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Als austherapierter Patient lässt Pierre Ntima, ein Afro-Wiener, sein Leben und jenes seines Freundeskreises in Wien Revue passieren. Er stirbt, unmittelbar nachdem er in Anwesenheit seiner Freunde über seine Verfehlungen und die Nichterfüllung seines Missionsauftrags in Europa gebeichtet hat. … Das Beichten eines Afro-Wieners ist ein sperriges Thema, das von den ersten Seiten an auf Aspekte der Wirklichkeit neugierig macht, die für viele Menschen sehr außergewöhnlich erscheinen: En passant erhellen sich für den Leser/die Leserin die wenig bekannte Innenseite der Odysseen afrikanischer Flüchtlinge so wie die besonderen politischen Verwicklungen die die StudentInnen durch den Zusammenbruch des Ostblocks erfuhren. Die Schilderungen über gesellschaftliche Eigenarten in Afrika, aber auch in Europa und insbesondere in Österreich machen das Buch zu einem spannenden Roman mit gesellschaftlichem Nachhaltigkeitswert.
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Bibliografische Information der Deutschen BibliothekDie Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografischeDaten sind im Internet über http://dnd.ddb.de abrufbar.
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt.
Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere der Über-setzung, des Nachdruckes, der Funksendung, der Wieder-gabe auf photomechanischem oder ähnlichem Weg undder Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben– auch bei nur auszugsweiser Verwertung – des Autorsvorbehalten.
Coverbild: CBSatz & Graphische Gestaltung: Persy-Lowis BulayumiDruck und Bindung: Printed in EU by Centa spol. sr.o., Brno
© 2012 The Global Player / www.theglobalplayer.orgA-1090 WienISBN 978-3-9503244-4-0
Die Verantwortung über den Inhalt des Buchs fällt in dieVerantwortung des Autors. Alle Personennamen in dieserErzählung sind frei erfunden. Etwaige Namensähnlichkei-ten bittet der Autor zu entschuldigen, denn sie sind reinerZufall.
PROLOG
Da stand ich nun, an jenem Donnerstag des Jahres
1983. Zwar war es erst halb acht, doch der Lauf
der Sonne und das glasklare Firmament versprachen
einen wunderbar sonnigen Sommertag. Mir gegenüber
befand sich eine Fleischerei, in deren Auslage unter
anderem ein triefender Block Pferdeleberkäse lag. Mit
abwechselnden Gefühlen, welche von Unverständnis
und Ekel geprägt waren, begutachtete ich diesen. Ich
wartete. Die Haltestelle Gumpendorfer Straße diente
uns, wie so oft davor, als Treffpunkt. Sie kam. Nach einer
flüchtigen Umarmung stiegen wir auch schon in die vor
wenigen Augenblicken eingetroffene Stadtbahn.
Die braunen langen Locken wippten mit jedem Schritt
ein wenig hin und her, und sosehr sie sich auch bemüh-
te, sie wanderten immer wieder vor ihr rechtes Auge.
Doch all dies verlieh ihrer schlanken Figur nur noch
mehr Grazie. Bacim Yildrim war zirka Mitte zwanzig
und eine meiner Kommilitoninnen. Zusammen besuchten
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wir den Vorstudienlehrgang der Wiener Universitäten
auf dem Udo-Hartmann-Platz. Dort absolvierte sie genau-
so wie ich den Deutschkurs, der jedem nicht Deutsch-
sprachigen die Berechtigung erteilt, sich als ordentlicher
Hörer an den österreichischen Universitäten zu inskribieren.
Auf dem Weg gingen wir den für die Prüfung relevanten
Stoff durch und kontrollierten anschließend nochmals
unser Wissen. Es war der letzte entscheidende Tag für
uns beide, denn die positive Ablegung dieser Prüfung
war, wie bereits erwähnt, der Schlüssel zur Aufnahme
als ordentlicher Hörer an der Universität. An der Halte-
stelle Westbahnhof stiegen zwei Männer um die dreißig
ein. Sie setzten sich auf die freien Plätze uns gegenüber.
