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1 Politicum Politicum Winter 2017/18 . kostenlos Das Magazin der Fachschaft Politik & Soziologie Das Boot ist voll - Veränderungen im Bundestag -

Das Magazin der Fachschaft Politik & Soziologie Das Boot ... · 15 Die EU und die Westbalkanregion 18 Des einen Geld, des andren Recht 20 COP 23: Ein Erfahrungsbericht ... Insa Holste

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PoliticumWinter 2017/18 . kostenlos

Das Magazin der Fachschaft Politik & Soziologie

Das Boot ist voll- Veränderungen im Bundestag -

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2 Politicum

4 Ohne Worte

6 Titelthema -

Veränderungen im Bundestag

15 Die EU und die Westbalkanregion

18 Des einen Geld, des andren Recht

20 COP 23: Ein Erfahrungsbericht

21 War es das mit den Idealen?

22 Dozentenkommentare

InhaltLiebe Leserinnen und Leser,

„Das Boot ist voll“. Der deutsche Bundestag ist in der 19. Legislaturpe-riode mit 709 Abgeord-neten so groß wie nie. Zudem sind erstmals sieben Parteien im Bun-destag vertreten, die

sich in sechs Fraktionen zusammenschließen. Und dazu kommen die fraktionslosen Abgeordneten. Und nach bis dato x Tagen ist noch immer nicht klar, ob sich eine Regierung bilden wird und wenn ja, welche. Droht das Schiff des 19. Bundestages also zu sinken? Diesen und weiteren Fragen wollen wir in dieser Aus-gabe der Fachschaftszeitschrift Politicum nachgehen.

Außerdem erwartet euch in dieser Ausgabe ein Artikel zum Thema Datenschutz und auch das Verhältnis der EU zur Balkanregion wird in einem Beitrag kritisch auf-gearbeitet.

Zwar ist es schon wieder etwas her, doch natürlich soll auch die Weltklimakonferenz in diesem Heft ihren Platz haben. Dazu berichtet euch eine Kommilitonin, die als Freiwillige zwei Wochen lang vor Ort war.

Natürlich dürfen auch in diesem Semester das Ohne-Worte-Interview sowie die Kommentare von Dozentin-nen und Dozenten nicht fehlen.

An dieser Stelle vielen Dank an alle, die an diesem Heft mitgearbeitet haben! Wenn auch ihr Lust habt, am Po-liticum mitzuwirken, meldet euch bei eurer #Lieblings-fachschaft oder direkt bei mir.

Viel Spaß beim Lesen!

Insa Holste

antwortet Florian Engels

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3Politicum

Liebe Kommilitoninnen, liebe Kommilitonen,

das Semester neigt sich mit hoher Ge-schwindigkeit dem Ende zu, von da-her möchten wir das Wintersemester 2017/18 einmal Revue passieren lassen.Gestartet sind wir mit den Orientie-rungswochen für die Erstsemester.Mit den traditionellen Stadtrallys sowie interessanten Exkursionen und Vorträgen bei der UN, dem Ver-teidigungsministerium und dem Fernsehsender Phoenix, haben wir erste Einblicke in das Bon-ner Studierendenleben gegeben.

Nach dem Erstsemester-Wochenen-de in Nettersheim ging es dann mit der Semester Welcome Party wei-ter. Unter dem Motto „Auf geht’s nach Jamaika“ feierten wir, im Ge-gensatz zu den beteiligten Sondie-rungsparteien der Bundestagswahl, bis in die frühen Morgenstunden.

Mit dem Thema „Sind wir noch zu retten?“ gab es zur UN-Weltklima-konferenz, welche im November in Bonn tagte, drei Veranstaltungen im Rahmen des Ringseminars. Un-

ter anderem auch in Zusammenar-beit mit Amnesty International und der Konrad-Adenauer-Stiftung. Mit vielen unterschiedlichen Podiums-teilnehmern, zum Beispiel auch Par-lamentarier aus Subsahara-Afrika, erhielten wir zahlreiche Einblicke in die Ziele und Ergebnisse der COP.

„Den Bonner Hauptstadtzeiten auf der Spur“ waren wir Anfang Dezember. Mit großer Hilfe von Frau Julia Reu-schenbach, M.A., wissenschaftlicher Mitarbeiterin am Institut, organisier-ten wir Exkursionen durch die alten Wirkungsstätten des Hauptstadtbe-triebs, wie zum Beispiel dem Bun-deskanzleramt oder dem Bundesrat.

Den Start in die vorweihnachtliche Stimmung läuteten wir dieses Jahr wie-der mit der, traditionell von den Erstse-mestern organisierten, Weihnachtsfei-er ein. Fröhlich und besinnlich feierten wir unter dem Motto „Fröhliche Neu-wahlen? – Wir schaffen das!“ (Inwie-fern wir dieses Mal mit dem Motto richtig lagen, wird sich noch zeigen).

Zum Abschluss des Jahres gab es noch ein besonderes Highlight. In Kooperation mit dem CISG war es gelungen, Gregor Gysi (MdB Die LINKE) und Stefan Cornelius (Res-sortleiter Außenpolitik der SZ) zu ei-ner Podiumsdiskussion einzuladen. Unter dem Titel „War es das mit den Idealen? Gibt es Alternativen für die deutsche Außenpolitik?“ diskutier-ten Gysi und Cornelius angeregt über ihre unterschiedlichen Ansichten.

Wenn ihr jetzt neugierig geworden seid und selbst einmal einen Blick in die Fachschaft werfen wollt, kommt ein-fach vorbei. Wir freuen uns auf Euch!Jetzt wünschen wir erstmal viel Er-folg bei den anstehenden Klau-suren und Hausarbeiten und viel Spaß beim lesen des Politicums.

Im Namen der gesamten FachschaftTill Busche und Miriam Schmidt

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Ohne Worte mit Florian Engels

Wie beschreiben Sie ihre Arbeit?Mit welcher Person würden Sie gerne mal einen Kaffee trinken gehen?

Was machen Sie am liebsten in Ihrer Freizeit?

Name: Florian Engels

Ausbildung: Politik u. Gesellschaft B.A. in Bonn,

Politikwissenschaft M.A. in Bonn und

Grenoble.

Beruf: Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei

Prof. Dr. Wolfram Hilz, Lehrstuhl für

Deutsche und Europäische Politik

Status: Doktorand

Ohne Worte

von Nora Benz und Marius Dute

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Was interessiert Sie besonders an der französischen Politik?

Was hat Ihnen in ihrer Studienzeit am besten gefallen?

Wie bewerten Sie die Bundes-tagswahl 2017?

Was ist Ihr Lieblingsort in Bonn?

Ohne Worte

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Die Bundestagswahl war eine Zäsur. Erstmals in der Geschichte der Bun-desrepublik gelang es einer rechtspo-pulistischen Partei, in den Bundestag einzuziehen. Die Entrüstung war und ist enorm. Nicht wenige sehen gar die parlamentarische Kultur bedroht. Doch nicht nur der Einzug der Alter-native für Deutschland, das überaus schwache Abschneiden der Volkspar-teien – solange dieser Name so noch uneingeschränkt verwendet werden kann – und die in der Schwebe stehen-de Regierungsbildung sollten Anlass zur Diskussion bieten. Der 19. Deut-sche Bundestag muss seine Arbeitsfä-higkeit erst noch beweisen, einerseits, weil mit sechs Fraktionen mit ganz unterschiedlichen politischen Positi-onen eine Mehrheitsfindung für die Bewältigung der dringenden Prob-leme dieses Landes sicherlich nicht erleichtert wird, andererseits aber auch, weil es mit 709 Abgeordneten im Parlament schwierig werden wird, in den Ausschüssen und Gremien alle Meinungen effektiv gehört zu wissen.

709 Abgeordnete – der größte Bundes-tag aller Zeiten! Sicherlich, die meisten von uns werden diesen Umstand nicht gutheißen. Aber sind wir mal ehrlich – andere Probleme scheinen drängender. Wie geht es mit Europa weiter? Wie schafft es Deutschland, der wachsen-

den Ungleichheit zu begegnen? Und auch das Klima wartet nicht wirklich darauf, dass Deutschland eine hand-lungsfähige Regierung hat. Doch darf uns die Größe des Parlaments nicht egal sein. Ein kleinerer, handlungsfähi-gerer Bundestag hilft bei dem Beschluss von dringenden Gesetzesvorhaben.

Dabei ist das Problem kein Neues. Bereits bei der Bundestagswahl 2013 wurden die Schwächen des aktuellen Systems eindeutig aufgezeigt. Spätes-tens dann hätten die Abgeordneten die Dringlichkeit einer Reform er-kennen müssen. Doch Initiativen des Bundestagspräsidenten und der Frak-tionen verliefen allesamt im Sande.

Wolfgang Schäuble hat unlängst wei-tere Reformbemühungen angemahnt. Doch bei allem Handlungswillen, an einem Prinzip darf das neue Wahlrecht nicht rütteln: Das Sitzverhältnis muss auch in Zukunft dem Zweitstimmen-proporz entsprechen. Denn bei aller berechtigten Kritik, das Ausgleichen

von Überhangmanda-ten und Verzerrungsef-fekten ist grundsätzlich eine wünschenswerte Entwicklung. Nur so kann der Wählerwille auch für kleine Partei-en abgebildet werden.

Ein neues Wahlrecht sollte eher eine grund-sätzliche Vermeidung solcher Effekte in den Vordergrund stellen. So haben Die Grünen

beispielsweise eine bundesweite Auf-rechnung der Überhangmandate ins Spiel gebracht, um interne Überhang-mandate zu reduzieren. Für die Über-hangmandate der CSU wäre eine solche Regelungen allerdings unerheblich, da hier ja nicht die Möglichkeit einer Auf-

rechnung mit anderen Landesverbän-den bestände. Andere bringen Zwei-personenwahlkreise ins Spiel, da so ein Gewinnen fast aller Wahlkreise in einem Land durch eine Partei unwahr-scheinlicher würde. Auch die einfache Verkleinerung der Grundmandatszahl ist bei einem auch ohne Überhang- und Ausgleichmandate großen Parla-ment durchaus in Betracht zu ziehen.

An Ideen mangelt es den Politikern nicht, doch scheint es, als wiege der eige-ne politische Überlebenswille von Par-teien und Abgeordneten stärker als der konstruktive Änderungswille. Immer wieder wurde eine Reform herausge-zögert oder aufgeschoben. Jetzt hätten die Bundestagsfraktionen die Chan-ce, eine parteiübergreifende Reform zu finden und somit ein Zeichen der Handlungsfähigkeit zu senden. Wolf-gang Schäuble bezeichnete eine solche Veränderung des Bundeswahlrechts unlängst als Quadratur des Kreises, ab-zuwarten bleibt, ob ihm diese gelingt.

