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das Gehirn Eine Geschichte entsteht im Kopf. Der Leser einer Zeitung nimmt die geschriebenen Wörter und Sätze auf und dabei läuft in seinem Gehirn ein Film ab. Vor ein paar Jahren titelte eine Zeitung in Südafrika: «Vier Schwarze bei Unruhen getötet.» Welche Bilder löst dieser Satz aus? Hand aufs Herz, der eine oder ande- re Leser denkt hier vielleicht an eine Horde Krawallanten, die raubend, plündernd und mordend durch die Strassen zieht. Eine andere Zeitung schrieb hingegen: «Polizisten erschossen vier Kundge- bungsteilnehmer.» Und schon wird ein ungleicher Film im Kopf des Lesers inszeniert. Man fragt sich, warum die Polizei auf die Demonstranten geschossen hat und ob der Einsatz der polizeilichen Zwangsmittel gerechtfertigt war. Beide Schlagzeilen beziehen sich auf das selbe Ereignis. Ohne zu lügen wird durch den unterschiedlichen Gebrauch von Wörtern und Sätzen eine Geschichte ganz anders erzählt. Bleiben wir beim Beispiel einer politi- schen Demonstration. Sprachwissen- schaftler untersuchen systematisch Presseartikel über Kundgebungen und machen dabei ideologische Po- sitionen sichtbar. «Es flogen Steine.» ist ein anderer Satz als «Polizisten wurden mit Steinen be- worfen.» Beide blenden die handelnde Person – den Steinewerfer – aus. Wir wissen Der Film im Kopf Schweizerische Hirnliga Ligue suisse pour le cerveau Lega svizzera per il cervello Postgasse 19 / 3011 Bern Telefon 031 310 20 90 Fax 031 310 20 82 Spendenkonto PC 30-229469-9 www.hirnliga.ch Impressum und Redaktion Vorstand Schweizerische Hirnliga Prof. Ch. Hess, Bern; Prof. P. Magistretti, Lausanne; Prof. J.-M. Fritschy, Zürich; Prof. N. Herschkowitz, Bern; Dr. Beatrice Roth, Lausanne; Prof. J. Kesselring, Valens; Marco Tackenberg, Bern Konzept und Gestaltung: f orum|pr Postgasse 19, 3011 Bern Druck: Druckerei Hofer Bümpliz AG Buchdruckerweg 20, 3018 Bern Inhalt Nr. 1/2009 Editorial 2 Wie sage ich’s meinem Kinde? 3–4 Denkspiel 4 Sprache im Disput 5–6 Links oder Rechts? 6 Wenn die Sprache plötzlich weg ist 7 Lösung zum Denkspiel 8 Literaturtipps 8 Vorschau auf Newsletter 2/2009 8 Beim Lesen werden geschriebene Wörter zu lebendigen Bildern – im Kopf spielt sich ein Film ab. Foto: Keystone

das gehirn 1_09

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magazin zur aktivierung des gehirns

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Page 1: das gehirn 1_09

das GehirnEine Geschichte entsteht im Kopf.Der Leser einer Zeitung nimmt diegeschriebenen Wörter und Sätze aufund dabei läuft in seinem Gehirn einFilm ab. Vor ein paar Jahren titelteeine Zeitung in Südafrika: «Vier Schwarze bei Unruhen getötet.»Welche Bilder löst dieser Satz aus?Hand aufs Herz, der eine oder ande-re Leser denkt hier vielleicht an eineHorde Krawallanten, die raubend,plündernd und mordend durch dieStrassen zieht. Eine andere Zeitungschrieb hingegen: «Polizisten erschossen vier Kundge-bungsteilnehmer.» Und schon wird ein ungleicher Filmim Kopf des Lesers inszeniert. Manfragt sich, warum die Polizei auf dieDemonstranten geschossen hat undob der Einsatz der polizeilichen

Zwangsmittel gerechtfertigt war.Beide Schlagzeilen beziehen sich aufdas selbe Ereignis. Ohne zu lügenwird durch den unterschiedlichenGebrauch von Wörtern und Sätzeneine Geschichte ganz anders erzählt.Bleiben wir beim Beispiel einer politi-schen Demonstration. Sprachwissen-schaftler untersuchen systematischPresseartikel über Kundgebungenund machen dabei ideologische Po-sitionen sichtbar. «Es flogen Steine.» ist ein anderer Satz als«Polizisten wurden mit Steinen be-worfen.» Beide blenden die handelnde Person– den Steinewerfer – aus. Wir wissen