Ohne jegliches Zögern grüßten die beiden Eurasier
meine Begleiterin auf Türkisch, anscheinend ein Zeichen,
um mich in meine Schranken zu weisen, wenn man die
folgenden Geschehnisse richtig deutet. Sie grüßte
zurück. Verständnislos musterten sie mich von Kopf bis
Fuß, bis sie schließlich anfingen, sich in einem unver-
kennbar aufgebrachten Ton zu unterhalten, wobei sie
meine Kommilitonin mit einbezogen. Jene aber entgeg-
nete ihnen stets kühl und gelassen.
„Worum geht es hier. Was möchten die Typen von dir?“,
fragte ich sie.
„Ich sage es dir später. Lass sie vorerst einfach weiter keifen.“
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Wir erreichten unsere Zielhaltestelle. Unser gemeinsa-
mes Aufstehen lieferte den beiden wohl noch mehr Zünd-
stoff, denn ich bemerkte deren Halsschlagadern, die den
Anschein hatten, sich demnächst selbstständig zu
machen. Bacim lächelte und winkte den beiden, während
wir ausstiegen.
„Es sind zwei Machos. Sie schimpfen, weil ich mit dir
unterwegs bin. Ist halt so …“
„Aber die türkischen Kommilitonen beim Sprachkurs sind
doch nicht so. Bei ihnen habe ich nie irgendwelche Anzei-
chen von Aggressivität bemerkt, wenn du mit mir sprichst.
Du sitzt doch das ganze Semester über neben mir. Das
scheint niemanden unter ihnen zu stören“, versuchte ich
ihr zu widersprechen.
„Du sagst es. Beim Sprachkurs. Wer weiß, was sie hinter
unserem Rücken sagen.“
Als wir eintrafen, verspürte ich zum allerersten Mal die
Blicke, die auf uns ruhten. Es waren die Blicke jener, von
denen ich, naiv, wie ich war, stets angenommen hatte,
dass sie allesamt kein Problem mit dem „bunten Treiben“
im Klassenraum hatten. Die Prüfung war mündlich, jedoch
war die Klasse dermaßen gut vorbereitet, dass bis auf
einige Ausnahmen die meisten mit einem Gut bis Sehr
gut abschlossen. Und so kam es, dass wir allesamt den
Klassenraum gegen Mittag guter Dinge verließen mit der
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Gewissheit, dass uns in diesem Land nun alle Türen
und Tore offen stünden.
Abends trafen wir nacheinander, wie zuvor vereinbart,
alle im Tropic Musicana ein. Es war eines jener damals
noch seltenen lateinamerikanischen Lokale, die stets
von einer lebendigen und durchaus vielfältigen Klientel
besucht wurden. Dort konnte man sich bis zum Morgen-
grauen an brasilianischen und kubanischen Klängen
erfreuen. Auch unsere Klasse trug zu dem vorherr-
schenden „bunten Treiben“ bei. In unseren Reihen
waren von A wie Australien bis Z wie Zaire aller Herren
Länder vertreten.
Auf den ersten Blick schien alles zur Zufriedenheit der
Mehrheit zu verlaufen. Die Rhythmen waren heiß, die
Bässe derart präsent, dass man mit jedem Bodenkon-
takt die in sich aufsteigende Vibration wahrnahm, und
der Alkohol floss in Strömen. Nun fiel mir aber auf,
dass, sobald Bacim und ich miteinander tanzten, einer
der Kommilitonen kam, um ihr etwas ins Ohr zu flüstern.
Von diesem Moment an konnte sich Bacim nicht mehr
konzentriert dem Tanz mit mir zuwenden. Zwar bat sie
mich jedes Mal um Verzeihung, doch es dauerte nicht
lange, da hatte ich die Nase voll. Auch wenn ich meine
Enttäuschung verstecken konnte, war jegliche Freude,
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die ich aufgrund des Abschlussfestes in mir gespürt
hatte, dahin. Wie einer jener Träume, an die man sich
vergebens zu erinnern versucht und sich das Gesche-
hen erneut gern bewusst machen möchte. Je heftiger
man sich an jene Gedanken klammert, umso schneller
entgleiten sie einem, doch dass sie dies tun, ist unver-
meidbar.
Gepeinigt von meinen eigenen Emotionen, beschloss
ich, in den Hof des Lokals zu gehen, wo ich mich allein
unter die mir unbekannten Lokalbesucher setzte. Ich
bestellte mir einen Tomatensaft. Zu meiner Rechten
saßen drei Mädchen, sie waren wohl Anfang zwanzig.
