinden sich derzeit in der Ausbildung.

    III. DIE 90ER JAHRE

    Internationale Produktionskonkurrenz und Kampf um Arbeitsplätze

    Wendezeit in den 90er Jahren: von der konservativ-liberalen zur rot-grünen Regie-rungspolitik im vereinigten Deutschland

    Mit Beginn der 90er Jahren wurde die am 3. Oktober 1990 vollzogene Vereinigung Ost- und Westdeutschlands beherrschendes innenpolitisches Thema. Mit ihr kam es zu einem besonderen Nachfrageboom für die westdeut-sche Industrie, gefolgt von einer schweren Rezension im Jahre 1992. Vor diesem Hintergrund kam nun auch die Globalisierungsdebatte in Wirtschaft und Politik voll zum Tragen. Sie wurde von der bis 1998 amtierenden „Kohl-Regierung“ vornehmlich unter dem Gesichts-punkt der Gefährdung des „Standortes Deutschland“ durch die vermeintlich zu hohen Lohnkosten geführt.

    Die sozialpolitischen Einschnitte wurden auch in den 90er Jahren fortgesetzt. Im Rahmen des so genannten „Sparpaketes“ wurde die 100prozentige Lohnfortzah-lung im Krankheitsfall abgeschafft, die Gesundheits-versorgung beschnitten, der Kündigungsschutz einge-schränkt, Arbeitslosengeld und -hilfe sowie Renten und

    Sozialhilfe gekürzt. 1996 strich die Bundesregierung den Vorruhestand als Möglichkeit des sozialverträglichen Personalabbaus und führte im Gegenzug das Altersteil-zeitgesetz ein. Tarifpolitisch konnten Mitte der 90er Jah-re die Gewerkschaften die 35-Stunden-Woche durchset-zen. Im Gegenzug mussten sie allerdings eine erhöhte Flexibilisierung der Arbeitszeit akzeptieren.

    Während der Krise, die die deutsche Automobilindustrie aufgrund des Einigungsbooms einige Monate verzö-gert im Jahre 1993 traf, wurde bei Volkswagen an allen Standorten kurzgearbeitet - in Salzgitter im Schnitt pro Beschäftigten 80 Tage, in den Montagen sogar 120 Tage. Dabei wurde auch über Massenentlassungen diskutiert. 30.000 Arbeitsplätze waren nach Unternehmensangaben in der Volkswagen AG gefährdet. In diesem Zusammen-hang wuchs in Salzgitter die Angst vor einer möglichen Werkschließung. Doch gelang es der IG Metall und dem Gesamtbetriebsrat, das Unternehmen zu neuartigen Lö-sungsmöglichkeiten zu bewegen. Innerhalb nur weniger Monate Verhandlungszeit wurde im Dezember 1993 ein in Deutschland und weltweit einzigartiger, historischer Tarifvertrag zur Beschäftigungssicherung für die sechs inländischen VW-Standorte abgeschlossen, der die Ein-führung der so genannten Vier-Tage-Woche bzw. der 28,8-Stunden-Woche brachte.

    Der 1997 abgeschlossene Tarifvertrag zur Altersteilzeit stellt den zweiten wichtigen Baustein der Beschäfti-gungssicherung bei Volkswagen dar. Er sollte eine An-schluss-lösung für den von der Regierung zuvor abge-schafften Vorruhestand bieten.Mit durchschnittlich 85 Prozent des letzten Nettoein-kommens während der Altersteilzeitphase und 100 Prozent der Rentenversicherungsbeiträge übertraf der Tarifvertrag das Gesetz und alle übrigen Tarifverträge. Volkswagen glich hierbei die von der Bundesregierung

    „Hände weg von der Lohnfortzahlung”! Am 9. und 10. Juli 1996 ziehen die Früh-, Spät- und Nachtschichten des Werkes demonstrativ vor das Werktor

    Auszubildende beginnen im Januar 1991 ihre Ausbildung im neuen Bildungszentrum

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    40 Jahre Volkswagenwerk Salzgitter

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    Andreas Blechner wurde am 3. November 1957 in Salz-gitter-Lebenstedt als dritter Sohn von sechs Kindern ge-boren. Schon als Auszubildender des Maurerhandwerks setzte er die tarifgerechte Bezahlung der Lehrlinge beim Arbeitgeber durch. In der Folge machte er die Erfah-rung, elf Monate vor Ausbildungsende arbeitslos zu werden. Als Zwischenspiel folgte 1975 eine kurzfristige Tätigkeit als Zeitungsabonnement-Verkäufer, deren pro-blematische Organisation - „Drückerkolonne“ - er bald wieder verließ, nicht ohne vorher Anzeige erstattet zu haben. Im Nachgang entstand hieraus eine Buchveröf-fentlichung, die anschließend auch verfilmt wurde. 1976 fing Blechner mit 18 Jahren bei Volkswagen Salzgitter an der Montagelinie, der so genannten „Rennbahn“, an. 1978 wurde er zum Vertrauensmann, 1987 zum Betriebs-rat und 1994 erstmals zum Betriebsratsvorsitzenden ge-wählt. Dieses Amt hält er bis heute inne.

    Mit der Wahl Blechners zum Betriebsratsvorsitzenden sowie weiteren Mitgliedern in den Betriebsrat hatte die Mitte der 80er Jahre mit basisdemokratischen Ansprü-chen angetretene „kritische Gruppe“ nun die weitgehen-de Zustimmung der Belegschaft erlangt.

    Die Grundorientierung der Betriebsratsarbeit lautet: kri-tische Begleitung und Kontrolle des Managementhan-delns mit dem Ziel einer nachhaltigen beziehungsweise präventiven Arbeitsplatzsicherung. Zentral wird in die-sem Zusammenhang die Forderung nach zukunftsträch-tigen Investitionen auf allen Ebenen des Personals, der Arbeitsplätze, der Produktion und der Produktentwick-lung.