Der Film im KopfSchweizerische HirnligaLigue suisse pour le cerveauLega svizzera per il cervelloPostgasse 19 / 3011 BernTelefon 031 310 20 90Fax 031 310 20 82Spendenkonto PC 30-229469-9www.hirnliga.ch

Impressum und Redaktion

Vorstand Schweizerische HirnligaProf. Ch. Hess, Bern;Prof. P. Magistretti, Lausanne;Prof. J.-M. Fritschy, Zürich;Prof. N. Herschkowitz, Bern;Dr. Beatrice Roth, Lausanne;Prof. J. Kesselring, Valens;Marco Tackenberg, Bern

Konzept und Gestaltung:forum|prPostgasse 19, 3011 Bern

Druck:Druckerei Hofer Bümpliz AGBuchdruckerweg 20, 3018 Bern

Inhalt Nr. 1/2009

Editorial 2

Wie sage ich’s meinem Kinde? 3–4

Denkspiel 4

Sprache im Disput 5–6

Links oder Rechts? 6

Wenn die Sprache plötzlichweg ist 7

Lösung zum Denkspiel 8

Literaturtipps 8

Vorschau aufNewsletter 2/2009 8

Beim Lesen werden geschriebeneWörter zu lebendigen Bildern – im Kopf

spielt sich ein Film ab. Foto: Keystone

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Editorial

2 das Gehirn 1/2009

Liebe Leserin, lieber Leser

In der Woche vom 16.–22. März fin-det wiederum in mehreren SchweizerStädten die internationale Woche desGehirns statt. Wer sich einen Über-blick über die neuesten Erkenntnisseder Hirnforschung verschaffenmöchte, ist herzlich eingeladen, diezahlreichen Veranstaltungen zu be-suchen. Wissenschaftlerinnen undWissenschaftler aus der ganzen Weltvermitteln einem Laienpublikumwichtige Informationen zur Gesund-erhaltung unseres Denkorgans undberichten über aktuelle Ansätze beider Behandlung von Erkrankungenund Schädigungen des Gehirns.

Sie erhalten in der Beilage diesesNewsletters einen Überblick über diewichtigsten Veranstaltungen der Wo-che des Gehirns. Detaillierte Infor-mationen entnehmen Sie bitte unse-rer Website www.hirnliga.ch.

Es freut uns, Sie an der Woche desGehirns zu begrüssen!

Herzliche Grüsse

Dr. Béatrice RothVorstandsmitglied

nicht, wer Täter ist. Der zweite Satzzeigt aber die Opfer der Steinwürfe:die Polizisten. «Demonstranten warfen Steine aufPolizisten.» Dieser Satz nun macht erstmals dieHandelnden als Täter sichtbar, hierdie Demonstranten. Steht der Jour-nalist ideologisch der Polizei nahe, soschreibt er vielleicht weiter: «Die Polizei musste eingreifen.» Durch den Gebrauch des Hilfsverbes«müssen» gelingt es dem Redaktor,das Vorgehen der Polizei als natür-lich, zwingend und gegeben darzu-stellen. Eine kritischere Zeitung hättevielleicht nur geschrieben:«Die Polizei hat eingegriffen.»

Als Leser sind wir es gewohnt, dassin der Kolumne oder im journalis-tischen Kommentar die politischeHaltung des Redaktors offen zu Tagetritt. Interessant an obigen Beispielenist aber die Tatsache, dass ideologi-sche Positionen auch in der scheinbarneutralen Berichterstattung über einEreignis einfliessen. Ohne dass eineinziges Wort gelogen wäre, kann dieselbe Kundgebung auf ganz unter-schiedliche Weise beschrieben wer-den.

Beispiele aus: Marco Tackenberg und DominiqueWisler. Hutlose Bürschchen und halbreife Mädels.Protest und Polizei in der Schweiz. Haupt VerlagBern, 2007.

Auch in scheinbar neutralenBerichterstattungen finden sich oftideologische Ansichten.

Foto: Keystone

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Wie sageich's meinemKinde?