Eine von ihnen drehte sich zu mir, lächelte und sagte:
„Möchtest du dich nicht zu uns setzen?“
Mit den Worten: „Ja. Warum nicht“, nahm ich die Einla-
dung spontan an, drehte meinen Sessel und fügte mich
in ihre Gesellschaft ein. Dann folgten die fast obligato-
rischen Fragen, welche fremd aussehende Studie-
rende von ihren österreichischen Kommilitonen zu
hören bekommen: Woher kommst du, wie bist du hier-
hergekommen, warum gerade Österreich …
„Hättest du Lust, mit uns zu einer Party zu fahren?“,
fragte mich jene, welche mir gegenübersaß, spontan.
Sie hatte ein auffallend türkises Kleid mit mosaikähnli-
chem Muster an. „Mit dem Auto ist es nur eine knappe
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halbe Stunde von hier entfernt.“
„Noch eine Party“, entschlüpfte es mir.
„Noch eine?“
„Bist du heut leicht schon auf ana gwesn?“, fragte mich
nun die andere, ich verstand sie zwar nicht so recht
und dachte mir insgeheim, dass ihr ein paar Stunden
bei meiner Deutschlehrerin vielleicht ganz gut tun wür-
den, doch sie schien das meiste Interesse an meiner
Person zu zeigen. Und so deutete ich mit dem Finger
auf den oberen Teil des Lokals, die Quelle der Musik.
„Und die Party g‘fallt da net, weil?“
„Das habe ich nie behauptet“, erwiderte ich.
„Warum aber feierst du nicht da oben mit und sitzt hier
allein im Hof?“, erkundigte sich diejenige, die mich ein-
geladen hatte, mich zu ihnen zu gesellen.
„Komm einfach mit uns mit, bestimmt wird es mit dir
noch viel lustiger!“
Und so redeten sie auf mich ein, schmierten mir so
lange Honig ums Maul, bis ich mich zu folgender leicht-
sinnigen Aussage bewegen ließ:
„Warum nicht, ich will wohl mit euch mitkommen.“
Kurz darauf verließen wir das Lokal. Zwar bot sich mir
keine Möglichkeit mehr, mich insbesondere von Bacim
zu verabschieden, doch war ich im Großen und Ganzen
froh darüber. Schließlich bekam ich so die Gelegenheit,
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meinen Kommilitonen aus dem Weg zu gehen, und ich
vermied somit auch, dass das türkische Mädchen mich
niedergeschlagen an der Bar fand.
Im Nachhinein denke ich, dass ich vielleicht doch an
der Bar auf ihr Vorbeigehen hätte warten sollen, denn
seit jenem Abend habe ich nie mehr von ihr gehört und
weiß auch nicht, was aus ihr geworden ist. Es tut mir
daher bis heute sehr leid, dass ich nicht Abschied von
ihr genommen hatte. Wahrscheinlich habe ich sie durch
das Nichtabschiednehmen genauso innerlich verletzt
wie mich die Kommilitonen, die uns beim Tanz unaufhör-
lich störten. Die Narbe bleibt, wenn auch die Wunde
heilt. Hoffentlich hat sie mir verziehen. Möge der Himmel
mir vergeben, falls mein egoistisches Verhalten von
damals ihrem Herzen eine Narbe zugefügt hat.
Außer „unweit von Wien“ wusste ich nicht, wohin wir
uns zum Feiern begaben. So gingen wir eine Weile, bis
wir an der Linken Wienzeile vor einem schwarzen Golf
Cabriolet Halt machten, das in der Nähe der U-Bahn-
station Pilgramgasse geparkt war. Dort stiegen wir ein
und fuhren stadtauswärts.
Wir kamen an. Das Fest fand in einer geräumigen Villa
statt. Es war das erste Mal, dass ich in einer derartigen
Gegend außerhalb Wiens eingeladen war. Als schier
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unbegreiflich empfand ich das Treiben, das sich im
Moment nach unserer Ankunft vor meinen Augen
abspielte. Leicht bekleidete Mädchen, aufgeputschte
Jungen. Draußen wurde gegrillt, drinnen wurden harte
Drogen konsumiert.
