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Laienmusizieren in Deutschland Musik leben und erleben in Deutschland. m 7,40 DAS MAGAZIN DES DEUTSCHEN MUSIKRATS Vorbild Österreich: Wo Musikschulen Wertschätzung finden 63280 april–juni 2005___2 3. jahrgang Zwischen Spielmannszug und Hausmusik am PC Volkstümliches im Internet: Wo populäre und traditionelle Lieder per Mausklick in die Stube kommen

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Probedruck

C M Y CM MY CY CMY K

Laienmusizierenin Deutschland

Musik leben und erleben in Deutschland.

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VorbildÖsterreich:Wo MusikschulenWertschätzungfinden

63280

april–juni 2005___23. jahrgang

Zwischen Spielmannszugund Hausmusik am PC

Volkstümlichesim Internet:Wo populäre und traditionelleLieder per Mausklick in dieStube kommen

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THE GERMAN WUNDERKINDFlorian Ross Quintet „Home & Some Other Place”

Die Kraft, mit der Florian Ross seine Meute spielerisch anführt, erinnert an die magische Urgewalt eines McCoy Tyner in den sechziger Jahren. „Home & Some Other Place“ ist eine unverhohlene Liebeserklärung an den Jazz! (INT 33812)

Alony – „Unravelling“Alony ist das gemeinsame Duo der in Haifa geborenenund in Berlin lebenden Sängerin Efrat Alony und des Pianisten und Arrangeurs Mark Reinke.

Alony gewährt dem Hörer das Erlebnis, sich ganz und gar auf eine Stimme einzulassen. Ein exklusives Menü für Vokal-Gourmets, wie es so schon lange nicht mehr serviert wurde! (INT 33842)

We Are All SmilesWe Are All Smiles

Alle CDs im Handel oder bequem in unserem Shop: www.intuition-music.com

Des

ign:

rah

lwes

piet

z.de

TRIO ROUGETuba-Guru Michel Godard, Cellist Vincent Courtois und

Sängerin Lucilla Galeazzi haben ein Trio ins Leben gerufen, das seinesgleichen sucht. Mit ihrem ersten

Album haben sie einen kleinen Kosmos um Liederarran-gements aus der Zeit des Widerstands gegen den Faschis-mus geschaffen. Zu hören sind Klassiker wie „Bella Ciao“

wie auch originelle Improvisationen von Courtois undGodard. Das Spektrum der musikalischen Einfälle und

Erbstücke reicht von zärtlichen Liebesliedern über spontan improvisierte Passagen bis hin zu wütenden

Widerstandsversen aus dem ersten Weltkrieg. (INT 33532)

Mikis Theodorakis „Resistance”

Theodorakis ist und bleibt resistent. Renitent. Ein Alter Wilder!

„Resistance“ ist kein Resümee der Lebenswiderständevon Mikis Theodorakis, sondern drei Liederzyklen, diewährend der Zeit der griechischen Diktatur 1967-74 imUntergrund, auf der Flucht, in Gefangenschaft, unterHausarrest, in der Verbannung und im Exil entstanden.Die Lieder wurden unter primitivsten Umständen auf-genommen. Liebevoll wurden sie nun restauriert undsind somit erstmalig erhältlich. (INT 33782)“

Widerstand und Freiheit

im Vertrieb von CH: Phonag AG, A: Edel Musicaa division of Schott Music & Media GmbH, Mainz

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MUSIK�ORUM 3

Christian HöppnerRedaktionsleitung

EDITORIAL

„EIN HEFT ÜBER LAIENMUSIZIEREN IN DEUTSCHLAND? Seid Ihr närrisch?“,

kommentierte ein guter Freund aus dem süddeutschen Raum den Plan der Redaktion, sich

im Fokusteil des vorliegenden MUSIKFORUM mit dem Bereich jenseits des professionellen

Musikbetriebs zu beschäftigen. Seiner Meinung nach müssten wir über viele Ausgaben

hinweg dieses Thema zum Schwerpunkt machen. Recht hat er. Andererseits wollen wir

in vier jährlichen Heften den Blick natürlich auf alle Facetten des Musiklebens richten.

So wirft dieses MUSIKFORUM nur einige Schlaglichter auf eine Szene, die an kultureller

Vielfalt jede Vorstellungskraft sprengt. Wer Laien musizierend erlebt, kann erahnen, wel-

ches Maß an Identifikation, Engagement und Kreativität dahinter steht.

Das Faszinosum des Laienmusizierens? Das brennende Zielen auf die einzig wahre Inter-

pretation in Kombination mit dem Bewusstsein um die Vergänglichkeit des Augenblicks

ist hier vielleicht die Zauberformel. Diese Form „handgemachten“ Musizierens vermittelt

eine einmalige Authentizität, die auf vielen handwerklichen Entwicklungsstufen einfach

nur begeistern kann.

Leider: Bei so viel Licht fällt auch langer Schatten – der Schatten unzureichender, ja zum

Teil katastrophaler Rahmenbedingungen für das Laienmusizieren. Er fällt auf die gesell-

schaftlichen Kräfte, die in der Verantwortung politischen Handelns stehen. Die Diskrepanz

zwischen Sonntagsreden und Montagshandeln schreit nach einer Wende bei der Prioritäten-

setzung in der Bildungs- und Kulturpolitik, denn: Kulturelle Vielfalt fängt vor der eigenen

Haustür an. Der oben beschriebene Reichtum schmilzt mit jedem gestrichenen Musikschul-

platz dahin.

Ohne diese Vielfalt, ohne die Chance, Kindern möglichst früh Zugänge zur Welt der

Musik zu ermöglichen, wird das Zusammenleben mit anderen Kulturen nicht funktionieren.

Wer das Eigene nicht kennt, kann das Andere nicht erkennen – geschweige denn schätzen

lernen. Bleibt die spannende Frage, welche Rolle die Musikerinnen und Musiker – ob Laie

oder Profi – bei diesen Prozessen kultureller Identitätsfindung und interkulturellen Dialogs

einnehmen wollen und können.

Ihr

Christian Höppner

DER REICHTUM DER

Laienmusik

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INHALT

MUSIK�ORUM4

11

Musikschule als Teil desBildungswesensHans Bäßler sprach mit dem Musik-pädagogen Peter Röbke über dasVorbild Österreich, wo musischeBildung für den Laien hohe Wert-schätzung genießt. 30

Was hat das Volkslied imInternet zu suchen?Eckhard John stellt eine neue wissen-schaftliche Edition populärer undtraditioneller Lieder vor. 34

IM FOKUS:HOBBY:MUSIK!LAIEN-MUSIZIERENIN DEUTSCH-LAND

Angst ist ein schlechterLehrerPianist Matitjahu Kellig will dieAngst des Musikers in positiveEnergie verwandeln – und klettertmit Studenten im Hochseilgarten. 46

Inventio fördert Innovationenin der MusikausbildungDer Wettbewerb und Musikpreiszeichnet zukunftsweisende Projektefür die musische Bildung von Kindernund Erwachsenen aus. 50

t i t e l themen

8Von Musik besessenWas ist eigentlich „Laienmusik“ – und wer macht sie mit welcherMotivation? Fragen, denen Eckart Rohlfs nachgeht.

Deutsches Laienmusizieren – statistisch gesehenStephan Schulmeistrat über Zahlen, hinter denen sich gesellschaft-liche Prozesse und ökonomische Aspekte verbergen.

Chorgesang heuteSinggruppen als wichtige Träger der Musik- und Kulturpflege.Eine Bestandsaufnahme von Hans-Willi Hefekäuser.

Warum ich im Orchester spiele? Eine Umfrage. ab 12

Mediale ParadoxaKritisches Komponieren: Dieter Merschzur Verfahrenweise in Neuer Musik. 37

Suchgänge in die GegenwartDie Edition Zeitgenössische Musik als„Spiegel-Hörbild“ der Entwicklung derNeuen Musik. 40

Neue KlängeDEGEM präsentiert ihre CD-Reihe. 43

Die Zukunft der PopmusikDer Markt gehört längst den Nischen. 44

13

neuetöne b i ldung. forschung

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MUSIK�ORUM 5

por t rä tYueyang erzählt GeschichtenGespräch mit der chinesischen Elektronik-Komponistin und Klanginstallateurin. 54

wir t schaf tKreativität und Wirtschaft zueinem Konzept verbindenCreative Industries als Standortfaktor. 58

Klavierbauer und Künstlermüssen sich verstehenBesuch bei Steingraeber & Söhne. 60

präsent ier tProjekte im deutschen Musikleben:Die Musikzentrale Nürnberg e. V. 63

rubr ikenEditorial 3Nachrichten 6Rezensionen: Tonträger, Bücher 64Finale, Impressum 66

Sorgen um die Zukunftdes SchumannhausesDie Finanzierung des Zwickauer Geburts-hauses des Komponisten, seit 1910 inein Museum umgewandelt, steht in Frage.Eine schnelle Lösung ist dringlich. 52

dokumentat ion

22

april – juni 2005___2

DAS

MAG

AZIN

DES

DEU

TSCH

EN M

USI K

RATS

MUSIK�ORUM

fokus

Forum für Chormusik und LebensgefühlÜber Geschichte und Ziele des Deutschen Chorwettbewerbs.

Wie bringt man Mann zum Singen?Wie man in Hamburg eine aussterbende Chorspezies neu belebt.

Was Hobbymusiker für die Gesellschaft leistenDas Spektrum des deutschen Laienmusizierens am Beispiel Kölns.

Cello meets E-GitarreDie Wege zweier junger Amateurmusiker zu Klassik und Pop.

Verhackstückte Töne. Hausmusik am Heimcomputer. 29

26

Sieben Thesen zur Musikin der SchuleDer Deutsche Musikrat positioniert sich –und formuliert Essentials für einen gelunge-nen Musikunterricht. 51

1621

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NACHRICHTEN

MUSIK�ORUM6

Louwrens Langevoort (Bild)übernimmt mit Beginn der Sai-son 2005/06 als Intendant derKölner Philharmonie die Verant-wortung für alle Belange derKölnMusik GmbH. Der Jurist underfahrene Musikmanager verfügtals ehemaliger Opernintendantder Hamburgischen Staatsoper,langjähriger Intendant und Ge-schäftsführender Direktor derNationalen Reisopera der Niederlande undmit zahlreichen weitere Aktivitäten in derMusikbranche über alle Kompetenzen fürdie Leitung eines großen Konzerthauses.+++ Der noch als Direktor am BaselerTheater amtierende Michael Schindhelmist seit dem 1. April neuer Generaldirektorder Berliner Opernstiftung. Schindhelm löstGeorg Vierthaler ab, der die 2004 ins Le-ben gerufene Stiftung kommissarisch gelei-tet hatte. +++ Im Rahmen seiner konstitu-

ierenden Sitzung wählte der Bei-rat der GermanSounds AGHubert Wandjo (Beat AroundThe Bush) als Sprecher und JensMarkus Wegener (AMV AlsterMusikverlag) als seinen Stellver-treter. Das Ende 2004 berufeneExpertengremium wird die Aktivi-täten des Exportbüros beratendbegleiten, für die Branche dieErfordernisse und Notwendigkei-

ten von Konzertagenturen, Labels, Verlagen,Management- und Beratungsunternehmenan das GermanSounds Team kommunizie-ren und bei der Erstellung von Arbeitskri-terien mitwirken. +++ Max Fuchs, Vorsit-zender des Deutschen Kulturrats, und seinStellvertreter Christian Höppner, Gene-ralsekretär des Musikrats, wurden in Berlinin ihren Kulturratsämtern bestätigt. Neugewählt zur stellvertretenden Vorsitzendenwurde Claudia Schwalfenberg.

personalia

Bundespräsident Köhler:

„Musikalische Bildungkeine private Nebensache“In einem Festakt in Marktoberdorf hatBundespräsident Horst Köhler die vonTheodor Heuss gestiftete Zelter- undvon seinem Amtsnachfolger HeinrichLübke geschaffene Pro Musica-Plaketteverliehen.

In seiner Ansprache unterstrich derBundespräsident die Wichtigkeit der musi-kalischen Breitenbildung: „MusikalischeBildung fördert die Entwicklung von Kin-dern zu eigenständigen und gemeinschafts-fähigen Persönlichkeiten. Gerade deshalbist die musikalische Bildung von Kindernso wichtig und keine private Nebensache.“Musikalische Bildung müsse zu den Selbst-verständlichkeiten gehören wie das Ler-nen von Lesen, Schreiben und Rechnen,betonte Köhler. Auch der Präsident desDeutschen Musikrats, Martin Maria Krü-

ger, hob die besondere Bedeutung desLaienmusizierens in Deutschland hervor.Es bilde über alle Generationen hinwegdie Wurzel für die Identifikation mit unse-rer Kultur und sei darüber hinaus nichtnur die größte Bürgerbewegung in unse-rem Lande, sondern auch ein bedeuten-der Wirtschaftsfaktor.

Insgesamt 167 Chöre und 46 Musik-vereine in Deutschland wurden in diesemJahr mit den begehrten Auszeichnungen

Bundespräsident Köhler (Bildmitte) überreichte Zelter-Plaketten an Christian Gebler undRichard Neuhauser vom Musikverein Rieder sowie an Helga Waibel und Josef Schrägle vomLiederkranz Marktoberdorf (von links).

geehrt. Die Zelter-Plakette wird als Aus-zeichnung für Chorvereinigungen verlie-hen, die mindestens 100 Jahre bestehenund sich besondere Verdienste um diePflege der Chormusik und des Volksliedserworben haben. Die Pro Musica-Plakettewird Vereinigungen von Musikliebhabernverliehen, die sich besondere Verdiensteum die Pflege des instrumentalen Musizie-rens erworben haben.

Musikpreis der StadtDuisburg an Tan DunDer mit 15 000 Euro dotierte Musikpreis

der Stadt Duisburg geht im Jahr 2005 anTan Dun (Bild oben). Die Stadt ehrt den 1957in China geborenen Komponisten, der heu-te in New York lebt, für seine vielfältigenund originellen Auseinandersetzungen mitinterkulturellen Beziehungen zwischen derwestlichen Welt und dem Fernen Osten.

Internationales Aufsehen hat Tan Dun vorallem durch seine Oper „Marco Polo“ und dermit einem Oscar ausgezeichneten Musik zumFilm „Tiger & Dragon“ erregt. Sein neues-tes Werk „Secret Land“ wurde im vergan-genen Jahr von den Berliner Philharmoni-kern unter Sir Simon Rattle uraufgeführt. ZurZeit arbeitet Dun an einer neuen Oper, dievon der Metropolitan Opera New York inAuftrag gegeben wurde und im Dezember2006 unter der Leitung von James Levineuraufgeführt werden soll.

˜ DGB-Jugend startet MusikwettbewerbUNTER DEM TITEL „GIB DIR EINE STIMME“ hat die DGB-Jugend einen neuen Musikwett-bewerb ins Leben gerufen, mit dem junge Bands, fernab von kommerzieller Verwertbarkeit,gefördert und dazu ermuntert werden sollen, ihre Stimme als Möglichkeit politischer Mit-entscheidung einzusetzen. „Wir wollen keine gecasteten Karaoke-Stars, sondern junge Musi-ker mit Kopf und Herz, die ihre Meinung sagen“, beschreibt Projektleiterin Silvia Helbig dasZiel des Wettbewerbs. www.dgb-jugend.de

Foto: Hyou Vielz

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MUSIK�ORUM 7

Die Jury des Deutschen Musikwett-bewerbs (DMW), der in diesem Jahrzum 30. Mal durchgeführt wurde, hatin Berlin fünf Preisträger bekanntgegeben.

Im letzten von vier Durchgängen, indenen im März 270 junge und professio-nell ausgebildete Instrumentalisten undSänger aus allen Bundesländern um Prei-se und Stipendien konkurrierten, über-zeugten der Berliner Violoncellist NicolasAltstaedt, Andreas Hofmeir aus München(Tuba), Maximilian Hornung aus Dinkel-scherben (Violoncello) und die BerlinerViolonistin Sophia Jaffé. Die fünfte Preis-trägerin, Eleonora Reznik aus Köln (Kla-vierpartner), wurde darüber hinaus mitdem ZONTA Club-Sonderpreis in Höhevon 5000 Euro ausgezeichnet. Weitere 24Solisten erspielten sich ein Stipendiumund ein Preisgeld von 1000 Euro. Insge-

Deutscher Musikwettbewerb 2005:

Fünf Preisträger überzeugten mit Höchstleistungensamt 14 Musiker hatten das Finale er-reicht, in dem sie sich einem hochkaräti-gen Kreis von Juroren, bedeutenden Per-sönlichkeiten des internationalen Musik-lebens, stellten.

Die Verleihung des mit jeweils 5000Euro dotierten Preises erfolgte im Rahmendes Preisträgerkonzerts mit dem Rund-funk-Sinfonieorchester Berlin unter derLeitung von Matthias Foremny am 20.März im Großen Saal des KonzerthausesBerlin. Die Sieger präsentierten Konzert-musik von Dmitri Schostakowitsch, Ro-bert Schumann und John Williams.

Der mit wechselnden Gattungen inBonn und Berlin stattfindende DeutscheMusikwettbewerb ebnet die Karrieren vielversprechender Jungtalente und zeichnetin 14 Kategorien von Gesang bis Kontra-bass die besten Musikerinnen und Musi-ker Deutschlands aus.

Gruppenbild der Gewinner: Sophia Jaffé, Andreas Hofmeir, DMW-Beiratsvorsitzender Wolf-gang Gönnenwein, Maximilian Hornung, Eleonora Reznik und Nicolas Altstaedt (von links).

˜ DOV präsentiert Zahlenzum Konzertleben

DIE DEUTSCHEN KONZERT- und OPERN-ORCHESTER haben in der vergangenen Spiel-zeit 2003/04 insgesamt 9850 Konzertveran-staltungen durchgeführt. Hiervon waren 6027Sinfoniekonzerte und 2141 musikpädagogi-sche Veranstaltungen, die damit zahlenmä-ßig den zweitgrößten Bereich darstellen. Da-rüber hinaus wurden 993 Kammerkonzerteund 1208 sonstige Konzert-Veranstaltungendurchgeführt. Diese Zahlen ergab eine erst-mals von der Deutschen Orchestervereini-gung (DOV) bei allen Orchestern durchge-führte Erhebung, die künftig im Rhythmusvon zwei Jahren wiederholt werden soll.

Neue Zahlen gab es bei der Jahrespres-sekonferenz der DOV auch zur Fachausbil-dung von Orchestermusikern: 91 deutscheOrchester bieten zusammen gegenwärtig146 Akademie- und 432 Praktikantenstellenfür angehende Orchestermusiker an. Damitbesteht bei etwa 70 Prozent aller Klangkör-per für insgesamt 578 junge Musikerinnenund Musiker die Möglichkeit zur praxisna-hen Ausbildung. Sowohl die Zahl der Aka-demie- als auch die der Praktikumsplätze istaufgrund der Nachfrage steigend.

Beklagenswert sei allerdings die Situa-tion beim Publikums- und Musikernachwuchs:„Immer mehr Kinder in Deutschland sind musi-kalische Analphabeten, sie können nicht mehrrichtig singen, geschweige denn ein Instru-ment spielen. Dies gefährdet nicht nur dieZukunft der deutschen Musikkultur, diesschädigt das gesamte Bildungsniveau“, soDOV-Geschäftsführer Gerald Mertens. Fürdie nächste Zukunft befürchtet Mertens wei-ter zurückgehende Orchester- und Planstel-lenzahlen. Gegenwärtig gibt es in Deutsch-land noch 135 Orchester mit rund 10200Planstellen. 1992 wurden noch 168 Orches-ter gezählt.

˜ Deutscher Fonomarktkonsolidiert sich

DER FONOMARKT hat sich im Jahr 2004nach Auffassung der Deutschen Fonoindust-rie konsolidiert. Zwar sei noch ein Umsatz-rückgang von 3,6 Prozent zu verzeichnen,doch sei dieser im Vergleich zu den Vorjah-ren sehr moderat ausgefallen, erklärte GerdGebhardt, Vorsitzender der deutschen Pho-noverbände. Die extrem negative Umsatz-entwicklung der letzten Jahre sei damitoffensichtlich beendet. Für 2005 erwartetGebhardt eine stabile Marktentwicklung, ab2006 sogar wieder leichte Zuwächse.

Jazz-Jugend begegnetsich in KoblenzZur 5. Bundesbegegnung „Jugend jazzt"

erwartet die Stadt Koblenz vom 5. bis 8. Mai180 junge Jazztalente und Preisträger ausvorausgegangenen Landeswettbewerben undvon den deutschen Schulen im Ausland.Neben der Mitwirkung an einem Festival, anInformationsveranstaltungen und Workshopsmit intensiver musikalischer und organisato-rischer Beratung winken den über 20 BandsFörderpreise von mehr als 60 000 Euro imWettbewerbsteil. Hauptförderer der 1997gegründeten Bundesbegegnung sind das Bun-desjugendministerium und der Deutschland-funk. Weitere Unterstützung leisten in die-sem Jahr das Land Rheinland-Pfalz und dieStadt Koblenz.Foto: Malter

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Wer musiziert als Laie wo, was, warum und mit wem?

Und überhaupt: Was ist eigentlich „Laienmusik“?

Eckart Rohlfs machte sich Gedanken

L aienmusik – was verbindetman mit diesem Begriff?

„Laie“, ein Wort griechisch-lateinischer Herkunft bezeichnetden „zum Volk Gehörenden“,im kirchlichen Sinne einen, derkein geistliches Amt innehat.Übertragen auf den Laienmusikerist er somit einer, der keinenmusikalischen Beruf ausübt.

Im romanischen Bereich wird er als„Amateur“ bezeichnet, übersetzt: Liebhaber,Freund (z. B. der Kunst) oder Dilettant, waswiederum aus dem Lateinischen stammendso viel bedeutet wie einer, der sich an etwaserfreut, Vergnügen darin findet. Zum Bei-spiel an der Musik, am Musizieren. Eigent-lich die beste Umschreibung des Laienmusi-kers, auch wenn der Bezeichnung „Dilet-tant“ allzu leicht etwas Abwertendes anhaf-tet. Denn den Dilettanten nimmt man nichtso ganz ernst, schaut gerne etwas hochnäsigauf ihn hinab. Was ein Laienmusiker nichtverdient, wenn und weil er sein Verhältniszur Musik ebenso ernst nimmt wie der Mu-siker seinen Beruf.

Mindestens acht Millionen Bürgerinnenund Bürger – das sind zehn Prozent der deut-schen Bevölkerung – befassen sich beruflichoder als Laien mit Musik. Dass sich der über-wiegende Teil, nämlich sieben Achtel dieseracht Millionen, die der Deutsche Musikratals seine Interessengruppe repräsentiert, mehr

oder weniger aktiv der Laienmusik zugehö-rig fühlt, ist den Geldverteilern, Wirtschafts-bossen und Kulturmanagern vielleicht garnicht so recht bewusst. Mehr als sieben Mil-lionen Laienmusiker – das ist zweifellos einemaßgebende Kundschaft für die breit gefä-cherte Musikbranche mit ihrem Milliarden-umsatz aus Instrumentenbau, Service undZubehör, von Verlagen, Fonomarkt undMusikhandel einschließlich Veranstaltungs-wesen; dazu die Inanspruchnahme von Ur-heberrechten aus Anlass von Aufführungenim Rahmen weltlicher oder kirchlicher Laien-musikaktivitäten.

Ausgezeichnete Infrastruktur

Mehr als sieben Millionen kulturell enga-gierte Menschen plus deren Familien sind inunserem Lande eine gesellschaftspolitischinteressante Wählergruppe. Mit Recht hatdie Laienmusik in Deutschland (wie in an-deren deutschsprachigen Ländern auch) dank

langer Traditionen und verbandspolitischemEngagement gesellschafts- und kulturpoli-tisch hohes Ansehen. Sie weist eine ausge-zeichnete, nach musikpraktischen Schwer-punkten differenzierte organisatorische Infra-struktur auf, von örtlichen Aktivitäten bishin zu internationalen Verknüpfungen rei-chend.

Was heißt eigentlich „Laienmusik“? Mu-sik, die für Laien musikalisch verständlichund technisch zu bewältigen ist, also ohneallzu große Anforderungen und Ansprücherealisierbar. Das reduziert sich nicht nur aufleichte Barock-Duette und Triosonaten. Ge-eignete Musik für Laienmusiker findet sichin jeder Musikepoche zwischen Mittelalterund Gegenwart. Verlage sind erfinderisch ge-nug, entsprechende Editionen bereitzuhal-ten, Originalmusik in Originalausgaben eben-so wie in fragwürdigen Bearbeitungen in al-len erdenklichen Besetzungen bis hin zuPhilharmonischem, arrangiert fürs elemen-tare Musizieren. So umreißt sich grob das

Foto

: Mal

ter

VON BESESSENMusik

MUSIK�ORUM8

Die Wege zur (Laien-)Musiksind vielfältig: Was der einen die Hausmusik mit der Harmonika…

FOKUS

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MUSIK�ORUM 9

Liebhaber-Instrumentalisten finden sich in einem Verein wie der Münchner „Wilden Gungl“ zu-sammen und studieren unter Anleitung eines professionellen Leiters symphonische Werke ein,die sie dann im Herkulessaal der Residenz oder im Prinzregententheater zur Aufführung bringen.

…ist dem anderen die E-Gitarre in der Band.

seriöse, sozusagen klassisch etikettierte La-ger des Laienmusikers, der die so genannteernste Musik allen zu erschließen trachtet.

Wenn junge Menschen auf entsprechen-de Fragen nach ihrer Musikvorliebe und -pra-xis die Antwort geben „Ich spiele moderneMusik“, dann meinen sie nicht Henze undStockhausen, sondern die Domäne ihrerMusik, die man mit Rock, Pop und Jazz alsPopularmusik zusammenfassen mag. Musik,die ihre eigenen Gesetze, ihre besonderenInstrumente, Technik und Techniken hat. Inder die Jugendkulturen ihre eigenen Ge-fühlswelten hörend wie spielend zum Aus-druck bringen. Wo neue Beteiligungsstruk-turen entstanden sind, stilistisch, modisch, inständigem Wandel, in permanenter Entwick-lung und kaum quantifizierbar, aber weitest-gehend der jungen Generation vorbehalten.