Der fünfjährige Yassin beherrschtnicht weniger als drei Sprachen. Mitseinem Vater, einem Marokkaner,spricht er arabisch. Mit seiner Mut-ter verständigt er sich in Schweizer-deutsch. Weil die Eltern sich inSpanien kennengelernt und längereZeit dort gelebt haben, wird inner-halb der Familie Spanisch gespro-chen. So wechselt die Verständi-gungssprache des Jungen je nachSituation. Ist Yassin mit seinem Vaterallein, spricht er arabisch. Am ge-meinsamen Mittagstisch unterhältsich die Familie auf Spanisch. ImKindergarten wiederum spricht erakzentfreies Schweizerdeutsch.

Die Hirnstrukturen von Zweisprachigen sindanders

Ein gewisser Neid auf den Fünf-jährigen lässt sich kaum verbergen –zu virulent sind die Erinnerungen anden oft mühsamen Fremdsprachen-unterricht in der Schule! Warumlernt ein Dreikäsehoch spielend leichtmehrere Sprachen, während mancherErwachsene selbst nach jahrelangemTraining keinen korrekten Satzzustande bringt?

Die Antwort liegt im Broca-Areal(siehe Abbildung 1), jener Region derHirnrinde, die als grammatikalischesZentrum unseres Gehirns gilt. Bei

Menschen, die eine Sprache erst spätlernen, bildet sich im Broca-Areal einseparates Netz für die Fremdspracheaus. Das Gehirn von kleinen Kindernverarbeitet Sprachen jedoch ganzanders. Bis zum Alter von rund dreiJahren werden neu hinzukommendeZweit- oder Drittsprachen im Zell-netz der Muttersprache integriert. ImGegensatz zu den Erwachsenen mussdas kindliche Gehirn also keinezusätzlichen Netze aufbauen. Dieneue Sprache kann so leichter gespei-chert und abgerufen werden.

Abbildung 1: Die zwei Hirnareale, welche für die Pro-duktion der Sprache verantwortlich sind:das Broca-Areal (blau) als grammatika-lisches Zentrum und das Wernicke-Areal (violett) für das Sprechen und dasVerstehen.

Spielend leichterSpracherwerb

Kinder lernen Sprachen implizit, alsoohne sich der Grammatik bewusst zu sein. Die Regeln erwerben siequasi nebenbei. Wer eine Fremd-sprache in einem späteren Lebens-abschnitt lernt, muss bewusst gram-matikalische Regeln büffeln underwirbt sie nicht automatisch. DieseErkenntnis spricht dafür, Kindermöglichst früh an eine Fremdspracheheranzuführen – spielerisch und ohneDruck.

Tipps für Eltern

Was heisst das nun für Eltern? SollenVäter und Mütter ihre Fremdspra-chenkenntnisse aus der Schulzeitzusammenkratzen und sich mit ihrenKindern in Englisch oder Französisch

3 das Gehirn 1/2009

Französische Vokabeln, englischeGrammatik – der Sprachunterrichtin der Schulzeit ist für vieleErwachsene mit unangenehmenErinnerungen verbunden. Umso be-eindruckender ist es, wie spielendleicht kleine Kinder Fremdsprachenlernen. Welche Erklärungen hat die Hirnforschung für diesesPhänomen? Was können Eltern tun,um ihren Kindern das Erlernen vonSprachen zu erleichtern?

Kinder lernen Fremdsprachen auf spielerische Weise. Beim Kind verarbei-tet das Gehirn die Sprache anders alsbeim Erwachsenen.

Foto: Keystone

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unterhalten? Sofern die Eltern sich inder Zweitsprache nicht sicher fühlen,ist davon abzuraten. Aber vielleichtspricht der Götti oder die Gotte IhresKindes eine fremde Muttersprache?Oder die Grossmutter, der Gross-vater? Ermuntern Sie die Bezugs-personen Ihres Kindes, von Beginnweg in ihrer Muttersprache zu spre-chen. Das wäre eine wunderbare Ge-legenheit, das Kleine mit einer zu-sätzlichen Sprache aufwachsen zulassen.