Die drei Lockvögel mischten sich unter das Partyvolk,
doch der Trägerin des Mosaikkleides entging meine
Abneigung gegenüber diesem Schauspiel nicht.
„Greif zu, solange der Vorrat reicht!“, forderte sie mich
auf. Sie nahm mich bei der Hand und führte mich vor
einen großen runden Tisch, auf dem sich Berge von
Marihuana und zwei Tabletts mit weißem Pulver befan-
den, welches sich die Partygäste durch die Nase ver-
abreichten. Später erfuhr ich von einem Freund, dass
es sich hierbei wohl um Kokain handelte.
„Bedien dich.“
„Ich kann nicht. Ich habe noch nie in meinem Leben
Drogen genommen“, gestand ich zitternd.
„Wie! Was für ein Afrikaner bist du?“
Sie wollte mir den Marihuana-Joint, den sie bereits
rauchte, in den Mund stecken. Ich weigerte mich, rann-
te nach draußen und verließ das Anwesen. Ich lief ins
Blaue, bis ich eine Hauptstraße erreichte, an der ich
erleichtert eine Hinweistafel sah, die Richtung Wien
zeigte. Das Schild stand an einer Kreuzung, wo sich
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eine Bushaltestelle befand. Ich ging hin und schaute im
Fahrplan nach. Es fuhr kein Bus mehr zu dieser Nacht-
stunde. Ich versuchte vergeblich, ein Auto zu stoppen,
doch stellte ich dies sehr bald ein, da keines anhielt,
um mich mitzunehmen. Von den Erlebnissen des Abends
gepeinigt, begann ich einfach, entlang der Hauptstraße
Richtung Wien zu marschieren, bis ein Pkw rund drei-
ßig Meter vor mir bremste. Das Auto fuhr zurück und
blieb neben mir stehen. Der Beifahrer war ein circa
vierzigjähriger Afrikaner.
„Hi!“
„Hi!“
„Wohin zu dieser Stunde?“, fragte er mich erstaunt.
„Nach Wien! Ich möchte nach Wien.“
„Komm. Steig ein.“ Er öffnete die hintere Autotür. Ich
stieg ein. Die Lenkerin nickte mit dem Kopf und fuhr
weiter. Der Beifahrer setzte seine Unterhaltung fort:
„Aus welchem Land kommst du?“
„Aus Zaire.“
„Oh, mais dis donc! Was für ein Zufall! Ein Kongolese,
am 30. Juni zu dieser Nachtstunde, in dieser Gegend,
ohne sich in der Residenz blicken zu lassen.“ Er sah zur
Lenkerin hinüber. Sie nickte mit dem Kopf und fügte
hinzu: „Vielleicht suchte er nach der Residenz?“
„Ich suche nicht nach einer Residenz“, erwiderte ich und
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wandte mich in Richtung des Beifahrers. „Un Zaïrois,
ein Zairese“, bekräftigte ich. Hiermit wollte ich die Um-
benennung von Kongo zu Zaire durch den Präsidenten
Mobutu als Tatsache bekräftigen.
So begab es sich, dass ich Pierre Ntima und seine Frau
Christina kennenlernte. Rein zufällig befand sich das
Paar just in jener Nacht auf dem Rückweg von einem
Bankett, das in der Residenz des Botschafters von
Kongo-Zaire, in Mauerbach bei Wien, stattgefunden
hatte. Somit ergab sich für mich unschwer die Schluss-
folgerung, dass der Ort, wohin ich von den drei jungen
Frauen gebracht wurde, Mauerbach bei Wien war.
Die Kreuzung, an der ich Autos anzuhalten versuchte,
war jene der Hirschengartenstraße und Straße 121, der
Hauptstraße. Wir fuhren Richtung Wien und ich erzähl-
te dem Ehepaar Ntima von meiner Odyssee. Worauf
mir Pierre schlussendlich entgegnete:
„Geh und lass dir die Haare schneiden. Werde den Afro-
Jimmy-Hendrix-Look los!“, worauf er noch ergänzte:
„Denk an dein heutiges Erlebnis mit jenen Worten: Wenn
dich dein Auge zum Bösen verführt, dann reiß es aus und
wirf es weg! Das soll auch für deine Haare gelten.“
Ich nahm diese fast väterliche Empfehlung an und setz-
te sie am darauffolgenden Tag in die Tat um.