Dazwischen findet sich, ebenso wenigquantifizierbar, die wohl kleinste Laienmusik-Gruppe, die sich der Volksmusik und Folk-lore, also der heimatlichen Traditionspflegein Musik, Tanz, Tracht und Heimatpflegewidmet und regional unterschiedlich inten-siv gepflegt wird.

Hauptanliegen: KontaktDie Statistiken*, wie sie der Deutsche

Musikrat in seinem Musikinformationszent-rum (MIZ) fortschreibt, stützen sich lediglichauf die organisierten Formationen, auf diegroßen instrumentalen und vokalen Laien-musikverbände und auf die Strukturen im

Bildungswesen wie Schule,Musikschule, Volkshoch-schule, privater Unterrichtu. Ä.

Daraus ergeben sich diezitierten rund sieben Millio-nen Laienmusiker, teils imAusbildungsstatus, teils ak-tiv in Tausenden von En-sembles, in Bands und sin-fonischen Laienorchesternoder in weltlichen und kirch-lichen Chören. Über diedarüber hinaus gehendeZahl nicht organisierter akti-ver Laienmusiker mag mannur spekulieren. Aber siesind reichlich vorhanden.

Für das musikalische En-gagement des Laienmusi-kers ist nicht unbedingt dieMusik selbst vorrangige Mo-tivation. Musik ist zunächstMedium, ist Weg und An-lass für das Hauptanliegen,gesellschaftlichen Kontakt

zu finden und zu pflegen. Oder, wie dieShell-Studie „Jugend 2002“ es formuliert,„sich mit Leuten zu treffen“, Freizeit gemein-sam zu gestalten, Kreatives zu machen undsich in Projekten zu engagieren.

Dies trifft hauptsächlich auf Jugendlichezu und besonders auf solche der sozialenOberschicht. Immerhin sind nach der Stu-die 52 Prozent der befragten Jugendlichenim Alter zwischen 12 und 25 Jahren gesell-

schaftlich in Vereinen aktiv, die sich Sport,Kultur, Musik widmen. Welchen Anteildabei die Vorliebe zu Musik und zum Mu-sikmachen ausmacht, ist leider nicht näherspezifiziert. Immerhin dürften Musik undkulturelle Aktivitäten den zweiten Platznach Spiel und Sport einnehmen.

Auch für den erwachsenen und erst rechtfür den älteren Menschen ist die musikali-sche Eigenaktivität, singend oder musizie-rend, zum einen willkommener Ausgleichzu beruflichen und anderen Beanspruchun-gen, zum anderen Mittel und Motivation fürzwischenmenschliche Kommunikation undGemeinsamkeit, sei es im Groß-Ensemble,sei es im bescheidenen Spielkreis bis hin zuselbst gestellten anspruchsvollen kammer-musikalischen Aufgaben.

Unterstützung notwendig

Laienmusik spiegelt sich wenig in öffent-lichen Medien, nicht im Kulturteil, allenfallsauf den Lokalseiten der Journale. Dennochhat sie hohen gesellschaftspolitischen Stel-lenwert, besonders als Teil regionaler undkommunikativer Kultur- und Jugendpflegebis hin zum Einsatz für soziale und interna-tionale Aufgaben. Dies rechtfertigt, ja erfor-dert von öffentlicher wie privater Seite an-gemessene und permanente Unterstützungdurch künftig hoffentlich nicht gefährdeteZuwendungen. Sie sind vor allem notwen-dig für die Aus- und Fortbildung der in denLaienmusikverbänden tätigen Leitungskräf-te, für Beschaffung von Arbeitsmaterialien

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Musik als wichtiges „Lebensmittel“

Der Autor:

Dr. Eckart Rohlfs, Redakteur bei der

neuen musikzeitung, ist seit 1987 Gene-

ralsekretär der „European Union of Music

Competitions for Youth (EMCY)“. Rohlfs

war 1963 Mitbegründer und Bundesge-

schäftsführer der Wettbewerbe „Jugend

musiziert“ und bis 1996 Bildungsreferent

beim Deutschen Musikrat.

MUSIK�ORUM10

* Quelle: Aktuelle Hochrechnung des Deutschen Musikinformationszentrums in Kooperation mit den Instrumental- und Vokalverbänden, Stand: 02.02.2005

und die Ausrichtung motivierender kom-munikativer Events wie Begegnungen, Mu-sikfeste und Leistungsvergleiche. Auf deranderen Seite steht und lebt das gesamteFeld der Laienmusik in ganz hohem Maßevom ehrenamtlichen Einsatz sowohl derFunktionsträger wie auch des einzelnen Mit-glieds.

Was macht nun den Unterschied auszum Berufsstand der Musiker? Denn bei-den, dem Profi- wie dem Amateurmusiker,geht es um Realisierung von Musik in höchst-möglicher Qualität. Der kleine Unterschied,mit dem man gegenseitig respektvoll um-geht, liegt im Psychologischen und Philoso-phischen.

Profi und Laie

Hier der Profi und sein anspruchsvollerharter Ausbildungsweg, gleichsam eine Ein-bahnstraße auf Grund getroffener Berufs-wahl, die Pflichten und die Einordnung inberufsbedingte Strukturen, tägliche Routineund permanente Konkurrenz, das Risiko, Leis-tung zu wahren, ja zu steigern. Schließlichlebenslange Verpflichtung, mit Musik denLebensunterhalt verdienen zu wollen undzu müssen.

Dort der Laien- oder Amateurmusiker,der sich – wann immer er will – freiwilligeinbringt, Kontakte sucht, sich deshalb freu-dig verpflichtet zur unantastbar wöchentli-chen Probe als Sänger im Kirchenchor oderLehrergesangsverein, als Spieler in der „Wil-den Gungl“, im Blasorchester oder als Part-ner im stillvergnügten Streichquartett derArzt- oder Anwaltskollegen. Er strebt mitseinem Musikmachen nicht nach Profit, abernach persönlichem Gewinn. Umgekehrt lässtsich der Hobby-Musiker seine Liebhaberei(ähnlich wie der Freizeitsportler) allerhandkosten – für Noten, Instrument, weiterbil-denden Unterricht, Reisekosten u. Ä. Nebendiesem finanziellen Aufwand bringen Ama-teurspieler mitunter mehr Zuneigung undEinsatz für ihre Musik mit als manch inzwi-schen gelangweilter Musiker im 30. Berufs-jahr.

Hobbymusiker setzen sich mit ihrer Mu-sik oft intensiv auseinander, bringen hohenSachverstand mit, der dem Profimusikernicht nachsteht. Beide können so mitunter aufhohem Niveau miteinander verbal, manch-mal auch musizierend kommunizieren. Unddiese Laienmusiker sind auch genau jenetreuen und aufmerksamen Konzerthörer,

wie sie sich Profikünstler wünschen, weil ihrSpiel mitvollzogen, kritisch gehört und mitSachverstand gewürdigt wird.

Wenn wir für unsere Jüngsten in Kinder-garten und Schule musikalische Begegnungeinfordern, wenn zigtausende Kinder inMusikschulen oder im Privatunterricht mu-sikalische Ausbildung erfahren sollen, wennimmer mehr junge Menschen bei „Jugendmusiziert“ ihre Leistungsfähigkeit erproben,dann nicht, um sie alle zu Musikern zu ma-chen – das soll Höchstbegabten vorbehal-ten bleiben. Sondern: Weil wir sie zu lebens-langen Liebhabern der Musik machen, alsMusikamateure entlassen wollen, denenMusik ein wichtiges Lebensmittel darstellt.

Und weil sie zugleich als künftige Konzert-besucher jene interessierte Hörerschaft ab-geben, ohne die wiederum die Profimusikerkeine Existenz hätten.

* Musik-Almanach 2003/2004. Daten und Fakten zum Musik-leben in Deutschland, in: Beiträge zum Musikleben in Deutsch-land, Kassel 2002.

FOKUS

Die Zahlen: Orchester, Ensembles, Chöre und Musizierende imLaienbereich in Deutschland 2004 *

Orchester Aktive darunter MitgliederBereich Chöre Instrumentalisten Kinder und insgesamt (aktive

Esembles bzw. Sänger Jugendliche in % und fördernde)

1. Instrumentales Laienmusizieren insges. 29.600 739.300 62 1.634.400

1.1. weltlich 23.400 639.300 66 1.534.000– Blasorchester und Spielmannszüge 18.400 495.600 65 1.358.000

(Bundesvereinigung Deutscher Musikverbände,Deutscher Bundesverband der Spielmannszüge)

– Akkordeonorchester (Dt. Harmonikaverband) 3.500 100.000 80 120.000– Zupforchester, Zithermusikgruppen 750 15.300 45 27.500

(Bund Deutscher Zupfmusiker, Dt. Zithermusik-Bund)

– Sinfonie- und Streichorchester 730 28.400 54 28.900(Bund Deutscher Liebhaberorchester, AG Jugend-orchester der Jeunesses Musicales)

1.2. kirchlich 6.200 100.000 33 100.000– Posaunenchöre (Posaunen- und Jugendwerke

der evangelischen Landeskirchen)

2. Vokales Laienmusizieren insges. 49.300 1.408.200 20 2.486.000

2.1. weltlich 23.700 742.200 16 1.820.000– Chöre, Singgruppen

(Deutscher Sängerbund, Deutscher Allg. Sängerbund,Verband Deutscher KonzertChöre, Arbeitskreis Musikin der Jugend, Internat. Arbeitskreis für Musik)

2.2. kirchlich 25.600 666.000 24 666.000– Kirchenchöre (Posaunen- und Jugendwerke

(Allgem. Cäcilien-Verband, Dt. Chorverband PueriCantores, Verband evangel. Kirchenchöre Deutschlands)

3. Musikschulen 21.200 888.350 93 888.350

4. Privater Musikunterricht 600.000 360.000 98 360.000

5. Volkshochschulen (Kurse im instrumentalen und k. A. 100.000 18 100.000(vokalen Bereich, Ensemblespiel)

6. Rock-, Pop-, Jazz- und Folkloregruppen 50.000 500.000 50 500.000

7. Allgemein bildende Schulen (42.500 Schulen) k. A. 905.000 100 905.000

Laienmusizieren insgesamt 156.100 4.900.850 63 6.873.750

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STATISTISCH GESEHEN:DIE BEUTUNG DES

LaienmusizierensHinter Zahlen verbergen sich gesellschaftliche Prozesse und ökonomische Aspekte –

auch und gerade in der Musikszene. Stephan Schulmeistrat durchleuchtet das Datenmaterial

Gemeinsames Musizieren in Vereinen gehört nach wie vor zu einer derbeliebtesten Freizeitbeschäftigungen der Deutschen. Allein 50 000

Chöre und 30 000 Instrumentalgruppen bereichern das kulturelle Lebenzwischen Hamburg und München, Aachen und Dresden – Gruppen, indenen sich nach Angaben der instrumentalen und vokalen Fachverbändeim vergangenen Jahr mehr als vier Millionen Musikbegeisterte engagier-ten, darunter etwa die Hälfte als aktiv Musizierende.

Vor allem das Singen in Chören ist po-pulär. Die 49000 Chöre, etwas mehr kirch-liche als weltliche, verzeichnen rund 2,5 Mil-lionen Mitglieder, das entspricht etwa einemDrittel der musizierenden Bevölkerung ins-gesamt (siehe Tabelle auf Seite 10). Orga-nisiert sind die Vokalensembles in siebenweltlichen und kirchlichen Verbänden, diewiederum in der Arbeitsgemeinschaft Deut-scher Chorverbände (ADC) zusammenge-schlossen sind.

Bei den weltlichen Verbänden rangiertan oberster Stelle der Deutsche Sängerbund,

dem im Jahr 2004 rund 22 000 Chöre undEnsembles mit über 670 000 aktiven Sän-gerinnen und Sängern angehörten. Im kirch-lichen Bereich verzeichnete der katholischeCäcilien-Verband mit 417 000 aktiven Sän-gerinnen und Sängern die höchste Mitglie-derzahl, gefolgt von den evangelischen Kir-chenchören mit rund 250 000 Aktiven. DieZahl der Nachwuchssänger ist im Durch-schnitt jedoch gering. Nur jedes fünfteChormitglied ist unter 25 Jahren.

Wesentlich höher liegt dagegen die Zahlder jungen Leute, die ein Instrument spie-

len. Weit über die Hälfte der 740000 akti-ven Mitglieder der instrumentalen Laien-musikverbände sind im Kindes- oder jungenErwachsenenalter, drei von Vieren zieht esdabei in Blasorchester und Spielmannszüge.Insgesamt registriert die BundesvereinigungDeutscher Musikverbände mit den ihr ange-schlossenen Bläsergruppen 1,3 der 1,6 Mil-lionen Freizeit-Instrumentalisten, der Restverteilt sich vor allem auf den DeutschenHarmonika-Verband, in dem Akkordeon-orchester organisiert sind, und die Posau-nenchöre der evangelischen Landeskirchen.

Der Bund Deutscher Liebhaberorchesterund die Arbeitsgemeinschaft Jugendorches-ter der Jeunesses Musicales Deutschland, dieSinfonie-, Streich- und Zupforchester ver-schiedener Ausrichtung vertreten, repräsen-tieren durchschnittlich 15000 Instrumenta-listen und bilden somit die zahlenmäßigkleinste Gruppe innerhalb der instrumenta-len Laienmusikverbände. !

11MUSIK�ORUM

Katherina Littkemann und Dominika Heider beimBundeswettbewerb „Jugend musiziert“ 2003

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! Aber auch außerhalb dieser Verbands-strukturen wird musiziert. Schätzungswei-se 2,3 Millionen Deutsche befinden sichin einer musikalischen Ausbildung, wobeinur für die öffentlichen Musikschulen imVerband deutscher Musikschulen (VdM)gesichertes Zahlenmaterial vorliegt. Fürdas Jahr 2004 meldete die Organisationeine Auslastung mit rund 880 000 Schü-lerinnen und Schülern, über 90 Prozentdavon unter 18 Jahren. Darüber hinausnahmen fast 100 000 weitere Musikinte-ressierte an musikalischen Angeboten derVolkshochschulen teil, wie das DeutscheInstitut für Erwachsenbildung in seiner ak-tuellen Jahresstatistik mitteilt.

Für den Bereich der außerhalb der öf-fentlich geförderten Bildungseinrichtun-gen unterrichteten Schüler, die bei Privat-musikerziehern oder an privaten Musik-schulen ein Instrument erlernen, lassensich allerdings nur Größenordnungen aufder Basis von Schätzungen und Hochrech-nungen angeben. Das Deutsche Musik-informationszentrum (MIZ) geht, unter-stützt durch Angaben von Fachverbänden,in einer vorsichtigen Schätzung von rund360000 Schülern in diesem Sektor aus.Etwa die Hälfte davon wurde von priva-ten Musikerziehern und Musikschulen imDeutschen Tonkünstlerverband (DTKV)unterrichtet, weitere 52 000 Schüler lern-ten nach Angaben des Bundesverbandsder privaten Musikschulen an den rund160 Mitgliedsschulen der Interessenver-tretung.

Zunehmende Bedeutungdes Klassenmusizierens

Ferner müssen auch die Schüler be-rücksichtigt werden, die an allgemein bil-denden Schulen musizieren. Ausgehendvon Erhebungen der Kultusministerieneinzelner Länder aus den neunziger Jah-ren wird vermutet, dass sich circa900000 Kinder und Jugendliche in musi-kalischen Aktivitäten der Schulen (Schul-orchester, Chöre, Bands oder sonstige Ar-beitsgemeinschaften) engagieren. Hinge-wiesen sei in diesem Zusammenhangauch auf die zunehmende Bedeutung desKlassenmusizierens oder Überlegungenzu einem erweiterten Musikunterrichtbeispielsweise im Rahmen der Ganztags-

schule, für den zum Teil in Kooperationmit Musikschulen und Laienensembleseinschlägige Konzepte entwickelt werden.

Ebenfalls nur annähernd beziffern lässtsich die Anzahl der Laienmusiker, die inRock-, Pop-, Jazz- oder Folkgruppen mit-wirken. Die hier verwendeten Daten, dieder Deutsche Rock- und Popmusiker-Ver-band nennt, stammen aus dem Jahr 1987und können durch die vielfältigen Verän-derungen innerhalb dieser Szene nur alsMindestangaben verstanden werden.

Die Statistik muss also mit Ungenauig-keiten leben. Auch Doppelzählungen sindmit der gewählten Erfassungsmethode un-vermeidbar, denn der eine oder andereMusiker wirkt in mehreren Ensembles mit,die eine oder andere Musikschülerin singtzusätzlich in einem Chor. Dagegen sindandererseits gerade im Bereich Rock undPop viele Musizierende statistisch über-haupt nicht erfasst. Ausgehend von denMitgliedszahlen der großen Laienmusik-verbände und den übrigen genanntenDaten kann jedoch angenommen wer-den, dass sich rund sieben bis acht Millio-nen Menschen in Deutschland im Musik-leben engagieren. Zu ähnlichen Ergebnis-sen kommen auch private Forschungsins-titute. Nach Freizeitanalysen der BritishAmerican Tobacco belief sich im Jahr 2004der Anteil der Deutschen, die regelmäßig,d. h. mindestens einmal pro Monat musi-zieren, auf neun Prozent oder rund achtMillionen der Gesamtbevölkerung.

Fundierte wissenschaftlich-empirischeUntersuchungen, zumindest in den statis-tisch bisher nur unzureichend erfasstenFeldern, wären dennoch für die Zukunftvon besonderem Interesse.

http://themen.miz.org/laienmusizieren/

MUSIK�ORUM12

Warumich im Orchester

spiele…

Peter (38), Tenorhorn:

„Vom Musikmachen kriegtman einen schönen Durst!“

Laienmusizieren als sozialesEreignis: Wer in einem Orchesteroder in einer Blaskapelle spielt,so sagen es Studien, möchtezuallererst gemeinsam mitanderen die Freizeit gestalten,Kontakte pflegen.

Das MUSIKFORUM befragte Laienmusi-ker des Posaunenchors Bad Wörishofen undder Blaskapelle Grafrath-Kottgeisering nachihrem individuellen Motiv fürs Musizieren –die Antworten finden Sie verstreut in die-sem Heft!

Damit kein Missverständnis aufkommt:Bier trinken ist nicht Beweggrund Nr. 1, dochstoßen auch andere Interviewte in ein ähnli-ches Horn fröhlicher Geselligkeit: „Weil’seine große Gaudi ist“ (Frank, 18, Posaune)oder „Weil Trompete spielen alleine keinenSpaß macht“ (Thomas, 40).

Honi soit qui mal y pense!

Neun Prozent der Deutschenmusizieren regelmäßig

FOKUS

Der Autor:

Stephan Schulmeistrat ist Musik-

wissenschaftler und Assistent der

Projektleitung im Deutschen Musik-

informationszentrum (miz).

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Die Größenordnungen sindbekannt: Mindestens 1,4

Millionen Deutsche singen in49000 Chören. Zwar schlägt Quan-tität nicht zwingend in Qualitätum. Doch zeigt sich gerade imChorwesen: Breite und Spitzegehören immer zusammen undbedingen einander.

Chorgesang in Deutschland ist ein der-art weit verbreitetes und alltäglich anzutref-fendes Phänomen, dass die Gesamtheit und

MUSIK�ORUM 13

auch die Besonderheit dessen, was hier ge-leistet und betrieben wird, zuweilen kaummehr angemessen wahrgenommen wird.Schon deshalb muss es erlaubt sein, gele-gentlich an Zahlen, Basisdaten und -faktenzu erinnern.

Chorgesang ist ein Wirtschaftsfaktor. Inmanchen Zusammenhängen schlägt Quan-tität eben doch in Qualität um: Chöre brau-chen Chorleiter und Noten, veranstaltenKonzerte, beschäftigen Orchester und Solis-ten, nutzen Probenräume und Konzertsäle,buchen Transportmittel und Reisen u. v. m.– kurz: Sie treten als Arbeitgeber und als

Nachfrager nach Gütern und Dienstleistun-gen in einem Umfang in Erscheinung, dervolkswirtschaftlich nicht unterschätzt wer-den darf. Die entsprechenden Aktivitätender Verbände (Fortbildungsveranstaltungen,Kongresse, Festivals, Wettbewerbe, nationa-le und internationale Begegnungen etc.) kom-men noch hinzu.

So ist es nur folgerichtig, wenn kürzlichausgerechnet der Wirtschaftssenator einesdeutschen Stadtstaats ein internationalesChortreffen mit einem hohen siebenstelli-gen Betrag aus seinem Etat unterstützt hat.Bedauerlich allerdings, dass diese Förderung

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ChorgesangHEUTE

Singgruppen sind wichtige Träger der Musik- und Kulturpflege und

bilden quantitativ die Mehrheit im deutschen Laienmusizieren.

Ihre Bedeutung als Wirtschaftsfaktor, ihre gesellschaftliche Leistung und

die politischen Rahmenbedingungen beschreibt Hans-Willi Hefekäuser

Die Bestandsaufnahme:

Barbershopper:„Ladies First“ unter Leitungvon Manfred Adams

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FOKUS

Warumich im Orchester

spiele…

Julika (68), Trompete:

„Ich hatte Blasmusik immer gernund mit 55 endlich Gelegenheit,Trompete zu lernen. Nach einemJahr durfte ich dann im Posaunen-chor mitspielen und wurde reich-lich belohnt als Teil des Ganzen inHarmonien zu baden!“

Martin (14), Lukas (14), Lisa (17), Joseph (13),Percussion:

„Es macht Spaß, Lärm zu machen.“

MUSIK�ORUM14

Chöre leistenunverzichtbareBeiträge zur Pflegevon Kultur undgesellschaftlichenTugenden

nicht einer gemeinnützigen Aktivität einesChors oder eines Verbandes galt, sondernder kommerziellen Veranstaltung eines pri-vaten Unternehmens. So wünschenswert eswäre, die öffentliche Förderung chormusika-lischer Aktivitäten auch als Förderung desWirtschaftsstandorts zu verstehen und zupraktizieren, so bedenklich muss es anderer-seits erscheinen, derartige Unterstützungnicht ausschließlich auf gemeinnützige Akti-vitäten zu konzentrieren. Es kann und wirdja wohl kaum die Absicht staatlicher Stellensein, ehrenamtliche Aktivitäten gegenüberkommerziellen Unternehmungen zu be-nachteiligen oder gar herabzusetzen.

Chöre in der Krise oderim Aufbruch?

Eine generelle Krise des Chorwesens inDeutschland gibt es nicht. Chorgesang undChorkonzert erfreuen sich bei Sängerinnenund Sängern und beim Publikum nach wievor großer Beliebtheit. Natürlich gibt esChöre mit Nachwuchsproblemen, Chöre,

die schrumpfen oder überaltern. Natürlichfinden sich nicht jederzeit an jedem Ortgenügend Interessenten in ausgewogenerStimmlagenverteilung. Natürlich bringenDirigentenwechsel oder Veränderungen imVorstand oder Management eines Chorszuweilen auch den Chor insgesamt in Prob-leme.

Zugleich gilt aber auch das Gegenteil: DieGesamtzahl der Chöre steigt, die Zahl derSänger ist in etwa konstant (was auf einengewissen Trend zu kleineren Chören hin-weist). Die Ansprüche des CD-verwöhntenPublikums sind enorm gestiegen, die Ambi-tionen vieler Chöre aber eben auch. Heutewagen sich viel mehr Chöre an die an-spruchsvolle klassische und moderne Litera-tur als jemals zuvor. Kirchenchöre führengroße Oratorien auf. Jugendchöre gewinnenerkennbar Freude an schwierigsten zeitge-nössischen Werken. Gerade im Chorbe-reich lässt sich feststellen, dass mancherKlangkörper keinerlei Vergleich mit bezahl-ten Profi-Chören zu scheuen braucht.

Beispielhaftes bürger-schaftliches Engagement

Die Anzahl allein der ehrenamtlichenVorsitzenden, Geschäftsführer, Organisato-ren, Kassenwarte, Stimmführer, Notenwar-te etc. geht zwangsläufig in die Hunderttau-sende. In den Chören wird tagtäglichgeleistet und realisiert, was in der Gesell-schaft dringend erwünscht ist und andern-orts häufig schmerzlich vermisst wird: Enga-gement, Teamgeist, Gemeinschaftserlebnis,Disziplin, Leistungsbereitschaft, bessereKonzentrationsfähigkeit, Verantwortung undZuverlässigkeit u. v. m.

Chorsänger sein heißt: ein oder mehr-mals pro Woche mehrere Stunden Probe,viel Aufwand an Zeit und Kraft neben Fa-milie und beruflicher Tätigkeit, Dienst auchan vielen Wochenenden, Konzertreise, Fes-tival und Wettbewerb unter Aufwendungprivaten Erholungsurlaubs – und das allesfreiwillig und unbezahlt. Im Gegenteil: Chor-sänger zahlen Beiträge und müssen Konzer-

te, Reisen und andere Unternehmungen ih-rer Chöre aus eigener Tasche mitfinanzie-ren. Hier wird ein Maß an Gemeinsinn undIdealismus Realität, wie es sich ein Staat undeine Gesellschaft nur wünschen können.

Unbestreitbar positive Aspekte und un-verzichtbare Anliegen des Gemeinwesenswie die höher entwickelte soziale Kompe-tenz und die integrativen Fähigkeiten zurEinbindung und Förderung von Talentenund Randgruppen sind gerade auch alsFrüchte des Singens und Musizierens wis-senschaftlich nachgewiesen.