Eltern, die nicht im eigenen Sprach-raum leben, sollten mit ihren Kin-dern konsequent in der Sprache ihrerHeimat sprechen. Kisuaheli, Tamil,Spanisch: Welche Sprache die Kinderlernen, spielt keine Rolle. Für dieSprachkompetenz des Kindes zähltallein, dass es die Sprache gut be-herrscht. Vom Standpunkt der Hirn-forscher aus gesehen ist jede Sprachenützlich, weil es die Kinder auf dasSprachenlernen als solches vorbe-reitet.

Sollten Sie keine Möglichkeit haben,Ihr Kind zwei- oder mehrsprachigaufwachsen zu lassen: Keine Sorge.Wir können unser ganzes Leben langSprachen lernen, auch wenn es unsnicht ganz so leicht gelingt, wie denDreikäsehochs. Alles, was es dazubraucht, ist etwas Offenheit undMotivation. Und da können Elternihren Kindern mit gutem Beispielvorangehen.

Es ist verblüffend: Tatsächlich scheint die Position derBuchstaben für die Worterkennungnicht so wichtig zu sein. Stehen dererste und der letzte Buchstabe amrichtigen Platz, erkennt unser Gehirndas Wort trotz falscher Schreibweise.Voraussetzung ist, dass die Wort-länge nicht verändert wird. Allerdings spielt der eigene Erfah-rung- und Wissenshorizont eine ent-scheidende Rolle bei der Entzifferungverwirbelter Texte: Einen als Buch-stabensalat angerichteten philosophi-schen Text wird ein Leser leichterentziffern können, wenn ihm das ver-wendete Vokabular vertraut ist.

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Der folgende Text ist in einer eigen-willigen Rechtschreibung verfasst.Können Sie ihn trotzdem entziffern?Sollte Ihnen diese Aufgabe Schwie-rigkeiten bereiten, finden Sie die Auf-lösung auf Seite 8 unseres News-letters.

Luat enier sidtue an eienr elgnschienuvirstnäiet ist es eagl, in wchelerrhnfgeeloie die bstuchbaen in eniemwrot snid. Das eniizg whictgie ist,dsas der etrse und der lztete bstuch-bae am rtigeichn paltz snid. Der rsetknan tatol deiuranchnedr sein undman knan es iemmr ncoh onhe por-belme lseen. Das legit daarn, dsas wirnhcit jeedn bstuchbaen aeilln lseen,srednon das wrot als gzanes.

«Do you speak English?» Der Verfasser dieser Markierung offen-bar nicht.

Foto: Keystone

Denkspiel

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Laute, die es in seinem Umfeld hört.Die Erwachsenen versuchen dieLaute des Kindes zu deuten und«übersetzen» sie in die korrekteForm. Deutet das Kind auf einenBaum und sagt: «Ba!», wiederholtder Vater: «Ja, das ist ein Baum!»Solche Gespräche wiederholen sichimmer wieder, bis das Kind sich andas korrekte Wort «Baum» gewöhnthat. Grammatikalische Regeln lerntdas Kind auf dieselbe Weise. Es han-delt sich dabei um eine Art Kondi-tionierung, etwa so, wie das Herr-chen seinem Hund beibringt, dasStöckchen zu apportieren. Dass einKind bereits mit einem Grundver-ständnis für Sprache geboren werdenkönnte, war für Skinner undenkbar.

Sprache: Eine Frage der Gene?

Erst Noam Chomsky wagte es, dieBlack Box zu öffnen. Der amerikani-sche Linguist sorgte für Aufruhr inwissenschaftlichen Kreisen, als er um1960 seine Theorie der Universal-grammatik formulierte. Dass Kinderihre Muttersprache so mühelos ler-nen, lässt sich nach Chomsky nurdadurch erklären, dass wir schonvon Geburt an über grammatika-lische Kenntnisse verfügen.

Wenn wir reden, so Chomsky, wen-den wir intuitiv Regeln an. Er gehtdavon aus, dass viele dieser Regelnangeboren sind. Jeder Mensch würdedann ab Geburt über ein abstraktesgrammatikalisches Wissen verfügen.Indem die Eltern mit dem Kind spre-chen, lernt es die für die Mutter-sprache relevanten Regeln kennenund legt dann so etwas wie einenSchalter um. Weil bei Erwachsenendie Schalter bereits in Position ge-bracht sind, fällt es ihnen schwerer,die Regeln einer Fremdsprache zulernen.