Der Skandal neben dem SkandalTitelthema

von Christian Maucher

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Titelthema

Balkonien statt JamaikaDas Jamaika-Aus lähmt die Politik und lässt den Wunsch

nach wechselnden Mehrheiten wachsen von Hannes Baumert

Romeo und Julia, der erste Kuss von William und Kate als Eheleute oder das Hochstemmen der Meisterschale durch die Mannschaft: der Balkon ist die große Bühne eines jeden Hauses. Wer auf sie tritt präsentiert sich der Öffentlichkeit, bleibt aber dennoch ge-schützt vor der Masse. Der Balkon ist seit jeher Bühne für die Verkündung von Historischem: Wenn ein neu-er Papst gewählt wird, dann schiebt sich der schwere rote Vorhang hin-ter den Fenstern des Petersdoms zur Seite, und der Kardinalprotodiakon tritt auf den Balkon am Petersdom und verkündet an die Welt: „habe-mus papam!“-wir haben einen Papst!

Wie oft hätte man sich im letzten No-vember gewünscht, dass Angela Mer-kel auf den Balkon der Parlamentari-schen Gesellschaft in Berlin tritt und den auf der anderen Spreeseite war-tenden Journalisten verkündet: „wir haben eine Regierung!“ Stattdessen inszenierte man sich auf dem Bal-kon gekonnt vereint, freundschaftlich

und zuversichtlich, getreu dem Mot-to: „wir schaffen das.“ Bis Christian Lindner seine Logenkarte über die Brüstung warf und CDU/CSU und Grüne mit ins „Jamaika-Aus“ zog.

Mehr als einen Monat später ist der Balkon in Berlin noch immer ver-waist und so langsam stellt sich die Frage, wie es jetzt weitergehen wird. Kommt es zu Neuwahlen? Gibt es eine Minderheitsregierung? Oder wird es eine neue GroKo geben? Und was wurde eigentlich aus der Idee der KoKo, der Kooperations-Koalition?

Die SPD jedenfalls spricht nur ungern

über eine Große Koalition, die ange-sichts der Verluste der beiden Volks-parteien nun häufig als GroKöchen bezeichnet wird. War es doch ihr Vor-sitzender, der am Wahlabend von sei-nen Anhängern dafür bejubelt wurde, als er ankündigte in die Opposition zu gehen. Jetzt, nach dem unerwarte-ten Ende der Jamaika-Verhandlungen

scheint das Bündnis aus CDU und SPD zumindest für die Spitze der Uni-on als alternativlos. Angela Merkel je-denfalls erklärt deutlich, dass sie für eine Minderheitsregierung nicht zu haben sei. Die Begründung: Deutsch-land brauche eine stabile Regierung.

Doch wieso glaubt Merkel eigent-lich, dass ausgerechnet durch eine neue Große Koalition eine stabile Regierung entstünde?

Die SPD weiß, dass sie - sofern sie nicht komplett in die Bedeutungslosigkeit absinken will - in einer erneuten Gro-Ko nicht das zahme Hündchen an der Leine der CDU sein darf. Sie muss zunächst die Wahlklatsche thema-tisch aufarbeiten. Muss die SPD linker werden? Braucht die Partei neues Per-sonal? Wie werden die Wähler besser erreicht? All diese Fragen werden sich die Sozialdemokraten stellen, müssen aber zur Lösung auch innerparteilich diskutieren. Möglich wird eine sol-che Neuerung nur sein, wenn die SPD nicht durch eine Koalition an die lei-tende Hand der Union gebunden ist.Außerdem war auch die GroKo in ihren letzten Zügen nicht außerge-wöhnlich stabil: Die Grätsche der SPD, über die Ehe für alle abzustimmen, wurde in der CSU aufgeregt als Koa-litionsbruch kommentiert. Und sie ist nicht nur ein Zeichen für die Instabi-lität der Großen Koalition, sondern auch für die politische Dynamik von Parlamentsentscheidungen abseits der starren Regierungskoalitionen.

Ist es nicht jene Dynamik, die in der Großen Koalition fehlt und die die Wähler dazu verleitet hat die beiden Regierungsparteien abzustrafen?

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Titelthema

Wenn also für jede Abstimmung neue Mehrheiten beschafft werden müs-sen, dann könnte das neuen Schwung ins Parlament bringen und die ge-samte politische Debatte aufwerten.

Es scheint aber so, als wolle die CDU stattdessen lieber Neuwahlen. Das wäre aber fatal: Soll man auch die Neuwah-len wiederholen, wenn sich das Ergebnis nicht sonderlich ändert, oder die Situa-tion noch verfahrener wird? Nein, denn das würde das Gefühl vermitteln, dass so lange gewählt werden soll, bis den Ent-scheidungsträgern die Situation gefällt.

Stattdessen soll jede andere Möglich-keit versucht werden, auch eine Min-derheitsregierung. Denn es ist anzu-nehmen, dass die Parteienlandschaft auch weiterhin zersplittern wird. Um dann handlungsfähig zu sein, braucht es wohl in Zukunft immer häufiger ein Dreierbündnis – und wenn das nicht funktioniert, eine Minderheitsregierung.

Für die SPD wäre dieser Weg also die beste Lösung, um sowohl die Partei auf neuen Kurs zu bringen, als auch, um aktiv Entscheidungen mitzutragen.

Auch, wenn eine solche Regierung nicht besonders stabil wäre, würde sie den-noch die Demokratie stärken und den politischen Diskurs vorantreiben.

Bundeskanzlerin Merkel könnte sich jetzt also als Pionierin der Minderheitsregie-rung inszenieren. Gelänge es ihr dann auch noch, bei wichtigen Entscheidungen Mehrheiten zu gewinnen und die Union dadurch elegant durch diese neue Situati-on zu führen, könnte sie ganz nebenbei auch ihre Beliebtheit steigern. „Keine Experimente!“ ist veraltet. Warum nicht einmal: „mehr Experimente!“

Neben dem Genscher-Balkon an der Deut-schen Botschaft in Prag und dem Balkon der Parlamentarischen Gesellschaft in Ber-lin, gibt es noch andere Balkone, die welt-

weites Aufsehen erregt haben. Einer von ihnen ist die Loge in der Muppet-Show, in der die zwei alten Herren Waldorf und Statler das Bühnengeschehen kommentie-ren. Als Kermit der Frosch die Show aus unbekannten Gründen absagt (ähnlich wie Christian Lindner), fragt Waldorf seinen Freund, ob sie gehen oder bleiben sollen. Die Antwort von Statler erinnert ein wenig an das derzeitige Verhalten von Merkel: „Warum soll ich es anders machen als in jeder anderen Woche auch? Ich habe für die Eintrittskarten gutes Geld bezahlt und das werde ich auch absitzen, jawohl!“

Merkel hat Recht, wenn sie in ihrer Neu-jahrsansprache sagt, dass die Welt nicht auf Deutschland warte. Umso wichtiger ist es aber, dass sie nun auch neue Wege beschrei-tet und die Situation eben nicht absitzt.

Horst Seehofer will bis Ostern eine Regie-rung haben. Dann wird der Papst wieder auf seinem Balkon stehen und dem Erd-kreis den Segen „Urbi et Orbi“ aussprechen. Bleibt zu hoffen, dass bis dahin auch vom verwaisten Balkon in Berlin der politische Segen über das wartende Land gelegt wird, der die geschäftsführende Große Koalition erlöst: Habemus Minderheitsregierung!

Du hast eine Frage, aber weißt nicht, an wen Du Dich wenden kannst? Du hast Startschwierigkeiten oder ein anderes Problem? Dann wende Dich an uns! Wir helfen Dir weiter oder wissen zumindest, von wem Du die nötigen Antworten bekommen kannst. Komm in unsere Sprechstun-de, ruf an oder schreib eine E-Mail. Oder möchtest Du vielleicht selbst aktiv werden, mit interessanten Menschen etwas bewegen, anderen helfen oder Artikel verfassen? Du möchtest einen Vortrag organisieren, eine Podiumsdis-

kussion? Oder eine Filmvorführung mit anschließender Diskussion? Einen Themenabend, eine Vortragsreihe? Du planst eine Exkursion? Du weißt, was Dich stört und Du willst Dinge verän-dern? Bring Dich ein und probiere Dich aus! Du wirst überrascht sein, was alles möglich ist! Komm in unsere Sitzung und bring Deine Ideen ein. Jeden Mitt-woch im Semester um 20 Uhr c.t. im großen Übungsraum des Instituts oder schreib uns eine E-Mail:

[email protected]

DU BIST DIE FACHSCHAFT.

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Titelthema

Eine Partei im ZwiespaltDie SPD zwischen Opposition und Großer Koalition

„Ab morgen kriegen sie in die Fresse“, äu-ßerte sich die neue Fraktionsvorsitzende Andrea Nahles scherzhaft nach der vorläu-fig letzten Kabinettssitzung von SPD und CDU/CSU. Nach der historischen Wahl-niederlage vom 24. September 2017, die der SPD gerade einmal 20,5% der Wählerstim-men bescherte, suchte man die Flucht nach vorne. Die Zukunft sollte in einer starken Opposition gestaltet werden. Das sei das Signal des Wahlergebnisses, so Parteivorsit-zender Martin Schulz. Nach den geschei-terten Jamaika-Sondierungen bröckelte jedoch der ursprüngliche Trotz gegen die Neuauflage einer Großen Koalition. Viele Parteimitglieder forderten, Gespräche mit der Union aufzunehmen. Dessen verwei-gerte sich Schulz nach einem Gespräch mit dem Bundespräsidenten Steinmeier nicht und machte die Gesprächsbereitschaft offiziell. Die Entscheidung innerhalb der Partei ist aber alles andere als unumstritten.

Reaktion auf desaströses Wahlergeb-nis: Ablehnung einer Großen KoalitionDas Wahlergebnis war eine große Ent-täuschung für die Genossen. Es ist das schlechteste Ergebnis in der Geschich-te der Bundesrepublik für die SPD. Als Reaktion darauf trat Spitzenkandidat Martin Schulz nicht zurück, sondern ver-kündete am Wahlabend eine Neuaufstel-lung der SPD mit ihm an der Spitze in der Opposition. Das bedeutete eine klare Absage an eine neue Große Koalition, wofür er von den Parteimitgliedern im Willy-Brandt-Haus gefeiert wurde. Die Gründe für diesen Schritt waren vielfältig:

Man war als Verlierer aus einer Großen Koalition hervorgegangen, obwohl man einige grundlegende Gesetzesvorhaben in der letzten Legislaturperiode umgesetzt hatte. Die Befürchtung war groß, dass die Partei noch weiter an Zustimmung in der Bevölkerung verlöre, wenn sie erneut in eine Große Koalition ginge. Zudem gab

es den starken Wunsch einer Erneuerung der Partei. Um diese Erneuerung klar in der Öffentlichkeit deutlich zu machen, braucht die SPD den Freiraum in der Opposition. Dort könnte die Partei ihre Positionen klar darstellen, ohne dass sie durch eine Koalition eingeschränkt wäre.