Chöre dienen ihren Mitgliedern, aberauch der Gesellschaft, leisten Erziehung undvermitteln Bildung, sie verrichten in erheb-lichem Umfang Basis- und Breitenarbeit, for-dern und fördern aber zugleich auch dieSpitzenleistung, sodass alle Unterstützungund Förderung mit öffentlichen Mittelnschon deshalb vollkommen gerechtfertigtsind, weil hier ein unverzichtbarer Beitragzur Pflege von Kultur und zivilgesellschaft-lichen Tugenden geleistet wird, wie ihn derStaat selbst weder organisieren noch erbrin-gen kann und will – und soll.

Ausblick und Perspektive

Kein Licht ohne Schatten, keine Be-standsaufnahme ohne Problemanzeige. Auchdie Welt des Chorgesangs hat mit den Rea-litäten der gegenwärtigen Lage und der ab-sehbaren Entwicklungen zu kämpfen. DieSituation der öffentlichen Haushalte ist undbleibt angespannt. Die finanzielle Förderungvon Konzerten, Projekten, Chören und Ver-bänden wird – bei aller Bereitschaft und beiallem erkennbaren guten Willen der Verant-wortlichen in Bund, Ländern und Kommu-nen – zusehends schwieriger. Die rechtlichenGrundlagen von Urheber- und Verwer-tungsrechten und die daraus resultierendenVerpflichtungen sind für den einzelnenChor kaum noch überschaubar. Ähnlichesgilt für die notwendigen Vorkehrungen undAbsicherungen im Bereich von Haftpflicht-,Unfall- und Rechtsschutzversicherungen.Weitgehend ungelöst sind derzeit auch nochFragen, die sich aus der Kollision von Nach-mittagspräsenz in Ganztagsschulen (für Leh-rer, Schüler und ihre Eltern) mit Chorpro-ben und Übungsstunden am Nachmittagoder frühen Abend für Sänger, aber auch fürhaupt-, neben- und ehrenamtliche Chor- undÜbungsleiter ergeben, die einen wesentlichenTeil ihres Lebensunterhalts in der Schule ver-dienen. Darüber hinaus bleibt nicht zuletztdie elementar gewichtige Sicherung von Be-deutung, Rang und Qualität des Chorge-sangs in Deutschland für alle Beteiligten

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MUSIK�ORUM 15

Der Maulbronner Kammerchor – hier beim Deutschen Chorwettbewerb in Osnabrück – ist der Chor der Klosterkonzerte Maulbronn. Unter seinemLeiter Jürgen Budday zählt er heute zu den Spitzenchören Deutschlands im nicht professionellen Bereich.

ständige Aufgabe und Herausforderung.Diese Aufzählung ließe sich beliebig fortset-zen.

Chorverbände sind gefragt –Kooperation tut Not

Hier sind natürlich in erster Linie dieChorverbände und ihr Dachverband ge-fragt. Die Komplexität der Fragen und Prob-leme, denen sich das Chorwesen heute aus-gesetzt sieht, stellt – wie in allen vergleich-baren Bereichen – auch hier immer höhereAnforderungen an das ehrenamtliche Enga-gement. Hier ist mehr und mehr Professio-nalität unentbehrlich, sodass sich zuneh-mend die Frage stellt, ob und wie ge-währleistet werden kann, dass sich auchweiterhin genügend Menschen finden, die– neben ihrer beruflichen Tätigkeit – ihreKompetenz und ihre Fähigkeiten, ihreKenntnisse und Erfahrungen ehrenamtlichzur Verfügung stellen. Und das nicht hierund da, sondern kontinuierlich und dauer-haft.

Für die Chöre stehen viele Themen imRaum, die Verständnis, Know-how und Po-sitionierung verlangen und zu einem neuenBewusstsein und einer erweiterten Praxispolitischer Interessenvertretung jenseits ei-

nes platten Lobbyismus und eigensüchtigerVereins- und Verbandsegoismen führenmüssen. Solche Themen sind z. B. die ord-nungspolitischen Rahmenbedingungen fürChöre, Chorverbände und Ehrenamtliche,das ebenso weite Feld des Steuerrechts (hiersei an die dankenswerterweise aufgegebe-nen Überlegungen erinnert, Spenden vonUnternehmen an gemeinnützige Institutio-nen wie Chöre als nicht mehr abzugsfähiggelten zu lassen), das Stiftungsrecht, Musik-unterricht in Schule und Ausbildung, Musikals unverzichtbares Bildungsgut, die Kultur-politik in Bund, Ländern und Gemeinden,die notwendige und sicherlich erneut in dieDiskussion kommende Reform des Födera-lismus mit ihren Auswirkungen auf die Kul-tur, die Kulturpolitik der Europäischen Union(in ihren Auswirkungen auf uns vielfach un-terschätzt), die Auswirkungen internationa-ler Handelsabkommen auf die öffentlicheKulturförderung in Deutschland (unzulässi-ge „Staatshilfe“ für „private Dienstleistun-gen“?), die soziale Sicherung von Künstlern,die Kultur-Enquete-Kommission des Deut-schen Bundestags oder die Rahmenverein-barungen mit Verwertungsgesellschaften.

All diese Aspekte erfordern verstärkteAbstimmung, Kooperation und – noch zuwenig geübt, aber wünschenswert – eine be-

wusste und gewollte Arbeitsteilung; einer-seits mit den Zusammenschlüssen der in-strumentalen Laienmusik, andererseits mitden thematisch verwandten oder überge-ordneten Dachverbänden und Organisatio-nen des Kulturlebens wie z. B. den Kultur-stiftungen des Bundes und der Länder, denprivaten Musik-Stiftungen sowie dem Deut-schen Kulturrat, vor allem aber dem Deut-schen Musikrat. Die bessere Vernetzung derAktivitäten in den verschiedenen musik-und kulturtreibenden und -pflegenden Be-reichen kann sicher nicht schaden. Sie solltedaher Programm und Zielsetzung sein. Mandarf zuversichtlich sein, dass die hier Ange-sprochenen dies nicht grundlegend anderssehen.

Der Autor:

Hans-Willi Hefekäuser ist Präsident

der Arbeitsgemeinschaft Deutscher

Chorverbände und Präsidiumsmit-

glied des Deutschen Musikrats.

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MUSIK�ORUM16

FOKUS

FORUM FÜR UNDChormusikDer Deutsche Chorwettbewerb:

!„I Vocalisti“, Gewinner beim

6. Deutschen Chorwettbewerb2002 in Osnabrück:

30 stimmlich und musikalischvorgebildete junge Sänger aus

Norddeutschland, die sichzusammengefunden haben,

um auf professionellem Niveauanspruchsvolle geistliche und

weltliche Chormusik zuerarbeiten.

Fotos: Hoerseljau

Vergleich, Begegnung, Fortbildung und Dokumentation der

Leistungsfähigkeit der Chöre in Deutschland:

Andreas Bomba skizziert die Geschichte und Ziele des großen

Sängertreffens – eines Projekts des Deutschen Musikrats

?Soulfood to go –mitreißend, pulsierendfunky: der 50-köpfigeGrooveChor ausHamburg unterLeitung vonMartin Carbow.

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MUSIK�ORUM 17

LebensgefühlAUTHENTISCHES

„Chor ist super. Absolut geil!“ Mikro auf – schöner O-Ton!Ja, Jugendliche haben gelernt, spontan und am liebsten im Fern-

sehen (Rundfunk geht gerade auch noch) Begeisterung zu äußern!Genau so erlebt man es beim Deutschen Chorwettbewerb, wo jungeSängerinnen und Sänger mittlerweile die Mehrheit der Teilnehmer stellen.

Der Wettbewerb selbst gibt sich offiziö-ser. Da heißt es in der Ausschreibung – we-nig emotional, wenn auch nicht unrichtigformuliert –, dass Chorsingen eine gemein-same künstlerische Leistung darstelle, einLeistungsvergleich Anregungen vermittle

und die Begegnung verschiedenerChöre die Breitenarbeit fördere.Dann ist auch von Lust, Lernbe-reitschaft und Disziplin die Rede. !

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FOKUS

In nun bald 25 Jahren ist aus dem Deut-schen Chorwettbewerb tatsächlich ein Fo-rum geworden: für die Chormusik an sichund für das über Chormusik vermittelte, au-thentische Lebensgefühl. In Europa und da-rüber hinaus ist das nahezu einmalig. Des-halb kommen Fachleute und Chormusik-freunde immer wieder gerne zum Deut-schen Chorwettbewerb und bewundern dieDeutschen, dass sie eine solche Veranstal-tung in Zeiten knappen Geldes und sich ste-tig „verknappenden“ Kulturbewusstseinsalle vier Jahre auf die Beine stellen. SchiereMasse braucht man dazu nicht und keineAnleihe bei olympischen Gedanken undMarkennamen. Für einen der begehrtenPreise beim Deutschen Chorwettbewerb istauch nicht die Kassenlage des Vereins maß-geblich, sondern Leistung und Können derChöre sowie die Qualifikation ihrer Diri-gentinnen und Dirigenten.

Chor ist, wenn sich Menschen zusam-menfinden, um gemeinsam miteinander zusingen. So einfach! Kulturhistoriker verbin-

Dirk (42):

„Weil es Spaß macht, in einerGruppe mit einem Altersspektrumvon 10 bis 70 zu musizieren.“

Thomas (40), Trompete:

„Weil Trompete spielen alleinekeinen Spaß macht.“

Armin (40), Tuba:

„Ich spiele im Orchester, weil dasFernsehprogramm so schlecht ist.“

MUSIK�ORUM18

den dieses Phänomen gerne mit dem Prin-zip der Demokratie: Der freie, emanzipierteBürger organisiert sich und seine kulturellenBedürfnisse selbst und in eigener Verant-wortung. Tatsächlich kamen in DeutschlandChöre just mit dem Beginn des „bürgerli-chen Zeitalters“ auf, also etwa nach 1800.Vielleicht lag es an der Zersplitterung desLandes, dass diese Bewegung sich rasch inalle Winkel und Gegenden, in Stadt undLand ausbreitete. Selbstverständlich habenChöre auch die Höhen und Tiefen der fol-genden Jahrhunderte miterlebt, sogar mitbe-trieben. Chöre sind, unterhalb der so wichti-gen Spaßebene, nicht weniger als ein Spie-gel der Gesellschaft. Seriös formuliert: Wiein keiner anderen Sphäre des öffentlichenLebens verbinden sich im Chor künstleri-sche, soziale, pädagogische und gesellschaft-liche Ideale.

Chöre wirken integrierend

„Künstlerisch“ bedeutet: Das Chormit-glied hat die Möglichkeit, an der Entstehunggroßer Kunstwerke teilzuhaben, sie zu erler-nen, zu verstehen und aufzuführen. „Sozial“bedeutet: Das Chormitglied begibt sich ineine Gemeinschaft aktiver Menschen, teiltihre Freude, Stimmungen und Nöte, kannin gleicher Weise seine individuellen Fähig-keiten einbringen, wie er Geborgenheit undSolidarität erfährt. Chöre wirken integrie-rend, arbeiten weltanschaulich und konfes-sionell übergreifend und bieten insbeson-dere Jugendlichen und Alleinstehenden dieMöglichkeit zu einer als sinnvoll empfunde-nen Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.„Pädagogisch“ bedeutet: Die aktive Beschäf-tigung mit Kunst und Musik bildet die Per-sönlichkeit. Das Erlebnis des gemeinschaft-lichen Singens, einer nicht alltäglichen Aus-drucksweise, wirkt befreiend und befriedi-gend. Der Grad dieser Bestätigung wächstmit der Qualität des musikalisch Erreichten.Der kollektive Aspekt, unter dem dies imChor geschieht, unterstützt die kommunika-tiven Fähigkeiten jedes Einzelnen. Das Chor-mitglied bringt sich in ein Ganzes ein, ohnedie eigene Persönlichkeit aufgeben zu müs-sen. „Gesellschaftlich“ bedeutet: Jedes Chor-mitglied trägt verantwortlich mit am kultu-rellen Leben seiner Umgebung in Stadt undLand.

Warum ein Chorwettbewerb?

In den Jahren nach 1968 gehörte einigerMut dazu, solche Sätze zu formulieren. Diegesellschaftlichen Theorien lauteten anders.Noch mehr Mut und Energie brachten die-

Singen in derGemeinschaftwirkt befreiend undbefriedigend

jenigen auf, die aus ihrer Erkenntnis eineIdee formulierten und diese Idee auchgleich umsetzten: Wir brauchen einen Deut-schen Chorwettbewerb. Warum?

Schon zu Beginn des 20. Jahrhundertshatte es so etwas wie einen Generationen-konflikt gegeben. Plötzlich gab es eine Ju-gendbewegung. Die Jungen wollten andersleben als ihre Eltern. Sie sangen auch andereLieder. Sie dachten auch politisch anders,bisweilen radikaler. Und nicht zu vergessen:Das Leben änderte sich. Radio, Kino, derJazz, das Auto! Was davon bewahrt, weiter-geführt oder aber ignoriert und völlig neubegonnen werden sollte, war Inhalt des kul-turellen Diskurses nach dem Zweiten Welt-krieg. „Keine Experimente“ hier, „Aufbruch“dort. Chormusik und Chöre wurden mitden drei großen „G“ als politisch inkorrektgebrandmarkt: Gemeinschaft, Gesangver-ein, Geselligkeit. Von Kunst war in diesemZusammenhang – in einflussreichen kultur-kritischen Kreisen, die zumal das Etikett derAvantgarde für sich in Anspruch nahmen –keine Rede mehr.

Lernen statt singen

Als unmittelbare Folge begann das Fun-dament brüchig zu werden: Neue Anforde-rungsprofile veränderten z. B. Qualität undDurchführung des Musikunterrichts in denSchulen. Es wurde gelernt, nicht mehr ge-sungen. Dazu kam das Gemenge aus Mu-sikkonsum, Internationalisierung, Individua-lismus und Professionalisierung – die Ele-mente der aufkommenden Popkultur. Lieb-haber der Chormusik dagegen konntenwahrnehmen, wie mittlerweile Menschenan anderen Plätzen dieser Welt die Idee„Chor“ voranbrachten – natürlich in jeweilsanderen Traditionen und unter anderen Be-dingungen. Man hörte dem Rundfunkwett-bewerb „Let the peoples sing“ zu oder fuhrzu Veranstaltungen wie „Europa Cantat“.Deren jugendliches und strikt qualitätsorien-tiertes Ambiente erreichte aber nur be-stimmte Teile der Chorszene. Auch die sichvornehmlich in Skandinavien entwickelndespezifische Klangkultur des Chors gehörthierher: das Verständnis von Chor als musi-kalischem Kollektiv mit kammermusikali-schen Strukturen, eigenen ästhetischen Nor-

Warumich im Orchester

spiele…

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MUSIK�ORUM 19

Entwicklung undInnovation – diesesspannende Erlebnisermöglicht derChorwettbewerb

men und Ausdrucksweisen und einer indi-viduellen, vokaltypischen Literatur. DieseEntwicklung gipfelte in einer neuartigen En-semblekultur, die den einzelnen Sänger imKollektiv emanzipierte – es entstanden Grup-pen, die traditionelle Begriffe wie „Chor“,„Kantorei“ oder „Vokalensemble“ bewusstgegen Bezeichnungen wie „Vokalsolisten“aufgaben.

Diese Ansätze sollten nun auch nachDeutschland transportiert werden; „Choir iscoming home“ sozusagen. Der 1982 zu die-sem Zweck erstmals durchgeführte Deut-sche Chorwettbewerb packte noch eines

drauf – mit Verbesserungen der Chorlitera-tur auch und gerade durch Komponistenaus Deutschland, die sich der Chormusikund ihren Ausdrucksmöglichkeiten entzo-gen hatten und nun für dieses Terrain zu-rückgewonnen werden sollten. Die Verbes-serung der künstlerischen Ausführung kamhinzu. Und diese Impulse, in die Breite wei-tergegeben, sollten einen Sogeffekt erzeu-gen. Jedenfalls steht es so oder ähnlich nochheute in den Ausschreibungen – nicht, weil

das Ziel nicht erreicht worden wäre, son-dern weil das Erreichen der Ziele Appetitauf mehr gemacht hat.

Damals war der Sinn solcher Wettbewer-be umstrittener als heute. Natürlich: Höhe,Weite, Dauer, Tore und Punkte gehören indie Domäne des Sports. Musik entzieht sichmessbaren Kriterien. Bedenkenträger sindfreilich am wenigsten die Musiker selbst:Einen Vortrag langfristig vorzubereiten unddann auf den Punkt zu bringen – das ist ihreMotivation. Man (das gilt für den Einzelnenebenso wie für das Kollektiv „Chor“) willeinfach sehen, hören und fühlen, wozu manin der Lage ist und was andere können. In-teressanterweise gibt es ehrgeizige Chöre,die mehrmals am Deutschen Chorwettbe-werb teilnehmen und so, über lange Distan-zen hinweg, von ihrer kontinuierlich qualifi-zierten Arbeit Zeugnis ablegen. Danebenaber machen immer wieder auch neueChöre, neue Dirigenten von sich reden. Ent-wicklung und Innovation – dieses spannen-de Erlebnis ermöglicht nur der DeutscheChorwettbewerb!

Veränderungen gibt es seit zwanzig Jah-ren bei der Statusfrage der Chöre. Auf siehat die Ausschreibung des Deutschen Chor-wettbewerbs immer wieder reagiert. Von„Laienchören“ zu reden mag jenen ehren-voll erscheinen, die mit diesem Begriff dieFreiwilligkeit ihres Tuns reklamieren unddamit ihrer ohnehin respektablen Leistungeine Art Bonuspunkt hinzugewinnen möch-ten. Allerdings kann der Begriff auch diskri-minierend wirken: Er suggeriert nämlich einequalitative Distanz zu den vermeintlich bes-seren „Berufschören“. Außer den am Thea-ter beschäftigten Chören mit ihren ganz spe-

zifischen Aufgaben und den(noch!) sieben Rundfunkchö-ren gibt es jedoch keine Berufs-chöre in Deutschland. Die Ab-grenzung an sich ist also un-nötig. Im Gegenteil: Die stei-gende Zahl und Qualität insbe-sondere der Kammerchöre hatsogar das Selbstverständnis undSelbstbewusstsein der Rund-funkchöre beeinflusst. Sie be-trachten sich nicht mehr alsAnhängsel eines Orchesters,sondern als eigenständiges Kol-lektiv mit eigenen Konzertenund eigener Dramaturgie. Siestoßen in künstlerische Berei-che vor, die für Ensembles ohneden finanziellen Hintergrundeiner Rundfunkanstalt uner-reichbar sind. Besondere Leis-tungen im Bereich neuer, aber

auch älterer Musik wirken wiederum zurückauf die gesamte Szene. Man darf sich das alsWechselspiel vorstellen, vergleichbar mitdem Leistungs- und Breitensport. Und gerneauch als Argumentationshilfe gegen Bestre-bungen, Rundfunkchöre abzuschaffen, umdie Fußball-Bundesliga zu unterstützen.

Neue Herausforderungen

Chor ist ein Spiegel der Gesellschaft.Hierzu eine Beobachtung. Mit dem schwin-denden Pflichtbewusstsein gegenüber derGruppe – ein Phänomen, das auch politischeParteien, Kirchen, Gewerkschaften und an-dere gesellschaftliche Gruppierungen ken-nen – wächst die Einforderung von Spaßund Erlebnis. Der Typus Chorsänger, der 40Jahre lang zur Probe geht, weil er es schonimmer so gemacht hat, stirbt aus. DiesesProblem auszusitzen, anstatt ihm produktivzu begegnen, bedeutet das sichere Ende ei-ner Chorgemeinschaft. Die Mobilität derMenschen leistet ihrer Neigung Vorschub,sich den Chor nach der Qualität der Chor-leiter, der Attraktivität der Literatur und denAnnehmlichkeiten des gesellschaftlichenDrumherums auszusuchen und nicht mehr,wie noch zu Beginn des Jahrhunderts, nachdem Sitz des Chors am Wohnort. Milieusund heimatlich-dörfliche Strukturen habenihre Tragfähigkeit eingebüßt. Also müssendie integrierenden Faktoren der chorischenBasisarbeit neu belebt, Offenheit gegenüberanderen Generationen und Menschen an-derer Herkunft, gegenüber neuen Musik-und Veranstaltungsformen erprobt werden.Eine neue Herausforderung auch für denDeutschen Chorwettbewerb? !

Vocal-Swing in großer Besetzung: Der Jazzchor Freiburg begeistert Publikum und Presse („A firework of rhythm“)in der ganzen Welt und war u. a. Gewinner beim Deutschen Chorwettbewerb 1998.

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Zulauf für Jazzchöre,Rückgang bei Männerchören

Aus den statistischen Zahlen (siehe Arti-kel auf Seite 11) ergibt sich die ungebroche-ne Attraktivität des Singens im Chor. DerZuwachs verteilt sich jedoch nicht gleichmä-ßig auf alle Bereiche. Zulauf haben die ge-mischten Chöre, vor allem die überall sichbildenden „Jazzchöre“, die das Lebensgefühlder Zeit vielleicht am schnellsten und un-kompliziertesten auf den gemeinsamen Ge-sang übertragen und dem Chor ins-gesamtneue Schichten erschließen können.

Um die Chancen für Kinder- und Jugend-chöre wird es so lange nicht besser ausse-hen, wie der so genannte PISA-Schock dasDenken lahm legt. Politik wird auf rasche,zählbare Erfolge ausgerichtet. Die Aussicht,dass Änderungen an der Organisationsformund die verbesserte technische Ausstattungder Schulen das Volk beruhigen, scheint loh-nender, als den eher mittelfristig wirksamenErkenntnissen von Pädagogen und Hirnfor-schern zu folgen: dass nämlich Musik-machen, und darunter das gemeinschaftlicheSingen, den entscheidenden Schritt zur Ver-besserung darstellt. Die Forderung, flächen-deckend die Ganztagsschule einzuführen,birgt in gleichem Maße Chancen wie Risi-ken. Sie wird die Kluft zwischen den institu-tionell, z. B. an einer Schule verankertenChören und den frei an Kirchen oder in Ver-einen organisierten vertiefen. Denn welchesKind wird am Abend noch zum Chor ge-hen wollen und können? Hier ist also Ko-operation zwischen Schulen, Verbändenund Musikschulen gefragt, und die ist – so-weit zu beobachten – meist auf Erfolg ver-sprechendem Wege.

Die Sorgenkinder

Dem steten Rückgang bei den Männer-chören steht ein Zuwachs bei den Frauen-chören entgegen. Diese Tendenz spiegeltsich jedoch, aus unterschiedlichen Gründen,nicht in den Teilnehmerzahlen beim Deut-schen Chorwettbewerb wider. Beide Gat-tungen gehören hier eher zu den Sorgenkin-dern. Nur wenige Männerchöre sind bereitoder in der Lage, sich den qualitativen An-forderungen des Wettbewerbs zu stellen.Oder soll man sagen: Nur wenige Chorlei-ter sind bereit, ihre Chöre von der Notwen-digkeit einer Teilnahme zu überzeugen? Beiden Frauen gibt es – vielleicht bedingt durcheine schwierige Literatursituation – einekleine Gruppe hervorragender Chöre, diejedoch nicht die Spitze einer breiten undorganischen Basis zu bilden scheint.

Einer in der Chorszene weit verbreitetenMeinung zum Trotz werden Chöre und ihrTun auch in der Öffentlichkeit wahrgenom-men und beachtet. Dies geschieht mit stei-gender Tendenz, jedoch nicht unbedingt ineiner von den Chören vorab bestimmten undgerne gesehenen Richtung. Wie die Chöresich die Publizität ihres Tuns wünschen, istnämlich alles andere als eindeutig. Es bedarfdaher, den Gesetzen der Medien entspre-chend, einer von allen getragenen Strategie.Um sie zu definieren, sollte man sich nichtscheuen, Begriffe aus anderen Sprachen,insbesondere der Welt des Marketings undder Dienstleistung heranzuziehen. Beginnenmuss eine solche Strategie mit dem Interes-se der Chöre an der Arbeits- und Funktions-weise der Medien. Es ist eine Illusion zu glau-ben, Medien seien dazu da, die Wirklichkeitabzubilden. Vor allem das Fernsehen, aberauch Radio und Print-Presse selektieren In-formationen, definieren das Interesse ihrerKundschaft mehr oder weniger selbst, rich-ten es – da unterscheiden sich „private“ und„öffentlich-rechtliche“ Medien nur noch un-scharf – nach kommerziellen oder Quotenbringenden Kriterien aus und erfinden zudiesem Zweck schon einmal künstliche Wirk-lichkeiten. Alles ist im Fluss – in der Infor-mationsgesellschaft hat jeder um seinenPlatz zu kämpfen.

Techniken, sich einen Platz im Licht der– wie auch immer definierten – Öffentlich-keit zu sichern, müssen mit viel Innovations-kraft, Teamgeist, Fantasie und Einsatz ge-meinsam für die Sache entwickelt werden.Dies fängt damit an, jede begeisterte Chor-sängerin, jeden zufriedenen Chorsänger alsMedium für den Chor an sich zu gewinnenund zu betrachten. Ein wohl schwierigerWeg, aber doch wohl spannender und loh-

FOKUS

MUSIK�ORUM20

Eine Stadt im Sängerfestfieber: Zuschauer und Mitwirkende bei der Ergebnisbekanntgabe desOsnabrücker Chorwettbewerbs 2002.

Wie man sich einen Platz im Licht der Öffentlichkeit sichert

nender, als sich an medientypische Erschei-nungsweisen anzupassen, sie zu kopierenund in den konformen Bahnen der Unter-haltungsindustrie aufzugehen.

„Chor ist super. Absolut geil!“ Das darfruhig auch für die Planer, „Macher“ und Be-gleiter des Deutschen Chorwettbewerbs gel-ten. Und heißt: ein dickes Buch voller Erfah-rungen, ein Schatz an künstlerischen Erleb-nissen, ein prallvolles Pflichtenheft für dieZukunft – und speziell für 2006, wenn inKiel vom 20. bis 28. Mai der 7. DeutscheChorwettbewerb stattfindet.