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Zwischen Familie Ntima und mir sollte sich noch über die
Jahre eine innige Beziehung entwickeln. Schlussendlich
ergab sich daraus der Anlass, der mich zum Nieder-
schreiben dieses Berichts bewegte. Dazwischen liegen
unzählige Nächte inspirierenden Zusammenkommens
und des regen Gedankenaustausches.
Gäbe es die Möglichkeit, mich in diese vergangene Zeit
der erbauenden Dispute mit Pierre Ntima zurückzuver-
setzen, ich würde sie nicht missen wollen. „Ich lebe,
weil ich dem Tod entgegengehe. Ich lebe, weil ich gebo-
ren wurde. Ich lebe, weil ich bin. Was besagt in Wirklich-
keit dieses ‚Ich bin‘? Geboren sein und gestorben sein!
Dies sind Säulen meines Lebens. Gäbe es diese Säulen
nicht, was wäre dann mit meinem Leben? Nun würde ich
meinen: Ich lebe, sowohl aufgrund meiner Geburt als
auch aufgrund meines sicheren Ablebens. Dazwischen
liegt eine Fülle von Missionen, die erfüllt oder nicht erfüllt
werden müssen.“ Eine von etlichen Wortspielereien, mit
denen Pierre nur allzu oft unsere Unterhaltungen einlei-
tete. Jene Worte gingen mir bereits in der Nacht, in der
ich sie hörte, nahe, sie sollten mich durch mein Leben
begleiten und bis zum heutigen Tag weiterhin prägen. So
wahr mein Name Jean de Dieu Mosende sei, erfülle sich
mit jenem Buch mein Schicksal!
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Leicht verwirrt und unsicher versuche ich nun, das mir
Aufgetragene niederzuschreiben und somit für die Nach-
welt festzuhalten. Er selbst, der Afro-Wiener Pierre
Ntima, bestimmte mich, um seine Reflexionen weiterzu-
vermitteln, sobald er nicht mehr in dieser Welt der berüh-
renden und spürenden Dinge weilt.
Wer war dieser Mann, der sich als afrikanischer Mi-
grant in Wien verliebte, in Wien arbeitete, in Wien wirkte,
blieb und verstarb? Wer war dieser Mann, dem Kaffee-
häuser rund um die Hauptuniversität, Kirchen, Biblio-
theken, Hörsäle und Tanzlokale das Gefühl der Heimat
vermittelten? Wer war dieser Mann, der zahlreichen
Afrikanern aus reiner Selbstlosigkeit und Nächstenliebe
seine Wohnung zur Verfügung stellte und sie somit vor
Väterchen Frost rettete?
Nur zu gern erinnere ich mich an Dispute, welche wir
führten, und Geschichten, welche ich hörte. Jedoch
schien es mir bis zum heutigen Tag schier unmöglich,
seine Psyche zu ergründen. Wer oder was war er,
woher kam er und wohin ging er? Fragen über Fragen,
welche auch mit fortlaufender Freundschaft nicht
abnahmen. Ganz im Gegenteil. Denn je mehr ich mit
ihm sprach, desto rätselhafter schien mir sein Leben zu
sein. Ja, sein Leben ist bis heute ein Mysterium. Und
das, obwohl er mir Zahlreiches aus seinem Leben schil-
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derte und ich dadurch so manche Anekdote über ihn
zum Besten geben konnte.
Um einen beichtenden Menschen kennenzulernen
beziehungsweise ihn sich vertraut zu machen, reicht es
nicht, diesen und seine Sünden zu interpretieren. Zumal
es unmöglich ist, zu Lebzeiten ein derart komplexes
Lebewesen, ein Individuum, welches sich im Wandel der
Zeit stets mit dem Strom verändert und gewisse Eigen-
schaften gleich dem täglichen Kleidungswechsel ablegt
und wiederum andere zulegt, vollkommen zu begreifen.
So maße ich mir an zu betonen, dass es weit wichtiger
ist, Augenmerk auf Wahrhaftigkeit zu legen. Nicht die uns
geläufige Art der Beichte will ich hier erläutern, sondern
es geht mir vielmehr um Verständnis über Sündener-
kenntnis, welche der im Fokus stehende Mensch als
eigene Verfehlungen oder das Böse in ihm sieht und
deshalb den Weg der Wiedergutmachung sucht. Jener
Mensch, der seine Verfehlungen erkennt und sich dage-
gen ausspricht, ist wahrhaftig.