Ein möglicher weiterer Grund war die Verhinderung der AfD als stärkste Op-positionspartei im neuen Bundestag. Die

SPD hatte die Intention, sich damit klar gegen die AfD zu stellen und sie nicht da-durch zu stärken, dass sie wieder in eine Große Koalition eintritt. Wenn die beiden Volksparteien über einen langen Zeit-raum zusammenarbeiten, hat sich schon in der Geschichte und in anderen europä-ischen Ländern gezeigt, dass die Parteien an den Rändern immer stärker werden, weil sich die Volksparteien in der Mit-te zu wenig voneinander unterscheiden.

Als letzter Grund ist das klar geäußer-te “Nein” vom Wähler zu einer Großen Koalition anzuführen. Beide Parteien der Großen Koalition haben stark an Wählerstimmen verloren, was nur den Wunsch nach einer neuen Regierungskon-stellation in Deutschland bedeuten kann.

Diese Entscheidung der SPD, die auch in den Tagen und Wochen nach der Wahl im-mer wieder als definitiv herausgestellt wur-de, führte dazu, dass als einziges realisti-sches Regierungsbündnis eine sogenannte

Jamaika Koalition übrigblieb. Die Sondie-rungsgespräche zwischen CSU/CDU, FDP und den Grünen zogen sich über mehrere Wochen und kamen zu keinem Ergeb-nis. Die FDP brach die Gespräche in der Nacht vom 19. auf den 20. November ab.

Jamaika-Koalition gescheitert: Was nun?Durch das Scheitern der Jamaika-Gesprä-che rückte die SPD zunehmend zurück in den Mittelpunkt der Suche nach einer

Regierung. Bundespräsident Steinmei-er rief die Parteien auf, miteinander zu sprechen. So entschied sich die Spitze der SPD nach Rücksprache mit ihrer Partei, trotz der zuvor anhaltenden, vehemen-ten Ablehnung einer erneuten Großen Koalition, Gespräche mit CDU und CSU aufzunehmen. Vom 7. bis zum 12. Januar 2018 soll es nun erste Sondierungsgesprä-che geben. Dabei ist eine Erneuerung der großen Koalition in den Reihen der Sozi-aldemokraten höchst umstritten, jüngst erteilte mit der thüringischen SPD die erste sozialdemokratische Landesfraktion der Großen Koalition eine entschiedene Ab-sage. Die Jusos unter ihrem Vorsitzenden Kevin Kühnert lehnen ebenfalls vehement eine Neuauflage der Großen Koalition ab.

Auch aus Kreisen des linken Flügels der SPD mehren sich die Stimmen gegen eine Koalition aus Union und SPD. Die Parla-mentarische Linke befürwortet stattdessen eine Kooperationskoalition (KoKo). Bei der KoKo gäbe es zwar einen Koalitionsver-

von David Isken, Phillip Sprengel und Robin Weiden

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trag, dieser wäre jedoch lediglich auf be-stimmte Kernprojekte beschränkt, sodass alle anderen Themen offen blieben und im Bundestag diskutiert und verhandelt wer-den müssten. Mehrheiten würden sich so

je nach Thema flexibel verschieben und so-wohl Union als auch SPD könnten Koope-rationen mit anderen Parteien eingehen.

Eine weitere Möglichkeit, neben einer Großen Koalition, einer Kooperations-koalition oder Neuwahlen, ist eine von der SPD tolerierte, unionsgeführte Min-derheitsregierung. Dabei müsste sich die Regierung für jedes Gesetzesvorhaben bei anderen Fraktionen Mehrheiten su-chen. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) lehnt eine Minderheitsregierung jedoch mit Blick auf deren fehlende Stabilität ab. Sowohl KoKo als auch Minderheits-regierung würden zweifelsohne die Be-deutung des Bundestags stärken, eine handlungsfähige Regierung benötigt aber stabile Mehrheiten. Insbesondere auf EU-Ebene verlöre die deutsche Regie-rung an Einfluss, sollte sich diese bei jeder Stellungnahme rückversichern müssen.

Neue Große Koalition? Die SPD ist auf der Suche nach politischer Rehabilitierung. In der letzten Großen Koalition verschwommen sichtlich die Grenzen der Koalitionspartner, was einen

Vertrauens- und Glaubwürdigkeitsverlust beim Wähler hervorrief. Der Schritt in die Opposition, den Martin Schulz kurz nach der Wahl verkündete, war strate-gisch sinnvoll. Die fehlende Abgrenzung hätte wettgemacht werden können und der Wille zu einer Erneuerung der Partei ist demonstriert worden. Allein schon das Signal, dem einstigen Koalitionspartner CDU/CSU das Bündnis zu verweigern, war essentiell wichtig. Der Gang in die Opposition böte viele Möglichkeiten zur Kritik an der Regierungsarbeit. So bekä-me die Oppositionsarbeit nach schwachen Jahren unter der GroKo einen völlig neuen Stellenwert. In der Opposition ist es einfa-cher, Kritik zu üben und Lösungsvorschlä-ge zu liefern. Zudem hat sich in der letzten Regierungszeit gezeigt, dass auch sozial-demokratische Gesetzeserfolge wie der Mindestlohn oder die Rente mit 63 nicht automatisch zu Wahlerfolgen führen.

Der Gang in eine Neuauflage der Gro-ßen Koalition birgt somit für die So-zialdemokraten ein großes Risiko. Es fehlt nicht nur die nötige Zustimmung innerhalb der Partei, es wäre auch das

falsche Zeichen an die WählerInnen. Natürlich bedeutet Regierungsbeteili-gung auch direkte Verantwortung, der sich die SPD stellen würde. Die Gefahr jedoch, dass sich die SPD nicht ausrei-chend entfalten könnte, ist allgegenwärtig.

Deutschland benötigt allerdings eine stabile Regierung, wie sie unter der letz-ten Großen Koalition vorzufinden war. Damit befindet sich die SPD in einem Zwiespalt zwischen der Übernahme von Verantwortung für ein stabiles Deutsch-land und ihrer eigenen Rehabilitierung.

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Erst schloss die SPD früh am Wahlabend eine weitere Große Koalition aus. Dann ließ die FDP die Sondierungen zur schein-bar alternativlosen Jamaika-Koalition platzen. Jetzt lastet großer Druck auf der SPD, ihrer „staatspolitischen Verantwor-tung“ nachzukommen und doch eine weitere GroKo einzugehen. Dass Partei-en zum Regieren nahezu „gezwungen“ werden müssen, ist ein nicht ganz neues Phänomen. Bereits 2013 tat sich die SPD mit einer abermaligen Großen Koalition schwer. Anno 2017 kann man geradezu eine „Oppositionitis“ diagnostizieren.

Die Parteienforschung unterstellt Partei-en drei Ziele: Regierungsmacht (office), Programmverwirklichung (policy) und Wählerstimmen (votes). Von diesen Zie-len dominiert derzeit nur bei der Kanzle-rinnenpartei CDU die Regierungsmacht. Den Grünen sind ihre Politikinhalte am wichtigsten, wozu Ministersessel im-merhin nützliche Instrumente wären. Alle anderen Parteien priorisieren ihren

zukünftigen Wählerzuspruch, AfD und Die Linke ohnehin, aber eben auch die CSU (bayerische Landtagswahl), die FDP (Konsolidierung nach dem Wiederein-zug in den Bundestag) und die SPD (Be-hauptung ihres Volkspartei-Anspruchs).

Mit der Entwicklung zum Sechs-Fraktio-nen- bzw. Sieben-Parteien-Parlament ist das Verhältnis von office, policy und votes aus dem Gleichgewicht geraten. Die lager-internen Zweierkoalitionen Schwarz-Gelb und Rot-Grün, die den Parteien verkraftba-re Kompromisse abforderten, haben kaum noch Chancen auf eine Mehrheit. Die nun arithmetisch notwendigen lagerübergrei-fenden Großen oder Dreierkoalitionen lassen meist nur Kompromisse auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner zu. Das schädigt die Markenkerne der beteiligten Parteien und verprellt ihre Wähler. Gerin-gere policy-Gewinne bei höheren votes-Kosten – das können auch die office-Freu-den nicht mehr in jedem Fall auffangen.Dass sich die Parteien solchen Bündnis-

sen zunehmend entziehen, ist insofern verständlich. Und die Beteiligung an der Bundestagswahl bedeutet ja zunächst einmal auch nur den Wunsch einer Par-tei nach parlamentarischer Vertretung. Bloße „Erst das Land, dann die Partei“-Appelle gehen daher fehl. Am Ende soll die Bundesrepublik aber eben doch eine Regierung bekommen. Dann braucht sie ein Wahlsystem, das wieder „Koalitio-nen der Willigen“ ermöglicht, statt „Ko-alitionen der Unwilligen“ zusammen zu zwingen. Ein Mehrheitsbonus für die stärkste Partei oder gemeinsam angetre-tene Koalition, wie es ihn bis vor kurzem in Italien gab, könnte Abhilfe schaffen.

Opponieren geht über Regierenvon Dr. Volker Best

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Die Alternative für Deutschland hat es nun also in den Bundestag geschafft. So schockierend dies für manche sein mag, überraschen konnte dies zuletzt leider nicht mehr. Doch schon beginnt die medi-ale Selbsttherapie: Die Wahlurnen waren noch nicht ganz kalt, da hieß es schon in allen Zeitungsauslagen und Timelines des Landes, die AfD könne die Debat-tenkultur des Bundestages aus ihrem Dornröschenschlaf erwecken und somit sogar die viel beklagte Volkskrankheit, die sich Politikverdrossenheit nennt, heilen.

heuteshow statt bundestag.deWieso braucht es denn eine Rechtsau-ßenpartei wie die AfD, um den Staub aus dem Plenarsaal zu pusten? Wie schlimm mag es dann um die politische Debatte im deutschen Bundestag bestellt sein? Ein Selbsttest kann hier schon mal einen groben Überblick verschaffen: Wann habe ich mir das letzte Mal eine Plenardebatte angeschaut oder angehört? Wenn die Ant-wort hierauf nichts anderes lautet als „Ja, für meine letzte Hausarbeit in Regierungs-lehre“ oder „Da war doch am Freitag so ein Ausschnitt in der heuteshow“, dann ist man im Test durchgefallen. Dabei gibt es doch extra diese schicke Webseite der Bundesregierung, auf der man sich hun-derte Stunden von Plenar- und Ausschuss-sitzungen ansehen könnte. Das macht nur fast niemand, denn Angst etwas zu ver-passen scheinen wir nicht zu haben. Wie-so auch, wenn die Highlights abends doch thematisch aufgearbeitet im Nachrich-tendienst unserer Wahl auf uns warten. Wie beispielsweise die Ansprache Britta Haßelmanns, parlamentarische Geschäfts-führerin der Grünen, welche die AfD rü-gen wollte: „Und da werden heute die Ba-cken so aufgeblasen, wie scheinheilig ist das denn!?“ Obwohl ich Frau Haßelmann nicht die Legitimität ihrer Ansprache ab-sprechen möchte, muss man wohl sagen, dass sie selbst auch „die Backen aufgebla-sen hat“, denn sonst hätte sie es sicher nicht

in die Abendnachrichten geschafft. Denn wer nicht gut performed und sein*ihr An-liegen medienwirksam hinaus brüllt, wird auch nicht von der breiten Masse wahrge-nommen werden. Denn durch fünfzehn Stunden Plenardebatten-Podcasts quält sich die Wählerschaft bestimmt nicht.