Ein Tipp für Politiker: Was Sie sich imAugenblick besonders wünschen, nämlicheine positive Einstellung gerade junger Men-schen zu sich selbst, zu ihrer Zukunft undzur Gesellschaft, ist mit Hilfe dieser Veran-staltung relativ einfach zu fördern. Und – ge-messen an der Eigeninitiative der Teilneh-mer – zu moderaten Kosten!

Der Autor:

Dr. Andreas Bomba arbeitet als Jour-

nalist, Dramaturg und Berater für Zei-

tungen, Rundfunkan-stalten, Verbände

und andere Institutionen des Musik-

betriebs. Er ist Mitglied im Bundes-

fachausschuss Musik und Medien des

Deutschen Musikrats. Den Deutschen

Chorwettbewerb verfolgt er seit 1982.

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MUSIK�ORUM 21

Sterben die Männerchöre all-mählich aus? Jedenfalls sind

unter den rund 60000 Chören inDeutschland immer weniger davonzu finden. Höchste Zeit gegenzu-steuern. So kreierte der Landes-musikrat Hamburg unter demMotto „Jungs mit starker Stimme“die „Tage der Knaben- undMännerchöre“ – um zu beweisen,dass „mann“ sehr wohl singt.

Auch hier geht es eben zunächst um dieVermittlung. Mit dem NDR, dem Bundes-verband Deutscher Gesangspädagogen, demChorverband Hamburg, der Staatlichen Ju-gendmusikschule Hamburg und weiterenKooperationspartnern wurden Mittel undWege aufgezeigt, die – über das „Was“ hi-nausgehend – vor allem das „Wie“ in denMittelpunkt rückten.

Neue, auch unkonventionelle Präsenta-tionsformen waren da zu sehen, beispiels-weise vom schwulen Männerchor „ScholaCantorosa“. Das Ensemble tritt kostümiertauf, baut Tanz und szenische Elemente mitein, reichert die Klavierbegleitung durchZuspielungen von Geräuschcollagen an undüberschreitet mit seinen witzigen Text- undMusikparodien gekonnt die Grenze zurKleinkunst. Eher auf traditionelle Methodik

Jörg Riedlbauer über eine aussterbende Chor-Spezies und die

Imagekorrektur-Maßnahme des Landesmusikrats Hamburg

WIE BRINGT MAN ZUM SINGEN?

setzt hingegen der Leiter der ChorknabenUetersen, Hans-Joachim Lustig. Nichtsdesto-weniger lockert er seine Abfolge von Einzel-stimmen- und Tuttiproben durch Entertai-nerqualitäten auf, redet mit dem Tempoeines Talkmasters. Mit durchaus respektab-lem Ergebnis: Beim vergangenen DeutschenChorwettbewerb kam Lustig auf den Spit-zenplatz.

In Hamburg schickte er die Älteren sei-ner Chorknaben zum NDR-Chor weiter.Solche Vernetzungen des professionellen

mit dem Laienmusizieren sind nicht nurkünstlerisch, sondern auch kulturpolitischbedeutsam. Einerseits ermöglichen die Pro-fis den qualitätsorientierten Hobbysängerneinen Feinschliff in Sachen Dynamik oderArtikulation, betten sie in einen ganz anderenGesamtklang ein. Andererseits bilden dieLaien das unverzichtbare breite gesellschaft-liche Fundament für den Profichor, was fürdie zunehmend in Frage gestellten Rundfunk-klangkörper von existenzieller Relevanz ist.

Verankerung an der Basis

Die Theater praktizieren dies mit ihrenbedarfsweise hinzugezogenen Extra- bzw.Sonderchören schon seit langem mit Erfolg,was gerade an kleineren kommunalen Häu-sern beträchtlich zum Wir-Gefühl zwischen

der Bevölkerung und „ihrem“ Opernhausbeiträgt. Die Rundfunkklangkörper glaubtenbislang, diese zugleich nützliche Form derqualifizierten Öffentlichkeitsarbeit nicht zwin-gend praktizieren zu müssen, doch auch siebedürfen mehr denn je der Verankerung ander Basis. Dem NDR Chor mit seinem jun-gen Chorleiter Olof Boman machte derGrenzübertritt hörbare Freude. Hier, wie auchin der ausschließlich dem Berufschor gewid-meten öffentlichen Probe, zeigte Boman sei-ne ausgeprägten Fähigkeiten als Vokalklang-zauberer, Stimmtrainer und Detailarbeiterebenso wie seine künstlerische Stilsicherheitinnerhalb der Repertoirebreite von Mozartzur Moderne.

Wie bringt man Mann nun zum Singen?Elisabeth Bengtson-Opitz vom Bund Deut-scher Gesangspädagogen hat da ihre ganz

Grenzübertritte mit hörbarer Freude:Der NDR Chor und sein Leiter Olof Bomanpflegen das klassische und romantischeRepertoire ebenso wie das zeitgenössische.

Mann

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MUSIK�ORUM22

Der Autor:

Dr. Jörg Riedlbauer studierte Musik-

wissenschaft, Germanistik, Dirigieren

und Komposition und war Assistent für

Musikwissenschaft an der Universität

Regensburg (1990 bis 1992). Seit 1993

ist er Generalsekretär des Bayerischen

Musikrats; diverse kompositorische

Arbeiten in den Bereichen Oper, Ora-

torium, Symphonik und Lied.

Angesichts dieser Vielfalt und Komple-xität, auch angesichts der hohen Beteili-gung heterogenster Bevölkerungsgruppen– etwa hinsichtlich der sozialen und derAltersstruktur – ist das Laienmusiziereneine der wichtigsten Teilkulturen in derKölner Gegenwart, eine Säule des Musik-lebens der Stadt. Der ehemalige Frankfur-ter Kulturdezernent Hilmar Hoffmannschrieb sogar, dass „ein Indiz dafür, ob eineStadt wirklich Kultur auf breiter Basis be-sitzt, der Grad aktiver künstlerischer Betäti-gung breiter Teile der Bevölkerung ist, dieKunst nicht professionell ausüben“.

Laien-, Hobby- oder Amateurmusikersind alle diejenigen, die ihren Lebensunter-halt nicht hauptberuflich mit ihrem Musi-zieren verdienen. Ein anderes, für alle Laien-musiker zutreffendes Merkmal, das siegleichzeitig von professionellen Künstlernabgrenzt, gibt es nicht. Denn: Die „Quali-tät“ des Musizierens ist auf keinen Fall einsolches Kriterium. Deutlich wird das, wennman zum Beispiel an die Arbeit der Chöredenkt. Chorwerke werden fast ausschließ-lich von Laienchören aufgeführt – und dasauf dem so genannten „professionellenNiveau“, wie es viele Chorkonzerte immerwieder beweisen. Ohne das Engagement

Jeden frühen Abend, so gegen sieben oder halb acht, macht sich –durchschnittlich gesehen – in jeder Straße Kölns ein Mensch auf den

Weg zu seinem Chor. Zum Kirchenchor, Männerchor, Kammerchor,Konzertchor, Universitätschor, alternativen Chor, Jazzchor.Damit nicht genug: Weitere Kölnerinnen und Kölner besuchen ein- oderzweimal in der Woche die Proben von Spielmannszügen, Blaskapellen,Folkloregruppen, Amateur-Sinfonie-Orchestern, Streichquartetten,Mandolinenorchestern, Rock- und Popmusik-Bands. Mit anderen Worten:Es gibt kaum ein Musikgenre in Köln, das nicht von Laienmusikgruppengepflegt würde.

Das Spektrum des deutschen Laienmusizierens

aufgefächert und illustriert am Beispiel der Stadt Köln

von Astrid Reimers. Im Vordergrund dabei die Frage,

was Laienmusiker für die Gesellschaft leisten

der Chorsängerinnen und -sänger würdengroße Werke wie die Bach’schen Passio-nen wohl kaum mehr live zu hören sein.Ein anderes Beispiel ist die Rock- und Pop-Szene: Ohne die Amateure ist eine profes-sionelle Rock- und Popmusik nicht denk-bar, denn die professionellen Rockmusiker

Stadtkultur auf breiter Basis: das Akkordeon-orchester EWA aus Köln-Poll.

eigenen Vermittlungstechniken und lässt ihreMännergruppe beim Schnupperkurs erst ein-mal Luftballons aufblasen. Kann Mann dannaus ihrer Sicht richtig atmen, geht’s mit Gym-nastik und Jogging weiter. Bengtson-Opitz holtsie also gleichsam vom Sportplatz ab; erstallmählich lässt sie auf bequeme und beliebi-ge Töne einfache Worte wie „Hallo“ singen.So entsteht ganz natürlich ein Klang, der all-mählich unter ihrer Anleitung veredelt wird.

Mit Kindern muss natürlich anders be-gonnen werden. Ulrich Kaiser vom NeuenKnabenchor Hamburg und Rosemarie Pritz-kat vom Knabenchor St. Nikolai setzen ander kindlichen Erlebniswelt an. Anhand ei-nes tropfenden Wasserhahns etwa schultKaiser mit rhythmusbetonten Liedern quasinebenbei das Takt- und Tempogefühl. DieLiedertexte werden erst nachgesprochen,darauf lässt Kaiser gezielt einzelne Wort-lücken, die von den Kindern ergänzt werden.Faszinierend zu beobachten, wie rasch sichschon die 4-Jährigen etwas merken können.Mitunter wird der Text nur geflüstert, einandermal sehr laut gesprochen – so entwi-ckeln die Kinder ihr Gefühl für Dynamik.Noten sind erst einmal tabu. Erst zumSchluss verteilt Kaiser seine Blätter „für zuHause“. So erschließt sich die Bedeutung dermusikalischen Zeichensprache über den Textund das Sich-Erinnern.

Auf Noten verzichtet zunächst auchPritzkat; die werden später in einem eige-nen Kurs erklärt. Sie singt ihren 5-Jährigenlieber so lange vor, bis sie es können. So wirdSingen zugleich zum nützlichen Gedächtnis-training. Und mit ihrer motivierenden En-gelsgeduld, ihrem liebevollen Insistieren undden ebenfalls von der kindlichen Erlebnis-welt ausgehenden Übungen („Mach mal dei-ne Lippen wie ein Karpfenmaul!“) kommtsie in überschaubarer Zeit mit spontan ausdem Publikum herausgegriffenen Kindernzu vorzeigbaren Ergebnissen.

Insgesamt ein Projekt mit Vorbildcharak-ter, das zur Weiterarbeit anregt.

FOKUS

HOBBY? Musik!

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MUSIK�ORUM 23

spielten vorher als Amateure. Auch in derAusbildung stehen Laienmusiker professio-nellen Künstler vielfach nicht nach: ZweiDrittel der knapp zweihundert Kölner In-strumentalisten, die im Rahmen eines For-schungsprojekts befragt wurden, erhieltenUnterricht auf dem Instrument, das sie imEnsemble spielen – die Orchestermusikerdurchschnittlich sogar achteinhalb Jahrelang.

Was motiviert Laienmusiker?

Die häufigste Antwort auf diese Frage:Freude an der Musik und am Musizieren.An zweiter Stelle standen die Besonderheitdes Repertoires der jeweiligen Ensemblessowie die Geselligkeit und das gemeinsameMusizieren. Das Repertoire spielt bei derWahl eines Instrumentalensembles oder ei-nes Chors eine große Rolle. Dafür sprichtschon, dass sich in Köln die „Laienmusik-Szene“ so facettenreich ausdifferenzierthat.

Für alle Repertoires gibt es spezielle En-sembles – für „maritime Folklore“ z. B. denShanty-Chor „Rheinmöwen“ Köln. Als Ver-einslokal mit passendem Ambiente dientden Sängern die Gaststätte „Im Leucht-

turm“, deren Dekoration stilgerecht ausAccessoires wie Buddelschiffen, Ankernund Rettungsringen besteht. SeemännischeVergangenheit und die Liebe zum mariti-men Repertoire führte die Mitglieder desShanty-Chors zusammen: „Wir sind zwarfast alle ehemalige Seefahrer. Aber das istbei uns nicht unbedingt erforderlich, wirhaben auch Leute, die nie auf See warenund einfach Lust und Liebe für die mariti-me Folklore haben.“ In seinem Repertoireunterscheidet der Chor zwischen „mariti-mer Folklore“ – Übertragungen von engli-schen Shanties ins Deutsche sowie Lie-dern, die von der Seefahrt und vom Meerhandeln – und den traditionellen engli-schen Shanties, also den Arbeitsliedern, diedie Aufgabe hatten, die Aktivitäten mehre-rer Matrosen zu synchronisieren.

Auch im Bereich der Instrumental-musik werden Repertoires gepflegt, die esohne Laienmusiker vermutlich gar nichtgeben würde, etwa in der Mandolinen-musik. In den Kompositionen und Spieltech-niken der Mandolinenorchester ist ihreGeschichte und Entwicklung bewahrt. Sofinden sich z. B. im Repertoire der KölnerMandolinen-Konzert-Gesellschaft „Harmo-nie“ Potpourris populärer Wander- und

Werksmusikpflege – ein interessanter Bereichdes Laienmusizierens und wichtiger Bestand-teil der Corporate Identity: Das Musikkorpsder Kölner Verkehrs-Betriebe wirbt für seinUnternehmen in der Fußgängerzone.

Volkslieder, aber auch Bearbeitungen alterMusik, Stücke mit Titeln wie „Ein gut Dan-zerey – fünf Tänze um 1600“, die an dieEntstehung und den Boom der Mandoli-nenorchester in der Zeit der Wandervögelund der Jugendmusikbewegung erinnern.Die volkstümlichen Stücke hingegen wer-den in der bekannten „Tremolo“-Technikgespielt, die in der italienischen Volksmu-sik entstand und sich in der Romantik des19. Jahrhunderts allgemein durchsetzte.Die ursprüngliche Mandolinen-Technik,ein einmaliges Anzupfen, „Abschlagen“ ge-nannt, wurde ab Mitte des 20. Jahrhun-derts in der Zupfmusik-Erneuerung, etwavom Komponisten Konrad Wölki, wiederaufgegriffen.

Eine große, bislang nicht annähernd be-schriebene Vielfalt an Genres und Musik-stilen ist den in Köln lebenden Migrantenund Kölnern mit Migrationshintergrund zuverdanken. Das Statistische Amt Köln ta-

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Johannes (20):

„Weil man sich beim gemeinsamenMusizieren versteht, ohne vieleWorte wechseln zu müssen.“

Sabine (39), Tuba:

„Weil ich alte Musik liebe unddavon gibt’s in der Kirchenmusikreichlich.“

MUSIK�ORUM24

FOKUS

Warumich im Orchester

spiele…

Mit Zither undHackbrett:Die Kölner

Stubenmusi.

belliert für das Jahr 2003 über 90 Nationali-täten mit einer jeweils nennenswerten Zahlan Menschen. Hinzu kommen regionale undethnische kulturelle Unterschiede innerhalbder Nationalitäten. Viele brachten ihre Mu-sik mit, pflegen ihre Musik, haben Musik-ensembles im Amateurbereich. Dass dieserReichtum musikalischer Formen und Klän-ge weiten Bevölkerungskreisen unbekanntist, mag mehrere Ursachen haben. So sindzum Beispiel Musikethnologen traditionellerSchule eher an der Musikausübung am Her-kunftsort jeweiliger Musikgenres interessiertals an der Musikausübung vor Ort. Zumanderen treten die entsprechenden Musik-gruppen am ehesten im Rahmen eigenerFeste und vor eigenen „Landsleuten“ auf;damit bleibt ihre Musik anderen Mitbürgernverschlossen. Auftrittsgelegenheiten wie zumBeispiel die „Porzer Kulturtage“, eine dreitä-gige Veranstaltung, bei der die in Köln-Porzlebenden ethnischen Gruppen ihre Musikzu Gehör bringen können, sind eher eineAusnahme.

Über die Musikausübung der nach Eth-nien getrennten Musikgenres hinaus gibt es

jedoch auch musikalische Begeg-nungen, die sich in Musikgruppenmanifestieren. Die „Schäl Sick BrassBand“ etwa begann als große„multi-ethnische Familie“ (aus:Booklet zur CD Majnoun), beste-hend aus Amateurmusikern und-Sängern wie auch aus Professio-nellen, und hat sich mittlerweileaufgrund ihrer Erfolge und derentsprechenden Nachfrageprofessionalisiert. „Global den-ken, lokal blasen“ ist der Leit-satz dieser eher ungewöhn-lichen „Blaskapelle“, derenMitglieder sich u. a. aus eineriranischen, einer nordamerika-nischen und einer bulgari-schen Sängerin, einem Sängeraus Guinea-Bissau sowie ei-nem indischen Perkussionis-ten zusammensetzen. Die „Schäl Sick BrassBand“ ist neben der „Pudelbande“ (einemKegelclub älterer Damen mit einemteilweise als „schweinisch“ bezeichneten köl-nischen Liedrepertoire) Kernstück einesmulti-ethnischen Projekts namens „HumbaEfau“. Es umfasst Musikgruppen und Solis-ten, die die traditionelle Kölner (Karnevals-)Musik mit den Elementen ihrer verschiede-nen Musikkulturen verbinden – eine „Welt-karnevalskultur“, die nicht nur im Karneval,sondern auch in den sommerlichen Schre-bergärten Kölns ihr Publikum findet.

Alpenländisches im Rheinland

Ein Beispiel aus der älteren Kölner Mig-rationsgeschichte ist ein Import aus Bayern:die „Stubenmusi“. Das Ensemble, das dieseMusik in Köln pflegt, gehört dem Bayern-

und Schuhplattlerverein „D’Wendlstoana“an. Dieser Kölner Bayern-Verein wurde1925 von Kolpinggesellen ins Leben geru-fen, die es aus Bayern in die Industriegebie-te des Rheinlands und nach Köln verschla-gen hatte. Die Kölner Stubenmusi ist mitZithern, Hackbrett, Gitarre und Bass bzw.Harfe besetzt. Aufbauend auf der Arbeit desbayerischen Volksmusikers Wastl Fanderlpflegt man „originalgetreue“ alpenländischeMusik. Volkstümliche Musik wie das Kuf-steiner Lied, die sie als „Bayern-Ferien-Mu-

„Global denken, lokal blasen“:Zur „Humba Party“ präsentieren sich in Kölnmulti-ethnische Musikgruppen, die die Musikdes Kölner Karnevals mit Elementen fremderMusikkulturen verbinden.

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MUSIK�ORUM 25

Laienmusik steht oft für soziales EngagementIm Bild: Das Jugend-MandolinenorchesterPiccolo aus Köln-Eberfeld.

sik“ bezeichnen, spielen die Musiker der„Stubenmusi“ nur, wenn das Publikum esunbedingt verlangt.

Was bewirken Laienmusikerin unserer Gesellschaft?

Das Laienmusizieren ist „Team-Arbeit“und hat sowohl eine Innen- als auch eineAußenwirkung mit bedeutender sozialerKomponente. Das gemeinsame Musizierenmit seinen zwischenmenschlichen Erfahrun-gen stärkt die soziale Kompetenz. Die Laien-musikgruppen sind vielfach von freund-schaftlichen und sogar familiären Strukturengeprägt.

Als Kunst, die einem Publikum dargebo-ten wird, verbindet sich das Laienmusizie-ren auffallend häufig mit sozialem Engage-ment. Durch viele ihrer Auftritte nehmenLaienmusikgruppen soziale Aufgaben wahr,sei es im Jugend- oder im Seniorenbereich,oder auch im Krankheitsfall. Beispiel: dasKöln-Poller Akkordeonorchester EWA. Wennjemand, der den Mitgliedern des Orchestersbekannt ist, im Krankenhaus liegen muss,muntern die Musiker ihn mit ihrer Musikauf. Die positive Wirkung ihres Musizierensauf die Patienten wurde sogar von einemArzt bestätigt: „Wenn wir die Musik hierhaben, dann merken wir, wie unsere Patien-ten gesund davon werden.“ Auch der Senio-renbereich ist den Poller Akkordeon-Spie-lern ein besonderes Anliegen: „Wir meldenuns in irgendeinem Altenwohnheim an.Zum Beispiel sind wir Stammgast in Deutzoder im Deutschorden-Stift in Neubrück.Und dort treten wir dann auf.“ Das Musizie-ren für Alte oder Kranke hat eine durchausgeplante Wechselwirkung, wie der Vorsit-zende von EWA sagt: „So lernen die jünge-ren Orchestermitglieder auch mal andereMenschen kennen, die nicht auf der Sonnen-seite des Lebens leben.“

Eine weitere Form sozialen Engagementssind Benefiz-Konzerte, die Pflege von Hei-sche-Bräuchen für soziale Zwecke oder dasSpenden von Verkaufserlösen. Die Mitglie-der des Kirchenchors von St. Hermann-Jo-sef in Köln-Dünnwald beispielsweise ließeneinen alten Pfingst-Heische-Brauch wiederaufleben: Als „Pingsjonge“ sammeln sie Eier,aber auch andere Lebensmittel und Geld,um diese an Bedürftige im Ort weiterzulei-ten. Dazu singen sie ein traditionelles Hei-sche-Lied, das mit den Worten schließt:„Mer dun uns och bedanke, et es all för ärmLück (Leute) und Kranke.“ Ein anderes Bei-spiel ist der Jugendchor St. Stephan – eingroßer und bekannter Chor mit einem viel-fältigen Repertoire und ausgedehnter Tour-

neetätigkeit –, der zusammen mit zwei wei-teren Chören eine CD aufgenommen hat,wobei die Erlöse an die Kinderkrebsstationder Universitätsklinik Köln gingen.

Vor Ort…

Eine Fülle von Beispielen sozialintegrati-ver Funktionen des Laienmusizierens findetman in den Kölner Vierteln und Stadtteilen,etwa die Aktivitäten des Männerquartetts„Frohsinn“ 1925 Immendorf, eines Männer-chors aus dem im Süden Kölns gelegenenOrt Immendorf. Als die zukünftigen Bewoh-ner einer neuen Wohnanlage einzogen, hießder Männerchor die Neu-Immendorfer zu

deren Überraschung mit einem Ständchenwillkommen und lud zu einer ersten Kon-taktaufnahme ein – Fässchen und Schnitt-chen hatte der MGV mitgebracht. SozialesEngagement in Verbindung mit der Verwur-zelung im Stadtviertel und der Pflege vonBräuchen kennzeichnen die (nicht nur) mu-sikalischen Aktivitäten vieler Laienmusik-gruppen.

…und international

Doch nicht nur vor Ort werden Bezie-hungen geknüpft. Internationale Verbindun-gen werden von vielen Kölner Laienmusik-gruppen gepflegt. Wie viele andere Chöretritt auch der Kölner Bäckerchor im Ausland

auf. Vor allem in den Jahren nach demZweiten Weltkrieg waren diese Konzertrei-sen als Anfang einer neuen Völkerverstän-digung gedacht, wie etwa 1967 eine Reisenach Prag anlässlich des 25. Gedenktages andie Vernichtung von Lidice. Das internatio-nale Engagement des Bäckerchors erhieltsich bis in die neuere Zeit.

Der bereits erwähnte Shanty-Chor pflegtinternationale Kontakte aufgrund eines ge-sellschaftspolitischen Anliegens, so trat er z. B.auf einem als touristische Attraktion durch-geführten internationalen Shanty-Chor-Fes-

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MUSIK�ORUM26

So haben die musikalischen Aktivitätender Laienmusiker – durch ihr besonderesEngagement – neben ihrer künstlerischenRelevanz auch eine hohe soziale und sozial-integrative Funktion, dessen weitreichendeBedeutung für unsere Gesellschaft einerbreiten Öffentlichkeit wenig bekannt ist undmehr Aufmerksamkeit verdient.

Literatur:

Pape, Winfried/Pickert, Dietmar: Amateurmusiker: Von derklassischen bis zur populären Musik. Perspektiven musikali-scher Sozialisation, Frankfurt am Main 1999.Probst-Effah, Gisela/Reimers, Astrid (Hg.): Laienmusizieren inNordrhein-Westfalen, Münster 2003.Reimers, Astrid: Laienmusizieren in Köln, Köln 1996.

Hilfe für Liverpool: Der Kölner Shanty-Chor„Rheinmöwen“.

Die Autorin:

Dr. Astrid Reimers arbeitet seit 1988

am Institut für Musikalische Volkskunde

Köln und hat sich der Förderung des

Laienmusizierens ebenso wie der

Kommunalpolitik verschrieben.

FOKUS

tival in Liverpool auf. Diese Stadt, so berich-tet ein Chormitglied, sei „in den letzten Jah-ren so sehr von der Arbeitslosigkeit betrof-fen. Die Leute dort müssen natürlich etwasdagegen tun, z. B. den Tourismus ankurbeln.Wenn man dann bei solchen Maßnahmenhelfen kann und sei es mit einem Konzert,sollte man es auch tun.“

Das MUSIKFORUM brachte die Hobby-musiker zusammen, die sich in der Sphäreder Musik sonst wohl nie begegnet wären.Warum entwickeln sich junge Leute so un-terschiedlich, wo war die Weiche im musi-kalischen Lebenslauf? Wir führten eine un-geniert unrepräsentative Umfrage durch –eine kurz belichtete Aufnahme zweier musi-kalischer Sozialisationsprozesse, die nichts-destotrotz ein gutes Stück des gesellschaft-lichen Panoramas einfängt.

„Ich bin von Anfang an den klassischenWeg gegangen“, erzählt Inga, deren Elternbeide in Laienchören singen und die denMusikgeschmack der Tochter schon in frü-her Jugend nachdrücklich prägten. „Zuhau-se hörte die Familie eigentlich nur klassi-sche Musik – im Radio und von der Schall-platte.“ Schon als „lütte Deern“ hat die Ham-burgerin mit der Blockflöte und später derAltflöte begonnen, im Alter von sieben kamdas Klavier hinzu. „Schon frühzeitig hatteich aber den Wunsch, ein Orchesterinstru-ment zu erlernen und habe mich – da warich elf Jahre alt – für das Cello entschie-den.“ Als Teenie habe sie zwar nebenherauch gerne populäre Musik gehört, aber„die Klassik hat für mich immer einen be-sonderen Stellenwert behalten“.