    Vor dem Hintergrund einer wahrgenommenen gesamt-gesellschaftlichen Verantwortung werden die Auslas-tung des Standortes, die Arbeitsplatzsicherung sowie die Festanstellung der „befristeten“ Beschäftigten, die Ar-beitszeitpolitik, die Entwicklung neuer und umweltscho-

    eingeführte 18-prozentige Rentenminderung bis zur Hälfte - also 9 Prozent - aus. Im Bereich der Lohnfort-zahlung konnte ein Tribut seitens der Beschäftigten nicht verhindert werden. Zwar bestand die hundertprozentige Lohnfortzahlung fort, doch wurden Mehrarbeitsstunden bei der Berechnung nun nicht mehr berücksichtigt.

    Bei den Wahlen im September 1998 kam es nicht zuletzt durch die massiven Proteste der Gewerkschaften an den Sparmaßnahmen zu einem grundlegenden Regierungs-wechsel. Die konservativ-liberale Regierung wurde von einer rot-grünen Koalition abgelöst. Unter der sozial-demokratischen Kanzlerschaft von Gerhard Schröder wurde nun eine Reihe von sozialpolitischen Verbesse-rungen eingeführt wie die Erhöhung des Kindergeldes, die Senkung von Arzneimittelzuzahlungen, die Wieder-einsetzung der hundertprozentigen Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und des Kündigungsschutzes für Klein-betriebe.

    Mit den Grünen befindet sich seitdem erstmals eine Par-tei in der Regierungsverantwortung, die schwerpunkt-mäßig ökologische Themen, etwa den Ausstieg aus der Atomkraft, einbringt. Wie die Globalisierung und die deutsche Vereinigung durch den Aufbau neuer Volkswa-genwerke betrifft auch dieses Thema nahezu direkt das Volkswagenwerk Salzgitter. In unmittelbarer Nachbar-schaft soll mit „Schacht Konrad“ Deutschlands bzw. Europas größtes Atommüllendlager entstehen.

    Motorenwerk Salzgitter als Teil eines internationalen Produktionsverbundes

    Während die ersten zehn Jahre des Werkes Salzgitter als Gründerzeit und die zweiten zehn Jahre als Zeit des kontinuierlichen Auf- und Ausbaus als Motorenleitwerk betrachtet werden können, beide Phasen zugleich durch-setzt mit Krisenerfahrungen, müssen die 90er Jahre un-ter einem ganz anderen Zeichen gesehen werden: der Globalisierung und internationalen Standortkonkurrenz. Letztere wird vom Vorstand durch den Aufbau eines internationalen Produktionsverbundes der Volkswagen-werke gefördert. Das VW-Werk Salzgitter ist hiervon besonders betroffen.

    Neuer Betriebsratsvorsitzender Andreas Blechner und Politikwechsel in der Betriebsratsarbeit

    Mit Andreas Blechner wurde 1994 zum dritten Mal ein neuer Betriebsratsvorsitzender in der Geschichte der In-teressenvertretung des Werkes gewählt.

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    nender Produkte und Produktionen sowie länderüber-greifende Kontakte zu den wichtigsten Themenfeldern.

    Bezüglich der konkreten Arbeitsweise soll eine maxi-male Belegschaftsnähe und Informationsdichte erlangt werden. Hierfür wurde unter anderem der so genannte „Betriebsrat vor Ort“ eingeführt. Einen Tag der Woche verbringen die Betriebsrätinnen und -räte in ihren Be-reichen bei den Beschäftigten. Weitere wichtige Neue-rungen sind die Zusammenlegung des Lohn- und An-gestellten-Personalausschusses sowie ihrer jeweiligen Entgeltausschüsse nach der Betriebsratswahl 1998. Dies sollte einen weiteren Schritt zur Überwindung der Unter-schiede zwischen den Angestellten und Arbeiterinnern beziehungsweise Arbeitern darstellen und die Kommu-nikation verbessern.

    Internationale Standortkonkurrenz und der Kampf um Produktionsbelegung

    Unter den Bedingungen internationaler Standortkonkur-renz wurde die Sicherung der Arbeitsplätze der Dreh- und Angelpunkt der Betriebsratsarbeit in den 90er Jahren.

    In der ersten Hälfte der 90er Jahre wurden über 20.000 Beschäftigte in der Volkswagen AG – davon mehr als 3.000 im Werk Salzgitter abgebaut. Die Philosophie des Vorstandes lautet unmissverständlich: „Ich spiele einen Standort gegen den anderen aus“, so Vorstandsvorsit-zender Dr. Ferdinand Piëch. Innerhalb des Volkswa-genkonzerns gibt es mittlerweile weltweit 16 Standor-te, die die Fertigung der rund fünf Millionen Motoren unter sich aufteilen müssen. Die jüngsten Motorenwerke wurden 1995 im ungarischen Györ und 1999 im polni-schen Polkowice eröffnet. Das Motorenwerk Salzgitter befindet sich damit in ständiger Auseinandersetzung um Produktionsvolumina und -programme. Umstritten war beispielsweise die Verlagerung von TDI-Motoren nach Ingolstadt im Jahr 1996, die Aufteilung des Produktions-volumens der EA-111-Motoren zwischen Salzgitter und Chemnitz sowie seit 1997 die Standortentscheidung für den neuen Pumpe-Düse-Motor.

    Vor diesem Hintergrund der intensivierten Verlagerungs-diskussion wurde Mitte der 90er Jahre eine eigene „Stra-tegie zur Standort- und Beschäftigungssicherung“ von den Betriebsrätinnen und -räten der IG Metall-Fraktion konzipiert. Letztere umfasst alle in der IG Metall or-

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    40 Jahre Volkswagenwerk Salzgitter

    ganisierten Betriebsrätinnen und -räte, die Vertrauenskörperleitung sowie den Betriebsbetreuer der IG Metall Wolf-gang Räschke. Durch die Aufteilung der Fertigungsbereiche in Kern-, Kann- und Zukunftsfertigung soll bei der Verlage-rung und Fremdvergabe von Kompo-nenten und Motoren im konzernweiten Sourcing-Prozess ihre Wichtigkeit für das Werk und die betroffenen Arbeits-plätze berücksichtigt werden. 1999 ge-lingt es dem Betriebsrat erstmals, eine gemeinsame Strategie mit der Werklei-tung zu erarbeiten. Damit sollen auch die Durchsetzungschancen bezüglich einer nachhaltigen Auslastung des Werkes mit einem zukunftsträchtigen und stabilen Produktionsvolumen steigen.