Heute gilt es als gesichert, dass dieSprache eine bei gesunden Menschenangeborene Fähigkeit ist. Was aberbeim Erwerb der Sprache weiter pas-siert und ob es Gene oder Umweltwaren, die unsere Spezies zur Spra-che brachten, ist weiterhin Gegen-stand heisser Diskussionen.

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Lernen wir sprechen durch blossesNachahmen? Oder verfügen wir von Geburt an über ein grammatika-lisches Wissen?

Foto: Keystone

Sprache im Disput

Es war ein ethisch zweifelhaftes Ex-periment, das der ägyptische PharaoPsammetichus um 600 v. Chr. in Auf-trag gab: Er liess zwei Kinder in einerUmgebung ohne menschliche Stim-men aufwachsen. Der Pharao wollteherausfinden, welche Sprache Men-schen entwickeln, wenn ihnen keineSprache beigebracht wird. Er vermu-tete, die Kinder würden natürlicher-weise die Sprache ihrer Ahnen spre-chen. Der Pharao musste jedoch ent-täuscht zur Kenntnis nehmen, dassdie Kinder nur unverständliche Lautevon sich gaben.

Die Frage nach demUrsprung der Sprachebeschäftigt die For-schung seit Menschen-gedenken. Sprachwis-senschaftler, Genetike-rinnen, Hirnforscher,Biologinnen und Psy-chologen rätseln seitJahrzehnten, fahndennach «Sprachgenen»und messen kindlicheHirnströme. Immerwieder führt eine Fragezu hitzigen Debatten:Ist dem Menschen dieSprache in die Wiegegelegt – oder saugt eralles aus der Umweltauf?

Der Geist: Eine Black Box?

Das Gemüt oder der Geist einesMenschen galt für die Wissenschaftlange als Tabu. Der Geist sei eine«Black Box» und was in uns vorge-he, sei nicht zu erfassen. Davon warauch der berühmte Verhaltens-forscher B.F. Skinner überzeugt. Erging davon aus, dass wir Spracheallein durch äussere Reize erlernen,also nach einem Reiz-Reaktions-Schema. Skinner erforschte überJahre hinweg das Verhalten vonTieren. Diese Erkenntnisse bezog erdann auf die Menschen. Sein Fazit:Sprache ist kein geistiges Phänomen,es ist ein durch äussere Reize erlern-tes Verhalten. Das Kind imitiert die

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Rinks oder lechz?

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«Ich habe meineMütze auf der süd-lichen Kante desTisches im östli-chen Zimmer unse-res Hauses verges-sen» – diese In-formation würdein unseren Brei-tengraden für eini-ge Verwirrung sor-gen. Nicht so imäussersten NordenAustraliens. Die indieser Gegend ge-sprochene Sprache,das Guugu Yimi-thirr, kennt keineWörter für rechtsund links. Das ein-zige Referenzsys-tem bilden dieHimmelsrichtungen.

Ein viel beachtetesExperiment

Der britische Linguist und Anthro-pologe Stephen Levinson publiziertevor einigen Jahren eine viel beachteteUntersuchung zum Guugu Yimithirr.Levinson und seine Kollegen führtendas folgende Experiment durch:

Eine Versuchsperson hat auf einemTisch vor sich drei Tierfiguren. Vonrechts nach links stehen eine Kuh, einHahn und eine Katze nebeneinander.Der Proband soll sich die Anordnungeinprägen und dreht sich dann um180 Grad. Er bekommt die drei Tierein die Hand und wird gebeten, siewie zuvor anzuordnen. Ein Europäerstellt die Figuren nun so auf, wie sievorher vor ihm standen: Links eineKatze, in der Mitte ein Hahn, undrechts eine Kuh. Absolut gesehen ste-hen die Tiere jetzt aber anders da.Denn dadurch, dass die Versuchs-

person ihr eigenes Recht-Links-Be-zugssystem beim Drehen mitgenom-men hat, haben Katze und Kuh diePlätze getauscht.

Ein Guugu-Yimithirr-Sprecher gehtganz anders vor. Er platziert die Tiereexakt so wie zuvor. Keine Figurwechselt ihren Platz, denn – so dieSchlussfolgerung der Forscher – deraustralische Ureinwohner hat sienicht in Bezug zu sich selbst, sondernzu einer geografischen Gegebenheitaufgereiht. Und da diese sich nichtändert, bleibt auch die Anordnungder Tiere gleich.