Ganz anders die Verhältnisse im „Hau-se Bolze“ – in einem bürgerlichen, hand-werklichen Milieu: „Meine Eltern“, berich-tet Robert, „sind völlig unmusikalisch. Dietanzen zwar gerne, aber das ist auch alles.“In Berührung mit der Musik kam auch ermit vier, fünf Jahren. Er erinnert sich anden Bekannten seines Opas im Vogtland,hinter dessen Plüschsofa eine alte Gitarreverstaubte. „Die habe ich mir als kleinerSteppke gegriffen und darauf endlos he-rumgeklimpert. Da kam zwar nichts Ver-nünftiges raus, aber ich hatte einen Riesen-spaß und wollte nur noch eins: Gitarrelernen!“ Ein Jahr später zu Weihnachten lagdann ein großes Paket unterm Tannen-baum und darin – eine echte Musima-Gi-tarre für einen strahlenden Robert. DieGroßeltern hatten die Begeisterung desJungen ernst genommen. Und schon mitsechs Jahren besuchte Robert die Falken-seer Musikschule, nahm in einer Lerngrup-pe Fingerfühlung mit den Saiten der Kon-zertgitarre auf. Erlebte auch schnell dieersten Erfolgsmomente, als er vor Elternund Schülern vorspielen durfte.

Befragt nach ihrem prägenden Erlebnis,nach der Initialzündung fürs Musikma-chen, schüttelt Inga Vietzen den Kopf. Die-

Leben ohne Musik? Unvorstellbar! Das gilt für beide jungen Musiker.Doch sind sie von früh auf ganz unterschiedliche Wege zur Musik

gegangen: Inga Vietzen spielt Cello, liebt Schostakowitsch und Brahms,Robert Bolze ist Gitarrist in einer Rockband und steht auf Led Zeppelinund Fiction Factory. Wir fragen: Warum entscheiden sich junge Instru-mentalisten – abseits professioneller Ambitionen – für Klassik oder Pop,diesen scheinbar so diametral gegenüberstehenden Musikwelten?

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Inga (26), gebürtige Hamburgerin,studiert in Berlin Anglistik und Ver-gleichende Literaturwissenschaft,steht vor dem Magisterabschluss. Inder Freizeit spielt sie Cello in der Stu-dentischen Philharmonie der Hum-boldt-Universität. Berufswunsch: einJob im Verlagswesen oder Journalis-mus. Das Bild zeigt sie als 12-Jährige.

Robert (21) kommt aus demhauptstadtnahen Falkensee, lässtsich momentan am Berliner Institutfür Musiktherapie ausbilden undnutzt jede freie Minute, um Gitarrezu spielen, Rocknummern einzuübenund Popsongs für seine Band zuschreiben.

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sen entscheidenden Moment habe es nichtgegeben. „Es war einfach der warme Klangdes Cellos, der mich fasziniert hat. Ich hattees auch kurze Zeit mit der Geige versucht,fand daran aber nicht soviel Spaß. Auchzum Klavier habe ich nie einen so engenBezug gefunden. Am Cello ist man irgend-wie näher dran und kann über das Vibratomehr mit den Tönen machen.“ Inga liebt ihrInstrument, hat aber andererseits nicht nurgute Erinnerungen an den ersten Cello-Un-terricht. Der sei über längere Zeit gar nichtso angenehm gewesen. Einerseits, weil „ichein bisschen schüchtern war“, andererseits,weil doch ein „gewisser Zwang zum Üben“im Raum stand. „Erst später, mit der Erfah-rung des Orchesterspiels, hat mir das Musi-

zieren wirklich Spaß gebracht und hat be-gonnen, mir selbst und meinen Wünschenzu entsprechen.“

„Das Volkstümliche gingmir gegen den Strich“

Wie lief es mit dem Gitarrenunterricht?ABC-Schütze Robert Bolze hatte zunächstsein Vergnügen – aber auch nicht allzu lan-ge. Die ersten Griff-Erfolge waren bald aus-gereizt, die Gitarrenlehrerin sei „so ver-quatscht“ gewesen und habe ihn nur mitvolkstümlichen Weisen (Alle Vöglein sindschon da) und klassischen Stücken gelang-weilt. „Das ging mir voll gegen den Strich“,erinnert sich Robert. Dass die Finger began-

nen weh zu tun, sei halb so schlimm gewe-sen, aber dass man in der Musikschule seineLinkshändigkeit ignoriert habe, „das warschon merkwürdig und wahrscheinlich einGrund dafür, dass die Lernerfolge nachlie-ßen und Defizite entstanden“. Andererseits:Bis heute ist Linkshänder Robert ein „Rechts-Schrammler“ auf der Gitarre geblieben. Diesinnvolle Umkehr – die zuständige Gehirn-hälfte hätte es ihm vielleicht gedankt – istihm nach resoluten Musikschuljahren nichtmehr geglückt. Warum er konsequent „dran“geblieben ist am Unterricht? „Weil ich inWarteposition war“, verrät Robert, „um denPlatz in der E-Gitarrenstunde zu ergattern.Mit der elektrischen Gitarre begann der Spaßsowieso erst richtig!“ !

Zwei junge Hobbymusiker begegnen sich ohne Vorurteile:

MEETS E-GitarreCelloDie Wege zweier passionierter Instrumentalisten zu Klassik und Pop beschreibt Werner Bohl

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FOKUS

So weit, so gut – was den privaten musi-schen Unterricht in der Freizeit angeht. Wel-che Bedeutung aber hatten die Musikstun-den in der Grundschule und vor allem imGymnasium für das musikalische Faible?„Der schulische Musikunterricht“, bedauertInga, „hat auf mein Interesse für das Musizie-ren keinen Einfluss gehabt. Eher schon dasfreiwillige Spielen im Schulorchester. EinenLehrer, der das Erlernen eines Instrumentsangeregt hätte, hatten wir nicht.“ SchlechteErfahrungen machte sie auch gelegentlichmit den Mitschülern; da hätte es immer ei-nige gegeben, die sie in die „Klassik-Ecke“abgestellt und ein bisschen „verarscht“ hät-ten – eine unangenehme Erinnerung, aberauch eine Zeiterscheinung, die sie bald selbst-bewusst übergehen konnte.

Robert schaut zufriede-ner auf die Schulzeit zurück:„Der Musikunterricht war inder Grundschule ein Raumfür mich, wo ich die Saurauslassen konnte. Ich durfteGitarre vorspielen, die ande-

ren haben zugeguckt und ich hab’s genos-sen, vor allem beim Weihnachtsfest.“ Beson-ders lobt Robert die Musikleistungskurse aufdem Gymnasium – die seien „toll“ gewesen,sowohl theoretisch und musikhistorisch wiepraktisch. „Da haben wir Projekte und The-menabende organisiert, dafür speziell Räu-me geschmückt und Musikstücke geschrie-ben.“ Seine Musikbegeisterung habe dadurchnur gewonnen.

Roberts Worten folgt Inga Vietzen fastein wenig neidisch. „Ich habe gegensätzlicheErfahrungen“, berichtet sie, „Musikstunde –das war eher abschreckend! Die wenigen,die ein Instrument beherrschten, konntenmit dem Unterricht eigentlich gar nichts an-fangen. Es gab nur einen richtig guten Leh-rer, der Begeisterung für Musik überzeu-gend vermitteln konnte.“ Inga hätte imGymnasium durchaus ihren musischenFrust „geschoben“, wäre da nicht das Schul-orchester gewesen, das sich zu einer „einge-schworenen Gemeinschaft“ entwickelt hät-te, in der das gemeinsame Musizieren mitLust und Laune verbunden war.

Sehr viel intensiver gestaltete sich für siedie musische Ausbildung am Konservato-rium in Hamburg, wo sie im Alter von 14Jahren nicht nur einen neuen Lehrer fand,sondern auch in einem Celloquartett und

Kammermusikduo spielte, mit denen siekleinere Auftritte absolvierte. Drei Jahre spä-ter ein weiterer wichtiger Schritt: Ingas Ein-tritt in das Hamburger Jugendorchester. DasEnsemble hat sie dazu motiviert, mehr zuspielen, mehr zu üben: „ein Push-Faktor!“Im Jugendorchester war die Qualität dermusikalischen Arbeit plötzlich eine ganz an-dere, viel höhere. Professionelle Ambitionenals Cellistin, so Inga, habe sie aber nie wirk-lich entwickelt. „Da hätte ich viel früher an-fangen und das Musizieren noch intensiverbetreiben müssen.“ Jetzt sei sie froh, nieernsthaft über den Beruf als Musikerin nach-gedacht zu haben. Dazu hätte sie sich zustark auf die Musik konzentrieren müssen;die sei für sie – bei ihrem großen Literatur-Interesse – eben doch nicht alles im Leben.

Robert ist heute – neben seiner Ausbil-dung zum Musiktherapeuten in Berlin – Gi-tarrist in einer Amateurband. „Rock’s Core“spielen zu fünft Rock, Pop, Oldies, Partymu-sik und die Charts der 60er bis 90er „raufund runter“, verdienen sich Geld mit gele-gentlichen Wochenend-Gigs. – Wie wurdeRobert Bolze zum Rock-„Gitarrero“? Wiewar das mit dieser „E-Gitarre“ in der Musik-schule? „Am Anfang ging es mir gar nichtum Rockmusik“, gesteht er ein, „der wich-tigste Aspekt war für mich die Elektronik ansich, die Kabel, die Anschlüsse, die Effektge-räte. Ich interessierte mich einfach für dieTechnik und für die Möglichkeiten, der Gi-tarre mithilfe dieser Technik die verrücktes-ten Klänge zu entlocken.“ Aber bald seiauch die Musik selbst in den Vordergrundgerückt. Sein Musikschullehrer, selbst zeit-weise Gitarrist in der Modern Talking-Band,habe ihn optimal angeleitet, sei auf ihn ein-gegangen, indem er ihn die Musiknummernund die Sounds spielen ließ, zu denen erLust hatte. Bald keimte der Gedanke, in ei-ner Band zu spielen, zunächst noch ohne

klare Konturen. Ein Freund am Gymnasiumwar es schließlich, der ihn im Rahmen einesschulischen Musikprojekts ansprach, ob ernicht Lust hätte, in eine neue Band einzu-steigen. Robert hat nicht gezögert. Er war16, plötzlich Mitglied in einer Popgruppeund genoss den Höreffekt, Teil eines sound-starken Ensembles zu sein.

Eine Karriere als Popstar hält er – nun fünfJahre älter und reifer geworden – für eherunrealistisch. „Das ist blauer Dunst und auchGlückssache.“ Er will sich ein sicheres beruf-liches Standbein schaffen, feilt andererseitsaber mit seinen Kollegen an eigenen Songs– wer weiß, was die Zukunft bringt?

Werden die musikalischen Fertigkeitennoch fortentwickelt? „Ich habe schon langenicht mehr an meinem Cellospiel gearbei-tet“, gesteht Inga, „würde aber gerne wiedermehr Kammermusik machen. Wenn manimmer nur im Orchester spielt, schleichensich Fehler, Ungenauigkeiten ein. Man hörtsich selbst zu wenig.“ Reizvoll fände sie esauch, einmal etwas ganz Neues auf demCello auszuprobieren. „Fortbildung? Nurnoch im Selbststudium“, sagt Robert. „Ichbesorge mir Bücher mit Gitarrenakkordenoder treibe Gehörbildung, indem ich mirStücke anhöre und dann versuche, die Har-monien nachzuspielen.“

Vorurteile oder gar Vorbehalte haben diebeiden jungen Hobbymusiker nicht, was dieMusikvorlieben des jeweils anderen angeht.Inga hört ohnehin regelmäßig Popmusik,hätte keine Probleme damit, sich ein Kon-zert von „Rock’s Core“ anzuhören. Und auchRocker Robert hatte jüngst eine befriedigen-

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Weihnachtsbaum-Idylle mit Musik: Der 6-jährige Robert mit seiner neuen Gitarreund die „lütte“ Inga beim Flöte-Vorspielen in den Achtzigern.

„Im Musikunterrichtkonnte ich die Saurauslassen!“

„Ich würde gernmal etwas Neuesauf dem Celloausprobieren.“

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de Begegnung mit der Klassik: „Ich habe mirvor kurzem eine CD mit Mozart und ande-ren Komponisten gekauft. Echt günstig, vierEuro neunzig für drei CDs!“ Warum? „Weilda Entspannung draufstand! Und weil ich imRahmen meines Musiktherapie-Studiumsein Praktikum mit geistig behinderten Kin-dern mache, mit denen ich musiziere undEntspannungsübungen treibe. Ich fand dieMusik richtig schön, kann dabei abschalten,auch ganz gut arbeiten.“ Klassische Musik,erklärt Robert, sei im Vergleich zur Popmu-sik ohnehin besser anwendbar in seinem zu-künftigen Beruf als Musiktherapeut.

Wie viel Zeit wird in die Musik investiert,ist sie nur die schönste Nebensache? „Sie istmehr als das“, versichert Robert. „Wenn ichin meinem Nebenjob Essen ausfahre, höreich Kassetten und übe so meine Lieder ein.Mein komplettes Geld, fast meine ganzefreie Zeit stecke ich in die Musik. Ich kannnicht anders, ich bin vereinnahmt von derMusik.“ Inga musste in letzter Zeit – nacheiner Sehnenscheidenentzündung – notge-drungen kürzer treten. Wenn sie gesund ist,sagt sie, hat sie fast täglich ein wenig Zeit fürdas Cellospiel und zum Üben. Hinzu kom-men die wöchentlichen Proben mit der Stu-dentischen Philharmonie und regelmäßigeWochenendtreffen des Studentenorchesters.

Kommunizieren mit Musik

Auf die allgemeine Frage, was ihr Musikbedeute, denkt Inga Vietzen eine Weilenach: „Natürlich spielt sie eine ganz zentraleRolle. Wobei mir, glaube ich, der Aspekt derKommunikation und des persönlichen Aus-drucks fast am wichtigsten ist. Auf der Ebe-ne der Musik lässt es sich ganz anders,vielleicht sogar intensiver mit anderen Men-schen kommunizieren als auf der verbalen.Ein Leben ohne Musik kann ich mir garnicht mehr vorstellen.“

Aus Robert Bolze sprudelt es hervor:„Mit Musik kann ich Gefühle äußern, ohneWorte zu sagen. Wenn es mir dreckig geht,spiele ich Gitarre. Mit Musik kann ich michabreagieren. Und dann steht mir auch manch-mal eine Träne im Auge.“ Früher, bevor erin der Band spielte, sei er schüchtern gewe-sen, erzählt Robert. Mit der Musik, mit denLive-Auftritten vor vielen Menschen habe ersich persönlich profiliert, weil er Anerken-nung bekam, plötzlich akzeptiert wurde.„Musik hat mich stark gemacht. Ich gehejetzt sicherer und selbstbewusster durchsLeben. Und ich habe gelernt, mit Menschenumzugehen, auf sie zuzugehen und bessermit auftretenden Problemen klar zu kom-men.“

Denkt ein „Laien-Beobachter“ der deut-schen Musiklandschaft über den Begriff„Laienmusik“ nach, drängen sich ihm ver-mutlich Bilder auf vom Paukisten im Spiel-mannszug des Turnvereins, vom Trompeterder Blaskapelle der Freiwilligen Feuerwehr,von den Streichern des Collegium Musicumoder der Sängerin im Liederkränzchen. DerTerminus „Laienmusik“ scheint vordergrün-dig traditionell besetzt. Wofür die Laien-musiker selbst am wenigsten können.

Halten wir aber fest: Über die tradierten,historisch verwurzelten Musikreviere hinausgibt es vielfältige andere Schau- und Spiel-plätze des Laienmusizierens – seien esWorkshops für Neue Musik, der esoterischeDidgeridoo-Club oder die zahllosen Probe-räume, in denen junge Pop- und Jazzmusi-ker jammen und vielleicht den Traum vonder Profikarriere träumen. Überall gebenAmateure den Ton an und die verschiedens-ten Töne ab.

Wovon der durchschnittliche Musikinte-ressierte über 30 freilich nichts ahnt, ist eineLaienszene, die ganz im Verborgenen blüht,die eine (musikalische) Sprache spricht, dienur PC-Freaks, Loop-Artisten und Sound-hacker verstehen. Isoliert oder nur im engs-ten Kreis der Eingeweihten vor dem PC lüm-melnd, tauchen blässliche Teens und Twensin Musik-Computerprogramme ab, samplenherunterfallende Tassen, Gangster-Groovesund Indianergesänge, synchronisieren überMIDI virtuelle Instrumente und digitale Ton-collagen. Und scheren sich einen Teufel umunverfälschten Klang und Urheberrecht.

Soft- statt HardwareWovon die Rede ist? Von Hausmusik am

Heimcomputer! Es geht um die jüngste undgleichzeitig radikalste Spezies des Amateur-musikers, die per Mausklick und Computer-tastatur ihre Lust am ungehemmten Musik-Kreieren auslebt. Etliche Hunderttausendemögen es schon sein, die in Deutschland ihrprivates Tonstudio im Billig-PC installierthaben. Das Beherrschen eines analogenNaturinstruments ist nicht länger Vorbedin-gung. Denn Soft- ersetzt Hardware. Univer-seller als der Computer ist eh kein Instru-ment der Welt. Da werden Klänge erforscht,manipuliert, verhackstückt, gemixt und ge-

quirlt. Nichts ist vor der elektronischenaAttacke der Soundklempner sicher. JedeSchallquelle – egal, ob Bratsche oder Bass,Sinfonieorchester, Operndiva oder Eminem– wird digital simuliert, über Klanggenera-toren und Frequenzmodule gleich wiederverfremdet und an- und übereinander mon-tiert. Ergebnis: neue mehr oder weniger ori-ginelle Musikwerke aus vorhandendenSoundschnipseln.

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Hausmusik am Heimcomputer:

Über die jüngste und radikalste Form des Laienmusizierens

Gute Grooves sindGemeineigentum

Christian ist mit seinen knapp 18 Jahrenschon der coolste Rapper im Berliner VorortFalkensee. Im elterlichen Keller: Sitzsofa,Ghettoblaster, Schwarzbier, Kippen, Misch-pult und PC. Er zieht sich „fette Beats“ vonCDs seiner HipHop-Protagonisten auf denRechner, von Masterminds wie MC Basstard,Buchido, Frauenarzt oder King OrgasmusOne. Basismaterial aus dem Berliner Gangs-ter-Rap-Underground. Die Künstler dieserweitgehend unkommerziellen Szene akzep-tieren nicht nur den Sound-Klau, er gehörtfür die meisten zum Gesamtkonzept undgeht voll in Ordnung. Gute Grooves sind Ge-meineigentum.

Als Kind hatte es Christian mit der Gitar-re versucht, nahm Unterricht. „Das war nichtmein Fall. Zu langweilig und irgendwie warich auch zu faul zum Üben. Mit 12 hab ichohnehin schon ganz andere Musik gehört:HipHop-Sachen von Der Wolf, Deichkind,Beginner.“ Der Jüngling war gerade mal 13,14 Jahre alt, als er merkte, dass der Heim-PC mehr hergab als nur Adventure- und Bal-lerspiele. Da konnte man sich eine Studio-

Tonstudio im PC: Musikprogramme ersetzenanaloge Instrumente.

TÖNE – ERFORSCHT UND

verhackstückt

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Frust raus: Christian rappt auf die Tonspur.

software wie MusicMaker besorgen und mitFantasie an eigenen Rapnummern basteln, diesonst nur aus dem Radio hämmerten. Klar, eshat eine Weile gedauert, bis er es zu einergewissen Versiertheit gebracht hat. Aberinzwischen „geht alles ganz easy: Ich suchemir geile instrumentale Elektro-Beats aus,Takes mit Drums, Bass und Keyboards, schnei-de sie zu Tracks aus Vers- und Chorusteilenzusammen und schraube am Sound rum.“ Dannder Text. Rap-Lieder ohne Reime sind keine.Und was für Reime: Hardcore! Zügellose, ag-gressive, nur selten heitere Life-Stories ausdem Jugendalltag. Saufen, Mädchen, Chillen– Battles gegen die, die einen dissen, Kontergegen alles, was nervt und ankotzt. „Ich schreibmir den Frust, die Aggressionen, Stress mitder Freundin, aber auch den Spaß mit denKumpels von der Seele.“ Dann greift sich Chris-tian das Mikro, macht eine entschlossene Mie-ne und rappt seine schroffen Botschaften aufdie Tonspur über den Samples. Oft hängt erso mit Freunden im Keller rum, entwickelt mitihnen Track-Ideen und brennt neue Nummernauf CD. Für alle, die es hören wollen – in sei-ner kleinen Community.

Um ihn herum ist die Bewegung der Ton-laboranten längst global organisiert. Auf Web-sites zur Musik-Software „Reason“ veröffent-lichen sie ihre Werke zwischen HipHop, Tech-no und Klangexperiment. Charts sorgen – wieauf dem kommerziellen Tonträgermarkt – fürHierarchien unter den Soundkünstlern, produ-zieren Stars der Insiderszene. In Internetforenwerden die digitalen Erzeugnisse leidenschaft-lich diskutiert und Infos über Software-Modu-le ausgetauscht. Die neuen Hook- und Chord-synths bieten Diskussionsstoff ebenso wie diePads und Synthstrings und die Multisamplesaus dem Recycle-Kit, die auf „brutal-fetten, ge-stackten Stereo-Synthwaves basieren und imUnison-Mode gesampelt sind. Natürlich mitEnvelope-Filter“.

Noch Fragen?Werner Bohl

„Die Lust, in eine Musikschule zu gehen“wäre das Gegenprogramm zu dem inDeutschland um sich greifenden Aktionis-mus, der eine der wichtigsten Bildungsein-richtungen nicht nur in Frage stellt, sondernzu zerschlagen droht. Mit Peter Röbke, dereine Professur an der Universität für Musikund Darstellende Kunst in Wien hält,sprach Hans Bäßler.

Ihr Buch soll insbesondere Laienklar machen, dass Musikschulen in unsererGesellschaft wichtig sind. Geht man vomersten Eindruck aus, dann hat man dasGefühl, in Österreich gehen die Uhren – imHinblick auf Musikschulen – anders als inDeutschland, denn im Alpenland scheinen sienoch Konjunktur zu haben.

Peter Röbke: Das kann man wirklichsagen. Deshalb bin ich auch als gebürtigerDeutscher, ehemaliger Berliner Musikschul-leiter und Funktionsträger im Verbanddeutscher Musikschulen (VdM) durchausfroh, inzwischen in Österreich tätig sein zukönnen, habe ich doch als Hochschulleh-rer für Instrumentalpädagogik eng mit denMusikschulen zu kooperieren. Es gibteinige Fakten, die zunächst in quantitativerHinsicht belegen, dass die Musikschulenin diesem Land tatsächlich einen anderenStellenwert haben: Zunächst ist die reineGesamtschülerzahl recht hoch – wirhaben in Österreich fast 160 000 Musik-schüler. Zum Vergleich: Deutschland hatzehnmal so viele Einwohner und etwaeine Million Musikschüler.

Interessanter ist es aber zu untersuchen,wie die Musikschulen in den traditionellenBereichen ihr Klientel erreichen und wel-ches Verhältnis von Musikschülern zurGesamtbevölkerung dabei erreicht wird.

In Vorarlberg beispielsweise engagiert sichein Viertel aller Kinder und Jugendlichenin der musikalischen Früherziehung, im In-strumentalunterricht oder in der Ensemble-arbeit an der Musikschule. Und im größtenBundesland Österreichs, in Niederöster-reich, sind fast neun Prozent aller Unter-Dreißigjährigen an einer Musikschule ein-geschrieben. Daran lässt sich schon ab-lesen, dass der Stellenwert wenigstens inquantitativer Hinsicht sehr groß ist unddies gilt auch für das finanzielle Engage-ment der öffentlichen Hand – konkret:für die Höhe der Zuschüsse. In Oberöster-reich etwa, das schon seit langem eineVorreiterrolle im Musikschulwesen inne-hat, fließen mehr als 50 Prozent des ge-samten Kulturbudgets in die Musikschul-arbeit. Es gibt dort einen Strukturentwick-lungsplan für das Musikschulwesen, derbeinhaltet, dass jeder Bürger des Landesohne weite Wege Kontakt zur Musikschuleaufnehmen kann. Noch heute werden inabgelegenen Regionen neue Musikschuleneröffnet, um die Erreichbarkeit zu erleich-tern.

Vorbild Österreich:

MUSIKSCHULE ALS

Der aus Deutschland stammende und heute in Wien lehrende Musik-pädagoge Peter Röbke gehört zu den Wissenschaftlern, die sich

neben instrumentaldidaktischen Fragen sehr stark um die Förderung dermusikalischen Breitenarbeit bemühen. Dass es ihm gelungen ist, neueKonzepte für die Musikschule vorzudenken, beweist sein neues Buch„Musikschule – wozu?“, das sich zwar an Eltern, Musikschulleiter undKommunalpolitiker in Österreich wendet, zugleich aber gerade auch inDeutschland wichtige Argumentationshilfen bieten kann – vor allem dann,wenn es wieder einmal um die Schließung von Musikschulen geht.

Warum eineMusikschule dem Land,

der Gemeinde, demBürgermeister, dem

Lehrer, dem Schüler,den Eltern, dem Leiter

lieb und teuer seinsollte, beschreibt Peter

Röbke in seinemaktuellen Buch:

„Musikschule – wozu?“, Volkskultur Niederösterreich,Atzenbrugg 2004, 238 Seiten, ISBN 3-901820-18-3.

