108
KritV Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft Herausgeber Peter-Alexis Albrecht Erhard Denninger Dieter Grimm Winfried Hassemer Christine Hohmann- Dennhardt Friedrich Kübler Jutta Limbach Ernst Gottfried Mahrenholz Hans Meyer Wolfgang Naucke Lerke Osterloh Eike Schmidt Spiros Simitis Michael Stolleis Gunther Teubner Manfred Weiss 1/ 2009 Jahrgang 92 · Seiten 1 bis 107 ISSN 0179-2830 · 12666 Nomos Aus dem Inhalt Laudatio für Jutta Limbach aus Anlass der feierlichen Verleihung der Ehrendoktorwürde des Fachbereichs Rechtswissenschaft der Universität Bremen Konstanze Plett Laudatio für Jutta Limbach aus Anlass der feierlichen Verleihung der Ehrendoktorwürde des Fachbereichs Rechtswissenschaft der Universität Bremen Alfred Rinken Solidarität als Verfassungsprinzip Ideengeschichtlicher Hintergrund und moderne Deutungsversuche Erhard Denninger Die Begründung der gesetzgeberischen Einschätzungsspielräume aus den Grenzen der verfassungsgerichtlichen Rechtsanwendung Shu-Perng Hwang Alltagspraxis richterlicher Gesetzesbindung und ihre institutionellen Voraussetzungen Dilip D. Maitra Urteilsabsprachen und Konkurrenzlehre – Das „nach-präventive“ Strafrecht zwischen strenger Gesetzlichkeit und flexibilisiertem Verfahren – Benno Zabel Recht in Zeiten des Terrors – Zur gesetzlichen Neuregelung der (Un-)Zulässigkeit offener und versteckter Ermittlungsmaßnahmen bei Strafverteidigern und nichtverteidigenden Rechts- anwälten (§ 160 a StPO) – Sascha Kische Das Kind X: Verfassungsrechtliche Fragen der anonymen Kindesabgabe Thorsten Kingreen

Das ganze Heft als PDF-Datei

  • Upload
    lequynh

  • View
    224

  • Download
    3

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Das ganze Heft als PDF-Datei

KritVKritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft

HerausgeberPeter-Alexis Albrecht Erhard Denninger Dieter Grimm Winfried Hassemer Christine Hohmann- Dennhardt Friedrich Kübler Jutta Limbach Ernst Gottfried Mahrenholz Hans Meyer Wolfgang Naucke Lerke Osterloh Eike Schmidt Spiros Simitis Michael Stolleis Gunther Teubner Manfred Weiss

1/2009Jahrgang 92 · Seiten 1 bis 107ISSN 0179-2830 · 12666

Nomos

Aus dem Inhalt

Laudatio für Jutta Limbach aus Anlass der feierlichen Verleihung der Ehrendoktorwürde des Fachbereichs Rechtswissenschaft der Universität BremenKonstanze Plett

Laudatio für Jutta Limbach aus Anlass der feierlichen Verleihung der Ehrendoktorwürde des Fachbereichs Rechtswissenschaft der Universität BremenAlfred Rinken

Solidarität als VerfassungsprinzipIdeengeschichtlicher Hintergrund und moderne DeutungsversucheErhard Denninger

Die Begründung der gesetzgeberischen Einschätzungsspielräume aus den Grenzen der verfassungsgerichtlichen RechtsanwendungShu-Perng Hwang

Alltagspraxis richterlicher Gesetzesbindung und ihre institutionellen VoraussetzungenDilip D. Maitra

Urteilsabsprachen und Konkurrenzlehre– Das „nach-präventive“ Strafrecht zwischen strenger Gesetzlichkeit und flexibilisiertem Verfahren –Benno Zabel

Recht in Zeiten des Terrors– Zur gesetzlichen Neuregelung der (Un-)Zulässigkeit offener und versteckter Ermittlungsmaßnahmen bei Strafverteidigern und nichtverteidigenden Rechts- anwälten (§ 160 a StPO) –Sascha Kische

Das Kind X: Verfassungsrechtliche Fragen der anonymen KindesabgabeThorsten Kingreen

KritV

n 2

009

n H

eft 1

Page 2: Das ganze Heft als PDF-Datei

Die Autoren

Editorial

Konstanze PlettLaudatio für Jutta Limbach aus Anlass der feierlichen Verleihung derEhrendoktorwürde des Fachbereichs Rechtswissenschaft der UniversitätBremen ............................................................................................ 5

Alfred RinkenLaudatio für Jutta Limbach aus Anlass der feierlichen Verleihung derEhrendoktorwürde des Fachbereichs Rechtswissenschaft der UniversitätBremen ............................................................................................ 12

Erhard DenningerSolidarität als VerfassungsprinzipIdeengeschichtlicher Hintergrund und moderne Deutungsversuche................... 20

Shu-Perng HwangDie Begründung der gesetzgeberischen Einschätzungsspielräume aus denGrenzen der verfassungsgerichtlichen Rechtsanwendung .......................... 31

Dilip D. MaitraAlltagspraxis richterlicher Gesetzesbindung und ihre institutionellenVoraussetzungen ................................................................................ 49

Benno ZabelUrteilsabsprachen und Konkurrenzlehre– Das „nach-präventive“ Strafrecht zwischen strenger Gesetzlichkeit undflexibilisiertem Verfahren –.................................................................... 57

Sascha KischeRecht in Zeiten des Terrors– Zur gesetzlichen Neuregelung der (Un-)Zulässigkeit offener und versteckterErmittlungsmaßnahmen bei Strafverteidigern und nichtverteidigendenRechtsanwälten (§ 160 a StPO) –.............................................................. 68

Thorsten KingreenDas Kind X: Verfassungsrechtliche Fragen der anonymen Kindesabgabe . . . . 88

Inhaltsverzeichnis

Page 3: Das ganze Heft als PDF-Datei

Prof. em. Dr. Dr. h.c. Erhard Denninger, Fachbereich Rechtswissenschaft, Goethe-Universität, Grüneburgplatz 1, 60629 Frankfurt am Main

Dr. Shu-Perng Hwang, Assistant Research Fellow, Institutum Iurisprudentiae, Acade-mia Sinica, 128 Academia Sinica Rd., Sec. 2, Nankang, Taipei 11529, Taiwan

Prof. Dr. Thorsten Kingreen, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Sozialrecht und Ge-sundheitsrecht, Juristische Fakultät, Universität Regensburg, Universitätsstraße 31,93053 Regensburg

Sascha Kische, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Wirtschaftsstrafrecht derUniversität Osnabrück (Direktor: Prof. Dr. Ralf Krack), Heger-Tor-Wall 14, 49076 Os-nabrück

Dr. Dilip D. Maitra, Rechtsanwalt, Fehrbelliner Straße 42 a, 10119 Berlin

Prof. Dr. Konstanze Plett, LL.M (Wisc.), Professur für Rechtswissenschaften im Ne-benfach und Gender Law, Fachbereich Rechtswissenschaft, Universität Bremen, 28353Bremen

Prof. Dr. Alfred Rinken, Professur für Öffentliches Recht, Staats- und Verfassungs-theorie und Rechtsphilosophie, Fachbereich Rechtswissenschaft, Universität Bremen,Präsident des Staatsgerichtshofs der Freien Hansestadt Bremen, Treseburger Straße 37,28205 Bremen

Dr. Benno Zabel B.A., Akademischer Rat am Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrechtund Rechtsphilosophie von Prof. Dr. Michael Kahlo, Juristenfakultät Leipzig, Burgstr.27, 04109 Leipzig

Die Autoren

Page 4: Das ganze Heft als PDF-Datei

Jutta Limbach

zur Vollendung ihres 75. Lebensjahres

Am 27. März wird Jutta Limbach fünfundsiebzig Jahre alt – und die KritV beeilt sich,sie zu diesem Ereignis auf das Allerherzlichste zu beglückwünschen und ihr zugleichDank für die Treue zu sagen, die sie dieser Zeitschrift seit deren Wiederbegründung imFrühjahr 1986 erwiesen hat.

Als es seinerzeit darum ging, das Prädikat „kritisch“ auch personell zu legitimieren, lages nahe, bei einer Berliner Kollegin anzufragen, die nicht nur rechtsdogmatisch ausge-wiesen war, sondern darüber hinaus – vor allem mit ihrer heute noch1 wirkungskräftigenSchrift „Der verständige Rechtsgenosse“ aus dem Jahre 1977 – längst ihr vehementesInteresse an einem sich nicht in bloßer Wortklauberei erschöpfenden Umgang mitRechtstexten dokumentiert hatte. Die Anfrage hatte Erfolg und führte sogar dazu, dassJutta Limbach zur Mitverfasserin des Vorworts wurde, das in den ersten Band der neuenKritV eingeführt hat. Daraus sei gern noch einmal die maßgeblich auf sie zurückgehendePassage hervorgehoben, in der als Ausweis des Kritischen das Bemühen annonciertwird, „die Eigenart, Herkunft und Tragweite der Argumente von Juristen und insbe-sondere das Zusammenspiel juristischer und außerrechtlicher Wertungsgesichtspunkteoffenzulegen sowie rational zu erörtern“.2

Damals war freilich noch nicht zu erahnen, dass Jutta Limbach nur drei Jahre später dieNiederungen der Massenuniversität hinter sich lassen und zu einer schier atemberau-benden Karriere ansetzen würde, die ihren Beginn im Amt der Berliner Justizsenatoringenommen hat, um hernach in die Präsidentenschaft des Bundesverfassungsgerichts zumünden und schließlich – längst nach Erreichen der sog. dienstlichen Altersgrenze – inder Leitung des Goethe-Instituts auszuklingen.3 Das dieser imposante Weg von man-nigfaltigen Ehrungen begleitet worden ist, versteht sich nachgerade von selbst. Die vor-erst letzte hat in Bremen stattgefunden, wo ihr am 27. November 2008 die Ehrendok-torwürde des Fachbereichs Rechtswissenschaft der dortigen Universität verliehen wor-den ist. Wenn man so will, kann darin auch ein vorzeitiges Jubiläumspräsent gesehenwerden; und so bietet es sich an, die aus diesem Anlass gehaltenen Laudationes gewis-sermaßen als Komplettierung unserer Glückwunschadresse gleich im Anschluss abzu-drucken.4 Diejenige von Konstanze Plett ist der gesamten Vita gewidmet, wohingegensich Alfred Rinken auf die Zeit am Bundesverfassungsgericht konzentriert.

1 S. nur die jüngste Bezugnahme von Elena Barnert, Der eingebildete Dritte, 2008, S. 34 ff.2 KritV 1986, S. V.3 Übrigens nicht ohne literarisches Echo, wie u.a. das 2008 erschienene Buch von Jutta Lim-

bach mit der Fragestellung „Hat Deutsch eine Zukunft?“ beweist.4 Und zwar unter bewusster Beibehaltung ihrer mündlichen Fassung.

Peter Alexis Albrecht, Eike Schmidt

Page 5: Das ganze Heft als PDF-Datei

Wir beschränken uns deshalb darauf, Jutta Limbach alles Gute zu wünschen, vor allemGesundheit und Vitalität, uns nochmals für ihre Treue zur KritV zu bedanken und dabei– ein wenig Egoismus darf schon sein – die Hoffung zu artikulieren, dass sie dieselbeweiterhin aktiv mit Rat und Tat unterstützen möge, wie es gerade mit dem vierten Heftder KritV aus 2008 so eindrucksvoll geschehen ist.

Peter Alexis Albrecht Eike Schmidt

4 Peter Alexis Albrecht, Eike Schmidt

Page 6: Das ganze Heft als PDF-Datei

Laudatio für Jutta Limbach aus Anlass der feierlichen Verleihung derEhrendoktorwürde des Fachbereichs Rechtswissenschaft der UniversitätBremen

Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kollegen und Kolleginnen, vor allemaber: sehr verehrte, liebe Frau Limbach!

Sie sind die erste Frau, der die Ehrendoktorwürde des Fachbereichs Rechtswissen-schaft der Universität Bremen verliehen wird, und dieses „erste“ findet sich in vielenKapiteln Ihres Lebens wieder.

Als Juristen und Juristinnen sind wir es ja gewohnt, Allgemeine und Besondere Teilevoneinander zu unterscheiden, und so gibt es heute Abend eine allgemeine Laudatio,mit der ich gerade begonnen habe, und eine besondere Laudatio, die Herr Rinken haltenwird.

In meinem Teil der Laudatio will ich ein Juristinnenleben nachzeichnen, das exem-plarisch zu nennen naheliegt – doch exemplarisch im Sinne von „beispielhaft“ gleichtypisch für viele kann es gar nicht sein (eben deswegen, weil Jutta Limbach an so vielenStellen ihres Lebens die erste oder doch eine der ersten Juristinnen war). Exemplarischim Sinne von „beispielgebend“ hingegen sehr wohl. Vor allem für die nachfolgendenJuristinnengenerationen, aber nicht nur diese.

Frau Limbach hatte das Glück – wie sie für ein 1982 erschienenes Buch von Juris-tinnen über Juristinnen zu Protokoll gegeben hat1 –, in einem Elternhaus aufzuwachsen,in dem „Bildung und Berufstätigkeit sowie soziales und politisches Engagement … alsselbstverständliche Rechte und Möglichkeiten von Frauen betrachtet [wurden], die esnur zu nutzen galt“. Politisches Engagement hatten ihr bereits eigene Vorfahrinnen vor-gelebt. Eine Urgroßmutter, Pauline Staegemann, war im 19. Jahrhundert, als Frauen jedepolitische Betätigung verboten war,2 trotzdem politisch aktiv, hatte in Berlin mehrmalsVereine für Arbeiterinnen gegründet und ist dafür ebenso oft zu Haftstrafen verurteiltworden, die sie auch abgesessen hat.3 Deren Tochter Elfriede, verheiratete Ryneck, dieGroßmutter väterlicherseits, wird in historischen Quellen bereits als Politikerin be-zeichnet – zu Recht: 1919/20 war Elfriede Ryneck Mitglied der Weimarer National-versammlung, von 1920 bis 1924 Mitglied des Reichstages, von 1925 bis 1933 Mitglied

1 Fabricius-Brand, Margarete / Berghahn, Sabine / Sudhölter, Kristine (Hrsg.): Juristinnen: Be-richte, Fakten, Interviews, Berlin-West: Elefanten-Press-Verlag, 1982, S. 178-181 (179).

2 Gerhard, Ute: Grenzziehungen und Überschreitungen: Die Rechte der Frauen auf dem Weg indie politische Öffentlichkeit, in: Dies. (Hrsg.): Frauen in der Geschichte des Rechts, München:Beck, 1997, S. 509-546 (524 ff.).

3 Juchacz, Marie: Sie lebten für eine bessere Welt: Lebensbilder führender Frauen des 19. und20. Jahrhunderts, Berlin etc.: Dietz, 1971, S. 25-28; Wachenheim, Hedwig: Vom Großbürger-tum zur Sozialdemokratie: Memoiren einer Reformistin, Berlin: Colloquium Verlag, 1973,S. 151 f. Seit 2004 verleiht die Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen in der SPDBrandenburg zweijährlich einen nach Pauline Staegemann benannten Preis „für Zivilcourage,Einsatz für Gleichberechtigung und gesellschaftliche Gerechtigkeit“.

Konstanze Plett

Page 7: Das ganze Heft als PDF-Datei

des Preußischen Landtages,4 außerdem zeitweise Mitglied des Parteivorstandes derSPD.

Die dunkle Zeit des sogenannten Dritten Reichs haben Sie, Frau Limbach, als 1934Geborene als Kind erlebt, in einem dezidiert sozialdemokratischen Elternhaus sichernicht ohne Ängste. Prägender waren dann aber die Jugendjahre. Rechtswissenschaft alsStudienfach wählte Jutta Limbach jedoch nicht, um die Arbeit ihrer Urgroßmutter undihrer Großmutter fortzusetzen, sondern aus dem Wunsch heraus, eine solide Grundlagefür eine spätere Tätigkeit als politische Journalistin zu erwerben. Sie studierte in Berlin,ihrem Geburtsort, und in Freiburg/Breisgau, bestand 1958 das Erste juristische Staats-examen und 1962 die Große juristische Staatsprüfung (Anmerkung für die Jüngeren imPublikum: damals dauerte das Referendariat noch dreieinhalb Jahre) – und gleich danachwurde sie wissenschaftliche Assistentin am Fachbereich Rechtswissenschaft der FreienUniversität Berlin. Ihr Journalismus-Traum war schon während des Jurastudiums ver-flogen, wie Frau Limbach einmal gesagt hat, weil ihr die Jurisprudenz „einfach Spaßgemacht hat“.5 (Und in die Zunft der Schreibenden ist sie ja trotzdem eingetreten.) 1966promovierte sie mit der Dissertation „Theorie und Wirklichkeit der GmbH“, die alsBand 2 der von Ernst E. Hirsch6 begründeten Schriftenreihe mit dem (heutigen) Titel„Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung“ veröffentlichtwurde. Die rechtssoziologische Sichtweise behielt Frau Limbach auch in ihrer Habili-tationsschrift bei. „Das gesellschaftliche Handeln, Denken und Wissen im Richter-spruch“ heißt die Arbeit, mit der sie sich Ende 1971 für die Fächer Bürgerliches Recht,Handels- und Wirtschaftsrecht sowie Rechtssoziologie habilitierte. Gleich im An-schluss, Anfang 1972, trat sie die Professur für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirt-schaftsrecht und Rechtssoziologie an der Freien Universität Berlin an.

Dies sieht wie eine völlig normal verlaufene wissenschaftliche Karriere aus, und wardoch alles andere. Lassen Sie mich an dieser Stelle einen kleinen professionshistorischenExkurs machen. Zum Studium wurden Frauen, wie mittlerweile weithin bekannt ist, in

4 Bundesarchiv, „Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik” online, Biographien: Ryneck,Elfriede = www.bundesarchiv.de/aktenreichskanzlei/1919-1933/0011/adr/adrmr/kap1_6/pa-ra2_209.html (14.12.2008). Vgl. ferner Datenbank der Reichstagsabgeordneten, Basis: Reichs-tagshandbücher (1919-1933/38) = mdz1.bib-bvb.de/~rt/select.html?name=Ryneck++Elfrie-de&recherche=ja (14.12.2008).

5 Jutta Limbach, DIE ZEIT, Nr. 37 vom 8.9.2005, S. 68.6 Am 28.11.2008, einen Tag nach der Verleihung der Ehrendoktorwürde an Jutta Limbach, wurde

eine Neuausgabe der zuerst 1982 unter dem Titel „Aus des Kaisers Zeiten durch die WeimarerRepublik in das Land Atatürks“ im Schweitzer-Verlag erschienenen Autobiographie Hirschs,nunmehr unter dem Titel „Als Rechtsgelehrter im Lande Attatürks“, Berliner Wissenschafts-Verlag, in einer Veranstaltung der Freien Universität präsentiert; Jutta Limbach als eine derprominentesten Schülerinnen Hirschs hielt einen der Vorträge.

6 Konstanze Plett

Page 8: Das ganze Heft als PDF-Datei

Deutschland erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts zugelassen.7 Das Jurastudium konntendie ersten Frauen aber nur mit der Promotion abschließen; denn zu den Staatsexaminawurden sie erst Anfang der 1920er Jahre zugelassen. Auch war mit der Öffnung derUniversitäten für Studentinnen zunächst keineswegs eine Öffnung akademischer Lauf-bahnen verbunden; denn zu habilitieren war ihnen verwehrt, bis der Preußische Ministerfür Wissenschaft, Kunst und Volksbildung – auf eine Eingabe von Edith Stein hin – ineinem Erlass vom 21.2.1920 Steins Auffassung beitrat, „dass in der Zugehörigkeit zumweiblichen Geschlecht kein Hindernis gegen die Habilitation erblickt werden darf“.8

Die erste und bis Kriegsende einzige Habilitation einer Juristin in Deutschland9 gab esEnde 1932 in Hamburg.10 Im späteren Westdeutschland wurde eine Juristin 1946 habi-litiert,11 zwischen 1959 und 1970 folgten sechs weitere,12 d.h. Frau Limbach war erstdie achte in Deutschland (West) habilitierte Juristin.13 (Von 1946 bis 1977 wurden in-

7 Gemeinhin wird 1908 als das entscheidende Jahr angegeben. Dieses Jahr markiert aber nurdie Zulassung von Frauen zum Universitätsstudium in Preußen. In den anderen deutschenLändern öffneten sich die Universitätstore für Frauen zwischen 1900 und 1918; vgl. Rinken,Alfred: Einführung in das juristische Studium: Juristenausbildung und Juristenpraxis im Ver-fassungsstaat, 3. Aufl., München: Beck, 1996, S. 47 f.; Soden, Kristine von: Auf dem Weg indie Tempel der Wissenschaft: Zur Durchsetzung des Frauenstudiums im WilhelminischenDeutschland, in: Gerhard, Ute (Hrsg.): Frauen in der Geschichte des Rechts, München: Beck,1997, S. 617-632. Einige der ganz frühen deutschen Juristinnen hatten in Zürich studiert,dessen Universität bereits seit Ende der 1860er Jahre Frauen als Studentinnen zugelassenhatte; vgl. Verein Feministische Wissenschaft Schweiz / Katharina Belser / Gabi Einsele /Rachel Gratzfeld / Regula Schnurrenberger (Hrsg.): Ebenso neu als kühn: 120 Jahre Frauen-studium an der Universität Zürich, Zürich: eFeF, 1988.

8 Zitiert nach Boedeker, Elisabeth / Meyer-Plath, Maria: 50 Jahre Habilitation von Frauen inDeutschland, Göttingen: Verlag Otto Schwartz & Co., 1974, S. 5.

9 Die Schweizerin Emily Kempin-Spyri (1853-1901) war von der Universität Zürich bereits1891 „ausnahmsweise“ habilitiert worden; vgl. Hasler, Eveline: Die Wachsflügelfrau, Mün-chen: dtv, 1994. S. 197 f.

10 Magdalene Schoch; vgl. Boedeker/Meyer-Plath (Fn. 8), S. 191. Die dort genannten biblio-graphischen Angaben enthalten jedoch einige Fehler. Inzwischen ist die Biographie dieserbemerkenswerten Frau gut aufgearbeitet; vgl. Nicolaysen, Rainer: Für Recht und Gerechtig-keit: Über das couragierte Leben der Juristin Magdalene Schoch (1897-1987), Zeitschrift desVereins für Hamburgische Geschichte 2006 (92. Jg.), S. 113-143. Zu den am Beispiel Schochaufgezeigten Schwierigkeiten, durch die NS-Zeit verschüttetes Wissen über frühe Juristinnenwiederzufinden, vgl. Plett, Konstanze: The loss of early women lawyers from collective me-mory in Germany – and the difficulty to rediscover them: A memoir of Magdalena Schoch,in: Karstedt, Susanne (Hrsg.): Legal Institutions and Collective Memories, Oxford: HartPublishing, 2009.

11 Gerda Krüger, die 1938 zum Rücktritt vom abgeschlossenen Habilitationsverfahren aus po-litischen Gründen genötigt worden war; Boedeker/Meyer-Plath (Fn. 8), S. 191 f. Möglicher-weise handelte es sich jedoch um eine philosophische Habilitation, da in Boedeker/Meyer-Plath beim Namen der Zusatz „Dr. jur. Dr. phil. habil.“ angegeben ist.

12 Dies waren nach Boedeker/Meyer-Plath (Fn. 8), S. 192 ff.: Anne-Eva Brauneck 1959, MarieLuise Hilger 1959, Hilde Kaufmann 1961, Ilse Staff 1969, Marianne Bauer 1969, BrigitteKeuk 1970.

13 Da Boedeker/Meyer-Plath einerseits nur Dozentinnen befragt haben, andererseits nur denZeitraum bis 1970 erfassen, ist nicht ganz auszuschließen, dass ihnen die eine oder andereHabilitation einer weiteren Juristin entgangen ist; aber dies ist doch sehr unwahrscheinlich.

Laudatio für Jutta Limbach aus Anlass der feierlichen Verleihung der Ehrendoktorwürde 7

Page 9: Das ganze Heft als PDF-Datei

teressanterweise in der – viel kleineren – DDR neun Juristinnen habilitiert.)14 Nochüberschaubarer sind die Berufungen von Frauen an juristische Fakultäten: In der altenBundesrepublik gab es die erste 1965,15 die zweite 1966,16 die dritte 197117 und dievierte im Januar 1972 – diese ist die von Frau Limbach. (Nur zur Vervollständigung desBildes: In der DDR gab es 1971 immerhin schon neun juristische Hochschullehrerin-nen.18)

Zurück zu den Lebens-Stationen von Jutta Limbach. Wer einmal auf rechtssoziolo-gische Fragestellungen gestoßen ist, den und die lässt diese Sichtweise nicht mehr los.So ist es auch nicht verwunderlich, dass Frau Limbach zu der Gruppe von Wissen-schaftlern gehörte, die 1976 die „Vereinigung für Rechtssoziologie“19 gründeten, derenVorstand sie mehrere Jahre angehörte und deren Mitglied sie bis heute ist. Im rechts-soziologischen Zusammenhang steht auch ihre im Auftrag des Bundesjustizministeri-ums erstellte empirische Studie „Die gemeinsame Sorge geschiedener Eltern in derRechtspraxis“, veröffentlicht 1989;20 Zweck dieser Studie war die Vorbereitung einerGesetzesänderung zum elterlichen Sorgerecht, die nach einer Entscheidung des Bun-desverfassungsgerichts im Jahre 198221 erforderlich geworden war.22

Im Wintersemester 1981/82 weilte Frau Limbach hier in Bremen zur Wahrnehmungeiner Gastprofessur, die vornehmlich der Mitwirkung an einem Forschungsprojekt desRechtssoziologen Rüdiger Lautmann diente – ein Projekt, das in den 1980er Jahren zueiner in verschiedenen Fachzeitschriften ausgetragenen Kontroverse über das Rechts-bewusstsein von Frauen geführt hatte,23 an der sich Frau Limbach allerdings nicht be-teiligte. Hingegen war sie hinfort und ist bis heute an der feministischen Rechtsdebattebeteiligt. Dies dokumentiert sich u.a. in dem 1988 gemeinsam mit Ute Gerhard heraus-gegebenen Band „Rechtsalltag von Frauen“,24 in dem sie selbst „Engagement und Dis-tanz als Probleme einer feministischen Rechtswissenschaft“25 ausgemacht hat. Außer-dem ist Frau Limbach von Anbeginn an Mitherausgeberin der wegen der Umschlagfarbeso genannten „Lila Reihe“, der „Schriften zur Gleichstellung der Frau“, in der von 1991

14 Boedeker/Meyer-Plath (Fn. 8), S. 333-336, 362. Aus der Namensliste, die auch nicht habili-tierte Dozentinnen enthält, wurden nur die habilitierten gezählt.

15 Anne-Eva Brauneck (1910-2007), Gießen, Professur für Strafrecht und Kriminologie.16 Hilde Kaufmann (1920-1981), Kiel, ab 1970 Köln.17 Ilse Staff (1928 geboren), Frankfurt am Main.18 Wie Fn. 13. Von diesen war nur Anita Grandke nach der deutschen Einigung noch tätig (an

der Humboldt-Universität zu Berlin, bis 1994).19 www.rechtssoziologie.info (28.12.2008).20 Erschienen im Bundesanzeiger-Verlag, Köln, in der Reihe „Rechtstatsachenforschung“.21 BVerfGE 61, 358.22 Der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur elterlichen Sorge von 1982 wurde durch

Gesetzesänderung erst mit dem Gesetz zur Reform des Kindschaftsrechts (Kindschaftsrechts-reformgesetz – KindRG) vom 16.12.1997 (BGBl. I S. 2942) Rechnung getragen, das am1.7.1998 in Kraft trat.

23 Das Projekt selbst, das unter Leitung von Rüdiger Lautmann mit Jutta Limbach und UteGerhard durchgeführt wurde, galt der Erforschung der Folgen und Auswirkungen der Ehe-rechtsreform von 1976. Die Diskussion um das Rechtsbewusstsein von Frauen, auf die hierBezug genommen wird, hatte sich aus diesem Projekt heraus entwickelt, war aber davonunabhängig.

24 Bei Suhrkamp, Frankfurt am Main, erschienen (edition suhrkamp 1423).25 S. 169-182.

8 Konstanze Plett

Page 10: Das ganze Heft als PDF-Datei

bis jetzt 32 Bände erschienen sind.26 Zudem hat sie zur Gleichberechtigung von Frauenzahlreiche veröffentlichte und unveröffentlichte Vorträge gehalten; allen zur Lektüreempfehlen kann ich z.B. ihren vor einem Jahr in Karlsruhe gehaltenen Vortrag über„50 Jahre Gleichberechtigungsgesetz“.27

Wer jetzt jedoch glaubt, Jutta Limbachs wissenschaftlicher Umgang sei mit der„Frauenszene“ erschöpft, den kann ich beruhigen. Stellvertretend für viele wissen-schaftliche Aktivitäten sei ihre Beteiligung an der Wiederbelebung der „KritischenVierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft“, kurz: KritV, genannt,die von 1859 bis 1919 in drei Folgen erschienen war. 1986 beginnt die vierte Folge, unddieser Neubeginn wurde maßgeblich von dem Bremer Kollegen Eike Schmidt betrieben.Frau Limbach ist auch hier von Anbeginn bis heute Mitherausgeberin. (Um die Lese-empfehlungen um zwei zu ergänzen: Der „Neuerscheinungbegründungsbeitrag“ vonEike Schmidt28 liest sich als hochmodernes Ausbildungsprogramm, und die Rezensi-onsabhandlung von Jutta Limbach29 im ersten [Doppel-]Heft gibt an drei Beispielenhervorragende Nachhilfe in juristischer Methodik – beides auch 22 Jahre nach Erschei-nen noch höchst lesenswert.)

All diese Tätigkeiten belegen, dass Frau Limbach der Wissenschaft keinesfalls denRücken gekehrt hat, als sie Rufen auf andere Positionen im Staat folgte. Von 1989 bis1994 war sie Senatorin für Justiz des Landes Berlin. In diesem Amt war sie ebenfallsdie erste Frau – allerdings keineswegs die einzige und nicht einmal die einzige Rechts-professorin im Senat; denn mit Heide Pfarr hatte der damalige Regierende Bürgermeis-ter30 sich einer weiteren Frau dieser Qualifikation versichert (und insgesamt sogar einenSenat mit mehr Senatorinnen als Senatoren gebildet). Als Frau Limbach ihr Amt imMärz 1989 antrat, war noch nicht absehbar, was in ihre Amtszeit fallen würde: die Ver-einigung der beiden Deutschlands und der beiden Teile Berlins – gerade für die Justiz-senatorin gewiss keine einfache, dafür aber ebenso gewiss eine höchst aufregende Zeit,auch wenn nicht alle ihre Vorschläge in der Gemeinsamen Verfassungskommission zur

26 Im Nomos-Verlag, Baden-Baden. Davon stammen fünf Bände von Bremer Wissenschaftlernund Wissenschaftlerinnen, darunter der von Ursula Rust herausgegebene 14. Band (Juristin-nen an den Hochschulen – Frauenrecht in Lehre und Forschung, 1997), dessen Einleitungs-beitrag „Juristinnen im Wissenschaftsbetrieb – Feminisierung der Jurisprudenz?“ Jutta Lim-bach verfasst hat.

27 Auf die Verfügbarkeit im Internet hat mich mein Mitlaudator aufmerksam gemacht: http://www.gleichberechtigung-goes-online.de/doc/doc_download.cfm?uuid=70264466C2975C-C8AC756DC31D7261AB&&IRACER_AUTOLINK&& (26.12.2008).

28 Schmidt, Eike: Gesetzgebung, Rechtspraxis und Jurisprudenz als Gegenstände kritischer Be-trachtung (oder vom Berufe unserer Zeit, eine sich kritisch nennende Rechtszeitschrift wie-derzubegründen), KritV 1986 (69. Jg.), S. 1-20.

29 Limbach, Jutta: Die Kompensation von Ungleichgewichtslagen: Eine Rezensionsabhandlung,KritV 1986 (69. Jg.), S. 165-188.

30 Walter Momper. Jutta Limbach blieb aber auch im zweiten Senat Diepgen ab 1991 Senatorinfür Justiz.

Laudatio für Jutta Limbach aus Anlass der feierlichen Verleihung der Ehrendoktorwürde 9

Page 11: Das ganze Heft als PDF-Datei

Reform des Grundgesetzes, die 1992/93 zusammengetreten war und deren ordentlichesMitglied sie war, die erforderlichen Mehrheiten fanden.31

Den Berliner Senat verließ Frau Limbach im März 1994, um das höchste in diesemStaat zu vergebende Amt anzutreten, für das die Qualifikation als „Volljurist/in“ erfor-derlich ist: nämlich um Richterin des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe zu wer-den, wobei sie sofort auch Vizepräsidentin wurde und klar war, dass sie ab Herbst des-selben Jahres Präsidentin sein würde. Auch hier kann ich mir eine kleine professions-historische Anmerkung nicht versagen. Für viele Jahre gab es jeweils nur eine Richterinam Bundesverfassungsgericht, was zu dem Scherzwort vom „Schneewittchen-Senat“führte für denjenigen der beiden Senate, dem diese Richterin angehörte: eine Frau undsieben Männer. Als Frau Limbach, an das Bundesverfassungsgericht kam, gab es dortallerdings schlagartig sogar einen höheren Frauenanteil als in der Justiz im Übrigen:30 % gegenüber 25 %; denn zugleich waren weitere Frauen in dieses Amt gewählt wor-den.32

Die Würdigung der Karlsruher Zeit wird verabredungsgemäß Herr Rinken überneh-men, so dass ich in das Jahr 2002 springe, als Frau Limbach aus Altersgründen ausdiesem Amt schied, aber alles andere tat, als sich zur Ruhe zu setzen; denn abermalsnahtlos übernahm sie eine neue Aufgabe, diesmal als Präsidentin des Goethe-Instituts,ein Amt, das sie als „das schönste Ehrenamt, das die Bundesrepublik Deutschland zuvergeben hat“ bezeichnet hat.33 Bei Betrachtung ihrer Publikationsliste ist unverkenn-bar, dass Frau Limbach in diesem Amt einen neuen Gegenstand für publizistische Be-tätigung entdeckt hat: die Sprache. Die von ihr herausgegebenen Bücher über aus- undeingewanderte Wörter34 und das schönste deutsche Wort35 sind eine Fundgrube für alleSprachinteressierten. In ihrer in diesem Jahr erschienenen Monographie „Hat Deutscheine Zukunft? Unsere Sprache in der globalisierten Welt“36 zieht Jutta Limbach einStück weit die Summe ihres beruflichen Lebens; aus diesem Buch spricht für michsowohl die Juristin als auch die Politikerin als auch die Kulturbotschafterin.

31 Vgl. hierzu die Laudatio von Alfred Rinken (in diesem Heft); ferner Limbach, Jutta / Eckertz-Höfer, Marion (Hrsg.): Frauenrechte im Grundgesetz des geeinten Deutschland: Diskussionin der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat und der Bun-desratskommission Verfassungsreform – Dokumentation –, Baden-Baden: Nomos, 1993(Schriften zur Gleichstellung der Frau, 7).

32 Aktuell ist der Anteil allerdings wieder gesunken: 3 von 16 macht nur noch knapp 20 %, undder Erste Senat ist tatsächlich wieder zum „Schneewittchen-Senat“ geworden.

33 In der Widmung des Buches Limbach, Jutta: Hat Deutsch eine Zukunft? Unsere Sprache inder globalisierten Welt, München: Beck, 2008; die vollständige Widmung lautet: „DiesesBuch ist als ein bescheidener Dank für das schönste Ehrenamt gedacht, das die Bundesrepu-blik Deutschland zu vergeben hat.“

34 Limbach, Jutta (Hrsg.): Ausgewanderte Wörter: Eine Auswahl der interessantesten Beiträgezur internationalen Ausschreibung „Ausgewanderte Wörter“, Ismaning: Hueber, 2007; Lim-bach, Jutta (Hrsg.): Eingewanderte Wörter: Eine Auswahl der schönsten Beiträge zum inter-nationalen Wettbewerb „Wörter mit Migrationshintergrund – das beste eingewanderte Wort“,Ismaning: Hueber, 2008.

35 Limbach, Jutta (Hrsg.): Das schönste deutsche Wort: Liebeserklärungen an die deutscheSprache, Freiburg im Breisgau etc.: Herder, 2006.

36 Vgl. Fn. 33.

10 Konstanze Plett

Page 12: Das ganze Heft als PDF-Datei

Schließen möchte ich mit einer persönlichen und einer dienstlichen Anmerkung.Die persönliche: Bei unseren sporadischen Begegnungen in den letzten zwanzig Jah-

ren (deren erste übrigens auch hier in Bremen war, als ich eine Vortragsveranstaltungder Juristischen Gesellschaft mit Ihnen, Frau Limbach, zum Thema „Feministische Ju-risprudenz“ moderieren durfte) habe ich mich immer wieder gefreut, dass Sie Ihre Ver-bundenheit mit der feministischen Sache nie in Abrede gestellt haben (und ich weiß unseinig darin, dass diese Sache ja überhaupt nicht an das Geschlecht ihrer Verfechterinnenund – ja, auch: – Verfechter37 geknüpft ist).

Die dienstliche: Von vielen Seiten hat das amtierende Dekanat Lob dafür bekommen,dass wir Sie zur Verleihung der Ehrendoktorwürde vorgeschlagen haben, obgleich ei-nige dachten, dass dies eine Ehrung sei, bei der die Universität Bremen eigentlich nurzu spät kommen könne. Umso größer war das Erstaunen (auch mein eigenes), dass Siezwar schon einige Ehrendoktorwürden erhalten haben, aber bislang ausschließlich vonausländischen Universitäten.38 Deshalb freuen wir uns ganz besonders, Frau Limbach,dass Sie zur Annahme dieser Auszeichnung bereit sind und so der Universität BremenGelegenheit geben, ihr Eintreten für „Gleichberechtigung der Geschlechter“ als einesder universitären Leitziele39 unter Beweis zu stellen.

37 Hier sei nur an einige namhafte Feministen mit ihren Werken erinnert: Theodor Gottlieb vonHippel, Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber, 1793 (Nachdruck 1977); John StuartMill, The subjection of women, 1869 (dt. 1869 als „Auszug aus John Stuart Mill's Unterord-nung der Frauen“, aber auch schon vollständig unter dem seither verwendeten Titel „DieHörigkeit der Frau“, letzter Nachdruck 1997); August Bebel, Die Frau und der Sozialismus,1883 (letzter Nachdruck 1994); Bernard Shaw, The intelligent woman's guide to socialismand capitalism, 1928 (dt. Übers.: Wegweiser für die intelligente Frau zum Sozialismus undKapitalismus, 1928, Neuausgabe 1978).

38 1999 Basel, 2002 Rotterdam und University College London, 2003 York University Torontound 2003 Peru.

39 „Gleichberechtigung der Geschlechter“ gehört seit 2000 dazu, vgl. die Dokumentation imBremer Uni Schlüssel (BUS) Nr. 60, Oktober/Novermber 2000, S. 10 f.; die Leitziele sindauch unter http://www.uni-bremen.de/campus/leitziele.php3 (26.12.2008) zu finden.

Laudatio für Jutta Limbach aus Anlass der feierlichen Verleihung der Ehrendoktorwürde 11

Page 13: Das ganze Heft als PDF-Datei

Laudatio für Jutta Limbach aus Anlass der feierlichen Verleihung derEhrendoktorwürde des Fachbereichs Rechtswissenschaft der UniversitätBremen

Es ist für mich eine besondere Ehre und eine große Freude, dass ich heute den Teil derLaudatio übernehmen darf, der sich auf den Abschnitt Ihres beruflichen Wirkens be-zieht, sehr verehrte Frau Limbach, in dem das Verfassungsrecht im Vordergrund ge-standen hat. Es ist dies im Wesentlichen die Zeit von 1994 bis 2002, in der Sie Richterin,Vorsitzende des Zweiten Senats und Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts gewe-sen sind.

In dieser Zeit hat der Zweite Senat unter Ihrem Vorsitz zahlreiche wichtige in denBänden 90 bis 104 der Amtlichen Sammlung dokumentierte Entscheidungen getroffen.Ich hebe eine knappe Auswahl hervor und nenne nur die Entscheidungen● zur Zulässigkeit des Adria-, AWACS- und Somalia-Einsatzes der Bundeswehr

(BVerfGE 90, 286),● zur Strafbarkeit früherer Mitarbeiter und Agenten des Ministeriums für Staatssicher-

heit der ehemaligen DDR wegen Spionagetätigkeit (BVerfGE 92, 277),● zum Schleswig-Holsteinischen Mitbestimmungsgesetz (BVerfGE 93, 37),● zur vermögenssteuerlichen und erbschaftssteuerlichen Belastung von einheitswert-

gebundenem Grundbesitz (BVerfGE 93, 121; 93, 165),● zur Asylrechtsnovelle (BVerfGE 94, 49; 94, 115; 94, 166),● zu Überhangmandaten im Bundeswahlgesetz (BVerfGE 95, 355),● zur Teilnahme Deutschlands an der Europäischen Währungsunion (BVerfGE 97,

350),● und für Bremen von besonderer Bedeutung: die Entscheidung zum Länderfinanzaus-

gleich (BVerfGE 101, 158).Schon diese wirklich knappe Auswahl vermittelt einen Eindruck von der Breite undKomplexität Ihres damaligen Aufgabenfeldes und von der Machtfülle des im Grenzbe-reich von Politik und Recht operierenden Bundesverfassungsgerichts.

Bei all diesen Entscheidungen handelt es sich um Entscheidungen des Zweiten Senats,in dem die Richterin Limbach mit ihrer zustimmenden oder auch ablehnenden Stimmezu einem Gesamtergebnis beigetragen hat, das sie zwar mitzuverantworten hat, das ihraber nicht einfach – sei es positiv, sei es negativ – als individuelle Leistung zugerechnetwerden kann. Es ist wie bei einem guten Chor, der kein Ensemble von Solisten ist, beidem sich vielmehr die Einzelstimmen zu einem Gesamtklang vereinen. Mir selbst ist inmeiner weit bescheideneren Richtertätigkeit immer wieder der Rollenunterschied deut-lich geworden zwischen dem klug räsonnierenden Wissenschaftler am Schreibtisch ei-nerseits und dem in einer intensiven und häufig kontroversen Gemeinschaftsarbeit zueiner Entscheidung gezwungenen Richter andererseits. Sehr treffend haben Sie, FrauLimbach, die unterschiedliche Denkweise der beiden Zünfte folgendermaßen beschrie-ben:

Alfred Rinken

Page 14: Das ganze Heft als PDF-Datei

„Professoren und Journalisten sind in der beneidenswerten Lage, das Wirken der Jus-tiz meinungsfreudig kommentieren zu können. … Sie alle dürfen vernünfteln nach demMotto, dass man nicht Scharfschütze sein muss, um feststellen zu können, ob jemandins Schwarze getroffen hat. Sie sind nicht auskunftspflichtig über die Alternativen desvon ihnen kritisierten Handelns und Entscheidens. Insbesondere die Professoren könnensich auf die Einsicht Max Webers zurückziehen, dass es nicht Sache der Wissenschaftsei zu sagen, was sein oder geschehen solle, sondern was ist.“1

So versage ich mir eine Würdigung und eine Kritik der Chorleistung des ZweitenSenats und suche nach Stücken, in denen sich die Stimme der Richterin Limbach so-listisch hervorhebt. Der legitime Ort einer solchen Solodarbietung ist das Sondervotum.Frau Limbach hat von diesem Instrument der innergerichtlichen Opposition nur äußerstsparsamen Gebrauch gemacht und offensichtlich vor allem auf gerichtsinternen Einflussund Ausgleich gesetzt. Umso aufschlussreicher sind die Ausnahmen! Es sind zweiAsylrechtsentscheidungen ihres Senats, gegen die die Vorsitzende energischen Wider-spruch einlegt. Gegen den Rückzug verfassungsgerichtlicher Kontrolle bei der Quali-fizierung Ghanas als sicheres Herkunftsland formuliert sie ein eindrucksvolles Minder-heitsvotum (BVerfGE 94, 157), dem sich die Richter Böckenförde und Sommer in derSache anschließen (BVerfGE 94, 163, 164). Gegen die Versagung eines effektivenSchutzes des Asylrechts im Flughafenverfahren erhebt sie gemeinsam mit diesen Rich-tern den Vorwurf, der Senat nehme das Risiko einer Grundrechtsverletzung als „Kosten“einer Beschleunigungsmaxime in Kauf (BVerfGE 94, 223, 233).

In diesen Sondervoten wird in der strikten Grundrechtsorientierung eine Facette einesVerfassungsdenkens erkennbar, das Frau Limbach in mehreren Monographien undzahlreichen Aufsätzen eindrucksvoll entfaltet hat. Die thematischen Schwerpunkte die-ser Arbeiten sind keine akademischen Kopfgeburten, sondern reflektieren aktuelle Pro-bleme der jeweiligen beruflichen Praxis – zunächst als Senatorin für Justiz in Berlin,dann als Verfassungsrichterin in Karlsruhe. Als Justizsenatorin hat Frau Limbach sichengagiert dafür eingesetzt, dass die Anordnungen der staatlichen Führung der DDR, aufdenen die Tötung von sogenannten „Republikflüchtlingen“ an der innerdeutschen Gren-ze durch Minen, Selbstschussanlagen und den Schusswaffengebrauch der Grenztruppeberuhte, als strafbares Unrecht geahndet werde, und sie hat die Überzeugung vertreten,dass die Verfolgung dieser Taten durch die Strafjustiz eine notwendige und für dieRechtskultur wichtige Aufgabe sei.2 Ein wesentliches Motiv für diese konsequente, inder politischen Diskussion heiß umstrittene Position war ein demokratisch-edukatori-scher Impetus und als Konsequenz daraus die Forderung nach einem öffentlichen Dis-kurs als Voraussetzung eines demokratischen Neuanfangs. Ich zitiere einige kennzeich-nende Passagen:

„Durch Strafverfahren, die die individuelle Schuld bloßlegen, wird der Täuschungbegegnet, dass es sich bei dem sogenannten Systemunrecht um ein überpersonales Ge-schehen handele. Erst durch solche Prozesse wird deutlich, dass staatlicher Gewalt-

1 J. Limbach, „Im Namen des Volkes“. Macht und Verantwortung der Richter, Stuttgart 1999,S. 7 f.

2 So die Darstellung im Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 12.10.1994 (BVerfGE91, 226), mit dem die Selbstablehnung der Richterin Limbach für die entsprechenden verfas-sungsgerichtlichen Verfahren für begründet erklärt worden ist.

Laudatio für Jutta Limbach aus Anlass der feierlichen Verleihung der Ehrendoktorwürde 13

Page 15: Das ganze Heft als PDF-Datei

missbrauch zu Zeiten totaler Herrschaft nicht einfach eine Naturkatastrophe ist, sondernein Mosaik aus individuellen Einzelakten verantwortlicher Individuen bildet.“3

„Denn unser Strafrecht schützt alle die Rechtsgüter, die für eine friedliebende demo-kratische Gesellschaft unverzichtbar sind: Das Leben, die Gesundheit, Freiheit und dasVermögen. Die Verhaltensgebote, mit denen das Strafrecht diese Rechtsgüter sichert,werden nur überleben, wenn ihre Verletzung öffentlich und nachdrücklich korrigiertwird … Denn Bürgerinnen und Bürger müssen die Erkenntnis von Schuld und Unrechterfahren. Sie müssen sich in öffentlicher Auseinandersetzung mit dem Missbrauchstaatlicher Gewalt darüber vergewissern, an welchen Maßstäben das Verhalten der ehe-maligen Despoten und ihrer Handlanger gemessen wird. Ein solches Wissen ist Garantfür den Aufbau und Fortbestand einer zivilen Gesellschaft. … Ein umstandsloser Ab-schied von einem diktatorischen Regime muss alle jene bestürzen, die einen aufrechtenGang versucht oder Entbehrungen auf sich genommen haben. Insoweit bedeutet Strafezugleich Sühne und ermöglicht Versöhnung.“4

Dabei erliegt die Autorin keineswegs einer wohlfeilen Wessie-Überheblichkeit, son-dern betont, „dass auch die Staatsform einer Demokratie wie der unsrigen nicht gegenpolitische Justiz gefeit“ sei; schlimmes Beispiel dafür sei die Kommunistenverfolgungin den frühen Jahren des Kalten Krieges. Gegen solche Exzesse stellt sie die Einsicht,dass die Untiefen politischer Justiz, insbesondere einer Gesinnungsjustiz, am bestendadurch vermieden werden, dass die Grundsätze des Rechtsstaats mit Sorgfalt beachtetwerden, und sie mahnt mit Benjamin Franklin, dass, wer die Freiheit aufgibt, um Si-cherheit zu gewinnen, beides verlieren wird.5

Sowohl diese Debatte um die politische Justiz als auch das Berufsschicksal der Rich-terinnen, Richter und Staatsanwälte der untergegangenen DDR forderte die Frage nachdem Leitbild der demokratischen Richterpersönlichkeit und deren Realitätsgehalt in derbundesrepublikanischen Justiz heraus, eine Frage, die Mitte der neunziger Jahre zu-sätzliche Aktualität gewann durch eine Reihe skandalös milder Urteile gegenüber aus-länderfeindlichen und antisemitischen Straftaten. In zwei grundlegenden Beiträgen äu-ßert sich die inzwischen als Präsidentin in den Olymp des Rechts aufgestiegene Rich-terin zur Frage des Richterethos in der Demokratie.6 Da sich Rechtsprechung wegen derUnbestimmtheit oder Lückenhaftigkeit des Normprogramms nicht auf eine Exegese vonGesetzestexten reduzieren lasse,7 stelle sich die Frage, woran sich der Richter orientiert.Die Autorin umschreibt die unvermeidliche Wertungssituation richterlicher Arbeit als

3 Strafrecht und politische Verbrechen (Vortrag, 26.6.1995), in: „Im Namen des Volkes“ (Fußn.1), S. 39 ff., 61; zum Thema vgl. auch: Recht und Unrecht in der Justiz der DDR, in: ZRP 1992,170 ff.; Vergangenheitsbewältigung durch die Justiz, in: Deutsche Rechtszeitschrift (DtZ)1993, 66 ff.; Gerechtigkeit im Rechtsstaat, in: Zeitschrift für Gesetzgebung (ZG) 1993, 289 ff.;Die deutsche Einheit als Herausforderung der Justiz, in: Neue Justiz (NJ) 2002, 453 ff.

4 Gerechtigkeit und Versöhnung (Vortrag, 9.1.1998), in: „Im Namen des Volkes“ (Fußn. 1),S. 69 ff., 84 f.

5 Politische Justiz im Kalten Krieg (Vortrag, 15.12.1993), „Im Namen des Volkes“ (Fußn. 1),S. 17 ff., 22 ff., 37 f.

6 Richterliche Unabhängigkeit (Vortrag, 1.12.1994), in: „Im Namen des Volkes“ (Fußn. 1),S. 89 ff.; „Im Namen des Volkes“ – Richterethos in der Demokratie (Vortrag, 25.9.1995), ebd.,S. 105 ff.

7 Zum Problemkreis vgl. schon: Die sozialwissenschaftliche Inhaltsanalyse richterlicher Ent-scheidungen, in: JA 1976, 119 ff.