    „Zweites Standbein“

    Im Rahmen der Auslastungsprobleme und um auch in Zukunft Produktionssicherheit zu haben, erhob der Be-triebsrat die Forderung nach einem „zweiten Standbein”, das heißt einem volumenträchtigen Produkt neben der Mo-torenfertigung. Tatsächlich brachte auf der Betriebs-versammlung am 11. Juni 1997 Herr Sander, Vorstands-mitglied der Marke Volkswagen, die Rede wieder auf den Fahrzeugbau, über dessen Wiedereinführung der Vorstand nachdenke. Die ungläubige Reaktion der Be-legschaft war gerechtfertigt, da es nicht zur Umsetzung kommen sollte. Durch die 1997 in der Planungsrunde 46 erreichte Fabrikbelegung, die auch die Bedeutung der überbetrieblichen Interessenvertretung klar zeigt, konnte das Problem mittelfristig entschärft werden. Mit anderen Worten wurde die Idee des Fahrzeugbaus zugunsten ei-nes höheren Motorenprogramms ad acta gelegt.

    Überbetriebliche Interessenvertretung und Solidarität

    Besondere Bedeutung erhalten in diesem Zusammen-hang die jährlichen Planungsrunden des Konzerns, in denen die Produktionsquoten der Fabriken festgelegt und anschließend dem Aufsichtsrat zur Entscheidung vorgelegt werden. Der Gesamtbetriebsausschuss -GBA- spielt hierbei eine nicht unwesentliche Rolle. Indem der GBA in den Pla-nungsrunden vertreten ist, nehmen die Betriebsrätinnen und -räte unmittelbar an den Diskussi-onen um die Werkbelegung teil. In Vorbereitungssitzun-gen finden wichtige Aushandlungsprozesse statt; hier po-

    sitioniert sich der IG Metall-Betriebsrat gegenüber dem Vorstand. Durch das solidarische Handeln der IG Metall-Betriebs-rätinnen und -räte der Volkswagen AG konnte 1997 der Abbau von rund 2.000 Arbeitsplätzen im Werk Salzgitter verhindert werden. Im Namen des Gesamtbetriebsrates machte der GBR-Vorsitzende Klaus Volkert die Zustim-mung der Arbeitnehmervertretung im Aufsichtsrat für die Planungsrunde 46 von der Beschäftigungssicherung im Werk Salzgitter abhängig. Damit und unterstützt durch den damaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten Gerhard Schröder gelang es, in Salzgitter eine Fabrikbe-legung durchzusetzen, die trotz wachsender Überkapa-zitäten im Konzern die Belegschaft bis zum Jahre 2002 absichert.

    Durch- und Umsetzung von beschäftigungssichernden Tarifverträgen

    An den Betriebsrätinnen und -räten des Werkes liegt es, die auf der überbetrieblichen Ebene geschaffenen Tarif-verträge - allen voran die oben genannten Tarifverträge zur Beschäftigungssicherung 1993 und zur Altersteil-zeit 1997 - zum maximalen Nutzen der Beschäftigten im Werk umzusetzen. Durch die Wochenarbeitszeitver-kürzung beziehungsweise die Einführung der Vier-Tage-Woche konnten im Werk Salzgitter bereits 1.100 vom Abbau bedrohte Arbeitsplätze gesichert werden. Im Hin-blick auf die Ar-beitsplatzsicherung führte der Betriebs-rat neben der Umsetzung einer beschäftigungssichernden Arbeitszeitpolitik auch eigene Personal-, Kosten- und Schwachstellen-analysen vor Ort durch.

    Nach wochenlangem Konflikt: Informationsveranstaltung für die Beschäftigten aller Schichten über das erzielte Vertragsergebnis am 13. Februar 1995

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    extra

    Durch den trotz Sparmaßnahmen, abgesenkter Arbeits-zeit und Teilevergabe vom Unternehmen geforderten Per-sonalabbau von weiteren 800 Beschäftigten wurde auch die Personalplanung zu einem wichtigen Handlungsfeld. Mit eigenen kostenstellenspezifischen Personalanalysen sollten die rein auf Planvorgaben beruhenden Berech-nungen des Personalwesens einer Gegenkontrolle - und gegebenenfalls Korrektur - unterzogen werden.

    Über den Gesamtbetriebsausschuss gelang es in der Fol-ge, realistischere Budget- und Personalvorgaben beim Vorstand durchzusetzen. Nur durch das Zusammenspiel aller Betroffenen und Beteiligten konnten und können so die Anfang der 90er Jahre von der Werkleitung ver-folgten Pläne, die Belegschaft im Verlauf einiger weni-ger Jahre bis auf unter 5.000 Beschäftigte zu „schrump-fen“, verhindert werden. Am 30. April 2000 arbeiteten im Werk Salzgitter 7.339 Männer und Frauen. Darunter befinden sich 4.835 Leistungslöhner/innen, 1.156 Zeit-löhner/innen sowie 1.064 Angestellte.