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Dies alles ist schwer vorstellbar.Immerhin liegt Österreich – auch finanziellgesehen – nicht so weit von Deutschlandentfernt. Woran liegt es dann, dass es inÖsterreich ein größeres Bewusstsein für dieFörderung von musikalischer Bildung gibt,auch oder gerade unter Politikern?

Röbke: Natürlich wird auch Österreichvon den Problemen erreicht, die sich mitder Formel „privater Reichtum und öffent-liche Armut“ beschreiben lassen. Auch wirhaben einen Finanzminister, der mit harterHand spart. Dennoch ist es immer noch so,dass die Musikschulen bzw. die Musik-erziehung und die Kultur generell in die-sem Land eine recht hohe Wertschätzunggenießen. Das hat wohl zum einen grund-sätzlich damit zu tun, dass das „kleineÖsterreich“, das ja mal Teil eines sieben-fach größeren Reiches war, einen großenTeil seiner Identität nach wie vor ausseinem Selbstverständnis als Kulturlandbezieht. Und die Vergangenheit ist sehrpräsent: Das spürt man hautnah in Wien,wo sich die Wege vieler Komponistengekreuzt haben. Das hat aber durchausauch mit der Gegenwart zu tun, mit her-vorragenden österreichischen Kunst- undKulturproduktionen in den verschiedenstenBereichen. Es gibt ein grundlegendes Ein-verständnis darüber, dass Kunst und Kulturzum Leben dazu gehören, selbst wenn nureine Minderheit wirklich in Konzert oderOper geht.

Zum andern muss man die Bedeutungdes Laienmusizierens sehen: Gerade inländlichen Regionen hat die Blasmusik eineeminente Bedeutung. Sie hat nicht nureinen hohen Qualitätsstandard, sondernspielt – vor allem in entlegeneren Gebieten– eine entscheidende Rolle für das sozialeLeben. Musik ist wie ein „sozialer Kitt“. Inder Folge bauen sich die Blaskapellen inkleinen Dörfern große Musikerheime, dieden musikalischen und sozialen Mittel-punkt des Ortes bilden. Diese musikalischePraxis ist eng mit der Arbeit der Musik-schulen verbunden. Dort werden die Bläser

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fundiert ausgebildet, entsprechend hoch istdie Wertschätzung, die den Musikschulenentgegengebracht wird.

Wenn Sie die Struktur der Musik-schulen in Deutschland und Österreichvergleichen: Gibt es Unterschiede in Hinblickauf Lehrer-Schüler-Relation, Instrumental-angebot, Gruppenangebote?

Röbke: Um diese Frage zu beantworten,muss ich etwas weiter ausholen, denn dieUnterschiede haben etwas mit der gesell-schaftlichen Bedeutung von Musikschule inÖsterreich zu tun, die fundamental andersist als die in Deutschland. Ich weiß, wovonich rede, denn ich war lange Jahre Musik-schulleiter in Berlin. Dort habe ich erlebt,dass unsere Arbeit im Freizeit- oder Jugend-bereich angesiedelt wurde, allenfalls imBereich dezentraler Kulturaktivitäten. Abereigentlich war nie wirklich klar, dass dieMusikschulen ein spezifischer Teil des allge-

meinen Bildungswesens sind. Darüberherrscht in Österreich Konsens: Die Musik-schule ist zwar eine Schule besonderer Art– keine Pflicht-, sondern Angebotsschule –,aber sie ist tatsächlich auch Schule.

Letztlich kann sie ihren personal- undkostenintensiven Betrieb doch nur legiti-mieren, wenn sie nachweist, dass sie einengesellschaftlichen Bildungsauftrag verwirk-licht. Nur dann sind auch die erheblichenfinanziellen Mittel zu erwarten, die nötigsind, um den Betrieb zu gewährleisten. Deralte deutsche Traum, dass sich Eltern, Landund Gemeinde die Finanzierung der Musik-schule im Drittel-Verhältnis teilen, ist inÖsterreich mehr als Wirklichkeit: In Wienzahlen die Eltern maximal ein Fünftel dergesamten Kosten, in anderen Bundeslän-dern vielleicht 25 bis 30 Prozent. In derRegel werden somit mindestens 70 Prozentaus Steuergeldern aufgebracht. Und das istin Österreich klar: Musikschulen erheben

Teil des BildungswesensMusische Bildung für den Laien – in Deutschland mehr und mehr in Frage gestellt –

genießt im Nachbarland weiterhin hohe Wertschätzung

„Das kleine Österreich bezieht einen großen Teil seiner Identität nach wie vor aus seinemSelbstverständnis als Kulturland“: Der deutsche Musikpädagoge Peter Röbke lehrt in Wien.

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deshalb Anspruch auf diesen gewaltigenAnteil aus dem Staatssäckel, weil sie imöffentlichen Auftrag handeln.

Dieses Bewusstsein hat dazu geführt,dass sich die österreichischen Musikschulenflächendeckend nach den Bestimmungendes so genannten Privatschulgesetzes alsaußerordentliche Schulen haben anerken-nen und registrieren lassen. Sie unterliegendamit den schulrechtlichen Bestimmungendieses Gesetzes wie beispielsweise einerFachaufsicht durch die Schulräte der Län-der, haben aber auf dieser Grundlage dieMöglichkeit, sehr eng mit den Pflichtschulenzu kooperieren.

Damit verbunden ist die Tendenz, dieVerbindlichkeit und Kontinuität der Arbeitan Musikschulen in irgendeiner Weise fest-zuschreiben. Das ist möglicherweise aucheiner der großen Unterschiede zu den deut-schen Musikschulen: Strukturpläne undCurricula sind nicht nur mehr oder wenigerverbindliche Vorgaben eines privatenVerbands, sondern tatsächlich Geschäfts-grundlage des Musikschulbetriebs. IhreUmsetzung und Einhaltung kann von denMusikschulbetreibern eingefordert werden.

Um ehrlich zu sein: Das ist schon eineGratwanderung. Auf der einen Seite drohtder Musikschule die Gefahr der Unver-bindlichkeit eines Dienstleistungsbetriebs,wo man sich nur drei Akkorde auf derGitarre oder Für Elise auf dem Klavier ab-holen will. Auf der anderen Seite bestehtdie Gefahr, dass Statuten, Curricula, Stufen-gliederungen usw. genau das zunichtemachen, was die große Chance der Musik-schule im Gegensatz zur Regelschule ist:nämlich jeden Schüler individuell zu för-dern und jedem Schüler seine individuelleLernkarriere zu ermöglichen. Mit dieserProblematik wird aber in der österreichi-schen Musikschulpraxis recht virtuos um-gegangen: Man weist Verbindlichkeit undErgebnisse nach, stellt sich der Evaluation.Gleichzeitig ist es etwa in Oberösterreichganz selbstverständlich, dass eine Musik-schule auch für behinderte Schüler da ist,die natürlich niemals Stufenübertrittsprü-fungen ablegen und trotzdem als reguläreSchüler betrachtet werden.

In Deutschland wird momentan derGruppenunterricht – auch aus Kostenerwä-gungen – stark diskutiert. Die einen lehnenihn ab, weil sie meinen, nur der Einzelunter-richt könne im Instrumentalspiel Erfolgezeitigen, die anderen unterstützen ihn, weil siesagen, dass nur im sozialen, gemeinsamenLernen echte musikalische Fortschritte erzieltwerden können. Wie stehen Sie dazu?

Röbke: Meine Antwort lautet: Schondie Frage ist falsch gestellt! Man kann sichdoch gar nicht ausschließlich für den Einzel-oder für den Gruppenunterricht entschei-den: In didaktischer Hinsicht ist die Fragenach der „Sozialform des Unterrichts“ eineFrage der Methode. Und methodischeFragen haben es an sich, dass sie nur imBlick auf Ziele und Inhalte zu beantwortensind, also ob sie – wie man in Österreichsagt – „zielführend“ sind. Wenn ich bei-spielsweise das Ziel verfolge, bei einemSchüler ein individuelles Bewegungsproblemzu lösen oder an einem fast fertig gearbei-teten Solo-Konzert noch den Feinschliffvorzunehmen, dann ist es völlig klar, dassich mit dem Schüler allein arbeiten muss,also ist der Einzelunterricht auch weiterhinunabdingbar.

Gleichzeitig ist die weiter gespannte Aus-richtung der Musikschularbeit zu bedenken.Und wenn man dann das Singen, die Kör-perarbeit oder das Rhythmustraining in denInstrumentalunterricht integriert, dann istes nahe liegend, dafür die Gruppenarbeit zuwählen. Und wenn ich das Ziel habe, dassdie Schüler früh lernen sollen, einanderangstfrei vorzuspielen und fair zu kritisie-ren, oder früh lernen sollen gemeinsam zumusizieren, dann ist es ebenfalls selbstver-ständlich, das in der Gruppe zu tun.

So gibt es auf die Frage „Einzel- oderGruppenunterricht?“ eigentlich nur eineAntwort: Aufgrund der Vielfalt der Zieleund der Breite der Inhalte des Instrumen-talunterrichts an der Musikschule muss einvariables Repertoire von Unterrichtsformenzum Einsatz kommen.

Das System funktioniert aber nur,wenn die Eltern wirklich nicht vorher entschei-den müssen, ob man den billigeren Gruppen-unterricht oder den teureren Einzelunterrichtbucht, sondern die pädagogische Verantwor-

tung in den Vordergrund gestellt wird. Daskann natürlich nur gelingen, wenn die Subven-tionen für die Musikschulen sehr viel höhersind als in Deutschland, wo diese unter enor-mem Druck stehen. Da haben die Musik-schulen Angst, mit zu hohen Beiträgen dieSchüler zu verscheuchen, und bieten deshalbden günstigeren Gruppenunterricht an.

Röbke: Ich darf da aus eigener Erfah-rung ein wenig widersprechen. Als in Ber-lin in den Jahren vor dem Fall der Mauerder finanzielle Druck noch nicht da war,haben wir im Anfangsbereich damit experi-mentiert, dass die Eltern quasi eine Pau-schalzeit von 30 Minuten bezahlt haben.Von diesem „Zeitkonto“ von 30 Minutenwurden dann Zeiten für einen 14-tägigstattfindenden 30-minütigen Einzel- odereinen wöchentlich stattfinden Partnerun-terricht sowie für eine zweite „Stunde“ dieWoche, d. h. für eine einstündige Arbeit inder Vierergruppe abgebucht. UntermStrich hatten die Kinder also für die 30bezahlten Minuten faktisch anderthalbStunden Unterricht. Woran wir zu arbeitenhatten, das war das Bewusstsein, dass dieArbeit in der Gruppe nicht zwangsläufigweniger wert ist als der Einzelunterricht.Jedenfalls geht es nicht nur ums Geld: Mankann auch vorhandene knappe Zeit-budgets pädagogisch effektiver nutzen.

Kommen wir zur äußeren Strukturder Musikschulen in Österreich. Wer ist hierder Träger der Musikschule?

Röbke: Die Situation ist in Österreichrecht unübersichtlich, da greift nämlichstark der Föderalismus. Dadurch, dass vieleMusikschulen nach Bundesgesetz als Privat-schulen anerkannt sind, ist der Bund zu-ständig für die Anerkennung und für dieSchulaufsicht in Gestalt von (Musik)schul-Inspektoren auf Länderebene. Das hataber keinerlei budgetären Konsequenzen.

TITELTHEMA

In Buchpräsentationen wie hier in St. Pölten gibt Peter Röbke ermutigendeAntworten zur Daseinsfrage der Musikschulen, wobei sich Leseabschnitte desAutors mit Ensemble- und Soloauftritten von Musikschülern verknüpfen.

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In dieser Hinsicht gibt es grundsätzlichzwei Wege: zum einen die Trägerschaftdurch die Gemeinde, die aber nicht aus-schließt, dass sich das Land massiv finan-ziell beteiligt und auch durchaus Mitspra-cherecht haben will bei der Definition vonMindeststandards oder bei der Struktur-und Entwicklungsplanung. Zum anderengibt es Musikschulen, die unmittelbar vomLand unterhalten werden, sodass alleMusiklehrer unter gleich guten Bedingun-gen beim Land beschäftigt und die Gemein-den dann allenfalls mit der Bereitstellungvon Räumen und Material in der Pflichtsind. Alle Personalangelegenheiten und dieGarantie des pädagogischen Niveaus, auchetwa die Zuständigkeit für Fortbildungen,liegen dann auf der Landesebene.

Die Strukturen sind das eine, dieFrage nach dem instrumentalpädagogischenAnsatz das andere. Ist die Instrumentalpäda-gogik ebenso gut ausgebildet wie die struktu-rellen Voraussetzungen?

Röbke: In dem Maße, wie sich dieMusikschule als Bildungsinstitution be-greift, muss sie natürlich mehr sein als nureine Einrichtung zur Vermittlung von tech-

Also: Instrumentalunterricht wird immermehr als Musikunterricht verstanden. Erfunktioniert ja auch als Instrumentalunter-richt nur, wenn er Musikunterricht wird:Wie soll ein Geiger spieltechnisch weiter-kommen, wenn es an grundlegenden melo-dischen oder rhythmischen Fähigkeitenmangelt? Wie soll jemand phrasieren lernen,wenn er durch Über- oder Unterspannungkörperlich dazu gar nicht in der Lage ist?

Wie ist das Verhältnis von Musik-schulen, Konservatorien und Musikhoch-schulen? Sind das geschlossene Systeme, dieaufeinander aufbauen?

Röbke: Die österreichischen Landes-konservatorien waren teilweise geschlosse-ne Systeme: Man begann in der Musik-schulabteilung und das eigentliche Ziel derAusbildung war die professionelle Ausbil-dung, wobei natürlich nicht alle Kinderletzlich diesen Pfad beschritten und sichdann schon die Frage stellte: Sind jene, diesich der Musik als Liebhaber widmenwollen, im Sinne des Systems „Versager“?

Die Lage hat sich insofern geändert, alsjetzt einige Konservatorien mit den dreiMusikuniversitäten organisationsrechlich

und ihrer Stellung in der Gesellschaft gebensollten, welchen gäben Sie?

Röbke: Der Erfolgsweg der österreichi-schen Musikschulen hängt wohl ganz engdamit zusammen, dass man es geschaffthat, die pädagogische und gesellschaftlicheBedeutung von Musikschulen deutlich zumachen. Musikschularbeit wird in diesemLand nicht nur als schöne, aber lässlicheFreizeitbeschäftigung gesehen. Die Verant-wortlichen des Musikschulwesens habenmit der Botschaft, dass das Musizieren-Können zur Grundausstattung von Men-schen gehören sollte, versucht, die Ohrender Politiker zu erreichen. Heinz Preiss, derVater des oberösterreichischen Musik-schulwerks, mahnt – längst im Ruhestand– heute noch, dass es wichtig sei, nicht nurdie Hand für unseren recht kostenintensi-ven Bereich aufzuhalten, sondern immerwieder herauszustellen, was es für eineGesellschaft bedeutet, wenn in ihr vieleMenschen aktiv mit Musik umgehen. Zuverweisen ist auf die sozialen Zusammen-hänge und die vielfältigen Bildungswirkun-gen. Und natürlich muss die tagtäglicheMusikschularbeit diese Versprechungenauch wirklich einlösen können. Nur ein

„Die Botschaft hat die österreichische Politikerreicht: Musizieren-Können gehörtzur Grundausstattung des Menschen“

nischen Fertigkeiten. Es gibt zunehmendein Bewusstsein dafür, dass es um die Ent-wicklung von Musikalität insgesamt geht.Das beinhaltet rhythmische und spieltech-nische Kompetenzen ebenso wie die Ent-wicklung von Kommunikations- und Inter-aktionsfähigkeiten und des expressivenPotenzials, die Schulung des Hörens oderdie Heranführung an Konzertbesuche.Insofern sind die Aspekte Bildungsauftrag,öffentlich-rechtlicher Schulcharakter, Träger-schaft und Selbstverständnis der Musik-schule sowie die entsprechenden Konzep-tionen von Instrumentalpädagogik ganzeng miteinander verbunden. Und immermehr Lehrer sagen: Wir geben nicht nurInstrumentalunterricht, sondern es istMusikunterricht, in dessen Zentrum natür-lich die Beschäftigung mit dem instrumen-talen Musizieren steht.

gleichziehen: Zunächst wurden die Musik-hochschulen den allgemeinen Universitätengleichgestellt und nun versuchen Konser-vatorien – als von den Ländern getragenePrivatuniversitäten für Musik –, mit denMusikuniversitäten gleichzuziehen.

Grundsätzlich sind die Verbindungenzwischen dem Universitätsbereich und denMusikschulen natürlich eng, was die Förde-rung des beruflichen Nachwuchses anbe-langt, andererseits locker, was die qualifi-zierte Breitenarbeit, die eigentliche Domäneder Musikschulen, betrifft. Natürlich sindauch Österreichs Musikschüler nur zueinem oder zwei Prozent auf dem Weg zurprofessionellen Karriere.

Das leitet über zu meiner letztenFrage. Wenn Sie Deutschland einen politischumsetzbaren Rat zur Frage von Musikschule

Haus anzubieten, in dem faktisch Stundefür Stunde „Privatunterricht“ angebotenwird, reicht da nicht.

Modische Tendenzen, Musikunterrichtals Dienstleistung und die Schüler als Kun-den zu betrachten, führen in die Irre: Letzt-lich ist dann nicht mehr zu argumentieren,warum die private Konkurrenz, aber auchTanz-, Segel- und Reitschulen, nicht ausSteuergeldern bezuschusst werden. DieMusikschule kann sich nur als Schule beson-derer Art, als Teil des Bildungswesens legi-timieren. Ich weiß, dass viele Kollegen inDeutschland das auch so sehen, aber viel-leicht waren die Österreicher konsequenterin ihrer Argumentation und in der Durch-setzung von Verbindlichkeit und Kontinui-tät der Musikschularbeit vor Ort.

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TITELTHEMA

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Das gute, alte Volkslied imInternet? Die traditionelle

Volksliedforschung pflegte ihreLieder „aus den Kehlen der ältes-ten Müttergens“ (Goethe) zu sam-meln und nun soll das zu Beginndes 21. Jahrhunderts modernsteelektronische Massenmedium mitdem Repertoire der traditionellenund populären Lieder in Verbin-dung gebracht werden?

Aufs Ganze gesehen charakterisieren sichalle diese Liedsammlungen durch die Grund-struktur der „ingeb.orgschen“ Machart: näm-lich als Gebrauchsliederbücher im Internet,die irgendeine Textfassung enthalten, aberkeine wirklich verlässlichen Informationenüber die jeweiligen Lieder bieten – weder hin-sichtlich der Texte, noch hinsichtlich ihrer Me-lodien, von der Bedeutung und Geschichteeines Liedes ganz zu schweigen.

Wer seriöse und aussagekräftige Informa-tionen über traditionelle und populäre Lie-der haben will, muss die spezifischen Cha-rakteristika von „Volksliedern“ berücksichti-gen, nämlich dass sie gerade nicht – wieetwa ein Kunstlied – mit statischen Text- undMelodiefassungen einhergehen, sondern sichdurch eine Vielzahl von Textvarianten, Wei-terdichtungen und Parodienkonstituieren, die oftmals aufebenso verschiedene Melo-dien gesungen wurden. Hinzukommt, dass die Entstehungund Geschichte dieser Liederhäufig von zählebigen Legen-den überwuchert sind, die ohneweitere Überprüfung meistbeharrlich weitergeschriebenwerden. Nicht zuletzt ist zuberücksichtigen, dass sich dieBedeutung eines Liedes nichtnur aus der Interpretation sei-nes Textes ergibt, sondern über-

lagert wird von rezeptionsgeschichtlichen Zu-schreibungen, von Funktionalisierung undInstrumentalisierungen – allgemeiner ge-sprochen: von den liedgeschichtlichen Kon-texten.

Es ist freilich kein spezifisches Merkmaldes Internets, dass bislang kein umfassendesund wissenschaftlich fundiertes Nachschlage-werk über populäre Lieder und ihre Ge-schichten existiert. Dies ist vielmehr ein De-fizit und Desiderat, das im Grunde seit Jahr-zehnten eine Bringschuld der Popularlied-forschung darstellt. Deshalb ist, wer grund-legende Informationen zu einzelnen Liedernsucht, bis heute noch immer weitgehend aufdie Archivalien des Deutschen Volkslied-archivs in Freiburg i. Br. angewiesen:

www.dva.uni-freiburg.de

WAS HAT DAS Volkslied imEckhard John über eine neue wissenschaftliche Edition

populärer und traditioneller Lieder

Das Internet fungiert längst als ein vielfäl-tiges und wichtiges Medium populärer Lie-der. Hier finden sich zahlreiche Informa-tions- oder Verkaufsplattformen ebenso wieeine Unzahl von Lieddokumenten und re-zeptionsgeschichtlich relevanten Quellen.Dabei fallen – neben dem medienspezifi-schen Novum der Lied-Animationen1 – vorallem die zahlreichen Liedsammlungen insAuge, die von verschiedenster Seite ins Netzgestellt werden. Eine besonders auffälligeNetz-Präsenz zeigt dabei eine kanadischeAdresse, wo man zwischen diversen Infor-mationen über Meeresgezeiten, Ahnenfor-schung und Ferien in Canada auch eineVielzahl deutscher Volksliedtexte findenkann. Angeblich sind es inzwischen „20 000Volkslieder, German and other Folk Songs“,die der Kanadier Frank Petersohn anbietet.Es handelt sich im Wesentlichen um Lied-texte, manchmal mit Melodien (MIDI/MP3) oder auch mit Noten. Die dort aufge-führten Fassungen der Liedtexte werden –ebenso wie die knappen Angaben zu Auto-ren oder Herkunft der Lieder – ohne Quel-lenangaben präsentiert, auf ähnliche Weisealso, wie es in den herkömmlichen (ge-druckten) Gebrauchsliederbüchern seit jehermeist der Fall ist. Und im Grunde ist auchdiese Liedansammlung im Internet nichtsanderes als ein großes Gebrauchsliederbuch.Etliche solcher Sammlungen traditionellerund populärer Lieder finden sich im World-Wide-Web, in Umfang und Nutzerfrequenzist aber keine andere derzeit mit Petersohns„Leader in Lieder“ vergleichbar:

http://ingeb.org

Foto: Deutsches Volksliedarchiv

Breit angelegte Editionsarbeit: das Freiburger Volksliedarchiv.

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35MUSIK�ORUM

Dieses Forschungsinstitut wurde 1914 ge-gründet, um eine repräsentative, wissenschaft-liche Edition der deutschen Volkslieder mitihren Melodien herauszugeben. Schon damalswar die Unzufriedenheit über bestehende Vor-arbeiten – namentlich über die wissenschaft-liche Unzulänglichkeit der wichtigsten (undbis heute repräsentativen) Liededition des19. Jahrhunderts 2 – der Ausgangspunkt füreine breit angelegte Editionsarbeit, die sichzunächst auf die Gattung der Volksballadekonzentrierte. Diese Balladen-Edition, einzehnbändiges Herzstück der traditionellenVolksliedforschung, wurde 1996 beendet.3

Um so mehr erweist sich – sozusagen täg-lich – die Notwendigkeit einer neuen wissen-schaftlichen „Volkslied“-Edition, wobei „neu“auch eine konzeptionelle Neuorientierungmeint, sowohl was das berücksichtigte Lied-repertoire betrifft als auch hinsichtlich derEditionspraxis. Noch immer fehlt ein verläss-liches Nachschlagewerk über Inhalte undGeschichte populärer und traditioneller Lie-der im deutschsprachigen Raum. DieserMangel ist kein akademisches Abstraktum,sondern beständige Alltagserfahrung: Dasbreit gestreute Wissensbedürfnis zu Inhaltenund Geschichte populärer Lieder lässt sichallein schon aus den zahlreichen Anfragen,die tagtäglich an das Deutsche Volkslied-archiv (DVA) gerichtet werden, ablesen.Deshalb wurde im DVA in den vergange-nen Jahren die Konzeption einer neuenwissenschaftlichen Lied-Edition entwickelt,die einerseits die bewahrenswerten Stan-dards der Balladen-Edition aufnimmt (etwadie umfassende Quellenrecherche und phi-lologische Exaktheit) und diese andererseitsin ein neues und zukunftsfähiges Editions-

konzept einbindet, das auf ein „historisch-kritisches Liederlexikon“ der populären undtraditionellen Lieder aus dem deutschspra-chigen Raum zielt.

Die Lexikon-Konzeption

Wie sieht dieses neue Editionskonzeptaus? Ausgangspunkt der Edition sind einzel-ne Lieder (Liedtypen) und nicht mehr be-stimmte Lied-Gattungen. Grundlage des be-rücksichtigten Liedrepertoires ist ein wesent-lich erweitertes Liedverständnis, das nichtnur traditionelle „Volkslieder“ umfasst, son-dern die gesamte Breite des deutschsprachi-gen Popularliedes in seinen unterschiedlichs-ten Facetten. Der Schwerpunkt der Lied-kommentierung liegt im Bereich der Ge-schichte und Rezeptionsgeschichte der Lie-der (also: keine reinen Text- und Melodie-kommentare; diese sind vielmehr Teil desgesamten Liedkommentars). Darstellung undForm der Kommentierung sollen sich mög-lichst benutzerfreundlich gestalten und auchfür Interessenten anderer Disziplinen ver-ständlich und aussagekräftig sein (nicht nurfür Spezialisten volkskundlicher Liedfor-schung). Diese neue Liededition erscheintals Internet-Publikation.

Beispiel eines Liedtyps („Maria durch einDornwald ging“) auf der nächsten Seite!