14 Alfred Rinken

Page 16: Das ganze Heft als PDF-Datei

ein „Spannungsverhältnis …, auf dessen einer Seite die Mehrheitsregel und auf dessenanderer Seite die grundlegenden Werte der Gesellschaft Beachtung fordern. Wenngrundlegende Werte einander widerstreiten, haben sie den Ausgleich mit Rücksicht aufderen Gewicht und Akzeptanz vorzunehmen.“8 Auf die weiterhin offene Kernfrage, wieein solcher Ausgleich rational und kontrollierbar möglich sei, gibt sie keine abschlie-ßende Antwort, sondern zwei instrumentelle Hinweise. Erstens die Warnung vor demMythos vom unpolitischen Richter. Ich zitiere: „Das Ideal vom unpolitischen Exper-tentum der Juristen ist ein Mythos, der die Richter gegen nationalsozialistische Kampf-klauseln wehrlos gemacht hat. … Die um ihre rechtspolitische Keuschheit besorgtenJuristen verkennen zumeist, daß diese Abstinenz mit einem Verlust des Rechts an so-zialer Realität einhergeht.“9 Zweitens der Hinweis auf die demokratische Öffentlichkeit.Auch hier ein Zitat:

„Bei der Auseinandersetzung des Richters mit seinen Vorurteilen und Voreingenom-menheiten macht es Sinn, ihn auf die Urteilsformel ‚Im Namen des Volkes’ zu verwei-sen. Sie erinnert den Richter, dass er Staatsdiener eines demokratischen Gemeinwesensist. Daraus folgt die Kontrollierbarkeit seines Tuns durch die Öffentlichkeit. Richterin-nen und Richter müssen Recht sprechen ohne Rücksicht auf Beifall oder Kritik. Gleich-wohl müssen sie begreifen, dass ihre Tätigkeit in einer Demokratie jederzeit und vonjedermann kritisiert werden kann.“10

Das Jahr 1995 gab der Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts ausgiebig Gele-genheit, sich mit Funktion und Grenzen der Richterkritik auseinanderzusetzen. Es wardas Jahr, in dem der Erste Senat in der Öffentlichkeit heftig umstrittene Entscheidungengetroffen hatte, die unter den Stichworten Sitzblockadenbeschluss (BVerfGE 92,1),Kruzifixbeschluss (BVerfGE 93, 1) und „Soldaten sind Mörder“-Beschluss (BVerfGE93, 266) bekannt sind. Die Präsidentin stellte sich – wie es ihrer Funktion entsprach –vor das Gericht und wies klar und entschieden die Richterschelte zurück, soweit es sichum unqualifizierte Angriffe handelte.11 Obwohl Integration eine wesentliche Aufgabedes Bundesverfassungsgerichts sei, könne die Besorgnis eines öffentlichen Protestesoder einer öffentlichen Auseinandersetzung das Gericht nicht zur Zurückhaltung ver-pflichten, wenn es um den Schutz einer Minderheit gehe.12 Zugleich aber hob sie ebensoklar und entschieden die Legitimität und innere Notwendigkeit einer öffentlichen Ur-teilskritik hervor. Nicht obgleich, sondern weil das Bundesverfassungsgericht in Fragender Interpretation des Grundgesetzes das letzte Wort habe, sei es auf das kritische Mit-denken sowohl der Öffentlichkeit als auch der juristischen Zunft angewiesen.13

Sowohl die Beiträge zur Richterethik als auch die Beiträge zur öffentlichen Funktionund Stellung des Bundesverfassungsgerichts wären unangemessen gewürdigt, wenn sienur als Fachbeiträge zur Richterprofession und Gerichtsfunktion betrachtet würden. Siesind mehr als das! Es geht der Autorin darum, die Einzelprobleme als Teilprobleme in

8 Richterethos in der Demokratie (Fußn. 6), S. 121 f.9 Richterethos in der Demokratie (Fußn. 6), S. 122, 116.

10 Richterethos in der Demokratie (Fußn. 6), S. 123 f.11 Die Schmerzgrenze bei der Richterkritik, ZRP 1996, 414 ff.12 Die Integrationskraft des Bundesverfassungsgerichts, in: „Im Namen des Volkes“ (Fußn. 1),

S. 148 ff., 159.13 Die Akzeptanz verfassungsgerichtlicher Entscheidungen (Vortrag, 2.7.1996), in: „Im Namen

des Volkes“ (Fußn. 1), S. 165 ff., 200.

Laudatio für Jutta Limbach aus Anlass der feierlichen Verleihung der Ehrendoktorwürde 15

Page 17: Das ganze Heft als PDF-Datei

den demokratischen Gesamtzusammenhang einzuordnen.14 Das wird im Einzelnendeutlich, wenn die Verfassungsbeschwerde als Bürgerklage und das Bundesverfas-sungsgericht als Bürgergericht charakterisiert werden.15 Es wird deutlich, wenn ange-sichts der Letztentscheidungsmacht des Gerichts dem unmittelbar demokratisch legiti-mierten Gesetzgeber Widerspruchsgeist für den Fall empfohlen wird, dass neue Ein-sichten ein Abweichen von der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung erfordern;sonst drohe die Gefahr einer Versteinerung der gesellschaftlichen und politischen Ver-hältnisse.16 Es ist ein demokratietheoretisch fundierter Vorschlag, wenn in vorsichtigerDistanz zum Urteil vom 28. Mai 1993 zum Schwangerschaftsabbruch (BVerfGE 88,203) dem Gericht geraten wird, bei Gesetzen, die im Bundestag eine besonders gründ-liche Beratung erfahren hätten, in einem Fall widerstreitender Wertentscheidungen dieAufmerksamkeit weniger dem Ergebnis als vielmehr dem Verfahren der Gesetzgebungzuzukehren.17

Explizit wird das Thema Demokratie in den schönen Krupp-Vorlesungen zu Politikund Geschichte, die Sie, verehrte Frau Limbach, unter dem Titel „Die Demokratie undihre Bürger. Aufbruch zu einer neuen politischen Kultur“18 im Wintersemester2002/2003 gehalten haben. In diesen Vorlesungen entwerfen Sie Ihre Sicht der Demo-kratie als Bürgerprojekt, das sich nicht in den repräsentativen Verfahren erschöpft. Aufdem Hintergrund eines Wandels von der Untertanen- zu einer Staatsbürgerkultur beur-teilen Sie – nicht zuletzt mit Blick auf die Ereignisse der Jahre 1989/90 – die Chancendirekter Demokratie positiver als der Mainstream der bundesrepublikanischen Politikerund Verfassungsrechtler. Ich zitiere:

„Möglichkeiten der Bürgerbeteiligung an der politischen Willensbildung sind nichtnur ein Mittel gegen Politikmüdigkeit, politische Entfremdung und Apathie. Sie dürftendie parlamentarischen Entscheidungsprozesse beleben, indem sie den AbgeordnetenLebenserfahrungen vermitteln sowie ihnen wertvolle intellektuelle und moralische Im-pulse geben. Formen direkter Demokratie dürften die Politiker zudem empfänglicherfür gesellschaftliche Probleme und hellhörig für gesellschaftliche Bedürfnisse machen.

14 Zum Verfassungsverständnis allgemein vgl.: Die freiheitssichernde Rolle des Rechts, in: Istder Rechtsstaat auch ein Gerechtigkeitsstaat? Interdisziplinäre Referatsreihe an der Univer-sität Basel im Wintersemester 1989/99, Basel u.a. 2000, S. 15 ff.; Vorrang der Verfassungoder Souveränität des Parlaments? Stuttgart, Stiftung Bundespräsident-Heuss-Haus, 2001;The Concept of the Supremacy of the Constitution, in: The Modern Law Review 64 (2001),No. 1, S. 1 ff.; 50 Jahre deutsche Verfassung in Europa, in: Zeitschrift für europarechtlicheStudien (ZEuS) 2001, 365 ff.; Deutsche Staatlichkeit im Wandel, in: Universitas 58, Nr. 680(2003), S. 114 ff.

15 Die Integrationskraft des Bundesverfassungsgerichts (Fußn. 12), S. 151 ff.; vgl. auch: Auf-gabe und Bedeutung der Verfassungsbeschwerde, Regensburg 1997; Das Bundesverfas-sungsgericht, München 2001, S. 36 ff.

16 Das Bundesverfassungsgericht als politischer Machtfaktor (Vortrag, 24.2.1997), in: „Im Na-men des Volkes“ (Fußn. 1), S. 127 ff., 137; vgl. in diesem Zusammenhang auch: Wirkungender Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Richterliches Arbeitsrecht. Fest-schrift für Th. Dieterich, München 1999, S.337 ff.

17 Das Bundesverfassungsgericht als politischer Machtfaktor (Fußn. 16), S. 143.18 Die Demokratie und ihre Bürger. Aufbruch zu einer neuen politischen Kultur, München 2003

(Krupp-Vorlesungen zu Politik und Geschichte am Kulturwissenschaftlichen Institut im Wis-senschaftszentrum Nordrhein-Westfalen, Band 4); vgl. auch: Demokratie: Elitenkartell oderBürgerprojekt? in: Universitas 58, Nr. 690, (2003), S. 1231 ff.

16 Alfred Rinken

Page 18: Das ganze Heft als PDF-Datei

Sie dürften insgesamt eher die parlamentarische Demokratie beleben als diese schwä-chen.“19

Direkte Demokratie wird hier gesehen als Artikulationschance einer Bürgergesell-schaft, die das politische System nicht ersetzt, sondern dessen Humus ist.

„Nicht die politische Macht, sondern die Erkenntnis und Artikulation von sozialenProblemen wie das Mobilisieren der Öffentlichkeit ist ihr Metier“ – Bürgergesellschaftals „gesellschaftliche Infrastruktur der Demokratie, die nicht nur durch die Vielfalt ihrerErscheinungsformen, sondern auch durch die Pluralität des Denkens und Handelns ihrerAkteure gekennzeichnet ist.“20

Als plurale und damit multikulturelle Gesellschaft steht die politische Ordnung derBundesrepublik unter dem Toleranzgebot. Dieses wendet sich gegen den Oktroy einerdeutschen Leitkultur. „Das Grundgesetz kennt keinen ‚ethischen Standard’ in Gestaltvon Maximen, die sich in den heutigen Kulturvölkern als übereinstimmende sittlicheGrundanschauungen im Laufe der Geschichte herausgebildet haben. Der ‚ethische Stan-dard’ des Grundgesetzes ist vielmehr die Offenheit gegenüber der Pluralität weltan-schaulich-religiöser Auffassungen.“21 Das Toleranzgebot ist andererseits aber auch keinGebot absoluter Indifferenz, vielmehr beschreiben die Grund- und Menschenrechte dasEthos unseres staatlichen Gemeinwesens.22 Wie ist die Grenze zwischen Offenheit undBindung in konkreten Fällen zu ziehen, in denen unterschiedliche Lebenswelten mitihren unterschiedlichen Lebensentwürfen und Lebensformen aufeinanderstoßen? Wirerhalten eine höchst bedenkenswerte Antwort anhand eines höchst umstrittenen kon-kreten Beispiels. Es sei mit dem Toleranzgebot nicht zu vereinbaren, einer Lehrerin denZugang zum Lehrerberuf zu verweigern, die sich durch das Tragen eines islamischenKopftuchs als Muslimin zu erkennen gibt, da das religiös motivierte Kopftuch nichtohne weiteres als Symbol der Unterdrückung oder Ausdruck einer fundamentalistischenGrundeinstellung gedeutet werden könne. Das sei bei einer Burka, einem Schleier, dernur die Augen sehen lasse und alle anderen Partien des Kopfes und Körpers bedecke,anders zu beurteilen. Denn der total verschleierten Frau werde die Möglichkeit genom-men, von ihrem Gegenüber als ein Individuum wahrgenommen zu werden.23

Das Toleranzgebot wendet sich nicht nur an den Staat, gefordert wird vielmehr To-leranz als Bürgerengagement.

„Die Integration der Minderheit ist nicht allein ein Auftrag an den Staat. Sie setzt dieBereitschaft der Bürger und Bürgerinnen voraus, sich über das Denken, Wissen undHandeln der Minderheiten zu unterrichten. … Toleranz zielt auf das Aushalten undErtragen von Meinungen, Verhaltensweisen und Lebensentwürfen, die den meinen zu-wider laufen. Die Tugend ist gerade dort gefordert, wo einander widersprechende Glau-

19 Die Demokratie und ihre Bürger (Fußn. 18), S. 60 f.20 Die Demokratie und ihre Bürger (Fußn. 18), S.149 f.21 Die Demokratie und ihre Bürger (Fußn. 18), S.119, im Anschluss an BVerfGE 41, 29, 50.22 Die Demokratie und ihre Bürger (Fußn. 18), S.129; zum Toleranzgebot vgl. auch: Toleranz

in der multikulturellen Gesellschaft, in: Universitas 59, Nr. 696, (2004), S. 335 ff., 592 ff.;Multikultur und Minderheit. Das Toleranzgebot des Grundgesetzes, in: Blätter für deutscheund internationale Politik 2005, 1221 ff.

23 Die Demokratie und ihre Bürger (Fußn. 18), S.130 ff.

Laudatio für Jutta Limbach aus Anlass der feierlichen Verleihung der Ehrendoktorwürde 17

Page 19: Das ganze Heft als PDF-Datei

benssätze, Weltanschauungen und Gesellschaftsentwürfe konflikthaft aufeinander sto-ßen und die ‚natürliche’ Reaktion die Abwehr des Störenden ist.“24

Die Demokratie des Grundgesetzes ist – darauf haben Sie, Frau Limbach, immerwieder mit Nachdruck hingewiesen – eine soziale Demokratie. Kritisch haben Sie dieMehrheitsentscheidung der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundesrat undBundestag kommentiert, keine sozialen Staatsziele in das Grundgesetz aufzunehmenund energisch für die Staatsziele Arbeit, Wohnen und soziale Sicherheit plädiert. Hierbeihandele es sich um für die physische und psychische Existenz des Menschen unerläss-liche Voraussetzungen. Es sei an der Zeit, dass die Verfassung über die Gewährleistungvon Freiheit, Recht und Ordnung hinaus darüber Auskunft gebe, welche elementarenPolitikziele staatliche Tätigkeit zu verfolgen habe. Denn nur von einer Verfassung, diein ihrem Grundrechts- und Staatszielkatalog über das Ethos des Staates Auskunft gebe,könne eine frieden- und gemeinschaftsstiftende Wirkung erhofft werden.25 Positiv ha-ben Sie die sozialen Staatsziele im Entwurf einer Verfassung der Europäischen Uniongewürdigt. Ich zitiere: Die sozialen Staatsziele „könnten sich als eine politische An-triebskraft bei dem Versuch erweisen, den Kapitalismus zu zivilisieren. Nur eine Eu-ropäische Union, die ihre soziale Dimension mehr und mehr ausbaut, wird sozialenFrieden und gesellschaftlichen Zusammenhalt stiften.“26 In Ihrer unvergessenen Fest-rede am 21. Oktober 2007 anlässlich des 60. Geburtstags der Bremer Landesverfas-sung27 haben Sie – entgegen prominenten Äußerungen, welche die programmatischenTeile der frühen Landesverfassungen als hoffnungslos veraltet bezeichnen – die Mo-dernität des in der Landesverfassung entworfenen Konzepts der sozialen Gerechtigkeitbetont, einer Verfassung, die – wie es in der Präambel heißt – auf dem Willen der Bürgerberuht, „eine Ordnung des gesellschaftlichen Lebens zu schaffen, in der die sozialeGerechtigkeit, die Menschlichkeit und der Friede gepflegt werden, in der der wirt-schaftlich Schwache vor Ausbeutung geschützt und allen Arbeitswilligen ein men-schenwürdiges Dasein gesichert ist.“

Für eine solche Ordnung einer menschenwürdigen und solidarischen Gesellschafthaben Sie, verehrte Frau Limbach, sich mit Ihrem Lebenswerk eingesetzt, einem Le-benswerk, aus dem ich einen wichtigen Abschnitt würdigen durfte. Dieser Abschnitt istdadurch geprägt, dass Sie in den unterschiedlichen Rollen als Wissenschaftlerin, Poli-tikerin und Richterin Theorie und Praxis, Rechtswissenschaft und Sozialwissenschaftenintegriert und in der Vielzahl Ihrer Rollen Ihre Identität bewahrt haben: Ihre Identitätals aufrechte Demokratin und als liebenswerte Frau. Lassen Sie mich mit den Wortenschließen, die Jochen Vogel Ihnen zum Abschied aus dem Bundesverfassungsgerichtgesagt hat: „So wie sie antrat, hat sie auch ihr Amt geführt. Selbstlos, kenntnisreich,eloquent und mit einer Frische und Fröhlichkeit, um die man sie nur beneidenkann.“28 Dass Sie Ihren Lieben und uns allen in dieser Frische und Fröhlichkeit mit Rat

24 Die Demokratie und ihre Bürger (Fußn. 18), S. 138 f.25 Soziale Staatsziele, in: Für Recht und Staat. Festschrift für H. Helmrich, München 1994,

S. 279 ff., 286 f.26 Die Demokratie und ihre Bürger (Fußn. 18), S. 72 ff., 80.27 Soziale Gerechtigkeit und das Recht auf Bildung in der Bremer Verfassung, in: Jahrbuch der

Juristischen Gesellschaft Bremen 2008, S. 19 ff.28 Jochen Vogel, Doch eine Eloge, in: U. Förster / Chr. Stresemann (Hrsg.), Recht so, Jutta

Limbach! Baden-Baden 2002, S. 121 ff., 122.

18 Alfred Rinken

Page 20: Das ganze Heft als PDF-Datei

und Tat noch lange zur Seite stehen mögen, das ist der Wunsch, den ich Ihnen im Namendes Fachbereichs Rechtswissenschaft der Universität Bremen sowie in meinem eigenenNamen in großer Herzlichkeit sage.

Laudatio für Jutta Limbach aus Anlass der feierlichen Verleihung der Ehrendoktorwürde 19

Page 21: Das ganze Heft als PDF-Datei

Solidarität als Verfassungsprinzip

Ideengeschichtlicher Hintergrund und moderne Deutungsversuche*

Einführung

Das Wort „Solidarität“, oder auch als Adjektiv: „solidarisch“, kommt im deutschenGrundgesetz nicht vor. Anderes gilt für den „Sozialstaat“, der als unmittelbarer verfas-sungsrechtlicher Ausdruck des sozialphilosophischen Solidaritätsprinzips angesehenwird.1 Er kommt immerhin als „sozialer Bundesstaat“ in Art. 20 Abs. 1 GG und als„sozialer Rechtsstaat“ in Art. 28 Abs. 1 GG vor. Aber immer häufiger taucht im Zu-sammenhang mit Fragen der „sozialen Gerechtigkeit“ und der „sozialen Sicherheit“ derBegriff der Solidarität auf. Seit vielen Jahren, seit der „Wende“ 1990, kennt jeder Steuerzahlende Einwohner Westdeutschlands, also der „alten Bundesländer“, den „Soli“ ge-nannten „Solidaritätszuschlag“ zur Einkommensteuer zugunsten der „neuen Bundes-länder“. Er beträgt immerhin 5,5 v. Hundert der Lohn- bzw. Einkommensteuer. DieGesetzliche Krankenversicherung wird unter der Überschrift „Solidarität und Eigen-verantwortung“ als eine „Solidargemeinschaft“ mit der Aufgabe bezeichnet, die Ge-sundheit der Versicherten zu erhalten, wiederherzustellen oder ihren Gesundheitszu-stand zu bessern.2 Und vor kurzem hat sich der Ministerpräsident des Landes Thüringen,Dieter Althaus, in der festgefahrenen Diskussion um die Alterssicherung mit dem Vor-schlag eines Solidarischen Bürgergeldes zu Wort gemeldet. Dieses sollte ein „bedin-gungsloses Grundeinkommen von 800 Euro im Monat für alle Erwachsenen“ sein, dasmit wachsenden eigenen Einkünften entsprechend sinkt. Vom 67. Lebensjahr an solldas Grundeinkommen durch eine Zusatzrente von maximal 600 Euro aufgestockt wer-den. Der werbende Unterton des „Solidarischen“ ist nicht zu überhören; die Frage derFinanzierbarkeit bleibt dabei freilich offen.3

Zur Begriffsgeschichte

Nur wenige Hauptakzente können hier gesetzt werden, ohne Anspruch auf Vollstän-digkeit und Aufweis der Wirkungsketten. Dabei unterscheiden wir die Wortgeschichtevon der Inhalts- oder Bedeutungsgeschichte.

I.

II.

* Für Jutta Limbach mit herzlichen Glückwünschen in solidarischer Verehrung.1 Otto Depenheuer, in: Isensee/Kirchhof, HbStR IX, 1997, § 204, Rn. 75: „Der Staat nimmt von

seinen leistungsfähigen Bürgern und gibt nach Maßgabe des Bedarfs an die Bedürftigen. Der-gestalt moderiert er die allgemeine Solidarpflichtigkeit der Bürger untereinander: weil undinsoweit sie Staatsbürger sind, schulden sie einander solidarischen, sozialstaatlich vermitteltenBeistand.“ Dazu ist kritisch anzumerken: 1. Der Sozialstaat erfasst, aktiv und passiv, nicht nurdie Staatsbürger. 2. Die Solidarpflicht betrifft nicht nur „Staatsbürger“ untereinander.

2 Vgl. § 1 SGB V vom 20. 12. 1988, mit nachfolgenden Änderungen.3 Vgl. D. Althaus, Die Jahrhundertreform: Das Solidarische Bürgergeld, Frankfurter Allgemeine

Zeitung Nr. 98 v. 26. 4. 2008, S. 8.

Erhard Denninger

Page 22: Das ganze Heft als PDF-Datei

Die Sache der Solidarität – als Problem des sozialen Zusammenhalts – erscheintdeutlich schon bei Aristoteles, (gest. 322 v.Chr.). Was macht den Staat zum Staat? Wederörtliche Nachbarschaft noch Arbeitsteilung mit Tauschverkehr noch „Kriegsgenossen-schaft“ oder Verteidigungsbündnisse können genügen. Vielmehr: Staat ist „Gemein-schaft in einem guten Leben unter Häusern und Geschlechtern zum Zwecke eines voll-kommenen und sich selbst genügenden Daseins.“ Die kleineren Gemeinschaften(Schwägerschaften, Kultusvereine, gesellige Verbände) die den Staat bilden, „sind dasWerk der Freundschaft“. Diese und der Zweck des tugendhaften Lebens sind die Ele-mente der staatlichen Gemeinschaft. Also Solidarität = Freundschaft.4

Wir machen einen Sprung von 750 Jahren in der Geschichte zu Augustinus, (gest.430 n. Chr. Bischof von Hippo Regius). Alle Menschen soll man gleicher Weise lieben,sagt er. Aber da man nicht allen helfen kann, soll man sich vor allem um die kümmern,die einem nach den Umständen des Ortes, der Zeit und gleichsam durch das Schicksalnäher verbunden sind. Dies ist die philosophisch-theologische Begründung für denGrundsatz des Vorrangs der kleineren Sozialeinheit: das Prinzip der Subsidiarität, wel-ches seither die Katholische Soziallehre beherrscht.

Lateinisch: „solidus“, „soliditas“: = dicht, Dichte, fest, gediegen. Der Solidus war eine312 n. Chr. von Kaiser Konstantin I. eingeführte Goldmünze, die bis zum Ende desByzantinischen Reiches in Umlauf war. Im Römischen Recht, später im GemeinenRecht, im Code Civil von 1804 und bis in das BGB von 1900 entwickelte sich dieSolidarobligation: die gesamtschuldnerische Haftung. Das heißt: Jeder Schuldner istdie ganze Leistung zu bewirken verpflichtet, der Gläubiger darf sie nur einmal, aberbeliebig von jedem der Schuldner fordern. Unter europäischen Juristen war also seitJahrhunderten der Gedanke des solidarischen Einstehens des „Einen für Alle“, auch des„Alle für Einen“, im Zivilrecht lebendig.

Erst seit der Französischen Revolution und dann im Frankreich des 19. Jahrhundertswerden die Begriffe erst der Fraternité und dann der Solidarité zu politischen Pro-grammbegriffen, auch mit Rechtsgehalt, angereichert: In keiner der beiden Menschen-und Bürgerrechtserklärungen von 1789 bzw. von 1793 ist von fraternité oder von soli-darité die Rede. Aber wegweisend ist die Anerkennung der Hilfspflicht für die sozialSchwachen in der Erklärung von 1793, Art. 21: „Die öffentliche Unterstützung ist eineheilige Schuld. Die Gesellschaft schuldet ihren unglücklichen Mitbürgern den Unter-halt, indem sie ihnen entweder Arbeit verschafft oder denen, die nicht arbeiten können,die Mittel für ihr Dasein sichert.“ Dies war der entscheidende Übergang vom mittelal-terlichen Wohltätigkeitsgedanken, von der „charité“, „caritas“, zum modernen Sozial-staatsgedanken. Die gesellschaftlich verachtete, polizeilich vielfach reprimierte „men-dicité“, das Bettlertum, weicht dem „droit à la subsistance“, der sozialreformerischenBrüderlichkeit, einem Rechtsbegriff.

„Solidarité humaine“ wird 1840 zum Zentralbegriff bei Pierre Leroux (De l’Huma-nité, de son principe, et de son avenir). In Deutschland schreibt Stephan Born 1848 inder Zeitschrift Verbrüderung: „Freie Konkurrenz! Jeder für sich! Wird hier gegenüber-gestellt dem Prinzip der Solidarität, der Verbrüderung! Jeder für alle!“5 Solidarität wirdzum Leitbegriff der deutschen Arbeiterbewegung. Bei Wilhelm Liebknecht (1826 –

4 Aristoteles, Politik, III. Buch, Kap. 9, 1280 b.5 Vgl. Kurt Bayertz (Hrsg.), Solidarität, Begriff und Problem, Frankfurt am Main 1998, S. 206.

Solidarität als Verfassungsprinzip 21

Page 23: Das ganze Heft als PDF-Datei

1900), dem Mitbegründer (zusammen mit August Bebel) der Sozialdemokratischen Ar-beiterpartei (1869) lesen wir 1871: „Der Begriff der allgemeinen menschlichen Solida-rität ist der höchste Kultur- und Moralbegriff; ihn voll zu verwirklichen, das ist dieAufgabe des Sozialismus“.6

Hier ist nicht der Ort, die vielfältigen Entwicklungen, Einwirkungen und Verknüp-

fungen, die die Idee und der Begriff der Solidarität in den letzten 150 Jahren genommenhaben, auch nur annähernd nachzuzeichnen – eine reizvolle, aber riesige Aufgabe. Hierkann nur angedeutet werden, was mir als charakteristisch für den Begriff erscheint: Diein ihm selbst angelegte Spannung zwischen der Ausrichtung auf eine engere Gemein-schaft und deren auf Geschichte, gemeinsame Werte, Überzeugungen, Traditionen ge-gründeten Zusammenhalt – und der Ausrichtung auf die Elemente der modernen Ge-sellschaft,7 die durch fortschreitenden Individualismus, zugleich aber durch Ausrich-tung auf das menschheitlich Ganze, also durch eine universalistische Tendenz gekenn-zeichnet ist. Solidarität also als sozialwissenschaftlich-ethischer Klammerbegriff, der,modern gesprochen, die Kluft zwischen Liberalem Individualismus und Kommunita-ristischem Kollektivismus zu schließen vermöchte?

Der von vielen beobachtete, als Signum der Moderne begriffene Übergang vom Typusder ‚Gemeinschaft’ zum Typus der ‚Gesellschaft’ (Klassische Analyse: Ferdinand Tön-nies, Gemeinschaft und Gesellschaft, Grundbegriffe der reinen Soziologie, 1887, 8.Aufl. 1935!) drückt sich als Spannung auch in den Begriffen von Solidarität aus, die bisheute weiterwirken. Dafür zwei Beispiele:

Emile Durkheim (gest. 1917; De la division du travail social, 1893), einer der Gründerder wissenschaftlichen Soziologie in Frankreich, unterscheidet die solidarité sociale alsGrundbegriff des sozialen Zusammenhalts in zwei Arten: Einmal als „mechanische So-lidarität“, die sich, vormodern, aus Elementen der „Gemeinschaft“ speist, aus Ähnlich-keiten und Übereinstimmungen im Bewusstsein der einem Kollektiv zugehörigen In-dividuen, und zweitens als „organische Solidarität“, die sich aus der individualisieren-den, modernen gesellschaftlichen Arbeitsteilung herleitet. „Diese Solidarität ähnelt je-ner, die man bei den höheren Tieren beobachten kann. Jedes Organ hat dort seine eigenePhysiognomie und seine Autonomie, und trotzdem ist die Einheit des Organismus umsogrößer, je stärker die Individualisierung der Teile ausgeprägt ist. Aufgrund dieser Ana-logie schlagen wir vor, die Solidarität, die sich der Arbeitsteilung verdankt, organischeSolidarität zu nennen“ (1902).8

Auch Max Scheler (gest. 1928; Der Formalismus in der Ethik und die materialeWertethik, 1916, Wesen und Formen der Sympathie, 1913), nimmt eine Zweiteilungder Solidarität vor. Scheler unterscheidet sozial- und moralphilosophisch vier Wesens-arten sozialer Einheit(sbildung): Masse, Gesellschaft, Lebensgemeinschaft und alshöchste Form: die Gesamtperson. Auf der Stufe der reinen Gesellschaft verschwindetdas Solidaritätsprinzip, anders als in der reinen Lebensgemeinschaft, in der es aus-schließlich herrscht. Auf der Stufe der Gesamtperson nimmt es einen neuen Sinn an: Es

6 Nach Bayertz, a.a.O., S. 208.7 Die Termini sind hier im Sinne von Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, 8.

Aufl. 1935, Nachdruck Darmstadt 1963 gebraucht.8 Zit. nach Bayertz, a.a.O., S. 27.

22 Erhard Denninger

Page 24: Das ganze Heft als PDF-Datei

„wird von einem Prinzip vertretbarer Solidarität zum Prinzip der unvertretbaren Soli-darität.“9 Das heißt: „Die Einzelperson ist für alle anderen Einzelpersonen nicht nur„in“ der Gesamtperson und als deren Glied mitverantwortlich als Vertreter eines Amtes,einer Würde oder sonst eines Stellenwertes in der Sozialstruktur, sondern sie ist es…anerster Stelle als einzigartiges Personindividuum und Träger eines individuellen Gewis-sens…“ Somit ergibt sich ein hoher moralphilosophischer Grundsatz: „Das Solidari-tätsprinzip in diesem Sinne ist uns also ein ewiger Bestandteil und gleichsam einGrundartikel eines Kosmos endicher sittlicher Personen“ (Ebenda, Hervorh. im Origi-nal).

Würde man nun die beiden Hauptstränge des Solidaritätsbegriffs, den eher historischund empirisch-sozialwissenschaftlich akzentuierten lebensgemeinschaftlichen Strangeinerseits und den (moral)philosophisch getönten, individualistisch-universalistischenStrang andererseits, im einzelnen nachzeichnen, stieße man auf kaum erforschte Ver-bindungen. Hier können nur ganz wenige Positionen in Erinnerung gerufen werden.

Zunächst zur „lebensgemeinschaftlichen“, moderner gesagt: kommunitaristischenLinie: Der französische Religionswissenschaftler Ernest Renan (gest. 1892), ist bisheute durch seine Kennzeichnung des Begriffs der Nation als „Plebiszit, das sich jedenTag wiederholt“ berühmt. Weniger bekannt ist, dass er in demselben Vortrag von 1882die Nation als „une grande solidarité“ charakterisiert, „getragen von dem Gefühl derOpfer, die man gebracht hat, und der Opfer, die man noch zu bringen gewillt ist. DieseSolidargemeinschaft gründet auf gemeinsamer Geschichte und muss für die Zukunft aufeiner Übereinkunft beruhen, „dem deutlich ausgesprochenen Wunsch, das gemeinsameLeben fortzusetzen“.10

Gut hundert Jahre später, 1989, versucht der kanadische Philosoph Charles Taylor,die Gräben zwischen „Liberalen“ („Atomisten“, wie er in Anschluss an Mimi Bick sagt)und „Kommunitaristen“ („Holisten“) durch eine Theorie des liberalen Republikanismuszu überbrücken. Sein Ansatz ist durchaus kommunitaristisch. Man wird an E. Renanerinnert, wenn er betont, dass der „Patriotismus“11 oder auch die „republikanische So-lidarität“12 „auf einer Identifizierung mit anderen in einem bestimmten gemeinsamenUnternehmen beruht.“ „Der Patriotismus liegt irgendwo zwischen Freundschaft [Aris-toteles wird zitiert!] oder Familiengefühl einerseits und altruistischer Hingabe anderer-seits.“ Die solidarisch verbundenen Republikaner verfolgen „wirklich das gemeinsameGute, die allgemeine Freiheit“. „Aber es ist etwas anderes als die apolitische Verpflich-tung gegenüber universalen Prinzipien, die die Stoiker vertraten oder die für die moderneEthik des Gerechten zentral ist“13 (Dies ist gegen Habermas gerichtet?). Taylor sagt,natürlich kenne er die meisten seiner Landsleute nicht und möchte sie vielleicht auchgar nicht zu Freunden haben. Aber die Besonderheit der Bindung „tritt hinzu, weil meinBand zu diesen Leuten durch die Beteiligung an einem gemeinsamen politischen Projektverläuft.“ Bindend wirken die gemeinsame Geschichte, gemeinsam erlebte einschnei-

9 Max Scheler, Wertethik, S. 537.10 Nach Bayertz, a.a.O., S. 23.11 Charles Taylor, Aneinander vorbei: Die Debatte zwischen Liberalismus und Kommunitaris-

mus, in: Axel Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1994,S. 103 ff., 111.

12 Taylor, a.a.O., S. 117.13 Ders., a.a.O., S. 111, auch zum Folgenden.

Solidarität als Verfassungsprinzip 23

Page 25: Das ganze Heft als PDF-Datei

dende Veränderungen. Also: Geschichte, gemeinsames Schicksal, gemeinsames poli-tisches Projekt oder Unternehmen, das begründet republikanische Solidarität.

Wie schwierig und fragwürdig die Grenzziehung zwischen „Liberalen“ und „Kom-munitariern“ bzw. zwischen universalistisch orientiertem Individualismus und lebens-gemeinschaftlichem Kollektivismus werden kann, zeigt das Beispiel von Jürgen Ha-bermas. Während der sogleich vorzustellende Richard Rorty noch 1989 in seinem Buch„Kontingenz, Ironie und Solidarität“ sich ausdrücklich kritisch von dem Haber-mas’schen Universalismus distanziert – Rorty möchte die traditionelle Geschichte „er-setzen durch eine Geschichte von der wachsenden Bereitwilligkeit zum Leben mit Plu-ralitäten und zum Beenden der Suche nach universeller Geltung“14 – verteidigt Haber-mas den von ihm zentral verwendeten Begriff des Verfassungspatriotismus gegen weitverbreitete Missverständnisse: Dieser bedeute nämlich, „dass sich Bürger die Prinzipiender Verfassung nicht allein in ihrem abstrakten Gehalt, sondern konkret aus dem ge-schichtlichen Kontext ihrer jeweils eigenen nationalen Geschichte zu Eigen ma-chen.“15 Und ferner: „Unter Staatsbürgern entsteht eine wie immer auch abstrakte undrechtlich vermittelte Solidarität erst dann, wenn die Gerechtigkeitsprinzipien in dasdichtere Geflecht kultureller Wertorientierungen Eingang finden.“ Die Nähe zum Tay-lor’schen Republikanismus ist unverkennbar.

Jenseits der Liberalismus-Kommunitarismus-Debatte und jenseits auch des damit zu-sammenhängenden Streites über den Vorrang des Guten oder des Gerechten möchte ichnoch zwei philosophische Konzeptionen des Solidaritätsgedankens vorstellen, welcheden Begriff weder auf geschichtlich-kulturell gemeinsame Werterfahrungen noch aufals universell allgemeingültig behauptete Wahrheiten gründen wollen, die aber doch fürdie Menschen schlechthin zutreffen sollen. Die Rede ist von Albert Camus (1913 – 1960;L’homme révolté, 1951) und von Richard Rorty (gest. 2007).

Die Grunderfahrung des Menschen bei Camus, der gerade den Zweiten Weltkrieg mitdessen unvorstellbaren Gräueln überlebt hat, ist das Absurde. „In der Erfahrung desAbsurden ist das Leiden individuell. Vom Augenblick der Bewegung der Revolte anwird es sich bewusst, ein gemeinsames zu sein, wird es zum Abenteuer Aller.“ „Inunserer alltäglichen Erfahrung spielt die Revolte die gleiche Rolle wie das „cogito“ inder Ordnung des Denkens: sie ist die erste Selbstgewissheit (évidence). Aber diese Evi-denz entreißt das Individuum seiner Einsamkeit. Sie ist ein Gemeinplatz, die den erstenWert auf alle Menschen gründet. Je me révolte, donc nous sommes.“16 Die Solidaritätder Menschen gründet sich auf die Bewegung, den Impuls der Revolte, und diese wie-derum findet ihre Rechtfertigung allein in dieser „complicité“.17 Die Revolte in diesemSinne ist nicht irgendein politischer Aufstand, sondern viel elementarer; Camus nenntsie eine „metaphysische Revolte“: Sie ist die Bewegung, mit der der Mensch gegen seineconditio humana und gegen die ganze Schöpfung aufsteht.18 Doch ist dieser Grundaktnicht Ausdruck einer nihilistischen, chaotischen Tendenz, sondern im Gegenteil derHoffnung auf Ordnung und Gerechtigkeit, freilich im Bewusstsein der Leidensfähigkeitund Sterblichkeit. Der „metaphysische Rebell“ ist auch nicht mit Sicherheit Atheist,

14 Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt a.M. 1989, S. 120 f.15 Jürgen Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion, Frankfurt a.M. 2005, S. 111.16 Albert Camus, L’ homme révolté, Paris 1951, S. 36.17 Ders., a.a.O., S. 35.18 Ders., a.a.O., S. 39.

24 Erhard Denninger

Page 26: Das ganze Heft als PDF-Datei

„aber er ist notwendigerweise Gotteslästerer. Er lästert einfach Gott im Namen der Ord-nung, indem er Gott als den Vater des Todes und als höchsten Skandal (suprême scan-dale) denunziert.“19 Die Revolte ist nicht der Kampf eines Einzelnen um seine indivi-duellen Rechte, sondern ein Prozess der ganzen Menschheit, die sich ihrer selbst undihrer Rechte im Laufe ihrer Geschichte immer stärker bewusst wird („il semble bien,par la solidarité déjà signalée, qu’il s’agisse d´une conscience de plus en plus élargieque l’espèce humaine prend d’ elle-même au long de son aventure”).20

Auf den ersten Blick scheint die Frage drängend, was es denn rechtfertige, den An-timetaphysiker und „Ironiker“ Richard Rorty in unmittelbarer Nachbarschaft des Exis-tenzphilosophen Camus zu nennen. Ich behaupte, dass der Solidaritäts-Begriff bei bei-den Denkern fundamentale Gemeinsamkeiten aufweist. Rorty, der auf „Kontingenz“und „Ironie“ in seinem Sinne besteht, lehnt Begriffe wie Essenz, Wesen, Kern des Selbstab und kann deshalb auch den Begriff des Unmenschlichen nicht als Gegenbegriff zueiner eigentlichen Natur des Menschen bestimmen. „Aber in Auschwitz-Zeiten, wenndie Geschichte in Aufruhr ist und traditionelle Institutionen und Verhaltensmuster zu-sammenbrechen, brauchen wir etwas, das jenseits von aller Geschichte und allen Insti-tutionen steht. [Hier besteht schon im Ansatz eine Verwandtschaft mit Camus.] Waskann das anderes sein als Solidarität unter den Menschen, als das wechselseitige Er-kennen der Menschlichkeit, die uns allen gemeinsam ist?“21 Rorty geht von der zutref-fenden, schon von Max Scheler u.a. gemachten Beobachtung aus, dass nicht die „all-gemeine Menschenliebe“ am stärksten ist, sondern das Gefühl der Solidarität, wenn eseinen (eine) betrifft, der (die) eine(r) „von uns“ also von der engeren Wir-Gruppe ist.Aber zugleich hält er „etwas wie moralischen Fortschritt“ für möglich „und dass dieserFortschritt in Richtung auf mehr Solidarität geht.“ Der Fortschritt geht nicht auf bessereErkenntnis eines „Kern-Selbst“, einer Wesens-Natur des Menschen, die Rorty als all-gemeine leugnet. Sondern die fortschreitende Solidarität [auch hier ist die Nähe zu Ca-mus deutlich] „ist zu denken als die Fähigkeit, immer mehr zu sehen, dass traditionelleUnterschiede (zwischen Stämmen, Religionen, Rassen, Gebräuchen und dergleichenUnterschiede) vernachlässigbar sind im Vergleich zu den Ähnlichkeiten im Hinblickauf Schmerz und Demütigung – es ist die Fähigkeit, auch Menschen, die himmelweitverschieden von uns sind, doch zu „uns“ zu zählen.“22 Die allmähliche, weltweite Über-windung des „primitiven“, d.h. ursprünglich gegebenen Ethnozentrismus in Richtungauf Verhütung und Unterlassung von Schmerzzufügung und Demütigung ist demnachder Kern des Solidaritätsgedankens. Als Jurist wird man nach den möglichen Konse-quenzen eines solchen Ansatzes für die Begründung von Menschenrechten fragen.

Solidaritätsbegriff und Sozialstaatsgrundsatz

Kehren wir zurück zu unserer Ausgangsfrage nach der verfassungsrechtlichen Veran-kerung, Bedeutung und Funktion von Solidarität! Zu fragen ist vor allem nach dem

III.

19 Ders., a.a.O., S. 40.20 Ders., a.a.O., S. 34.21 Rorty, a.a.O., S. 305 f.22 Ders., a.a.O., S. 310.

Solidarität als Verfassungsprinzip 25

Page 27: Das ganze Heft als PDF-Datei

Verhältnis dieses Prinzips zum Grundsatz des Sozialstaats, dem wir im Text des Grund-gesetzes begegnet sind.

Wir beginnen mit einem Blick auf die Rechtslage in Deutschland (1.), um sodann miteinem Hinweis auf die gemeinschaftsrechtlich-europäischen und internationalen Textezu schließen (2.).

(1.) Die Entfaltung des Sozialstaatsprinzips aus dem kärglichen Textbefund desGrundgesetzes (s.o.) war zunächst Aufgabe und Verdienst des Bundesverfassungsge-richts. In jahrzehntelanger, die unterschiedlichsten Lebensbereiche erfassender Recht-sprechung hat das Gericht zwei Grundelemente des Sozialstaatsprinzips entwickelt: 1.die Verpflichtung des Staates, „für einen Ausgleich der sozialen Gegensätze und damitfür eine gerechte Sozialordnung zu sorgen“ (BVerfGE 22, 180, 204, 1967), und 2. diestaatliche Für- und Vorsorge für „sozial Schwache“, bis hin zu Strafgefangenen undEntlassenen (BVerfGE 35, 202, 236, Lebach, 1973).23 Die beiden zentralen Elemente,die eine Fülle von Einzelmaßnahmen sozialstaatlicher Politik kennzeichnen und akti-vieren sollen, werden gemeinhin kurz als „Sozialer Ausgleich“ und „Soziale Sicher-heit“ zusammen gefasst. Die Worte „solidarisch“ oder „Solidarität“ kommen in dieserRechtsprechung nicht vor.

Begriff und Gedanke des Solidarischen erscheinen in der Arena der verfassungspo-litischen Diskussion erst nach dem „Fall der Mauer“ 1989 und der Wiederherstellungder deutschen Einheit 1990. Zum einen bedurfte es der Verfassungsgebung in den fünf„neuen“, ostdeutschen Bundesländern [Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern,Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen], zum anderen gab es Bestrebungen, das Grund-gesetz der „alten“, westdeutschen Bundesrepublik nicht einfach auf die „beitretenden“neuen Bundesländer auszudehnen – wie es dann doch geschah, s. Art. 146 GG – sonderneine neue Verfassung für das vereinigte Deutschland zu entwerfen. Erinnert werden darfan den Verfassungsentwurf des „Kuratoriums für einen demokratisch verfaßten Bunddeutscher Länder“, der am 15. und 16. Juni 1991 in der Frankfurter Paulskirche vorge-stellt und öffentlich diskutiert wurde. In der Präambel des Verfassungsentwurfs wirddie Entschlossenheit betont, „ein demokratisches und solidarisches Gemeinwesen zuerneuern, in dem das Wohl und die Stärke Aller aus dem Schutz der Schwachen er-wächst“ (Vom Grundgesetz zur deutschen Verfassung. Denkschrift und Verfassungs-entwurf, 1991).

In den Verfassungsdiskussionen der frühen neunziger Jahre in den neuen Bundeslän-dern waren Wort und Begriff der Solidarität lebendig. Das hat vor allem in der Verfas-sung des Landes Brandenburg vom 20. August 1992 seinen Niederschlag gefunden. Inihrer Präambel berufen sich die Bürgerinnen und Bürger des Landes auf den „Geist derTraditionen von Recht, Toleranz und Solidarität in der Mark Brandenburg“. Von zen-traler Bedeutung ist sodann der Menschenwürde-Satz in Art. 7. Er beginnt wortgleichwie der entsprechende Art. 1 Abs. 1 GG: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Siezu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“. Aber die Bran-denburger fügen hinzu: „… und Grundlage jeder solidarischen Gemeinschaft.“ UndAbsatz 2: „Jeder schuldet jedem die Anerkennung seiner Würde.“ Dies eröffnet in ju-ristisch freilich ungeklärter Weise den Weg zu einer uneingeschränkten „Horizontal-

23 Zur Rechtsprechung zusammenfassend: Erhard Denninger, Das soziale Staatsziel, in: Fest-schrift für Hans-Peter Schneider, Baden-Baden 2008, S. 57 ff., 63 f.

26 Erhard Denninger

Page 28: Das ganze Heft als PDF-Datei

wirkung“ der Grundrechte zwischen den Rechtsgenossen, nämlich immer, wenn Rechts-verletzungen als Verletzungen der Menschenwürde-Anerkennung interpretiert werden.Zu den Erziehungs- und Bildungszielen gehört es, „den Willen zu sozialer Gerechtigkeit,die Friedfertigkeit und Solidarität im Zusammenleben der Kulturen und Völker und dieVerantwortung für Natur und Umwelt zu fördern“ (Art. 28 VerfBrdbg). Aber der weitereVersuch, ein solidarisches Hilfs- und Schutzversprechen in der engeren Lebensgemein-schaft juristisch fassbar, mit klar absehbaren Konsequenzen zu formulieren, ist miss-lungen: Der Satz nämlich „Wer in Ehe, Familie oder einer anderen Lebensgemeinschaftpsychische oder physische Gewalt erleidet, hat Anspruch auf Hilfe und Schutz des Ge-meinwesens“ (Art. 26 Abs. 2 VerfBrdbg) klingt zwar trostreich, lässt aber doch allekonkreten Rechtsfragen nach Anspruchsvoraussetzungen, Anspruchsverpflichteten undAnspruchsinhalt unbeantwortet. Die brandenburgische Verfassung, ebenso wie die an-deren Verfassungen der „neuen“ Bundesländer, kennt, anders als das Grundgesetz, be-sonders in den Bereichen der Sozialen Sicherheit und des „Schutzes der natürlichenLebensgrundlagen“ zahlreiche Bestimmungen, die, auf den Einzelnen bezogen, eherden Charakter eines moralischen Appells tragen als den einer streng rechtlichen Ver-pflichtung24 und die, bezogen auf Staat und Kommunen, als Programmsätze oderStaatsziele zu qualifizieren sind, also als Sätze, die sich in erster Linie als Auftrag anden Gesetzgeber richten.

Die hier berührte ganz grundsätzliche Frage, ob eine moderne Verfassung – über dieAufteilung der Staatsgewalt, die Ordnung der staatlichen Funktionen und Kompetenzenund über den Katalog individueller Grundrechte hinaus – durch solche Appellsätze,Programmsätze und Staatszielbestimmungen angereichert werden soll oder besser nicht,diese Frage spielte in den Diskussionen der 1992 und 1993 tätigen, aus Mitgliedern desBundestages und des Bundesrates gebildeten „Gemeinsamen Verfassungskommission“zur Reform des Grundgesetzes eine wichtige Rolle. Die Frucht der intensiven Arbeitwar das am 27. 10. 1994 beschlossene 42. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes.

In der Gemeinsamen Verfassungskommission wurde ein von Abgeordneten der CDU/CSU wie von Abgeordneten der SPD ausgearbeiteter Antrag zur Abstimmung gestellt,der die Ergänzung des Grundgesetzes um einen Art. 2 a vorsah: „Jeder ist zu Mit-menschlichkeit und Gemeinsinn aufgerufen“. Dabei wurde „Mitmenschlichkeit“ als ei-ne „individuelle Kategorie“ – besser wäre: intraindividuelle! – verstanden, die um „Ge-meinsinn“ als „Ausdruck der Verantwortung des einzelnen für Staat und Gesellschafteinschließlich der Verantwortung für Umwelt und Lebensqualität zukünftiger Genera-tionen“ ergänzt werden sollte. Die Abstimmung ergab eine hübsche Mehrheit von 36Ja-Stimmen gegen 21 Nein-Stimmen (bei 2 Enthaltungen), verfehlte damit aber dochdie erforderliche 2/3-Mehrheit. Das eigentliche, oft nur angedeutete, manchmal auchausgesprochene Hauptargument gegen eine solche Ergänzung war der Gedanke, das

24 Exemplarisch ist Art. 35 Abs. 2 der Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt vom 16. Juli1992. Art. 35 Abs. 1 handelt vom Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen, vom sparsamenUmgang mit Rohstoffen und von der Vermeidung von Abfall. Sodann „normiert“ Abs. 2 dazu:„Jeder einzelne ist verpflichtet, hierzu nach seinen Kräften beizutragen.“ Abs. 4 verweist dannauf Gesetze, die „das Nähere“ regeln.

Solidarität als Verfassungsprinzip 27

Page 29: Das ganze Heft als PDF-Datei

Grundgesetz sei eine strikte „Rechtsverfassung“ und kein „Tugendkatalog“; nur ethi-sche Appelle hätten in ihr keinen Platz.25

Dass man dieses Problem einer Verknüpfung von sozialethischer Moral („Tugend“)und Rechten/Pflichten in einer Verfassung auch ganz anders sehen kann,26 haben dieReformer der neuen Schweizerischen Bundesverfassung vom 18. April 1999 bewiesen.Sie haben nicht nur das Bestreben des „Schweizervolks“, den Bund zu erneuern, „umFreiheit und Demokratie, Unabhängigkeit und Frieden in Solidarität und Offenheit ge-genüber der Welt zu stärken“ in der Präambel proklamiert. Sondern sie haben auchgleich zu Beginn in den „Allgemeinen Bestimmungen“ in Artikel 6 die individuelle undgesellschaftliche Verantwortung des Einzelnen normiert: „Jede Person nimmt Verant-wortung für sich selber wahr und trägt nach ihren Kräften zur Bewältigung der Aufgabenin Staat und Gesellschaft bei.“ Diese Gemeinsinn-Formel verleugnet ihren Charaktereines moralischen Appells nicht und verpflichtet doch rechtlich zu solidarischem Ver-halten, was immer dies in der konkreten Situation heißen mag. Sie erinnert an die früh(20. 7. 1954) vom Bundesverfassungsgericht geprägte Menschenbild-Formel: „DasMenschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isolierten souveränen Individuums;das Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum – Gemeinschaft im Sinne derGemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden,ohne dabei deren Eigenwert anzutasten.“27 Anders als in der Formulierung der Eidge-nossen, vermisst man jedoch in der Definition des Gerichts das Moment der aktiven,unterstützenden Hinwendung zum Anderen, welches zum Begriff der Solidarität gehört.Diese Gemeinschaftsformel eignet sich zur Rechtfertigung von hoheitlichen Freiheits-beschränkungen und wird in dieser Funktion von der Rechtsprechung umfassend ein-gesetzt; für die Entfaltung der Grundrechte in der horizontalen Dimension zwischen denBürgern bietet sie nur einen schwachen Impuls.