«Der Mensch ist das Mass allerDinge», lehrte Protagoras im 5. Jahr-hundert vor unserer Zeitrechnung.Tatsächlich bedeutet die Rechts-Links-Unterscheidung, dass wir unsim Zentrum einer Welt erleben, diesich um uns selbst dreht.

Wenn wir sagen: «Der Tisch stehtrechts», stimmt das nur so lange, biswir uns um 180 Grad drehen. Dannsteht er links. Bisher hielten Psy-chologen und Linguisten die Rechts-Links-Unterscheidung für universalund natürlich. Die Untersuchung vonLevinson birgt also einigen Zünd-stoff für die wissenschaftliche Aus-einandersetzung von Sprache undDenken.

Wo ist Links, wo ist Rechts? Viele Menschen tun sich schwer mitdieser Unterscheidung. Foto: Keystone

Rechts/Links-Verwirrung

Es kommt oft vor, dass Erwachsene Probleme mit der Unterscheidung vonrechts und links haben. Eine hübsche historische Überlieferung zeigt: siesind in bester Gesellschaft. Die Soldaten der Armee Peters des Grossendrehten sich bei Befehlen wie «Rechts um!» in alle Richtungen. Die ent-nervten Unteroffiziere forderten ihre desorientierten Mannen auf, sich einBündel Stroh um den rechten Stiefel zu binden und Heu um den linken.Nun mussten die Korporale nur noch «Zum Heu!» oder «Zum Stroh!»rufen, und das Durcheinander war behoben.

Unterschiedliche Bezugssysteme:Aborigines im Norden Australiens ken-nen keine Wörter für rechts und links.

Foto: Keystone

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Es war ein warmer sonniger Nach-mittag im Mai, der für den amerika-nischen Schauspieler Kirk Douglasmit einem Schrecken endete. Er setz-te sich gerade mit einem Buch inseinen Lesestuhl, als er von einemgrossen Unwohlsein ergriffen wurde.Douglas fiel in eine tiefe Bewusst-losigkeit.

Als er im Spital wieder zu sich kam,wollte er von seiner Frau wissen, waspassiert sei. Er öffnete den Mund,um zu sprechen, aber es ging nicht.Er konnte verstehen, was mit ihmgesprochen wurde, aber er konntenicht antworten. Ein Schlaganfallhatte ihm, dem erfolgreichen Schau-spieler, das Wichtigste genommen –die Sprache.

Die körperlichen Folgen des Schlag-anfalles waren dramatisch. Doch fastnoch schlimmer war das seelischeLeiden. Douglas durchlebte eineschwere Depression.

Schritt für Schritt zurück ins Leben

Der erfolgsverwöhnte Schauspielerkämpfte sich Schritt für Schritt zu-rück ins Leben. Immer wieder führte

er sich das positive Beispiel vonMenschen vor Augen, welche schwe-re Schicksalsschläge gemeistert ha-ben. Mit eiserner Disziplin lernte erwieder sprechen, er überwand alleSchwierigkeiten und Rückschläge.Das Sprechen fällt ihm bis heuteschwer, aber er hat sich soweiterholt, dass er bereits wieder öffentli-che Auftritte wahrnimmt, um ande-ren Betroffenen Mut zu machen.

Aphasie

Ein Verlust der Sprache, auch alsAphasie bezeichnet, tritt oft als Folgeeines Hirnschlags oder anderenSchädigungen des Gehirns auf.Aphasien können unterschiedlicheSchweregrade aufweisen – vonSprachstörungen bis hin zum Verlustder Sprech-, Lese- und Schreib-fähigkeit. Wie weit sich eine betroffe-ne Person wieder erholen kann,hängt von der Art der Hirnverletzungab. Dank der Plastizität des Gehirnskönnen sich Aphasien teilweise zu-rückbilden, weil gesunde Hirnzellenanderer Regionen sprachliche Funk-tionen übernehmen können.