Die Veröffentlichung der Liededition imInternet hat für die Nutzer nicht nur denVorzug eines leichten, direkten und kosten-günstigen Zugangs zum gesuchten Wissen.Vielmehr bietet sie durch die Digitalisierungder Liedtexte die Möglichkeit, über eine

ZU SUCHEN?Internet

Volltext-Recherche auch dann ein Lied zufinden, wenn lediglich ein Textfragment be-kannt ist (und nicht nur Textanfang, Lied-titel oder Autor) – ein in der Praxis nicht zuunterschätzender Faktor. Zudem ermöglichtdie Volltext-Recherche ein gezieltes Abfra-gen von Stichwörtern und somit auch mo-tivgeschichtliche Untersuchungen.

Freiburger Anthologie

Wie kann und soll diese Lied-Edition rea-lisiert werden? Ein erster wichtiger Schrittzur Verwirklichung des Vorhabens ist einPilotprojekt, das von der Deutschen For-

schungsgemeinschaft (DFG) gefördert wirdund das im Juli 2004 seine Arbeit aufge-nommen hat. Bei diesem DFG-Projekt han-delt es sich um eine Kooperation des DVAmit dem Gesangbucharchiv Mainz (Johan-nes Gutenberg-Universität) und dem Deut-schen Seminar der Albert-Ludwigs-Universi-tät Freiburg. Ziel der Zusammenarbeit ist es,deutschsprachige Lyrik und Lieder online inzitierfähiger Form zu edieren und wissen-schaftlich zu kommentieren. Dabei liegendie Schwerpunkte auf den Bereichen:ˇ Gedichte aus dem Zeitraum 1720–1933,ˇ populäre und traditionelle Lieder,ˇ Kirchenlied und geistliches Volkslied.

Die Laufzeit des Projekts beträgt zu-nächst zwei Jahre. Das reicht aus, um in die-ser Zeit die technischen Grundlagen der da-tenbankgestützten Edition aufzubauen undauf dieser Grundlage beispielhafte Muster-editionen zu erarbeiten, die als aussagekräf-tige Prototypen für die geplante Lied-Editiondienen. Der systematische und nachhaltigeAusbau der Editionsarbeit wird in der darananschließenden Arbeitsphase vorangetrie-ben, deren inhaltlicher Schwerpunkt auf derErschließung und Bearbeitung des im 20.Jahrhundert gesungenen Liedguts liegenwird.

Dieses Projekt mit den Teilbereichen Ly-rik, Popularlied und Kirchenlied firmiert un-ter dem Label „Freiburger Anthologie“ undwird voraussichtlich ab Spätsommer 2005die ersten Arbeitsergebnisse im Internet prä-sentieren können. Schon jetzt ist die Antho-logie im Netz erreichbar:

www.freiburger-anthologie.de

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MUSIK�ORUM36

Am Beispiel eines Liedtyps („Maria durchein Dornwald ging“) werden hier dieGrundzüge von Aufbau und Struktur derLiedkommentare skizziert. Jeder edierteLiedtyp enthält folgende Bausteine:

A. Basiskommentar: Er fasst alle grund-legenden Informationen zum Liedinhalt, zurEntstehung und Geschichte des Liedes sowieseiner Bedeutung in komprimierter Formzusammen. (Beispiel 1)

B. Liedtext und Melodie: Es werden allewirkungsgeschichtlich relevanten Fassungenund Varianten eines Liedes dokumentiert.(Beispiel 2)

C. Ausführlicher wissenschaftlicherLiedkommentar: Hier wird die Geschichteund Bedeutung des Liedes detailliertuntersucht und dargestellt.

D. Quellen- und Literaturverzeichnis: Esenthält sämtliche greifbaren Rezeptionsbele-ge zu einem Liedtyp und verzeichnet diedazu vorhandene Sekundärliteratur.

Unter dieser Internetadresse werden be-reits Gedichte aus dem Zeitraum von 1720bis 1900 bereitgestellt und die Vorzüge ei-ner datenbankgestützten Textedition sicht-bar. Die hohen Zugriffszahlen auf die „Frei-burger Anthologie“ zeigen das immenseInteresse an soliden Informationen zu lyri-schen Kurztexten. Dass die „Freiburger An-thologie“ unlängst mit dem Media-Preis2004 der Universität Freiburg ausgezeichnetwurde, mag auch die Innovationskraft die-ser Unternehmung signalisieren. Und esmacht Mut – denn die eigentliche Editions-arbeit bedarf noch eines langen Atems.

Nähere Informationen über diese Lied-Edition unter:

www.liederlexikon.de

TITELTHEMA

Der Autor:

Dr. Eckhard John studierte Musikwis-

senschaft, Volkskunde und Geschichte.

Nach der Promotion wissenschaftlicher

Mitarbeiter des Deutschen Volkslied-

archivs (Freiburg i. Br.) sowie Lehrauf-

träge an den Universitäten Freiburg,

Bern und Basel.

Fußnoten:1 Als aktuelles Beispiel siehe etwa: „Die Gedanken sind frei“

unter: www.gmx.net/de/produkte/tv-spot/687940.html.2 Ludwig Erk, Franz Magnus Böhme: Deutscher Lieder-

hort, 3 Bände, Leipzig 1893/94.3 Deutsche Volkslieder mit ihren Melodien. Balladen,

hg. vom Deutschen Volksliedarchiv, Berlin u. a., Bd. I(1935) – Bd. X (1996).

Jüngste Publikationen von Eckhard John:

Volkslied–Hymne–politisches Lied. Populäre Lieder in Ba-den-Württemberg [Hg.], Münster etc. 2003.

Musik zwischen Emigration und Stalinismus. RussischeKomponisten in den 1930er und 1940er Jahren [Hg. mitFriedrich Geiger], Stuttgart, Weimar 2004.

Jüdische Musik? Fremdbilder – Eigenbilder [Hg. mit Hei-dy Zimmermann], Köln etc. 2004.

Beispiel 1

Beispiel 2

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37MUSIK�ORUM

Derjenige, der diese Forderung vielleichtam Entschiedensten ins Programm NeuerMusik eingeschrieben hat, war Theodor W.Adorno. Nach wie vor wahrt seine Musik-ästhetik ihre Aktualität und Streitbarkeit.Keine Neue Musik kommt, auch nach demEnde der Avantgarden, an seiner Herausfor-derung vorbei. Avancierte Kunst, so Ador-no, bezeugt ihr Recht allein in der „Wahr-heit“, die sie der Zeit ebenso entgegenhältwie diese sich ihr verweigert. Das paradoxeManöver gelingt dadurch, dass Kunst, alseine aesthetica negativa, nicht nur fortwäh-rend ihr jeweils Erreichtes überschreitet,sondern vor allem der Bedingungen einge-denk bleibt, unter der sie entstand. Ihr Ma-terial spricht daher vom Zustand derer,die es zu gestalten trachten, und zwar so,dass es sich in Widersprüchen und Fraktu-ren ausdrückt, ohne explizit Sprache zu sein.Entsprechend erscheint Neue Musik dortam Authentischsten, wo sie weder in Sche-

Kritisches Komponieren: Dieter Mersch zur Verfahrensweise in Neuer Musik

Die Frage, was Komponieren heute sei, nötigt zur weiteren Fragenach den möglichen Orten Neuer Musik. Es scheint, als habe sich

nach den Abenteuern der Avantgarde von Arnold Schönberg bis Karl-heinz Stockhausen das Repertoire ihrer Tabubrüche und Provokationenerschöpft: kein Klang, der nicht schon ersonnen, kein Geräusch, das nichtschon einbezogen, oder keine Rhythmik, deren Kühnheit nicht bereitsausprobiert worden wäre. Dennoch bleibt weiterhin die Forderung anNeue Musik, als Kunst „Kritik“ wie auch als Kritik „Kunst“ zu sein.

mata noch in Fortschritt aufgeht, sondernseismografisch – wie Adorno in seinem spä-ten Aufsatz Über einige Relationen zwischenMusik und Malerei schreibt – den „Spuren“und „Zuckungen“ der Zeit nachspürt, deren„Schriftzüge“ sich in der Brüchigkeit dermusikalischen Klänge wahren.

Fehlläufe der Struktur

Dabei handelt es sich nicht um einelediglich abstrakte Position, sondern um dieQuintessenz eigener Erfahrungen, durch dieAdorno gegangen ist. Bekanntlich besitzensie ihre Basis nicht nur in der direkten An-schauung dessen, was Komponieren eigent-lich heißt – Adornos ganz der Wiener Schu-le verpflichteten eigenen kompositorischenTätigkeit –, sondern vor allem in seiner jah-relangen theoretischen Auseinandersetzungmit Neuer Musik, deren Entwicklungen erargwöhnisch beäugte. Das gilt nicht nur für

die ebenso schroffe wie ungerechte Ableh-nung Igor Strawinskys in der Philosophie derneuen Musik, sondern vor allem auch für diespätere, im Zuge seiner Vorträge für dieDarmstädter Ferienkurse für Neue Musikgeäußerte Kritik am Serialismus und derAleatorik. Sie kann als paradigmatisch gel-ten für eine musikalische „Theoriekultur“,wie sie heute weitgehend fehlt.

Die Stoßrichtung der Kritik erweist sichzudem als charakteristisch für solche Fehl-läufe, zu denen der avantgardistische Pro-zess neigt. Er tendiert von sich her zu inne-rer Dogmatisierung und Verhärtung, womitsich das, was sich als „kritisches Komponie-ren“ apostrophierte, selbst gegen Kritik im-munisierte. Im Falle des Serialismus witterteAdorno etwa die Gefahr einer sich verselbst-ständigenden mathematischen Kalkülisie-rung, die sich vom eigentlich Kompositori-schen entferne. „Ja, komponieren S ie dennauch damit“, zitiert er Schönbergs Ausrufauf den Bericht, es werde nun allenthalbennach dem Zwölftonschema gearbeitet. DasZitat betont die Differenz zwischen einerformalen Ausrechnung von Reihen unddem, was Adorno in der Vorlesung Vers unemusique informelle unter den Stichwortender „Materialbeherrschung“ und der „Durch-organisation“ der Klänge diskutierte.

Die Anlage dazu erkannte er bereits inder Zwölftontechnik, sofern sie als Technikverstanden wurde, weil alles Technische das

NEUE TÖNE

MEDIALE Paradoxa

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NEUE TÖNE

Kompositorische vom Musikalischen tren-ne: „Man darf die Zwölftonmusik nicht alseine ‚Kompositionstechnik’ (…) missverste-hen. Alle Versuche, sie als solche zu benut-zen, führen ins Absurde“, hieß es schon inder Philosophie der neuen Musik. „Vergeblichdie Hoffnung, es stelle sich durch mathema-tisierende Manipulationen ein reines musi-kalisches Ansich her“, fügt die Rundfunk-rede über das Altern der Neuen Musik hinzu:

„Es ist die Passion der Leere (…).“ Und wei-ter: „Diese Stücke sind musikalisch im stren-gen Verstande sinnlos, ihre Logik, ihr Auf-bau und Zusammenhang weigert sich demlebendig hörenden Vollzug.“ Vielmehr mer-ke der Zuhörer „resigniert (…) beim erstenTakt, dass er einer Höllenmaschine überant-wortet ist, die gnadenlos abläuft, bis dasSchicksal sich erfüllt hat und er aufatmendarf.“

Hörbarkeit

Nirgends mochte Adorno allerdings vomAnspruch des Subjekts als Garanten künst-lerischer Praxis abrücken – sowohl als Pro-duzent als auch als Rezipient. Das Prinzipder Subjektivität galt ihm als ein ebensoNotwendiges wie „Unverlierbares“, wennauch dialektisch immer wieder Aufzuheben-des. „So wenig Musik, Kunst überhaupt, bardes subjektiven Moments gedacht werdenkann – sie muss eben jener durch den Aus-druck sich bespiegelnden und damit allemalaffirmativen Subjektivität sich entschlagen“,pointiert die Vorlesung Vers une musique in-formelle. Gleichzeitig hängt vom Subjekt „diemusikalische Zukunft ab“, insofern es „daseinzige Moment von Nichtmechanischem,von Leben (ist), das in die Kunstwerke hi-neinragt; nirgends sonst finden sie, was sie

zum Lebendigen geleitet. So wenig Musikdem Subjekt gleichen darf (…), so wenigdarf sie ihm auch vollends nicht gleichen(…).“ Was Adorno hier im Auge hat, ist,dass sich die Leidensmomente des Subjektsin Musik abzeichnen, ohne vordergründigderen Ausdruck zu sein – Spuren von Le-benswunden, die dem entsprechen, wasMarcel Proust mit mémoire involontaire an-sprach, jenem Aufblitzen unwillkürlicher Er-

innerungen als Quelle ästheti-scher Produktivität.

Dessen Korrelat – und daswar für Adorno überall der ent-scheidende Maßstab für dieAvanciertheit von Neuer Musik– ist eine Wahrnehmbarkeit.Was er am Serialismus undgleichermaßen auch an der Alea-torik monierte, ist der Bruch mitdem „lebendig hörenden Voll-zug“. „Es entfällt die Ausschließ-lichkeit des Hörideals aller Musikder neueren Zeit, das Kompo-nieren im Hören“, kritisiert z. B.der kurze Text über Tradition,der 1956 in Dissonanzen er-schien. Kritisches Komponierenhabe deshalb nur dort Bestand,wo „das Ohr dem Material (…)

anhört, was daraus geworden ist“. Das Ma-terial und seine Organisation müssen mithinzur Reaktionsform des „kompositorischenOhrs“ werden, dem es sich passiv überlasse.Kriterium Neuer Musik ist darum ihre sinn-liche Erfahrbarkeit, die sich weder auf einefeste Sprache oder ein Idiom noch auf for-male Regeln und Strukturen zurückführenlassen. Unbeirrbar hielt Adorno an diesemPlädoyer für ästhetische Erfahrung fest –trotz aller gegenteiligen Tendenz von seriel-ler oder aleatorischer Konstruktion. SeinWiderstand galt einer allein an Notation ge-fesselten Musik: Diese operiere einzig mitdem, was an Musik – ebenso wie an Sprache– diskretes Medium ist: ihre Schriftlichkeit.

Medium und „Ekstasis“

Keine Musik geht darin auf. Würde siedarin aufgehen, bliebe sie lediglich – wie Se-rialismus oder Aleatorik als deren Paradig-men – Struktur oder Spiel. Man kann hierohne weiteres ergänzen: Keine Kunst, keinästhetischer Prozess, sowenig wie Sprache,genügt ihr, weil das fehlt, was Kunst zualler-erst zu Kunst macht: das Ereignis statt derTechnik medialer Produktion. Entscheidendist die Präsenz des Augenblicks, weshalb al-ler künstlerischen Praxis ein Anderes eignet,das nicht Struktur oder Medium ist und ihre

eigentliche Autonomie definiert. Weit ehergehört es der Singularität von Aufführungenund der an Raum und Zeit gebundenen Mate-rialität der Klänge an.

Das lässt sich auch so ausdrücken: Diemateriellen wie performativen Bedingungendes Musikalischen sind zwar an Medien ge-bunden, aber nicht selbst mitmediatisierbar;sie spielen vielmehr unbotmäßig mit undentziehen sich dabei ihrer Vermittelbarkeit.Kein Medium erfüllt sich selbst, sondern je-der Medialität eignet ein Nichtmediatisier-bares, woran es bricht. Solange wir uns al-lein im notationellen Schema aufhalten, inden musikalischen Strukturen und Ordnun-gen, sind wir ausschließlich auf sie verwie-sen, d. h. auf einen internen Verweisungs-zusammenhang, worin, wie Jacques Derridatreffend gesagt hat, „Verweise auf Verweiseverweisen“.

Das Ereignis des Klangs, seine Materia-lität oder sinnliche Erfahrbarkeit hat darinkeine Stelle. Sie treten aus der Struktur he-raus als ein – im Wortsinne – Ekstatisches.Natürlich gibt es den Klang und seine Auf-führung nicht ohne Medien, ohne die Form,die Struktur; dennoch haben wir es gleich-zeitig mit etwas zu tun, das nicht vollständigdurch diese domestizierbar oder kontrollier-bar erscheint, vielmehr sich als Sperrigesund Widerständiges zeigt. Was sich dem-nach entzieht und gleichsam im Rücken derAkteure unbestimmt mitschwingt, enthältzugleich ein Überschüssiges. Es wäre nichtauszumerzen, sondern im Gegenteil die Ort-schaft des Ästhetischen selbst. Anders ge-wendet: Der Überschuss bildet dessen ei-gentliches Ereignis – dasjenige, was an Kunstihr Kunsthaftes ausmacht. Schärfer: Das Äs-thetische findet an ihm seine maßgeblicheIntensität. Ihm entspringt das, was uns anKunst interessiert, was uns buchstäblich „an-geht“, anspringt, zuweilen auch attackiertund befremdet.

Wir haben es also mit einem Dualismuszu tun, aus dem alle Kunst oder Musik lebt:Eine „Duplizität“ zwischen Form und Mate-rialität, zwischen Struktur und Ereignis bzw.Medium und Ekstasis. Sie lässt sich als Diffe-renz zwischen dem Sagbaren, dem Symboli-schen einerseits und dem, was sich anderer-seits lediglich zeigt oder aufscheint, ausbuch-stabieren. Ihr Verhältnis zueinander ist „chi-astisch“. Das heißt: Beide Pole erweisen sichebenso unlösbar ineinander verschränkt,wie sie nicht aufeinander reduzierbar sind.Der Ausdruck „Chiasmus“ deutet dabei sol-che Überkreuzungen ohne Berührung an.Dann wäre das Chiastische das, was bei al-ler gestalterischen oder kompositorischenAnstrengung nicht zur Deckung gebracht

MUSIK�ORUM38

„Ja, komponieren Sie denn auch damit?“: Adorno (links)wittert die Gefahr einer mathematischen Kalkülisierung,die sich vom Kompositorischen entfernt und zitiertSchönbergs Kommentar zur Zwölftontechnik.

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Kein Medium erfüllt sich selbst:der algerische Philosoph Jacques Derrida.

werden kann. Die künstlerische Praxis hatdaran ihr chronisch Prekäres. Neue Musikversucht es nicht einzuebnen, sondern gera-de auszustellen und explizit zu machen. Sieoperiert darum im Zwischenraum des Me-dialen und Ekstatischen, lotet Sagen undZeigen sowie Struktur und Ereignis in ihrenGrenzbereichen aus. Ihre Mittel dazu sindinszenierte Widersprüche: mediale Parado-xa, die nicht versöhnen oder Identitätenkonstruieren, sondern den Widerstreit, dasNichtübereinstimmende oder Heterogeneals Momente ästhetischer Erfahrung unver-stellt zum Vorschein kommen lassen.

Anstrengung in derWahrnehmung

Ziel der Künste ist die Erforschung sol-cher Brüche und Differenzen. Das bedeu-tet, die Gegensätze – z. B. die Kluft zwischenKonzept und Aufführung, die Lücken zwi-schen Szenen, die Abstände zwischen Mu-sik und Sprache oder die Disparitäten zwi-schen Ton und Bild – eben nicht zu tilgen,sondern durch Instabilitäten oder Störungenihres Gebrauchs, durch Dysfunktionalitätender Medien auszuspielen. Die ästhetischenStrategien wären folglich so zu verwenden,dass die eingesetzten Mittel und Praxengleichsam ihr Anderes, ihr Verhülltes oderNichtmediatisierbares ausstellen. Wie dieSprache den körperlichen Laut der Stimmeauslöscht, verweigern Metrik und tonalesSchema die Ankunft des Klangs im Musika-lischen. Ihn hervortreten zu lassen heißt, dieStrukturen gegen ihren Strich zu bürstenund ihr „Material“ fremd werden zu lassen.Deswegen ist von „medialen Paradoxa“ dieRede: Sie bestehen weniger darin, Neuesoder noch Unerhörtes zu schöpfen, auchnicht darin, tradierte Geschmacksordnun-gen zu stören, noch bedeuten sie, in die Ar-beit des Ästhetischen lauter zufällige undunvorhersehbare Momente einzutragen.Vielmehr beruhen sie darauf, die verschie-denen Techniken oder Medien so einzuset-

zen, dass Verwerfungen entstehen und einebenso Ausgeschlossenes wie Verdrängtesoder Nichtreproduzierbares auftaucht. Wassie sein können, ist nicht vorherbestimmt –dennoch geht es überall um die Gegenwarteiner solchen Abwesenheit, kurz: um dasErscheinen von Nichterscheinenden.

Keineswegs bedarf es dazu eines „großenTheaters“, einer aufwändigen Inszenierungoder opulenter Mittel, sondern manchmalnur einer einfachen Geste – etwa wenn BobWilson durch Bewegungsverzögerung dieIntensität von Bewegung steigert oder JohnCage durch Einbeziehung von Stillen Inver-sion provoziert, die schließlich die jahrhun-derte lange Hierarchie zwischen Klang undGeräusch ins Wanken bringt. Manchmalkann ein einzelner, lang gezogener Ton des-sen Penetranz enthüllen, eine leere Seite inder Partitur die Frage des Notationellen inder Musik aufwerfen, ein unkontrollierterAtmer oder ein bis zur Erschöpfung wieder-holter Akkord die nicht zu domestizierendeKörperlichkeit des Musikers offenbaren odereine Kolonne von Blechbläsern die Gewaltdes Akustischen demonstrieren. Alle Kunstbedient sich szenischer Mittel wie Farben,Stoffe, textuelle Strukturen, Visualitätskon-zepte, Licht, Sound oder rhythmischer Mus-ter und technischer Instrumente etc., dochliegt ihr Interessantes nicht in deren Effek-ten, die sie erzielen, sondern in dem, waszwischen ihnen geschieht, ihrer intermedia-len Interaktion und den Interferenzen, anderen Reibungsflächen sie in ihr Unzuläng-liches, ihre blinde Rückseite umschlagen.Kunst lebt von solcher Preisgabe, von einerderart bewirkten Umkehrung der Aufmerk-samkeit, und es wäre ein Missverständnis zuglauben, sie verfahre vorzugsweise intuitivoder in schöpferischer Trance; vielmehr be-wirkt sie buchstäblich eine Weise der Re-Fle-xion – eine Rückwendung, die in Abände-rung eines Wortes von Hegel als „Anstren-gung im Sehen, Hören und Wahrnehmen“gefasst werden kann, die es in jedem Einzel-fall neu zu entwickeln und mittels Frakturenund Dissonanzen experimentell auszulotengilt.

Maître du paradoxe

Jede Zeit verfolgt dabei ihre eigenen Ex-perimente. Sie folgen der Logik der Illusion,des medialen Zaubers und seiner Blendun-gen, die, wie im Märchen, durch die Kunstimmer wieder ausgetrieben werden müssen.Das trifft heute im besonderen Maße diedigitalen Medien und ihre „virtuellen Wel-ten“. Sie stellen jederzeit und allerorts diebeliebige Verfügbarkeit von Geschichten,

Bildern und Musiken bereit und vernichtendadurch deren Geheimnis. Die menschlicheExistenz bedingenden Grenzen von Raumund Zeit werden übersprungen und igno-riert. Neue Musik tritt der Ignoranz dadurchentgegen, dass sie die Bedeutung des Zeitli-chen und Räumlichen als eines Gegebenenund Vorauszusetzenden neu besetzt. Ent-sprechend wird besonders die Gegenwärtig-keit von Klängen und ihre nichtreproduzier-bare Aufführung relevant – weniger aus Aske-se gegenüber der Omnipräsenz digitalerMedien, als vielmehr durch Inszenierungsolcher Präsenzen, die sich der Speicherbar-keit und Übertragbarkeit prinzipiell verwei-gern.

Auf einzigartige Weise bedarf Neue Mu-sik des erlebbaren Raumes, der Synästhesie,der Gleichzeitigkeit des Hörens, Sehens undFühlens, wozu gleichermaßen Atmosphärengehören wie die Körper des Komponisten,Interpreten und Zuhörers. Nicht Phantas-magorien des Realen oder unwahrscheinli-che Raumfaltungen und Zeitsprünge, nichtüberraschende Blitzlichter oder bizarreKlangmodulationen lassen sie bewusst wer-den, sondern intermediale Paradoxa, die füreinen Augenblick die Zeit anhalten, denRäumen Ohren wachsen lassen und dieKörper in Resonanzböden verwandeln. Siebezeichnen keinen Selbstzweck, kein unver-bindliches l’art pour l’art zur Steigerung derWirksamkeiten, sondern Werkzeuge einerErkenntnis, die anders nicht zu entdeckenist, die aber auch nirgends garantiert werdenkann, weil sie immer wieder neu und andersarrangiert werden muss. Jede Präsentationist einzigartig. Der Künstler tritt hinter siezurück. Er bildet, wie Michel Foucault gesagthat, keine exemplarische Ausnahmeexis-tenz mehr, er ist kein „Seher“ oder „Heili-ger“, kein „Sänger der Ewigkeit“, sondern einim Situativen operierender „Interveneur“,der sich in der Hauptsache dem verschrie-ben hat, was sich nicht konstruieren oderbeherrschen lässt, was sich vielmehr derMedien, die immer auch Medien der Machtsind, widersetzt. Er fungiert darum auch nichtlänger als maître de plaisir, sondern als einmaître du paradoxe.

39MUSIK�ORUM

Der Autor:

Dieter Mersch studierte Mathematik

und Philosophie, habilitierte an der

Technischen Universität Darmstadt und

hält heute einen Lehrstuhl für Medien-

wissenschaft an der Universität Pots-

dam; diverse Pulikationen zur Gegen-

warts, Kunst- und Medienphilosophie.

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NEUE TÖNE

MUSIK�ORUM40

Die Suche nach dem eigenen Weg istkein Tasten im Dunkel, es ist der kreativeVergleich mit anderen Ansätzen und Strö-mungen, zu denen sich das schöpferischeIndividuum ein dezidiertes Urteil bildet. In-ternationaler Austausch aber ist nicht zuletztauch das Ergebnis von einer gewissen Be-kanntheit der einheimischen jungen Kräftein anderen Ländern, wofür nichtzuletzt Fördermaßnahmen und dieBereitstellung von Informationen ei-nen maßgeblichen Beitrag leisten.