Der 1993 gescheiterte Versuch, „Mitmenschlichkeit“ und „Gemeinsinn“ ausdrücklichim Grundgesetz zu verankern, konnte auch Staatsrechtslehrer und Verfassungstheore-tiker nicht darin entmutigen, das Element „Solidarität“ auch in der juridisch-nüchternenGestalt des Grundgesetzes nachzuweisen. Erhellende Analysen, etwa wie die von Gün-ter Frankenberg über Autorität und Solidarität in der Zivilgesellschaft28 oder die vonUwe Volkmann über Solidarität als Programm und Prinzip der Verfassung (1998),29

begegnen nicht zuletzt der kaum lösbaren Schwierigkeit, das rechtliche Solidaritäts-prinzip gegenüber dem gleichfalls rechtlichen Sozialstaatsprinzip abzugrenzen. WennVolkmann, der ohnehin die Gesamtheit der Grundrechte als eine „Freiheits- und Soli-darordnung“ interpretiert (S. 300), dem „Verfassungsprinzip Solidarität“ „im Sinne ei-nes materialen Gemeinwohlverständnisses“ die folgenden Aufgaben zuordnet:

25 Vgl. Bundestags-Drucksache 12/6000 vom 5. Nov. 1993, Bericht der Gemeinsamen Verfas-sungskommission, S. 82 f.

26 Vgl. auch schon Kant, Zum ewigen Frieden, 3. Definitivartikel, 1. Zusatz: Von der gutenStaatsverfassung ist die gute moralische Bildung eines Volks zu erwarten, nicht umgekehrt.Darüber lässt sich freilich streiten.

27 BVerfGE 4, 7, 15 f.28 Günter Frankenberg, Die Verfassung der Republik, Baden-Baden 1996, S. 150 ff.29 Uwe Volkmann, Solidarität – Programm und Prinzip der Verfassung, Tübingen 1998.

28 Erhard Denninger

Page 30: Das ganze Heft als PDF-Datei

● korrigierende Interventionen in das freie Spiel der Kräfte,● gemeinsame Vorsorge gegen im einzelnen noch unbekannte Gefährdungslagen sowie● Anstrengungen zu einer gerechten Verteilung öffentlicher Güter (S. 405),dann bezeichnet er damit genau die Aufgaben, die im Zeichen Sozialer Sicherheit undSozialen Ausgleichs den Sozialstaatsgedanken charakterisieren.

Zu Recht betont Frankenberg (S. 155) demgegenüber als ein wichtiges Element derSolidarität „eine nicht kognitive Bindung, die sich als Empathie (oder Gefühl der Für-sorglichkeit) umschreiben lässt und zumeist unausgesprochen bleibt.“ Wir dürfen hieran das zu Richard Rorty’s Solidaritätsbegriff Gesagte erinnern.

(2.) Zum Schluss ein Blick auf Internationales und Europäisches Recht:Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, deren 60jähriges Jubiläum am

10. Dezember 2008 gefeiert wurde, kennt das Wort Solidarität nicht. Aber: Die Men-schen „sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brü-derlichkeit begegnen.“ (Art. 1) Auch in der EMRK vom 4. 11. 1950 und in der Euro-päischen Sozialcharta vom 18.10. 1961 sucht man den Begriff vergeblich.

Erst in der Schlussakte von Helsinki der KSZE vom 1. August 1975 finden wir die„Solidarität zwischen den Völkern“, wie sie ähnlich schon als „Solidarität der amerika-nischen Staaten“ in der Satzung der Organisation Amerikanischer Staaten (vom 30. 4.1948) oder als „die Beziehungen zwischen den Staaten“ bestimmendes Prinzip in derso genannten Banjul Charta der Staaten der Organisation für Afrikanische Einheit (vom26. 6. 1981) erscheint.

Diese Bezugnahme der Solidarität auf die „Völker“ bzw. die „Staaten“ und ihre Be-ziehungen, nicht auf die einzelnen Bürger, setzt sich im Europäischen Gemeinschafts-recht fort: EUV, konsolidierte Fassung von Amsterdam/Nizza 1997/2001, Art. 1Abs. 3: Aufgabe der Union ist es, die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten undihren Völkern „kohärent und solidarisch zu gestalten“.

In Art. 11 EUV ist vom „Geist der Loyalität und der gegenseitigen Solidarität“ derMitgliedstaaten die Rede. Entsprechendes bietet die konsolidierte Fassung des EGV,Art. 2: Aufgabe der Gemeinschaft ist es, u.a. „die Solidarität zwischen den Mitglied-staaten zu fördern.“

Einen neuen Ton schlägt die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (7. 12.2000) an. Die Präambel benennt als Grundlagen der Union die „unteilbaren und uni-versellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solida-rität.“ Diese vier „Werte“ dienen der dann folgenden Charta als Kapitelüberschriften.Kapitel IV: „Solidarität“ handelt aber nicht von der „politischen Solidarität“ zwischenStaaten, sondern von Arbeitnehmerrechten, Kinder- und Jugendschutz, Sozialer Sicher-heit und Unterstützung, Gesundheitsschutz, Umweltschutz, Verbraucherschutz u.a., al-so von sozialen Bürgerrechten im weiten Sinne.

Im Mai 2007 hat Bundesaußenminister Steinmeier in einer Grundsatzrede30 ange-sichts der zu beobachtenden Europamüdigkeit die Frage nach der „Idee von Europa“gestellt. Seine Antwort: der „gemeinsame europäische Wert der Solidarität“. Und er ruftein Wort von Robert Schuman in Erinnerung, das dieser am Beginn der Entwicklungzur Europäischen Gemeinschaft schon im Mai 1950 geäußert hat. Der nach ihm benannte

30 Rede von Bundesaußenminister Steinmeier aus Anlass des 10. WDR-Europa Forums, Berlin,hrsg. v. Auswärtigen Amt.

Solidarität als Verfassungsprinzip 29

Page 31: Das ganze Heft als PDF-Datei

„Schuman-Plan“ sah vor, die gesamte französische und deutsche Kohle- und Stahlpro-duktion einer gemeinsamen „Haute Autoritè“ im Rahmen einer Organisation zu unter-stellen, die der Teilnahme der anderen Länder Europas offen stehen sollte. „Die Soli-darität der Produktion, die so entstehen wird, wird offenbaren, dass jeder Krieg zwi-schen Frankreich und Deutschland nicht nur undenkbar, sondern materiell unmöglichsein wird.“ Im Zusammenhang damit sagt Schuman, Europa lasse sich nicht mit einemSchlage herstellen. „Es wird durch konkrete Tatsachen entstehen, die zunächst eineSolidarität der Tat schaffen.“ Auf diese „Solidarität der Tat“ wird es wie damals auchheute, 2009, und in Zukunft ankommen.

Abstract

Der Begriff der „Solidarität“ hat Konjunktur, sozialpolitisch wie verfassungsrechtlich,und jeder meint damit etwas Verschiedenes. Während er in der Europäischen Konven-tion zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950(EMRK) nicht vorkommt, während auch die Europäische Sozialcharta vom 18. Oktober1961, die doch die Rechte der Arbeitnehmer, das Recht auf Soziale Sicherheit und dasauf Fürsorge proklamiert, den Begriff nicht kennt, avanciert „Solidarität“, neben „Men-schenwürde“, „Freiheit“ und „Gleichheit“, zu einem der grundlegenden, universellenWerte und damit zur Kapitelüberschrift (Kap. IV!) der Charta der Grundrechte der Eu-ropäischen Union vom 7. Dezember 2000.

Ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit wird hier auf einige markante Wurzeln undWirkungen in der Geschichte der Idee „Solidarität“ aufmerksam gemacht. Man kannsie bei Aristoteles’ staatsbildendem Begriff der „Freundschaft“ (nicht „Feindschaft“!)beginnen lassen; man wird an die „dette sacrée“ erinnern, die die Gesellschaft gemäßder Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1793 gegenüber ihren „citoyensmalheureux“ zu erfüllen hat, und man sollte Philosophen, Soziologen und Politiker wiePierre Leroux, Wilhelm Liebknecht, Ferdinand Tönnies, Emile Durkheim, Max Scheler,Ernest Renan und Charles Taylor nennen und befragen. Der alte Antagonismus von„(Lebens)gemeinschaft“ und „Gesellschaft“, neu aufgelegt in der inzwischen überwun-denen Kommunitarismus-Liberalismus-Debatte, verschwindet in existenzphilosophi-schen Entwürfen wie denen von Albert Camus (L’ homme révolté) oder Richard Rorty(Kontingenz, Ironie und Solidarität).

Die sozialphilosophischen Traditionen bilden den oft kaum bewussten Hintergrundder Verfassungsgebungs- oder Verfassungsreformdiskussionen im Gefolge der deut-schen Wiedervereinigung und der Konstitutionalisierung der fünf „neuen“ deutschenBundesländer. „Mitmenschlichkeit“ und „Gemeinsinn“ konnten die Hürde vor der Auf-nahme in das Grundgesetz nicht überwinden. Aber in Jubiläums-Reden zur „Idee vonEuropa“ wird heute an die „Solidarität der Tat“ appelliert, die Robert Schuman schon1950 visionär am Beginn der Entwicklung zur Europäischen Gemeinschaft geforderthatte.

30 Erhard Denninger

Page 32: Das ganze Heft als PDF-Datei

Die Begründung der gesetzgeberischen Einschätzungsspielräume aus denGrenzen der verfassungsgerichtlichen Rechtsanwendung

Während einerseits die Befugnis des BVerfG zur Tatsachenfeststellung bei der Über-prüfung eines Gesetzes unbestritten ist, wird andererseits allgemein angenommen, dassdie verfassungsgerichtliche Tatsachenfeststellung gesetzgeberische Einschätzungs-spielräume1 einzuräumen hat, die um so größer anzuerkennen sind, je unsicherer die inRede stehenden generellen Tatsachen (sog. legislative facts)2 erscheinen. So hat etwaBrun-Otto Bryde ausgeführt: „Vor allem das Verhältnismäßigkeitsprinzip hindert jedeÜberlegung, das Verfassungsgericht von Tatsachenfeststellungen auszuschließen, for-dert andererseits zwingend eine Zurückhaltung des Gerichts bei Tatsachen- und Pro-gnosebewertungen, wenn der demokratische Gesetzgeber die Entscheidungsprärogativebehalten soll, die ihm die grundgesetzliche Ordnung einräumt.“3 Fraglich ist allerdings,in welchem Sinne und inwieweit das Grundgesetz auf die gesetzgeberischen Einschät-zungsspielräume hinweist. Die herrschende Meinung geht davon aus, die grundgesetz-liche Ordnung als eine demokratische Ordnung zu verstehen, wonach der Gesetzgeberwegen seiner demokratischen Bedeutung eine zentrale Stellung besitzt. Im Falle empi-rischer Unsicherheit hat er die Prärogative, auch wenn hinsichtlich der Erforschung vongenerellen Tatsachen die Kompetenz sowohl des Gesetzgebers als auch des Verfas-

1 Nach Marius Raabe lässt sich der Begriff des Einschätzungsspielraums des Gesetzgebers wiefolgt bestimmen: „Der Einschätzungsspielraum ist die Kompetenz des Gesetzgebers, beim Er-lass eines Gesetzes einen unsicheren empirischen Satz als bei der Grundrechtsprüfung desGesetzgebers zugrunde zu legende empirische Prämisse festzusetzen.“ M. Raabe, Grundrechteund Erkenntnis. Der Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers, 1998, S. 53.

2 Zum Begriff der generellen Tatsachen bzw. der legislative facts, mit denen sich das BVerfGbei der Normenkontrolle und der Gesetzesverfassungsbeschwerde befasst, vgl. K. J. Philippi,Tatsachenfeststellungen des BVerfG: Ein Beitrag zur rational-empirischen Fundierung ver-fassungsgerichtlicher Entscheidungen, 1971, S. 6-9; F. Ossenbühl, Die Kontrolle von Tatsa-chenfeststellungen und Prognoseentscheidungen durch das Bundesverfassungsgericht, in: C.Starck (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Bd. I, 1976, S. 458 ff., 464-466;W. Kluth, Beweiserhebung und Beweiswürdigung durch das Bundesverfassungsgericht, NJW1999, S. 3513 ff., 3514-3516; O. Lepsius, Sozialwissenschaften im Verfassungsrecht – Amerikaals Vorbild?, JZ 2005, S. 1 ff., 1; zu legislative facts aus amerikanischer Diskussion etwa: K.C. Davis, An Approach to Problems of Evidence in the Administrative Process, 55 Harv. L.Rev. 364, 402-416 (1942); A. Hoffman, Corralling Constitutional Fact: De Novo Fact Reviewin the Federal Appellate Courts, 50 Duke L. J. 1427, 1434-1435 (2001); M. S. Paulsen, Abro-gating Stare Decisis by Statute: May Congress Remove the Precedential Effect of Roe andCasey?, 109 Yale L. J. 1535, 1562-1563 (2000). Da die vorliegende Arbeit sich auf das Ver-hältnis zwischen Verfassungsgericht und Gesetzgeber konzentriert, wobei in erster Linie nichtkonkrete Tatsachen, sondern vielmehr generelle sozio-ökonomische Daten interessieren (dazuwiederum Philippi, ebenda, S. 10-12), beziehen sich Tatsachen hier nur auf die generellen Tat-sachen. Zur Feststellung konkreter Einzeltatsachen vgl. etwa Kluth, ebenda, S. 3515.

3 B.-O. Bryde, Tatsachenfeststellungen und soziale Wirklichkeit in der Rechtsprechung desBundesverfassungsgerichts, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre Bundesverfassungs-gericht, Band I, 2001, S. 533 ff., 555.

Shu-Perng Hwang

Page 33: Das ganze Heft als PDF-Datei

sungsgerichts anzuerkennen ist.4 Aus dieser Perspektive liegt es nahe, dass sich dieEinschätzungsspielräume des Gesetzgebers gerade aus einer Kompetenzüberlegung er-geben, die großes Gewicht auf Demokratie legt: Die Reichweite des gesetzgeberischenEinschätzungsspielraums solle davon abhängen, inwieweit das BVerfG die demokrati-sche Dignität des Gesetzgebers zu respektieren habe.

Die Einräumung der Einschätzungsspielräume lässt sich zwar als Folge des spannen-den Verhältnisses zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und demokratischer Gesetzge-bung ansehen; ungeklärt bleibt jedoch, worin die Grenzen zwischen den beiden liegensollen. Wenn die Verfassungsgerichtsbarkeit unter dem Grundgesetz der Demokratienicht entgegensteht, sondern sie durch normative Kontrolle gewährleistet,5 so scheintdie Forderung unplausibel zu sein, das BVerfG solle sich schon aus demokratischemGrund gegenüber dem Gesetzgeber zurückhalten. Dies besagt freilich nicht, dass nachdem Grundgesetz, das ein demokratische gesetzgebende Gewalt kontrollierendes Ver-fassungsgericht einrichtet, die Einschätzungsspielräume des Gesetzgebers gar nichtexistieren oder existieren sollen. Im Gegenteil soll nicht verleugnet werden, dass dasVerfassungsgericht auf Schwierigkeiten stoßen muss, indem es einerseits als Rechts-anwendungsorgan die Tatsachen zu konfrontieren und festzustellen hat, andererseitsaber gerade angesichts seiner Rolle als Rechtsanwendungsorgan nicht in der Lage ist,empirische Themen sachverständig zu behandeln. In dieser Hinsicht spielt zur verfas-sungsrechtlichen Begründung der Einschätzungsspielräume des Gesetzgebers nicht dasDemokratieprinzip, sondern vielmehr die Grenze der verfassungsgerichtlichen Rechts-anwendung, die sich aus den Grenzen des normativen Sollens gegenüber dem faktischenSein ergibt, die entscheidende Rolle. Im Folgenden soll zunächst gezeigt werden, in-wiefern die allgemeine Ansicht, die oben dargelegt worden ist, den Schwerpunkt zurBegründung der Einschätzungsspielräume des Gesetzgebers verkannt hat. Sodann istnachzugehen, auf welcher Grundlage und in welcher Weise sich die Grenzen zwischengesetzgeberischen Einschätzungsspielräumen und verfassungsgerichtlicher Kontrolleim Wege verfassungsgerichtlicher Tatsachenfeststellung bilden sollen.

Die Einschätzungsspielräume des Gesetzgebers aus kompetenzrechtlichenErwägungen

Die verfassungsgerichtliche Einräumung der Einschätzungsspielräume desGesetzgebers durch unterschiedliche Kontrolldichte als Respekt vor der Demokratie

Mit der Verstärkung der Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionenwird allgemein angenommen, dass das BVerfG seine Kompetenz überschreiten und indie demokratische gesetzgebende Gewalt eingreifen kann, indem es die Aufgabe des

I.

1.

4 Daher wird die Tatsachenfeststellung häufig als ein Kompetenzproblem erfasst, das im Rahmendes Verhältnisses von Verfassungsgericht und Gesetzgeber vom Gegensatz zwischen Verfas-sungsgerichtsbarkeit und Demokratie ausgeht. So etwa Bryde (Fn. 3), S. 540, 553 ff.

5 Diese Auffassung vertritt schon H. Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie (1929), 2.Aufl. 1963, S. 75 f.; ders., Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, in: VVDStRL 5(1929), S. 2 ff., 81.

32 Shu-Perng Hwang

Page 34: Das ganze Heft als PDF-Datei

Grundrechtsschutzes erfüllt.6 Infolgedessen konzentrieren sich die heutigen Untersu-chungen überwiegend darauf, Verfassungsgerichtsbarkeit gegenüber demokratischerGesetzgebung abzugrenzen. In dieser Hinsicht tauchen Grundrechte und Demokratieals gegenüberzustellende Begriffe auf: Während das BVerfG auf der Seite von Grund-rechten steht, ist der Gesetzgeber durch seine demokratische Bedeutung gekennzeich-net. Daher ist das spannende Verhältnis zwischen Verfassungsgericht und Gesetzgeberüberwiegend als die Spannung zwischen Grundrechten und Demokratie verstanden. „Jeweiter also die Grundrechte im Ergebnis reichen, desto weniger Möglichkeiten bleibendem Gesetzgeber. Umgekehrt gilt: Je mehr der Gesetzgeber entscheiden darf, destokleiner ist der grundrechtliche Bereich, der als definitiv mehrheitsfest geschützt ver-bleibt.“7 Gerade im Hinblick auf die Spannung über die Reichweite der Grundrechteauf der einen Seite und der Demokratie auf der anderen Seite wird heutzutage vielfachgefordert, dem Gesetzgeber bestimmte Spielräume zu sichern, innerhalb denen die de-mokratische Gesetzgebung keiner verfassungsgerichtlichen Kontrolle unterliegt.8 DieFrage lautet also: Unter welcher Voraussetzung und in welchem Umfang soll dasBVerfG auf seine Kontrolle verzichten, um die gesetzgeberischen Spielräume zu ga-rantieren und dadurch seinen Respekt vor der Demokratie darzustellen?

Diese Frage hat das BVerfG im Mitbestimmungsurteil aus dem Jahre 19799 syste-matisch beantwortet. Das Gericht ging davon aus, dass die gesetzgeberischen Spielräu-me dort entstehen, wo faktische Unsicherheit, vor allem aber Unsicherheit über dieZukunft, vorliegt. Dementsprechend sind die tatsachenbezogenen Einschätzungsspiel-räume des Gesetzgebers einzuräumen, auch wenn dem BVerfG nach § 26 Abs. 1 Satz1 BVerfGG die Tatsachenerforschung und -feststellung zusteht. Infolgedessen setzt dieverfassungsgerichtliche Befugnis zur Tatsachenfeststellung die Garantie der gesetzge-berischen Einschätzungsspielräume voraus, deren Reichweite im einzelnen unterschied-lich zu bestimmen ist: „Im einzelnen hängt die Einschätzungsprärogative des Gesetz-gebers von Faktoren verschiedener Art ab, im besonderen von der Eigenart des in Redestehenden Sachbereichs, den Möglichkeiten, sich ein hinreichend sicheres Urteil zu bil-

6 Zur Kritik an der Verfassungsgerichtsbarkeit aus dieser Sicht vgl. statt vieler E.-W. Böcken-förde, Grundrechte als Grundsatznormen. Zur gegenwärtigen Lage der Grundrechtsdogmatik,Der Staat 20 (1990), S. 1 ff.; ders., Zur Lage der Grundrechtsdogmatik nach 40 Jahren Grund-gesetz, 1989; W. Knies, Auf dem Weg in den „verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat“?,in: FS K. Stern, 1997, S. 1155 ff., 1178 ff.; O. Höffe, Wieviel Politik ist dem Verfassungsgerichterlaubt?, Der Staat 38 (1999), S. 171 ff., 184 ff.; W. Brohm, Die Funktion des BVerfG – Olig-archie in der Demokratie?, NJW 2001, S. 1 ff.

7 So Raabe (Fn. 1) S. 15. Vgl. auch Kluth (Fn. 2), S. 3516: „Das BVerfG sieht sich also zwischenzwei Vorgaben: der Verpflichtung zum effektiven Grundrechtsschutz auch gegenüber demGesetzgeber einerseits und dem Respekt vor der demokratischen Dignität des unmittelbar vomVolk gewählten Parlaments andererseits.“.

8 Der sog. funktionell-rechtliche Ansatz lässt sich in dieser Hinsicht als Produkt der Überlegungansehen, wonach etwa zwischen Handlungs- und Kontrollnormen zu unterscheiden ist. Vgl.dazu B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung: Stabilität und Dynamik im Verfassungsrecht derBundesrepublik Deutschland, 1982, S. 306 f.: „Will man an der umfassenden Bindung allerstaatlichen Gewalt an eine Verfassung mit universalem normativem Anspruch festhalten undtrotzdem eine justizstaatliche Verdrängung der demokratischen und gewaltenteilenden Funk-tionenordnung vermeiden, muss man die Bedeutung der Verfassung als Handlungsmaßstab fürdie Staatsorgane und als Kontrollmaßstab für das BVerfG unterscheiden.“.

9 BVerfGE 50, 290.

Die Begründung der gesetzgeberischen Einschätzungsspielräume 33

Page 35: Das ganze Heft als PDF-Datei

den, und der Bedeutung der auf dem Spiele stehenden Rechtsgüter. Demgemäß hat dieRechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wenn auch im Zusammenhang mit an-deren Fragestellungen, bei der Beurteilung von Prognosen des Gesetzgebers differen-zierte Maßstäbe zugrunde gelegt, die von einer Evidenzkontrolle über eine Vertretbar-keitskontrolle bis hin zu einer intensivierten inhaltlichen Kontrolle reichen.“10 Daherlässt sich der Aufbau der abgestuften Kontrolldichten als die Folge der verfassungsge-richtlichen (abgestuften) Anerkennung der gesetzgeberischen Einschätzungsspielräumeansehen, deren Reichweite von der Eigenart des in Rede stehenden Sachbereichs, denMöglichkeiten, sich ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden, und der Bedeutung derauf dem Spiele stehenden Rechtsgüter abhängt.

Beachtenswert ist dabei, in welchem Sinne diese Aussage vom BVerfG ihre Bedeu-tung und Auswirkung hat. Die Entwicklung der Bundesverfassungsgerichtsentschei-dungen nach dem Mitbestimmungsurteil zeigt, dass sich das BVerfG bei der Bestim-mung seiner Kontrolldichte überwiegend auf die Bedeutung der Grundrechte konzen-triert hat.11 Die Folge also: „Die Anforderungen an die Sicherheit der Prognose undVerlässlichkeit der Tatsachenbasis steigen lediglich mit der Bedeutung des Grundrechtsund der Eingriffsintensität“.12 Trifft diese Beobachtung zu, so lässt sich daraus ablesen,dass der Versuch des BVerfG, seine grundrechtsschützende Kontrollkompetenz gegen-über der demokratischen Gesetzgebung abzugrenzen, gerade der oben dargelegten Be-trachtungsweise zum Spannungsverhältnis zwischen Verfassungsgericht und Gesetz-geber entspricht. Die Einschätzungsspielräume des Gesetzgebers müssen demgemäßmit der Schwächung der Bedeutung der auf dem Spiele stehenden Grundrechte und derEingriffsintensität erweitert werden. Dagegen scheint relativ unklar, unter welchenVoraussetzungen die anderen Faktoren, die nach dem Mitbestimmungsurteil im Rahmender Bestimmung der Reichweite gesetzgeberischer Einschätzungsspielräume auch eineRolle spielen sollen, geltendzumachen sind.13

Spiegelt die Praxis des BVerfG einerseits die Auffassung genau wider, die Spannungzwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung stelle sich als die Spannung

10 BVerfGE 50, 290 (332 f.).11 Vgl. K. Schlaich/S. Korioth, Das Bundesverfassungsgericht – Stellung, Verfahren, Entschei-

dungen, 6. Aufl. 2004, Rn. 537. Dort wird behauptet, die verschiedenen Kontrolldichten seiennicht „funktionell-rechtliche Kompetenzkritierien selbständiger Art“, sondern vielmehr „ma-teriell-rechtlich gesteuert“. Ähnlich W. Heun, Funktionell-rechtliche Schranken der Verfas-sungsgerichtsbarkeit, 1992, S. 37-40; C. Simons, Grundrechte und Gestaltungsspielraum. Ei-ne rechtsvergleichende Untersuchung zum Prüfungsinstrumentarium von Bundesverfas-sungsgericht und US-amerikanischem Supreme Court bei der Normenkontrolle, 1999,S. 228-233; K. Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung. Zur Methodeder Verfassungsinterpretation bei der Normenkontrolle, 1987, S. 190. Vgl. auch S.-P.Hwang, Verfassungsgerichtlicher Jurisdiktionsstaat? Eine rechtsvergleichende Analyse zurKompetenzabgrenzung von Verfassungsgericht und Gesetzgeber in den USA und der Bun-desrepublik Deutschland, 2005, S. 180-184.

12 Heun (Fn. 11), S. 38.13 Im Hinblick auf den viel bemerkten Gegensatz zwischen Grundrechten und Demokratie wird

auch bei der Diskussion um den Faktor der Eigenart des betroffenen Sachbereiches die funk-tionell-rechtliche Eigenschaft bzw. die demokratische Bedeutung des Gesetzgebers heraus-gestellt. Vgl. z.B. G. F. Schuppert, Self-restraints der Rechtsprechung: Überlegung zur Kon-trolldichte in der Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit, DVBl 1988, S. 1191 ff.,1192 f.

34 Shu-Perng Hwang

Page 36: Das ganze Heft als PDF-Datei

zwischen Grundrechten und Demokratie dar, so reflektiert sie andererseits, dass dasThema zu den gesetzgeberischen Einschätzungsspielräumen, die nach dem Mitbestim-mungsurteil nicht lediglich von der Bedeutung der Grundrechte und der Eingriffsinten-sität abhängen sollen, noch nicht umfassend behandelt worden ist. Die Überbetonungdes Konfliktverhältnisses von Grundrechten und Demokratie würde dazu führen, dassder demokratische Gesetzgeber jedenfalls mit seinen Einschätzungsspielräumen Vor-rang vor dem Verfassungsgericht hätte, solange kein schwerer Grundrechtseingriff vor-liegt, der erst die verfassungsgerichtliche Kontrolle rechtfertigt. In der Tat aber stehennach dem Grundgesetz Grundrechte und Demokratie nicht in allen Zusammenhängenentgegen, so dass die Abgrenzung zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzge-bung nicht einfach durch den Ausgleich zwischen Grundrechtsschutz und Demokratie-gewährleistung thematisiert werden kann. So gesehen greift die Ansicht, die Einräu-mung der Einschätzungsspielräume des Gesetzgebers lasse sich bereits und zwar aus-schließlich auf demokratischer Grundlage rechtfertigen, zu kurz.

Verfassungsgerichtsbarkeit im Grundgesetz: Das BVerfG als Hüter derdemokratischen Verfassung

Sowohl in rechtsgeschichtlicher als auch in rechtsvergleichender Hinsicht zeichnet sichdas Grundgesetz in erster Linie durch die Einrichtung einer machtvollen Verfassungs-gerichtsbarkeit aus, die sich nicht von der Politik abtrennt, sondern sie kontrolliert.14

Vor diesem Hintergrund spiegelt das Grundgesetz einen Paradigmenwechsel in derRecht-Politik-Problematik wider: Im Rahmen der Verfassungsgerichtsbarkeit müssendie rechtsfreien Räume der Politik erheblich eingeschränkt werden, so dass der Gesetz-geber immer wieder der verfassungsgerichtlichen Kontrolle unterliegt.15 Auf der ande-ren Seite aber ist nicht zu verleugnen, dass die Rolle der gesetzgebenden Gewalt imGefüge der heutigen Staatsfunktionen nicht nur aus institutioneller Perspektive bzw. aufder Grundlage des Grundgesetzes begriffen, sondern auf ihre Bedeutung für die ganzeRechtsordnung im Lichte der deutschen Rechtstradition zurückgeführt werden muss. Indieser Hinsicht wird einerseits der Gesetzgeber stark gebunden; andererseits spielt eraber aufgrund seiner zentralen Stellung sowohl im rechtsstaatlichen als auch im demo-

2.

14 Vgl. G. Roellecke, Aufgaben und Stellung des Bundesverfassungsgerichts im Verfassungs-gefüge, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR II, 1987, § 53, S. 191 f.; auch U. Scheuner,Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, DÖV 1980, S. 473 ff. 474; F. Ossenbühl, Ak-tuelle Probleme der Gewaltenteilung, DÖV 1980, S. 545 ff., 547 f. Daher wird behauptet, dieSorge um die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit aus Sicht des traditionellen Gewalten-teilungsprinzips werde „zweitrangig“ und sogar „obsolet“, denn „die Grenzen des BVerfGsind … mit den von der Verfassung gesteckten Grenzen identisch.“ So Simons (Fn. 11),S. 18. Gerade in diesem institutionellen Sinne unterscheidet sich die deutsche Verfassungs-gerichtsbarkeit grundlegend von der US-amerikanischen. Vg. dazu Hwang (Fn. 11), S. 17-22.

15 Dies spiegelt sich vor allem dadurch wider, dass die Verfassungsgerichtsbarkeit die unmit-telbare Bindungswirkung der Grundrechte (Art. 1 III und Art. 20 III GG) geltend macht.

Die Begründung der gesetzgeberischen Einschätzungsspielräume 35

Page 37: Das ganze Heft als PDF-Datei

kratischen Kontext stets eine schwerwiegende Rolle.16 Infolgedessen wird die sog. po-litische Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers immer wieder behauptet und herausge-stellt, die sich als die Darstellung dieser zweiseitigen Betrachtung ansehen lässt.

Indem die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit sich aus der Überlegung ergibt, derGesetzgeber solle vor allem in rechtsgeschichtlicher Hinsicht trotz der Einrichtung derVerfassungsgerichtsbarkeit eine zentrale Stellung im heutigen demokratischen Rechts-staat besitzen, kann jedoch die demokratische Dignität des Gesetzgebers überschätztwerden, wobei die demokratische Bedeutung der Verfassungsgerichtsbarkeit auch re-lativ vernachlässigt wird. Zwar liegt der grundgesetzlichen Ordnung das Demokratie-prinzip zugrunde; allerdings beabsichtigt das Grundgesetz nicht, Demokratie aus-schließlich durch den Gesetzgeber zu verwirklichen und zu gewährleisten. Umgekehrtmuss der Gesetzgeber deshalb kontrolliert werden, weil er ansonsten seine Gewaltmissbrauchen und dadurch die Demokratie beeinträchtigen kann.17 So gesehen stehenVerfassungsgerichtsbarkeit und Demokratie trotz und auch wegen der verfassungsge-richtlichen Befugnis zur Kontrolle der demokratischen Gesetzgebung nicht entgegen,

16 Vgl. die abweichende Meinung der Richterinnen Osterloh und Lübbe-Wolff und des RichtersGerhardt zum Urteil des Zweiten Senats vom 27. Juli 2004, in: BVerfGE 111, 226 (274 ff.),274: „Im Rechtsstaat des Grundgesetzes ist die Gesetzgebung das wichtigste Mittel politischerGestaltung.“ Zur zentralen Rolle des Gesetzgebers besonders in seinem Verhältnis zur Ver-waltung vgl. etwa D. Jesch, Gesetz und Verwaltung. Eine Problemstudie zum Wandel desGesetzmäßigkeitsprinzips, 1961, S. 92 ff.; P. Badura, Die parlamentarische Volksvertretungund die Aufgabe der Gesetzgebung, ZG 1987, S. 300 ff.; O. Lepsius, Die erkenntnistheoreti-sche Notwendigkeit des Parlamentarismus, in: M. Bertschi u.a. (Hrsg.), Demokratie undFreiheit, 1999, S. 123 ff., 124 f.; vgl. auch G. F. Schuppert (Hrsg.), Das Gesetz als zentralesSteuerungsinstrument des Rechtsstaates, 1998. Die zentrale Stellung der Legislative im Kon-text der deutschen Rechtstradition geht an erster Stelle auf den Rechtsstaatsgedanken zurück,der, anders als die Rule of Law vor dem Hintergrund des Common Law, dadurch gekenn-zeichnet ist, dass nicht das Gericht, sondern der Gesetzgeber die führende Rolle zur Gewähr-leistung der individuellen Freiheit spielt. Zwar hat die Hinwendung des Grundgesetzes zum„materiellen“ Rechtsstaat nach 1945 wesentliche Auswirkungen auf den Status des Gesetz-gebers (dazu E.-W. Böckenförde, Entstehung und Wandel des Rechtsstaatsbegriffs, in: ders.,Recht, Staat, Freiheit, 1991, S. 143 ff., 164 ff.). Allerdings hält die grundgesetzliche Ent-scheidung für die parlamentarische Demokratie immerhin daran fest, dass „das zentrale Le-gitimations- und Entscheidungsorgan der Demokratie das Parlament ist.“ (so die Formulie-rung bei P. Kirchhof, Die Zukunft der Demokratie im Verfassungsstaat, JZ 2004, S. 981 ff.,984). Folgerichtig wird im Rahmen des Grundgesetzes der Gesetzgeber auf Grund des De-mokratieprinzips immer wieder in den Vordergrund gerückt. So gesehen besitzt der Gesetz-geber im Hinblick auf seine führende Rolle in der Entwicklung der deutschen Rechtsge-schichte nach wie vor eine zentrale Bedeutung.

17 Vor dem Demokratiemissbrauch warnt etwa W. Kägi, Rechtsstaat und Demokratie (Antino-mie und Synthese), in: Festgabe Z. Giacometti, 1953, S. 107 ff., 188 ff.

36 Shu-Perng Hwang

Page 38: Das ganze Heft als PDF-Datei

sondern sie unterstützen einander.18 Weiterhin ist im Hinblick auf die Funktion desVerfassungsgerichts in der – im allgemeinen angenommenen – pluralistischen Demo-kratie,19 die Minderheitsrechte durch die Gewährleistung steter Kompromissmöglich-keiten zwischen Majorität und Minorität zu schützen, ferner anzuerkennen, dass selbstdie Verfassungsgerichtsbarkeit eine demokratische Bedeutung enthält.20 Auf dieserEbene verdeutlicht sich, dass die grundgesetzliche Demokratie sich nicht in der Legis-lative erschöpft, sondern vielmehr durch die sowohl kontrollierende als auch schützendeFunktion der Verfassungsgerichtsbarkeit geltend zu machen ist. Demzufolge ist anzu-nehmen, dass das Demokratieprinzip nicht als der grundgesetzliche Maßstab dazu die-nen kann, die Kompetenzen von Verfassungsgericht und Gesetzgeber klar abzugrenzen,weil das Verfassungsgericht eben nach dem Demokratieprinzip die Aufgabe trägt, De-mokratie durch die normative Kontrolle gesetzgeberischer Entscheidungen zu garan-tieren. In dem Sinne, dass das Grundgesetz keine Freiräume für den Gesetzgeber vor-bestimmt, die aus demokratischem Grund voraussetzungslos und vorbehaltlos vor derverfassungsgerichtlichen Überprüfung geschützt werden müssen, soll das Demokratie-prinzip nicht als die Grenze zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebungbegriffen werden.

Dem Vorhergehenden ist nicht zu entnehmen, dass unter dem Grundgesetz der Ge-setzgeber gar keine Gestaltungsfreiheit genießen dürfte. Dass das Demokratieprinzipnicht als die Grenze für das BVerfG gelten kann, besagt nur, dass dieses im Hinblickauf die kontrollierende und damit unterstützende Bedeutung der Verfassungsgerichts-barkeit für die Demokratie nicht in der Lage ist, zur Erklärung der Grenzziehung zwi-schen Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung beizutragen, nicht aber, dass nachdem Grundgesetz die verfassungsgerichtliche Kontrolle keine Spielräume für den Ge-setzgeber überlässt. Vielmehr ist anzunehmen, dass das BVerfG mit dem Rechtsan-wendungscharakter seine verfassungsrechtlichen Schranken finden muss. Bereits dieMitbestimmungsentscheidung erläuterte, dass die empirische Unsicherheit zur Zurück-haltung verfassungsgerichtlicher Kontrolle der gesetzgeberischen Entscheidung unddeswegen auch zur Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers führen würde. Offen-kundig rückt diese Auffassung die empirischen Faktoren in den Vordergrund, die imRahmen der Verfassungsgerichtsbarkeit als die Grenzen der verfassungsgerichtlichen

18 Vgl. dazu auch Kägi, ebenda, S. 134-138; D. Grimm, Verfassungsgerichtsbarkeit – Funktionund Funktionsgrenzen im demokratischen Staat, in: W. Hoffmann-Riem (Hrsg.), Sozialwis-senschaften im Studium des Rechts, 1977, S. 83 ff., 89, 95 ff.; N. Geis, Autorität und Machtdes Verfassungsgerichts, in: B. Rill (Hrsg.), Fünfzig Jahre freiheitlich-demokratischerRechtsstaat. Vom Rechtsstaat zum Rechtswegestaat, 1999, S. 137 ff., 139. Zur Notwendigkeiteiner rechtlichen Kontrolle politischen Handelns unter dem Grundgesetz vgl. etwa H. Lau-fer, Verfassungsgerichtsbarkeit und politischer Prozess. Studien zum Bundesverfassungsge-richt der Bundesrepublik Deutschland, 1968, S. 45, 284 ff., 336 ff.; Scheuner (Fn.), S. 473 f.;R. Wahl, Elemente der Verfassungsstaatlichkeit, in: JuS 2001, S. 1041 ff., 1046.

19 Zur pluralistischen Demokratie unter dem Grundgesetz vgl. etwa A. Hanebeck, Der demo-kratische Bundesstaat des Grundgesetzes, 2004, S. 84-86; P. Badura, Staatsrecht. Systema-tische Erläuterung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufl. 2003,S. 274.

20 Dazu näher Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie (Fn. 5) S. 57 f.; ders., Wesen undEntwicklung der Staatsgerichtsbarkeit (Fn. 5), S. 81; ders., Allgemeine Staatslehre, 1925,S. 359.

Die Begründung der gesetzgeberischen Einschätzungsspielräume 37

Page 39: Das ganze Heft als PDF-Datei

Überprüfung dienen sollen.21 Gerade in dieser Hinsicht lohnt es sich, die verfassungs-gerichtlichen Andeutungen aus dem Mitbestimmungsurteil aus einer über den Gegen-satz zwischen Grundrechten und Demokratie hinausgehenden Perspektive wieder zuentdecken. Mit Blick auf die Darstellung vom BVerfG muß die Reichweite der gesetz-geberischen Spielräume nicht nur von der Bedeutung der Grundrechte, sondern auchvon der Eigenart des in Rede stehenden Sachbereiches und den Möglichkeiten, sich einhinreichend sicheres Urteil zu bilden, bestimmt werden. Im Hinblick auf die Bedeutungder empirischen Unsicherheit für die Schrankensetzung verfassungsgerichtlicher Kon-trolle lässt sich die im Mitbestimmungsurteil hervorgehobene „Eigenart des betroffenenSachbereiches“ als ein konkretisierter Maßstab zur Abgrenzung von Verfassungsge-richtsbarkeit und Gesetzgebung auffassen, der in erster Linie nicht das Demokratie-prinzip, sondern vielmehr die empirische Ungewissheit als die Grenzen verfassungs-gerichtlicher Überprüfung herausstellt. Infolgedessen stellt sich die Frage, weshalb undauf welche Weise die empirischen Faktoren bzw. Voraussetzungen zur Begrenzung derverfassungsgerichtlichen Kontrolle auf der einen Seite und zur Begründung und Ge-währleistung der gesetzgeberischen Einschätzungsspielräume auf der anderen Seite insSpiel kommen sollen.

Verfassungsgerichtsbarkeit als tatsachenforschende Rechtsanwendung

Als ein Rechtsanwendungsorgan muss das BVerfG im Rahmen der Kontrolle der ge-setzgeberischen Entscheidung nicht nur an die Verfassungsnorm gebunden werden,sondern naturgemäß auch über die Verfassungsmäßigkeit des in Rede stehenden Ge-setzes sachgerecht entscheiden. Zur Überprüfung des Gesetzes und damit zur Lösungdes konkreten Streitfalles, d.h. zur Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit desGesetzes, liegt es nahe, dass das BVerfG, im Schnittpunkt zwischen Verfassungssyste-matik und Sachgerechtigkeit stehend, alle generellen Tatsachen festzustellen hat, die imRahmen des geprüften Gesetzes eine Rolle spielen und auch gerade aus diesem Grundnotwendig für die verfassungsgerichtliche Rechtsanwendung sind. Etwa bei der Ver-hältnismäßigkeitsprüfung also steht die Tatsachenfeststellung des BVerfG im Mittel-punkt, indem geprüft werden muss, ob die getroffene Regelung zur Zweckerreichung„geeignet“ und „erforderlich“ ist.22 Gerade die Notwendigkeit zur Tatsachenfeststellunghat die Auseinandersetzung des BVerfG mit dem Gesetzgeber in dem Sinne zugespitzt,als die Tatsachenforschung nicht nur der verfassungsgerichtlichen Rechtsanwendung,sondern selbstverständlich auch der gesetzgeberischen Rechtsetzung zugrunde liegt.

II.

21 Gerade die verfassungsgerichtliche Gewichtlegung auf die empirischen Faktoren im Mitbe-stimmungsurteil aber hat Kritik bewirkt. Vgl. z.B. R. Schmidt, Das Mitbestimmungsgesetzauf dem verfassungsrechtlichen Prüfstand. Bemerkungen zum Mitbestimmungsurteil desBVerfG vom 1. März 1979 (BVerfGE 50. S. 290 ff.), Der Staat 19 (1980), S. 235 ff., 242:„Hierin liegt ein entscheidender Mangel, weil der topos ‚Prognosespielraum‘ nicht nur durchden jeweiligen Sachbereich, sondern vor allem durch die möglicherweise verletzten Grund-rechte bestimmt werden muss.“.

22 Zur Bedeutung der Tatsachenforschung bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung vgl. etwa R.Alexy, Theorie der Grundrechte, 1985, S. 101 ff.; Raabe (Fn. 1), S. 332 f; P. Lerche, Übermaßund Verfassungsrecht. Bemerkungen zur Wiederauflage (1999), in: ders., Ausgewählte Ab-handlungen, 2004, S. 244 ff., 248 f.

38 Shu-Perng Hwang

Page 40: Das ganze Heft als PDF-Datei

Zwar ist nach den §§ 26-29 BVerfGG das BVerfG zur tatsächlichen Beweiserhebungverpflichtet; als Rechtsanwendungsorgan aber darf es sich nicht als Ersatzgesetzgeberbetätigen.

Tatsachenfeststellung im Wege verfassungsgerichtlicher Rechtsanwendung

Um die Grenzen der verfassungsgerichtlichen Tatsachenfeststellung herauszufinden,muss an erster Stelle festgelegt werden, worauf die Notwendigkeit zur Tatsachenfest-stellung durch das BVerfG beruht. Wie dargelegt, ergibt sich die Befugnis des BVerfGzur Feststellung von generellen Tatsachen schon daraus, dass das BVerfG über die Ver-fassungsmäßigkeit eines Gesetzes zu entscheiden hat, dessen Entstehungshintergründebzw. sozio-ökonomische Grundlagen infolgedessen zum „Teil des Sachverhalts“ für dieverfassungsgerichtliche Rechtsanwendung werden, „auf den sich die richterliche Kon-kretisierungsaufgabe bezieht“.23 Dem ist zu entnehmen, dass die Tatsachenfeststellungdes BVerfG, das „keine Tatsacheninstanz sein will“,24 eng mit seiner Rechtsanwen-dungsaufgabe verbunden ist. Das BVerfG hat die generellen Tatsachen deshalb festzu-stellen, weil es die (Verfassungs-)norm auf den diese Tatsachen zugrunde legendenEinzelfall anzuwenden hat.25 So gesehen lässt sich sagen, dass im Rahmen der verfas-sungsgerichtlichen Notwendigkeit zur Rechtsanwendung die Begründung und die Be-grenzung der verfassungsgerichtlichen Kompetenz zur Tatsachenfeststellung zusam-menfallen. Nur am Maßstab der Verfassungsnorm kann sich die verfassungsgerichtlicheTatsachenfeststellung geltend machen und rechtfertigen. Zum Beispiel muss also dasGericht in der neueren Entscheidung zum Altenpflegegesetz einschlägige Tatsachenermitteln und feststellen, um am Maßstab des Art. 72 Abs. 2 GG, wonach „dem Bun-desgesetzgeber kein Beurteilungsspielraum belassen werden sollte“,26 die Verfassungs-mäßigkeit des Gesetzes über die Berufe in der Altenpflege nach der „Erforderlichkeits-klausel“ zu prüfen, die, nach der Auffassung des Gerichts, eine verfassungsgerichtlicheÜberprüfung der gesetzgeberischen Tatsachenerforschung ermöglicht und insofern dieTatsachenermittlung des Verfassungsgerichts rechtfertigt: „Die Konkretisierung derBedürfnisklausel sollte der Justitiabilität des Art. 72 Abs. 2 GG dienen. Sie sollte eineandere rechtliche Qualität der darin enthaltenen Begriffe bewirken; die Kompetenzaus-übung durch den Bund sollte nicht mehr nur auf Ermessensmissbrauch überprüfbar seinund die Tatbestandsmerkmale sollten zu – zwar unbestimmten, aber – voll nachprüf-baren Gesetzesbegriffen werden, damit das Bundesverfassungsgericht die Vorausset-zungen des Art. 72 Abs. 2 GG ebenso nachprüfen könne wie die grundgesetzlichen Be-stimmungen anderer Kompetenzen. Verfassungsgerichtlicher Kontrolle sollte dabei

1.

23 Bryde (Fn. 3) S. 533 f. Von den generellen Tatsachen dieser Art unterscheidet Bryde „solchegesamtgesellschaftlichen sozio-ökonomischen Daten und Wirklichkeitsvorstellungen desGerichts, die sich auf den gesellschaftlichen Kontext seiner Entscheidung beziehen und dieAuslegung der Norm beeinflussen.“.

24 Vgl. Lepsius (Fn. 2), S. 2.25 Vgl. zur Rolle der Tatsachen im Rahmen der gerichtlichen Subsumtion auch G. Struck,

Rechtswissenschaft und Soziologie, in: D. Grimm (Hrsg.), Rechtswissenschaft und Nach-barwissenschaften, Bd. 1, 1976, S. 13 ff., 24.

26 BVerfGE 106, 62 (142).

Die Begründung der gesetzgeberischen Einschätzungsspielräume 39

Page 41: Das ganze Heft als PDF-Datei

auch der Maßstab der ‚Erforderlichkeit‘ einer bundesgesetzlichen Regelung unterwor-fen sein.“27 Gerade dem lässt sich entnehmen, dass das BVerfG seine Befugnis zurTatsachenfeststellung gerade auf dem Boden begründet, dass es aufgrund der Erforder-lichkeitsklausel des Art. 72 Abs. 2 GG zur Überprüfung der Tatsachenermittlung desGesetzgebers verpflichtet ist. Daraus folgt ferner, dass die Tatsachenfeststellung desBVerfG, deren Reichweite auf die anzuwendende Verfassungsnorm zurückzuführen ist,nicht zwangsläufig dazu führen würde, die Tatsachenfeststellungsbefugnis des Gesetz-gebers in Kauf zu nehmen, denn die beiden haben im Wesentlichen unterschiedlicheRichtungen und Reichweiten. Während der Gesetzgeber aus der Notwendigkeit zurSchaffung einer Rechtsnorm die Tatsachen zu erforschen hat, beruht die Tatsachener-mittlung des BVerfG auf seiner Notwendigkeit zur Überprüfung des Gesetzes durch dieAnwendung der vorgegebenen Verfassungsnorm. Bereits an dieser Stelle zeigt sichdeutlich, dass die Tatsachenermittlung des BVerfG rechtliche Vorgaben voraussetzenmuss, während diejenige des Gesetzgebers relativ offen, d.h. wenig rechtsgebunden ist.

Wie weitgehend anerkannt, entsteht dieser Unterschied aus der methodologischenGegenüberstellung und Abgrenzung von Rechtsanwendung und Rechtsetzung. Wäh-rend die gerichtliche Rechtsanwendung durch Rechtsbindung, durch Individualisie-rungsleistung und durch Retrospektivität gekennzeichnet ist, zeichnet sich die gesetz-geberische Rechtsetzung durch ihre Offenheit, Allgemeinheit sowie Zukunftsbezogen-heit aus.28 Daraus folgt, dass die Tatsachen im Rahmen der Verfassungsgerichtsbarkeitund der Gesetzgebung unterschiedlich zu behandeln sind, und dass infolgedessen dieBegrenzung der verfassungsgerichtlichen Befugnis zur Tatsachenfeststellung auf dereinen Seite und die Einräumung der Einschätzungsspielräume des Gesetzgebers auf deranderen Seite letztlich auf die Reichweite der Rechtsanwendung gegenüber der Recht-setzung zurückgehen müssen. Die Folge also: Dient die Tatsachenforschung als Kom-ponente bzw. Ausgangspunkt einer Gesetzgebung, die selbstinitiativ und in ihrer Ent-stehung wenig verrechtlicht ist,29 so hat sie ihrer Funktion nach nicht von den norma-tiven, sondern vielmehr von den faktischen Voraussetzungen auszugehen, die sich ent-weder auf gesicherte Tatsachen oder auf ungewisse Zukunft beziehen können. Bereitsdies deutet an, aus welchem Grund die zukunftsbezogene empirische Unsicherheit imRahmen der Einräumung gesetzgeberischer Einschätzungsspielräume eine Rollespielt.30 Wird im Gegenteil die Tatsachenfeststellung als Bestandteil der verfassungs-gerichtlichen Rechtsanwendung angesehen und vorgenommen, die in dem Sinne recht-lich determiniert ist, dass sich das Gericht in seiner Entscheidungsrechtfertigung nur aufRecht beziehen darf,31 so steht fest, dass die Reichweite dieser Tatsachenfeststellungvon der Reichweite der vorgegebenen Verfassungsnorm zu bestimmen ist. Da die Tat-sachenfeststellung des BVerfG angesichts der notwendigen Abgrenzung zwischenRechtsetzung und Rechtsanwendung jedenfalls von den normativen Grenzen der Ver-

27 BVerfGE 106, 62 (137).28 Dazu näher C. Möllers, Gewaltengliederung. Legitimation und Dogmatik im nationalen und

internationalen Vergleich, 2005, S. 95 ff., 105 ff. Zur Gebundenheit und Fallbezogenheit alsEigenschaften der Rechtsanwendung gegenüber der Rechtsetzung vgl. auch Hwang (Fn. 11),S. 129 ff., 212 ff.