Auf Pierre Ntima bezogen, hieß dies nun Folgendes:
Verstand ich gelegentlich, was er war, so konnte ich
kaum erfassen, was er nicht war. Was jener Mann war,
mit dem ich abseits des Kongobeckens über Unzähliges
zu sprechen vermochte, lässt sich leicht sagen. Hierzu
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hätte man nur die Vielfalt an Themen, über die wir dis-
kutierten, hernehmen müssen. Was er aber nicht war,
lässt sich nur vermuten. Er war kein ausschließlicher
Kopf-Mensch, der die Gedanken seiner Professoren
der Alma Mater Rudolphina Vindobonensis kritiklos wei-
tergeben wollte. Er war ein Wissenschaftsflüchtling, der
sich weigerte, durch sein erworbenes Wissen Menschen
zu unterdrücken. Ein tief gläubiger Mensch, der die
Gottheit in allen Dingen sah, der sich einsetzte für die
Lehre des Animismus, ohne selbst ein Animist zu sein.
Er war Christ, denn er war von Jesus Christus faszi-
niert. Und so geschah es, dass er sich sogar öffentlich
als dessen Jünger deklarierte. Stets blieb er ein Be-
wohner des Kongobeckens, das er weder vergaß noch
verleugnete. In dieser Hinsicht führte er zahlreiche
Dispute mit Wienern an den hiesigen Universitäten.
Seine bevorzugte Diskussionsform war das Palavern.
So kam es, dass manch einem vorkam, jener sei auf-
grund seiner Sprechweise ein aggressiver Mensch. Er
selbst aber drehte seine Zunge siebenmal im Mund
um, bevor er sich kritisch über etwas äußerte.
Sozial betrachtet war Pierre Ntima in erster Linie ein
unermüdlicher unparteiischer Philanthrop und galt in sei-
ner „Umwelt“ als Integrationist – ohne aber jemals als
Integrierter zu gelten. Impulse zu aktuellen weltpoliti-
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schen Fehlentwicklungen waren seine dauerhaften Be-
schäftigungen. Menschenwürde und menschenwürdige
Lebensmöglichkeiten für alle Menschen standen bei Ntima
immer im Mittelpunkt. Als theologisch-philosophisch,
technisch-wirtschaftlich geschulter holistischer Dialog-
förderer war Pierre Ntima – der sich als Afro-Wiener
definierte – ein Vor- und Querdenker für eine ganzheit-
liche Weltsicht.
Das Beichten eines Afro-Wieners ist eine Zusammen-
fassung von Gesprächen, die ich in den letzten fünf
Tagen des Lebens von Pierre Ntima mit ihm, intensiv
und meist im Kreis seiner Freunde, führte. Denn nach
monatelangem Spitalsaufenthalt im Wiener Allgemeinen
Krankenhaus ließ sich Pierre Ntima in seine Wiener
Wohnung in der Eisvogelgasse transferieren, um dort im
Kreise seiner Familie und Freunde zu sterben.
Während seines letzten Spitalsaufenthaltes ging ich je-
den Tag zu ihm, um ihn bis zum Ende zu begleiten. Er
war schwach im Fleisch, aber wach im Geiste. Er wusste,
dass er bald sterben würde. Wir alle trauerten, da wir
seines Schicksals gewiss waren. Er aber tröstete und
stärkte uns mit Scherzen, Belehrungen, deren Inhalte
mich in ähnlicher Weise zur Verwunderung brachten,
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wie es jene an unseren gemeinsamen Abenden getan
hatten. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass manche
Passage seiner Äußerungen mir wie eine Art Lebens-
beichte schien. Deshalb möchte ich aus großer Bewun-
derung für diesen Mann, der für die einen als Sünder
und für die anderen als Sündenbock betrachtet worden
war, seinem Wunsch nachgehen; nämlich: über ihn zu
schreiben. Ich beschränke mich zeitlich in diesem Be-
richt – wie bereits erwähnt – auf die letzten Tage seines
Lebens, während derer sich mir zum letzten Mal die
Möglichkeit des alleinigen Zusammenseins mit Pierre
Ntima bot.
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