    Der Kampf um Motoren und Komponenten - Ein Beispiel

    Wie in Zeiten internationaler Verlagerungsmöglichkei-ten die Produktion des Werkes immer umstrittener und komplizierter wird, Zusagen seitens des Vorstandes oft nur unter Vorbehalt zu sehen sind, und wie der Betriebs-rat seine Strategie hierbei einsetzt, soll folgendes Bei-spiel verdeutlichen:1995 gelang es dem Betriebsrat mit seiner kurz zuvor erstellten Fertigungsstrategie zu verhindern, dass 750 Arbeitsplätze auf einen Schlag in den Sourcing-Prozess gegeben wurden. Auf freiwilliger Basis konnten rund 50 Kolleginnen und Kollegen zur auf dem Werkgelände angesiedelten Firma ContiTech wechseln. Gleichzeitig erreichte der Betriebsrat den Zuschlag für 40.000 zusätzliche Motoren und für die Fertigung des neuen EA-111 Alu-Zylinderkurbelgehäuses. Kur-ze Zeit später wollte der Vorstand den Alu-Motor dann doch im Chemnitzer Werk bauen und in Salzgitter nur noch die Spitzen „abfahren”.

    Durch erneuten Druck - der Betriebsrat mach-te hierbei auch Gebrauch von seinem Recht auf Belegschaftsinformation und diskutierte mit den Beschäftigten des Werkes zwei Stunden über die Situation - gelang ihm eine Vertragserweiterung. In Salzgitter sollen zwar nicht mehr die ersten Alu-Motoren gebaut, dafür aber die Fertigung der EA-111-Motoren in den Jahren 1996 und 1997 voll ausgelastet werden. Damit waren 143 zusätz-liche Arbeitsplätze geschaffen.

    „Sparorgien“

    Mit dem internen wie externen Wettbewerb unter den Motorenwerken wird ein sehr starker Druck auf die Be-legschaften ausgeübt. In den 90er Jahren haben die hier-für entwickelten Managementinstrumente des Bench-marking, das heißt die Erstellung von Ranglisten und der Kosten- und Zielorientierung, besondere Konjunktur. Der Betriebsrat muss sich permanent mit Kostensenkungs-programmen auseinandersetzen.

    Um im Wettbewerb um Produktivitätssteigerungen und Renditezuwächsen bestehen zu können, kann er meist nur um Kompromisse zugunsten der Beschäftigten kämpfen. Zur schnellen und intensiven Klärung von Problemen wurden auch neue Arbeitsweisen geschaffen, wie zum Beispiel die 14tägigen „Betriebsausschuss-Werkmanagement-Sitzungen“ oder für den Logistikbe-reich der „Synchrone Weg“. Wichtige Themen sind nun flexiblere Arbeitszeiten, neue Mehrarbeitsregelungen, Fremdvergabe von nicht wirtschaftlichen Fertigungen unter der vorangehenden Schaffung von Ersatzproduk-tion und andere.

    Sparen, sparen, sparen: Zeltveranstaltungen und „Schwarze Null“

    Eine besondere Aktion im Rahmen von Sparmaßnahmen waren die so genannten Zeltveranstaltungen. Diese dien-ten dazu, das Sparpaket „Schwarze Null“ - ein zwischen Werkleitung und Betriebsrat ausgehandelter Kompro-miss - der Belegschaft zu vermitteln. Im September 1996 wurden die Beschäftigten von jeder Schicht und jedem Bereich in einem großen Festzelt auf dem Werkgelände vom Unternehmen über die Lage des Werkes im internen

    „Zeltveranstaltungen“ im September 1996: Information der Beschäftigten über das geplante Sparpaket „schwarze Null“

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    40 Jahre Volkswagenwerk Salzgitter

    und externen Vergleich sowie die geplanten Sparschrit-te informiert. Der Betriebsrat kommentierte diese Dar-stellung aus Sicht der Belegschaftsvertretung. Wichtige Maßnahmen waren hierbei die Wiedereinführung der 5-Tage-Woche im Gleitzeitbereich sowie ein rollieren-des Arbeits-zeitmodell im Werkzeugbau.

    Abwehr der Unterlaufung von Tarifverträgen

    Zusätzlich zu der permanenten Drohung des Arbeits-platzverlustes waren die Beschäftigten in den 90er Jah-ren zahlreichen Angriffen des Unternehmens auf tarif-vertragliche Regelungen ausgesetzt. Eine Vielzahl dieser Angriffe konnte bislang abgewehrt werden wie die Ein-führung regelmäßiger Samstagsarbeit ohne Zuschläge, die Abschaffung der bezahlten Pausen im Drei-Schicht-Betrieb, der komplette Wegfall der Erholzeitpausen, weitere Leistungsbeiträge der Beschäftigten und ein auf Bevormundung und Kontrolle abzielendes Gesundheits-konzept – ausführlicher siehe unten.

    „Rettung“ des VW-Gesetzes

    Ein wichtiger Erfolg war auch die „Rettung“ des VW -Gesetzes, welches die „Kohl-Regierung“ massiv ver-ändern wollte. Durch das VW-Gesetz von 1960 ist das Stimmrecht einzelner Aktionäre auf 20 Prozent aller Aktien beschränkt. Indem auch das Land Niedersachsen Aktien hält, kann ohne dessen Zustimmung keine we-sentliche Entscheidung getroffen werden. Eine Zwei-drittelmehrheit ist im Aufsichtsrat erforderlich, wenn es um die Errichtung oder Schließung eines deutschen VW-Werkes geht. Durch Demonstrationen, Unterschrif-tensammlungen und Aufforderungen an alle Bundestags-abgeordneten der Volkswagen- und Audi-Standorte, sich für das Gesetz stark zu machen, gelingt es den VW-Be-schäftigten, ihren Betriebsrätinnen und -räten und der IG Metall, die Angriffe abzuwehren.

    Präventives Gesundheitskonzept

    Der Betriebsrat lehnte ein Ende 1995 vom Unternehmen eingebrachtes Gesundheitskonzept ab und forderte im Ge-genzug die Durchführung einer Sozialstudie unter Leitung der Technischen Universität Braunschweig. Auf Basis der Ergebnisse dieser Studie, die den Titel „Meine Situation am Arbeitsplatz“ trug, sowie des vom Gesamtbetriebs-ausschuss mit Volkswagen verabschiedeten Gesundheits-konzepts „Gesundheitsmanagement bei Volkswagen“ entwickelte der Salzgitteraner Betriebsrat ein eigenes Konzept. Dieses zielt schwerpunktmäßig auf die Ursa-chenfeststellung und -beseitigung der krankheitsverur-sachenden Arbeitsplätze ab. Hierzu führen im Vorfeld von Fehlzeitengesprächen Betriebsrat und Vorgesetzte „betriebliche“ und „fürsorgliche Betreuungsgespräche“ mit der oder dem Kranken.