Die Aphasie hat auch gravierendeAuswirkungen auf das Leben dernächsten Bezugspersonen der Betrof-fenen. Menschen mit einer Aphasiekönnen ihre Befindlichkeit, ihre Sor-gen und Wünsche nur sehr schwerausdrücken, weil oft auch Gestik undMimik beeinträchtigt sind.

«Die Grenzen meiner Sprache sinddie Grenzen meiner Welt» konsta-tierte der Philosoph Ludwig Wittgen-stein.

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Wenn dieSpracheplötzlich weg ist

Nach einem Hirnschlag musste derSchauspieler Kirk Douglas die Sprachewieder neu erlernen.

Foto: Keystone

Aphasie Suisse

Die Organisation aphasie suisse hilft Menschen, die von einer Aphasie be-troffen sind. Sie ist in der ganzen Schweiz tätig (Kontaktadresse sieheunten). Als Aphasie wird eine Sprachstörung bezeichnet, die nach einerHirnschädigung eintreten kann. Menschen, die von einer Aphasie betrof-fen sind, können nicht mehr richtig sprechen. Auch das Lesen undSchreiben bereitet vielen Betroffenen Mühe. Trotzdem ist die geistigeLeistungsfähigkeit im Allgemeinen nicht beeinträchtigt.

aphasie suisse unterstützt Menschen mit einer Aphasie in ihrer sprachli-chen, beruflichen und sozialen Rehabilitation und übernimmt die Funk-tion einer Drehscheibe für Fachpersonen und Pflegepersonal.

aphasie suisseZähringerstr. 19, CH-6003 Luzern • [email protected] • Tel. 041 240 05 83

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LösungzumDenkspiel

Literaturtipps:

Zur Mundart: I sött langsam, Christine Iselin-Kobler (2005): Eine Klage, die immerwieder zu hören ist: Die Jungenwüssten nicht mehr, was richtigesBerndeutsch ist. Gemeint ist damitvermutlich: Sie brauchen die schönenalten Wörter von früher nicht mehroder nicht mehr gleich. Doch lässtsich überhaupt eruieren, was «richti-ges Berndeutsch» ist?

Botzheiterefaane, Christian Schmid(2007): Was ist eine Schlottergotte?Ein Häftlimacher? Was hat der Käseim Fleischkäse zu suchen? Warum istes höchste Eisenbahn? Seit vielen Jahren fragen Hörerinnenund Hörer in den Sendungen Schna-belweid und Mailbox auf SchweizerRadio DRS 1 mit nicht nachlassen-dem Interesse nach der Herkunft undder Bedeutung von Wörtern undAusdrücken aus den Mundarten unddem Hochdeutschen. Die Wortge-schichten in Christian Schmids Buchgehen von diesen Fragen aus.

Biographie:Die Wörter, Jean-Paul Sartre (1964):Der Schriftsteller und Philosoph er-zählt mit bissiger Ironie die Ge-schichte seiner Jugend. Eine faszinie-rende Studie über die kindlichePsyche, ein brillant geschriebenesSelbstbekenntnis.

Linguistik:«What Papers Say: Linguistic Vari-ation and Ideological Difference.»Andy Trew (1976), In: Language andControl, Roger Fowler, Bob Hodge,Gunther Kress, und Tony Trew.(Hrsg.) London: Routledge, pp.117–156. Anhand linguistischer Analysenwerden ideologische Positionen inscheinbar objektiven Presseartikelnaufgedeckt.

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Vorschau aufNewsletter2/2009 (20. Mai)

Vom gutenLeben: Moralund Gehirn.

Foto: Keystone

Wie können wir glücklich leben?Wissenschaftliche Erkenntnisse zurFrage nach dem Glück. Wie dasGehirn Schicksalsschläge verarbeitet.Ist moralisches Handeln eine Frageder Erziehung? Kann man moralisches Bewusstsein im Hirnlokalisieren?

Der Text lautet in korrekter Schreib-weise wie folgt:

«Laut einer Studie an einer engli-schen Universität ist es egal, in wel-cher Reihenfolge die Buchstaben ineinem Wort sind. Das einzig Wich-tige ist, dass der erste und der letzteBuchstabe am richtigen Platz sind.Der Rest kann total durcheinandersein, und man kann es immer nochohne Probleme lesen. Das liegt dar-an, dass wir nicht jeden Buchstabenallein lesen, sondern das Wort alsGanzes.»