Zwischen echtem Protest und inhaltslee-rer ProvokationDie Lösung für das mutmaßliche Desin-teresse am Politikbetrieb soll nun also die AfD sein. Und wäre sie nur eine Protest-partei, könnte sie tatsächlich für etwas wie produktiven Wirbel im Bundestag sor-gen. Aber leider ist sie eben dies nicht. Sie provoziert und übertritt Grenzen, welche nicht konstruiert wurden, um Meinungen einzuengen, sondern um Menschenfeind-lichkeit zu verhindern. Im Vorfeld wurde viel darüber diskutiert, wie man denn nun angemessen mit der AfD umgehen soll. Ein Journalist der Zeitung Die Zeit titelte, man müsste dem Neuzugang im Bun-destag nicht zuhören, da er aus Neonazis bestehe und diese sich ja gerade dadurch auszeichneten, dass sie eben nichts Neu-es zu erzählen hätten. Würde man die-

sen Grundsatz jedoch treu verfolgen, so dürfte man fast keinen Anhänger*innen klassischer politischer Strömungen mehr zuhören, da sie ja keine neuen Ansätze böten. Wolfgang Schäuble wünschte sich eine gemäßigte Gesprächskultur, da er Ar-gumente durch Mäßigung gestärkt sieht. Auch das ist im Grundsatz falsch und befeuert den Politikverdruss eher noch. Wenn man einen Missstand erkennt, soll man diesen so zu Sprache bringen wie er ist. Und wenn dazu eben Gefühle wie Wut oder Ohnmacht gehören, sind diese un-trennbar mit dem Diskussionsgegenstand verbunden. Das heißt nicht, dass man in eine unangemessene, verletzende Spra-che abdriften sollte, welcher sich die AfD so häufig bedient. Aber man muss sich darüber im Klaren sein, dass für jede*n Abgeordnete*n die Tagesordnungspunkte in der Plenardebatte unterschiedlich viel Gewicht haben. Hier kann der Versuch also helfen, die Dringlichkeit, welche eine Thematik für die Abgeordnete hat, den Versammelten nahe zu bringen. Hierfür muss sie Überzeugungsarbeit leisten, wel-che nicht als ungemäßigt diskreditiert werden sollte. Denn was für die Eine Mä-ßigung ist, ist für den Anderen vielleicht schon Untertreibung.

Die Lösung für den Umgang mit der neuen Partei bildet den allgemeine Kon-sens unter den restlichen Parteien: Man müsse die AfD inhaltlich stellen. Diese Einigung sollte eigentlich Verwunderung auslösen, wenn man sich die Frage stellt, ob man nicht ohnehin alle Parteien inhalt-lich „dingfest“ machen sollte. In diesem Lösungsansatz zeichnet sich nämlich eine große Problematik der Debattenkultur ab, welche gerade die AfD nicht lösen wird.

Redezeitver(sch)wendungDieses Jahr habe ich mir dann doch mal eine Plenardebatte angesehen, denn ich war zu Besuch im Bundestag. Nachdem ich mich erst mal von dem vielleicht etwas

Eingeschlafene DebattenkulturDie AfD als Chance oder Gefahr

von Debora Eller

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13Politicum

Titelthema

weltfremden Schock erholt hatte, dass nur gefühlt fünfzig Politiker*innen die Reihen füllten, wartete auch schon der nächste Ta-gesordnungspunkt: Angleichung Ost und West. Susanna Karawinskij, Abgeordnete der Linkspartei, stellte einen Antrag, in dem sie auf die Problematik der unglei-chen Lebensverhältnisse in Ost- und West-deutschland aufmerksam machte. Natür-lich bekommt die Große Koalition von der Abgeordneten einen großen Anteil der Versäumnisse angekreidet. Dies nimmt einen nicht unwesentlichen Anteil ihrer Redezeit in Anspruch. Anschließend hält Albert Weiler (CDU/CSU) eine Rede, oder vielmehr seine Rede dagegen. Er füllt fast seine gesamte Gesprächszeit damit, der Linkspartei ihrerseits ihre Versäumnisse in Thüringen vorzurechnen, ohne Bezug auf den eigentlichen Tagesordnungspunkt

zu nehmen. Diese Verhaltensweise steht symptomatisch für eine missverstandene Interpretation von Debattenkultur. Denn - oh welch` Überraschung - in einer De-batte geht es eigentlich um das Debat-tieren. Im Bundestag hingegen tritt ein Abgeordneter nach der Anderen auf. Die Redebeiträge sind natürlich im Vor-aus ausgearbeitet worden, man möchte schließlich nicht im Plenarsaal rumstot-tern. Da kann man dann halt auch nicht

mehr spontan auf die Vorrednerin Bezug nehmen und außerdem möchte man sich natürlich auch nicht von der Partei auf der anderen Seite des Saales überzeugen las-sen; da liegen doch mindestens zwanzig Stuhlreihen dazwischen! Aber jetzt mal ernsthaft: So stellt man sich eine lebendi-ge Debattenkultur doch eigentlich nicht vor. Weswegen gibt es denn den schönen Plenarsaal mit seinem Rednerpult und dem Halbkreis aus Stühlen davor? Da-mit eine Person redet und der Rest zuhört und sich seine Gedanken zum Gesagten macht. So läuft es aber leider nicht. Die Reden bestehen teilweise in großen Tei-len aus Schulterklopfen oder eben aus themenfremden Anschuldigungen, wäh-rend die Zuhörenden an ihrem Smart-phones runterscrollen oder sich mit den Parteikolleg*innen unterhalten. So darf

das aber nicht laufen, dafür wähle ich kei-ne Partei in den Bundestag. Nur weil der Vortragende nicht das gleiche Parteibuch hat wie ich, darf ich mich nicht immun gegen seine Argumente machen. Denn vielleicht hat er ja tatsächlich gerade mehr Ahnung von Thema Ixypsilon als ich.

Die AfD wird hieran nichts ändern kön-nen und wollen. Sie inszeniert sich als Alleinkämpferin und wird wohl kaum

jemandem ernsthaft zuhören, womöglich nicht einmal sich selbst. Ihre Redebeiträ-ge bestehen bisher aus einer gefährlichen Mischung von Denunziation und Agen-dasetting. Sie verbreitet Unwahrheiten, welche in folgenden Redebeiträgen erst entlarvt werden müssen. Der Politikver-drossenheit wird dadurch auch nichts ent-gegengesetzt. Wenn die AfD wie im ver-gangenen November behauptet, Syrien sei in den letzten Monaten wieder ein si-cheres Herkunftsland geworden, müssen alle anderen Parteien erst einmal klarstel-len, dass dem nicht so ist. So wurde schon wieder Redezeit verschwendet, die für Anliegen hätten genutzt werden können, welche nicht jeglicher Realitätsbasis ent-behren. Die Lieblingsthemen der Rechten werden nicht für mehr ernsthaft Interes-sierte an der Politik sorgen, höchstens für mehr Politikvoyeurismus. Wer sich die Plenardebatten ansieht, sollte das Gefühl haben, dass er*sie Zeuge einer Meinungs- und Lösungsbildung ist. Es hilft nicht, wenn ich als Zuschauerin das Gefühl habe, dass die Abgeordneten die Reden der Teilnehmenden weniger interessiert, als mich selbst. Folglich müssen also alle Abgeordneten im neuen Bundestag über-denken, wie sie mit einander umgehen.

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These 1: Der neue deutsche Bundestag ist nicht repräsentativ.Begründung: Er entspricht demogra-phisch nicht einem Querschnitt der deutschen Bevölkerung. So ist der Frauenanteil zurückgegangen und die Jungen sind nur schwach vertre-ten. Noch schlimmer steht es aller-dings um die Rothaarigen: Jahrhun-dertelang verfolgt und diskriminiert, wird ihre unangemessene Repräsen-tation nicht einmal bemerkt. Weite-re Merkmalsträger? Ad infinitum.

Ist das schlimm? Nur unter der Annah-me, dass solche Merkmale für politi-sche Entscheidungen handlungsleitend sind: Frauen vertreten die Interessen nur von Frauen, Junge von Jungen, Rothaarige von Rothaarigen. Dagegen spricht: Nur wenige kennen ihre künf-tigen Interessen, viele vertreten ideel-le Interessen auch anderer, und kaum jemand kann die nicht-intendierten Nebenfolgen von Interessensdurch-setzungen kontrollieren. Deshalb die

These 2: Der neue deutsche Bundestag ist repräsentativ.Begründung: Er wurde gewählt. Ergo: Unterscheide politische von sozialer Repräsentation. Soziologisch steckt dahinter das Phänomen der Stellver-tretung: Der Anwalt muss nicht ange-klagt sein, um Angeklagte zu vertreten, der Flüchtlingshelfer kein Flüchtling.

Soll ich ein Seminar darüber machen?

Repräsentation im deutschen Bundestagvon Prof. Clemens Albrecht

Titelthema

Bei der Frage, ob der geringe Frau-enanteil im deutschen Bundestag ein Problem darstellt, handelt es sich nur auf ersten Blick um eine Frage, die die repräsentative Demokratie mit einem Nein beantworten sollte. Denn ein Mann kann zwar eine Frau politisch repräsentieren und männliche Politi-ker können sich für Frauenrechte stark machen. In diesem Zuge jedoch anzu-führen, dass man dann auch den Man-gel an jungen Menschen oder Rothaa-rigen im Parlament kritisieren könnte, führt jedoch in die falsche Richtung.

Das Problem liegt nicht in der man-gelnden Repräsentation, sondern in der mangelnden Chancengleichheit. Frauen werden zwar nicht aktiv von der Politik ausgeschlossen, aber auf Grund gesell-schaftlicher Ungleichheiten haben sie nicht die gleichen Möglichkeiten wie

Männer, sich politisch zu engagieren. Hinzu kommen geschlechterspezifische Rollenkonzepte. Denn während Frauen gerne Eigenschaften wie Emotionalität, Weichherzigkeit und Empfindsamkeit zugeschrieben werden, sind Männer angeblich rational, entschlossen und konsequent – letzteres sind Charakter-züge die die meisten Menschen einem erfolgreichen Politiker zuschreiben würden. Wer als Frau jedoch, ob auf privater oder politischer Ebene, allzu hart wirkt, wird oft dafür kritisiert – die Konnotation des Begriffs Mannsweib spricht in diesem Kontext wohl Bän-de. Ebenso spielen familiäre Gründe wie die Zuständigkeit für Kinderer-ziehung oder der Fakt, dass die Poli-tik für lange Zeit eine Männerdomäne war, eine Rolle. Ferner sollten politische AkteurInnen nicht nur bestimmte Ei-genschaften aufweisen, ihre Karriere ist

meistens auch mit einem Geldaufwand verbunden – ebenfalls etwas, das Män-ner in den meisten Fällen bevorteilt.