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    extra

    Neue Werkstrukturen

    In den 90er Jahren wurden im Werk zahlreiche neue Strukturen geschaffen. In Zeiten internationaler Produk-tion ist es wichtig, eine möglichst hohe Kostentranspa-renz der Werke zu erhalten. Aus diesem Grunde funktio-nierte man 1998 das Werk Salzgitter in eine selbständige Geschäftseinheit, eine so genannte „Business Unit“, um.

    Wichtige Veränderungen fanden auch im Bildungsbereich statt. 1994 wurde das Bildungswesen weitgehend in eine eigene Qualifizierungsgesellschaft, die so genannte Coach- ing-Gesellschaft, ausgegliedert. Diese übernimmt seit-dem die Einstellung von Auszubildenden, die Weiter-bildung, das Managementtraining, Personalanalyse usw. Vor einiger Zeit wurden zudem im Rahmen von Einspar-maßnah-men die jeweiligen Leitungen des Bildungs-wesens Salzgitter und Braunschweig zusammengelegt. Angestrebtes Ziel war hierbei die Schaffung einer Ver-bundausbildung.Die Zukunft wird zeigen, ob damit auch die Gefahr der Schließung eines Ausbildungsstandortes reell wird.Im Dienstleistungsbereich konnte die IG Metall in der Großen Verhandlungskommission von Volkswagen fol-genschwere Auslagerungen von Dienstleistungsbereichen verhindern. Seit 1997 werden die Bereiche Wirtschafts-betriebe, Werksicherheit, Gastronomie, Restauration, Fahrservice und zentrale Dienste allerdings als eigenstän-dige organisatorische Einheit geführt.

    Ein noch nicht abgeschlossenes Vorhaben stellt die Ein-führung von „selbstregelnden Einheiten“, vor allem den Angestelltenbereich betreffend, dar. Um Entscheidungen schneller treffen zu können, sollen Kompetenzen direkt vor Ort installiert und Hierarchien abgebaut werden. Ge-wachsene Strukturen, das Beharrungsvermögen einzel-ner Bereiche sowie Schwächen des Konzeptes verhin-dern jedoch bislang eine durchschlagende Realisierung dieses Konzeptes.

    Weiterentwicklung der Gruppenarbeit

    Mit Beginn der 90er Jahre setzte der Betriebsrat die flä-chendeckende Einführung der Gruppenarbeit im Werk durch. Erste Bereiche waren die Tassenstößel-, Zylinder-kopf-, VR6- und Schwungradferti-gung. Hierfür hatte er ein eigenes Modell, auf dem IG Metall-Konzept der Gruppenarbeit fußend, erstellt. Dies scheiterte jedoch an der mangelhaften Umsetzung. Zum Beispiel behiel-ten die Meister ihre klassische Rolle bei. Der Betriebs-rat kündigte daraufhin die diesbezügliche Vereinbarung mit dem Unternehmen und entwickelte das bislang bei

    Volkswagen einmalige Konzept der „Gruppenbetreuer“ oder „GO-Betreuer“. 1995 nahmen fünf „GO-Betreuer“ die Arbeit auf. Deren Hauptaufgabe war und ist die „so-ziale Qualifizierung“ aller Beteiligten, um eine optimale Zusammenarbeit zu erreichen. Zur Zeit sind insgesamt 21 Betreuerinnen und Betreuer aktiv.

    Länderübergreifende politische Kontakte und Bildung

    Die 90er Jahre waren nicht nur ein Jahrzehnt der Inter-nationalisierung der Unternehmen, sondern sollten nach Meinung des Betriebsrates auch eines der Verständigung ihrer Beschäftigten werden. Im Rahmen der politischen Bildungsarbeit nahm der Betriebsrat verschiedenste Kontakte mit ausländischen Beschäftigten und ihren Vertreterinnen und Vertretern auf.Im Herbst 1998 besuchte der Betriebsausschuss des Be-triebsrates das französische Motoren- und Getriebewerk von Renault in Cléon. Diesem folgte im September 1999 ein gemeinsames Seminar in Walsrode, auf dem Vertre-terinnen und Vertreter der CGT - „Confédération Gene-rale du Travail“/„Allgemeine Vereinigung der Arbeit“ - von französischer Seite und Mitglieder der IG Metall-Fraktion von deutscher Seite die Unterschiede und Ge-meinsamkeiten der Beschäftigungssicherungspolitik dis-kutierten. Zum ersten Mal sprach auch ein französischer Renault-Kollege, Vincent Neveu, auf der Betriebsver-sammlung am 6. Dezember 1999.

    Kollege Vincent Neveu von Renault

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    40 Jahre Volkswagenwerk Salzgitter

    IV. 2000 bis 2010

    Sozialabbau in Deutschland

    Im 21. Jahrhundert ist das Leben in Deutschland von ei-ner immer weiter fortschreitenden Polarisierung in der Bevölkerung gekennzeichnet. Im Gegensatz zu dem Teil der Bevölkerung, der sich in prekären Beschäftigungs-verhältnissen befindet und auf zusätzliche Sozialleis-tungen angewiesen ist, erhöht sich bei einem anderen Teil das private Vermögen ständig. Im Jahr 2008 kon-zentrierte sich das Nettovermögen in Deutschland von insgesamt über sechs Billionen Euro zu 80 Prozent in den Händen von 20 Prozent der Bevölkerung. Die untere Hälfte verfügte über keinerlei Vermögen oder sitzt be-reits in der Schuldenfalle. Über zwei Millionen Kinder leben in Armutshaushalten, die weniger als Zweidrittel des monatlichen Durchschnittseinkommens in der Bun-desrepublik besitzen.