29 Vgl. Möllers (Fn. 28), S. 105.30 Dazu näher unten III.31 So Möllers (Fn. 28), S. 95.

40 Shu-Perng Hwang

Page 42: Das ganze Heft als PDF-Datei

fassung abhängen muss, liegt es nahe, dass sie schon aus methodologischen Gründenniemals grenzenlos sein kann. Vielmehr ist darauf hinzuweisen, dass die Einschät-zungsspielräume des Gesetzgebers gerade aus den Grenzen der verfassungsgerichtli-chen Rechtsanwendung erfolgen, die sich auf zweierlei zurückführen lassen, nämlichzum einen auf die Eigenschaft sowie die Funktionsgrenzen der Verfassungsnorm undzum anderen auf die Bedeutung und Begrenzung der verfassungsgerichtlichen Kompe-tenz zur Konkretisierung. Dadurch erklärt sich nicht nur, weshalb und wie der gesetz-geberische Einschätzungsspielraum zu begründen ist, sondern auch, welch große Be-deutung die methodologische Gegenüberstellung zwischen Rechtsanwendung undRechtsetzung für die Bestimmung seiner Reichweite einnimmt.

Tatsachenfeststellung im Rahmen verfassungsgerichtlicher Konkretisierung

Wie dargelegt, hängt zwar die Inhaltsbestimmung der Verfassungsnorm gelegentlichvon den generellen Tatsachen ab, deren Ermittlung auch gerade in diesem Sinne mit derKonkretisierungskompetenz des BVerfG zusammenhängt. Insofern ist Karl Engischzuzustimmen, wenn er sagt: „Die Lebensordnung liefert dem Recht nicht nur den Ge-genstand, sondern auch den Inhalt.“32 Dies bedeutet aber natürlich nicht, daß an dieserStelle kein Unterschied zwischen Norm- und Tatsachenerkenntnissen besteht. Wie CarlSchmitt dargelegt hat: „Der Richter kann keinen Tatbestand aufnehmen, ohne dass ihmGesetze, die Anwendung finden sollen, bereits ‚vorschweben‘ oder mehr oder wenigerbewusst sind.... Der Tatbestand bedeutet daher bereits das Ergebnis einer Spezifikation,durch die ein neues Gebilde geschaffen ist und mit diesem Tatbestand allein hat es derJurist zu tun. Die vollendete Geschlossenheit der Welt rechtlicher Normen ist damitgesichert.“33 Auf dieser Grundlage erklärt sich, dass die Verfassung nicht alle, sondernlediglich rechtserhebliche Tatsachen zum Gegenstand machen kann,34 die als Tatbe-stände der Verfassungsnorm gelten und sich infolgedessen durch das BVerfG konkre-tisieren lassen. Daher ist festzustellen, dass die Reichweite der rechtserheblichen bzw.von der Verfassung regulierten Tatsachen davon abhängt, wie ausführlich die Tatbe-standmerkmale der einzelnen Verfassungsvorschriften vorgesehen sind. Je konkretersich die die tatsächlichen Voraussetzungen zugrunde legenden verfassungsrechtlichenTatbestände darstellen, desto umfangreichere Tatsachen kann die Verfassung regeln. Sobegriffen wird verdeutlicht, dass das BVerfG in der neueren Entscheidung zum Alten-pflegegesetz die Neufassung des Art. 72 Abs. 2 GG deshalb als eine Vorschrift begriff,die justitiabel ist und dem Bundesgesetzgeber keinen Beurteilungsspielraum hinsicht-lich ihrer Voraussetzungen überlässt,35 weil diese Neufassung die alte Bedürfnisklausel

2.

32 K. Engisch, Die Idee der Konkretisierung in Recht und Rechtswissenschaft unserer Zeit, 2.Aufl. 1968, S. 97.

33 C. Schmitt, Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen, 1917, S. 32.34 Vgl. an dieser Stelle auch D. Grimm, Grundrechte und soziale Wirklichkeit. Zum Problem

eines interdisziplinären Grundrechtsverständnisses, in: W. Hassemer (Hrsg.), Grundrechteund soziale Wirklichkeit, 1982, S. 39 ff., 44: „Darin liegt kein Rückfall hinter Kant und Kel-sen, denn es wird nicht ein Sollen aus einem Sein abgeleitet, sondern lediglich festgestellt,dass sich ein Sollen nur angesichts eines Seins formulieren lässt und insoweit Seinselementein sich aufnehmen muss.“.

35 Vgl. BVerfGE 106, 62 (135, 142).

Die Begründung der gesetzgeberischen Einschätzungsspielräume 41

Page 43: Das ganze Heft als PDF-Datei

durch eine relativ konkrete und voraussetzungsvolle Erforderlichkeitsklausel ersetzthat.36

Während einerseits ausführliche verfassungsrechtliche Tatbestände mehr Tatsachenzum Gegenstand machen und insofern größeren Raum für die verfassungsgerichtlicheKonkretisierung durch dessen Tatsachenermittlung eröffnen, muss andererseits geradein dieser Hinsicht anerkannt werden, dass die Konkretisierung des BVerfG, die im Rah-men der Verfassungsrechtsanwendung vorzunehmen ist, auf die normative Reichweiteder Verfassung zu beschränken ist. Dies hat zur Folge, dass die Konkretisierung sicherst nach den Vorgaben der Verfassung vollzieht und sich insofern nicht als Ausdeh-nungsmittel der Verfassungsgerichtsbarkeit ansehen lässt. Die allgemeine Ansicht, dasBedürfnis nach der verfassungsgerichtlichen Konkretisierung werde umso größer, jeweniger die angewandte Verfassung aussage, muss in diesem Sinne vorsichtig überlegtund nur mit Vorbehalt angenommen werden. Solange die Konkretisierung als Rechts-anwendung gilt, ist die Tatsache sogar umgekehrt aufzufassen: Von der verfassungs-gerichtlichen Konkretisierung ist desto geringeres zu erwarten, je weniger die ange-wandte Verfassung vorschreibt.37 Denn: Im Rahmen der Rechtsanwendung kann dieKonkretisierung kein Vorgang sein, in dem das Gericht aus seiner Tatsachenermittlungdie Normen selbst gestaltet.38 So verstanden bedeutet Konkretisierung nicht, wie En-gisch ausdrückt, „Orientierung des Rechts an der Wirklichkeit“,39 wobei die Richterdazu berufen seien, das Sollen aus dem Sein abzuleiten, deren Stellung folglich „keineandere sein kann als die des Gesetzgebers“.40 Die neuhegelianische Auffassung, diezwischen Rechtsnorm und richterlicher Entscheidung ein dialektisches Verhältnis siehtund sich so formulieren lässt, „nur in der Auslegung oder Interpretation konkretisiert

36 Vgl. BVerfGE 106, 62, 142 f.37 Dies zeigt sich auch bei Struck (Fn. 25), S. 27, wo angedeutet wurde, dass die Konkretisierung

eines Rechtsanwendungsorgans das Vorliegen konkreter Vorgaben des Rechtstextes voraus-setzen muss: „Je konkreter der Text, desto wichtiger wird es bei sozialem Wandel – also immer– gesetzgeberische Wertungen, Motivationen und deren faktische Voraussetzungen zu er-kennen.“.

38 Vgl. auch Grimm (Fn. 34), S. 47 f.39 Engisch (Fn. 32), S. 96. Vgl. auch die kritische Bemerkung bei Bernd Rüthers: „Die Wirk-

lichkeit bekommt eine Recht-setzende Funktion.“ B. Rüthers, Entartetes Recht. Rechtslehrenund Kronjuristen im Dritten Reich, 2. Aufl. 1989, S. 65 (Hervorhebung im Original).

40 Engisch, ebenda, S. 120. Engisch behauptet: „Wo der Richter ‚freies Recht‘ schafft, wie beider Lückenausfüllung, da mag er sich bei Auswahl der ‚rechten Mittel zum rechten Zweck‘oder bei Aufdeckung und Bewertung der einschlägigen Interessen oder bei Orientierung ander Überlieferung und der ‚bewährten Lehre‘ ebenso weit an den Realien ausrichten wie einGesetzgeber dies bei Findung des ‚richtigen Rechts‘ tun muss.“ Engisch, ebenda, S. 121.Dabei zeigt sich jedoch, dass die Gebundenheit des Richters gar ignoriert wird.

42 Shu-Perng Hwang

Page 44: Das ganze Heft als PDF-Datei

das Recht sich zum Recht in seiner Wirklichkeit“,41 steht der traditionellen Haltung zurRechtsanwendung entgegen und vernachlässigt, dass auch im Rahmen richterlicherKonkretisierung die Bindungskraft der (Verfassungs-)norm niemals preisgegeben wer-den darf, deren Grenzen infolgedessen anzuerkennen und nicht durch die an der Wirk-lichkeit orientierte verfassungsgerichtliche Konkretisierung zu überwinden sind. Dienormativen Grenzen der Verfassung gelten gerade in dieser Hinsicht als die Grenzender verfassungsgerichtlichen Konkretisierung.

Dem Vorhergehenden ist zu entnehmen, dass die Grenze der verfassungsgerichtlichenÜberprüfung auf der einen Seite und die Reichweite der gesetzgeberischen Einschät-zungsspielräume auf der anderen Seite auf die Konkretisierungsfähigkeit des BVerfGund letztendlich auf die Konkretisierungsfähigkeit der verfassungsrechtlichen Tatbe-standmerkmale zurückgehen müssen. Genau an dieser Stelle versteht sich, weshalb dieUngewissheit über die empirischen Daten zur Einräumung der gesetzgeberischen Spiel-räume führen muss: Während gesicherte empirische Daten in dem Sinne rechtserheblichund konkretisierungsfähig sind, dass sie sich durch die verfassungsgerichtliche Kon-kretisierung in die verfassungsrechtlichen Tatbestände transformieren lassen, ist dieempirische Unsicherheit im Hinblick auf deren Zukunftsbezogenheit nicht durch dieverfassungsgerichtliche Konkretisierung in rechtserhebliches Material umzusetzen. So-weit also die zu ermittelnden Tatsachen empirisch unsicher erscheinen, muss auch inRede stehen, ob und inwiefern die Verfassung materiell-rechtliche Maßstäbe für dieKonkretisierung des BVerfG liefern kann, denn angesichts ihrer Offenheit und Unbe-stimmtheit können sich die Tatsachen als solche nicht durch die verfassungsgerichtlicheKonkretisierung als rechtserhebliche Tatsachen bzw. als festgestellte verfassungsrecht-liche Tatbestände darstellen. Daher zeigt sich deutlich, dass die empirische Unsicherheitüber die normativen Vorgaben der Verfassung hinausgehen und in diesem Sinne keinerverfassungsgerichtlichen Kontrolle unterliegen kann, auch wenn die verfassungsrecht-lichen Tatbestandmerkmale umfassend und ausführlich beschrieben werden. Geradedeswegen schließt das BVerfG trotz seiner Auslegung zum Art. 72 Abs. 2 GG n.F. dieEinschätzungsspielräume des Gesetzgebers nicht aus. Vielmehr legt es dar: „Die Reich-weite gerichtlicher Nachprüfung dieser Tatbestandsmerkmale hängt von ihrer Konkre-tisierungsfähigkeit und der Weite eines dem Bundesgesetzgeber einzuräumenden Ein-

41 So W. Schönfeld, Der Traum des positiven Rechts, AcP 135, S. 1 ff., 43, zitiert nach K. La-renz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 109. Ähnlich F. Müller/R.Christensen, Juristische Methodik, 9. Aufl. Bd. I, 2004, Rn. 14. Infolgedessen führt WolfgangFikentscher aus: „Der Neuhegelianismus ist also die Quelle der Idee der Konkretisierung desRechts, eine Haltung zur Rechtsanwendung, die neben der traditionellen Auffassung, dasGesetz werde auf den Fall angewandt, zur zweiten bedeutenden deutschen Tradition bis heutegeworden ist.“ W. Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Bd. III:Mitteleuropäischer Rechtskreis, 1976, S. 299. Zum Neuhegelianismus vgl. ferner Larenz,ebenda, S. 102 ff.; O. Lepsius, Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung: Methodenentwick-lungen in der Weimarer Republik und ihr Verhältnis zur Ideologisierung der Rechtswissen-schaft im Nationalsozialismus, 1994, S. 271 ff. Dennoch ist nicht zu verkennen, dass auch dieNeuhegelianer das normorientierte Rechtsbewusstsein des Richters nicht außer Acht lassen(dazu näher Larenz, ebenda, S. 109). Dadurch unterscheidet sich das neuhegelianische Sein-Sollen-Verständnis immer noch vom US-amerkianischen. Dazu Lepsius (Fn. 2), S. 8: „InDeutschland stritt man um Werte, in den USA um Fakten. In Deutschland ging es um geistigesSein und Idealität, in den USA um empirisches Sein und Realität.“.

Die Begründung der gesetzgeberischen Einschätzungsspielräume 43

Page 45: Das ganze Heft als PDF-Datei

schätzungsspielraums bei der Ermittlung von Tatsachen und bei Prognosen tatsächlicherEntwicklungen ab.“42 So gesehen liegt es nahe, dass der Gesetzgeber in der Entschei-dung zur Kampfhundeverordnung seine Einschätzungsspielräume zurück gewinnt, so-weit die festzustellenden Tatsachen hier angesichts der fehlenden verfassungsrechtli-chen Maßstäbe bei der empirischen Unsicherheit nicht in der Lage sind, sich völlig indas Konkretisierungsmaterial zu transformieren: „Dabei steht dem Gesetzgeber nichtnur bei der Festlegung der von ihm ins Auge gefassten Regelungsziele, sondern auchbei der Beurteilung dessen, was er zur Verwirklichung dieser Ziele für geeignet underforderlich halten darf, ein weiter Einschätzungs- und Prognosespielraum zu, der... nurin begrenztem Umfang überprüft werden kann. Bei der Einschätzung von Gefahren, dieder Allgemeinheit drohen, und bei der Beurteilung der Maßnahmen, die der Verhütungund Bewältigung dieser Gefahren dienen sollen, ist der Beurteilungsspielraum des Ge-setzgebers erst überschritten, wenn die gesetzgeberischen Erwägungen so fehlsam sind,dass sie vernünftigerweise keine Grundlage für derartige Maßnahmen abgeben kön-nen.“43 Die Folge also: „Es ist Sache des Gesetzgebers, im Hinblick auf den jeweiligenLebensbereich darüber zu entscheiden, ob, mit welchem Schutzniveau und auf welcheWeise Situationen entgegengewirkt werden soll, die nach seiner Einschätzung zu Schä-den führen können.“44 Beachtenswert ist dabei, dass gerade die empirische Unsicherheit,wobei die Verfassungsnorm keine materiell-rechtlichen Maßstäbe für das BVerfG vor-geben kann, die Konkretisierung des BVerfG hindert und infolgedessen die Einschät-zungsspielräume des Gesetzgebers einräumen muss: „Es ist nicht vorhersehbar, unterwelchen konkreten Umständen ein Hund dieser Rassen sich dem Einfluss des Haltersentzieht und Menschen angreift. Im Hinblick auf das hohe Gewicht, das dem Schutz desmenschlichen Lebens und der menschlichen Gesundheit in der Werteordnung desGrundgesetzes zukommt, und mit Rücksicht auf die schwerwiegenden Folgen, dieBeißvorfälle unter Beteiligung von Hunden im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 HundVer-brEinfG wegen deren Stärke und Beißkraft für diese Schutzgüter haben können, bildendie genannten Daten vor diesem Hintergrund zusammen mit den oben wiedergegebenenÄußerungen des fachwissenschaftlichen Schrifttums eine ausreichende Grundlage fürein Handeln des Gesetzgebers, Vorkehrungen gegen den Eintritt von Schädigungendurch Hunde der erwähnten Rassen zu treffen.“45 Auch bereits im Mitbestimmungsurteilhat das Gericht darauf hingewiesen, inwieweit die empirische Unsicherheit hinderndeAuswirkungen auf die Rechtsanwendungs- bzw. Konkretisierungsbefugnis des BVerfGhat: „Das Gesetz regelt einen Ausschnitt komplexer, schwer übersehbarer Zusammen-hänge; diese hängen ihrerseits von Faktoren einer nicht auf die Bundesrepublik be-schränkten Entwicklung ab, die sich zuverlässiger Einschätzung entziehen. Bei dieserSachlage kann jedenfalls nicht gefordert werden, dass die Auswirkungen des Gesetzesmit hinreichender Wahrscheinlichkeit oder gar Sicherheit übersehbar sein müssten, zu-mal Rechtsgüter wie das des Lebens oder der Freiheit der Person nicht auf dem Spielestehen.“46 Ebenfalls in diese Richtung weist das Gericht in der Entscheidung zur Ar-beitnehmerüberlassung: „Bei der verfassungsgerichtlichen Nachprüfung ist besondere

42 BVerfGE 106, 62 (143).43 BVerfGE 110, 141 (157 f.).44 BVerfGE 110, 141 (159).45 BVerfGE 110, 141 (163).46 BVerfGE 50, 290 (333).

44 Shu-Perng Hwang

Page 46: Das ganze Heft als PDF-Datei

Zurückhaltung auch deswegen geboten, weil der Gesetzgeber bei der Wiederherstellungder durch illegale Leiharbeit gestörten Ordnung auf dem Teilarbeitsmarkt des Bauge-werbes auf besonders komplexe, schwer überschaubare und im einzelnen unklare Ver-hältnisse einwirken muss.“47

Verfassungsgerichtliche Rechtsanwendung vs. gesetzgeberische Rechtsetzung vordem Hintergrund empirischer Unsicherheit

Die vorangehende Darstellung spricht dafür, dass die empirische Unsicherheit die ver-fassungsgerichtliche Konkretisierung nicht begründet, sondern umgekehrt hindert, weilsie sich nicht durch die verfassungsgerichtliche Konkretisierung in rechtserheblichesMaterial bzw. in einen verfassungsrechtlichen Tatbestand umsetzen lässt. Das heißtauch, dass das BVerfG unter diesen Umständen nicht dazu befugt ist, die Verfassunganhand der ungewissen empirischen Tatsachen zu konkretisieren und dadurch die ge-setzgeberischen Entscheidungen verfassungsrechtlich zu überprüfen. Der Vorstellungvon Engisch, dass „nicht das Gesetz auf einen Fall angewandt wird, um ihn zu lösen,sondern dass sich die Lösung einer Rechtsfrage aus einem Hin- und Herwenden desBlicks zwischen Gesetz und Fall, aus einer schrittweisen Konkretisierung allgemeinerRechtssätze über immer mehr verfeinerte Normen bis hin in den wirklichen Sachverhaltergibt“,48 ist deshalb nicht zu folgen, weil sie die Eigenheiten der richterlichen Rechts-anwendung vernachlässigt, die sich nicht nur aus der Einzelfallbezogenheit, sondernvielmehr auch aus der Gebundenheit der Rechtsprechung ergeben müssen. Die Not-wendigkeit einer Konkretisierung durch das BVerfG entsteht zwar aus der Unvollkom-menheit der Verfassungsnorm; allerdings kann sie angesichts der methodologischenGegenüberstellung zwischen Rechtsetzung und Rechtsanwendung keineswegs daraufabzielen, die Grenzen der Verfassungsnorm durch die Ineinssetzung von Sein und Sollenzu überschreiten. Konkretisierung stellt sich, wie Hans Kelsen darlegte, als ein Prozessstetig zunehmender Individualisierung49 dar, die sich im Rahmen der Verfassung be-wegt und gerade insofern die normativen Schranken der Verfassung nicht überschreitendarf, auch wenn sie eine Tatsachenermittlung zugrunde legen muss. Zwar kann sich dasschöpferische Element einer richterlichen Konkretisierung in die (verfassungsgericht-

III.

47 BVerfGE 77, 84 (106 f.).48 So die Darlegung bei Fikentscher (Fn. 41), S. 299. Ähnlicherweise versteht Larenz die rich-

terliche Rechtsanwendung/Konkretisierung als ein dialektisches, den Gegensatz von Rechtund Wirklichkeit überwindendes Verfahren. Vgl. z.B. K. Larenz, Deutsche Rechtserneuerungund Rechtsphilosophie, 1934, S. 32: „Indem der Richter diese Rückbeziehung der Norm aufdie konkrete Rechtsidee und damit auf das lebendige Rechtsbewusstsein der Gemeinschaftvollzieht, trägt er nichts Fremdes an die Norm heran, sondern löst sie aus der Erstarrung, dersie im positivistischen Denken anheimfällt, und holt damit erst das lebende Recht aus ihrheraus.“.

49 Vgl. H. Kelsen, Reine Rechtslehre. Mit einem Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit, 2.Aufl. (1960), Nachdruck 2000, S. 242.

Die Begründung der gesetzgeberischen Einschätzungsspielräume 45

Page 47: Das ganze Heft als PDF-Datei

liche) Bewertung von belegten Tatsachen einfließen lassen;50 allerdings ist daran fest-zuhalten, dass es im Falle empirischer Ungewissheit nicht in der Lage ist, die Kluft vonfaktischem Sein und normativem Sollen zu überbrücken. Gerade an dieser Stelle ver-deutlichen sich die Unterschiede zwischen der Rolle des rechtsanwendenden Verfas-sungsgerichts und der des rechtsetzenden Gesetzgebers: Wegen der in der kontinental-europäischen Rechtstradition unentbehrlichen Distanz zwischen Normativität und Fak-tizität51 sind die Richter als typische Juristen dazu berufen, die festgestellten Tatsachenam Maßstab der rechtlichen Vorgaben normativ zu bewerten;52 allerdings haben siegleichzeitig an der normativen Verschlossenheit festzuhalten, die auf eine Bewertungoder Einschätzung empirischer Unsicherheit verzichten muss. Demgegenüber bemühtsich der Gesetzgeber um die zukunftsorientierte politische Gestaltung,53 die gerade nichtvon normativen, sondern umgekehrt von faktischen Voraussetzungen ausgehen muss.Infolgedessen muss einerseits die gesetzgeberische Bewertung von belegten Tatsachenim Rahmen des Grundgesetzes der verfassungsgerichtlichen normativen Überprüfungunterliegen; andererseits aber ist sie im wesentlichen nicht auf die normative Geschlos-senheit des Rechtssystems beschränkt. Die Folge also: Während die empirische Unsi-cherheit die Konkretisierung durch das BVerfG versperrt, hindert sie den Gesetzgebernicht daran, die in Rede stehenden Interessen zu erwägen und dadurch Recht zu setzen,denn der Gesetzgeber hat gerade die Aufgabe, eine Entscheidung nicht aus der vorge-gebenen Norm, sondern aus der Wirklichkeit und auch für die Wirklichkeit zu treffen,die sich entweder auf gesicherte Tatsachen oder auf ungewisse Zukunft beziehen kann.Gerade auf dieser Grundlage überzeugt Peter Lerches Unterscheidung zwischen derVerfassungskonkretisierung durch das Verfassungsgericht auf der einen Seite und durchden Gesetzgeber auf der anderen Seite: „In Fällen dieser Art, also gesetzgeberischerInhaltsfüllung, wird im Grunde die Verfassung nicht nur ‚konkretisiert‘. Es wird nichtein schon Vorgegebenes konkreter gemacht, fixierend ausgestaltet; vielmehr wird dieSubstanz selbst erst geschaffen, wenn auch in verfassungsrechtlichen Grenzen. Nichtnur Konkretisierung, sondern Konstituierung, Erzeugung der Substanz selbst, ist hierBefugnis und Verantwortung des Gesetzgebers.“54 Somit zeigt sich nicht nur, wodurchdie Rechtsetzungskompetenz des Gesetzgebers gegenüber der Rechtsanwendung desVerfassungsgerichts gekennzeichnet ist, sondern auch, woraus die Einschätzungs-prärogative des Gesetzgebers entsteht und entstehen soll. Eben angesichts der Grenzender Verfassungsnorm und folglich der der verfassungsgerichtlichen Konkretisierungmuss das BVerfG dem Gesetzgeber einen Einschätzungsspielraum einräumen, inner-

50 Dazu Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen (Fn. 6), S. 22 (Fn. 85) unter Hinweisauf H. Huber, Die Bedeutung der Grundrechte für die sozialen Beziehungen unter denRechtsgenossen, abgedruckt in: E. Forsthoff (Hrsg.), Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlich-keit, 1968, S. 259 ff., 284 f.

51 Hinter dem Common Law verbirgt sich jedoch eine andere Sein-Sollen-Ausrichtung. DazuO. Lepsius, Verwaltungsrecht unter dem Common Law: amerikanische Entwicklungen biszum New Deal, 1997, S. 245 ff.; ders. (Fn. 2), S. 4 ff.

52 Eben darin besteht die eigenartige Bedeutung der Rechtswissenschaft. Vgl. dazu Grimm(Fn. 34), S. 47 f.; Lepsius (Fn. 2), S. 11-13.

53 Dazu näher Badura (Fn. 19), S. 542; Ossenbühl (Fn. 2), S. 501 f.54 P. Lerche, Facetten der „Konkretisierung“ von Verfassungsrecht, in: ders. (Fn. 22), S. 86 ff.,

103. Dort hat Lerche offensichtlich einen relativ lockeren bzw. extensiven Begriff der Kon-kretisierung angenommen.

46 Shu-Perng Hwang

Page 48: Das ganze Heft als PDF-Datei

halb dessen der Gesetzgeber die Befugnis hat, aufgrund ungewisser Tatsachen eine Re-gelung zu erlassen. So gesehen kann die verfassungsgerichtliche Überprüfung einergesetzgeberischen Prognose zu weit gehen, indem sie sich nicht nur auf das Verfahrensowie das Ergebnis der Prognose,55 sondern darüber hinaus auf den Regelungsinhaltanhand der Prognose erstreckt. Insoweit ist der abweichenden Meinung der RichterinnenOsterloh und Lübbe-Wolff und des Richters Gerhardt zum Urteil des Zweiten Senatsvom 27. Juli 2004 zu folgen, als sie diese Entscheidung so kritisierte, dass „das BVerfGbei der Prüfung der Bundeskompetenz zur Entscheidung über Sachfragen politischerNatur genötigt wird, für deren Beurteilung keine verfassungsrechtlichen Maßstäbe vor-handen sind.“56 Da die im Art. 72 Abs. 2 GG vorgegebenen Tatbestandmerkmale le-diglich die Regelungsvoraussetzungen des Bundesgesetzgebers umfassen, darf sich dieTatsachenermittlung des BVerfG nicht auf den bundesgesetzgeberischen Regelungsin-halt erstrecken, dem eine zukunftsorientierte, auf Ungewissheit basierende und infol-gedessen nicht in verfassungsrechtliche Tatbestände umzusetzende und auch nicht amMaßstab der Verfassung zu überprüfende Beurteilung zugrunde liegt.57 Die Einschät-zungsprärogative des Gesetzgebers hat das BVerfG gerade deshalb zu beachten, weilsie das Vorliegen von empirischer Unsicherheit voraussetzt, die die verfassungsgericht-liche Rechtsanwendung, nicht aber die gesetzgeberische Rechtsetzung blockiert.

55 Vgl. dazu BVerfGE 106, 62 (152 f.); 111, 226 (255): „Der Prognose müssen Sachverhalts-annahmen zu Grunde liegen, die sorgfältig ermittelt sind oder sich jedenfalls im Rahmen dergerichtlichen Prüfung bestätigen lassen. Die Prognose muss sich methodisch auf ein ange-messenes Prognoseverfahren stützen lassen, und dieses muss konsequent verfolgt wordensein. Das Prognoseergebnis ist daraufhin zu kontrollieren, ob die die prognostische Einschät-zung tragenden Gesichtspunkte mit hinreichender Deutlichkeit offen gelegt worden sind oderihre Offenlegung jedenfalls im Normenkontrollverfahren möglich ist und ob in die Prognosekeine sachfremden Erwägungen eingeflossen sind.“ An dieser Stelle zeigt sich wiederumdeutlich, dass das BVerfG um so konkretisierungs- und überprüfungsfähiger wird, je aus-führlicher die verfassungsrechtlichen Tatbestandmerkmale sich darstellen. Auf der anderenSeite ist jedoch nicht zu vernachlässigen, dass, wie schon dargelegt, auch im Rahmen derVoraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG die empirische Ungewissheit über die verfassungs-rechtlichen Tatbestände hinausgehen und die Konkretisierungsfähigkeit des BVerfG hindernkann.

56 BVerfGE 111, 226, 274 ff. (278).57 Deshalb fuhr die abweichende Meinung fort: „Indem die Senatsmehrheit über die Prüfung

der Erforderlichkeit des Zugriffs des Bundesgesetzgebers auf einen bestimmten Regelungs-gegenstand (hier: Voraussetzungen des Zugangs zum Professorenberuf) hinaus nun auch dieErforderlichkeit des jeweiligen Regelungsinhalts (hier: Juniorprofessur statt Habilitation)zum Gegenstand der Kompetenzprüfung nach Art. 72 Abs. 2 GG macht, verschiebt sie diemateriellrechtliche Erforderlichkeitsprüfung auf die Kompetenzebene. Damit wird auch dieinhaltliche Gesetzesgestaltung an die in Art. 72 Abs. 2 GG genannten Zielgrößen der Erfor-derlichkeit gebunden, dem Gesetzgeber also die Freiheit der politischen Zielwahl genommen.Zudem vorverlagert die Senatsmehrheit die inhaltsbezogene Erforderlichkeitsprüfung damitauf ein Feld, auf dem nach der Entscheidung des Senats zum Altenpflegegesetz ein Beurtei-lungsspielraum des Gesetzgebers nicht anzuerkennen ist.“ (S. 279).

Die Begründung der gesetzgeberischen Einschätzungsspielräume 47

Page 49: Das ganze Heft als PDF-Datei

Folgen: Die Einschätzungsspielräume des Gesetzgebers aus arbeitsteiligenErwägungen

Während gesicherte Tatsachen sich zum Gegenstand und gleichzeitig auch zum Inhaltder Verfassung machen und gerade in diesem Sinne als rechtserhebliche Tatsachen dieKonkretisierung des BVerfG ermöglichen, wobei die verfassungsgerichtliche Bewer-tung unumgänglich wird und insofern den Einschätzungsspielraum des Gesetzgebersausschließt,58 führt hingegen die empirische Unsicherheit im Rahmen der Tatsachener-mittlung folgerichtig zu einer Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers, dessenRechtsetzungskompetenz im wesentlichen zukunftsbezogen und infolgedessen daraufverpflichtet ist, empirische Ungewissheit durch politische Beurteilung und Gestaltungzu überwinden. So gesehen lassen sich die Einschätzungsspielräume des Gesetzgebersnicht durch das Demokratieprinzip, sondern erst durch die methodologische Trennungzwischen gesetzgeberischer Rechtsetzung und verfassungsgerichtlicher Rechtsanwen-dung begründen, die die normativen Vorgaben der Verfassung voraussetzen und des-wegen die verfassungsrechtlichen normativen Grenzen in sich aufnehmen muss, außer-halb denen der Gesetzgeber seinen Ort findet.

Aus dieser Perspektive ist weiterhin festzustellen, dass die hier vertretenen arbeits-teiligen Erwägungen, die gerade von der Gegenüberstellung zwischen Sein und Sollen,zwischen Faktizität und Normativität und zwischen Rechtsetzung und Rechtsanwen-dung ausgehen, nicht nur für die Herausstellung der Eigenschaft sowie der Grenze derRechtswissenschaft gegenüber ihren Nachbarwissenschaften,59 sondern darüber hinausfür die Erklärung der Gewaltengliederung zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit undGesetzgebung gelten. Die Abstufung unterschiedlicher Kontrolldichte hängt in dieserHinsicht gerade von der Reichweite der normativen Maßstäbe individueller Verfas-sungsvorschriften ab. Alle ins Spiel kommenden Kriterien – sowohl die Eigenart des inRede stehenden Sachbereichs als auch die Bedeutung der auf dem Spiele stehendenRechtsgüter – sind im Rahmen der methodologischen Gegenüberstellung von Recht-setzung und Rechtsanwendung zu begreifen. So betrachtet soll einerseits die verfas-sungsgerichtliche Bewertung von belegten und sich deswegen in verfassungsrechtlicheTatbestände umsetzenden Tatsachen, die als juristische Aufgabe gilt, nicht aus kompe-tenzrechtlichen Überlegungen bzw. aus den sog. demokratischen Gründen vorgeworfenwerden. Andererseits aber darf sie ohne verfassungsrechtliche Vorgaben nicht eintreten,die die ungewissen empirischen Daten nicht zum Gegenstand machen und sie in diesemSinne freilassen müssen. Gerade auf der Grundlage, dass die Verfassung als Rechtsnormnur begrenzte Wirklichkeit durch die rechtsanwendende verfassungsgerichtliche Kon-trolle regeln kann und will, rechtfertigen sich die Einschätzungsspielräume des Gesetz-gebers.

IV.

58 Vgl. dazu BVerfGE 106, 62 (151): „Soweit hingegen Unsicherheiten der Prognose durchgesicherte empirische Daten und verlässliche Erfahrungssätze ausgeräumt werden können,scheidet ein Prognosespielraum aus.“.

59 Zur Grenzziehung zwischen Rechts- und Sozialwissenschaft durch eine auf der Sein-Sollen-Dichotomie beruhende arbeitsteilige Erwägung vgl. Lepsius (Fn. 2), S. 3 ff.

48 Shu-Perng Hwang

Page 50: Das ganze Heft als PDF-Datei

Alltagspraxis richterlicher Gesetzesbindung und ihre institutionellenVoraussetzungen

Um die „Rechtslage“ einzuschätzen, orientieren sich Juristen erstaunlicherweise immernoch an Gesetzestexten; gegebenenfalls ergänzt durch einen Blick in den einschlägigenKommentar und, wie es scheint, entsprechend angeleiteter Subsumtion. Erstaunlich istdies, weil angesichts der Befunde der Rechtstheorie schwerlich davon ausgegangenwerden kann, dass unterschiedliche Rezipienten desselben Textes zu gleichen Ergeb-nissen kommen werden. Denn die Vorstellung, man „subsumiere“ den Sachverhalt untereine Rechtsnorm, wird spätestens seit den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts für naiv,simplifizierend oder sogar für völlig unangemessen gehalten.1 Dennoch reklamierengerichtliche Entscheidungsbegründungen für sich in aller Regel eine so zwingende Ein-deutigkeit, dass man meinen könnte, dies geschehe vor einem methodentheoretischenHorizont ungebrochener Begriffsjurisprudenz. Winfried Hassemer hat zu solchen Wi-dersprüchen bereits 1972 bedauernd angemerkt, dass zwischen juristischer Praxis undihrer Theorie leider kein merkbarer Rückkoppelungseffekt bestehe.2

Der aktuelle Disput

Mit gutem Grund nimmt die seit 2006 wieder aufgelebte Diskussion um die richterlicheGesetzesbindung3 diesen Widerspruch auf. Dabei wird aus einer eher demokratietheo-retischen Perspektive das Prinzip der Gewaltenteilung mit der Frage ins Verhältnis ge-setzt, ob sprachlich gefasste rechtliche Regeln richterliches Handeln leiten können undsollen. Auffallend ist, dass die aktuellen Stellungnahmen zwischen zwei Extremenschwanken: Einerseits wird die richterliche Bindung an legislativ vorgegebene Texteunbeirrt eingefordert, andererseits wird entschieden postuliert, gerade dies sei aufgrunddes rechtskonstruktiven Aspekts jeder richterlichen Entscheidung geradezu ein Ding derUnmöglichkeit.

Etwas überpointiert könnte man letztere Position wie folgt paraphrasieren: Rechts-texte können in rechtliches Handeln gar nicht anders umgesetzt werden als durch rechts-schöpferische Dezision des entscheidenden Gerichts. Denn zum einen ist Sprache zuvage und unbestimmt, zum anderen lässt die ungeregelte juristische Methodenvielfaltkeine zwingende Selektion von Handlungsmöglichkeiten zu. Aus dieser Perspektivewird Recht tendenziell auf den prozeduralen Charakter der Prozessabläufe, die Auslese

I.

1 Statt vieler F. Müller, Juristische Methodik, 6. A. 1995, S. 79 ff., 156 f.2 Juristische Argumentationstheorie und juristische Didaktik, in: Hans Albert et al., Rechtstheo-

rie als Grundlagenwissenschaft der Rechtswissenschaft, 1972, S. 467 (472).3 G. Hirsch, ZRP 2006, S. 161; FAZ v. 30.4.2007, S. 8; Grasnick, FAZ v. 4.1.2008, S. 36; Möl-

lers, FAZ v. 26.10.2006, S. 37; Jeep, FAZ v. 29.11.2006, S. 21; Ullmann, FAZ v. 29.11.2006,S. 21; Kloke, FAZ v. 29.11.2006, S. 21; Rüthers, JZ 2006, S. 53; ders., FAZ v. 27.12.2006,S. 31; ders., ZRP 2008, S. 48; ders., JZ 2008, S. 446; G. Roellecke, FAZ v. 30.1.2007, S. 34;D. Simon, Myops 1/2007, S. 21; Hassemer, ZRP 2007, 213; M. Kriele, ZRP 2008, S. 51.

Dilip D. Maitra

Page 51: Das ganze Heft als PDF-Datei

derjenigen, die entscheiden, und den legitimatorischen Anstrich reduziert, den die Be-rufung auf Rechtsquellen ermöglicht. Wem eine solch schmale Basis rechtlicher Bin-dung zu unbestimmt und damit in demokratietheoretischer Hinsicht problematisch er-scheint, der versucht die richterliche Gesetzesbindung durch Methodenkritik zu retten:So will etwa Rüthers den derzeit praktizierten Methodenpluralismus durch eine strikteEinschränkung und Stufenfolge zulässiger Auslegung disziplinieren.4 Vorschläge dieserArt sind nicht ganz neu.5 Wer Textverstehen jedoch für einen hermeneutischen Vorganghält, der keine objektive überindividuelle Leistung darstellt, sondern sich entlang auchsubjektiv geprägter Vorverständnisse vollzieht,6 wird bezweifeln, dass sich richterlicheDezision auf diese Weise stärker an Gesetzestexte binden lässt.

Gesetzesbindung im forensischen Alltag

Indes scheint es um das Anliegen richterlicher Gesetzesbindung gar nicht so schlechtbestellt zu sein, wenn man sich die forensische Alltagspraxis aus einer eher rechtsso-ziologischen Perspektive vor Augen hält und dabei den Fokus stärker auf die Instanz-gerichte lenkt. Auch dieser Blickwinkel ändert allerdings nichts daran, dass jede Vor-stellung richterlicher Gesetzesbindung voraussetzt, dass zwischen Gesetzestext, Text-verständnis und richterlicher Entscheidung ein Zusammenhang besteht, der deutlichüber den legitimatorischen Anstrich des für richtig Befundenen hinausgeht. Die zentraleFrage lautet also, ob sich Mechanismen eines solchen Zusammenhangs feststellen las-sen. Nicht von ungefähr wird auch von rechtssoziologischer Seite teilweise nachdrück-lich bestritten, dass gerichtliche Begründungen den handlungsleitenden Motiven beiHerstellung der Entscheidung entsprechen.7 Daran ist jedenfalls richtig, dass zwischenHerstellung und Darstellung richterlicher Urteile sorgfältig zu unterscheiden ist.8 Aberselbst methodenkritisch Gestimmte werden einräumen, dass sich längst nicht jede mög-liche Entscheidung gleich gut begründen lässt. Manche lässt sich gar nicht begründenoder nur mit erheblichem Aufwand und deutlich geringeren Chancen, professionsinternauf Zustimmung zu stoßen. Wer forensisch arbeitet, für den konstituiert diese Erfahrunggeradezu einen erheblichen Teil der juristischen Alltagspraxis.

Präferenzen für kommunikative Gemeinsamkeiten

Versuchen wir es also probeweise mit der Hypothese, dass es für Juristinnen und Juristenin den meisten Fällen einen Fundus gemeinsam geteilter Präferenzen für bestimmte

II.

1.

4 Rüthers, ZRP 2008, S. 48.5 Nachweise bei M. Deckert, Folgenorientierung in der Rechtsanwendung, 1995, S. 39 f.6 Grundlegend hierzu J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1972,

S. 136 ff. und passim.7 Exemplarisch Rottleuthner, Richterliches Handeln, 1973, S. 11 ff., 28 ff., 57, 61 ff.8 Luhmann, Recht und Automatisation in der öffentlichen Verwaltung, 1966, S. 51; Rottleuth-

ner (o. Fußn. 7), S. 63; ähnlich differenzieren J. Esser (o. Fußn. 6), S. 7, 112 ff.; Jost, Sozio-logische Feststellungen in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen, 1979,S. 25 f.; H. A. Hesse, JZ 1996, S. 449 (453 f.); Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, S. 144;ders., Theorie der juristischen Argumentation, 1991, S. 282; Kriele, ZRP 2008, S. 51 (52).

50 Dilip D. Maitra

Page 52: Das ganze Heft als PDF-Datei

Begründungen und Begründungsformen gibt. Sollte dies richtig sein, dann muss manwohl auch davon ausgehen, dass die Alternativen richtigen Begründens die Möglich-keiten rechtlichen Entscheidens erheblich limitieren. Dies gilt vielleicht nicht für jedenFall. Denn in den so genannten „hard cases“ mögen sich Entscheidungen durchsetzen,die von solchen Präferenzen abweichen. Jedenfalls aber gilt es für den Regelfall desinstanzgerichtlichen Alltags, der für die Rechtssicherheit und die Erwartungsbildungder Nachfrager rechtlicher Entscheidungen zentral ist. Vor diesem Hintergrund ist derHinweis auf die faktisch vergleichsweise großen Freiheiten der Ober- und der Verfas-sungsgerichte möglicherweise nicht geeignet, die Frage richterlicher Gesetzesbindungfür das gesamte Rechtssystem zu beantworten.

Wer methodenkritisch reflektiert, dem wird die oben gewählte Formulierung „gutbegründen“ wenig zusagen. In der Tat ist es eine zentrale Frage, ob und wie sich unsereAlltagserfahrung, dass es mehr oder weniger gute Begründungen gibt, wissenschaftlichfassen lässt. Mit der vagen Berufung auf Evidenz ist es nicht getan. Juristische Begrün-dungspräferenzen rätselhaften Konsensen oder einer vereinigenden Kraft der Sprachegeschuldet zu sehen, kann mit Blick auf die Ergebnisse der sprachtheoretisch angelei-teten Rechtstheorie wenig befriedigen. Die juristische Argumentationstheorie beant-wortet die Frage allenfalls teilweise, weil sie die Güte von Argumenten wägt und be-schreibt, sich aber nicht damit beschäftigt, welche Mechanismen empirisch dazu moti-vieren, „guten“ oder auch nur bestimmten Argumenten mehr als anderen zu folgen.

Besser lässt sich die Bildung juristischer Begründungspräferenzen in soziologischenKategorien fassen. Solche Präferenzen sind ein sehr voraussetzungsvolles Phänomen,das auf einer Vielzahl ineinandergreifender und komplexer sozialer Mechanismen be-ruht.9 Zu nennen sind hier zunächst ähnliche Ausbildungserfahrungen und die in vielemähnliche Alltagspraxis, die unter Juristen konvergierende Präferenzen sichern, Rechts-texte in ähnlicher Weise zu verstehen und etwaige Differenzen stets durch Rückgriffauf die nächste gemeinsame Präferenz auszutragen. Vermittelt über institutionell gesi-cherte Abnahmezwänge, vor allem den Rechtsweg und das kollegialgerichtliche Zu-sammenwirken, verstärken diese Pfadbahnungsmechanismen Begründungslasten fürungewöhnliche, seltene und neue Argumentationen. All diese Mechanismen konstitu-ieren einen komplexen und anspruchsvollen Fundus kommunikativer Gemeinsamkeitender Professionsangehörigen der juristischen Sprachgemeinschaft.

Sprachliche Interaktion

Aus sprachkritischer Perspektive könnte man einwenden, dass solche kommunikativenGemeinsamkeiten keinesfalls als fester Konsens existieren, weil Sprache vage undmehrdeutig ist. Zudem beruht Verstehen immer auch auf subjektiver Prägung und hängtvon der konkreten Sprachsituation ab.10 Niemand weiß sicher, wie der andere eineÄußerung versteht. Jeder an sprachlicher Interaktion Beteiligte handelt jedoch auf Basis

2.

9 Mehr als eine knappe Skizze ist an dieser Stelle nicht möglich. Eingehend hierzu Maitra,Regeln und Prinzipien, 2006, S. 89 ff.

10 Hunde lachen nicht. Aber, um ein Beispiel der Linguistik aufzugreifen, als Antwort auf dieFrage, wo das Steak geblieben ist, wird der Hinweis auf einen lächelnden Hund situations-bezogen verstanden.

Alltagspraxis richterlicher Gesetzesbindung und ihre institutionellen Voraussetzungen 51

Page 53: Das ganze Heft als PDF-Datei

erfahrungsgeprägter Vermutungen, wie bestimmte Zeichenfolgen, etwa die eigene Aus-sage oder Äußerungen Dritter von anderen verstanden werden. Ein auf intersubjektivenVerstehensprozessen basierendes Modell kann daher nicht mit Gewissheiten, sondernlediglich mit Wahrscheinlichkeiten und Unwahrscheinlichkeiten arbeiten. Zu solchenWahrscheinlich- und Unwahrscheinlichkeiten gelangt man, weil sprachliche Interaktionstets auf den kommunikativen Vergangenheiten der Interagierenden beruht, die nie nurindividuelle, sondern stets auch soziale sind. Ähnliche Vergangenheiten und gleichläu-fige Erfahrungen, die in ähnlichen Situationskontexten gemacht werden und als Erfah-rungshorizonte Wahrnehmung und Weltwissen der Akteure prägen, führen zwar nichtzu einer starr fixierbaren Übereinstimmung von individueller Wahrnehmung, Zeichen-verwendung und Sinnzuordung. Sie erhöhen aber die Wahrscheinlichkeit, dass die Ver-ständnisse der Mitglieder einer professionellen Sprachgemeinschaft aufgrund von be-reits einmal in Teilen ähnlich erlebten Situationen konvergieren. Das professionelleErlernen sprachlicher Konventionen, Redewendungen, pragmatischer Routinen, gehtmit spezifischen Vorstellungen dessen, „was typisch ist“, einher.11

In diesem approximativ eingeschränkten Sinn konstituiert sich die juristische Sprach-gemeinschaft geradezu durch gemeinsame kommunikative Vergangenheiten: Wer imkonkreten Fall ein anderes Textverständnis geltend machen will, muss sich in kommu-nikative Distanz zu diesen Gemeinsamkeiten begeben: Will er die Chancen auf Abnah-me seiner Begründung (und damit auch seiner Entscheidung) wahren oder steigern, dannmuss er durch Rekurs auf andere gemeinsame Textverständnisse argumentativ nach-weisen, dass sich sein Textverständnis in das Gesamtensemble dogmatischer und prä-judizieller Vorgaben gut einpasst, und zwar besser als andere Verständnisse, insbeson-dere die bisher dominierende Lösung. Damit legitimiert die Berufung auf h.M. undPräjudizien zugleich „Dissens und das Sich-Verlassen auf Konsens“12 – mit einer Prä-ferenz für den status quo des aktuell hegemonialen Textverständnisses und damit: einerEinschränkung von Entscheidungsspielräumen.

Kommunikative Distanz wird also eingeholt durch Rekurs auf kommunikative Ge-meinsamkeiten. Man kann als Anwalt oder als Instanzgericht die eigene Rechtsauffas-sung durch die herrschende Meinung und die obergerichtliche Judikatur rechtfertigen.Wer aber eine damit nicht begründbare Entscheidung wünscht oder rechtfertigen will,der muss weiter ausholen und die eingefahrenen Argumentationsbahnen verlassen.13

Dies kostet Zeit und Arbeit, beides Ressourcen, die insbesondere im forensischen Alltagäußerst knapp sind. Außerdem ist es tendenziell unwahrscheinlicher, dass das Gerichtoder die nächste Instanz neuen Textverständnissen und damit Begründungsmöglich-keiten folgen, als wenn man sich auf die herrschende Meinung oder ein oberinstanzlichesPräjudiz berufen kann. Abweichen von Vorgegebenem wirkt zudem emotional beun-ruhigend, zumal dies keine Tugend ist, die in der den professionellen juristischen Ha-

11 Ähnl. Sobota, Stimmigkeit als Rechtsstruktur, in: ARSP 1991, S. 243 (251 ff.), im Anschlussan den britischen Rechtstheoretiker Bernard S. Jackson; grundlegend zum typisierenden, d.h.an Analogien orientierten Denken Bernhard Waldenfels, Ordnung im Zwielicht, 1987,S. 51 ff., bes. 63 ff.

12 N. Luhmann, Rechtssoziologie, 3. A. 1987, S. 289.13 Ähnl. zum Prozess des Abgleichens mit Präjudizien Kriele, ZRP 2008, S. 51 (52).

52 Dilip D. Maitra

Page 54: Das ganze Heft als PDF-Datei

bitus formenden Ausbildung sonderlich geschult wird.14 All dies erzwingt insbesondereinnerhalb des Rechtsstabs einen großen Bedarf an kurzen, routineförmigen Begrün-dungsmöglichkeiten.

Routinemäßiges Begründen entlang von Konditionalprogrammen

Routinemäßiges Begründen wird im Wesentlichen dadurch ermöglicht, dass weiteRechtsgebiete durch Regeln, verstanden als Konditionalprogramme, dominiert werden.Sowohl Luhmann als auch Alexy haben diesen die forensische Alltagspraxis prägendenNormtyp beschrieben:15 Konditionalprogramme wie Regeln sind Normkonstrukte, diefestlegen, dass bestimmte Ursachen entlang eines strikten Wenn/Dann-Schemas be-stimmte Konsequenzen zur Folge haben sollen, also die klassische Tatbestands-/Rechts-folge-Struktur aufweisen. Während die Wenn-Komponente, der Tatbestand, die Aus-filterung der entscheidungsrelevanten Informationen ermöglicht, ordnet die Dann-Komponente verbindlich eine bestimmte Konsequenz an. Letztere kann in einer Rechts-folge bestehen oder in einer rechtsinternen Verknüpfungsanordnung, durch die Vor-aussetzungen oder Folgen der in Rede stehenden Kernvorschrift spezifiziert, erweitertoder eingeschränkt werden.16 Daraus ergeben sich komplexe Netzstrukturen. Denn derObersatz, der gebildet wird, um die Entscheidung als Subsumtion darzustellen, ist meisteine Vernetzung verschiedener Einzelnormen. Diese sind miteinander durch Rechtsbe-griffe, die man als Knotenpunkte17 oder Schaltstellen bezeichnen kann, verknüpft. VomKnotenpunkt „fahrlässig“ im Normtext des § 823 I BGB gelangt man zur Legaldefini-tion des § 276 II BGB, von dort zu den in Rechtsprechung und Lehre vorgenommenenPräzisierungsversuchen und Kasuistiken. Das Wissen um solche Netzstrukturen und dieFähigkeit, sie schnell und umstandslos zu erfassen, machen einen wesentlichen Teiljuristischer Professionalität aus.