Zusammengefasst ist es zweifelsoh-ne wichtig, die Neutralität politischer Verfahren beizubehalten, also z.B. nicht einfach eine starre Frauenquote für den Bundestag festzulegen. Aber um diese Neutralität zu gewährleisten, muss die ungleiche Machtverteilung der Geschlechter abgetragen und eine Gleichberechtigung im häuslichen Be-reich erzielt werden. Die geringe Re-präsentation von Frauen in der Politik kann erst behoben werden, wenn die Geschlechter den Anteil an bezahlter und unbezahlter Arbeit (Hausarbeit, Kindererziehung etc.) gleichwertig aufteilen. Denn politische Gleichheit benötigt zuallererst soziale Gleichheit.

Warum der geringe Frauenanteil im Bun-destag ein Problem darstellt

„Die Demokratie kann nicht über die Geschlechterdifferenz erhaben sein, vielmehr muss sie mit einem deutlichen Bewusstsein dieser Differenz neu bestimmt werden.“

(Anne Phillips)von Nina Ihrens

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15Politicum

EU und die Westbalkanregion

Die EU und die Staaten des Westbalkan – Die andere Geschichte

Die Region des Westbalkan bzw. der postjugoslawische Raum gilt als das Pul-verfass Europas. Oder wie es EU-Erweite-rungskommissar Johannes Hahn unlängst formulierte: „Es reicht ein Streichholz – und alles steht in Flammen“1. In ih-rer wechselvollen Geschichte durchlebte die Region nur wenig Kontinuität: Staa-ten lösten einander ab, externe Mächte machten ihre Interessen geltend und eth-nische Konfliktlinien – regelmäßig re-produziert in kriegerischen Handlungen – erscheinen bis heute strukturbildend.

Seit den Jugoslawienkriegen der 1990er Jahre, ist auch die Europäische Union als wichtiger Akteur in der Region vertreten. Während Kroatien und Slowenien auf Betreiben Italiens und Österreichs mittler-weile Mitglieder der EU geworden sind, verbleiben die restlichen Staaten des West-balkans in einer merkwürdigen Schwebe-situation. Einerseits wurde ihnen explizit eine Beitrittsperspektive eröffnet oder sie sind bereits Beitrittskandidaten. Ande-rerseits scheinen sie keine substantiellen Fortschritte in den von der EU geforderten Bereichen zu machen, sei es der Aufbau von Rechtsstaatlichkeit, die Korruptions-bekämpfung, wirtschaftliche Entwicklung oder die Etablierung demokratischer In-stitutionen und einer funktionierenden Zivilgesellschaft. Strukturelle Korrup-tion grassiert in der ganzen Region. In Serbien ist Präsident Aleksandar Vučić an der Macht, ehemaliger Informations-

minister unter Slobodan Milošević, dem ersten Staatspräsidenten Serbiens und mutmaßlichen Kriegsverbrecher. Auch in den anderen Staaten haben sich die alten oligarchischen Strukturen in die neuen Staatengebilde retten können. In Bosnien und Herzegowina sind die Ämter und po-litischen Ebenen in einem komplizierten und lähmenden Geflecht ethnischer Kon-kordanz aufgeteilt. Auch in Kosovo und Mazedonien zehren die konfliktreichen Differenzen zwischen SerbInnen und AlbanerInnen bzw. zwischen Mazedoni-ernInnen und AlbanerInnen an den ge-sellschaftlichen Ressourcen, die eigentlich für eine erfolgreiche politische und ökono-mische Transformation genutzt werden sollten. Menschenrechte werden oft nicht ausreichend geschützt. Die Pressefreiheit ist vor allem in Serbien stark beschränkt. Minderheiten wie Roma und LGBT wer-den marginalisiert und diskriminiert, teil-weise verfolgt. Von der Gleichstellung der Geschlechter ist man weit entfernt. Nicht zuletzt das Schüren von nationalistischen Bestrebungen ist eine häufig angewen-dete Strategie in vielen der Länder, um von der Reformbedürftigkeit der politi-schen Systeme abzulenken. Eine Zivilge-sellschaft, die dem lähmenden Nationa-lismus und den korrupten Eliten etwas entgegensetzen könnte, ist nur schwach ausgeprägt und die Perspektivlosigkeit vertreibt viele junge Leute aus ihre Heimat.

Die Beweisführung scheint abgeschlos-sen. Der Topos der Balkanisierung be-schreibt die Ereignisse auf dem Balkan zutreffend. Der kulturalistische Topos legt den Schluss nahe, dass die EU es hier mit einer nicht reformierbaren Gruppe von Staaten zu tun hat. Dies ist zumin-dest die Geschichte, die in Europa und vor allem in Deutschland gerne erzählt und geglaubt wird. Hierzulande sind vor

allem die Schrecken von Srebrenica und der Krieg im Kosovo, der nur durch einen NATO-Einsatz beendet werden konnte, in kollektiver Erinnerung geblieben. Die aktuelle Berichterstattung beschränkt sich im Wesentlichen auf „Wirtschaftsflücht-linge“, die „Balkanroute“, das Wiederauf-flammen ethnischer Konflikte und den regelmäßigen Verurteilungen serbischer Kriegsverbrecher in Den Haag. Dass es diesem Bild an Vollständigkeit mangelt, sollte eigentlich auf der Hand liegen.

Handelt es sich hier wirklich um einen unheilbaren Patienten? Die EU geriert sich gerne als moralisch überlegendes Friedensprojekt und Bastion von Men-schenrechten, Demokratie und Wohl-stand. Eine verzerrte Selbstwahrnehmung – und das nicht erst seit dem Erstarken rechtspopulistischer Parteien und dem in Kauf genommenen Sterben Zehntausen-der im Mittelmeer. Die Friedensnobel-preisträgerin wird ihrem Selbstanspruch jedoch ebenso wenig auf dem Westbal-kan gerecht. Das Handeln der Union ist ambivalent. Das erklärte Ziel strukturel-ler Reformen und die Wirkung, die die EU produziert, gehen weit auseinander.

Die Geschichte des EU-Engagements lässt sich auch kritisch erzählen. Herausragen-de und oft vergessene Beispiele sind der Kosovo und Bosnien und Herzegowina. Die Souveränität beider Staaten ist in nicht unwesentlichem Maße beschnitten durch europäische und westliche Akteure. Im Kosovo ist seit 2008 die EU-Mission EU-

von Julian Brummer

1 Ulrich Ladurner, Interview mit Johannes Hahn, Zeit Online 10.02.2017, abrufbar unter: http://www.zeit.de/politik/ausland/2017-02/johannes-hahn-kommissar-eu-erweiterung-westbalkanstaaten.

Der historische Topos der "Balkani-sierung", das heißt die Herrschaft von Chaos, Gewalt und Rückstän-digkeit und die Unfähigkeit zu De-mokratie, Menschenrechten und ökonomischer Entwicklung, ist bis heute die latente Denkfolie, vor der der (West-) Balkan wahrgenommen wird.

Wie kann es sein, dass die EU, trotz fast zwei Jahrzehnten des Engagements und Hilfszahlungen für Strukturrefor-men in Milliardenhöhe, keine nennens-werten Fortschritte in den Ländern des Westbalkans bewirken konnte?

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LEX aktiv, die dort die Rechtstaatlichkeit stärken und die allgegenwärtige Kor-ruption bekämpfen soll. Die entsandten AnwältInnen und RichterInnen haben weitreichende Kompetenzen. Sie besetzen Ämter in allen gerichtlichen Instanzen bis hin zum Verfassungsgerichtshof, kontrol-

lieren die Staatsanwaltschaft und stellen sogar eigene Polizei- und Sicherheitskräf-te. Dabei ist zweierlei entscheidend: Die BeamtInnen der EU sind erstens nicht demokratisch durch die BürgerInnen des Kosovos legitimiert und zweitens waren sie bisher nicht in der Lage, ihrer Aufgabe gerecht zu werden. EULEX ist selbst Teil der strukturellen Korruption geworden, leidet an Ineffizienzen und trägt dazu bei, den Status Quo zu erhalten. Erst im No-vember trat der leitende Richter der Missi-on Malcom Simmons zurück und ließ sich zitieren mit „I don‘t want to be a part of this farce any more“2 . Gleichzeitig sind einige spektakuläre Bestechungsvorwürfe gegen EULEX-RichterInnen erhoben worden und auch gegen Simmons selbst wird mitt-lerweile ermittelt. Die EU ist Garantin der kosovarischen Unabhängigkeit und hält das Land gleichzeitig in einem Zustand der Perspektivlosigkeit. Während die USA

auch weiterhin als „Befreier“ betrachtet werden, hat die EU ihre Glaubwürdigkeit im Kosovo verspielt. Die BeamtInnen, die sie entsendet sind korrupt und undemo-kratisch, der Weg nach Westeuropa endet für fast alle KosovarInnen in der Abschie-bung – Etikett: „Wirtschaftsflüchtling“.

In Bosnien und Herzegowina wurde un-ter der Federführung der USA und Staa-ten der EU 1995 ein nach Volksgruppen sortiertes, föderalisiertes politisches Sys-tem etabliert, welches de facto die ethni-schen Säuberungen der SerbInnen und KroatInnen während des Bosnienkrieges in Form von Grenzen anerkannte. Zwar hat dies zur Befriedung des Konfliktes geführt, vertieft aber gleichzeitig nach-haltig die Kluft zwischen BosniakInnen, SerbInnen und KroatInnen. Das System ist auf politischen Stillstand angelegt. Auf Bundesebene macht ein aufgeblähtes Ka-binett aus mehr als 180 Ministern(!) die Re-gierung bewegungsunfähig. Die Staaten der EU – allen voran die Bundesrepublik Deutschland – etablierten nicht nur dieses System, sondern tragen bis heute zum Sta-tus Quo bei. Strukturentwicklungsgelder gehen nach wie vor direkt an den Staat, was eine Rentiermentalität innerhalb der

Politikerklasse befeuert. Das ebenfalls 1995 geschaffene Amt des Hohen Reprä-sentanten für Bosnien und Herzegowi-na wird traditionell aus den Reihen der EU-Mitgliedstaaten besetzt und steht mit seinen Befugnissen noch über der Regie-rung. Er/ Sie kann Verordnungen erlassen,

Gesetze außer Kraft setzen und sogar gewählte Politiker bis hin zum Pre-mierminister selbst suspendieren. Trotz des Fehlens jedwe-der demokratischer Legitimation wur-de in der Vergan-genheit sehr häufig davon Gebrauch gemacht. Die Leis-tung des Hohen Repräsentanten be-steht im Wesentli-chen im Bewahren des Friedens und dem Status Quo. Engagierte Refor-men, die die EU von ihrer Beitrittskan-didatin regelmäßig fordert, klingen an-gesichts dieses ins-

titutionellen dead lock wie blanker Hohn.