    Die Negativeffekte der Globalisierung werden spürbar: Importe aus Billiglohnländern zerstören Arbeitsplätze in Deutschland, Finanzgeschäfte werden immer spekulati-ver und riskanter und bringen ganze Bankensysteme und ihre Länder in Gefahr; die nationale Politik versuchte bis-lang weitgehend erfolglos dagegen anzukämpfen – meist auch mit einer Verschlechterungen in der Sozialgesetz-gebung. In den letzten zehn Jahren wurde Deutschland von drei verschiedenen Regierungskoalitionen regiert: SPD und Grüne von 1998-2005 mit dem Bundeskanzler Gerhard Schröder, CDU und SPD von 2005-2009, CDU und FDP seit 2009, beide jeweils mit der Bundeskanzle-rin Angela Merkel.

    Angriffe, gegen die sich die Beschäftigten und die Ge-werkschaften wehren mussten, kamen aber auch aus der Opposition, wie zum Beispiel im Jahr 2003. Damals starteten die damaligen Oppositionsparteien CDU/CSU und FDP einen Generalangriff auf die Tarifautonomie. Ihre Zustimmung zu anderen Gesetzen machten sie von der Umsetzung folgender Punkte abhängig: (1) Einfüh-rung betrieblicher Bündnisse mit der Möglichkeit zu Abschlüssen unterhalb Tarifniveau, (2) Änderungen des Günstigkeitsprinzips von Tarifverträgen, (3) Lockerun-gen des Kündigungsschutzes - nicht erst bei Betrieben ab fünf Beschäftigten, sondern schon bei 20 Beschäftigten. Diese Forderungen führten bundesweit zu scharfen Reak-tionen und Protestaktionen von insgesamt rund 230.000 Beschäftigten. Auch Volkswagen Salzgitter fehlte dabei nicht: „Hände weg, von der Tarifautonomie“!

    Im Ergebnis konnte die Tarifautonomie geschützt wer-den. Kündigungsschutz für Neueinstellungen gilt seit dem allerdings erst in Betrieben ab 10 Beschäftigten.Einige Monate später kam es zu weiteren Massenpro-testen im Rahmen einer europaweiten Kampagne gegen „Sozialkahlschlag“ infolge der Konjunkturkrise. Dies war bisher noch nie da gewesen. Rund 1,6 Millionen Menschen in Gesamteuropa gingen mit diesem gemein-sam Motto auf die Straße, über 500.000 Menschen davon am 3. April 2004 in Deutschland. Aus Salzgitter fuhren über 1500 Menschen, darunter 450 Volkswagen-Be-schäftigte, hierzu nach Berlin.

    Die massivsten Einschnitte in das bisherige Sozialge-füge Deutschlands sollten zwischen 2003 und 2005 mit der Agenda 2010 sowie dem Gesetz zur „Modernisie-rung der Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ stattfinden –besser bekannt unter den Namen Hartz I- bis Hartz IV-Gesetze. Es war der damalige Personalvorstand der Volkswagen AG, Dr. Peter Hartz, der ab 2002 im Auf-trag der Schröder Regierung die Kommission „Moderne Demo vor dem Werkstor am 1. November 2003

    Demo in Berlin am 3. April 2004

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    Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ leitete und Verbes-serungsvorschläge für eine effizientere Arbeitsmarktpo-litik erarbeiten sollte. Die Gesetzespakete Hartz I – IV wurden schrittweise zwischen 2003 und 2005 eingeführt. Die IG Metall verurteilte die Maßnahmen scharf, da sie einseitige Kürzungen in den Sozial- und Arbeitsmarkt-bereichen beinhalteten: Arbeitslosen- und Sozialhilfe wurden auf das niedrigere Niveau der Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II zusammengelegt, Langzeitarbeitslo-se müssen fortan unter der Prämisse „Fordern und För-dern“ jede angebotene Arbeit – auch im Niedriglohnsek-tor – annehmen. 345 € betrug anfangs die Regelleistung für Einzelpersonen der neu gegründeten Arbeitsagentur, die aus dem klassischen Arbeitsamt hervorging und nun nach Methoden aus der freien Wirtschaft arbeiten soll – die Leistungsbezieher heißen intern „Kunden“, die Betreuung und vor allem Vermittlung in Beschäftigung funktioniert allerdings nicht wie gewünscht. Das erklär-te Ziel, die damalige Arbeitslosigkeit von vier Millionen Menschen zu halbieren, ist nicht zu erreichen. In 2005 bewegen sich die Arbeitslosenzahlen auf über fünf Mil-lionen Menschen in Deutschland. Heute sind es offizi-ell noch immer 3,5 Millionen, allerdings kommen noch einmal 1,3 Millionen Beschäftigte hinzu, die so wenig verdienen, dass sie ihr Einkommen durch die Leistungen der Arbeitsagentur aufstocken müssen, um davon leben zu können.Dies ist Ausdruck der gesetzlichen Förderung von Leih- und Zeitarbeit im geänderten Arbeitnehmerü-berlassungsgesetz (Hartz I) sowie von Ein-Euro-Jobs für Arbeitslose.

    Leih- und Zeitarbeit

    Im Endeffekt wurde durch die Gesetzgebung die Ent-wicklung eines Billiglohnsektors von den Regierungen vorangetrieben, mit dem Effekt, dass immer weniger Menschen von ihrer Arbeit leben können. Über 6,5 Mil-lionen Menschen arbeiten mittlerweile im Niedriglohn-sektor, ganz wie in den USA. Mehr als zwei Millionen erhalten weniger als fünf Euro in der Stunde. Unter dem Motto „Gleiche Arbeit – Gleiches Geld“ griff die IG Metall als erste DGB-Gewerkschaft das Thema auf. Heute existieren in über 400 Betrieben im Bereich der IG Metall Betriebsvereinbarungen, um zu verhindern, dass Leiharbeiter/innen zu Dumpinglöhnen arbeiten und in ständiger Angst um den Arbeitsplatz leben müs-sen und dass Stammbelegschaften durch Leiharbeiter/innen ersetzt werden. Im Oktober 2008 kann man auch bei Volkswagen Erfolg vermelden. Ab Januar 2009 regelt ein spezieller Tarifvertrag die Entgelte für die Leihar-beiterInnen in drei Stufen. Damit kommen die Betroffe-nen zumindest annähernd an die Entgeltstufe Sieben bei Volkswagen heran.