Strukturen in Konditionalform eignen sich besonders gut, schnell, also mit geringst-möglichem Aufwand an Zeit und Arbeit Entscheidungen so zu begründen, dass eineAbnahme durch die meist juristisch vertretenen Parteien, höhere Instanzen und dieRechtswissenschaft wahrscheinlich erscheint. Der Raum der Darstellungsmöglichkei-ten (und damit zugleich der Raum möglicher Entscheidungen) wird ausgelotet, indemer in kleine gedankliche Elemente zerlegt wird, die jeweils durch Vergleich mit vor-handenen Interpretationen auf ihre Möglichkeiten für Konsens und Dissens hin befragtund verglichen werden.18 Jeder Knotenpunkt kann als Relevanzkriterium einer Kondi-tionalnorm zum Problem werden, das dann durch Begriffsdefinitionen „gelöst“ wird.Etwaige Problemfälle erschüttern nicht das ganze Ensemble der in Konditionalformkondensierten Falllösungserfahrungen, sondern nur Einzelelemente. Selbst an solchen

3.

14 Vgl. D. Fabricius, Anpassungs- und Abwehrmechanismen, in: Greive (Hrsg.), Die Rolle derRichter und Richterinnen zwischen Rechtsprechung und Politik, 1995, S. 71 (76 ff., 84);ders., Selbst-Gerechtigkeit, 1996, S. 120 ff.; Maitra (o. Fußn. 9), S. 153 ff.

15 Luhmann (o. Fußn. 12), S. 88; R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, S. 76.16 Vgl. Lübbe-Wolf, Rechtsfolgen und Realfolgen, 1981, S. 26 ff., 40 ff.17 So Lübbe-Wolf (o. Fußn. 16), S. 40 ff.18 Vgl. Kißler, Recht und Gesellschaft, 1984, S. 115; Luhmann (o. Fußn. 12), S. 285 ff.; J. Es-

ser (o. Fußn. 6), S. 33.

Alltagspraxis richterlicher Gesetzesbindung und ihre institutionellen Voraussetzungen 53

Page 55: Das ganze Heft als PDF-Datei

Punkten werden Präjudizien und der Verweis auf eine herrschende Meinung genutzt,um die eigene Argumentation abzukürzen und die Chance für Folgebereitschaft undAbnahme zu vergrößern.

Hard Cases

Diese die Stabilität des Rechts garantierenden Mechanismen werden insbesondere inden so genannten „hard cases“ relativiert. Charakteristisch für solche Fälle ist, dassaußerhalb des Rechts kommunizierte Rationalitäten, Problembewertungen und Argu-mente moralischer, politischer oder ökonomischer Provenienz mit Nachdruck solcheEntscheidungsvarianten nahelegen, die sich nicht innerhalb der Bandbreite des bislangrechtlich Begründbaren rechtfertigen lassen. Daraus ergeben sich Entscheidungssitua-tionen, die aufgrund ihrer emotionalen Intensität und des daraus resultierenden Beun-ruhigungsgehalts eine Form des „mental switching“19 nahelegen. Man überprüft, ob derbisherige, routinegesicherte Alternativenraum erweitert werden kann. Solche Entschei-dungssituationen fördern neue und häufig als Bruch mit tradierten Begründungskon-ventionen wahrgenommene Lösungen und deren Abnahme. Werden in den jeweiligenBegründungen die darin aufscheinenden, bislang rechtsexternen Wertungen explizitthematisiert, so öffnet sich an diesem Punkt rechtliche Kommunikation für außerrecht-liche Argumente. Diese werden durch rekursive Bezugnahmen dann ihrerseits Bestand-teil rechtsspezifischer Texttraditionen. Einbruchstellen solcher teilweise abrupt erfol-genden Brüche mit tradierten Textverständnissen sind insbesondere Generalklauselnund prinzipienorientierte Argumentationsformen. Topische Argumente, Interessen- undPrinzipienabwägungen sowie die Ausfüllung von Blankettnormen erscheinen aus ju-ristischer Sicht beliebiger als Konditionalprogramme. Sie erleichtern die Aufnahmerechtsextern kommunzierter Argumente, Rationalitäten, Bewertungspräferenzen in denrechtlichen Diskurs. Damit laufen sie spezifisch juristischen Routinen, die sich primäran den Eigenwerten professsionstypischen Textverstehens orientieren, sowie Rechtssi-cherheit und Gleichbehandlung tendenziell zuwider.

Im juristischen Alltag jedoch überfordern solche weichen Rechtsformen mit inak-

zeptablen Rationalitätszumutungen sowie Abnahmeungewissheiten, erzeugen indivi-duell wie im Rechtssystem Unruhe und Unsicherheit. Zudem gehen sie zu Lasten knap-per Ressourcen (Zeit und Arbeit). Über kurz oder lang werden sie daher wieder durchPräjudizien, Fallgruppenbildung und Dogmatisierungsbestrebungen routinisiert.20 Esbildet sich eine juristische Eigenlogik aus, die sich – bis auf weiteres – gegen Sachar-gumente und Bewertungen moralischer, wirtschaftlicher oder politischer Provenienzabschottet. Selbst in Bereichen, die stärker durch weiche Normen, also Zweckprogram-me, Generalklauseln und Prinzipien, dominiert werden, weist die Rechtspraxis eine

III.

19 Zu dem der Entscheidungstheorie entlehnten Begriff vgl. Birger P. Priddat, Risiko, Unge-wißheit und Neues: Epistemologische Probleme ökonomischer Entscheidungsbildung, in:Banse (Hrsg.), Risikoforschung zwischen Disziplinarität und Interdisziplinarität, 1996,S. 105 ff. (117).

20 Solche Prozesse lassen sich etwa am Beispiel der Persönlichkeitsrechtsentwicklung nach-weisen; vgl. Maitra (o. Fußn. 9), S. 285 ff.

54 Dilip D. Maitra

Page 56: Das ganze Heft als PDF-Datei

starke Tendenz auf, diese einer Routinisierung zugänglich zu machen, indem sie durchPräjudizien und Fallgruppenbildungen herunterkonditionalisiert werden.

Entscheidungsroutinisierung durch Limitierung der Darstellungsmöglichkeiten

Das in soziologischer Hinsicht interessante Phänomen liegt in folgendem: Die primärerichterliche Pflicht, Streitfälle verbindlich zu entscheiden, läuft im Grunde jeder Routineund Regelhaftigkeit zuwider. Entscheidungen eignet stets ein starkes Element der Sin-gulariät. Die Funktionalität von Regeln und Routinen aber liegt gerade darin, die sin-guläre Kontingenz von Entscheidungen auszumerzen und damit gesellschaftliche Kom-plexität sowie den durch zeitlich ungebremstes Räsonieren verursachten Ressourcen-verbrauch zu reduzieren. Man muss nicht die Vielzahl aller möglichen Entscheidungs-kriterien abarbeiten, sondern kann sich weitgehend damit begnügen, Ähnlichkeiten zuvorhergehenden Fallentscheidungen abzugleichen. Da jedoch jeder Fall als Streitfallsignalisiert, dass die einschlägigen Routinen, Regeln und Konventionen konkret inZweifel gezogen wurden, können Begründungsroutinen das dezisionistische Elementvon Gerichtsentscheidungen nicht vollständig ersetzen. Singuläre Entscheidungen anBegründungsroutinen zu binden, kann daher stets nur in Näherungen gelingen. Begrün-dungsroutinen reduzieren nur den Alternativenhorizont und damit das Ausmaß erfor-derlichen Entscheidens. Dieser Alternativenhorizont aber lässt sich – und genau diesmacht seine Stabilität aus – nur um den Preis der oben skizzierten Kostenlast erweitern.

Rechtspolitische Konsequenzen

Hält man vorstehende Skizze für zutreffend, dann stellt sich die Frage nach der richter-lichen Gesetzesbindung weniger auf dogmatischer oder rechtstheoretischer Ebene, son-dern in ganz handgreiflicher rechtspolitischer Hinsicht. Denn die beschriebenen Me-chanismen haben institutionelle Voraussetzungen, die aufgrund vergangener Reformenwie aktueller Reformbestrebungen gefährdet sind. An höchstrichterlicher Rechtsset-zung verzweifelt und entzündet sich die Debatte um die richterliche Gesetzesbindungim Grunde nur, weil dort offensichtlich wird, was insgesamt gilt: In gleichem Maße,wie Abnahmezwänge abnehmen, wächst die Freiheit richterlicher Dezision. DiesemPhänomen durch Forderungen an eine andere, bessere juristische Methodik begegnenzu wollen, erscheint ein wenig hilflos. Denn schließlich sind es die Richterinnen undRichter selbst, die in letzter Instanz entscheiden, nach welcher Methodik sie begründen.Solange es jedoch nur die obersten Bundesgerichte und die Verfassungsgerichte sind,die solche Freiheiten von übergeordneter Kontrolle weitgehend unbeeinträchtigt genie-ßen, muss man damit wohl leben. Sicher wäre mancher höchstrichterlichen Urteilsbe-gründung eine sorgfältigere Auseinandersetzung mit anderen Meinungen und etwasmehr Wertschätzung rechtswissenschaftlicher Äußerungen zu wünschen. Doch ist esnun einmal so: Irgendwann muss jemand letztverbindlich entscheiden. Das bedingt

IV.

V.

Alltagspraxis richterlicher Gesetzesbindung und ihre institutionellen Voraussetzungen 55

Page 57: Das ganze Heft als PDF-Datei

zwangsläufig wesentlich größere Freiheiten als jene, über die Richter der Vorinstanzenverfügen.21

Was aber fatal ist und stets mit einer Einbuße an Rechtssicherheit, Erwartungsbildungund eben Gesetzesbindung bezahlt wird, ist die Tendenz, diesen Ausnahmefall am Endeeines in der Regel dreigliedrigen Instanzenwegs in einer immer größeren Vielzahl vonKonstellationen zum Regelfall des gerichtlichen Alltags zu machen, indem man denInstanzenweg sowie Rechtsmittel beschneidet, Einzelrichter an die Stelle von Kollegi-algerichten setzt und Richter der gleichen Instanzenebene über die mögliche Befangen-heit ihres potentiell den gleichen Mittagstisch teilenden Kollegen entscheiden lässt.22

Die Gehörsrüge, über die der gerügte Richter selbst befindet (§ 321 a ZPO), ist der au-genscheinlichste Ausdruck solcher Praxisferne politischer Entscheidungsträger, die je-der Psychologie und Menschenkenntnis Hohn spricht.23 Reformen mit dem auf Perso-naleinsparung zielenden Rotstift zu schreiben, mag partiell die Justizkassen entlasten.Aber die Allgemeinheit bezahlt teuer für diesen Willkürentscheidungen tendenziellVorschub leistenden Unsinn. Das solche Maßnahmen legitimierende Zerrbild, Rechts-mittel dienten vor allem den Interessen geldgieriger Anwälte und unbelehrbarer Streit-hansel, überdeckt, dass der mehrstufige Instanzenzug eine zentrale Funktionsbedingungunseres Rechtssystems ist. Vor allem die durch ihn institutionell abgesicherten Abnah-meerfordernisse sind es, die richterlichen Versuchungen entgegenstehen, entlang sub-jektiver Präferenzen und damit möglichst frei von rechtlicher Bindung zu entscheiden.Richterliche Gesetzesbindung, verstanden als eine Präferenz für Begründungen, die sichim gesicherten Rahmen juristisch tradierter kommunikativer Gemeinsamkeiten halten,ist nicht billig zu haben. Denn sie setzt voraus, dass die sozialen Mechanismen, die einesolche Präferenz erzwingen, nicht unterminiert werden. Seitens der Politik wird teil-weise mit erschreckender Praxisferne verkannt, dass gutes Recht nicht allein eine Frage(einzel-)richterlicher Kompetenz und Hinweistechnik ist. Letztlich ist es vor allem derdurch Instanzenzug und Kollegialgerichte wirkende sanfte Zwang, konsistent und ten-denziell konservativ an den kommunikativen Gemeinsamkeiten rechtlicher Diskurseorientiert zu begründen, der Willkür verhindert und Rechtssicherheit gewährleistet. Da-mit sichern die Garantie eines umfassenden Instanzenwegs und der Grundsatz, dassEntscheidungen durch möglichst unabhängige Dritte zu überprüfen sind, nicht alleinindividuelle Rechtsschutzinteressen. Vielmehr sind sie konstitutiv für die Fähigkeit desRechts, flexibel auf äußere Anforderungen zu reagieren, ohne an Stabilität zu verlieren.

21 Darüber eine halbpolitische Instanz wie das Bundesverfassungsgericht zu setzen, die de factorecht frei entscheidet, ob sie Verfassungsbeschwerden annimmt, ist nachgerade ein genialerWurf. Denn damit bleibt auch höchsten Instanzen stets ein Rest disziplinierender Unsicher-heit, der allzu großen Freiheiten Grenzen setzt.

22 Über Ablehnungsgesuche wegen Besorgnis der Befangenheit entscheidet seit der Zivilpro-zessreform „ein anderer Richter des Amtsgerichts“ (§ 45 Abs. 2 S. 1 ZPO); krit. E. Schnei-der, ZAP Nr. 12/2005, Fach 13, S. 1299.

23 Vgl. E. Schneider, MDR 2006, S. 969 (971 f.).

56 Dilip D. Maitra

Page 58: Das ganze Heft als PDF-Datei

Urteilsabsprachen und Konkurrenzlehre

– Das „nach-präventive“ Strafrecht zwischen strenger Gesetzlichkeit undflexibilisiertem Verfahren –

Konstellationen

Die Praxis der Urteilsabsprachen hat sich in der Rechtswirklichkeit fest etabliert, ge-nauer gesagt, sie ist für den modernen Prozess charakteristisch geworden.1 Entwickeltwurde sie durch die Rechtsprechung; ausgestaltet weitgehend praeter legem.2 Die dem-entsprechende Verfahrensform ist Ausdruck einer verstärkt am Effektivitäts- und Be-schleunigungsinteresse ausgerichteten Gesellschaft.3 Zwar hat der 4. Strafsenat desBGH mit seinem Beschluss vom 28. August 1997 versucht, diesem Modell konsensua-ler Konfliktlösung eine rechtsangemessene und prinzipiengeleitete Kontur zu verleihen,mit dem klaren Ziel, die Absprachenregelungen in das System der herkömmlichen Ver-fahrensgestaltung zu inkorporieren.4 Allerdings ist es auch im Anschluss an diesen„höchstrichterlichen Befreiungsschlag“ nur partiell gelungen, die Praxis der Urteilsab-sprachen auf eine einheitliche Struktur zu verpflichten. Inzwischen scheinen sogar ge-genläufige (Erledigungs-)Strategien die Oberhand zu gewinnen. Vor allem die diver-gierenden Interessen, und folglich verfahrenspraktischen Differenzen zwischen Tat- undRevisionsgerichten sind kaum noch zu übersehen. Aber auch die damit verbundenenUnsicherheiten bei vielen Praktikern, ob Strafverfolgungsbehörden oder Anwaltschaft,sind mehr als offenkundig. Selbst der Große Senat für Strafsachen kommt nunmehr zuder Überzeugung, dass sich die Verständigung in ihrer derzeitigen Handhabung zuneh-mend von einem prozessual zulässigen „offenen Verhandeln“ entferne und „in dieRichtung einer quasivertraglichen Vereinbarung zwischen dem Gericht und den übrigen

I.

1 Vgl. hier nur – pars pro toto – die Analysen von Moldenhauer, Eine Verfahrensordnung fürAbsprachen, 2004; Rönnau, Die Absprache im Strafverfahren, 1990 sowie Weichbrodt, DasKonsensprinzip strafprozessualer Absprachen, 2006, Müller, Probleme um eine gesetzlicheRegelung der Absprachen im Strafverfahrensrecht, 2008, Sauer, Konsensuale Verfahrenswei-sen im Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2008, Schöch, Urteilsabsprachen in der Strafrechts-praxis, 2007; einen Überblick über den Streit- und Diskussionsstand liefern Küpper/ Bode, Jura1999, 351 ff.

2 Dies ist sicherlich die moderate Lesart; dass man das auch anders sehen und interpretieren kann,zeigen die Beiträge von Fischer, NStZ 2007, 433 (Fn. 6: der dort von einem puren Euphemis-mus spricht, „Die geltende StPO stand der Absprache von Urteilen stets eindeutig und unstreitigentgegen.“); Harms, in: FS Nehm, 2006, S. 289 ff.; Schünemann, StV 1993, 657 ff. und Gös-sel, in: FS Böttcher, 2007, S. 79 ff.

3 So jüngst analysiert von Hassemer, in: Jenseits des rechtsstaatlichen Strafrechts, 2007, 99 ff.;zum ganzen schon Stratenwerth, ZStW 105 (1993), 679 ff. und E.A. Wolff, in: Strafrechtspolitik,1987, S. 137 ff.

4 Vgl. BGHSt 43, 195; zur generellen Billigung der Absprachenpraxis siehe aber bereits denKammerbeschluss des BVerfG NJW 1987, 2662.

Benno Zabel

Page 59: Das ganze Heft als PDF-Datei

Verfahrensbeteiligten“ bewege.5 Der Grund für die hier auftretenden Komplikationenwird nicht selten in der fehlenden Institutionalisierung und rechtspolitischen Vermitt-lung gesehen. Einher geht damit die Frage nach den prozessualen Grenzen dieser (Er-ledigungs-) Strategie und – im Gegenzug – die Forderung nach einer gesetzgeberischenLösung derselben.6 Es steht allerdings zu vermuten, dass die allseits geführte Diskussionnur die Oberfläche einer wohl nicht mehr umkehrbaren Entwicklung in den Blick nimmt.Folgt man nämlich den Tiefenstrukturen kontradiktorischer Konfliktregulierungen, sowird deutlich, dass die Praxis der Urteilsabsprachen und die Strukturen des Strafpro-zesses, pointiert, die Flexibilisierung der (Verfahrens-) Form und der Geltungsanspruchdes Gesetzes, widerstreitende Interessen artikulieren, deren Harmonisierung nicht vor-schnell unterstellt werden darf.7 Freilich scheint diese Behauptung in diametralem Ge-gensatz zur gerichtspraktischen Akzeptanz der Urteilsabsprachen zu stehen. Gerade amBeispiel der Konkurrenzregelung lässt sich jedoch zeigen, wie die zunehmende Bedeu-tung der Verständigungslösung zu einer fortschreitenden Marginalisierung, man kannauch sagen, zu einer sukzessiven Neubewertung der Strafgesetzlichkeit und damit auchdes öffentlichen Strafanspruchs führt. Nun wird mit dieser Zustandsbeschreibung kei-neswegs der unaufhaltsame Niedergang des deutschen Strafprozesses annonciert, wohlaber wird dem allein pragmatischen und inzwischen auch legislatorischen Entformali-sierungstendenzen, zugunsten einer prinzipiengeleiteten (Neu-) Verortung des Verfah-rens widersprochen. Nachfolgend soll diese These vorgestellt werden, indem – andersals in den meisten Stellungnahmen – die spezifische Dynamik von individueller Frei-heitsgewährleistung und strafrechtlicher Konfliktverarbeitung offen gelegt wird (II.).Daran wird sich ein Blick auf die normativen Implikationen der gegenwärtigen Prozess-und Absprachenpraxis anschließen. Das wiederum wird die Möglichkeit eröffnen, diesystembedingten Dilemmata präzise zu beschreiben (III.) und die daraus erwachsendenKonsequenzen (IV.), vor allem aber die Perspektiven zu verdeutlichen (V.).

5 Vgl. BGH (GS) NJW 2005, 1440; zu weiteren Entscheidungen sei verwiesen auf: BGH NStZ2006, 586; BGH wistra 2006, 394; BGH NStZ 2007, 419; BGH StV 2007, 618; BGH NStZ2008, 54 sowie BGHSt 51, 84; zur Entwicklung der höchstrichterlichen Rspr. siehe Weigend,in: FS BGH 2000, S. 1011 ff.; systematisch aufgearbeitet wird die Problematik bei Sinner, DerVertragsgedanke im Strafprozess, 1999. Grundsätzlich ablehnend äußert sich Schünemann,Wetterzeichen, 2005; ders., bereits in ZStW 114 (2002), 1 ff., ähnlich auch Harms (Anm. 2).

6 Die Debatte ist kaum noch überschaubar. Zur Frage der Grenzen konsensualer Strafverfahrenvgl. hier nur Duttge, in: FS Böttcher, 2007, 52 ff. und Ransiek, ZIS 2008, 116 ff.; zur Forderungnach einer gesetzgeberischen Initiative wiederum Kuckein/ Pfister, in: FS BGH, 2000,S. 641 ff.; Ignor/ Matt, StV 2002, 102 ff.; Meyer-Goßner NStZ 2007, 425 ff. und Weßlau, ZStW116 (2002), 150 ff.; siehe aber auch den GesetzesE des BR v. 31.1.2007, BT-Dr 16/ 4197 sowieRefE des BMJ v. Mai 2006 unter www.bmj.de und des Landes Nieders., BR-Dr. 235/ 06;letztere werden analysiert von Jahn/ Müller, JA 2006, 681 ff. Vorschläge sind formuliert wor-den von Altenhain/ Hagemeier/ Haimerl NStZ 2007, 71 ff.; Meyer-Goßner, ZRP 2004, 187 ff.und Jahn, ZStW 118 (2006), 427 ff.

7 Vgl. dazu Saliger, JuS 2006, 8 ff.

58 Benno Zabel

Page 60: Das ganze Heft als PDF-Datei

Die Konkurrenzlehre, das Prinzip der Strafgesetzlichkeit und moderner Rechtsgüter-schutz

Die Absprachenpraxis ist kein ausschließlich prozessuales Problem.8 Vielmehr sind diezu verarbeitenden Konflikte, so die ganz herrschende Auffassung, zugleich und not-wendig auf die Zurechnungs- resp. Strafbemessungslogik des materiellen Rechts bezo-gen.9 Nun geht es im Rahmen von Urteilsabsprachen – ähnlich wie bei den Opportuni-tätsregelungen der §§ 153 a ff. StPO oder dem Strafbefehlsverfahren gem. §§ 407 ff.StPO – immer auch um die frühestmögliche Evaluierung unterschiedlichster Sachver-halte und die dementsprechende Ausmittlung tatbestandsrelevanter Rechtsverletzun-gen.10 Was in der Absprachenpraxis durch eine dynamische Abschichtungsstrategie er-reicht wird, wird in einem kontradiktorischen Verfahren allein durch die strikt geset-zesbezogene Konkurrenzregelung der §§ 52 ff. StGB entschieden.11 Zwar ist auch beiden Verständigungslösungen von Einzel- und Gesamtstrafen die Rede,12 freilich fehltihr hier weitgehend die systematisierende Aufgabe.

Die Konkurrenzlehre beruht, als Nahtstelle zwischen der Lehre von der Straftat und

der Lehre von den Unrechtsfolgen, auf dem für das Strafrecht generischen Prinzip derStrafgesetzlichkeit.13 Das Prinzip der Strafgesetzlichkeit wiederum zielt auf die konse-quente und konfliktangemessene Durchsetzung des öffentlichen Strafanspruchs. ZurGeltung gebracht wird insoweit der funktionale und zugleich legitimatorische Charakterjeder strafrechtlichen (Zurechnungs-) Norm. Legitimatorisch ist er deshalb zu nennen,weil das Strafgesetz – im Idealfall – das normative und demokratiepraktische Selbst-verständnis der Legislative vermittelt und damit auch das rechtliche Verhältnis von Staatund Bürger, Gesellschaft und Täter, verwirklicht (Adressatenverknüpfung des Geset-

II.

8 Darauf expressis verbis hingewiesen zu haben ist vor allem ein Verdienst von Lüderssen, StV1990, 415 ff. und Schlüchter, in: Wolter, Theorie und Systematik des Strafprozessrechts,1995, S. 205 ff.

9 Vgl. dazu die grundsätzlichen Überlegungen bei Bruns, Strafzumessungsrecht, 1985 (2.Aufl.), S. 43 ff.; konkret zur Absprachenpraxis Roxin, Strafverfahrensrecht, 1998, § 15 R.6 ff. und jüngst Weichbrodt (Anm. 1), S. 115 ff.

10 Diese Strategie ist weithin bekannt; analysiert wurde sie etwa von Fezer, ZStW 106 (1994),1 ff.; Schlüchter, Weniger ist mehr, 1992, 15 ff. und Schmidhäuser, JZ 1973, 529; zusam-menfassend Salditt, FS Bemmann, 1997, 614 ff.; zu den Besonderheiten des Strafbefehlsver-fahrens Ranft, JuS 2000, 633; kritisch Ambos, Jura 1998, 281.

11 Zur strafrechtlichen Konkurrenzlehre vgl. nur Geerds, Zur Lehre von der Konkurrenz imStrafrecht, 1961; darüber hinaus sei auf die Arbeiten von Schmidhäuser, in: FS GA, 1994,191 ff.; Warda, JuS 1964, 81 ff. und Wolter, StV 1986, 315 ff. hingewiesen; zur Lehrbuchli-teratur siehe Kühl, AT, 2005 (5. Aufl.), § 21 Rn. 1 ff.; Frister, AT, 2007 (2. Aufl.), 6. Teil;Roxin, AT II (2003), § 33; Stratenwerth/ Kuhlen, AT (5. Aufl.), 2004, §§ 17 f. und Wessels/Beulke AT, 2007 (37. Aufl.), § 17; zur Neuordnung der Konkurrenzen Erb, ZStW 117 (2005),37 ff.

12 Siehe hier nur den in den Urteilsgründen zu BGHSt 43, 195, 196 aufgeführten Schuld- bzw.Strafausspruch der Tatsacheninstanz (Landgericht Darmstadt).

13 LK-Rissing-van Saan, Vor §§ 52 ff. Rn. 1 ff.; in diesem Sinne bereits Schmitt, ZStW 75(1963), 43 ff. dort auch m.w.N.; rechtstheoretisch verarbeitet wird die Problematik bei Nau-cke, in: Jenseits des rechtsstaatlichen Strafrechts, 2007, S. 415, 425 f. und Kahlo, Die Hand-lungsform, 2001, S. 89 ff. und öfter.

Urteilsabsprachen und Konkurrenzlehre 59

Page 61: Das ganze Heft als PDF-Datei

zes).14 Als funktional ist er anzusehen, insofern jede Strafnorm die Bedingungen füreine sozialintegrative Verhaltensorientierung des Einzelnen aufnehmen (Repräsentati-onsgarantie) sowie die konkreten Voraussetzungen für eine tat- bzw. schuldgerechteund kriminalpolitisch sinnvolle Rechtsanwendung bieten muss (sogenannte Tatbe-stands- und Strafandrohungsbestimmtheit). Diese Prinzipien- und Formalisierungslogikdient, wie das BVerfG betont, einem doppelten Zweck. „Es geht einerseits um denrechtsstaatlichen Schutz des Normadressaten: Jedermann soll vorhersehen können, wel-ches Verhalten verboten und mit Strafe bedroht ist. Im Zusammenhang damit soll an-dererseits festgestellt werden, dass der Gesetzgeber über die Strafbarkeit entscheidet.Insoweit enthält Art. 103. Abs. 2 GG einen strengen Gesetzesvorbehalt, der es der voll-ziehenden und rechtsprechenden Gewalt verwehrt, über die Voraussetzungen einer Be-strafung selbst zu entscheiden.“15 Im Kern ist damit die rechtsgutsbezogene Form derFreiheitsgewährleistung und, soweit notwendig, ein gesetzesförmiges Verfahren derFreiheits- bzw. Statuseinbuße angesprochen.16 Jedoch liegt dieser Argumentationslogikimmer schon die Einsicht zugrunde, dass das Straf(verfahrens)recht, und folglich dietatrichterliche Praxis, nur dann als Instrument staatlicher Rechtsfriedens- und Rechts-sicherheitsgewährleistung gerechtfertigt ist, wenn die vertypten Rechtsverletzungenauch in ihrer spezifischen Bedeutung bestimmt, d.h. in ihrer jeweiligen Schuldschwereerkannt werden.17

Dieses Paradigma rechtspersonaler Konfliktlösung konkretisieren die Strafmaßrege-

lungen der §§ 52 ff. StGB in ganz bestimmter Weise.18 Die Konkurrenzlehre ist insofern,neben einer Vielzahl weiterer Kriterien, formalisierter Ausdruck tatproportionalenStrafhandelns. Nun verweist die Rede von der Tatproportionalität zunächst auf dieNotwendigkeit einer, der gesellschaftlichen Wirklichkeit entsprechenden und dem kon-kreten Verletzungshandeln angemessenen Sanktion (relativer/ ordinaler und absoluterAspekt).19 Freilich erschöpft sie sich nicht darin. Sie ist vielmehr zugleich und unmit-telbar auf die Subjektstellung des Täters bezogen. Gesagt ist damit, dass jede Strategieder Strafbemessung ihren Grund in der handlungsleitenden Unrechtsorientierung des

14 Sehr deutlich wird das von Köhler, AT, 1997, S. 71 ff. gezeigt; auf den Gesetzescharakterüberhaupt bezogen Schild, in: Rechtstheorie und Gesetzgebung, 1986, S. 195 ff.

15 So das BVerfG in ständiger Rechtsprechung, vgl. hier nur E 73, 206, 235; ebenso der BGHSt23, 167, 171.

16 Zu den weiteren Aspekten des Gesetzlichkeitsprinzips und deren Bedeutung innerhalb desStrafrechtssystems siehe Naucke, Generalklauseln, 1975; AK-Hassemer, 1990, vor § 1 Rn.243 ff. und Schönke/ Schröder-Eser, 2007 (27. Aufl.), vor § 1 Rn. 1 ff.; insbesondere zumnullum crimen-Satz Krahl, Die Rechtsprechung des BVerfG und des BGH zum Bestimmt-heitsgrundsatz, 1986, S. 14 ff. und öfter und Krey, Studien, 1977, S. 26 ff.

17 Vgl. hierzu nur die Analyse von Wolter, in: Straftat, Strafzumessung und Strafprozess, 1996,S. 1 ff.

18 So insbesondere Bruns (Anm. 9), S. 184 ff., ähnlich Schäfer, Praxis der Strafzumessung, 2001(3. Aufl.), S. 209 ff. und öfter sowie Streng, Strafrechtliche Sanktionen 2002 (2. Aufl.),S. 204 ff., 270 ff.

19 Vgl. zu dieser Problematik nur Albrecht (Hrsg.), Tatproportionalität, 2003; Hörnle, Strafzu-messung, 1999, 108 ff. und öfter; Köhler, Über den Zusammenhang von Strafrechtsbegrün-dung und Strafzumessung, 1983, S. 33 ff.; die Maßstäbe der Strafzumessung in der höchst-richterlichen Rspr. untersucht Frisch, in: FS BGH, 2000, 269, 277 ff.

60 Benno Zabel

Page 62: Das ganze Heft als PDF-Datei

Einzelnen hat, was wiederum auf ihren distinkten Anwendungsbereich verweist.20 DieKonkurrenzlehre wird dieser Forderung dadurch gerecht, dass sie die mehrfach begrün-dete Strafbarkeit einer Person als juristisches Handlungsmuster kategorisiert und ebensoberücksichtigt, dass die Straffolgen den Täter zum gleichen Urteilszeitpunkt treffen. Sierealisiert damit die ihr zugewiesene unrechts- und rechtsfolgenstrukturierende Rolle.Rechtssystematisch führt das zu der heute üblichen Unterscheidung von Ideal-, Real-und Gesetzes„konkurrenz“ (Gesetzeseinheit). Während die Idealkonkurrenz gem. § 52StGB Konstellationen umfasst, bei der ein und dieselbe Handlung gleichzeitig entweder„mehrere Strafgesetze“ oder „dasselbe“ Strafgesetz mehrmals verletzt; bezieht sich dieRealkonkurrenz gem. § 53 StGB auf Sachverhalte, bei denen der Täter zeitlich nach-einander durch „mehrere Handlungen“ entweder verschiedene Strafgesetze oder das-selbe Strafgesetz mehrmals missachtet. Gesetzes„konkurrenz“ ist anzunehmen, wenneine Handlung den Wortlaut mehrerer Tatbestände erfüllt, aber bereits einer von ihnenausreicht, um den deliktischen Gehalt der Tat zu erschöpfen.21

So ist ein Bombenanschlag zugleich Verletzung der Tötungs- als auch der Spreng-stoffbestimmungen (§§ 211 ff., 308 StGB). Alle Gesetzesverletzungen bleiben relevanteRechtsverletzungen. Deshalb wird der Täter – wegen der Idealkonkurrenz – auch wegenaller Rechtsverletzungen verurteilt. Dennoch wird nur eine Strafe ausgesprochen. An-ders liegt es bei der Realkonkurrenz: Wenn der Täter bei unterschiedlichen Anlässendiverse Steuerhinterziehungen (§ 370 AO) begeht, dann kommt es nicht zu einer for-malen Aufsummierung der jeweiligen Strafdrohungen, sondern zur Bildung einer Ge-samtstrafe, die nicht die Summe der Einzelstrafen erreichen darf. Wieder anders bei derGesetzeseinheit: Bei der Begehung eines qualifizierten Diebstahls (§ 244 StGB) hat derTäter notwendig einen einfachen (§ 242 StGB) mitverwirklicht; gleichwohl genügt –nach dem konkreten Sinn- und Schutzzweckzusammenhang der Verbotsnormen – dieVerurteilung allein wegen eines qualifizierten Diebstahls. Freilich, so die heute über-wiegende Auffassung, handelt es sich hier nur um eine scheinbare Konkurrenz, da dieTatbestände gerade nicht nebeneinander anzuwenden sind, sondern der eine den anderenverdrängt.

Rechtsdogmatisch wird dadurch der legitimatorische und funktionale Charakter der

Strafgesetze betont und das vom Gesetzgeber intendierte Normhierarchisierungspro-gramm zur Geltung gebracht. Rechtspraktisch soll wiederum sichergestellt werden –darin liegt auch die eigentliche Konkretisierungsleistung –, dass die sich aus den ein-schlägigen Tatbeständen notwendig ergebende Strafandrohung der konflikttypischenRechtsgutsbeeinträchtigung und handlungsbezogenen Verletzungsintensität ent-spricht. Die Fixierung der jeweiligen Einzel- bzw. Gesamtstrafe hat das, so die ganzherrschende Auffassung, an Hand des Strafrahmens, im Wege der Einzelfallbewertungund nach dem Maß des Erfolgs-, Handlungs- und Gesinnungsunwerts abzubilden (kon-

20 Vgl. dazu die Analyse des Verf., Schuldtypisierung als Begriffsanalyse, 2007, S. 399 ff. undöfter.

21 Instruktiv immer noch Geerds (Anm. 11), S. 235 ff. und 423 ff.; einen anwendungspraktischenÜberblick liefern Geppert, Jura 1982, 358 ff. und Mitsch, JuS 1993, 385 ff.; kritisch allerdingsSchmidhäuser (Anm. 11), S. 191 ff. Zur Rspr. allgemein BGHSt 35, 60; insbes. zur Ideal-konkurrenz etwa BGH NStZ 2005, 387 und BGHSt 47, 22; zur Realkonkurrenz resp. Ge-samtstrafenbildung BGHSt 36, 348; 37, 42; zur Gesetzeseinheit BGHSt 46, 24.

Urteilsabsprachen und Konkurrenzlehre 61

Page 63: Das ganze Heft als PDF-Datei

krete Schuldschwere).22 Letzteres soll nicht nur der Klarstellung strafgesetzlicher Ar-gumentationsformen dienen, sondern auch die Transparenz der tatrichterlichen Ent-scheidung erhöhen.

Diese ausschnitthafte Beschreibung der Strafzurechnungs- und -bemessungslogik be-ruht allerdings – so scheint es – auf einem traditionellen oder auch idealtypischenRechts- und Verfahrensverständnis. Die einzelnen Sachverhalte werden ausermittelt,gegebenenfalls angeklagt, in einem formalisierten Verfahren verhandelt und durch einejustizielle (Strafmaß-) Entscheidung zum Abschluss gebracht (vgl. §§ 160, 244 Abs. 2,260 Abs. 1, 261, 264 Abs. 1 StPO). Gerade aber die inzwischen kontrovers diskutierteEntwicklung des Straf(prozess)rechts macht mehr als deutlich, dass vor allem mit derAbsprachenpraxis eine normative Überlagerung der positivierten Regelungen statt ge-funden hat.23 Nachfolgend sollen nicht die Einzelheiten dieser Dynamisierungsstrategieinteressieren,24 sondern deren sinnkriterialen Implikationen beleuchtet (III.) und nachder Anschlussfähigkeit der herkömmlichen Konkurrenzlehre gefragt werden (IV.).

Die normativen Grundlagen des Verfahrens und die Bedeutung der Absprachen-praxis

Das Recht ist seit je her am Leistungs-Legitimations-Paradigma orientiert.25 Das giltauch und insbesondere für das Strafrecht. Das materielle Recht liefert mit den Zurech-nungsregeln des Allgemeinen und den Konflikt- bzw. Verbotstypen des BesonderenTeils die normativen Geltungsbedingungen staatlichen Rechtsgüterschutzes; die Straf-prozessordnung bestimmt die verfahrensrechtliche Struktur der Konfliktlösung und in-sofern auch den rechtspersonalen Status des Beschuldigten. Der Leistungsaspekt bestehtalso gerade darin, die erforderliche Rechtssicherheit durchzusetzen und zugleich dienotwendigen Handlungsorientierungen zu bieten. Im Gegenzug dazu wird jede andereForm der „Verfahrens“-gestaltung unterbunden und damit das entsprechende Legiti-mationspotential verwirklicht.26 Konsequenz dieser Strategie ist nicht nur das staatliche

III.

22 Dazu Streng (Anm. 18), S. 270 ff. und Schäfer (Anm.18), Rn. 498 ff.; 655 ff. Zu den Beson-derheiten der Bestimmung normativer Handlungseinheiten bei mehraktigen und zusammen-gesetzten Tatbeständen sowie Dauerdelikten und dem korrespondieren Problem der Ver-klammerung vgl. Jescheck/ Weigend, AT, 1996, (5. Aufl.), § 67 III 2; Lippold, Die Konkur-renz, 1985, S. 4 ff. und Rissing van Saan (Anm. 13), § 52 Rn. 20 ff.; zum StrafklageverbrauchRadtke, Systematik, 1994, S. 27 ff.; zu den Leitlinien der Rspr. siehe Schäfer (Anm. 18), Rn.487 ff.

23 Zu den insofern relevanten Grundsätzen des nemo tenetur, des fairen Verfahrens, der Amts-ermittlung, der Öffentlichkeit, Mündlichkeit und Unmittelbarkeit, des schuldangemessenenStrafens usw. siehe nur Beulke, Strafprozessrecht, 2008 (10. Aufl.), § 19 Rn. 395; Fahl, ZStW117 (2005), 605 ff. und Roxin (Anm. 9), § 15 Rn. 8 ff.

24 Zur rechtsdogmatischen Verortung der gegenwärtigen Absprachenpraxis und den sich darausergebenden Konsequenzen siehe etwa Sinner (Anm. 5) und – rechtsvergleichend – Weich-brodt (Anm. 1), S. 115 ff.

25 Siehe dazu auch die Untersuchung des Verf. in ZStW 120 (2008), 72 ff.26 Zu den kriterialen Strukturen strafrechtlich-formalisierter Konfliktlösung und den funktio-

nellen Bezügen der jeweiligen Zurechnungsressorts vgl. nur Frisch, in: Straftat, Strafzumes-sung und Strafprozess, 1996, S. 135 ff.; Kahlo, KritV 1997, 183 ff. und Marxen, Straftatsystemund Strafprozess, 1984, S. 29 ff. und 154 ff.

62 Benno Zabel

Page 64: Das ganze Heft als PDF-Datei

Gewaltmonopol, sondern auch die Realisierung des öffentlichen Strafanspruchs durchdie Judikative. Die im geltenden Recht verankerten Prinzipien der Anklage- (§ 151StPO) und Amtsermittlungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO), der Öffentlichkeit (§ 169 GVGi.V.m. § 338 Nr. 6 StPO), der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit (§ 261 StPO), der Un-schuldsvermutung (Art. 6 Abs. 2 EMRK), des schuldangemessenen Strafens (§ 46Abs. 1 StGB) usw. bringen das besonders deutlich zum Ausdruck. Freilich handelt essich dabei um ein rechtliches Selbstverständnis, dass noch wesentlich durch das über-kommene Distinktions- und Wahrheitserforschungsinteresse einer „wohlgeordneten“Gesellschaft geprägt ist.27

Dem scheinen jedoch die neueren Entwicklungen im Straf(prozess)recht zu wider-sprechen. Vor allem die Absprachenpraxis, mit Einschränkungen auch die vereinfachtenund summarischen Verfahren der §§ 153 a ff. und 407 ff. StPO, geben hierfür ein be-redtes Zeugnis ab. Grund sind die zunehmend komplexer werdenden Konfliktmateriendes Wirtschafts-, Steuer-, Drogen- und Umweltstrafrechts. Während der Gesetzgeberdie vereinfachten und summarischen Verfahren in das geltende Recht aufgenommenhat,28 gibt es um die systemadäquate Integration konsensualer Verständigungsformeneine kontrovers geführte Diskussion.29 Das ist nicht verwunderlich. Schließlich stehensich hier keineswegs nur gegenläufige Entscheidungsstrategien, sondern auch unter-schiedliche Norminterpretations- bzw. Freiheitsgewährleistungskonzepte gegenüber.Die inquisitorische Perspektive sieht in der Befriedungspflicht des Strafrechts ein strik-tes Wahrheitserforschungsgebot (die Beweis- und Zeugenregelungen, insbesondere der§§ 244 ff. StPO, sind hier das beste Beispiel) und leitet – nicht zuletzt daraus – dieRechtfertigung des Verfahrens und des Schuld- bzw. Strafausspruchs ab, § 261StPO.30 Dagegen steht im Rahmen des konsensualen Verfahrensmodells die Funktio-nalisierung des Streiterledigungsinteresses im Vordergrund, so dass die Wahrheitser-forschung nur noch ein Aspekt unter vielen darstellt, soweit es nur zu der von den Par-teien gewünschten Verfahrensbeendigung kommt. Die entsprechende „Anpassung“ derVerfahrenssicherheit wie auch das Changieren zwischen den einzelnen Sachaufklä-rungs-, Tatbeurteilungs- und Schuldformalisierungserfordernissen des Vor-, Zwischen-und Hauptverfahrens ist dann nur folgerichtig.31

Nun bildet auch im traditionellen Prozess das Wahrheitserforschungsgebot nicht daseinzige Sinn- und Entscheidungskriterium; gleichwohl stellt es einen wesentlichen Re-ferenzpunkt innerhalb der strafrechtlichen Verfahrenspraxis dar. Die Leitlinien der

27 Zum traditionellen Wahrheitskonzept des Verfahrensrechts und dessen ontologischer Fun-dierung siehe Ignor, Geschichte des Strafprozesses, 2002, S. 60 ff. und öfter und Schulz, Nor-miertes Misstrauen, 2001, S. 267 ff. und 434 ff. sowie Stübinger, Das „idealisierte“ Strafrecht,2008, S. 391ff; zur Interpretation des geltenden Rechts vgl. F.-C. Schroeder, Strafprozess-recht, 2007 (4. Aufl.), § 27 Rn. 245 ff. und Volk, Strafprozessrecht, 2002 (3. Aufl.), § 18 Rn.15.

28 Vgl. Duttge, ZStW 115 (2003), 539 ff.; kritisch Schmidhäuser (Anm. 11) und Frister, Schuld-prinzip, 1988, S. 94 ff.; zur Rspr. BVerfGE 82, 106; zum Strafbefehlsverfahren Meyer-Goß-ner, vor § 407 Rn. 1 und BGHSt 29, 305.

29 Die kontroverse Diskussion der Absprachenregelungen zeichnen Braun, Die Absprache,1998, S. 9 ff. und öfter und Moldenhauer (Anm.1), S. 37 ff. sehr anschaulich nach.

30 Zum Verhältnis von Amtsaufklärungsgrundsatz und Beweisantragsrecht Fezer, in FS BGH2000, S. 847ff.

31 Vgl. nochmals Salditt (Anm. 10); ähnlich jüngst Fischer (Anm. 2), 433, 435.

Urteilsabsprachen und Konkurrenzlehre 63

Page 65: Das ganze Heft als PDF-Datei

Rechtsprechung zur Absprachenpraxis, die Vorschläge der Literatur und die neuerlichenKonzepte der Referentenentwürfe formulieren die daraus entstehende Neuausrichtungdes Verfahrens sehr deutlich. Sie reichen bekanntlich von der Modifikation der Ge-ständnisanforderungen (dezidiert Meyer-Goßner), über die Dynamisierung des Schuld-begriffs (Weichbrodt), die Prozeduralisierung der Hauptverhandlung (Jahn), bis hin zurNeuordnung des Rechtsmittelverzichts (so insbesondere der BGH)32 und zeigen in mar-kanter Weise das gewandelte Rechts(güterschutz)verständnis auf.

Die rechtspraktische Bedeutung der Urteilsabsprachen liegt nun vor allem darin, dass

sie – sei es aus ökonomischen Gründen, sei es aus Beschleunigungs„zwängen“ – denstrafrechtlichen Normhaushalt in ein sogenanntes „hard law“ der StPO und ein „softlaw“ der Absprachen aufspaltet33 und damit zu den bereits erwähnten Ein- bzw. Über-lagerungsstrukturen führt. Freilich geht es bei dieser Transformation formalisierter Gel-tungsbedingungen nicht nur um ein neues Rechts(güterschutz)verständnis, sondern auchum ein neues Verhältnis von Recht und (Kriminal-)Politik, von Ordnungssystemen undMachtkonstellationen.34 – Nun kann man diese Sicht- und Verfahrensweise, je nachBlickwinkel, als Flexibilisierung oder Perforation des Leistungs-Legitimations-Para-digmas und folglich des öffentlichen Strafanspruchs, als Chance des Straf(pro-zess)rechts oder als Verstoß gegen diverse Grundsätze begreifen.35 Entscheidend istaber vorliegend, dass es auch Konsequenzen für die vertypte Konkurrenzlehre hat.

Die Interpretation der Konkurrenzen durch die Praxis der Urteilsabsprachen

Die Konkurrenzlehre der §§ 52 ff. StGB verliert durch die Urteilsabsprachen ihre un-rechts- und rechtsfolgenstrukturierende Funktion, damit aber auch ihre dogmatische undrechtspraktische Anschlussfähigkeit. Daraus folgt nicht notwendig die Unmöglichkeiteiner (zufällig) gerechten Konfliktlösungspraxis, wohl aber ein systematisches Problem.Denn die Urteilsabsprachen unterlaufen gerade den strikten Begründungszusammen-hang von Tatsachen, rechtlicher Würdigung und Einzel- bzw. Gesamtstrafenbildung zuGunsten einer „interessengeleiteten Gesamtschau“. Verfahrenstechnisch zieht das dieSuspendierung des gesetzgeberischen Normhierarchisierungsprogramms nach sich. Dasstrafgesetzliche Konzept der Unrechts- und Strafandrohungsarchitektur wird vielmehreinem pragmatisch ausgerichteten, zum Teil auch systemexternen Filter unterworfenund so den jeweiligen Interessen der verhandelnden Parteien angepasst. Anwendungs-praktisch führt das unter Umständen zu richterlicher Strafzumessungswillkür, jedenfallsaber zu einem rechtsdogmatischen Eskapismus. Denn die Gerichte müssen – mit Blickauf den zugesicherten Sanktionsrahmen – im Urteilstenor eine Strafe „auswerfen“, diedem ursprünglichen (in der Regel zu beweisenden) Konfliktsachverhalt nicht oder nur

IV.

32 Vgl. zu den Autoren die vorstehenden Anm.; zur Rspr. siehe BGH JR 2008, 83 und die Nach-weise in Fn. 5.

33 Siehe dazu Eschelbach, JA 1999, 694, 695; Kintzi sieht darin eher einer Zweiteilung desStrafverfahrens, JR 1990, 309; ders., in: FS Hanack, 1999, S. 177 ff.; dagegen wiederumSchmidt-Hieber, NJW 1990, 1884.

34 In diese Richtung argumentiert auch Fischer (Anm. 2), 433, 435.35 Dazu sogleich unter V.

64 Benno Zabel

Page 66: Das ganze Heft als PDF-Datei

in Teilen entspricht, der jedoch zugleich die gesetzesbezogene Formalisierung desselbenvorgibt.36 Damit steht das Strafrecht als eigenständiges Konfliktlösungsinstrument nochnicht zur Disposition. Gleichwohl bestätigt sich gerade bei der Konkurrenzlehre dieEigendynamik dieser Entwicklung, d.h. die zunehmende Überlagerung des „hard law“der StPO durch das „soft law“ der Absprachen, auf dramatische Weise.37

Prinzipien und Perspektiven: Transformationen des (Straf-)Rechts

Knüpft man an die vorangegangene Analyse an, so wird deutlich, dass die Problematikder absprachenbezogenen Strafzurechnung und -bemessung nur dann beherrschbar ist,wenn das Leistungs-Legitimations-Paradigma prinzipiengeleitet verarbeitet wird. Da-mit wird keinem unzeitgemäßen Strafrechtsverständnis das Wort geredet, sondern diezentrale Einsicht angesprochen, dass mit dem Recht die Selbsterhaltung gesellschaftli-cher Zusammenhänge und der Status personaler Selbstverhältnisse realisiert werdenmuss.

Das hat Konsequenzen für den besprochenen Kontext: Eine Inkorporierung der Absprachenregelungen, wie von der Rechtsprechung, großen

Teilen der Literatur und den Referentenentwürfen angestrebt, ist, soweit man sie aufden strafgesetzlichen Rahmen von StGB und StPO bezieht, nur durch Aufgabe oderdurch Umdeutung der dort verankerten Grundsätze möglich.38 Bevor man sich also andie gesetzgeberische Arbeit macht, wäre zu entscheiden, inwiefern Rechtspolitik undStrafrecht überhaupt noch an den überkommenen Grundsätzen interessiert sind, oderanders gewendet, ob das Strafrecht eine Positivierung dieser normativen Überlagerun-gen aushalten kann oder auch nur sollte.39

Allerdings legen – das ist schon angedeutet worden – die entsprechenden Argumen-tationsstrategien ein neues, jedenfalls aber verändertes Verständnis (straf-)rechtlicherKonfliktlösung nahe. Das gilt für das bereits erwähnte Wahrheitserforschungsinteresseebenso, wie für die angestrebte Prozeduralisierung der Verhandlungspraxis und die Dy-namisierung der Verantwortungszuweisung usw.40

V.