Schließlich wäre da Serbien, das größte Land der Region. Im Gegensatz zum Ko-sovo und Bosnien und Herzegowina hat die EU hier keinen unmittelbaren Einfluss. Trotzdem macht die EU auch in Serbien ihre Interessen mit einigem Erfolg geltend. Primäres Ziel ist der Erhalt des Friedens. In den vergangenen Jahren hat sich Prä-sident Vučić zu einem festen Bestandteil in der Sicherheitsarchitektur der EU und gern gesehenen Gast in europäischen Hauptstädten mausern können. Gegen-über dem „abtrünnigen“ Kosovo vertritt er progressive Positionen. Im Gegenzug tole-riert die EU die ausufernde Korruption (in dessen Mittelpunkt Vučić selbst steht) so-wie etliche Menschenrechtsverletzungen, die letztlich seinem Machterhalt dienen. Aus Sicht der EU überschritt er mit seiner LGBT-Politik nichtsdestotrotz eine Gren-

EU in der Westbalkanregion

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2 Saim Saeed, Politico 16.11.2017, abgerufen unter: https://www.politico.eu/article/judge-quits-eu-kosovo-mission-alleging-corruption/.

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ze. Im Jahr 2010 wurde die Belgrad Pride durch Rechtsextreme gewalttätig beendet und in den Folgejahren aus Sicherheitsbe-

denken untersagt. Nach einer Interventi-on der EU findet die Pride seither wieder statt. Homophobe Gewalt während der Parade kam jedoch seitdem nicht mehr vor, was serbische LGBT-Gruppen dazu brachte, einen Zusammenhang zwischen dem Präsidenten und der Gewalt von 2010 zu vermuten. Schließlich machte Vučić 2017 die lesbische und absolut lo-yale Ana Brnabić zur Premierministerin. Die EU ließ sich mit dieser symbolischen Geste zufrieden stellen. Dank seiner Kosovo-Politik gilt in Brüssel das Motto „Vučić delivers“ – de facto ein Blanko-scheck für seine sonstige Politik. Her-ausstechendes Beispiel dafür bilden die Ereignisse rund um das Megabauprojekt „Belgrade Waterfront“: Inmitten des Bel-grader Stadtzentrums soll am Donauufer ein Luxusviertel mit obszönen Ausma-ßen entstehen. Ein verfassungswidriges

lex specialis legalisierte nachträglich die gegen den Bebauungsplan verstoßenden Pläne. Über den Sinn, den Bauzeitraum oder den Vertrag mit der Investor-Firma Eagle Hills aus den Vereinigten Arabi-schen Emiraten ist wenig bekannt. Die Zivilgesellschaft vermutet dahinter den größten Korruptionsfall in der Geschichte des Landes, in den der Präsident höchst-persönlich verwickelt zu sein scheint. Die Weigerung einiger der BewohnerInnen des betroffenen Stadtviertels Savamala, ihre Häuser zu räumen, führte dann im Frühjahr 2016 zu einer heftigen Reaktion: In der nach des 24. Aprils stürmten ver-mummte Männer mit schwerem Gerät das Viertel, beschlagnahmten Pässe und Handys, schlugen und fesselten Anwoh-nerinnen und Passanten, rissen Häuser ab und verwüsteten ganze Straßenzüge. Während der ganzen Nacht war die Bel-grader Polizei nicht zu erreichen und die Staatsanwaltschaft hat bis heute keine Er-mittlungen in dieser Sache aufgenommen. Während die Staatsmedien den Vorfall unermüdlich zu relativieren suchen, for-mierten sich die seit Jahrzehnten größten Proteste Serbiens, die jedoch von Vučić bloß kriminalisiert und als vom Westen finanzierte „Verräter“ abgetan wurden. Für die Beziehungen zur EU blieb dieser Zwischenfall folgenlos. Im Fortschritts-bericht zu Serbien tauchte er erst gar nicht auf. Stattdessen warme Worte für die sicherheitspolitischen Bemühungen des serbischen Präsidenten seitens EU-Erweiterungskommissar Johannes Hahn.

Bei Serbien, dem Kosovo und Bosnien und Herzegowina handelt es sich um Beispiele. Im Rest des Westbalkans tritt die EU vergleichbar auf. Die progressi-ven, nach Westeuropa orientierten Tei-le der Gesellschaften sind von der EU enttäuscht. Statt es zu nutzen, verspielt die EU das vorhandene gesellschaftliche Potential. Entgegen Herr Hahns Ansicht ist die Region mehr als nur Jugoslawi-enkrieg und Flüchtlingsrouten. Solange der Westbalkan von der EU nur als si-cherheitspolitisches Problem behandelt wird, wird er es auch bleiben. Denn zu einer Aussöhnung gehört mehr als nur das Verhindern von Krieg. Es bedarf einer Perspektive. Die EU bietet wenig außer einem leeren Versprechen – wenn sie nicht sogar durch ihre Versicher-heitlichungspolitik zu dem Schaden beiträgt. Der Balkan ist kein Pulverfass.

EU in der Westbalkanregion

Die Prioritäten der EU sind offensicht-lich: Die Stabilität auf dem Balkan geht der Einhaltung der Menschenrechte vor.

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Datenschutz

Des einen Geld, des andren Recht

Wer anfängt über die Europäische Uni-on zu sprechen, bekommt gerne mal deren „unsinnige“ Verordnungen vor-gehalten: Wie krumm darf eine Banane sein, oder eine Gurke? Wie viel Wasser darf bei der Toilettenspülung maximal verbraucht werden, und warum zahlen wir den Anderen eigentlich so viel Geld? Klar, das mit dem Roaming ist schon ganz nett, und auch das Überqueren einer Grenze und das Bestellen im In-ternet ist sehr viel einfacher geworden.

Nur wenn es um wirklich wichtige Din-ge geht, da bekommt die Öffentlichkeit auf einmal ungefähr so viel mit wie bei Gesetzesänderungen während einer Fußballweltmeisterschaft. Und die Sati-repartei "Die Partei" betreibt ernsthaftere Bemühungen, dem Wunsch der euro-päischen Bürger nachzukommen, als so manche etablierte Partei, die lieber den Grima Schlangenzunges (Herr der Ringe-Fans wissen Bescheid) der Wer-beindustrie gehör schenkt und sich dem Kapital verbundener fühlt, als den 90%, die ihre Persönlichkeitsrechte hochhalten.

Nur was war passiert, dass es zu ver-balen Entgleisungen in der Diskussion kam? Kurz zusammengefasst geht es um folgendes: Ab dem 25. Mai 2018 soll eine neue Datenschutzverordnung für die digitale Welt herrschen. Zu dieser sollte auch die sogenannte „ePrivacy“-Verordnung gehören. Grob zusammen-gefasst beinhaltet diese Verordnung Punkte, welche dafür sorgen, dass keine Datenverarbeitung ohne Einverständ-nis des Nutzers erfolgt und selbiger sich einfacher vor Online-Tracking schützen kann. Des Weiteren soll der gemeine

Nutzer ein Recht auf Verschlüsselung, zum Beispiel bei Telefonaten über das Internet, erhalten. Auch die Einstellungen bezüglich der Privatsphäre im Browser

sollen von Grund auf möglichst privat-sphärefreundlich sein. Auf der anderen Seite sollen Unternehmen Grenzen für das sogenannte Offline-Tracking gesetzt werden und der Staat muss transparen-ter machen, wenn, wann und in welchem Maße er auf Daten der Bürger zugreift.

Nun ist abseits der rein juristischen Fra-gen, welche einen selbst mit juristischen Vorkenntnissen in einem Paragraphen-wald zurücklassen können, eine Debat-te entstanden, die von gegensätzlichen Interessen getrieben wird und sich ganz simpel Runterbrechen lässt: Gewinnt das Geld oder die freiheitlichen Rechte?

Viele Interessensverbände, zum Beispiel der Verband Deutscher Zeitschriften-verleger (VDV), der Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger e.V. (BDZV) sowie der W&V (kurzform von „Werben und Verkaufen“) haben nämlich Angst davor, ihre Finanzierungsmodelle zu ver-lieren, welche zum Teil darauf basieren, dass man den elektronischen Pfaden der Nutzer auch außerhalb der eigenen Web-sites folgen kann, um deren Profil da-für zu nutzen, personalisierte Werbung auf den eigenen Websites anzubieten.

Nun ist es durchaus verständlich, dass Verlage Sorge haben, weiterhin Einnah-men einzubüßen und somit die Finan-zierung ihre Arbeit gefährdet sehen. Allerdings muss man sich dazu ein paar Fragen stellen. Wäre es nicht erstens klüger gewesen, die großen Zeitungen hätten ihr Geschäftsmodell insofern an-gepasst, dass die Printausgabe nicht auf-grund einer Onlinepräsenz beschnitten worden, sondern zum Premiumprodukt der Verlage erkoren worden wäre? Im-merhin gibt es genug Beispiele quer über alle Branchen hinaus, die zeigen, dass Menschen bereit sind für Qualität Geld auszugeben. Stattdessen hat man sich auf das Internet gestürzt, liefert im Stun-dentakt Artikel mit teils haarsträubenden Fehlern wie doppelt auftretenden Wor-ten oder vollkommen verdrehten Sätzen. Oder Liveticker zu sämtlichen Ereig-nissen, die vom neusten Anschlag - von dem man zwar noch nichts weiß, aber schon mal was schreiben muss - bis hin zum Liveprotokoll des Dschungelcamps reichen, weil es nur noch um Abrufe, Reichweite und „Search Engine Optimi-zation“, kurz SEO, geht, um ganz oben

von Nils Geuenich

Wollen Sie, dass ohne Ihr Wissen mit Ihnen Geld verdient wird? Und das, indem man Ihre Persönlichkeitsrechte beschneidet? Nein? Dann gehören Sie laut einer Befragung der Europäischen Union zu den knapp 90%, deren Interesse in Hinterzimmern der belgischen Hauptstadt gerade wieder verhökert werden sollen – mit freundlicher Unterstützung Ihrer Bundesregierung, aber das kennt man inzwischen ja. Einfach mal beim Autohersteller Ihrer Wahl nachfragen. Ja? Dann könnten Sie offensichtlich ein ähnliches Weltbild wie Axel Voss, CDU-Abgeordneter in Brüssel, haben, der die Befürwor-ter einer neuen Verordnung unter seinen dortigen Kollegen als „Digital-Gutmenschen“ bezeichnet hat.