    (Weg mit der) Rente mit 67!

    Zu sozialen Verschärfungen kommt es auch beim The-ma Rente. 2007 beschloss die große Koalition aus CDU und SPD mit einer Mehrheit auch der Grünen und der FDP die Erhöhung der Lebensarbeitszeit trotz massiver Proteste aus den Reihen der Gewerkschaften und Sozi-alverbände. Ab Ende 2009 wurde auch die 20-prozentige Förderung der Altersteilzeit durch die Arbeitsagentur, die an Ein-stellungen von Auszubildenden oder Arbeitslosen gebun-den war und für zusätzliche Beschäftigung gesorgt hatte, ersatzlos gestrichen. Inzwischen haben Gewerkschaften wie die IG Metall Tarifverträge über die Fortführung von Altersteilzeit mit den Arbeitgebern abgeschlossen.

    Atompolitik

    Das Werk Salzgitter befindet sich gewissermaßen im strahlenden Mittelpunkt der Atompolitik Deutschlands, in Sichtweite von Schacht Konrad und nur 20 Kilometer entfernt vom Endlager Asse gelegen. Bekanntermaßen ist seit langem vorgesehen, nach Umbaumaßnahmen 95 Prozent des deutschen Atommülls in Schacht Konrad einzulagern. Klagen des Landwirts Traube aus dem Jahr 2002 gegen die Einlagerung des Atommülles ist vom Oberverwaltungsgerichtes Lüneburg am 8. März 2006 abgewiesen und im März 2007 schließlich vom Bundes-verwaltungsgericht in Leipzig als Beschwerde nicht an-genommen worden. Auch eine Klage dagegen scheiterte am 10 November

    2009 vor dem Bundesverfassungsgericht, weil sie nicht zugelassen wurde. Langzeitsicherheitsnachweise sind nicht erbracht, im Normalbetrieb wird es zu einer dauer-haften Niedrigstrahlung kommen.

    Demo vor dem Oberlandesgericht Lüneburg im März 2006

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    40 Jahre Volkswagenwerk Salzgitter

    Im ehemaligen Bergwerk Asse ist bereits mittel- und schwachradioaktiver Müll eingelagert worden - zwi-schen 1967 und 1978. Im Jahr 2008 kam es zum öffent-lichen Bekanntwerden von radioaktiv kontaminierter Salzlauge, was vom Betreiber bis dahin verschwiegen worden war. Bis heute ist damit die Gefahr von radioak-tiver Verseuchung des Grundwassers gegeben. Seit 2009 ist das Bundesamt für Strahlenschutz als neuer Betreiber für die Schließung der Anlage verantwortlich. Die vorge-legten Konzepte sind noch immer umstritten.

    In dieser Situation ist die Belegschaft des Volkswagen-werkes Salzgitter höchst sensibilisiert für einen Ausstieg aus der Atomenergie, welcher von der rot-grünen Bundes-regierung im Jahr 2002 im so genannten Atomkonsens beschlossen worden war. Demnach soll voraussichtlich ab 2021 das letzte von 19 deutschen Kernkraftwerken stillgelegt werden. Doch könnte alles ganz anders kom-men. In 2009 kündigte die CDU im Falle eines Wahlsie-ges bei der Bundestagswahl den „Ausstieg aus dem Aus-stieg“ an. Nun soll voraussichtlich im Herbst 2010 eine

    endgültige Entscheidung fallen. Um dem entgegenzutre-ten, erarbeitet der Betriebsrat von Volkswagen Salzgitter derzeit eine Ausstiegskampagne (s. letzte Seite).

    Weltweite Finanzkrise

    Seit 2008 entwickelte sich eine Finanzkrise, die eigentlich eine Systemkrise ist und schon seit Jahrzehnten schwel-te; diese wächst sich derzeit zu einer Staatenkrise aus. Ausgelöst wurde der erste „Schub“ dieser Krise durch die Pleite der US-Bank Lehmann-Brothers, die durch den Zusammenbruch des US-amerikanischen Immobi-lienkreditmarktes ins Trudeln geriet. Es folgten weitere Banken und Großkonzerne, die sich am weltweiten Han-del mit so genannten Finanzprodukten beteiligt hatten. Deutlich wurde damit, dass unser gesamtes Finanzwirt-schaftssystem häufig nur noch auf Spekulationen, aber nicht mehr auf realen Wirtschaftswerten beruht.

    Um die Wirtschaftsleistung und damit die Arbeitsplätze zu stützen, reagierte vor allem in Deutschland die Politik mit für konservative Regierungen ungewöhnlichen Maß-nahmen wie Konjunkturprogramme (Abwrackprämie) und Kurzarbeitsregelungen, die 24 Monate Kurzarbeit erlauben und den Unternehmen nach sieben Monaten die Beiträge für die Sozialversicherungen der Beschäftigten bezahlen. Dadurch und durch entsprechende Tarifver-einbarungen zwischen den Sozialpartnern (IG Metall-Metallindustrie Tarifabschluss 2009) sind ca. 400.000 Arbeitsplätze erhalten geblieben. Auch Volkswagen pro-fitierte in ganzer Breite von diesen Hilfen (s.u.).