36 Darauf, nämlich auf das insofern problematische Verhältnis von Wahrheitsfindung und Ur-teilsbegründung, verweisen auch Gössel (Anm. 2) und Küng-Hofer, Die Beschleunigung desStrafverfahrens, 1984, S. 20.

37 Vgl. aber den Regelungsvorschlag – für einen zukünftigen § 208 StPO – von Meyer-Goß-ner (Anm. 6), 425, 431.

38 Vgl. dazu die Ausführungen unter Punkt III. – Anzumerken bleibt aber, dass die entspre-chenden Begründungs- und Rechtfertigungsstrategien, sei es der Verweis auf die Möglich-keiten eines obligatorischen Rechtsgesprächs, die Erweiterung des Strafbefehlsverfahrensoder die Legitimation an Hand der Opportunitätsvorschriften, immer von der normativenPlausibilität oder auch Problematik der Referenzregelungen abhängig ist; zusammenfassendhierzu Kuckstein/ Pfister (Anm. 6).

39 In diese Richtung scheint mir auch die Kritik von Fischer zu gehen (Anm. 2), 433, 434; darananknüpfend jetzt Ransiek (Anm. 6), 116, 122.

40 Vgl. dazu die Ausführungen unter Punkt II. und III.

Urteilsabsprachen und Konkurrenzlehre 65

Page 67: Das ganze Heft als PDF-Datei

Vor diesem Hintergrund scheinen die Argumentationsstrategien – zumindest für den

Bereich der verfahrensbeendenden Absprachen – gar keine typisch oder traditionellstrafrechtliche Unrechts- und Normrestitutionskonzeption, sondern vielmehr die Per-spektive eines spezifischen Schadens- und Deliktsrechts zu reformulieren.41 Das Ge-waltmonopol wird damit partiell relativiert; der staatliche Strafanspruch zugleich funk-tionalisiert.

Wenn das aber der Fall ist, dann käme es vor allem darauf an, diese Entwicklung(system-) kritisch zu reflektieren und zugleich die Bedeutung des Leistungs-Legitima-tions-Paradigmas erneut zu diskutieren. Nun sei zugestanden, dass die Rechtsprechungvor dem Problem steht, permanent Konflikte lösen und Entscheidungen treffen zu müs-sen. Gerade deshalb muss sich auch die Strafrechtslehre darum bemühen, Antwortenauf folgende Fragen zu finden:

Ist die Verständigungspraxis ein originäres Instrument strafjuristischer Konfliktlö-

sung und in welchem Maße können mit ihr – langfristig – die justizorganisatorischenund verfahrenspraktischen Probleme gelöst werden?

Verfügt das Strafrecht als Strafrecht über Normressourcen, die eine gesetzesange-

messene resp. gesetzgeberische Integration der Verständigungspraxis ermöglichen; in-wiefern können hier Institute anderer Verfahrensordnungen weiterhelfen?

Welche überkommenen Grundsätze und Prinzipien der geltenden StPO wären für eine

dementsprechende Realisierung der Verständigungspraxis unabdingbar, auf welchekönnte – gerade im Kontext notwendiger Freiheitsgewährleistung – überhaupt verzich-tet werden?

Sollte darüber hinaus – auch angesichts der Vielzahl konsensualer bzw. prozeduraler

Erklärungs- und Begründungsmuster – über einen neuen Typus des Sanktionenrechtsnachgedacht werden?

Wie müsste eine adäquate Rechtsverletzungs- bzw. Rechts(güter)schutzkonzeption

aussehen und welche Verfahrensstrukturen und Prinzipien könnten oder sollten einemsolchen Sanktionenrecht zugrunde liegen?

Welchen Sanktionscharakter sollte er haben und wie wäre das Verhältnis zum tradi-

tionellen Strafrecht zu bestimmen? Das Fazit ist eindeutig: Das Strafrecht steht, dies zeigt auch das analysierte Verhältnis

von Absprachenpraxis und Konkurrenzlehre, an einem Scheideweg. In welche Richtunges sich entwickelt, wird entscheidend davon abhängen, ob und inwieweit das sich wan-delnde Konflikt(lösungs)verständnis der modernen Gesellschaft mit den Kriterien mo-

41 Die Möglichkeit einer solchen Entwicklung hat Lüderssen bereits frühzeitig gesehen (Anm.8), 415, 418.

66 Benno Zabel

Page 68: Das ganze Heft als PDF-Datei

dernen Rechtsgüterschutzes vermittelt werden kann. Rechtsprechung und Wissenschaftkönnen diese Aufgabe nur gemeinsam bewältigen.42

42 Inzwischen hat die Bundesregierung einen Gesetzesentwurf zur Regelung der „Verständigungim Strafverfahren“ vorgelegt (vgl. RegE v. 9.1.2009 unter www.bmj.de), der aber zugleichauf der strikten Geltung des Amts- bzw. Wahrheitsermittlungs- und des Schuldgrundsatzesbeharrt. Auch in der Literatur geht die Diskussion weiter, vgl. nur Gössel, in: FS Fezer, 2008,S. 495ff; Lüderssen, in: FS Hamm, 2008, S. 419ff sowie Schünemann, in: FS Fezer, 2008,S. 555ff.

Urteilsabsprachen und Konkurrenzlehre 67

Page 69: Das ganze Heft als PDF-Datei

Recht in Zeiten des Terrors

– Zur gesetzlichen Neuregelung der (Un-)Zulässigkeit offener und versteckterErmittlungsmaßnahmen bei Strafverteidigern und nichtverteidigenden Rechtsanwälten(§ 160 a StPOn.F.) –*

Einleitung

Recht in Zeiten des Terrors macht heutzutage auch vor denen nicht halt, die es sich zumBeruf gemacht haben, es in schwierigen Zeiten und unter ebenso schwierigen Umstän-den zu verteidigen. Die Bekämpfung neuer Gefahren für den Staat bedarf scheinbar auchneuer – und wenn nicht neuer, dann jedenfalls vereinfachter oder zumindest handhab-barer – Gesetzesnormen; auf die Bedürfnisse einzelner Personen oder Personengruppenkann entsprechend keine oder nur wenig Rücksicht genommen werden.

Die Rede ist hier von Rechtsanwälten, sei es in ihrer Rolle als Strafverteidiger, sei esals sonstiger Rechtsbeistand in zivil- und öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten. DieUnterscheidung ist keinesfalls willkürlich getroffen. Sie findet schon – wie hier zu zei-gen sein wird – seit geraumer Zeit Niederschlag in der Strafprozessordnung1 und erfährt– nicht zuletzt durch den neu eingefügten2 und hier behandelten § 160 a – eine zuneh-mend differierende Handhabe.

Das wohl bekannteste Beispiel ist schon seit längerem die für das Zeugnisverweige-rungsrecht als Berufsgeheimnisträger vorgenommene gesetzliche Unterscheidung nachStrafverteidigern (§ 53 Abs. 1 Nr. 2) einerseits und sonstigen, nichtverteidigendenRechtsanwälten (§ 53 Abs. 1 Nr. 3) andererseits.3 Zugegebenermaßen soll nicht uner-

I.

* Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Wirtschaftsstrafrecht derUniversität Osnabrück (Direktor: Prof. Dr. Ralf Krack), dem der Autor mit diesem Beitrag ganzherzlich für die Gelegenheit zur wissenschaftlichen Mitarbeit danken möchte.

1 Alle §§ ohne weitere Gesetzesangabe verstehen sich als solche der StPO.2 Artikel 1 des Gesetzes zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer

verdeckter Ermittlungsmaßnahmen sowie zur Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG vom21. Dezember 2007 (BGBl. I, 3198).

3 In § 53 heißt es (auszugsweise):„(1) Zur Verweigerung des Zeugnisses sind [neben den in § 52 genannten Personen] fernerberechtigt1...2. Verteidiger des Beschuldigten über das, was ihnen in dieser Eigenschaft anvertraut wordenoder bekanntgeworden ist;3. Rechtsanwälte, Patentanwälte, Notare, Wirtschaftsprüfer, vereidigte Buchprüfer, Steuerbe-rater und Steuerbevollmächtigte, Ärzte, Zahnärzte, Psychologische Psychotherapeuten, Kin-der- und Jugendlichenpsychotherapeuten, Apotheker und Hebammen über das, was ihnen indieser Eigenschaft anvertraut worden oder bekanntgeworden ist, Rechtsanwälten stehen dabeisonstige Mitglieder einer Rechtsanwaltskammer gleich;3 a....(2) Die in Absatz 1 Satz 1 Nr. 2 bis 3 b Genannten dürfen das Zeugnis nicht verweigern, wennsie von der Verpflichtung zur Verschwiegenheit entbunden sind....“.

Sascha Kische

Page 70: Das ganze Heft als PDF-Datei

wähnt bleiben, dass die Rechtsfolgen (noch) identisch sind: Den einen wie auch denanderen steht in der Vernehmungssituation ein umfassendes Zeugnisverweigerungs-recht für solche Tatsachen zur Seite, die sie in ihrer Eigenschaft als Berufsgeheimnis-träger erfahren haben.

Diese bislang rechtsfolgenlose Unterscheidung scheint seit dem 1. Januar 2008 durchden § 160 a4 (im vormaligen Gesetzesentwurf noch als § 53 b5 bezeichnet) geradezueinen „Blitzeinschlag“ erfahren zu haben. Anfänglich machte der Aufschrei nach einemnicht mehr zu rechtfertigenden Klassenunterschied6 innerhalb der Anwaltschaft dieRunde. In der Tat lässt ein unbefangener Blick auf den Wortlaut der Norm durchausstrafverfahrensrechtliche, berufsrechtliche und zugleich verfassungsrechtliche Proble-me erahnen. Eine genauere, insbesondere rechtshistorische Untersuchung steht noch ausund kann hier verständlicherweise nicht geleistet werden. Ziel dieses Beitrags soll es

4 In § 160 a n.F. heißt es (auszugsweise):„(1) Eine Ermittlungsmaßnahme, die sich gegen eine in § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 2 oder Nr. 4genannte Person richtet und voraussichtlich Erkenntnisse erbringen würde, über die diesePerson das Zeugnis verweigern dürfte, ist unzulässig. Dennoch erlangte Erkenntnisse dürfennicht verwendet werden. Aufzeichnungen hierüber sind unverzüglich zu löschen. Die Tatsacheihrer Erlangung und der Löschung der Aufzeichnungen ist aktenkundig zu machen. Die Sätze2 bis 4 gelten entsprechend, wenn durch eine Ermittlungsmaßnahme, die sich nicht gegen einein § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 2 oder Nr. 4 genannte Person richtet, von einer dort genanntenPerson Erkenntnisse erlangt werden, über die sie das Zeugnis verweigern dürfte.(2) Soweit durch eine Ermittlungsmaßnahme eine in § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 bis 3 b oder Nr. 5genannte Person betroffen wäre und dadurch voraussichtlich Erkenntnisse erlangt würden,über die diese Person das Zeugnis verweigern dürfte, ist dies im Rahmen der Prüfung derVerhältnismäßigkeit besonders zu berücksichtigen; betrifft das Verfahren keine Straftat vonerheblicher Bedeutung, ist in der Regel nicht von einem Überwiegen des Strafverfolgungsin-teresses auszugehen. Soweit geboten, ist die Maßnahme zu unterlassen oder, soweit dies nachder Art der Maßnahme möglich ist, zu beschränken. Für die Verwertung von Erkenntnissen zuBeweiszwecken gilt Satz 1 entsprechend.(3)[...].(4) Die Absätze 1 bis 3 sind nicht anzuwenden, wenn bestimmte Tatsachen den Verdacht be-gründen, dass die zeugnisverweigerungsberechtigte Person an der Tat oder an einer Begüns-tigung, Strafvereitelung oder Hehlerei beteiligt ist. [...](5) Die §§ 97 und 100 c Abs. 6 bleiben unberührt.“.

5 Hierzu ausführlich Glaser/Gedeon, Dissonante Harmonie: Zu einem zukünftigen „System“strafprozessualer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen, in: Goltdammer’s Archiv (GA) 2007,415, 418 ff.

6 Von einer „Zweiklassengesellschaft“ reden ausdrücklich Beukelmann, Die Neuregelung derTelekommunikationsüberwachung, NJW-Spezial 3/2008, 88; Fahr, Die Neuregelung der Te-lekommunikationsüberwachung – Steuerberater fahren beim Zeugnisverweigerungsrechtkünftig nur noch „zweiter Klasse“, DStR 2008, 375; Ignor, Der rechtliche Schutz des Vertrau-ensverhältnisses zwischen Rechtsanwalt und Mandant im Visier des Gesetzgebers, NJW 2007,3403, 3404 f.; Rüping, Gefahren für das Zeugnisverweigerungsrecht des Steuerberaters, DStR2007, 1182, 1183; zurückhaltender jedoch Puschke/Singelnstein, Telekommunikationsüber-wachung, Vorratsdatenspeicherung und (sonstige) heimliche Ermittlungsmaßnahmen der StPOnach der Neuregelung zum 1. Januar 2008, NJW 2008, 113, 117 [Differenzierung [...] nichtnachvollziehbar] und Reiß, Der strafprozessuale Schutz verfassungsrechtlich geschützterKommunikation vor verdeckten Ermittlungsmaßnahmen, StV 2008, 539, 547 [Unterscheidung[...] ungeeignet].

Recht in Zeiten des Terrors 69

Page 71: Das ganze Heft als PDF-Datei

vielmehr sein, die historischen Ursprünge der Vorschrift aufzudecken und die aktuelleGesetzesregelung in den Gesamtzusammenhang einzuordnen.

Wenngleich die neue Vorschrift wie auch das Gesetz zur Neuregelung der Telekom-munikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen sowie zurUmsetzung der Richtlinie 2006/24/EG vom 21. Dezember 20077 in erster Linie zurBekämpfung der Organisierten Kriminalität für notwendig erachtet wurde,8 liegt – indie Zukunft gerichtet – auch eine Sichtweise nicht fern, nach der sich die Neuregelunginsbesondere unter dem Blickwinkel der gezielten Terrorismusbekämpfung besondersdienlich erweisen und mithin den Strafverfolgungsbehörden sehr gelegen kommenkönnte. Insbesondere zur fragwürdigen Rechtfertigung des § 160 a vor diesem Hinter-grund soll hier erste Stellung bezogen werden.

Zur Rechts- und Gesetzeslage bis zum 31. Dezember 2007

Betrachten wir zunächst die Rechts- und Gesetzeslage vor der Neuschaffung des§ 160 a, also in der Zeit bis zum 31. Dezember 2007. Fraglich ist, warum und unterwelchen rechtlichen Rahmenbedingungen der Gesetzgeber schließlich zu der hier inRede stehenden Neuregelung entschlossen war. Ein erster Blick auf die vorhandenenrechtlichen Bestimmungen zum Schutz eines Vertrauensverhältnisses zwischen An-wälten und Mandant bei Ermittlungsmaßnahmen zeigt wahrhaftig das Vorhandenseinvon auslegungsbedürftigen „Gesetzeslücken“ auf (1.). Soweit diese entsprechendenRegelungslücken durch die Strafverfolgungsbehörden ausgenutzt wurden, schaltete sichin zunehmendem Maße das Bundesverfassungsgericht ein, welches um Korrekturenbemüht und den Gesetzgeber mit teils verunglückten Formulierungen zu weiterem Ta-tendrang ermutigte (2.). Eine genaue Analyse der Hintergründe der gesetzgeberischenBestrebungen zur Neuregelung soll abschließend den Weg zu einem besseren Ver-ständnis des § 160 a im strafprozessualen wie auch verfassungsrechtlichen Zusammen-hang ebnen (3.).

Strafprozessrechtliche Bestimmungen zum Schutz des Vertrauensverhältnisseszwischen Anwalt und Mandant

Bereits in der jungen Bundesrepublik Deutschland haben die Strafsenate beim Bundes-gerichtshof in ständiger Rechtsprechung ausgeführt und mithin wiederholt darauf hin-gewiesen, dass es keinen Grundsatz in der Strafprozessordnung gebe, dass die Wahrheitum jeden Preis erforscht werden müsste.9 Zu dieser höchstrichterlich ausgelegtenSelbstbeschränkung des staatlichen Zugriffs gehören daher das Recht für Angehörigebestimmter Berufe, mit Rücksicht auf das Vertrauensverhältnis zum Mandanten dieAussage über all dasjenige zu verweigern, was ihnen in dieser beruflichen Funktion

II.

1.

7 BGBl. I 2007, 3198.8 BT-Drucks. 16/5846, S. 2.9 BGH, Urteil vom 14. Juni 1960 – 1 StR 683/59, BGHSt 14, 358 = NJW 1960, 1580, 1582.

70 Sascha Kische

Page 72: Das ganze Heft als PDF-Datei

anvertraut oder zugänglich geworden ist.10 Vor allem Strafverteidiger und nichtvertei-digende Rechtsanwälte rückten von Anfang an in das Blickfeld des Gesetzgebers.

Bei genauer Betrachtung der eingangs erwähnten Norm des § 53 geht es zunächst um„Aussageverweigerung“. Mit den Worten des Gesetzes ist damit zunächst lediglich dasSchweigerecht der Berufsgeheimnisträger angesprochen, das sowohl den Anwendungs-bereich als auch die Grenzen des Verschwiegenheitsrechts für die unmittelbare Ver-nehmung dieser Berufsgeheimnisträger als Zeugen im Strafverfahren regelt.

Als Pendant zu diesem Zeugnisverweigerungsrecht geht die nach materiellem Rechtstrafbewehrte Pflicht des Rechtsanwalts zur Verschwiegenheit einher (§ 203 Abs. 1Nr. 3 StGB), welche das Zeugnisverweigerungsrecht insoweit flankiert und den Be-rufsgeheimnisträger vor einer vorsätzlichen Umgehung bewahren soll.11 Darüber hinauszielen – gegebenenfalls nicht unmittelbar auf den ersten Blick – weitere prozessualeRegelungen auf den Schutz des Vertrauensverhältnisses zwischen Rechtsanwalt undMandanten und mithin den Schutz vor einer Aushöhlung der Verschwiegenheitsver-pflichtung ab. Diese Vorschriften betreffen sowohl offene Ermittlungsmaßnahmen, soetwa die Beschlagnahme(-freiheit) von Schriftstücken und anderen Unterlagen (§ 95Abs. 2 S. 2 und insbesondere § 97 Abs. 1),12 als auch verdeckte Ermittlungsmaßnahmenwie die Rasterfahndung und die Telekommunikationsüberwachung (§§ 98 a Abs. 5 und§ 100 c Abs. 6,13 differenzierend aber § 100 h Abs. 2).14 Für weitere verdeckte Ermitt-lungsmaßnahmen, bspw. den Einsatz verdeckter Ermittler (§§ 110 a bis 110 e), dieNetzfahndung und die polizeiliche Observation (§§ 163 d, 163 e), wurde bislang – so-weit ersichtlich – deren Zulässigkeit gegenüber den in § 53 genannten Berufsgeheim-nisträgern weder befürwortet noch abgelehnt.15

Nach alledem wird aber doch deutlich, dass dem Vertrauensverhältnis nicht nur sei-tens des Rechtsanwaltes und seines Mandanten, sondern auch – zumindest bislang –

10 Rüping (Fn. 6), DStR 2007, 1182, 1183.11 Zur strafbewehrten Verletzung von (Privat-)Geheimnissen nach § 203 StGB eingehend

Schmitz, Juristische Arbeitsblätter (JA) 1996, 772 ff. und nochmals 949 ff.12 In § 97 Abs. 1 heißt es (auszugsweise):

„Der Beschlagnahme unterliegen nicht1. schriftliche Mitteilungen zwischen dem Beschuldigten und den Personen, die nach [...]§ 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 3 b das Zeugnis verweigern dürfen;2. Aufzeichnungen, welche die in § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 3 b Genannten über die ihnenvom Beschuldigten anvertrauten Mitteilungen oder über andere Umstände gemacht haben,auf die sich das Zeugnisverweigerungsrecht erstreckt;3. andere Gegenstände [...], auf die sich das Zeugnisverweigerungsrecht der in § 53 Abs. 1Satz 1 Nr. 1 bis 3 b Genannten erstreckt.Diese Beschränkungen gelten nur, wenn die Gegenstände im Gewahrsam der zur Verweige-rung des Zeugnisses Berechtigten sind, [...]. [...]“.

13 In § 100 c Abs. 6 heißt es:„In den Fällen des § 53 ist eine Maßnahme nach Absatz 1 unzulässig; [...]. [...]“.

14 In 100 h Abs. 2 heißt es:„Soweit das Zeugnisverweigerungsrecht in den Fällen des § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 2 und 4reicht, ist das Verlangen einer Auskunft über Telekommunikationsverbindungen [...] unzu-lässig; [...]. [...]“.

15 Darauf, dass durch die Neuregelung des § 160 a gerade hier Änderungen in der Strafverfol-gungspraxis angestrengt werden, weist der Gesetzgebungsentwurf offen hin, vgl. BT-Drucks.16/5846, S. 2.

Recht in Zeiten des Terrors 71

Page 73: Das ganze Heft als PDF-Datei

seitens des Gesetzgebers durch eine Mehrzahl von Schutzvorschriften vor Ausforschungund Abschöpfung von Berufsgeheimnissen und ihre entsprechende Übertragung aufgesetzlich nicht eindeutige Fälle eine große Bedeutung zugemessen wird. Diese vor-rangige Bedeutung fasste schon das BVerfG im Jahre 1972 mit den markanten Wortenzusammen: „Die Inanspruchnahme dieser Berufe [gemeint sind die in § 53 Abs. 1 ge-nannten Berufsgeheimnisträger, Anm. d. Verf.] ist Teil der unabweisbaren Lebensbe-dürfnisse des Bürgers. Von ihren Vertretern kann er wirksame Hilfe zumeist nur dannerwarten, wenn er sich ihnen rückhaltlos offenbart und sie zu Mitwissern von Angele-genheiten seines privaten Lebensbereichs macht. Daher besteht ein schutzwürdiges In-teresse daran, dass solche Tatsachen nicht zur Kenntnis Dritter gelangen. Könnte sichder Bürger dessen nicht sicher sein, bliebe ihm oft nur die Wahl, entweder eine Offen-barung seiner privaten Sphäre in Kauf zu nehmen oder auf eine sachgemäße Beratungvon vornherein zu verzichten“.16 Seine Rechtsprechung hat das BVerfG in den zurück-liegenden Jahren stets gefestigt und weiterentwickelt, zuletzt etwa mit den dringlichenWorten: „Der Schutz der anwaltlichen Berufsausübung vor staatlicher Kontrolle undBevormundung liegt [...] nicht allein im individuellen Interesse des einzelnen Rechts-anwalts oder des einzelnen Rechtssuchenden, sondern auch im Interesse der Allge-meinheit an einer wirksamen und rechtsstaatlich gebotenen Rechtspflege“.17 Diesscheint angesichts der weiteren Entwicklung – um es gleich einmal vorwegzunehmen– beinahe vergessen worden zu sein.

Bundesverfassungsgerichtliche Korrekturen der Gesetzesauslegung und-anwendung durch die Strafverfolgungsbehörden und die strafgerichtlicheRechtsprechung

Gleich mehrfach musste in der – insbesondere jüngsten – Vergangenheit die hier dar-gelegte, ursprüngliche Intention des Gesetzgebers hinsichtlich eines umfassendenSchutzes des Vertrauensverhältnisses zwischen Rechtsanwalt und Mandant sowie diediesbezügliche „großzügige“ Handhabung der gesetzlichen Vorschriften durch dieStrafverfolgungsbehörden gerade vom Bundesverfassungsgericht hinreichend korri-giert werden. Die nachgenannten und für die vorliegende Untersuchung ausgewähltenfünf Entscheidungen machen dies im besonderen Maße deutlich. Sie lassen zudem auchhinreichend erkennen, warum der Gesetzgeber überhaupt zur Neuregelung der(Un-)Zulässigkeit offener und verdeckter Ermittlungsmaßnahmen bei Strafverteidigernund nichtverteidigenden Rechtsanwälten entschlossen gewesen sein mag.

BVerfGE 109, 279

Bei genauer Betrachtung liegt die „Keimzelle“ zur heutigen Neuregelung des § 160 a inder schon legendären Entscheidung des BVerfG zur Verfassungsmäßigkeit des "GroßenLauschangriffs" (Abhörmaßnahmen über das nichtöffentlich gesprochene Wort in einer

2.

a)

16 BVerfG, Urteil vom 19. Juli 1972 – 2 BvL 7/71, BVerfGE 33, 367 = NJW 1972, 2214.17 BVerfG, Urteil vom 15. März 2007 – 1 BvR 1887/06, NJW 2007, 2317.

72 Sascha Kische

Page 74: Das ganze Heft als PDF-Datei

Wohnung) aus dem Jahre 2004.18 Soweit hinsichtlich der Frage der verfassungsrecht-lichen Zulässigkeit des Großen Lauschangriffs das Grundrecht auf Unverletzlichkeit derWohnung gemäß Art. 13 Abs. 3 GG im Vordergrund stand, finden sich in den Ent-scheidungsgründen für die hier vorliegende Besprechung folgende, für die zukünftigeEntwicklung maßgebliche Erwägungen: Der Schutz des Kernbereichs privater Lebens-gestaltung umfasse nach Auffassung des 1. Senats insbesondere die Kommunikationmit anderen Personen des besonderen Vertrauens.19 Soweit sich der Kreis der Letzterennur teilweise mit den in §§ 52 und 53 StPO genannten Zeugnisverweigerungsberech-tigten decke, schütze § 53 StPO nach seinem Grundgedanken das Vertrauensverhältniszwischen dem Zeugen und dem Beschuldigten.20 Dennoch erfolge auch dieser Schutznicht in allen Fällen des § 53 StPO um der Menschenwürde des Beschuldigten oder derGesprächspartner willen. So komme (nur) „dem Gespräch mit dem Strafverteidiger [...]die zur Wahrung der Menschenwürde wichtige Funktion zu, darauf hinwirken zu kön-nen, dass der Beschuldigte nicht zum bloßen Objekt im Strafverfahren“21 würde. Le-diglich vor diesem Hintergrund versteht sich die sich anschließende Formulierung desBVerfG, wonach andere Zeugnisverweigerungsberechtigte demgegenüber keinen un-mittelbaren Bezug zum Kernbereich privater Lebensgestaltung aufwiesen – deren Zeug-nisverweigerungsrechte würden schließlich nicht wegen des Persönlichkeitsschutzesdes Beschuldigten gewährt.22

An weiterer Stelle führt der 1. Senat aus, dass die gesetzlichen Vorschriften (indirektangesprochen sind die Normen der StPO) jedenfalls hinreichende Vorkehrungen dafürtreffen müssen, inwieweit Eingriffe in den absolut geschützten Kernbereich privaterLebensgestaltung zu unterbleiben haben, damit die Menschenwürde gewahrt wird.23

Entsprechend der oben herausgearbeiteten Überlegungen zum Verhältnis des Kernbe-reichs privater Lebensgestaltung und den in § 53 genannten Zeugnisverweigerungsbe-rechtigten lässt der Senat in einer – nahezu unscheinbaren – Urteilspassage sodann aberoffen, „ob es verfassungsrechtlich geboten wäre, sämtliche Berufsgeheimnisträger nach§ 53 StPO einem absoluten Überwachungsverbot zu unterstellen“, denn „der Gesetz-geber [sei jedenfalls] nicht gehindert, mit Blick auf den verfassungsrechtlichen Schutzbesonderer Vertrauensverhältnisse zusätzliche Beweisermittlungsverbote zu begrün-den“ [Hervorh. d. Verf.].24

BVerfGE 110, 226

Eine weitere, für die hier vorliegende Besprechung bedeutsame Entscheidung folgtenoch im selben Monat des Jahres 2004.25 In dem Verfassungsbeschwerdeverfahren hatte

b)

18 BVerfG, Urteil vom 3. März 2004 – 1 BvR 2378/98, BVerfGE 109, 279 = NJW 2004, 999(hier zit.).

19 BVerfG NJW 2004, 999, 1004 sub (4) b).20 Vgl. BVerfG NJW 2004, 999, 1004 sub (4) b).21 BVerfG NJW 2004, 999, 1004 sub (4) b).22 Vgl. BVerfG NJW 2004, 999, 1004 sub (4) b).23 BVerfG NJW 2004, 999, 1006 sub 3. a).24 BVerfG NJW 2004, 999, 1006 sub (2) (a).25 BVerfG, Urteil vom 30. März 2004 – 2 BvR 1520/01, BVerfGE 110, 226 = NJW 2004, 1305

(hier zit.).

Recht in Zeiten des Terrors 73

Page 75: Das ganze Heft als PDF-Datei

das Bundesverfassungsgericht über verfassungsrechtliche Probleme der strafgerichtli-chen Verurteilung von Strafverteidigern, die „bemakeltes“ Mandantengeld als Honorareangenommen haben, wegen Geldwäsche nach § 261 StGB zu entscheiden. Hinsichtlichstaatsanwaltschaftlich geführter Ermittlungsmaßnahmen gegen den Strafverteidigerneigt auch der 2. Senat zu der Auffassung, dass das Vertrauensverhältnis zwischen An-walt und Mandant allein hierdurch bereits empfindlich gestört sei.26 "Muss ein Mandantfürchten, dass der strafverfolgende Staat sich Zugang zu vertraulichen Informationenin der Hand seines Verteidigers verschaffen kann, so wird er sich an vertrauensvollerOffenheit gehindert sehen",27 bringt es der 2. Senat wörtlich auf den Punkt, was offenbarnoch nicht so recht klar zu sein schien.

Interessant in diesem Zusammenhang ist zudem die gewählte Formulierung, wo-nach "die freie Entscheidung des Strafverteidigers für oder gegen die Übernahme einesMandats [...] durch die mögliche und schwer zu prognostizierende Gefahr eigenerStrafbarkeit spürbar beeinträchtigt“28 sei. Insoweit verliert der 2. Senat kein Wort überdie Anwaltschaft im Allgemeinen, kein Wort über nichtverteidigende Rechtsanwälte,deren Tätigwerden für den Mandanten – woraus sich ebenfalls ihr Vergütungsanspruchherleitet – wohl generell genauso geeignet sein dürfte, potentiellen Geldwäschern eineTür zur Gesetzesumgehung zu öffnen. So heißt es an früherer Stelle des Urteils nurallgemein: „Die Wahrnehmung [der beruflichen Aufgabe des Strafverteidigers, mögli-che Zweifel an der Schuld des Mandanten zu wecken und vermeintliche Gewissheitenzu erschüttern] und der Umstand, dass der Strafverteidiger aus dem Verteidigungsver-hältnis Informationen sowohl über den Lebenssachverhalt, der dem Tatvorwurf zuGrunde liegt, als auch über die Vermögensverhältnisse seines Mandanten erlangt, kön-nen das Risiko des Strafverteidigers, selbst in den Anfangsverdacht einer Geldwäschezu geraten, signifikant erhöhen“.29

BVerfGE 113, 29

Eine zur Schaffung des § 160 a ebenso wegbereitende BVerfG-Entscheidung aus demJahre 200530 betraf die Zulässigkeit und Grenzen der Beschlagnahme von Datenträgernin einer Anwaltskanzlei. Während die beiden Beschwerdeführer eine gemeinsameRechtsanwaltskanzlei betrieben, war der zweite Beschwerdeführer zudem Steuerberaterund Mitgesellschafter einer unter der gleichen Adresse firmierenden Steuerberatungs-gesellschaft. Aufgrund eines staatsanwaltschaftlich geführten Ermittlungsverfahrenswegen des Verdachts, letzterer sei an einer groß angelegten Steuerhinterziehung betei-ligt, erließ das Amtsgericht Durchsuchungsbeschlüsse, die sich auf die Arbeitsplätzedieses Beschwerdeführers in der Rechtsanwaltskanzlei bezogen. Insgesamt wurden di-verse schriftliche Unterlagen und weitere Datenträger beschlagnahmt, wobei sich derZugriff auf vor Ort von Ermittlungsbeamten angefertigte Kopien aller Daten auf den

c)

26 Vgl. BVerfG NJW 2004, 1305, 1309 sub (c).27 BVerfG NJW 2004, 1305, 1310 sub (dd).28 BVerfG NJW 2004, 1305, 1311 sub (1).29 BVerfG NJW 2004, 1305, 1308 sub (a).30 BVerfG, Urteil vom 12. April 2005 – 2 BvR 1027/02, BVerfGE 113, 29 = NJW 2005, 1917

(hier zit.).

74 Sascha Kische

Page 76: Das ganze Heft als PDF-Datei

Festplatten von Computern der Rechtsanwaltskanzlei – so offenbar auch umfassendesDatenmaterial vom unverdächtigen ersten Rechtsanwaltskollegen – und auch der Steu-erberatungsgesellschaft bezogen hatte.

Nunmehr ohne auf eine Unterscheidung zwischen Strafverteidigern und nichtvertei-digenden Rechtsanwälten abzustellen oder nur einzugehen, stellt der 2. Senat fest, dassim vorliegenden Fall der Zugriff „auf den gesamten Datenbestand [...] wegen seinesUmfangs in schwerwiegender Weise das für das jeweilige Mandatsverhältnis voraus-gesetzte und rechtlich geschützte Vertrauensverhältnis zwischen den Mandanten undden für sie tätigen Berufsträger"31 beeinträchtige. Mehr noch anerkennt der 2. Senatjetzt, dass bei der Beschlagnahme des gesamten Datenbestands von Berufsgeheimnis-trägern „zwangsläufig eine besondere Gefahrenlage für die Integrität der Daten Unbe-teiligter und damit auch für das allgemeine Interesse an einer geordneten Rechtspflege[entstehe], die auf das nach außen abgeschottete Vertrauensverhältnis zwischen unab-hängigem Rechtsberater und Rechtssuchendem angewiesen ist“.32 Entsprechend rügtder 2. Senat, dass seitens der Strafverfolgungsbehörden im vorliegenden Fall abwä-gungserhebliche Umstände wie die geschützte Vertraulichkeit drittbezogener Datenoder auch die Beweiserheblichkeit der gespeicherten Informationen unberücksichtigtgeblieben und mithin eine Verhältnismäßigkeitsprüfung der getroffenen Maßnahmengänzlich unterblieben sind.33

Angesichts des bekannten Problems, dass es wegen der beträchtlichen Fülle der ge-sammelten und einbehaltenen Informationen in erheblichen Umfang zu sog. Zufalls-funden (vgl. § 108) kommen könne, sah sich der 2. Senat zu einer Formulierung veran-lasst, die maßgeblich den Gesetzgeber zum Handeln bewogen haben dürfte: "Die bisherin der Rechtsprechung entwickelten und anerkannten Beweisverwertungsverbote imZusammenhang mit der Durchsuchung und Beschlagnahme schützen teilweise vor un-erlaubten Eingriffen in Grundrechte. Zum wirksamen Schutz [...] und zur effektivenWahrung des Vertrauensverhältnisses zum Berufsgeheimnisträger wird aber zu prüfensein, ob ergänzend ein Beweisverwertungsverbot in Betracht zu ziehen ist. Dieses würdeder Effektuierung [...] des verfassungsrechtlich geschützten Vertrauensverhältnisseszum Rechtsberater dienen. [Hervorh. d. Verf.]“34 Die Aufforderung des BVerfG verstehtsich nur vor dem Hintergrund der überwiegend vertretenen Auffassung35 zu § 97, wo-nach das Beschlagnahmeverbot nur das Vertrauensverhältnis zwischen dem Zeugnis-verweigerungsberechtigten und dem Klienten, wenn dieser der Beschuldigte ist, erfasst.Ein solches Vertrauensverhältnis war unmittelbar zwischen den im konkreten Fall be-troffenen Beschwerdeführern nicht gegeben. Demgemäß war eine Beschränkung desBeschlagnahmeverbots auch nicht anzuerkennen. Dem BVerfG fehlte es insoweit aneiner einfach-gesetzlichen Vorgabe für die (Nicht-)Verwertbarkeit von Berufsgeheim-nisträgern zugehörigen Gegenständen. Mit Bezug darauf ruft das BVerfG also nach demGesetzgeber, zur Effektuierung durch eine „ergänzende“ Regelung zu Beweisverwer-tungsverboten bei Berufsgeheimnisträgern beizutragen. Der Staatsrechtler Sachs

31 BVerfG NJW 2005, 1917, 1919 sub 2.32 BVerfG NJW 2005, 1917, 1922 sub 3.33 Vgl. BVerfG NJW 2005, 1917, 1923 sub V.34 BVerfG NJW 2005, 1917, 1922/1923 sub 3.35 Anstatt vieler: Schäfer, in: Löwe-Rosenberg (LR), Großkommentar StPO, 25. Auflage 2004,

§ 97 Rn. 21 m.w.N.

Recht in Zeiten des Terrors 75

Page 77: Das ganze Heft als PDF-Datei

schlussfolgerte hiernach: „Für die Praxis werden Gesetzgeber und Strafgerichtsbarkeitzu erwägen haben, ob und wie sie das vom BVerfG angeregte Beweisverwertungsverbotauch jenseits des bereits festgestellten Mindestgehalts umsetzen können.“36 Die gesetz-geberische Antwort kam prompt und ist – erst im systematischen Zusammenhang er-sichtlich – in der Regelung des § 160 a Abs. 5 zu erblicken, worauf später noch zurück-zukommen sein wird.

BVerfG NJW 2007, 2749 und NJW 2007, 2752

Zwei letzte – zeitlich noch vor der Neuregelung des § 160 a – und zum besseren Ver-ständnis beitragende Entscheidungen betrafen Grund und Grenzen von Abhörmaßnah-men (nach § 100 a) einerseits bei einem Strafverteidiger, andererseits bei einem nicht-verteidigenden Rechtsanwalt eines zeitweise – mutmaßlich von Geheimdienstkreisen –entführten Mandanten.

In der ersten Entscheidung,37 die eine Abhörmaßnahme des Mobiltelefonanschlusseseines Strafverteidigers zum Gegenstand hatte, mahnte der 2. Senat zunächst an, dass dieÜberwachung des Telefonanschlusses eines Strafverteidigers nicht nur einfach-recht-lich (§ 148), sondern auch von Verfassungs wegen unstatthaft sei, wenn sie auf dieÜberwachung der Kommunikation zu seinem beschuldigten Mandanten abziele.38 An-gesichts dessen beeinträchtigen Abhörmaßnahmen im Hinblick auf geschäftliche undauch persönliche Telefonate eines Strafverteidigers "in schwerwiegender Weise das fürdas jeweilige Mandatsverhältnis vorausgesetzte und rechtlich geschützte Vertrauens-verhältnis zwischen dem Mandanten und den für sie tätigen Berufsträger".39 In dersel-ben Entscheidung kommt jedoch auch zum Ausdruck, dass dem Rechtsanwalt, ganzallgemein als berufenem unabhängigen Berater und Beistand, zur Erfüllung dieser Auf-gabe ebenso ein Vertrauensverhältnis zuzugestehen und das Tätigwerden des Anwaltsim Interesse der Allgemeinheit an einer wirksamen und geordneten Rechtspflege an-zuerkennen sei. Dennoch sei es – offenbar in anderen als § 148 und damit allein Straf-verteidiger betreffenden Fällen – nicht "von vornherein und in jedem Fall unstatthaft,den Fernsprechanschluss eines Rechtsanwalts nach Maßgabe des § 100 a überwachenzu lassen, die von ihm geführten Gespräche aufzunehmen und deren Inhalt im Straf-verfahren zu verwerten“.40

In der zweiten Entscheidung41 weist der 2. Senat die Fachgerichte dann in die Schran-ken, bei der Telefonüberwachung generell von Rechtsanwälten aus grundrechtlicherSicht besonders strenge Maßstäbe anzulegen. Bei der Telefon- und Telefaxüberwachungeines sog. Nachrichtenmittlers (§ 100 a S. 2) wird schnell deutlich, dass Rechtsanwälteals solche Nachrichtenmittler („für den Beschuldigten Handelnde“) in Betracht kommenkönnen. Allerdings gebiete "die herausgehobene Bedeutung der unkontrollierten Be-rufsausübung eines Rechtsanwalts die besonders sorgfältige Beachtung der Eingriffs-

d)

36 Sachs, JuS 2005, 934, 936.37 BVerfG, Urteil vom 18. April 2007 – 2 BvR 2094/05, NJW 2007, 2749.38 Vgl. BVerfG NJW 2007, 2749, 2750 sub c).39 BVerfG NJW 2007, 2749, 2751 sub 2. a).40 BVerfG NJW 2007, 2749, 2750 sub 1. b).41 BVerfG, Urteil vom 30. April 2007 – 2 BvR 2151/06, NJW 2007, 2752.

76 Sascha Kische

Page 78: Das ganze Heft als PDF-Datei

voraussetzungen und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit".42 Da hier der be-schwerdeführende Rechtsanwalt offensichtlich nicht als Verteidiger tätig gewordenwar, seien die verfassungsrechtlich zu beachtenden Vorgaben allein über die Abwägungmit dem öffentlichen Interesse an möglichst vollständiger Wahrheitsermittlung imStrafverfahren und wirksamer Aufklärung gerade schwerer Straftaten vorzunehmen.43

Zu den Hintergründen der Bestrebungen des Gesetzgebers zur Neuregelung

In Kenntnis dieser wichtigsten und hier vorangestellten bundesverfassungsrechtlichenEntscheidungen war der Gesetzgeber also entschlossen, für die notwendige „Abhilfe“zu sorgen. Nach der Lektüre dieser Entscheidungen lässt sich m.E. ein 3-Stufen-Sys-tem erkennen, welches die Bestrebungen des Gesetzgebers zu der Neuregelung des§ 160 a deutlich macht:

Auf der ersten und obersten Stufe ist der Kernbereich privater Lebensgestaltung44

(wohlgemerkt des Beschuldigten) zu beachten. Sofern die prozessuale Informationsge-winnung für das Ermittlungs- und vermeintliche Strafverfahren auf derartige Anhalts-punkte abzielt bzw. abzielen soll, die dem Kernbereich privater Lebensgestaltung zu-zurechnen sind (so anzunehmen bei der akustischen Wohnraumüberwachung gem.§ 100 c), ist dem aus dem Rechtsstaatsprinzip und dem Grundrecht der freien Berufs-ausübung (Art. 12 GG) hergeleiteten Schutz des Vertrauensverhältnisses zwischenRechtsanwälten und Mandanten uneingeschränkt der Vorzug einzugestehen.

Die gezielte Informationsgewinnung außerhalb des Kernbereichs privater Lebensge-staltung45 hat sich auf einer zweiten Stufe an der einfach-rechtlichen Hürde des § 148,die vom BVerfG als Ausdruck der Rechtsgarantie für eine wirksame Strafverteidigungverstanden wird,46 zu orientieren. Hiernach werden jegliche Ermittlungsmaßnahmen beiStrafverteidigern, die auf die Überwachung oder Auswertung der Kommunikation mitdem Beschuldigten gerichtet sind, regelmäßig ebenso unzulässig zu erachten sein.

Sofern ein konkretes Verteidigerverhältnis jedoch nicht bestehe, könne auf der drittenund untersten Stufe – so vermeintlich im Umkehrschluss zu den insoweit missverständ-lichen Formulierungen des Bundesverfassungsgerichts – offenbar nicht von vornherein

3.

42 BVerfG NJW 2752, 2753 sub 2.43 Vgl. BVerfG NJW 2752, 2752 sub 1. c).44 BVerfG NJW 2004, 999, 1002: „[...] die Möglichkeit, innere Vorgänge wie Empfindungen

und Gefühle sowie Überlegungen, Ansichten und Erlebnisse höchstpersönlicher Art zumAusdruck zu bringen, und zwar ohne Angst, dass staatliche Stellen dies überwachen. VomSchutz umfasst sind auch Gefühlsäußerungen, Äußerungen des unbewussten Erlebens sowieAusdrucksformen der Sexualität.“.

45 Hierbei ist zu vermuten, dass schon außerhalb des Wohnraums (des Beschuldigten) auch derKernbereich privater Lebensgestaltung verlassen sein dürfte. Mit den Worten des BVerfG(grundlegend im Urteil v. 23. Mai 1980 – 2 BvR 854/79, BVerfGE 54, 143 = NJW 1980,2572) dürfte vielmehr davon auszugehen sein, dass insoweit nicht mehr in den innerstenBereich der Persönlichkeit, sondern in die schlichte Privatsphäre eingegriffen wird und somiteiner Abwägung hinsichtlich der Verwertung des Beweises zugänglich ist. Ob dieses zu-künftig vermehrt zu anwaltlichen Beratungsgesprächen „in den eigenen vier Wänden desMandanten“ führen wird, bleibt gespannt abzuwarten.

46 Vgl. BVerfG (Fn. 36) NJW 2007, 2749, 2750 sub 1. c) aa).

Recht in Zeiten des Terrors 77

Page 79: Das ganze Heft als PDF-Datei

eine schwerwiegende Beeinträchtigung für das dem jeweiligen Mandatsverhältnis vor-ausgesetzte und rechtlich geschützte Vertrauensverhältnis zwischen einem nichtvertei-digenden Rechtsanwalt und seinem Mandanten angenommen werden. Erst eine recht-lich einwandfreie Abwägung nach den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit im Ein-zelfall könne den Vorrang einer wirksamen Strafverfolgung gegenüber dem (Individu-al-)Interesse an der Geheimhaltung des Berufsgeheimnisses entweder herbeiführen oderzurücktreten lassen.

Zur Rechts- und Gesetzeslage ab dem 1. Januar 2008

Die vormalige, maßgeblich durch das BVerfG geprägte Rechtslage findet sich nunmehrseit dem 1. Januar 2008 in der gesetzlichen Regelung des § 160 a wieder. Der Gesetz-geber hat sich hierzu der Form moderner und grundsätzlich zu begrüßender Gesetzes-formulierung bedient.

In § 160 Abs. 1 Satz 1 werden nunmehr ausdrücklich u.a. Strafverteidiger als dieje-nigen Personen herausgehoben, gegen die sowohl offene wie auch verdeckte Ermitt-lungsmaßnahmen insoweit unzulässig sind, als dass diese Maßnahmen voraussichtlichErkenntnisse zu Tage bringen, über die diese Personen – einer Vernehmungssituationgem. § 53 entsprechend – das Zeugnis verweigern dürften.

Auf die Anordnung der unzulässigen Beweiserhebung folgt im Satz 2 das entspre-chende „Beweisverwendungsverbot“. Nach vorzugswürdiger Auffassung47 ist darunterein vollumfängliches Nutzungsverbot zu verstehen, das jede weitere Heranziehung dergesperrten Informationen verbietet, und zwar auch, soweit diese nur als Ermittlungs-ansatz dienen sollen. Das „klassische“ Beweisverwertungsverbot – welches sozusagenim Beweisverwendungsverbot als Minus enthalten ist – untersagt es den Strafverfol-gungsbehörden dagegen lediglich, die im Wege der Beweiserhebung festgestellten Tat-sachen zum Gegenstand der Beweiswürdigung und Entscheidungsfindung zu ma-chen.48

Das vorgenannte Beweiserhebungs- sowie Beweisverwendungsverbot wird durch diein § 160 Abs. 1 Sätzen 3 und 4 auferlegten Pflichten, die Aufzeichnungen zu löschensowie die Tatsache der Erlangung und der Löschung aktenkundig zu machen, flan-kiert.49 § 160 Abs. 1 Satz 5 ordnet die Berücksichtigung des Beweiserhebungs- undBeweisverwendungsverbotes auch für die Fälle an, in denen sich eine Ermittlungsmaß-nahme zwar gegen eine andere Person als Strafverteidiger richtet, in diesem Zusam-menhang aber von einem Strafverteidiger Erkenntnisse erlangt werden, über die dieserwiederum das Zeugnis verweigern dürfte.

Strukturell anders sieht die Regelung dagegen für nichtverteidigende Rechtsanwälteaus. Wird bei offenen wie auch verdeckten Ermittlungsmaßnahmen ein nichtverteidi-gender Rechtsanwalt ins Visier genommen und werden dabei (voraussichtlich) Er-kenntnisse erlangt, über die diese Person bei entsprechender Vernehmungssituation das

III.

47 Grundlegend Rogall, Das Verwendungsverbot in § 393 II AO, in: Festschrift für Kohlmann(2003), 465, 497 f.; vgl. auch Meyer-Goßner, Strafprozessordnung, 51. Aufl. 2008, Rn. 57 dzu Einl. m.w.N.

48 Gössel, in: LR (Fn. 35), Rn. 7 zu Einl. L. m.w.N.49 So schon ausdrücklich BT-Drucks. 16/5846, S. 35.

78 Sascha Kische

Page 80: Das ganze Heft als PDF-Datei

Zeugnis verweigern dürfte, ist gem. § 160 Abs. 2 Satz 1, 1. Hs. – hinsichtlich der Zu-lässigkeit dieser und weiterer Ermittlungsmaßnahmen – eine Prüfung der Verhältnis-mäßigkeit vorgeschaltet. Eine Regelvermutung für die Strafverfolgungsbehörden trifftinsoweit der 2. Hs., der ein überwiegendes Strafverfolgungsinteresse für die Fälle ver-neint, in denen keine Straftat von erheblicher Bedeutung vorliegt oder anzunehmen ist.Im weiteren postuliert Satz 3, dass bei fehlendem Überwiegen des Strafverfolgungsin-teresses die beabsichtigte(-n) Maßnahme(-n) zu unterlassen oder, soweit dies entspre-chend möglich sei, zu beschränken ist. Hinsichtlich der Beweisverwertung (!), und zwarnamentlich „zu Beweiszwecken", wird in § 160 Abs. 2 Satz 4 abermals auf die in Satz1 geforderte Verhältnismäßigkeitsprüfung verwiesen.