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Datenschutz

bei Google zu landen. Ebenso entdecken die Verlage ja auch seit einer Weile neue Monetarisierungsmöglichkeiten. Denn wer kennt es nicht, dass man einen Arti-kel anklickt, ein paar Zeilen lesen kann, und dann auf das Premium-Abo der

Zeitschrift hingewiesen wird, wenn man mehr erfahren möchte? Denn auch hier zeigen wieder Seiten wie patreon.com, dass Menschen bereit sind, zu bezahlen, wenn ihnen das Angebot zusagt. Natür-lich schaffen es nicht alle, sich auf diese oder andere Art und Weise zu finanzie-ren, allerdings ist das der natürliche Lauf der Dinge, wenn man sich in einem ka-pitalistischen Markt bewegt. Muss einem nicht gefallen, sollte es im Sinne eines breit gefächerten Angebots auch nicht, kann man aber nicht ändern, wenn Wirt-schaft weiter so verstanden wird. Nur haben wir uns dank all der kostenfrei zur Verfügung gestellten Artikel auch daran gewöhnt, dass man im Internet für vieles nicht zahlen muss. Beklagt diese Branche also vielleicht nicht ein Prob-lem, dass sie sich selbst geschaffen hat?

Eine weitere große Gruppe, welche ein natürliches Interesse daran hat, dass die Verordnung in dieser Form nicht verab-

schiedet wird, ist die Werbebranche, der es natürlich leichter fällt, ihr Geschäfts-modell aufrecht zu erhalten, wenn die Gesetze ihnen in die Karten spielt. Aber auch hier muss die Frage erlaubt sein, ob der Wunsch Daten mit einem Staub-

sauger einzufahren höher zu bewerten ist, als der Wunsch des Einzelnen, Über-sicht, Kontrolle und Rechte in Bezug auf seine persönlichen Daten zu erhalten. Durchaus begründete Einwände gibt es von Seiten der Forschungsinstitute, deren Arbeit auf große Datenmengen angewie-sen ist. Diese jedoch müssen sich nach Einschätzung vieler Juristen gar nicht sor-gen, da bestehendes Recht bei gewissen Interessenslagen bereits Ausnahmen zu-lässt. Und staatliche Forschung, welche der Allgemeinheit dienlich ist, sollte pro-blemlos unter diese Paragraphen fallen.

Zu guter Letzt äußerte unter anderem eine Sprecherin der BDZV und VDZ Bedenken bezüglich des Rückstands europäischer Unternehmen, welche sich in der gleichen Branche und somit im Wettbewerb mit Onlineriesen wie Google und Facebook befinden. Dieser Rückstand jedoch kam unter den Um-

ständen der aktuell geltenden Gesetze zustande. Was also spricht dagegen, dass der Abstand nicht bliebe, bezie-hungsweise sich weiter vergrößerte, sollten die Gesetze in dem Rahmen blei-ben, in dem sie sich zurzeit bewegen?

Nun ist es so, dass für eben jene freiheit-lichen Rechte, welche wir hier in Europa genießen dürfen, im Laufe der Jahrhun-derte Manschen auf die Straßen gegan-gen sind, und dort zum Teil ihr Leben ge-lassen haben. Und mit Sicherheit hatten auch diese Menschen Angst. Deren Angst jedoch wurde, getragen vom Glauben an ein gerechteres und freiheitlicheres Mor-gen, gewandelt in den Mut, für etwas einzustehen. Und im Geiste dieser Ideale sollte man auch diese Verordnung sehen. Wir sollten den Mut haben, den Status Quo hinter uns zu lassen. Wir sollten auf-hören, das Portemonnaie einzelner Inter-essensgruppen über die Rechte und Wün-sche fast aller Bürger der EU zu stellen.

Natürlich muss man sich auf Ände-rungen einstellen. Natürlich birgt es ein Risiko, die Gesetze derart zu ver-schärfen. Aber dadurch, alles wie bis-her zu machen, hat sich auch noch nie etwas zum Positiven verändert.

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COP 23

Erfahrungsbericht: Freiwillige Helfe-rin auf der COP 23 in Bonn

Im November letzen Jahres war Bonn plötzlich auf der internationalen Welt-bühne zu sehen und zierte die Schlag-zeilen zahlreicher Medien. Grund dafür war die COP 23, die Weltklima-konferenz der Vereinten Nationen, welche zu Gast war in Bonn, dem Hauptsitz des UN Klimasekretariats.

Wie auch einige andere Studierende unserer Universität, hatte auch ich das Privileg, dort als Volunteer involviert zu sein. So konnte ich die Konferenz haut-nah mitzerleben und einen einzigartigen Einblick gewinnen. Wenngleich meine konkreten Aufgaben dort weniger span-nend und nicht gerade prestigeträch-tig waren, habe ich die Mitwirkung an der Konferenz als extrem bereichernde und hoch interessante Erfahrung emp-funden. So hatten wir als freiwillige HelferInnen relativ viel Zeit und Frei-heiten, Pressekonferenzen, Podiumsdis-kussionen und einzelne Verhandlungen anzusehen. Außerdem konnte man wich-tige und spannende Personen aus aller Welt sehen, erleben und kennenlernen.

Dank eines tollen Teams an hochmoti-vierten, größtenteils jungen Menschen, hat die Arbeit dort auch unglaublich Spaß gemacht. Insgesamt war unter den Freiwilligen und den anderen Mitar-beiterInnen, sowie den Beteiligten dort eine sehr positive, lockere und freundli-che Atmosphäre, sodass sich viele nette Gespräche und Begegnungen ergaben.

Auf dem Gelände gab es neben der Bula Zone, die rund um das UN Gebäude errichtet war und in der die Hauptver-handlungen stattfanden, auch noch die Bonn Zone in der Rheinaue. Diese glich einem Messegelände, wo man sich an

zahlreichen Ständen bei NGOs und Un-ternehmen über die verschiedensten Themen rund um den Klimawandel informieren konnte. Außerdem konnte man dort aber auch lustige Dinge aus-probieren, wie einen virtuellen Tauch-

gang mit Virtual Reality Brillen, Fahr-radfahren zur Stromerzeugung und viele länderspezifische Spezialitäten und Kulturangebote kennenlernen, wie zum Beispiel fijianische Musik oder Tänze.

Wenngleich diese 23. COP Konferenz an sich wenig spektakuläre Ergebnisse gebracht hat und insgesamt sicher kei-nen allzu prägenden Eindruck in der Geschichte der COP Konferenzen hin-terlassen wird, war sie für mich persön-lich doch sehr besonders und prägend.

Ich kann derartige Erfahrungen jedem von uns Studierenden nur empfehlen, da ich es als große Chance und Bereicherung empfunden habe, die Inhalte, die wir im Studium in der Theorie erlernen, in ih-rer praktischen Anwendung zu erleben.

Zudem hoffe ich, dass die Klimakonfe-renz 2017 in Bonn nach den zwei Wochen der Omnipräsenz von Klimathemen im Bonner Stadtbild nicht lautlos wieder ver-schwindet. Vielmehr hoffe ich, sie bewirkt eine nachhaltige Veränderung und hinter-

lässt ein Bewusstsein und Interesse in der Bevölkerung für das Thema Klimapolitik und den Klimawandel. Denn auch der Klimawandel mit seinen Auswirkungen verlässt uns nach zwei Wochen nicht wie-der, sondern ist vielmehr eine globale Re-alität, welcher sich jeder von uns bewusst sein sollten und der wir aktiv begegnen sollten, in unserem alltäglichen Handeln.

von Gesa Schmidt

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21Politicum

War es das mit den Idealen? Gibt es Alternativen zu der deutschen Außenpolitik?

Podiumsdiskussion mit Gregor Gysi und Stefan Cornelius

von Till Busche

Podiumsdiskussion

Mit der letzten politischen Veranstaltung des Jahres hatte die Fachschaft in Koope-ration mit dem Center for International Security and Governance zwei Hoch-karäter aus dem Themenbereich der Au-ßenpolitik an die Uni Bonn eingeladen.Dr. Gregor Gysi, MdB und Vorsitzender der Europäischen Linken, und Stefan Cor-nelius, Ressortleiter Außenpolitik bei der

Süddeutschen Zeitung, diskutierten in ei-nem bis auf den letzten Platz gefüllten Hör-saal D im Juridicum über die Ideale und die Zukunft der deutschen Außenpolitik.

Gewohnt rhetorisch stark, forderte Gysi in seinem Impulsvortrag eine deutsche Außenpolitik mit mehr Verantwortung und einer größeren Rückbesinnung auf die Menschenrechte. Auch die Sanktio-nen gegen Russland in Folge der Anne-xion der Krim seien zu hart. Es bedürfe einen anderen Weg, um mit der völker-rechtswidrige Annexion der Krim um-zugehen, so Gysi weiter. Bei dem Thema Türkei vertrat Gysi auch eine klare Posi-tion. „Deutschland müsse stringenter ge-gen die Aktionen und Provokationen aus

Istanbul reagieren und dürfe sich nicht von Erdogan mit dem Flüchtlingsdeal erpressbar machen lassen, sondern müs-se sich um anderer Lösungen bemühen“.

Eine deutlich andere Position vertrat Ste-fan Cornelius. Grundsätzlich bestehe die Außenpolitik aus der Abwägung von schlechten und sehr schlechten Wegen.

Was wäre ohne den Flüchtlingsdeal mit den Geflüchteten passiert? Stillstand vor den türkischen Grenzen oder eine unkontrollierte Einwanderung in die europäischen Staaten, welche wiederum zu ei-ner Stärkung des Rechtspopulismus in Europa führen würde, so Corne-lius. Auch bei dem Thema Russland wurden die un-

terschiedlichen Denkschulen der beiden Referenten deutlich. Eine Aufhebung der Sanktionen gegen Russland hielte er für falsch, so Cornelius. Nicht nur die völkerrechtswidrige Annexion der Krim, sondern auch der problematische Um-gang mit den Menschenrechten sowie der Meinungs- und Pressefreiheit dür-fe nicht vergessen werden, wenn man eine Lockerung der Sanktionen fordere.

Bei dem Thema Europa waren sich bei-de Referenten dahingehend einig, dass die Vereinigten Staaten von Europa zwar eine schöne Vorstellung seien, aber unter Berücksichtigung der aktuellen Krise der EU die größte Herausforderung darin bestehe, Europa überhaupt zusammen

zu halten. Vielmehr sei es von Bedeu-tung, dass in der EU mehr Solidarität mit allen Mitgliedsstaaten geschaffen werde, sagte Gysi. Hier spiele Deutsch-land als eines der stärksten Mitglieder eine entscheidende Rolle und müsse mit gutem Vorbild vorangehen. Auf die Frage der Notwendigkeit einer europäi-schen Verteidigungsunion verwies Gysi auf die NATO. Neben der NATO und den nationalen Streitkräften bedürfe es keine dritte Armee. Die einzige Varian-te sah Gysi in der Vereinheitlichung der Verteidigungssysteme zur Reduzierung der Kosten im militärischen Bereich.Bezüglich der Zukunft der deutschen Außenpolitik sagte Cornelius abschlie-ßend, dass es einen stärker pragma-tisch geprägten Ansatz bedürfe und das hohe Ansetzen unserer Werte in der Außenpolitik nur zur Frustration führe.