    In der Finanzkrise mussten die betroffenen Banken geret-tet werden, und zwar teuer bezahlt durch die Steuerzah-ler/innen. In Deutschland wurde hierzu das so genannte Rettungspaket I und II in Höhe von insgesamt 500 Mil-liarden Euro aufgelegt. Diese Summen haben unter an-derem auch dazu beigeführt, Länder wie Griechenland, Spanien, Portugal, Irland und Island an den Rand des Ruins zu bringen. Die selben Banken trauen den Ländern nun keine Wirtschaftsleistung mehr zu, durch Schlech-terwertung der Ratingagenturen erhöhen sich die Kredit-zinsen und bringen diese Länder noch mehr in Schwie-rigkeiten. Inzwischen ist ein weiteres Rettungspaket in Höhe von 750 Milliarden Euro für die Stabilität des Euro entschieden worden.

    Die seit Jahren immer weiter verschlechterten politi-schen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für Beschäftigte in Deutschland führten auch zu massiven Angriffen auf die Volkswagen Belegschaft, die sich nie-mand hätte ausmalen mögen.

    "Mit aller Macht gegen den Schacht" - Demo der Belegschaft mit dem damaligen Oberbürgermeister Helmut Knebel im Jahr 2006

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    Massive Angriffe auf VOLKSWAGEN

    Ab dem Jahr 2002 sollte die stetige Aufwärtsentwick-lung des Volkswagen Konzerns seit 1993 ein vorläufiges Ende finden. Im Jahr 2003 gab es offiziell 4,5 Millionen Arbeitslose, die Agenda 2010 und Hartz-Gesetze grif-fen nicht wie gewünscht, es kam zur Konsumrückhal-tung. Das Unternehmen musste in 2003 massive Ge-winnrückgänge verzeichnen, die zum großen Teil auch auf ungünstige Wechselkurse zwischen Dollar und Euro beruhten. Herkömmliche Rationalisierungsprogramme waren in diesem Jahrzehnt noch das geringste bei Volks-wagen. In 2006 wollte das Unternehmen ganze Kom-ponentenwerke verkaufen, nur zwei Jahre später stand gar der komplette Volkswagen Konzern zur Disposition, genauer: vor der Übernahme durch Porsche. In diesem Zusammenhang war auch das VW-Gesetz wiederholten Angriffen ausgesetzt. Die Beschäftigten des Volkswa-gen Werkes Salzgitter bekamen all das zu spüren. Durch Zusammenhalt intern, aber auch mit allen anderen eu-ropäischen VW-Werken, sowie mit einem starken IGM-Betriebsrat in den deutschen Werke konnten sie sich bis heute erfolgreich zur Wehr setzen.

    2000 - Letzte Neueinstellungen, Leih- und Zeitarbeit im Werk nehmen zu, AutoVisionsprojekte

    Das Jahr 2000 begann für den Betriebsrat Salzgitter mit einer langwierigen, aber erfolgreichen Auseinanderset-zung um die Übernahme von befristeten Beschäftigten der Wolfsburg AG. Anfang März 2000 sagte das Un-ternehmen am Ende zu, 100 befristet eingesetzte Be-schäftigte in den Haustarifvertrag von Volkswagen zu übernehmen. Diese sollten bis heute die letzten Neuein-stellungen im Werk Salzgitter bleiben – mit der Ausnah-me der jeweils fertigen Ausbildungsjahrgänge.Ein Jahr später war die Auseinandersetzung um Über-nahme von weiteren 175 Befristeten nicht mehr zu ge-winnen. Dies war direkter Ausdruck der oben beschrie-benen verschlechterten Gesetzeslage. Wie befürchtet machte und macht das Unternehmen von den neuen Leih- und Zeitarbeitsgesetzen Gebrauch und stellt seit-dem bei Bedarf konsequent nur noch Leih- bzw. Zeitar-beiter/innen ein. Hierfür wurde im Jahr 2001 eigens auch die Volkswagen Tochtergesellschaft AutoVision GmbH gegründet mit Stammsitz in Wolfsburg und mittlerweile 17 weiteren Niederlassungen in ganz Deutschland. Dem Unternehmen gelingt es so, verschiedene Produkte und insbesondere Dienstleistungen, die ansonsten aufgrund des starken Kostendrucks an den Wettbewerb verloren gehen würden, weiterhin in VW-Fabriken mit Flächenta-rifvertrag der IG Metall zu halten.

    Für die 175 Befristeten konnte der Betriebsrat im Jahr 2001 damit immerhin die Entlassung in die Arbeitslosig-keit verhindern. Stattdessen konnten 100 von ihnen imAutovisionsprojekt "Motorenverladung PC 1" im Werk Salzgitter gehalten werden, 40 weitere konnten ihre Ar-beit in Braunschweiger und Hannoveraner Werk aufneh-men, und 35 erhielten das Angebot, ins AUDI Werk nach Neckarsulm zu wechseln.

    2002 - Verlagerungen verhindert, IG Metall Erfolg bei den Betriebsratswahlen , Pro Salzgitter, Entwick-lungsteam mit erstem VW-Marine-Motor

    Im Februar 2002 informierte der damalige Werklei-ter Andreas Tostmann den Betriebsrat lapidar und fast beiläufig, die ZP4-Montage-Umfänge von 1000 Diesel-motoren pro Woche nach Mexiko vergeben zu wollen. Damit ignorierte er eine bestehende Vereinbarung, die Kostenstelle 7127 mit wöchentlich 2600 ZP4-Motoren VEP auszulasten. Dies hätte 40 Arbeitsplätze betroffen. Der Betriebsrat und die Betroffenen akzeptierten diese „Nacht- und Nebelaktion“ aber nicht und führten sponta-ne Protest- bzw. Informationsversammlungen in der Per-sonalabteilung sowie in H1 durch. Zudem reduzierte der Betriebsrat auch die Genehmigung von Mehrarbeit. Am 5. Februar zeigte der Protest Früchte. Das Unternehmen sagte zu, die Verlagerung 1:1 mit neuen PD-Motoren zu kompensieren sowie geplante Verlagerungen des EA111 zurückzunehmen.

    Die Betriebsratswahl in 2002 wurde mit 87,7 Prozent wie immer klar f