Von besonderer Bedeutung für den Anwendungsbereich und das systematische Ver-ständnis sind sowohl § 160 a Abs. 4, der den gewährten Schutz bei einer Tatverstrickungdes Berufsgeheimnisträgers aufhebt, und insbesondere § 160 a Abs. 5, der namentlichdie §§ 97 und 100 c Abs. 6 für unberührt erklärt. Soweit im Gesetzgebungsentwurf dieseletztgenannten Normen für spezieller gehalten werden,50 ist mit Glaser/Gedeon51 zuRecht davon auszugehen, dass es sich hier richtigerweise um ein Spezialitätsverhältnishandelt. Daher genießen diese Regelungen insoweit Vorrang, als dass sich die Zuläs-sigkeit der Ermittlungsmaßnahmen der akustischen Wohnraumüberwachung (§ 100 c)und der Beschlagnahme von Gegenständen (§ 97) gegenüber den anwaltlichen Berufs-geheimnisträgern weiterhin nach den dort genannten Voraussetzungen bestimmt. Nursoweit es an gesetzlichen Vorgaben für die Beweiserhebung einschließlich der(Nicht-)Verwertbarkeit der hiernach gewonnenen Erkenntnisse fehlt, ist ergänzend dieRegelung des § 160 a zu beachten. Zur Verdeutlichung dieses mehrstufigen Systems desSchutzes der anwaltlichen Berufsgeheimnisträger soll abschließend nachfolgende Ab-bildung 1 dienen:

Abbildung 1:

Ermittlungsmaßnahmennach der StPO Strafverteidiger Nichtverteidigende

Rechtsanwälte

Zeugenvernehmung(§ 53) Absoluter Schutz über § 53 I

Abhören und Aufzeich-nen des in einer Woh-nung nichtöffentlich ge-sprochenen Wortes(§ 100 c)

Absoluter Schutz über § 100 c VI Satz 1, 1. Hs.;es sei denn, der Berufsgeheimnisträger ist selbst der Tat-beteiligung oder als Beteiligter der §§ 257 ff. StGB ver-dächtig (100 c VI Satz 3)

50 Vgl. BT-Drucks. 16/5846, S. 38.51 Glaser/Gedeon (Fn. 5) GA 2007, 415, 428 sub f).

Recht in Zeiten des Terrors 79

Page 81: Das ganze Heft als PDF-Datei

Ermittlungsmaßnahmennach der StPO Strafverteidiger Nichtverteidigende

Rechtsanwälte

Beschlagnahme vonSchriftstücken undsonstigen Gegenständen(§ 97)

Absoluter Schutz im Vertrauensverhältnis zum Beschul-digtenund in den Grenzen des § 97 II Satz 1 [Hervorh. d. Verf.];es sei denn, der Berufsgeheimnisträger ist selbst der Tat-beteiligung oder als Beteiligter der §§ 257 ff. StGB ver-dächtig (§ 97 Abs. 2 Satz 3)

Alle sonstigen offenenund verdeckten Ermitt-lungsmaßnahmen52

Absoluter Schutzüber § 160 a Abs. 1;es sei denn, der Straf-verteidiger ist selbstder Tatbeteiligungoder als Beteiligterder §§ 257 ff. StGBverdächtig (§ 160 aAbs. 4)

(doppelt) Relativer Schutzüber § 160 a Abs. 2:bei Beweiserhebung (S. 1, 2. Hs.):Abwägung des Strafverfolgungs-mit dem Geheimhaltungsinteres-se;bei Beweisverwendung (S. 4): Ab-wägung des Strafverfolgungs- mitdem Geheimhaltungsinteresse; essei denn, der nichtverteidigendeRechtsanwalt ist selbst der Tatbe-teiligung oder als Beteiligter der§§ 257 ff. StGB verdächtig(§ 160 a Abs. 4).

Zur Rechtfertigung der Norm, dargestellt an 3 ausgewählten (Gesetzes-)Textpassagen

Die entscheidende Frage nach der Rechtfertigung der Vorschrift, insbesondere vor demHintergrund der Bekämpfung organisierter Kriminalität und des Terrorismus, hängt engzusammen mit dem Umstand, dass die Gesetzesfassung des § 160 a über die oben her-ausgearbeiteten Erwägungen des BVerfG zur Reichweite des Schutzes von anwaltlichenBerufsgeheimnisträgern an einigen Textpassagen hinausgeht und damit unweigerlichzu neuerlichen Problemkreisen führt. Die Frage der Rechtfertigung ist aber – nach einerkritischen Würdigung und unter der Berücksichtigung der nachgenannten Aspekte (1.–3.) – letztendlich zu bejahen.

§ 160 a Abs. 1 Satz 4

So löst schon die Vorschrift des § 160 a Abs. 1 Satz 4 erste Verwunderung aus. Nichtvordergründig der Gesetzeswortlaut, sondern die gesetzgeberischen Erläuterungen inder Begründung überraschen, wonach bei Ermittlungsmaßnahmen, die sich gegen den

IV.

1.

52 Reiß (Fn. 6), StV 2008, 539, 540: „[...] hauptsächliche Geltung [...] für die Fälle der Tele-fonüberwachung, für verdeckte Ermittlungsmaßnahmen außerhalb des von Art. 13 GG ge-schützten Bereiches und allgemein für solche, die sich nicht unmittelbar gegen den Berufs-geheimnisträger selbst richten, von denen er jedoch (mit-)betroffen ist“.

80 Sascha Kische

Page 82: Das ganze Heft als PDF-Datei

Beschuldigten oder sonstige Dritte, aber nicht gegen den Strafverteidiger richten, einrelatives Beweiserhebungsverbot in die Norm hineinzulesen sei und – so wörtlich – „[...]sich in besonderen Einzelfällen unter Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismä-ßigkeit die Verpflichtung ergeben [kann], die Maßnahme gegen einen Dritten zu unter-brechen, wenn es sich etwa um eine ausnahmsweise in Echtzeit erfolgende Telekom-munikationsüberwachung handelt und dabei ein Gespräch etwa als Verteidigergesprächerkannt wird“.53 Ob diese intendierte Lesart wiederum selbst vor dem BVerfG Bestandhaben würde, ist zweifelhaft: Wie oben54 herausgestellt wurde, genießt nach insoweitgefestigter Rechtsprechung des BVerfG der uneingeschränkte und unüberwachte(fern-)mündliche und schriftliche Verkehr zwischen Strafverteidiger und Beschuldig-tem nicht nur einen einfach-rechtlichen, sondern zugleich einen aus § 148 als Ausdruckeiner Rechtsgarantie verstandenen und damit von der Verfassung eingeräumten Schutz.Es kann daher ernsthaft keinen Unterschied machen, ob sich Ermittlungsmaßnahmengegen den Strafverteidiger richten und dieser den Kontakt mit dem Beschuldigten suchtoder aber sich die Maßnahmen gegen den Beschuldigten richten und dieser auf denKontakt zum Strafverteidiger abzielt. Für beide Fälle sollte selbstverständlich sein, dassdas hierbei erlangte Wissen in die Berufsausübung fällt oder zumindest unmittelbar mitihr zusammenhängt und somit vom Zeugnisverweigerungsrecht des Strafverteidigersumfasst ist.55 In beiden Fällen ist die Beweiserhebung daher – sofern ein konkretesVerteidigungsverhältnis festgestellt wird – zwingend abzubrechen, auch mit der Gefahr,dass womöglich wichtige Informationen für die Ermittlungsbehörden verloren gehen.Hier ein relatives Beweiserhebungsverbot mit Abwägungsvorbehalt vorzuschalten,dürfte nicht nur unpraktikabel sein, sondern würde geradezu den erwähnten weitrei-chenden und gewollten Schutz des Instituts der Strafverteidigung unterlaufen. Auchnach der eigens gesetzten Intention des Gesetzgebers, ein harmonisches Gesamtsystemder strafprozessualen heimlichen Ermittlungsmethoden zu schaffen,56 muss dieses Be-weiserhebungsverbot gleichermaßen für Telekommunikationsaufzeichnungen wie auchfür alle anderen verdeckten Ermittlungsmaßnahmen gelten.57 Anders verhält es sichhingegen bei Maßnahmen, die auf die Kommunikation zwischen sonstigen, nicht mitdem Beschuldigten identischen Dritten und Strafverteidigern abzielen. Diese unterstehtzweifelsohne nicht dem Schutz aus § 148 und dem verfassungsrechtlich abgesichertenInstitut der Strafverteidigung, so dass hier eine potentielle Informationsgewinnung wei-ter möglich und mithin auch gewollt ist. Indes dürfte aber die Praktikabilität für dieErmittlungspersonen noch mehr infrage gestellt sein, ob nicht ein Verteidigerverhältniszu diesem Dritten besteht.58

53 BT-Drucks. 16/5846, S. 35.54 Vgl. oben unter II. 2. a) und d).55 Zu dieser Voraussetzung für das Zeugnisverweigerungsrecht vgl. Meyer-Goßner (Fn. 47),

§ 53 Rn. 7 f.56 BT-Drucks. 16/5846, S. 1.57 So schon Glaser/Gedeon (Fn. 5), GA 2007, 415, 424.58 So soll sich etwa Wirth in seiner Stellungnahme des Bayerischen Landeskriminalamtes an-

lässlich der öffentlichen Anhörung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages am21.9.2007 dahingehend geäußert haben, dass es aus Sicht der Polizei schon praktischeSchwierigkeiten bereiten dürfe, überhaupt Kenntnis davon zu erlangen, ob ein Anwalt auchVerteidiger sei, da die Bevollmächtigung hierzu jederzeit, auch mündlich erfolgen könne(zitiert nach Reiß (Fn. 6), StV 2008, 539, 547 (vgl. dort Fn. 58)).

Recht in Zeiten des Terrors 81

Page 83: Das ganze Heft als PDF-Datei

§ 160 a Abs. 2 Satz 1 (i.V.m. Satz 3)

Ebenso Anlass zur Kritik erweckt die Gesetzesformulierung in § 160 a Abs. 2 Satz 1(i.V.m. Satz 3). Soweit sich der Gesetzgeber an der vornehmlich in der Rechtsprechungvertretenen Abwägungslehre orientierte,59 wird hierbei bekanntlich das staatliche In-teresse an der Strafverfolgung gegen das Individualinteresse des Bürgers auf Wahrungseiner Rechte umfassend im Einzelfall abgewogen, wobei insbesondere die Schweredes Delikts und das Gewicht des Verfahrensverstoßes eine Rolle spielen sollen.60 DerGesetzgeber hat sich im Nachhinein61 im 2. Hs. ersichtlich dafür entschieden, demstaatlichen Interesse bei einer Schwere der Delikte „von erheblicher Bedeutung" denVorzug einzuräumen und die Abwägung insoweit positiv-rechtlich auf Seiten der Er-mittlungsbehörden mit einer Regelvermutung für ein überwiegendes Strafverfolgungs-interesse gegenüber dem Geheimhaltungsinteresse begünstigt. Was unter dem strafpro-zessualen Begriff einer „Straftat von erheblicher Bedeutung“ zu verstehen ist, hat dasBundesverfassungsgericht unlängst klargestellt: Die Straftat „muss mindestens der mitt-leren Kriminalität zuzurechnen sein, den Rechtsfrieden empfindlich stören und geeignetsein, das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchti-gen“.62 Vergegenwärtigt man sich dazu noch den nicht zu leugnenden Umstand, dassder Erhebungsvorgang und der Verwertungsvorgang zwei beweisrechtliche Vorgängesind, die im zeitlichen Ablauf einander nachfolgen, und man hiernach berechtigterweiseschlussfolgern muss, dass die jeweiligen Voraussetzungen im Zeitpunkt ihrer jeweiligenVornahme vorzuliegen haben, so lässt sich der Norm des § 160 a Abs. 2 insgesamt dienachfolgend abgebildete, differenzierte Systematik – die zudem verschiedene Begriff-

2.

59 BT-Drucks. 16/5846, S. 36.60 Vgl. Meyer-Goßner (Fn. 47), Rn. 55 a m.w.N.61 Im Gesetzesentwurf war hier noch ausdrücklich die Berücksichtigung des öffentlichen Inter-

esses an der vom Geheimnisträger wahrgenommenen Aufgaben und an der Geheimhaltungder ihm anvertrauten Tatsachen im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung vorgesehen,vgl. Glaser/Gedeon (Fn. 5), GA 2007, 415, 425.

62 BVerfG (Fn. 17) NJW 2004, 999, 1010 sub (1) (a).

82 Sascha Kische

Page 84: Das ganze Heft als PDF-Datei

lichkeiten beinhaltet – entnehmen, was zugleich und unweigerlich neue Fragestellungenaufwirft:

Abbildung 2:

Unterscheidungs-kriterium für Ver-hältnismäßigkeits-prüfung

Beweiserhebungsverbot Beweisverwendungsverbot

Verdacht vonStraftat(-en) vonerheblicher Be-deutung

(-), weil regelmäßig Über-wiegen des Strafverfol-gungsinteresses (argumen-tum e contrario § 160 aAbs. 2 S. 1, 2. Hs.)

(-), weil regelmäßiges Überwie-gen des Strafverfolgungsinteres-ses(§ 160 a Abs. 2 S. 3 i.V.m. S.1),(F) ist jedoch Rechtsfolge, wennnachträglich keine Straftat vonerheblicher Bedeutung vorliegt?

Kein Verdacht vonStraftat(-en) vonerheblicher Be-deutung

(+), weil kein regelvermute-tes Überwiegen des Strafver-folgungsinteresses(§ 160 a II Satz 1, 2. Hs.)

Beweisverwertungsverbot (!)zu Beweiszwecken(§ 160 Abs. 1 S. 3 i.V.m. S. 1),(F) ist jedoch Rechtsfolge, wennnach Erhebung eine Straftat vonerheblicher Bedeutung vorliegt?

Der Gesetzgeber hält für die herausgestellten Fragestellungen bereits klare, aber kei-nesfalls unbedenkliche Antworten parat.

Soweit die Erhebung von Erkenntnissen in Anbetracht einer anfänglich angenomme-nen schweren – oder gar terroristischen – Straftat regelmäßig verhältnismäßig und damitgerechtfertigt ist, soll sich für das weitere Verfahren, wenn sich hiernach lediglich eineBagatelltat herausstellt, ein umfassendes Verwendungsverbot ergeben.63 Da die daten-relevanten Erkenntnisse aber erhoben worden sind, fragt sich, wie mit den hierüberangefertigten Aufzeichnungen umzugehen ist. Hier bleibt ohne jeden berechtigtenZweifel nur eines zu schlussfolgern: Die Löschungs- und Dokumentationspflichten aus§ 160 a Abs. 1 Sätze 3 und 4, die an das von Gesetzes wegen erklärte Beweisverwen-dungsverbot in § 160 a Abs. 1 Satz 2 anknüpfen, sind auch hier zu berücksichtigen.Vorzugswürdig erscheint es m.E., eine entsprechende Anwendung auch in den Kon-stellationen des § 160 a Abs. 2, in denen nach Beweiserhebung keine Straftat von be-sonderer Bedeutung (mehr) vorliegt, zu befürworten. Den Interessen der von § 160 aAbs. 2 betroffenen Zeugnisverweigerungsrechte würde damit ausreichend Rechnunggetragen.

In dem umgekehrten Fall, dass erst nachträglich eine Straftat von besonderer Bedeu-tung erkennbar wird, soll nach dem Gesetzentwurf sogar noch Vergleichbares gelten.Hätte eine beweisrelevante Erhebung angesichts einer zunächst nur geringen Schwereeiner Straftat nicht vorgenommen werden dürfen, sich dann aber später herausstellt, dass

63 Vgl. BT-Drucks. 16/5846, S. 37.

Recht in Zeiten des Terrors 83

Page 85: Das ganze Heft als PDF-Datei

es sich um eine möglicherweise schwere oder terroristische Straftat handelt, so soll dieVerwertung der zunächst ganz offensichtlich unverhältnismäßig und damit rechtswidrigerhobenen Erkenntnisse zur Verfolgung der Straftat von besonderer Bedeutung gleich-wohl zulässig sein.64 Stellt man – wie es offenbar der Gesetzgeber verfolgt65 – auf denleitenden Gedanken ab, wonach eine Verhältnismäßigkeitsprüfung sowohl zur Frageder Beweiserhebung als auch zur Beweisverwendung zu unterschiedlichen Zeitpunktenvorzunehmen ist und sich aufgrund zwischenzeitlicher Änderungen der Sachlage diePrüfung der Verwertbarkeit erlangter Kenntnisse auch unterscheiden kann, so lässt einesolche Sichtweise m.E. eine tiefergehende Auseinandersetzung und Berücksichtigungmit einem rechts- und justizförmigen Verfahren vermissen. Allein die der Beweiserhe-bung nachgeschaltete, abermalige Abwägung (nur) zwischen der Schwere der began-genen Rechtsverletzung einerseits und der Bedeutung des Tatvorwurfs andererseits wirddem nicht gerecht und ist m.E. für die hier behandelte Frage nach der Beweisverwertungauch zu kurz gegriffen. Die vom Gesetzgeber favorisierte „Abwägungslehre“ solltevielmehr für die hier behandelte Frage nach der Beweisverwertung vorzugswürdig zu-gunsten einer im strafrechtlichen Schrifttum mehrheitlich vertretenen Beweisverbots-lehre zurückgestellt werden. Inwieweit auf einen Prozessrechtsverstoß – hier eine Be-weisgewinnung, obwohl anfänglich (der Verdacht) eine(r) Straftat von besonderer Be-deutung nicht vorgelegen hat – eine Nichtverwertung folgt, bestimmt sich für die wei-testgehend auf Rogall zurückgehende Auffassung66 unter Berücksichtigung der Feh-lerschwere, der Schutzwürdigkeit und Schutzbedürftigkeit der verletzten (verfassungs-rechtlich abgesicherten) Interessen und der obwaltenden Strafverfolgungsinteressen.Zwar ist nicht zu leugnen, dass die Verfolgung schwerster und terroristischer Krimina-lität zu den vordergründigen Strafverfolgungsinteressen zu zählen ist. Dem steht abergegenüber, dass die Eingriffsermächtigungen (Beweisgewinnung) bei Berufsgeheim-nisträgern mit verfassungsrechtlich verbürgten Rechten und Interessen schon die An-nahme einer Straftat von erheblicher Bedeutung voraussetzen und demgemäß einen be-achtlichen Unterschied zum größtenteils geforderten einfachen oder hinreichenden Tat-verdacht (jedweder Straftat) auferlegen. Dies kann und darf im Rahmen einer Abwägunghinsichtlich der möglichen Beweisverwertung nicht unberücksichtigt bleiben. Die sog.„Fehlerschwere“ des Prozessrechtsverstoßes dürfte sich hierbei zu Ungunsten der Er-mittlungsbehörden auswirken, wonach sich dann ein Übergewicht der Abwägung fürein Beweisverwertungsverbot ergibt. Man darf hinsichtlich dieser Fragen auf erste Ent-scheidungen der Strafgerichte gespannt sein.

§ 160 a Abs. 4 Satz 1

Sozusagen als "Kehrseite" der beabsichtigten wie auch unbeabsichtigten Ausweitungvon Ermittlungsmaßnahmen auf die anwaltlichen Berufsgeheimnisträger stellt § 160 aAbs. 4 Satz 1 den von Absatz 1 gewährleisteten absoluten und von Absatz 2 im Einzelfallgewährleisteten relativen Schutz für das weitere Strafverfahren durchweg sicher. Dieser

3.

64 Vgl. BT-Drucks., a.a.O.65 Ausdrücklich BT-Drucks., a.a.O.66 Vgl. Nachweise bei Rogall, in: Rudolphi u.a. (Hrsg.), Systematischer Kommentar zur Straf-

prozessordnung, 6. Auflage, 14. Lieferung, Stand: Juli 1995, § 136 a Rn. 94 m.w.N.

84 Sascha Kische

Page 86: Das ganze Heft als PDF-Datei

Schutz ist erst dann beendigt, soweit der Berufsgeheimnisträger der Beteiligung an derTat (des Beschuldigten) selbst oder aber der Beteiligung (!) an einer Begünstigung,Strafvereitelung oder Hehlerei verdächtig ist. Dahinter steckt die richtige Überlegung,dass es eben keinen "Freifahrtschein" für Berufsgeheimnisträger für mögliche krimi-nelle Aktivitäten oder Verstrickungen in die Taten des Beschuldigten gibt. Neu ist al-lerdings, dass der Berufsgeheimnisträger der entsprechend genannten Taten schon ver-dächtig sein muss,67 was deutlich darauf hindeutet, dass ein Ermittlungsverfahren gegenden Berufsgeheimnisträger eingeleitet und dieser selbst in eine Beschuldigtenstellunggerückt sein muss. Hätte der Gesetzgeber dies anders geregelt haben und die aus derErmittlungsmaßnahme gewonnenen Erkenntnisse bereits selbst zur Begründung des er-forderlichen Ermittlungsverfahrens gegen den anwaltlichen Berufsgeheimnisträger her-anziehen wollen, dann hätte dies m.E. einer dem § 108 Abs. 1 Satz 1 für Zufallsfundebei einer Durchsuchung vergleichbare Regelung bedurft, was offensichtlich aber nichterfolgt ist. Soweit hiernach in den Drucksachen die Formulierung etwas widersprüchlicherscheint, "[A]uch kann sich aus einer zunächst unzulässigen Erhebung ein Verdachtgegen den Berufsgeheimnisträger ergeben, in die aufzuklärende Straftat verstrickt zusein, so dass – unter den Voraussetzungen des Absatzes 4 – die Schutzregelung desAbs. 2 nicht mehr eingreift [...]"68 [Hervorh. d. Verf.], ist dem hier hervorgehobenenVerweis die entscheidende Bedeutung beizumessen. Die Notwendigkeit der Beachtungder Voraussetzungen des Abs. 4 liegt nicht etwa darin, dass der Berufsgeheimnisträgerin den Verdacht der Beteiligung an den genannten Taten kommt, sondern dass dieserschon entsprechend verdächtig ist. Nur hieran ist die zulässige Beweiserhebung zu mes-sen und die hieraus gewonnenen Erkenntnisse gegen den Berufsgeheimnisträger alsBeschuldigtem zu verwerten. Der Gesetzesbegründung ist abschließend in dem Punktentschieden entgegenzutreten, wonach sich selbst aus einer „zunächst unzulässigen Er-hebung“ ein Verdacht gegen den Berufsgeheimnisträger ergeben kann.69 Nach den obi-gen Ausführungen unter IV. 2. ist hier wie dort angesichts der Fehlerschwere des Pro-zessrechtsverstoßes ein Beweisverwertungsverbot zu befürworten.

Zusammenfassung und Ausblick

Der vorstehende Beitrag ist der Rechtsprechung des BVerfG zur Zulässigkeit von straf-prozessualen Ermittlungsmaßnahmen bei Strafverteidigern und nichtverteidigendenRechtsanwälten sowie die darauf bezogene gesetzgeberische Umsetzung in der Neure-gelung des § 160 a gewidmet. Es wäre sicherlich falsch, dem Gesetzgeber (allein) den„Schwarzen Peter“ für die Neuregelung zuzuschieben, denn § 160 a gründet – wie sichhier gezeigt hat – auf verfassungsrechtlich abgesegnetem Fundament. Soweit darüberhinausgehend die Ausgestaltung im Einzelnen die Aufgabe des Gesetzgebers ist, demhierbei ein weiter Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum eingeräumt wird,70 könnenihm jedoch die Grenzen, insbesondere die eines Rechtsstaates bei der Abwehr terroris-

V.

67 Darauf deuten zu Recht schon Glaser/Gedeon (Fn. 5), GA 2007, 415, 428 hin.68 BT-Drucks. 16/5846, S. 37.69 Vgl. BT-Drucks. 16/5846, a.a.O.70 Vgl. aus jüngerer Zeit BVerfG, Urteil v. 11. Mai 2007 – 2 BvR 543/06, NJW 2007, 2753,

2755 sub (3) m.w.N.

Recht in Zeiten des Terrors 85

Page 87: Das ganze Heft als PDF-Datei

tischer Bedrohungen, nur durch weitergehende wissenschaftliche Durchdringung auf-gezeigt werden. Dabei ist besonderes Augenmerk auf die Auseinandersetzung mit denhistorischen Ursprüngen sowie die Abwägung mit den Individualinteressen einzelnerbetroffener Personen oder Personengruppen zu richten, was die vorliegende Bearbeitungfür die Frage der Rechtfertigung des § 160 a deutlich zu machen versucht.

Nach den hier getätigten Ausführungen lassen sich – zumindest im Spannungsfeldzwischen Strafprozessrecht und Verfassungsrecht – im Wesentlichen zwei Grundaus-sagen treffen: Recht in Zeiten des Terrors zielt auf eine effiziente und zugleich verein-fachte Informationsgewinnung ab. Die Stärkung der Informationsgewinnung führt zwar(noch nicht) zu einer Verschiebung des „Kräftegleichgewichts“ zwischen strafverfol-genden Ermittlungsbehörden und den als Strafverteidiger tätigen Rechtsanwälten. Unterdem „Deckmantel“ einer effektiven – auch schwerster und terroristischer – Verbre-chensbekämpfung geraten jedoch zunehmend nichtverteidigende Rechtsanwälte ins Vi-sier der Strafverfolgungsbehörden, auf deren vermeintliche Informationen – im Zugevon Ermittlungstätigkeiten – scheinbar nicht wirklich verzichtet werden kann. Insoweitlässt sich mit Recht von (dem Versuch) einer „Terrorismusbekämpfung an (nahezu)allen Fronten“ sprechen. Recht in Zeiten des Terrors bewegt sich aber desgleichen in-nerhalb einer verfassungsrechtlichen „Grauzone“. Soweit Vorgaben und mitunter imEinzelfall nicht entscheidungserhebliche, aber generell erwogene Einschätzungen derhöchstrichterlichen Rechtsprechung verlautbart wurden, werden diese zwar im Ganzenumgesetzt, aber auch weitergehende Regelungen getroffen, die befürchten lassen, dasswiederum die Gerichte und schließlich das BVerfG zur Rechtmäßigkeitskontrolle ein-geschaltet werden müssen.

Will man einen Ausblick wagen, so überrascht doch gleich wieder, dass schon nachwenigen Monaten ein erster Gesetzesentwurf71 zur entsprechenden Änderung des§ 160 a zu verzeichnen ist. Im Gesetzesentwurf ist jedoch keineswegs von einer Ab-schaffung die Rede. Vielmehr wird die Einbeziehung aller in § 53 Abs. 1 Nr. 3 genanntenBerufsgeheimnisträger in den Schutzbereich des § 160 Abs. 1 gefordert, was – wie nichtanders zu erwarten war – dem Gesetzesentwurf sogleich die ausdrückliche Zustimmungdes Deutschen Anwaltvereins einbrachte.72 Plakativ und weitestgehend unter Ausblen-dung der hier vorgestellten bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung heißt esetwa im Gesetzesentwurf, dass die unterschiedliche Behandlung von Anwälten undVerteidigern sowie die vorgesehene Verhältnismäßigkeitsprüfung die verfassungsrecht-liche Stellung von Rechtsanwälten verkenne, zudem der gesetzgeberische Zweck des§ 53 ausgehöhlt und der Schutz des Vertrauensverhältnisses zwischen den Angehörigendieser Berufsgruppen und denen, die ihre Hilfe und Sachkunde in Anspruch nehmen,aufgeweicht werde, schließlich die vorgesehene Regelung kaum praktikabel erscheineund mit ihrer Verhältnismäßigkeitsprüfung sowohl bei der Anordnung der Maßnahmeals auch bei der Verwertung der gewonnenen Erkenntnisse zu unvorhersehbaren Ein-zelfallentscheidungen führe, ja sogar die begründete Sorge bestehe, dass die Prüfungder Verhältnismäßigkeit oft zu Ungunsten des Rechtsanwalts ausfallen könne.

71 Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Strafprozessordnung (§ 160 a StPO), vgl. unterwww.anwaltverein.de/downloads/Depescheninhalte/GE-StPO-II.pdf, abgerufen am 20.10.2008.

72 Deutscher Anwaltverein: Berufsgeheimnisträger brauchen absoluten Schutz – www.juris.de.

86 Sascha Kische

Page 88: Das ganze Heft als PDF-Datei

Aber auch diese Entwicklung prägt – so zumindest auf strafprozessualem Gebiet –das Bild vom „Recht in Zeiten des Terrors“. Die oftmals aus intensiven politischenBeratungen sowie aus zunehmenden wissenschaftlich und praktisch fundierten Diskus-sionen hervorgegangenen Gesetzesneuerungen73 werden kurzerhand – vornehmlich ausinteressenpolitischen Motiven – wieder infrage gestellt und die vormals ausschlagge-bende Gesetzesbegründung in ihr Gegenteil verkehrt. Eine derartige Entwicklung, so-fern dieser nicht mit allen Kräften entgegengetreten wird, verheißt in dieser Form fürdie Zukunft nichts Gutes: einerseits stimmt sie nicht nur nachdenklich, sondern birgtmehr noch die Gefahr eines Ansehensverlustes oder gar fehlender Akzeptanz des Rechtsin sich, andererseits lässt sie eine beinahe unzählige Zunahme von Gesetzesnormen undhierdurch bedingt eine solche Unübersichtlichkeit befürchten, dass am Ende niemand –auch nicht der vermeintlich Rechtskundige – mehr weiß, ob und ggf. inwieweit er insVisier staatlicher Überwachung gerät und geraten kann.

73 Bei dem hier in Rede stehenden Gesetz (vgl. Fn. 2), wurden angesichts des selbstgesetztenZieles, „die Bedürfnisse der Strafverfolgungspraxis und den Diskussionsstand in der Rechts-wissenschaft“ zu berücksichtigen, insgesamt zahlreiche „rechtswissenschaftliche und recht-statsächliche Gutachten“ eingeholt, vgl. BT-Drucks. 16/5846, S. 1. Zum Nachweis der Be-ratungen und Beratungsinhalte zu diesem Gesetz am 21. September 2007 vgl. auch http://www.bundestag.de/ausschuesse/a06/anhoerungen/24_TKUE_Vorratsdatenspeicherung/in-dex.html.

Recht in Zeiten des Terrors 87

Page 89: Das ganze Heft als PDF-Datei

Das Kind X: Verfassungsrechtliche Fragen der anonymen Kindesabgabe*

Einführung

„Kinder sind das köstlichste Gut eines Volkes,“ verkündet Art. 125 Abs. 1 S. 1 BV, ohneZweifel einer der schönsten Sätze der bayerischen Verfassung. Die besondere AffinitätBayerns zum Barock wird hier gewissermaßen in Rechtsworte gegossen. Die meistenKinder benötigen diese prosaische Fürsprache durch das Verfassungsrecht zum Glücknicht. Sie sind das köstlichste Gut ihrer Eltern. Diese Beziehung beruht auf sittlichenStandards, nicht auf Rechtsnormen, und seien sie auch noch so wohlklingend. Einver-nehmliche elterliche Liebe, die dem Wohle des Kindes dient, benötigt keine rechtlicheRegulierung.1 Erst wenn soziale Konventionen nicht mehr greifen, bestimmen Rechts-normen und entscheiden außerfamiliäre Institutionen, was dem Kindeswohl dienlich ist.

Manches Kind benötigt den Schutz des Rechts schon vor oder kurz nach seiner Geburt.Dabei hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass wirksamer Schutz in dieser Lebensphasedes Kindes nur mit und nicht gegen die Mutter verwirklicht werden kann und daherBeratung und soziale Hilfsangebote der beste Lebensschutz sind.2 Doch nicht jedesHilfsangebot hält, was es verspricht. Besonders kontrovers wird derzeit über Einrich-tungen diskutiert, in denen neugeborene Kinder anonym abgegeben/geboren werdenkönnen. Sie sollen verhindern, dass Mütter in extremen psychosozialen Lebenssitua-tionen ihre Neugeborenen aussetzen oder töten. Im Wesentlichen kann man zwischenzwei Arten anonymer Kindesabgaben unterscheiden:3

Bei den überwiegend von katholischen Krankenhäusern und privaten Vereinen be-triebenen Babyklappen wird eine Öffnung in einer Hauswand eingerichtet, hinter dersich ein Wärmebett befindet, in das das Neugeborene eingelegt werden kann. Unmit-telbar danach schließt sich die Klappe; der Mutter wird ein gewisser Zeitraum einge-räumt sich unerkannt zu entfernen, bevor im Haus ein Signal ertönt, das das medizini-sche Personal auf die Benutzung der Babyklappe aufmerksam macht. Das Angebot wirdmit Informationen über Beratungsmöglichkeiten und oftmals auch mit Verfahrensvor-schlägen verbunden, die der späteren Identifikation für den Fall dienen, dass die Mutter

I.

* Der nachfolgende Text beruht auf einer Stellungnahme im Rahmen einer Anhörung beimDeutschen Ethikrat am 23. 10. 2008; vgl. das Wortprotokoll der Anhörung unterwww.ethikrat.org/der_files/Wortprotokoll_2008-10-23_Website.pdf – Der Autor ist Inhaberdes Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Sozialrecht und Gesundheitsrecht und Leiter derForschungsstelle für Medizin- und Gesundheitsrecht an der Juristischen Fakultät derUniversität Regensburg. Er dankt Frau Susanne Henck für ihre engagierte Mitarbeit.

1 H. Huba, Recht und Liebe, FamRZ 1989, 127 (128); G. Roellecke, Kinder, Kinder, NJW 1994,1263 (1263 f.).

2 Schwangeren- und Familienhilfegesetz (SFHG) v. 27. 7. 1992 (BGBl I, 1398) sowie das wegenBVerfGE 88, 203 notwendig gewordene Änderungsgesetz v. 21. 8. 1995 (BGBl I, 1050).

3 Vgl. zum Folgenden C. Mielitz, Anonyme Kindesabgabe, 2006, S. 20ff., die noch das eherselten praktizierte Übergabesystem als dritte Form der anonymen Kindesabgabe behandelt(S. 21).

Thorsten Kingreen

Page 90: Das ganze Heft als PDF-Datei

das Kind zurückbekommen möchte. Eine Umfrage der Bundesregierung bei den Län-dern registrierte im Sommer 2007 76 Babyklappen.4

Anonyme Geburten unterscheiden sich von der Babyklappe in mehrfacher Hinsicht.In Notstandssituationen werden sie selbstverständlich schon seit jeher praktiziert, weilÄrzte und Hebammen strafrechtlich (§ 323 c StGB) verpflichtet sind, bei bevorstehen-den Entbindungen auch dann Hilfe zu leisten, wenn die werdende Mutter ihre Identitätnicht preisgeben möchte. Bei den hier allein zu diskutierenden Angeboten anonymerGeburten erfolgt die ärztlich begleitete Entbindung hingegen mit der Garantie, dass dieEntbindende ihre Identität nicht preisgeben muss und der Anbieter die Kosten der Geburtträgt. Das Angebot wird meist mit einer auf Preisgabe der Identität zielenden Beratungverbunden. Die Mutter kann die Einrichtung nach der Entbindung mit oder ohne ihrNeugeborenes wieder verlassen. Als einziges Land lässt Frankreich Angebote der an-onymen Geburten bereits seit 1941 zu.5 Valides Datenmaterial zu den Angeboten deranonymen Geburt gibt es nicht.6

Einrichtungen, die anonyme Kindesabgaben anbieten, sind nicht Bestandteil desstaatlichen Schutzkonzepts für das ungeborene und neugeborene Leben, ja sie verstoßen,wie im Folgenden zunächst kurz zu skizzieren ist, gegen geltendes Recht (B.). Schwer-punkt des Beitrages ist daher die Frage, ob eine Änderung dieser Rechtsnormen unddamit eine Legalisierung der anonymen Kindesabgabe verfassungsrechtlich zulässigwäre (dazu C.-E.).

Die Rechtswidrigkeit der anonymen Kindesabgabe de lege lata

Personenstandsrechtliche Anzeigepflichten

Die Geburt eines Kindes muss dem zuständigen Standesamt binnen einer Woche ange-zeigt werden, § 18 S. 1 PStG. Das ist von außerordentlicher Bedeutung, weil die Auf-nahme der Anzeige die Entstehung der familienrechtlichen Beziehungen dokumentiertund zudem die zuständigen staatlichen Stellen (Jugendamt, Vormundschaftsgericht) ih-re Verantwortung gegenüber dem Kind nur ausüben können, wenn sie von seiner Exis-tenz erfahren. Zur Anzeige verpflichtet ist nach § 19 S. 1 Nr. 1 PStG jeder Elternteil desKindes, wenn er sorgeberechtigt ist. Wenn die sorgeberechtigten Eltern an der Anzeigegehindert sind, ist auch jede andere Person zur Anzeige verpflichtet, die bei der Geburtzugegen war oder von der Geburt aus eigenem Wissen unterrichtet ist (§ 19 S. 2 i.V.m.S. 1 Nr. 2 PStG). Bei Geburten in Krankenhäusern und sonstigen Einrichtungen, in de-nen Geburtshilfe geleistet wird, ist nach § 20 S. 1 PStG der Träger der Einrichtung zurAnzeige verpflichtet. Davon bleiben aber die Anzeigepflicht der Eltern und ihre Aus-

II.

1.

4 BT-Drucks. 16/7220, S. 26-28. Eine unvollständige Erhebung geht von insgesamt 143 seit 2001abgegebenen Kindern aus, davon allein 25 % in Berlin! Die genaue Zahl der abgegebenenKinder lässt sich nicht feststellen, da Nordrhein-Westfalen die Frage nicht beantwortet undBayern keine Erkenntnisse hat; nach Auskunft von U. Riedel, Anonyme Geburt, in: DeutscherEthikrat. Wortprotokoll über den öffentlichen Teil der Sitzung vom 26. 6. 2008, S. 3, handeltes sich um weitere 34 Babyklappen.

5 Dazu Mielitz (Fn. 3), S. 33ff.6 Vgl. die nur unvollständigen Angaben in BT-Drucks. 16/7220, S. 21-23.

Das Kind X: Verfassungsrechtliche Fragen der anonymen Kindesabgabe 89

Page 91: Das ganze Heft als PDF-Datei

kunftspflicht zu Angaben, die die Einrichtung nicht machen kann, unberührt, § 20 S. 3PStG. Diese am 1. 1. 2009 in Kraft getretene Neuregelung des Personenstandsrechts haterhebliche Auswirkungen auch auf die Anzeige- und Auskunftspflichten bei anonymenGeburten:● Nach § 17 Abs. 1 Nr. 5 PStG a. F. war die Mutter bei einer Geburt im Krankenhaus

nur nachrangig nach dem Leiter der Einrichtung zur Anzeige verpflichtet. Nunmehrbestehen beide Anzeigepflichten nebeneinander. Auch unterscheidet § 20 S. 3 PStGnunmehr zwischen einer Anzeige- und einer darüber hinaus gehenden Auskunfts-pflicht. Personenstandsrechtlich ist daher insbesondere die Mutter verpflichtet, auchden Namen des Vaters anzuzeigen.7

● Aus der gesetzlichen Differenzierung zwischen Anzeige- und Auskunftspflicht folgt,dass die Träger von Einrichtungen, die anonyme Geburten anbieten, nur zur Anzeige,nicht aber zur Auskunft verpflichtet sind.8 Der Betreiber einer Babyklappe muss dieGeburt des Kindes nur als Findelkind bei der Gemeindebehörde anzeigen, § 24Abs. 1 S. 1 PStG.9 Die Anbieter handeln daher nicht personenstandsrechtswidrig,wenn sie die Geburt des Kindes anzeigen und dabei nur diejenigen Daten mitteilen,die sie selbst kennen.

Wer auf Grund des Personenstandsgesetzes zu Anzeigen verpflichtet ist, kann hierzuvom Standesamt durch Festsetzung eines Zwangsgeldes angehalten werden. Die Ver-letzung dieser Pflichten kann nach § 70 Abs. 1 Nr. 1-3 PStG zudem ein Bußgeld zurFolge haben. Jedenfalls die Mutter kann sich ferner wegen Personenstandsunterdrü-ckung (§ 169 Var. 3 StGB) und Verletzung der Unterhaltspflicht nach § 170 StGB straf-bar machen.10 Die Strafbarkeit der Anbieter ist zwar umstritten,11 jedenfalls begünstigensie mit ihrem Angebot die Rechtsverstöße der abgebenden Mutter; abgesehen davon,dass sie offenbar auch ihre eigenen personenstandsrechtlichen Verpflichtungen teilwei-se nicht einhalten.12 Die Meldung erfolgt oftmals erst im Rahmen des Adoptionsver-fahrens, um den Müttern eine Frist zum Überdenken ihrer Entscheidung einzuräu-men.13

Übernahme der Vormundschaft

Uneinheitlich wird die Übernahme der Vormundschaft gehandhabt. Das Kind erhält, daseine Eltern nicht bekannt sind, gemäß § 1773 Abs. 2 BGB einen Vormund, den dasVormundschaftsgericht nach Anhörung des Jugendamtes auswählt (§ 1779 Abs. 1

2.

7 So zutreffend bereits zum alten Recht D. Elbel, Rechtliche Bewertung anonymer Geburt undKindesabgabe, 2007, S. 53.

8 Elbel (Fn. 7), S. 44ff; anders noch S. Benöhr/I. A. Muth, „Babyklappe“ und „anonyme Geburt“– Im Widerstreit zwischen Hilfeleistung und Gesetzesverstoß, KJ 2001, 405 (415).

9 F. Bardenberg, Das Recht des Kindes auf Kenntnis der eigenen Abstammung unter Berück-sichtigung der Problematik der anonymen Geburt, 2006, S. 99.

10 S. Neuheuser, Begründet die Weggabe eines Neugeborenen in eine Babyklappe den An-fangsverdacht einer Straftat?, NStZ 2001, 175 (177).

11 Elbel (Fn. 7), S. 59ff. und Mielitz (Fn. 3), S. 114ff.12 C. Swientek, Die Wiederentdeckung der Schande – Babyklappen und anonyme Geburt, 2001,

S. 13.13 Mielitz (Fn. 3), S. 22 und Riedel (Fn. 4), S. 5.

90 Thorsten Kingreen

Page 92: Das ganze Heft als PDF-Datei

BGB) und nach Maßgabe von § 1789 BGB bestellt. Dabei fällt die Wahl teilweise aufdas Jugendamt (§ 1791 b BGB), teilweise aber auch auf Mitarbeiter der Einrichtung deranonymen Kindesabgabe (§ 1791 a BGB), was als problematisch gilt, weil der Anbieterder Mutter einerseits Anonymität zugesichert hat, andererseits aber als Vormund imInteresse des Kindes dazu verpflichtet ist, dessen leibliche Eltern ausfindig zu ma-chen.14 Jugendamt bzw. Einrichtung vermitteln das Kind sodann in eine Pflegefamilie,die ggfs. auch schon für die Adoption in Frage kommt.

Adoption des Kindes

Die Adoption des anonym abgegebenen Kindes setzt neben dessen Einverständnis (re-gelmäßig nach § 1746 Abs. 2 BGB also seines Vormundes) nach § 1747 BGB das derEltern voraus. Diese können ihre Einwilligung nach § 1747 Abs. 2 S. 1 BGB erst achtWochen nach der Geburt erteilen und müssen dies nach § 1750 BGB gegenüber demVormundschaftsgericht erklären. Selbst wenn man die anonyme Kindesabgabe als einesolche Erklärung deuten wollte, wäre diese aufgrund der Nichteinhaltung der genanntenBestimmungen unerheblich. Die Einwilligung ist zwar entweder nach § 1747 Abs. 4BGB bei dauerhaft unbekanntem Aufenthalt der Eltern verzicht- oder nach § 1748Abs. 2 BGB ersetzbar.15 Vor einem Verzicht muss das Vormundschaftsgericht nach§ 12 FGG aber wenigstens 6 Monate versuchen, die Identität der Eltern zu ermitteln undeine eventuelle Ersetzung darf nach § 1748 Abs. 2 S. 3 BGB frühestens fünf Monatenach der Geburt des Kindes erfolgen. In der Praxis erfolgt sie wegen § 1744 BGB (an-gemessene Probezeit) oftmals erst später. Diese Fristen werden aber bei anonym abge-gebenen Kindern offenbar regelmäßig nicht eingehalten, weil die Ermittlung der Iden-tität der Eltern wegen der der Mutter zugesicherten Anonymität für sinnlos gehaltenwird.

Gesetzesinitativen

Die anonyme Kindesabgabe verstößt insbesondere gegen personenstands- und straf-rechtliche Bestimmungen. Sie bewegt sich damit nicht etwa in einer Grauzone, sondernist schlicht rechtswidrig.16

Schon seit einiger Zeit besteht Einigkeit darüber, dass die Nichtdurchsetzung gelten-den Rechts unbefriedigend ist. Daraus ist aber bislang der Schluss gezogen worden, dassdas Recht dem Angebot und nicht das Angebot dem Recht anzupassen ist. Vier Geset-

3.

4.

14 Vgl. für diese Kontroverse die Entscheidung LG Flensburg v. 19.7.2002 – 5 T 250/02-5 T255/02.

15 Zum umstrittenen Verhältnis zwischen den beiden Vorschriften Elbel (Fn. 7), S. 93ff.16 C. Katzenmeier, Rechtsfragen der „Babyklappe“ und der medizinisch assistierten „anonymen

Geburt“, FamRZ 2005, 1134 /1135); R. Richardi, Lebensschutz durch Legalisierung der an-onymen Geburt?, in: H.-J. Ahrens/C. v. Bar/G. Fischer/J. Taupitz/A. Spickhoff (Hrsg.), Fest-schrift für Erwin Deutsch zum 85. Geburtstag, 2009, i.E.; A. Wolf, Über Konsequenzen ausden gescheiterten Versuchen, Babyklappen und „anonyme“ Geburten durch Gesetz zu lega-lisieren, FPR 2003, 112 (113).

Das Kind X: Verfassungsrechtliche Fragen der anonymen Kindesabgabe 91

Page 93: Das ganze Heft als PDF-Datei

zinitiativen aus der Mitte des Bundestages17 und aus dem Bundesrat18 einte das ge-meinsame Ziel, die anonyme Kindesabgabe unter bestimmten Voraussetzungen zu le-galisieren. Alle sind wegen verfassungsrechtlicher Bedenken nicht weiter verfolgt wor-den, weil sie dem am meisten Betroffenen nicht gerecht geworden sind: dem Kind, dasnicht weiß, wo es herkommt. Anonyme Kindesabgaben werden gleichwohl nach wievor geduldet. Im Jahre 2007 hat die Bundesregierung die Daten aus den Ländern zu-sammengetragen und einen Regelungsbedarf vermerkt.19

Die betroffenen Grundrechte

Verfassungsrechtlich ist fraglich, ob der Staat durch die derzeit praktizierte Duldungder anonymen Kindesabgabe Grundrechte verletzt oder durch eine Legalisierung ver-letzen würde. Betroffen ist neben dem Kind auch der nicht abgebende Elternteil, wobeiim Folgenden der Einfachheit halber auf den leiblichen Vater abgestellt wird.

Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG

Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) schützt „dieMöglichkeit, sich als Individuum nicht nur sozial, sondern auch genealogisch in eineBeziehung zu anderen zu setzen.“ Es umfasst daher „das Recht des Kindes auf Kenntnisder eigenen Abstammung ebenso wie es einem Mann das Recht auf Kenntnis einräumt,ob ein Kind von ihm abstammt.“20 Geschützt ist damit das Wissen über die Vor- undNachfahren.21

Schutz des Kindes

Das Recht des Kindes auf Kenntnis seiner Abstammung leitet das Bundesverfassungs-gericht aus dem Umstand ab, dass Verständnis und Entfaltung der Individualität mit derKenntnis der für sie konstitutiven Faktoren eng verbunden sind. Abstammung sei mehrals eine nur biologische Kategorie: „Bei Individualitätsfindung und Selbstverständnishandelt es sich vielmehr um einen vielschichtigen Vorgang, in dem biologisch gesi-cherte Erkenntnisse keineswegs allein ausschlaggebend sind. Als Individualisierungs-merkmal gehört die Abstammung zur Persönlichkeit, und die Kenntnis der Herkunftbietet dem Einzelnen unabhängig vom Ausmaß wissenschaftlicher Ergebnisse wichtigeAnknüpfungspunkte für das Verständnis und die Entfaltung der eigenen Individuali-tät.“22 Mit dieser Begründung hat das Bundesverfassungsgericht gesetzliche Bestim-

III.

1.

a)

17 Gesetzentwurf der CDU/CSU-Fraktion v. 12. 10. 2000, BT-Drucks. 14/4425 und interfrak-tioneller Gesetzentwurf (ohne PDS-Fraktion) v. 23. 4. 2002, BT-Drucks. 14/8856.

18 Gesetzesvorschläge des Landes Baden-Württemberg v. 6. 6. 2002, BR-Drucks. 506/02 undvom 24. 9. 2004, BR-Drucks. 682/04.

19 BT-Drucks. 16/7220.20 BVerfGE 117, 202 (226).21 Kritisch zu dieser Gleichstellung Elbel (Fn. 7), S. 161.22 BVerfGE 79, 256 (268 f.); vgl. ferner BVerfGE 90, 263 (270 f.); 96, 56 (63).

92 Thorsten Kingreen

Page 94: Das ganze Heft als PDF-Datei

mungen, die einem Kind die gerichtliche Klärung der eigenen Abstammung gänzlichverwehrten23 oder nur innerhalb einer bestimmten Frist gewährten,24 für verfassungs-widrig erklärt. Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) erkenntein Grundrecht auf Kenntnis der eigenen Abstammung an, leitet dieses aber aus dem inArt. 8 EMRK gewährleisteten Recht auf Achtung des Privatlebens ab. Dieses werde, soder EGMR in der Entscheidung Odiévre/Frankreich, durch die in Frankreich zugelas-sene anonyme Geburt berührt.25

Gegen die Berührung des Schutzbereiches könnte die Aussage des Bundesverfas-sungsgerichts sprechen, dass Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG kein Recht auf Ver-schaffung von Kenntnissen der eigenen Abstammung verleiht, sondern nur vor derVorenthaltung erlangbarer Informationen schützt.26 Das Bundesverfassungsgericht be-gegnet damit aber nur dem möglichen Einwand, dass es Fälle gibt, „in denen die Ab-stammung unaufklärbar bleibt und die Persönlichkeitsentfaltung ohne diese Kenntniserfolgen muss.“27 In einem solchen Fall sind die Behörden tatsächlich nicht gehalten,das Unaufklärbare aufzuklären. Die Legalisierung der anonymen Kindesabgabe machtaber das grundsätzlich Aufklärbare unaufklärbar. Der Gesetzgeber würde einen aktivenBeitrag dazu leisten, das Kind von der „Hauptinformationsquelle zu seiner Vergangen-heit und persönlichen Entwicklung“28 und damit von grundsätzlich erlangbaren Infor-mationen abzuschneiden. Dass später kein grundrechtlicher Anspruch mehr auf Ver-schaffung dieser Informationen besteht, belegt gerade die Irreversibilität einer Zulas-sung der anonymen Kindesabgabe.

Schutz des leiblichen Vaters

Das Wissen um die Abstammung des Kindes hat, so das Bundesverfassungsgericht imHinblick auf heimliche Vaterschaftstests, auch „maßgeblichen Einfluss auf das Selbst-verständnis des Mannes sowie die Rolle und Haltung, die er dem Kind und der Muttergegenüber einnimmt.“29

Der Vater ist zwar bei der anonymen Kindesabgabe anders betroffen als beim Verbotdes heimlichen Vaterschaftstests: Während es dort um den Vater geht, der seine Vater-schaft hinterfragt, geht es hier um den Vater, der von seiner Vaterschaft entweder nichtsweiß oder sie jedenfalls nicht praktizieren kann. In beiden Fällen möchte der Betroffeneaber wissen, wer sein Nachfahre ist, um damit eine für die Persönlichkeitsbildung wich-tige genealogische Beziehung zu begründen. Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 2 Abs. 1 GGschützt daher auch das Recht auf Kenntnis der eigenen Nachfahren.30

b)

23 BVerfGE 79, 256.24 BVerfGE 90, 263.25 EGMR, NJW 2003, 2145 (2146 Nr. 29).26 BVerfGE 79, 256 (269).27 BVerfGE 79, 256 (269).28 Formulierung von EGMR v. 7.7.1989, Serie A, Bd. 160, S. 15 Nr. 36.29 BVerfGE 117, 202 (226).30 J. Gernhuber/D. Coester-Waltjen, Familienrecht, 5. Aufl. 2006, § 52 Rn. 20.

Das Kind X: Verfassungsrechtliche Fragen der anonymen Kindesabgabe 93

Page 95: Das ganze Heft als PDF-Datei

Art. 6 Abs. 2 GG

Schutz des Kindes

Die anonyme Kindesabgabe berührt nicht nur das Recht des Kindes auf Kenntnis seinerAbstammung, sondern sie unterbindet auch die Sorge durch seine leiblichen Eltern.