Zum Schluss rief Gysi dennoch dazu auf, dass es immer Visionen und moralisch klare Leitlinien bedürfe, um auch bei kleinen Schritten und Handlungen in der Außenpolitik die moralischen Ziele und Werte nicht aus den Augen zu verlieren.

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22 Politicum

Auch in Katalonien herrscht das Recht

Der Europäischen Union wird häufig ihre Untätigkeit im Konflikt zwischen der Region Katalonien und der spa-nischen Zentralregierung vorgewor-fen. Dabei wird vergessen, dass es für ein Einschreiten weder ein politisches Mandat noch eine rechtliche Grund-lage gibt. Die Position der EU in die-sem Konflikt ist seit Jahren konstant: Das Recht in Spanien ist einzuhalten, und ein unabhängiges Katalonien wird nicht automatisch Teil der Uni-on. Vor allem letzteres wird von vie-len Separatisten willentlich ignoriert. Das Interesse der EU besteht in einer stabilen Union, in der territoriale und rechtliche Integrität Priorität haben. Eine weitere Täuschung vonseiten der Separatisten besteht darin, sich auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker zu berufen. Nur durch Unterdrückung, einem Entzug von Rechten und Teil-habe könnten sie sich darauf berufen.

Dagegen steht aber der weitreichende Autonomiestatus, der den Katalanen verfassungsrechtlich eingeräumt wird. Wenn diese Art von Rechtsstaatlich-keit gegeben ist, kann sich auch der Wille einer Region nicht über die Ver-fassung, der sie selbst zugestimmt hat, hinwegsetzen. Kurzum: Die Region Katalonien hat schlicht und einfach kein Recht, sich von Spanien ohne das Einverständnis der Zentralregierung in Madrid loszusagen. Ferner hegen sich Zweifel an der Legitimität, wenn wenige Tage nach dem Referendum hunderttausende Menschen in Barce-lona für die Einheit Spaniens demons-trieren, und das Referendum selbst von nur etwa 40% der Wahlberechtigten unter demokratisch kaum ausreichen-den Bedingungen durchgeführt wird. Dass es überhaupt zur Eskalation am 1. Oktober kam, ist der Unfähigkeit bzw. dem Unwillen der Regierung Rajoy und

der Regionalregierung Puigdemont zuzuschreiben. Der Konflikt hätte im Vorfeld politisch gelöst werden müs-sen. Gemeinhin wird die Gegnerschaft Rajoys gegen das Autonomiestatut von 2006, das 2010 vom Verfassungsgericht in Teilen annulliert wurde, als Auslöser gesehen. Dazu kommt die tiefe Krise seiner Partido Popular: „Stärke zeigen“ gegenüber den Separatisten übertüncht die Korruptionsskandale und mobili-siert konservative Wähler. Es wäre aber primär die Aufgabe der Katalanen gewe-sen, im Vorfeld eine politische Lösung und somit Legitimität und Legalität für ein Referendum zu erreichen – ähnlich wie die Schotten für ihr Unabhängig-keitsreferendum 2014. Puigdemonts Strategie der Konfrontation statt Diplo-matie zum Ziele eines reformierten Au-tonomiestatuts, ohne Stützung durch das Recht, die EU oder anderer einfluss-reicher Akteure, ist vorerst gescheitert.

von Daniele Saracino

Dozentenkommentare

Rohingya-Krise braucht wissenschaftliche Forschung

Dieser Kommentar hat rund 2600 Zei-chen. Das ist wenig, um die komplexe Rohingya-Flüchtlingskrise im Grenz-gebiet zwischen Myanmar und Bangla-desch zu kommentieren. Dennoch habe ich die Aufgabe in der Überzeugung angenommen, schon einen vernünfti-gen und ausgewogenen Kommentar für das Politicum beisteuern zu können. Mein erster Versuch war bei Erreichen der Zeichengrenze nicht mehr als ein Torso. Unmöglich, ihm bei gegebenem Umfang noch das Laufen beizubringen. Im zweiten Anlauf fehlte die Balance, für eine ausgewogene Darstellung hätte ich

wieder mehr Raum gebraucht. Die dritte Fassung genügte zwar dem Limit, hatte aber außer Allgemeinplätzen nichts zu bieten. Frustriert wollte ich den Heraus-gebern des Politicum schon absagen. Doch dann wurde mir klar, dass mei-ne Schwierigkeiten bei der Abfassung des Kommentars Ausdruck eines ganz zentralen Problems der Berichterstat-tung über die Rohingya sind. Ein kom-plexes Problem, das nicht nur eine ak-tuelle, sondern auch eine historische Dimension hat, wird medial in kleinen Häppchen präsentiert. Ganz vorn mit dabei sind die Sozialen Medien, in de-

nen Videos, Fotos, tweets (280 Zeichen!) und WhatsApp-Nachrichten die Wahr-nehmung und Debatte über das Thema insbesondere in der Region prägen.

Immer mit dabei: die Schuldfrage. Men-schenrechtsorganisationen, die UN und Rohingya-AktivistInnen werfen den Sicherheitskräften in Myanmar ethnische Säuberungen und zum Teil Genozid vor. Aung San Suu Kyi wird der Untätigkeit beschuldigt, am lau-fenden Band werden ihr Preise und Ehrungen aberkannt. In Myanmars Presse wiederum tragen die Terroristen die Schuld, die sich aus den Reihen der

von Rodion Ebbighausen

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23Politicum

Stürmische See?Deutsch-amerikanische Beziehungen in Zeiten Donald Trumps

Seit der Wahl Donald J. Trumps zum 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika im November des vor-vergangenen Jahres, spätestens aber seit seiner Amtseinführung im Januar 2017, sind die deutsch-amerikanischen Beziehungen in das Zentrum des öf-fentlichen Interesses zurückgekehrt. Dabei werden in jüngster Vergangen-heit insbesondere die enormen Her-ausforderungen betont, die aus dem Regierungswechsel in Washington für die deutsche Politik sowie insbesonde-re die transatlantische Zusammenarbeit resultieren. Vielen scheint der Atlantik so stürmisch geworden zu sein wie sel-ten zuvor in den letzten Jahrzehnten. In der Tat: In Fragen von Handels-, Klima- oder Sicherheitspolitik, um nur einige, entscheidende Politikfelder zu

nennen, haben sich bereits im ersten Jahr der Amtszeit Donald Trumps eine Reihe von Konflikten abgezeichnet

Und dennoch, in einer von globalen Machtverschiebungen und wachsender Interdependenz geprägten Welt bleiben die Vereinigten Staaten die „unverzicht-bare Nation“ (so einst U.S.-Außenmi-nisterin Madeleine Albright) – und eine strategische Kooperation mit dem Part-ner auf der anderen Seite des Atlantiks bleibt für Deutschland unabdingbar. An gemeinsamen Herausforderungen sowie geteilten Interessen mangelt es dabei gewiss nicht. Auch stützen sich die deutsch-amerikanischen Beziehun-gen – wenngleich sich derzeit wieder einmal eindrucksvoll die Bedeutung von Persönlichkeiten in der interna-

tionalen Politik zeigt – auf ein stabiles Wertegerüst, das auch unbequemere Zeiten überdauern wird. Schließlich be-stehen, auch jenseits des Weißen Hau-ses, eine Reihe von Möglichkeiten der Kooperation und sogar Vertiefung der Beziehungen, sei es auf untergeordne-ten administrativen Ebenen (etwa mit einzelnen Bundesstaaten oder Städ-ten) oder auch im Bereich der Zivilge-sellschaft (etwa in Wissenschaft und Kultur). Trotz aller berechtigter Kritik am zuletzt in Washington eingeschla-genen Kurs besteht somit guter Grund zur Hoffnung, tückische Klippen um-schiffen zu können und eine Rückkehr in ruhigere Fahrwasser zu erwarten.

von Hendrik W. Ohnesorge

Rohingya rekrutieren, bei de-nen es sich ohnehin nur um il-legale EinwanderInnen handelt. In der Berichterstattung herrscht ein wildes Durcheinander von Tatsachen, Meinungen und Propaganda. Selbst für Fachleute, die sich seit Jahren mit der Re-gion und dem Konflikt beschäftigen, ist es eine Herausforderung, den Überblick

zu behalten. Tatsächlich wissen wir über die aktuellen Geschehnisse sehr wenig und auch hinsichtlich der historischen und gesellschaftlichen Dimension des Problems sind noch viele Fragen offen. Daraus folgt zweierlei: Erstens muss von der internationalen Gemeinschaft die notwendige Hilfe geleistet werden, um die aktuelle humanitäre Katastro-

phe zu bewältigen. Zweitens müssen wir auf voreilige Erklärungen, Schuld-zuweisungen und wohlfeile Kommen-tare verzichten. Stattdessen braucht es solide wissenschaftliche Arbeit, die als Basis für die Entwicklung einer tragfähigen Lösung unumgänglich ist.

Dozentenkommentare

Rodion Ebbighausen ist freier Journalist und Lehrbeauftragter am Institut für Orient- und Asienwissenschaften der Universi-tät Bonn. Schwerpunkt seiner Berichterstattung ist Asien, insbesondere Südostasien. 2016 erschien die gemeinsam mit Hans-Bernd Zöllner verfasste politische Biographie zu Aung San Suu Kyi mit dem Titel "Die Tochter".

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24 Politicum

Politicum • Impressum

Erschienen Januar 2018

Herausgegeben vonFachschaft Politik und Soziologie

Chefredakteurin (V.i.S.d.P.)Insa Holste

DruckUniversitätsdruckerei der Universität Bonn, Auflage: 250

LayoutInsa Holste

Titelbildflickr.com, mariusz kluzniak

MitarbeitFachschaft Politik & Soziologie

Mit Beiträgen vonClemens Albrecht, Hannes Baumert, Nora Benz, Volker Best, Julian Brummer, Till Busche, Marius Dute, Rodion Ebbighausen, Debora Eller, Nils Geuenich, Insa Holste, Nina Ihrens, David Isken, Hendrik Ohnesorge, Christian Maucher, Gesa Schmidt, Daniele Saracino, Philipp Sprengel, Robin Weiden

Das Politicum ist die Zeitschrift der Fachschaftsvertretung am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Rhei-

nischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Es erscheint seit 30 Jahren unregelmäßig, aber immer mal wieder.

Die in den einzelnen Artikeln vertretenen Meinungen spiegeln nicht die Ansicht der Redaktion oder der Fachschaft Politik

und Soziologie wider. Die Autor*Innen sind für den Inhalt ihrer Beiträge ausschließlich selbst verantwortlich.

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