Dieses Recht schützt Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG. In Rechtsprechung und Literatur wurdedieser zwar bislang nur als ein Recht der Eltern angesehen, das diese im Interesse desKindes ausüben müssen, ohne dass dadurch das Kind zum Grundrechtsträger werde.31

Das Bundesverfassungsgericht hat die Bestimmung aber nunmehr zu einem eigenstän-digen Grundrecht des Kindes aufgewertet, das ihm ein Recht auf Umgang mit beidenElternteilen auch gegen deren Willen vermittle: „Die persönliche Beziehung zu seinenEltern, ihre Pflege, Hilfe wie Zuwendung tragen wesentlich dazu bei, dass sich das Kindzu einer Persönlichkeit entwickeln kann, die sich um ihrer selbst geachtet weiß und sichselbst wie andere zu achten lernt.“ Daher stelle die Verweigerung jeglichen Umgangsmit dem Kind und damit die Loslösung von einer persönlichen Bindung zu diesem einenmaßgeblichen, für das Kind und seine Entwicklung entscheidenden Entzug elterlicherVerantwortung und zugleich die Vernachlässigung eines wesentlichen Teils der inArt. 6 Abs. 2 Satz 1 GG den Eltern auferlegten Erziehungspflicht dar.32

Im konkreten Fall hat das Bundesverfassungsgericht zwar das Recht des Kindes zu-rücktreten lassen, weil es die Umgangspflicht in der konkreten Konstellation als kon-traproduktiv ansieht, betont aber den grundsätzlichen Vorrang des Interesses des Kindesam persönlichen Kontakt mit beiden Eltern vor dem elterlichen Wunsch, auf diesen zuverzichten: „Denn als gewichtige Basis für den Aufbau und Erhalt einer persönlichenfamiliären Beziehung ebenso wie für das Empfangen elterlicher Unterstützung und Er-ziehung ist der Umgang eines Kindes mit seinen Eltern für seine Persönlichkeitsent-wicklung von maßgeblicher Bedeutung und trägt grundsätzlich zu seinem Wohlebei.“33 Das ist auch deshalb außerordentlich wichtig, weil es damit überhaupt nicht mehrdarauf ankommt, wie sich die Väter von anonym abgegebenen Kindern im Vorfeld derGeburt verhalten haben. Das Kind selbst hat diesen Anspruch auf väterliche Sorge undauf Kontakt mit seinem Vater.

Schutz des leiblichen Vaters

Grundsätzlich wird auch der leibliche Vater durch Art. 6 Abs. 2 GG geschützt. Zwarsoll die biologische Vaterschaft für sich gesehen nicht in den Schutzbereich fallen.34

Der Vater hat aber ein Recht auf verfahrensrechtlichen Zugang zum Elternrecht,35 d.h.

2.

a)

b)

31 BVerfGE 28, 104 (112); 61, 18 (27); G. Robbers, in: H. von Mangoldt/F. Klein/C. Starck(Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz Bd. I, 5. Aufl. 2005, Art. 6 Rn. 182; A. Schmitt-Kamm-ler, in: M. Sachs (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, 4. Aufl. 2007, Art. 6 Rn. 48.

32 BVerfG, NJW 2008, 1287 (1288 f.).33 BVerfG, NJW 2008, 1287 (1290).34 BVerfGE 108, 82 (99); kritisch etwa W. Roth, Vaterschaftsanfechtung durch den biologischen

Vater, NJW 2003, 3153 (3154).35 BVerfGE 108, 82 (104ff.).

94 Thorsten Kingreen

Page 96: Das ganze Heft als PDF-Datei

er muss auch in die Lage versetzt werden, seine Vaterschaft anzuerkennen oder ge-richtlich feststellen zu lassen (§ 1592 Nr. 2 und 3 BGB).36

Beeinträchtigungen der Grundrechte

Da grundsätzlich nur der Staat Adressat der Grundrechte ist (Art. 1 Abs. 3 GG), mussfür die Prüfung des Eingriffs die Rolle des Staates definiert werden.

Die derzeit praktizierte Duldung der Angebote anonymer Kindesabgabe verstößtschon gegen einfaches Recht.37 Das ist kein spezifisch grundrechtliches Problem. Viel-mehr muss nur das einfache Recht vollzogen werden;38 geschieht dies nicht, missachtendie zuständigen Behörden ihre verfassungsrechtliche Bindung an Recht und Gesetz(Art. 20 Abs. 3 GG).

Anknüpfungspunkt für eine Beeinträchtigung könnte aber die Zulassung anonymerKindesabgaben sein. Auch durch eine Zulassung würde der Staat nicht selbst in dasallgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) und das Eltern-recht (Art. 6 Abs. 2 GG) eingreifen, sondern dem abgebenden Elternteil die Befugniseinräumen, Kind und Vater durch die anonyme Abgabe von der Wahrnehmung dieserGrundrechte auszuschließen. Doch schützen die Grundrechte nicht nur vor aktiven Ein-griffen des Staates. Sie sind also nicht nur Abwehrrechte, sondern erlegen ihm auch diePflicht auf, den betroffenen Grundrechtsträger vor den Eingriffen Dritter zu schützen.Das Bundesverfassungsgericht hat die Schutzdimension der Grundrechte in den Urteilenzum Schutz des ungeborenen Lebens vor Schwangerschaftsabbrüchen und damit zuArt. 2 Abs. 2 S. 1 GG entwickelt,39 leitet aber letztlich aus allen Grundrechten und ins-besondere auch aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht40 staatliche Schutzpflichtenab, aus denen wiederum Schutzrechte des Grundrechtsträgers folgen.41 Das Unterlassenvon Schutz kann damit grundsätzlich ebenso ein Eingriff in ein Grundrecht sein wieeine aktive staatliche Beeinträchtigung.42 Die Voraussetzungen für die Auslösung derstaatlichen Schutzpflicht sind zwar umstritten; in der Literatur wird sie bisweilen voneiner gewissen Mindestintensität der Beeinträchtigung abhängig gemacht.43 Doch istdas weniger für die Entstehung, als vielmehr für die Reichweite der Schutzpflicht vonBedeutung und damit für die Frage des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums,44 dieim Rahmen der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung zu thematisieren ist.45 Sie ist

IV.

36 Zum neuen Verfahren der Abstammungsklärung des Vaters nach § 1598 a BGB: D.Schwab, Familienrecht, 16. Auflage 2008, Rn. 554-558.

37 Vgl. oben B.38 Dazu Mielitz (Fn. 3), S. 269ff. und Wolf (Fn. 16), S. 118.39 BVerfGE 39, 1 (36ff.); 88, 203 (251); vgl. etwa G. Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von

Leben und Gesundheit, 1987, S. 43ff.40 Dazu BVerfGE 54, 148 (153); 79, 256 (268); 99, 185 (194 f.).41 B. Pieroth/B. Schlink, Grundrechte. Staatsrecht II, 24. Aufl. 2008, Rn. 82/83, 94ff.42 H. D. Jarass, in: H. D. Jarass/B. Pieroth, Grundgesetz. Kommentar, 9. Aufl. 2008, Vorb. vor

Art. 1, Rn. 31ff.43 K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Bd. III/1, 1988, S. 740.44 W. Cremer, Freiheitsgrundrechte, 2003, S. 288; H.-U. Erichsen, Grundrechtliche Schutz-

pflichten in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Jura 1997, 85 (87).45 Vgl. unten E. I.

Das Kind X: Verfassungsrechtliche Fragen der anonymen Kindesabgabe 95

Page 97: Das ganze Heft als PDF-Datei

zudem keine Besonderheit des Schutzrechts, sondern gilt auch für das Abwehrrecht.Daher betont auch der EGMR in der Entscheidung Odièvre/Frankreich, dass sich dieGrenze zwischen positiven und negativen Verpflichtungen des Staates nur schwer zie-hen lasse und die anwendbaren Grundsätze daher in der Abwehr- und Schutzkonstella-tion ähnlich seien: Jeweils gehe es darum, einen gerechten Ausgleich der widerstrei-tenden Interessen herbeizuführen.46

Der Staat greift also in die Grundrechte des Kindes und des Vaters ein, wenn er eszulässt, dass Mütter ihre Kinder anonym abgeben und diesen damit Informationen überihre Herkunft und den Vätern über ihre Nachkommenschaft vorenthalten.47

Verfassungsrechtliche Rechtfertigung der Grundrechtseingriffe

Der mit der Legalisierung der anonymen Kindesabgabe einhergehende Eingriff ist ver-fassungswidrig, wenn damit das von Verfassungs wegen notwendige Mindestmaß anSchutz für die Grundrechte des anonym abgegebenen Kindes und seines Vaters unter-schritten würde.

Maßstab für die Erfüllung der Schutzpflicht

Die Formeln des Bundesverfassungsgerichts zum Maßstab für die Erfüllung der grund-rechtlichen Schutzpflicht sind uneinheitlich. In vielen Entscheidungen beschränkt essich auf die Prüfung, ob „die öffentliche Gewalt Schutzvorkehrungen entweder über-haupt nicht getroffen hat oder die getroffenen Regelungen und Maßnahmen gänzlichungeeignet oder völlig unzulänglich sind, das gebotene Schutzziel zu erreichen, odererheblich dahinter zurückbleiben.“48 Andere Entscheidungen nehmen hingegen eineInhaltskontrolle des Schutzkonzeptes vor. Zur Bestimmung des grundrechtlich gefor-derten Minimalschutzes greifen sie auf das Untermaßverbot zurück, das, als Pendantzum abwehrrechtlichen Übermaßverbot, die Funktion des Grundsatzes der Verhältnis-mäßigkeit in der Schutzkonstellation übernehmen soll.49 In der 2. Entscheidung zumRecht des Schwangerschaftsabbruchs heißt es: „Notwendig ist ein – unter Berücksich-tigung entgegenstehender Rechtsgüter – angemessener Schutz; entscheidend ist, dass erals solcher wirksam ist. Die Vorkehrungen, die der Gesetzgeber trifft, müssen für einenangemessenen und wirksamen Schutz ausreichend sein und zudem auf sorgfältigenTatsachenermittlungen und vertretbaren Einschätzungen beruhen.“50

Trotz der Uneinheitlichkeit der Formeln zur Bestimmung der Schutzpflicht sind dieUnterschiede hinsichtlich der Kontrolldichte letztlich graduell, nicht kategorisch: In al-len Entscheidungen bekennt sich das Bundesverfassungsgericht zur grundsätzlichenGestaltungsfreiheit des Gesetzgebers. Es legt daher auch in keiner Entscheidung fest,

V.

1.

46 EGMR, NJW 2003, 2145 (2147 Nr. 40).47 Ebenso Elbel (Fn. 7), S. 258; Mielitz (Fn. 3), S. 175.48 BVerfGE 92, 26 (46); vgl. ferner BVerfGE 77, 170 (214); 79, 174 (202); 85, 191 (212).49 M. Möstl, Probleme der verfassungsprozessualen Geltendmachung gesetzgeberischer Schutz-

pflichten, DÖV 1998, 1029 (1038 f.).50 BVerfGE 88, 203 (254); vgl. bereits BVerfGE 39, 1 (44, 51 f.).

96 Thorsten Kingreen

Page 98: Das ganze Heft als PDF-Datei

wie genau der Schutz des Grundrechts ausgestaltet sein muss, sondern umschreibt le-diglich das Schutzniveau, das nicht unterschritten werden darf.51 Weder Über- nochUntermaß kennen nur ein Maß, sondern grundsätzlich eine Vielzahl verfassungsrecht-lich zulässiger Schutzvarianten, unter denen der Gesetzgeber wählen kann.52 Dass dasBundesverfassungsgericht das Schutzkonzept des Gesetzgebers mal mehr, mal wenigerintensiv prüft und damit auch den notwendigen Mindestschutz in unterschiedlicher De-tailliertheit bestimmt, liegt daran, dass Art, Nähe und Ausmaß der drohenden Gefahr,die schon vorhandenen Regelungen und getroffenen Maßnahmen, sowie schließlich diemit dem grundsätzlichen Schutzauftrag kollidierenden Interessen jeweils unterschied-lich sind.53

Die Bestimmung des verfassungsrechtlich zwingenden Schutzniveaus

Zu prüfen ist daher, ob die Legalisierung der anonymen Kindesabgabe das durch dieArt. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 2 GG vorgegebene Mindestmaß anstaatlichem Schutz unterschreiten würde. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Ermög-lichung anonymer Kindesabgaben als Beitrag zur Sicherung der Persönlichkeitsrechteder Mutter, sowie zur Verhinderung von Schwangerschaftsabbrüchen und Kindstötun-gen verstanden wird. Die Frage nach dem verfassungsrechtlich notwendigen Mindest-schutz lässt sich daher nicht abstrakt, sondern nur konkret unter Berücksichtigung derZiele beantworten, die mit einer Legalisierung der anonymen Kindesabgabe verfolgtwerden. Gegenstand der Prüfung ist daher nicht die begehrte Erfüllung der Schutz-pflicht, sondern die Maßnahme, die das Schutzniveau absenkt,54 also die Legalisierungder anonymen Kindesabgabe. Damit kann, ebenso wie bei dem auf Eingriffsminimie-rung zielenden Abwehrrecht, auch bei der Schutzpflicht der Grundsatz der Verhältnis-mäßigkeit aktiviert werden, wobei es hier nicht um die Frage geht, ob der Staat zu vielin die Grundrechte eingegriffen hat, sondern darum, ob er sie zu wenig geschützt hat.55

Geeignetheit

Ein Ziel der Legalisierung der anonymen Kindesabgabe könnte das durch das allge-meine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) geschützte Interesseder Mutter an Anonymität sein. Dieses Interesse allein kann aber die lebenslangenRechtsverluste insbesondere des Kindes nicht legitimieren, weil die Eltern mit der Zeu-gung die Elternverantwortung gegenüber dem Kind übernommen haben.56 Die Garantie

2.

a)

51 Vgl. die Nachweise bei F. Hufen, Staatsrecht II. Grundrechte, 2007, § 13 Rn. 18.52 Zu diesem Korridor zwischen dem zulässigen Höchstmaß des Eingriffs und dem notwendigen

Mindestmaß des Schutzes C. Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, 2001, S. 457 f. und T.Aubel, Der verfassungsrechtliche Mutterschutz, 2003, S. 262 f.

53 W. Durner, Verfassungs- und Völkerrechtsfragen der anonymen Geburt, ZG 2005, 243(250 f.).

54 L. Michael/M. Morlok, Grundrechte, 2008, Rn. 628.55 Vgl. dazu die unterschiedlichen Ansätze bei Calliess (Fn. 52), S. 459 f.; Hermes (Fn. 39),

S. 253ff. und Michael/Morlok (Fn. 54), Rn. 627ff.56 BVerfG, NJW 1988, 3010 (3010).

Das Kind X: Verfassungsrechtliche Fragen der anonymen Kindesabgabe 97

Page 99: Das ganze Heft als PDF-Datei

der Anonymität ist daher nur ein Mittel für einen weiteren grundsätzlich verfassungs-legitimen Zweck: der Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit des Kindes(Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG). Dabei geht es vor allem um den Schutz des neugeborenen Le-bens. Der Beitrag für den Schutz des ungeborenen Lebens dürfte hingegen nicht son-derlich hoch sein. Nach § 218 a Abs. 1 StGB sind nämlich ärztlich durchgeführteSchwangerschaftsabbrüche innerhalb von zwölf Wochen nach der Empfängnis straflos,wenn die Schwangere eine Beratungsbescheinigung (§ 219 Abs. 2 S. 2 StGB) vorlegt.Wenn eine Mutter wegen ihrer besonderen psychosozialen Lebenssituation das Kindnicht großziehen möchte, aber gleichwohl bereit ist, es auszutragen, kann sie das Kindauf dem Weg der regulären Adoption abgeben.

Es kommt also entscheidend darauf an, ob Angebote der anonymen Kindesabgabeeinen Beitrag dazu leisten, die schutzlose Aussetzung und Tötung Neugeborener zuverhindern.57 Befürworter und Gegner sind sich immerhin darin einig, dass die Daten-lage dürftig ist.58 Beide Seiten arbeiten weitgehend mit eigenen Erhebungen, wobeiMedienberichte die wichtigste Informationsquelle bilden. Wie nicht anders zu erwarten,weichen die Zahlen ebenso voneinander ab wie die daraus gezogenen Schlussfolgerun-gen.59 Es dominieren Erfahrungsberichte, die oftmals mit Vermutungen und Spekula-tionen angereichert werden.

Nach Auffassung ihrer Befürworter verhindern Angebote der anonymen Kindesab-gabe die Aussetzung und Tötung Neugeborener.60 Sie sollen diejenigen Frauen anspre-chen, die aufgrund ihrer besonderen persönlichen Situation, ihres familiären Umfeldsund ihres psychosozialen Zustands für die herkömmlichen Hilfskonzepte nicht erreich-bar sind. Das sind vor allem Minderjährige, Frauen in Ausbildung, Drogenabhängigeund ausländische oder illegal in Deutschland lebende Frauen.61 Häufig soll es sich dabeium Frauen handeln, die sich gerade wegen ihrer schwierigen persönlichen Situation derTatsache der Schwangerschaft, bewusst oder unbewusst, verschließen und daher auf dieGeburt nicht vorbereitet sind. Adoptionen seien für diesen Personenkreis keine Alter-native, weil sie stets mit der von außen an sie herangetragenen Stigmatisierung einerMutter, die ihr Kind abgegeben hat, leben müssten. Um das zu verhindern, bleibe nurdie Anonymität.

Die Gegenthese lautet, dass die Angebote anonymer Kindesabgabe gerade diejenigenFrauen, bei denen die Gefahr der Aussetzung/Tötung des Kindes besteht, nicht er-

57 Vgl. dazu etwa die Untersuchungen des Bayerischen Staatsministeriums für Arbeit und So-zialordnung, Familie und Frauen: „Anonyme Geburt“ – „Moses-Projekt“ in Bayern. EineMachbarkeitsstudie, 2007, sowie von M.-B. Singer, Babyklappen und anonyme Geburt, 2008.

58 Vgl. zum Problem der empirischen Unsicherheit auch Durner (Fn. 53), S. 255ff.59 Bayerisches Staatsministerium (Fn. 57), S. 25 f.60 Vgl. zum Folgenden die Begründungen der Gesetzentwürfe oben Fn. 19 und 20 sowie etwa

R. Hepting, „Babyklappe“ und „anonyme Geburt“, FamRZ 2001, 1573 (1577) sowie J.Heyers, Zivilrechtliche Institutionalisierung anonymer Geburten, JR 2003, 45 (46) unter Be-rufung auf französische Erfahrungen.

61 Bayerisches Staatsministerium (Fn. 57), S. 23.

98 Thorsten Kingreen

Page 100: Das ganze Heft als PDF-Datei

reicht.62 Kindstötungen würden von Frauen begangen, die unter erheblichen Persön-lichkeitsstörungen leiden. Kriminologische Untersuchungen zeigten, dass Neugeboren-entötungen meist im Affekt begangen würden. Es handele sich um Mütter, die dieSchwangerschaft verdrängen, von der Geburt daher überrascht werden und das Kinddann in der ersten Panik töten. Diese Frauen würden weder die regulären Angebote derSchwangerenkonfliktberatung noch die Angebote anonymer Kindesabgabe wahrneh-men. Beides setze nämlich ein Minimum an Beschäftigung mit der bevorstehenden Ge-burt voraus. Die Angebote anonymer Kindesabgabe schließen daher, so die Vermutung,keine Lücke, sondern wecken bei einem Personenkreis, der grundsätzlich in der Lageist, Konflikte zu lösen, und daher für die regulären Beratungsangebote erreichbar ist,eine zuvor nicht vorhandene Nachfrage.

Als gemeinsame Schnittmenge in diesem Spektrum von Meinungen kann man nurdie recht allgemeine Erkenntnis festhalten, dass nicht alle Kinder, die anonym abgege-ben werden, beim Fehlen dieses Angebotes getötet worden wären, dass aber umgekehrtauch nicht auszuschließen ist, dass das Angebot einer anonymen Geburt Leben gerettethat. Auch die Befürworter von Angeboten anonymer Kindesabgaben haben allerdingskeinen einzigen solchen Fall dokumentiert, wie es überhaupt nach wie vor an einerumfassenden bundesweiten Erhebungen fehlt.63 Zwar hat der Gesetzgeber bei der Frageder Geeignetheit eines Schutzkonzeptes einen weiten Einschätzungsspielraum64 und erist, wenn er die zugänglichen Erkenntnisquellen ausgeschöpft hat, befugt, Entschei-dungen auch unter den Bedingungen der Ungewissheit zu fällen.65 Jedenfalls die Bun-desregierung geht aber davon aus, dass noch weitere Daten erhoben werden müssen undkönnen.66

Es erscheint zwar fraglich, wie diese Daten erhoben werden sollen, weil nur diejenigenFrauen befragt werden können, die später auf die Anonymität verzichtet haben und damiteine Personengruppe mit einem vermutlich zu starken Bias. Auch über die Entwicklungder Tötungen Neugeborener gibt es keine belastbaren Zahlen, da diese seit der Ab-schaffung von § 217 StGB in den Kriminalstatistiken nicht mehr separat ausgewiesenwerden.67 Abgesehen davon werden glücklicherweise so wenige Neugeborene getötet,dass man aus veränderten Zahlen kaum verlässliche Kausalzusammenhänge ableitenkönnte; feststellen lässt sich allerdings, dass auch dort, wo Angebote anonymer Kin-

62 U. Herpich-Behrens, Was brauchen Mütter in höchster Not wirklich?, Die Sicht des Landes-jugendamtes Berlin, in: terre des hommes Deutschland e. V. (Hrsg.), Babyklappe und an-onyme Geburt – ohne Alternative?, 2003, S. 147ff.; und A. Rohde, Welche Mütter töten ihreKinder?, ebda, S. 131ff. sowie die Stellungnahmen von terre des hommes (http://www.terre-deshommes.de/content/themen/weitere/babyklappe/position_tdh.htm).

63 Als Desiderat vermerkt auch in der Untersuchung des Bayerischen Staatsministeriums(Fn. 57), S. 55 f.

64 Vgl. oben I.65 BVerfGE 50, 290 (332).66 BT-Drucks. 16/7220, S. 9.67 C. Gremmel, Anonyme Geburt & anonyme Abgabe von Kindern. Hilfe oder Risiko? Ein

deutsch-französischer Vergleich, in: G. Zenz (Hrsg.), Traumatische Kindheiten. Beiträge zumKinderschutz und zur Kinderschutzpolitik aus erziehungswissenschaftlicher und rechtswis-senschaftlicher Perspektive, 2004, S. 107 (111); vgl. ferner die Studie von M. Bauermeister,Die Tötung Neugeborener unter der Geburt (Kindstötung § 217 StGB). Eine bundesweiteVerbundstudie für die Jahre 1980-1989, 1994.

Das Kind X: Verfassungsrechtliche Fragen der anonymen Kindesabgabe 99

Page 101: Das ganze Heft als PDF-Datei

desabgabe zur Verfügung stehen, nach wie vor Neugeborene ausgesetzt und getötetwerden.68

Dennoch könnte der Gesetzgeber, der anonyme Geburten unter bestimmten Voraus-setzungen zulässt, mit einer solchen Untersuchung immerhin den Nachweis führen, dasser alles zur Ermittlung der tatsächlichen Gegebenheiten Mögliche und Zumutbare getanhat. Kommt diese Untersuchung zu dem belastbaren Ergebnis, dass es Fälle gibt, indenen die Angebote anonymer Kindesabgabe das Leben eines Kindes retten können,wäre die Eignung grundsätzlich zu bejahen. Bedenken begegnet hingegen der Vor-schlag, die Wissenslücken mit einem Experimentiergesetz zu schließen.69 Denn dieempirische Unsicherheit beruht nicht auf dem Fehlen einer gesetzlichen Grundlage (imGegenteil wird die anonyme Kindesabgabe ja auch ohne gesetzliche Grundlage prakti-ziert), sondern auf der Anonymität, die das Gesetz nicht beseitigen, sondern perpetuierenwürde.70

Erforderlichkeit

Im Rahmen der Erforderlichkeit rückt das Verhältnis zwischen den beiden Formen deranonymen Kindesabgabe in den Mittelpunkt. Zu prüfen ist nämlich, ob es ein gleicher-maßen geeignetes Mittel gibt, das die betroffenen Grundrechte weniger stark ein-schränkt.71

Tatsächlich besteht in mehrfacher Hinsicht ein qualitativer Unterschied zwischen denbeiden Angeboten. Anonyme Geburten werden medizinisch betreut, Babyklappen kön-nen hingegen erst nach einer Entbindung genutzt werden. Bei Babyklappen lässt sichzudem, anders als bei der anonymen Geburt, nicht feststellen, wer das Kind abgibt. Nichtimmer ist es die Mutter, die das Kind einlegt, und es lässt sich noch nicht einmal aus-schließen, dass das Kind gegen ihren Willen abgegeben wird. Hinzu kommt, dass keineKontaktaufnahme zur abgebenden Person und damit keine auf Aufgabe der Anonymitätgerichtete Beratung stattfinden kann. Auch ist die Hemmschwelle, sich des Kindes zuentledigen, wesentlich geringer, wenn die Betroffene noch nicht einmal gezwungen ist,Beweggründe für ihre Entscheidung darzulegen. Die Möglichkeiten, einen Ausgleichmit den Interessen von Kind und nicht abgebendem Elternteil herbeizuführen, sind daherbei der anonymen Geburt ungleich größer als bei der Babyklappe, weil eine medizini-sche und sozialpsychologische Kontaktaufnahme mit der Mutter möglich ist. Aus die-sem Grund wird in Frankreich auch nur die anonyme Geburt („accouchement sous X“),nicht aber die Abgabe in Babyklappen praktiziert.72

Allenfalls könnte man fragen, ob anonyme Geburten weniger geeignet sind, ihr Zielzu erreichen, weil werdende Mütter anonyme Geburten wegen der Notwendigkeit derpersönlichen Kontaktaufnahme nicht in Anspruch nehmen. Dass aber eine Mutter ein

b)

68 S. Neuheuser, Babyklappenkonzepte – guter Wille wider Rechtsordnung, ZfL 2002, 10 (13)sowie die Entscheidung BGH 4 StR 105/08 v. 19.6.2008 (Tötung eines Neugeborenen trotzKenntnis der Mutter von einer Babyklappe).

69 Durner (Fn. 53), S. 258.70 Kritisch auch D. Elbel, Anonyme Geburten und Babyklappen, KritV 2007, 293 (298).71 BVerfGE 67, 157 (177); 68, 193 (219); 92, 262 (273).72 Vgl. dazu Mielitz (Fn. 3), S. 33ff.

100 Thorsten Kingreen

Page 102: Das ganze Heft als PDF-Datei

Kind nur deshalb tötet, weil zwar ein Angebot anonymer Abgabe, nicht aber eine Ba-byklappe zur Verfügung steht, ist hochspekulativ und daher irrelevant. Eine Legalisie-rung von Babyklappen wäre daher schon wegen fehlender Erforderlichkeit und unab-hängig von der Frage der Geeignetheit im Allgemeinen verfassungswidrig.73

Angemessenheit

Der mit der Legalisierung der anonymen Geburt einhergehende Schutzverlust mussschließlich in einem angemessenen Verhältnis zu den positiven Effekten für den Schutzdes neugeborenen Lebens stehen.

Unabwägbarkeit des Lebensrechts (Art. 2 Abs. 2 GG)?

Zunächst kann man fragen, ob die beiden Schutzkonzepte überhaupt der gegenseitigenAbwägung zugänglich sind. Es wird nämlich gesagt, dass die Wahrnehmung der Per-sönlichkeitsrechte und der Umgangsrechte stets das Überleben des Kindes vorausset-ze.74 Diese intrapersonale Abwägung lässt sich leicht widerlegen, weil, soweit ersicht-lich, jedenfalls niemand behauptet, dass alle anonym geborenen Kinder ohne das An-gebot anonymer Geburt nicht mehr leben würden.

Es geht also gerade um die Frage, ob es legitim ist, den Grundrechtsschutz von Kin-dern und Vätern einzuschränken, um das Leben anderer Kinder zu retten, d. h. um eineninterpersonalen Konflikt zwischen unterschiedlichen Grundrechtsträgern. Aber auchinsoweit wird der Sinn, ja überhaupt die Legitimität einer Abwägung bestritten: Alleindie Chance, nur ein einziges Kind zu retten, sei doch ausreichend, um das Angebotanonymer Kindesabgaben zu legitimieren.75 Auch diese These stellt die generelle Ab-wägbarkeit der beiden Schutzkonzepte in Frage, indem sie unausgesprochen einen Vor-rang des Grundrechts auf Leben vor anderen Grundrechten postuliert. Eine solche abs-trakte Rangordnung der Grundrechte ist dem Grundgesetz außerhalb der als unverfügbarvorgegebenen Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) und dem damit eng zusammenhän-genden absoluten Verbot der Todesstrafe (Art. 102 GG) allerdings fremd.76 Richtig istzwar, dass generell eine besonders strenge Prüfung geboten ist, wenn Leben und Ge-sundheit zur Abwägung stehen.77 Der Gesetzesvorbehalt (Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG) belegtaber, dass auch das Grundrecht auf Leben im Einzelfall hinter anderen Schutzgüternzurücktreten muss, beim Schwangerschaftsabbruch etwa hinter dem Persönlichkeits-recht der Mutter.78 Das legitimiert auch den Verzicht auf bei isolierter Betrachtungdurchaus mögliche Verbesserungen des Lebensschutzes. So könnte der Gesetzgeber,zur Behebung des Organmangels, jeden Menschen zwingen, post mortem seine Organezu spenden, soweit das medizinisch möglich und sinnvoll ist. Er würde damit vermutlich

c)

aa)

73 Auch Elbel (Fn. 7), S. 361, hält ein Verbot von Babyklappen für unerlässlich.74 I. Mittenzwei, Babyklappe und anonyme Geburt, ZRP 2002, 452 (452).75 Hepting (Fn. 60), S. 1578; T. Müller-Magdeburg, Recht auf Leben – Die anonyme Geburt,

FPR 2003, 109 (111).76 Vgl. etwa R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 2. Aufl. 1994, S. 142.77 Vgl. H. D. Jarass, in: Jarass/Pieroth (Fn. 42), Art. 2 Rn. 96.78 BVerfGE 88, 203 (254); vgl. E. Benda, Die „anonyme Geburt“, JZ 2003, 534 (537).

Das Kind X: Verfassungsrechtliche Fragen der anonymen Kindesabgabe 101

Page 103: Das ganze Heft als PDF-Datei

verhindern, dass Menschen auf den Wartelisten nur deshalb sterben, weil für sie keinSpenderorgan zur Verfügung steht. Aber er verzichtet darauf mit Rücksicht auf dieVerfügungsrechte des Einzelnen über seinen Körper.

Es gibt daher im Hinblick auf das Grundrecht auf Leben kein generelles Abwägungs-verbot.

Kriterien für die Abwägung

Struktur des Grundrechtskonflikts

In der Grundrechtsdogmatik spricht man von Kollisionen, wenn „vermittlungsbedürf-tige, weil potentiell oder aktuell konfligierende Freiheitsausübungsansprüche verschie-dener Grundrechtsträger“79 bestehen. Kollisionen sind also Konflikte zwischen zweigleichermaßen grundgesetzlich gewährleisteten Freiheitsbetätigungen, die aufeinanderprallen und daher nach Maßgabe der Gesetzesvorbehalte der Grundrechte und desGrundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu einem Ausgleich gebracht werden müssen: derInformationsanspruch des die Anbringung einer Parabolantenne begehrenden türki-schen Mieters (Art. 5 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 GG) mit dem Eigentumsgrundrecht des Vermie-ters (Art. 14 Abs. 1 GG),80 die Meinungs- und Pressefreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 Hs. 1und S. 2 Var. 1 GG) mit den Persönlichkeitsrechten der von Meinungsäußerungen undPresseveröffentlichungen negativ Betroffenen81 und das Persönlichkeitsrecht der Mut-ter, den Namen des Vaters zu verschweigen mit dem Anspruch des Kindes, diesen zukennen.82 Charakteristikum der Kollision ist also ein grundrechtlich geschütztes Han-deln, das in einer konkreten Situation Konfliktpotential auslöst; die Beteiligten weisendabei jeweils eine qualifizierte Nähe zu dem Konflikt auf, die sie von anderen Grund-rechtsträgern abhebt. Die gegenläufigen Interessen sind durch das Zusammentreffen aufeine Art und Weise miteinander verflochten, dass ein Ausgleich erforderlich ist. DieseVerflechtung legitimiert staatliche Regulierung und damit auch eine Relativierung desgrundrechtlichen Schutzanspruches im Einzelfall.

Das Kind, das anonym abgegeben wurde, weist nun aber mit seinem Anspruch aufFreilegung seiner Wurzeln keine qualifizierte Nähe zum Problem der Tötung des un-geborenen/neugeborenen Lebens auf. Entsprechendes gilt für den Vater des Kindes, dervon seinem Kind nicht erfährt oder jedenfalls keinen Umgang mit diesem haben darf,damit andere Mütter oder Väter ihre Kinder nicht töten. Der Konflikt wird also erst durchdie Knüpfung von Kausalketten konstruiert, deren Haltbarkeit jedenfalls unsicherist.83 Die Grundrechte sind hier mithin nicht dergestalt miteinander verflochten, dass eseines Ausgleichs bedarf. Damit ist die Legitimation für den Grundrechtseingriff zwei-felhaft: Während sie sich bei einer Grundrechtskollision aus der Beteiligung der Grund-rechtsträger an dem konkreten Konflikt ergibt, ist sie problematisch, wenn der Grund-rechtseingriff unbeteiligte Personen trifft, die keinerlei qualifizierten Bezug zu dem

bb)

(1)

79 H. Dreier, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar Bd. I, 2. Aufl. 2004, Vorb.,Rn. 157; ferner insbesondere Pieroth/Schlink (Fn. 41), Rn. 314ff.

80 BVerfGE 90, 27.81 BVerfGE 93, 266.82 BVerfGE 96, 56.83 Vgl. dazu nochmals oben 1.

102 Thorsten Kingreen

Page 104: Das ganze Heft als PDF-Datei

konkreten Konflikt aufweisen. Die Legalisierung anonymer Geburten würde einengrundrechtlichen Kollateralschaden produzieren: Um das Leben einzelner Kinder zuschützen, wird anderen Kindern ihre Abstammung vorenthalten und werden die Bezie-hungen zwischen Kindern und Eltern abgeschnitten. Das Bundesverfassungsgerichtsieht diese zufällige Mithaftung in seiner Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit derRasterfahndung kritisch: „Grundrechtseingriffe, die sowohl durch Verdachtslosigkeitals auch durch eine große Streubreite gekennzeichnet sind – bei denen also zahlreichePersonen in den Wirkungsbereich einer Maßnahme einbezogen werden, die in keinerBeziehung zu einem konkreten Fehlverhalten stehen und den Eingriff durch ihr Ver-halten nicht veranlasst haben – weisen grundsätzlich eine hohe Eingriffsintensität auf[…]. Denn der Einzelne ist in seiner grundrechtlichen Freiheit umso intensiver betroffen,je weniger er selbst für einen staatlichen Eingriff Anlass gegeben hat.“84

Einfluss der Legalisierung der anonymen Geburt auf die Schutzkonzepte

Die Streubreite allein macht den Eingriff zwar noch nicht verfassungswidrig. Sie enthältaber eine Aussage über die Intensität des Eingriffs, der ein angemessen hoher Zuwachsan Rechtsgüterschutz gegenüberstehen muss. Dazu ist zu untersuchen, welchen Einflusseine Legalisierung der anonymen Geburt auf die beiden Schutzkonzepte hat. Zu prüfenist m. a. W., wie sich die Zulassung der anonymen Geburt auf den Schutz des neuge-borenen Lebens auf der einen Seite und die Persönlichkeits- und Elternrechte auf deranderen Seite auswirken würde.

Hier bestehen verfassungsrechtlich relevante Diskrepanzen. Es dürfte Einigkeit dar-über bestehen, dass der Gesetzgeber von Verfassungs wegen nicht dazu verpflichtet ist,anonyme Geburten zuzulassen, um seiner Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG nach-zukommen. Anonyme Geburten mögen, ihre Wirksamkeit unterstellt, ein kleiner Bau-stein im Schutzkonzept für das neu- und ungeborene Leben sein, werden aber auch vonihren Befürwortern nur als Ausnahmefall angesehen. Hingegen bedeutet die Zulassungder anonymen Geburt einen erheblichen Eingriff in die familienrechtlichen Eltern-Kind-Beziehungen. Diese Beziehungen entstehen zwar teils, wie bei der Abstammung (§ 1591BGB), qua Gesetz und können daher durch privatautonome Entscheidungen nicht be-seitigt werden. Sie laufen aber leer, denn das Kind, das seine Mutter und seinen Vaternicht kennt, kann die aus der Abstammung fließenden Rechte (Unterhalt, Pflege undErziehung, Erbrecht) nicht mehr wahrnehmen. Faktisch wird es gegenüber seinen leib-lichen Eltern familienrechtlich rechtlos gestellt. Der Staat würde anonym bleibendePersonen in die Lage versetzen, über fundamentale Familienrechte der Kinder zu dis-ponieren, ohne Verfahren, ohne Begründungszwang und besondere Voraussetzungen.Das reguläre Adoptionsverfahren mit seinen Beteiligungsrechten für den Vater und derDatensicherung durch das PStG würde entwertet.

Besonders bemerkenswert sind auch die Diskrepanzen, was unser Wissen angeht.Während nach wie vor die grundlegenden Daten darüber fehlen, ob anonyme GeburtenLeben retten, kann die moderne Adoptionsforschung auf wissenschaftlich fundierte Er-kenntnisse über die Gemütslage von Kindern zurückgreifen, die von ihren leiblichen

(2)

84 BVerfGE 115, 320 (354).

Das Kind X: Verfassungsrechtliche Fragen der anonymen Kindesabgabe 103

Page 105: Das ganze Heft als PDF-Datei

Eltern abgegeben wurden.85 Danach löst gerade die Trennung zwischen biologischerHerkunft und sozialer Zugehörigkeit das Interesse an der eigenen Abstammung aus. DieBetroffenen nehmen sie als Verlust bewusst wahr, wenn sie ihre Identität bestimmen,das definieren, was sie unverwechselbar macht, auch in Beziehungen zu anderen Men-schen. Selbst eine gefestigte soziale Zugehörigkeit zu einer Adoptivfamilie (die ja nichtselbstverständlich ist) kann meist nicht über den Schmerz hinweghelfen, fortgegebenworden zu sein und noch nicht einmal den Grund dafür zu kennen; bisweilen steigertsich das bis hin zu der Vorstellung: „Meine Eltern wollten gerade mich nicht!“; oder:„Wenn ich von so schlechten Eltern abstamme, kann ich auch nur ein schlechtes Kindsein“. Dieser oftmals mit Wut gepaarte Schmerz äußert sich in Zweifeln am Selbstwert,in Beziehungsunfähigkeit und Trennungsängsten. In Interviews bezeichnen betroffeneKinder ihren Geburtstag als den traurigsten Tag ihres Lebens und die Feier mit ihrenAdoptiveltern als „Betrug“, weil diese doch gar keinen Beitrag zur Geburt geleistethaben. Wenn Betroffene nach ihrer biologischen Herkunft forschen, so ist damit, be-wusst oder unbewusst, die Sehnsucht verbunden, den fundamentalen lebensgeschicht-lichen Bruch ungeschehen zu lassen, Hintergründe und Erklärungen für individuelleVerhaltensmuster, aber auch für Erkrankungen und Wege für den möglichen Umgangmit ihnen zu eruieren.

Die Situation des anonym abgegebenen Kindes ist dabei noch schlechter als bei an-deren adoptierten Kindern. Diese haben nach Vollendung des 16. Lebensjahres aus§ 62 Abs. 1 PStG einen Anspruch auf Einsicht in den Geburtseintrag oder auf Erteilungeiner Personenstandsurkunde aus dem Geburtenbuch und nach § 9 b Abs. 2 AdVermGauf Einsichtnahme in die Adoptionsakten, soweit diese seine Herkunft und Lebensge-schichte betreffen. Das regulär adoptierte Kind kann daher, wenn auch erst sehr spät,den Bruch zu Beginn seines Lebens zumindest ansatzweise rekapitulieren und bekommtzumindest die Möglichkeit, den Namen der Mutter (und evtl. des Vaters) zu erfahrenund mit dieser sogar Kontakt aufzunehmen. Bei einem anonym geborenen Kind laufendiese Ansprüche hingegen weitgehend leer, weil Mutter und Anbieter ihren personen-standsrechtlichen Verpflichtungen mit Rücksicht auf die Wahrung der Anonymität derMutter nicht nachgekommen sind.86

Man kann damit festhalten: Der Einfluss der anonymen Geburt auf den Schutz desungeborenen Lebens ist unsicher und, unterstellt es gibt ihn, für das Gesamtkonzeptbestenfalls gering, wegen der negativen Auswirkungen auf die vorhandenen Hilfsan-gebote möglicherweise sogar kontraproduktiv. Die Auswirkungen auf die Persönlich-keitsrechte und Elternrechte insbesondere der Kinder sind hingegen gut dokumentiertund erheblich.

Vertrauliche Geburt?

Um trotz des eindeutigen Überwiegens der Kinder- und Väterrechte einen verhältnis-mäßigen Ausgleich herzustellen, wird darüber diskutiert, ob sich Verfahren der anony-

cc)

85 Zum Folgenden etwa B. Brand, Adoption und Identität, 2007; C. Hoffmann-Riem, Das ad-optierte Kind. Familienleben mit doppelter Elternschaft, 1984; C. Swientek, Wer sagt mir,wessen Kind ich bin? Von der Adoption Betroffene auf der Suche, 1993; I. Wiemann, Pflege-und Adoptivkinder, 7. Aufl. 2003.

86 Vgl. oben B. I.

104 Thorsten Kingreen

Page 106: Das ganze Heft als PDF-Datei

men Geburt entwickeln lassen, die den Schutzzielen einer Zulassung anonymer Gebur-ten und den Grundrechten von Kindern und Vätern gleichermaßen gerecht werden.

Vorgeschlagen wird eine sog. vertrauliche Geburt, die eine spätere Durchbrechungder Anonymität der Mutter ermöglichen soll.87 Die entscheidende Frage ist aber, ob dieMutter gegen die Offenlegung ihrer Personaldaten ihr Veto einlegen kann, wie das etwain Frankreich nach wie vor der Fall ist und beim letzten, 2004 in den Bundesrat einge-brachten Gesetzentwurf88 vorgesehen war. Bei einem Veto kann es nämlich, wie diesieben in der Entscheidung Odièvre unterlegenen Richter zutreffend feststellen, „wedertatsächlich noch rechtlich zu einer Interessenabwägung kommen. [...] Es handelt sich[...] keineswegs um ein gemischtes System, das irgendeinen Ausgleich zwischen denbetroffenen Rechten sichert. Das der Mutter zugestandene eindeutige und einfache ‚Ve-torecht’ hat zur Folge, dass die im Gesamtsystem der Konvention anerkannten Rechtedes Kindes [...] völlig vernachlässigt, ja vergessen werden. Außerdem kann die Mutterin gleicher Weise die Rechte Dritter leer laufen lassen, insbesondere die des leiblichenVaters oder der Geschwister, die ebenfalls ihre in Art. 8 EMRK garantierten Rechteverlieren.“89

Ein verfassungsgemäßer Ausgleich setzt damit voraus, dass das Kind, ebenso wieandere Adoptivkinder (vgl. § 62 Abs. 1 PStG), zu einem späteren Zeitpunkt einen un-bedingten, vom Willen der Mutter unabhängigen Anspruch auf Offenlegung seiner Per-sonendaten hat.90 Die Mutter würde damit zwar nicht gegenüber ihrem Kind, wohl abergegenüber ihrem sozialen Umfeld anonym bleiben können – ein Wunsch, den offenbarviele Betroffene äußern.91 Fraglich ist aber, welchen Zusatznutzen das Angebot einervertraulichen Geburt hat. Schon jetzt haben Frauen nach § 6 Abs. 2 SchKG einen An-spruch auf eine anonyme Schwangerschaftskonfliktberatung, und es ist auch nichtgrundsätzlich verboten, ein Kind zur Welt zu bringen, ohne das soziale Umfeld daranteilhaben zu lassen. Das Angebot einer vertraulichen Geburt würde die Mutter allerdingsvon der personenstandsrechtlichen Verpflichtung befreien, den Namen des Vaters zunennen.92 Würde nämlich der Vater spätestens im Zuge des Adoptionsverfahrens ein-bezogen, könnte Vertraulichkeit gegenüber dem sozialen Umfeld der Mutter nicht mehrgarantiert werden. Unter bestimmten Voraussetzungen gesteht ihr die Rechtsprechungdas Recht zu schweigen allerdings ohnehin schon jetzt zu, freilich nur im Einzelfall,unter Abwägung der gegenläufigen Interessen und mit der Möglichkeit gerichtlicher,durch Vater oder Kind veranlasster Kontrolle.93 Die Zulassung der vertraulichen Geburtwäre demgegenüber ein qualitativer Sprung, weil sie es der Mutter generell und nicht

87 Vgl. dazu insbesondere Elbel (Fn. 7), S. 379ff.; Hepting (Fn. 60), S. 1581 f.88 BR-Drucks. 682/04, S. 13.89 EGMR, Gemeinsame abweichende Meinung der Richter Wildhaber, Bratza, Bonello, Lou-

caides, Cabral Barreto, Tulkens und Pellonpää, NJW 2003, 2145 (2149 Nr. 7); im Hinblickauf die Verkürzung des Beurteilungsspielraums der Mitgliedstaaten kritisch M. Wittinger,Anonyme Geburt – endlich Klarheit?, NJW 2003, 2138 (2139).

90 Vgl. insbesondere Elbel (Fn. 7), S. 384ff.; ferner etwa Bund Deutscher Hebammen (http://www.dbsh.de/redsys/soztop/userpages/babyklappe.html).

91 Elbel (Fn. 70), S. 301.92 Vgl. zu dieser Verpflichtung bereits oben B. I.93 BVerfGE 96, 56 (62); tendenziell für eine weitere Stärkung der Rechte des Kindes K. H.

Muscheler/A. Bloch, Das Recht auf Kenntnis der genetischen Abstammung und der Anspruchdes Kindes gegen die Mutter auf Nennung des leiblichen Vaters, FPR 2002, 339 (346ff.).

Das Kind X: Verfassungsrechtliche Fragen der anonymen Kindesabgabe 105

Page 107: Das ganze Heft als PDF-Datei

nur bei Vorliegen besonderer Umstände gestatten würde, den Vater nicht zu nennen,ohne dass sie sich dafür rechtfertigen muss und ohne dass ihre Entscheidung einer ge-richtlichen Kontrolle zugänglich wäre.94 Aus der Ausnahme würde die Regel: Die Mut-ter, die den Vater des Kindes nicht nennen möchte, kann dies rechtmäßigerweise un-terlassen. Sie hätte es, nicht anders als bei der absolut anonymen Geburt, in der Hand,den Vater von seinen Rechten (etwa im Rahmen einer Adoption) auszuschließen undzu verhindern, dass das Kind Kenntnis von seiner väterlichen Abstammung erhält. Diepersonenstandsrechtliche Anzeigepflicht ließe sich damit im Hinblick auf den Vaterinsgesamt nicht mehr halten. Der Gesetzgeber würde sich der zentralen verfahrens-rechtlichen Unterfütterung der Persönlichkeits- und Elternrechte begeben. Das ist keineangemessene Alternative.

Schluss

Babyklappen und Angebote anonymer Geburt haben auf den ersten Blick einen anzie-henden Charme. Wer wollte ernsthaft gegen Angebote sein, die Neugeborenen das Le-ben retten? Das mag der Grund dafür sein, dass die Behörden derzeit bundesweit voreinem Einschreiten zurückschrecken und den rechtswidrigen Zustand dulden. Manmöchte nicht für das nächste getötete Neugeborene verantwortlich gemacht werden.

Bei näherem Hinsehen scheint indes zwischen Glaube und Vernunft eine gewisseSchieflage zu bestehen. Dass Anonymität Leben retten soll, wird behauptet, aber nichtin einem Maße belegt, das es rechtfertigt, Kinder von ihren Wurzeln zu trennen. Gutdokumentiert sind demgegenüber die gravierenden lebenslangen Belastungen anonymabgegebener Kinder, für die Pascale Odièvre, die französische Klägerin im EGMR-Verfahren, stellvertretend formuliert: „Man stellt sich viel vor, aber es ist vor allem einegroße Leere. Da ist nichts. Es gibt kein Gesicht, keinen Namen, gar nichts. Und es gibtnicht einmal einen entfernten Verwandten, der Dir Deine Geschichte erzählen kann.Man ist in ein Nichts geboren.“95 Angebote, Kinder anonym abzugeben, entwerten zu-dem die vorhandenen Hilfskonzepte und die regulären Verfahren der Adoptionsver-mittlung, die aufgrund ihrer formalen Ausgestaltung nach wie vor am besten geeignetsind, einen Ausgleich der vielschichtigen Interessen zu gewährleisten. Sie passen damitauch nicht zu den Grundprinzipien des freiheitlichen Sozialstaates, der Hilfe zur Wahr-nehmung, nicht aber zur Entledigung von Verantwortung leisten soll.96

Bei der Parallelproblematik der anonymen Samenspende hat der Gesetzgeber mitt-lerweile reagiert. Einrichtungen, die heterologe Inseminationen i. S. v. § 8 d Abs. 2 TPGdurchführen, sind nach § 15 Abs. 2 TPG verpflichtet, die Daten des Spenders 30 Jahrelang aufzubewahren. Ausdrücklich heißt es in § 14 Abs. 3 S. 1 TPG, dass die daten-schutzrechtlichen Verpflichtungen der Gewebeeinrichtung das Recht des Kindes aufKenntnis der eigenen Abstammung unberührt lassen. Damit wird auch in Kauf genom-men, dass die Bereitschaft der Samenspende durch das Anonymitätsverbot zurückgehenwird.

V.

94 Vgl. zur insoweit schwachen Position der Mutter Schwab (Fn. 36), Rn. 559.95 Zitat nach I. Wiemann, Babyklappe und anonyme Geburt. Hintergründe – Kritik – Alterna-

tiven (www.irmela.wiedmann.de).96 Katzenmaier (Fn. 16), S. 1139.

106 Thorsten Kingreen

Page 108: Das ganze Heft als PDF-Datei

Die anonyme Kindesabgabe ist sogar schon nach geltendem Recht unzulässig; derHandlungsbedarf beschränkt sich daher auf den Gesetzesvollzug. Gesetzentwürfe, dieanonyme Kindesabgaben zulassen, sind hingegen verfassungswidrig und verdienen nureins: „eine anonyme Bestattung, damit niemand die Chance der Exhumierung er-hält.“97

97 S. Willutzki, Babyklappe und anonyme Geburt – gibt es eine familienrechtliche Lösung?, in:Diakonisches Werk Berlin-Brandenburg e. V./Caritasverband für das Erzbistum Berlin e. V.(Hg.): Auf den Prüfstand gestellt. Babyklappe und anonyme Geburt, Berlin 2003, S. 34.

Das Kind X: Verfassungsrechtliche Fragen der anonymen Kindesabgabe 107