Freilich hatte Deutschland in die-sem Sinne lange eine dominierendePosition. Nach dem Zweiten Welt-krieg war das nicht zuletzt auch geis-tig verwüstete Land ein Hort empha-tischen Neubeginns. Die führendenKomponisten aus nahezu allen Län-dern kamen mit ihren Arbeiten nachDeutschland und stellten sie in Festi-vals, Fachtagungen oder über denRundfunk zur Debatte. Deutschlandwar ein Mekka der Neuen Musikund es profitiert auch heute nochdavon. Zugleich mag sich im Schla-raffenland der zeitgenössischen Mu-sik auch ein gewisser Schlendrianeingestellt haben. Die Krise, in diemanche Festivals oder Reihen fürNeue Musik ab Ende der achtziger Jahre ge-rieten, ist hierfür Indiz. Deutschland hatimmer noch eine maßgebliche Position,längst aber ist es nicht mehr unumschränk-ter Marktführer.

Es ist dem Deutschen Musikrat zu dan-ken, dass er ab 1986 auf diese Situation rea-gierte. Man entschloss sich, Einzel-CDs mitausführlichen Kommentaren herauszuge-ben, die das Schaffen von jungen Kompo-

GegenwartSUCHGÄNGE IN DIE

Es ist durchaus nicht so, dass sich die ästhetische Entwicklung und diekünstlerische Qualität der Musiker eines Landes unabhängig von

unterstützenden und fördernden Maßnahmen bewegen. Letztere sindauch für den länderübergreifenden Vergleich eine wichtige Voraussetzung.Denn immer schon haben internationale Reibeflächen den Horizont vonjungen Komponisten geprägt und erweitert.

nisten (die derzeitige Altersgrenze liegt bei40 Jahren) repräsentativ dokumentieren.Damit ging man vom Prinzip der außeror-dentlich erfolgreichen und wichtigen Schall-plattenausgabe ab, die in zehn Boxen zu jedrei Platten die musikalische EntwicklungWestdeutschlands seit dem Ende des Zwei-ten Weltkriegs widerzuspiegeln suchte (eine

Art Musikgeschichtsschreibung des Zeitge-nössischen mit ausführlichen Hörbeispie-len). Dieses Prinzip hatte Sinn gemacht, denndie Geschichte der musikalischen Modernenach dem Krieg stellte sich trotz aller indivi-duellen Ausprägungen wesentlich kompak-ter und einheitlicher dar, als es in der post-modernen, minimalistischen, neoromanti-schen, komplexen oder experimentellenPhase der Fall war, die um das Jahr 1980

herum in ihren weit gefächerten Konturenfassbar wurde. Das Prinzip der Einzelport-räts war also kein aufdiktiertes, es antworte-te vielmehr flexibel auf die breite, aus Gegen-sätzen heraus lebende Flut von persönlichenschöpferischen Ansätzen. Denn der Wunsch,mit seinem Schaffen nicht eingeordnet zuwerden, war einer der prägenden der jun-gen Generation. Das eigene Gesicht, dasSich-nicht-Beugen gegenüber Prinzipien, dieden Älteren noch als unverbrüchlich er-schienen, das Ablehnen eines von außendiktierten Forschrittsbegriffs – all dies warenBasisüberzeugungen, die die junge Genera-tion auf der einen Seite miteinander verban-den, mit denen sie auch Stoßkraft gegen dieVätergeneration entwickelte, die aber glei-

chermaßen keine schöpferischenPrämissen oder Grundsatzregelnvorschrieben. Ein breites Spektrumkreativen Denkens wuchs daraus,das auch nur mit Hinwendung zumEinzelnen zu erfassen und doku-mentieren ist.

Diese CD-Reihe des Musikrats,die mittlerweile mehr als 50 Einzel-porträts umfasst, hat inzwischen inBezug auf die so genannte ErnsteMusik einen Teil der Funktionen ei-nes gut betreuten Musikinforma-tionszentrums übernommen. Ausvielen Kontakten oder Gesprächenmit ausländischen Leitern von Festi-vals oder mit Vertretern von Rund-funkanstalten erfährt man, dass zurInformation über neue Ansätze inDeutschland in besonderem Maßeauf diese Reihe von CDs zugegrif-fen wird. Und genauso erklären jun-

ge deutsche Komponisten, dass die nationa-le wie internationale Aufmerksamkeit gegen-über dem eigenen Schaffen mit der Aufnah-me in die Edition Zeitgenössische Musik oftsprunghaft anwuchs. Kriterien dafür sindsowohl die anerkannt kritische Vorauswahlbei der Bestimmung der Komponisten, diekluge und den schöpferischen Charaktermöglichst facettenreich widerspiegelndeWerkszusammenstellung auf der CD, als

Reinhard Schulz beschreibt die Entwicklung der Neuen Musik in Deutschland –

und die CD-Edition Zeitgenössische Musik als ihr „Spiegel-Hörbild“

Die Geschichte der musikalischen Moderne eingefangen:die CD-Edition Zeitgenössische Musik.

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41MUSIK�ORUM

auch die Tatsache, dass die umfangreicheInformation über den jungen Komponistenreichlich Aufschluss über die Individualitätund die ästhetischen Ambitionen gibt. Sogewährt die Reihe mittlerweile einen so-wohl flächendeckenden wie genau auf denjeweiligen schöpferischen Ansatz fokussier-ten Überblick über das junge musikalischeSchaffen in Deutschland während der ver-gangenen gut 20 Jahre. Musikgeschichtewird gewissermaßen in statu nascendi mit-geschrieben und damit auch mitgestaltet.

Zeit des Rotstifts

Sie bleibt spannend. Das deutsche Musik-leben musste in den 90er Jahren erfahren,dass auch scheinbar gesicherte Institutionennicht ohne Gefährdung sind. Erinnert sei andie Debatte über die Donaueschinger Musik-tage, die in den neunziger Jahren gleichzweimal geführt wurde. Zunächst wurdevon Verantwortlichen des Südwestrund-funks (SWR) die Frage aufgeworfen, ob denndieses weltweit wohl repräsentativste Festi-val der Neuen Musik überhaupt noch genü-gend Akzeptanz finde. Vorausgegangen wardie partielle Loslösung einer älteren Kritiker-generation, die den naturgemäßen Zwangzu permanenter Innovation in einem Festi-val, das am Puls der Zeit sein will und muss,nicht mehr mittragen wollte. Einwände die-ser Art wurden gerne von Rotstift-Fraktio-nen aufgenommen und wirklich standen dieDonaueschinger Musiktage plötzlich auf derKippe (Modelle eines zweijährigen Turnuswurden ins Feld geführt, aber auch andereKürzungsvorschläge bis hin zur radikalenStreichung). Erfreulich war, dass die Öffent-lichkeit schon beim Aufkeimen dieser Ideendagegen Sturm lief. Es gab eine bundeswei-te, aber auch eine internationale Solidarisie-rung und es gelang, die Musiktage in Do-naueschingen zu erhalten. (Es soll nichtverschwiegen werden, dass Anfang der 90erauch an anderen Orten in Bezug auf ihreEinrichtungen für zeitgenössische Musik ver-gleichbare Streichdebatten geführt wurden).

Nach dem Abklingen der Kürzungsver-suche folgte nun mit ganz anderer Stoßrich-tung eine Kritik von unten. Die Frage wurdeaufgeworfen, ob die installierten Musikfesti-vals angesichts geänderter künstlerisch-ästhetischer Prinzipien (Arbeit mit Compu-ter, Mixing-Strukturen, DJs etc.) überhauptnoch zeitgemäß seien oder nicht gerade die

Internationale Aufmerksamkeit gewonnen:sechs junge Komponisten, die die Editiondes Deutschen Musikrats zuletzt auflegte.

Fredrik Zeller Juliane Klein

Karin Haußmann Jörg Mainka

Burkhard Friedrich Jörg Widmann

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innovativsten Ressourcen schöpferischenTuns von vornherein ausschlössen. Nach ei-ner gewissen Reserviertheit auf beiden Sei-ten ergab sich eine durchaus fruchtbare De-batte, in der die Bereitschaft kund getanwurde, die Argumente der Gegenseite in dieeigenen Überlegungen einzubeziehen. ImInteresse, am Neuen zu arbeiten, stellte manohnehin eine weitgehende Deckungsgleich-heit fest. Letztlich, so kann man sagen, nah-men die Akzeptanz und die Vielfalt von Fes-tivals zeitgenössischer Musik zu, auch ein ver-stärktes Vordringen von Neuer Musik in dennormalen Abo-Betrieb zumindest bei einigendeutschen Orchestern konnte vermerkt wer-den. Die quotenfixierten öffentlich-recht-lichen Rundfunkanstalten zeigten sich frei-lich – in Konkurrenz zu den privaten Anbie-tern – relativ unbeweglich. Die Auseinan-dersetzung um Neue Musik wurde, um esetwas pauschalisierend zu sagen, in Nischender Sendeschienen abgedrängt.

Neue Form von Freiheit undneue ästhetische Fallhöhe

Unter diesen Bedingungen wurde in den90ern in Deutschland komponiert. Die jun-gen Komponisten fanden eine ästhetischeSituation der Voraussetzungslosigkeit vor.Das meint, dass sie sich mit ihrer künstleri-schen Haltung nicht unmittelbar in eine vonSchulen oder Lehrgebäuden vorgeprägteLandschaft begaben. Das wurde – auchwenn sich mancher junge Komponist mit-unter etwas allein gelassen vorgekommensein dürfte – immer mehr als Chance, alswirklich neue Form von Freiheit begriffen.In den 70ern und 80ern waren die Positio-nen noch härter aufeinander geprallt. Dievom seriellen Reihendenken und von ei-nem emphatischen Fortschrittsbegriff ge-prägte ältere Generation, deren Thesen derästhetischen Wertung mehr und mehr dog-matische Züge angenommen hatten, sahsich da mit postmodernistischen Thesen ei-nes „Anything goes“ konfrontiert und spür-te, durchaus berechtigt, Vorbehalte, die vorallem auf den Begriff der künstlerischenVerantwortung ausgerichtet waren. Mit derTabula-rasa-Mentalität, mit dem Schlagwort„Du darfst“ nämlich wurde in vielen Fällendie ästhetische Fallhöhe abgesenkt, derKampf gegen alte Dogmen wurde mit neu-en Dogmen geführt, die nicht selten, be-wusst oder unbewusst, den Begriff Freiheitmit dem der Beliebigkeit in einen Topf war-fen.

Dieser radikale Befreiungsschlag kam re-lativ schnell zu einem Stillstand, bald wuchsdas Bedürfnis bei den jüngeren Komponis-

ten, das Material, die Struktur und die Formdes musikalischen Geschehens verantwor-tungsvoll zu kontrollieren und bewusst zuformen. Was freilich nun fehlte, waren dieRezepte dafür (die etwa die seriellen Prinzi-pien noch geboten hatten). Das betraf imÜbrigen nicht nur die nachwachsende Ge-neration, auch die der Väter und Großvätersah sich plötzlich wieder mit der He-rausfor-derung konfrontiert, die musikalische Logik,die verwendete Technik, das herangezoge-ne Klangmaterial für jedes Stück individuellneu zu gestalten und zu reflektieren. So ent-steht in den 90ern der im Grunde schöneZustand, dass jeder Komponist zu Beginneines neuen Stücks vor einem leeren Blattsitzt, auf dem sich auch keine imaginärenästhetischen Raster oder gar Verdikte befin-den. Das ist in hohem Maße Herausforde-rung, es ist aber auch die Chance eines ge-waltigen Freiraums. Richard WagnersKunstbegriff, dass sich der Künstler selbstdie Regeln schafft, die er dann befolgt, hatteauf neue Weise das Bewusstsein musikali-schen Schaffens geprägt – und das wachsen-de Interesse eines sich vergrößernden Publi-kums bestätigt die Neugier an solchindividuellen Lösungen.

Edition erhält sichAuthentizität

Die sechs in der CD-Edition des deut-schen Musikrats zuletzt aufgelegten Kompo-nisten, also Fredrik Zeller (geboren 1965),Burkhard Friedrich (1962), Jörg Widmann(1973), Jörg Mainka (1962), Karin Hauß-mann (1962) und Juliane Klein (1966) spie-geln diese Situation. Es entsteht nicht derEindruck, als würden die Komponisten eine

individuelle Ausprägung innerhalb eines all-gemeinen ästhetischen oder technischenKonsenses suchen. Vielmehr scheint es so,als seien die musikalischen Sprachmittel undihre Verwendung von einer spezifischenForm des Hinhörens, des privaten Interessesabgeleitet. Da ist Fredrik Zellers lakonischerund provokanter Umgang mit vertrautenGesten, da ist Jörg Mainkas sperrige Ver-schachtelung von musikalischen Kleinteilen,da sind dann wiederum Burkhard Friedrichsunruhige, von Träumen und Spiegelbildernaufgebrochene Klanglandschaften. Die Mu-sik von Karin Haußmann offenbart innereRegionen, die von äußeren Eindrücken, sei-en sie aus der Natur, seien sie von Literaturangeregt, in wachsame Unruhe gedrängtwerden, während sich die Stücke von Julia-ne Klein fast wie ein Griff in eine Spielzeug-kiste ausnehmen, aus der Teile genommenund wie im kindlichen Ausprobieren mit-einander verschränkt werden. Und da istschließlich Jörg Widmanns so überlegeneHandhabung aller zeitgenössischen (und tra-dierten) kompositorischen Techniken, dieim Widerstreit mit dieser Souveränitätimmer wieder Neugier am Unerhörten alsästhetisches sine qua non postulieren.

So erfüllt die Reihe Edition ZeitgenössischeMusik über die krude, freilich so wichtigeFunktion des dokumentierenden Porträtsgleichzeitig ein Zweites – sie notiert diemusikgeschichtlichen Suchgänge in statunascendi, macht auch Irr- oder Umwege mitund erhält sich somit ihr Wesentliches:Authentizität.

www.wergo.de

NEUE TÖNE

MUSIK�ORUM42

Richard WagnersKunstbegriff, dasssich der Künstlerselbst die Regelnschafft, prägt seitden 90ern aufneue Weise dasBewusstsein musi-kalischen Schaffens

Der Autor:

Dr. Reinhard Schulz, promovierter Musik-

wissenschaftler, war seit 1980 als freischaf-

fender Journalist und Kritiker (u. a. für ARD,

Süddeutsche Zeitung, FAZ, Frankfurter

Rundschau, Berliner Tagesspiegel) und

Mitarbeiter an wissenschaftlichen Büchern

und Fachzeitschriften tätig, daneben Lehr-

beauftragter an der Münchner Ludwig

Maximilians Universität für Musik und

Musikästhetik des 20. Jahrhunderts; ab

1986 leitender Redakteur bei der neuen

musikzeitung (nmz). 1993 erhielt er den

Kritikerpreis der Stadt Graz innerhalb des

Steirischen Herbstes. Seit der Gründung

der „Münchner Gesellschaft für Neue

Musik“ 1997 ist Schulz gewählter Vorsit-

zender der MGNM (Teil der „Internationa-

len Gesellschaft für Neue Musik“ IGNM);

seit 2000 programmatischer Mitarbeiter

beim Festival „Klangspuren Schwaz/Tirol“.

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DAS, WAS „WIRKLICHKEIT“ IST, LÄSST SICHWIRKLICH NICHT BEANTWORTEN. Als Meis-ter Eckhart das Wort im 13. Jahrhundert ausdem lateinischen „actualitas“ (= „Wirksam-keit“) übersetzte, dachte der Mystiker nicht anden heutigen Wortgebrauch und den BegriffRealität, der seit dem 18. Jahrhundert unserenSprachalltag beherrscht. Er dachte vielmehr andie Geschehnisse, die aus dem Wirken oder ausdem Handeln resultieren. Musik – wie auchimmer man sie definieren möchte – ist etwas,das immer eine Tat braucht, damit sie entsteht.Musik – Kunst überhaupt – ist nicht einfach da;sie ist nicht naturgegeben. Sie braucht den De-miurgen, den Schöpfer, den Komponisten, denMusiker, den Handelnden oder Wirkenden, umzu entstehen. John Cage – und vor ihm schonso manch anderer – hat uns gelehrt, dass es aufder Welt keine Stille gibt, dass das akustischeNichts eine Illusion ist, ein frommer Wunsch.Irgendetwas klingt immer. Und das um uns he-rum absichtslos Tönende, Sounds, die entste-hen, weil irgend etwas sich bewegt, nannte er„Silence“. Die Welt bordet nur so über vonKlängen, denen wir lauschen können, um überdie Welt etwas und etwas mehr als sonst zu er-fahren. Das tun wir seither auch. Sicher nichtimmer umfassend und schon gar nicht global,

aber wir tun‘s öfter und konzentrierter als –vielleicht – je zuvor. Und wir tun‘s unter einemextrem erweiterten Verständnis von Musik.Denn alles, was uns akustisch umgibt, ist even-tuell schon Musik, zumindest können alle unsumgebenden Klänge Musik werden, seitdemwir sämtliche Schallereignisse aufnehmen, spei-chern und jederzeit wie überall reproduzierenkönnen. Mit diesen Klängen handeln wir, erstel-len Stücke, erzeugen Wirklichkeiten aus Reali-täten, produzieren Wirksamkeiten, fordern dasHandeln des Hörers, ob er das zu Hörende nunablehnt oder bejaht, offerieren Angebote, for-mulieren neue Wirklichkeiten, machen Musikaus dem, was existiert. „Ein jedes Ding hat sei-nen Mund zur Offenbarung“, sagt Anfang des17. Jahrhunderts ein anderer deutscher Mysti-ker, Jakob Böhme. Damit leitet der GörlitzerSchuhmacher eine Tradition des Suchens undFindens ein, die über Joseph von Eichendorff,Oskar Fischinger, John Cage, Marcel Duchampund etlichen anderen die Kunstproduktionnachhaltig verändert hat: das ästhetische Erfor-schen des Alltags in der Konkretheit seiner Ge-genstände, das Remixen der Realitäten, umdiese wirksam werden zu lassen, um sie alsWirklichkeiten zu begreifen. Solches präsen-tiert diese Compact Disc der Deutschen Gesell-

schaft für Elektroakustische Musik. Es handeltsich um Miniaturen, Realitätssplitter von je(etwa) neunzig Sekunden Dauer, die selbstKunde geben von dem, was sie sind, welcheRealität hier zur künstlerischen Wirksamkeit ge-worden ist – und die eigens für diese DEGEM-CD entstanden sind. – Stefan Fricke

ˇ DEGEM-CD 8 „90 Sekunden Wirklichkeit– 47 elektroakustische Miniaturen von je 90 Se-kunden Dauer“, cybele 2005 (Kat.-Nr. 960.208), Konzeption: Stefan Fricke.

43MUSIK�ORUM

Seit 1995 publiziert die Deutsche Gesellschaft für elektroakustische Musik(DEGEM) eine eigene CD-Reihe, die im Düsseldorfer Label „cybele“ erscheint.

Für jede CD bestellt die Gesellschaft einen Kurator, der nach eigenem Ermes-sen das Thema festlegt und eine Werkauswahl trifft, wobei die vertretenen

Komponisten nicht unbedingt DEGEM-Mitglieder sein müssen.

Bis heute sind acht DEGEM-CDs erschienen:ˇ CD 1 „…Stimmen … Klänge“, 1995 (Kurator: Hans Ulrich Humpert)

ˇ CD 2 „Noisy Colour“, 1996 (Kurator: Ludger Brümmer)ˇ CD 3 „LeiseLaute“, 1997 (Kurator: Andre Bartezki)

ˇ CD 4 „Ausbruch Aufbruch“, 1998 (Kurator: Hans Tutschku)ˇ CD 5 „imaginäre landschaften“, 2000 (Kurator: Wilfried Jentzsch)

ˇ CD 6 „Feedback Studio Köln“, 2003 (Kurator: Johannes Fritsch)ˇ CD 7 „kontinuum … bruchlos“, 2003 (Kuratorin: Elena Ungeheuer).

ˇ Die achte DEGEM-CD, konzipiert und kuratiert von Stefan Fricke, hat den Titel„90 Sekunden Wirklichkeit“ und enthält zu diesem Thema gut 50 verschiedene

Kompositionen von Christian Banasik, Isabella Beumer, Achim Bornhöft, Paulo C.Chagas, Rilo Chmielorz, Heinz-Josef Florian, Bernhard Gál, Thomas Gerwin, Ralf Haar-

mann, Bodo Hartwig, Michael Hoeldke, Ralf Hoyer, Anna Ikramova, Georg Katzer,Tilman Küntzel, Günter Marx, Hans Mittendorf-Labiche, Harald Muenz, Frank Niehusmann,

Franz Martin Olbrisch, Kirsten Reese, Johannes S. Sistermanns und Helmut Zapf.

Hierzu unten der CD-Klappentext!

DEGEM PRÄSENTIERTneue Klänge

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NEUE TÖNE

MUSIK�ORUM44

Zwischen der Musikindustrie und deneinander ständig ablösenden oder sich er-neuernden musikalischen Subkulturen be-stand lange Zeit eine innige Beziehung, einmeist von Hassliebe geprägtes Wechselver-hältnis: Die Musikindustrie benötigte denImpuls „von der Straße“, um ihrerseits neueTrends ausrufen zu können, die subkulturellgeprägten Szenen wiederum benötigten dieIndustrie, um sich Gehör zu verschaffen.

Dieser Verlauf der Popgeschichte ist abder zweiten Hälfte der Neunziger zum Still-stand gekommen, scheint unwiderruflichder Vergangenheit anzugehören. Zum ei-nen hat es nach Grunge keinen weiterenVersuch seitens der Musikindustrie mehrgegeben, eine neue „authentische“ Bewe-gung auszurufen, zum anderen hat sich seitdem Abebben des Techno-Booms auch kei-ne Szene mehr selbst als neue Bewegungbehauptet. Diese Situation hat auch ökono-mische Konsequenzen: Die Ursache für dieviel beschworene Krise der Musikindustrieliegt nicht einfach nur in illegal gebranntenTonträgern, sondern ist auch das Resultatdieser neueren Entwicklung, auf die zu rea-gieren die großen Plattenfirmen bislang ver-schlafen haben.

Entwicklung in die Breite

Wie aber lässt sich diese Entwicklung be-schreiben? Seit etwa zehn Jahren verläuftPopgeschichte nicht mehr offenkundig pro-gressiv, zumindest nicht mehr im Sinne von

sich ständig ablösender Bewegungen, Stileund Moden. Statt nach vorne hat sich dieMusik in die Breite entwickelt: Wir erlebeneine in der Geschichte bislang einzigartigeKoexistenz von Stilen und Szenen. Blues,Folk, Country, Rock’n’Roll, Reggae, Soul,Punk, New Wave, Heavy Metal, HipHop,Techno, House, Drum'n'Bass und derglei-chen mehr erfreuen sich nach wie vor gro-ßer Beliebtheit, treten jedoch nicht mehr alsInnovatoren auf, sondern sind allesamt Be-standteil eines jedem zugänglichen, quasiposthistorischen Repertoires geworden. SeitStile nicht mehr zwingend an sich voneinan-der abgrenzende Bewegungen gebundensind, sind sie zugleich auch durchlässig ge-worden.

So fühlen sich zum Beispiel die Mitglie-der der kanadischen Band „Godspeed YouBlack Emperor“ den Punk-Grundwertenwie Unabhängigkeit und Selbstbestimmungverpflichtet, spielen aber eine symphoni-sche, von zahlreichen Streichern begleiteteMusik, die gar nicht nach Punk, sonderneher nach dem Artrock der frühen Siebzigerklingt. Beispiele dieser Art sind nicht Aus-nahme, sondern die Regel. Sie sind Anzei-chen dafür, dass die Zeit des Purismus, desBeharrens auf der „reinen Lehre“, der Ver-gangenheit angehört. Noch in den 90er Jah-ren haben viele Techno-Musiker konventio-nelle Instrumente als veraltet abgelehnt undden Song als reaktionäres Format bezeich-net. Heute dagegen gehört es fast schonwieder zum guten Ton, auf Sampling auf-

bauende Musik mit „veralteten“ Instrumen-ten wie Akustikgitarre, Banjo und Akkor-deon zu durchmischen.

Nicht nur die Koexistenz und gleichzeiti-ge Durchdringung von Stilen und Szenenhat zu einer die Musikindustrie überfordern-den Unübersichtlichkeit geführt. Auch dieVorstellung, dass TV-Formate wie MTV dieWelt zu einem globalen Dorf umgestaltenkönnten, in der alle von Miami bis Prag, vonStockholm bis Kapstadt auf dieselbenKünstler schwören, ist nur bedingt aufge-gangen. Natürlich kennen fast alle Jugendli-chen Madonna, doch das bedeutet nicht,dass sie auch alle Madonna-Platten kaufen.Pop spielt sich zunehmend im Lokalen ab,ist also dezentral geworden, weiß aberdurchaus, sich international zu vernetzen,nicht mittels MTV, sondern mit Hilfe desInternets. Im Netz treffen wir auf HipHop-Gruppen aus St. Gallen, die in Schweizer-deutsch rappen und sich zugleich von aus-ländischen Künstlern remixen lassen, wirtreffen auf Plattenlabels, die gar keine Ton-träger mehr veröffentlichen, sondern ihrkomplettes Programm als Download zurVerfügung stellen, wir finden Heavy Metalaus Tel Aviv und neuerdings auch Punk ausChina. „Die Musik ist so vielfältig wie nie“,schrieb Ulrich Stock in der ZEIT (8. Juli2004), „aber wir kennen sie kaum.“

Industrie und Mainstream

Schuld daran hat vor allem das Radio.Und mit ihm, ließe sich ergänzen, eine Mu-sikindustrie, die dem Radio vergleichbar nurnoch auf kommerziell sichere Formate setzt.Das im Fernsehen ausgetragene „Superstar“-Format gleicht diesbezüglich einem Offen-barungseid. Die Industrie hat die Nischensich selbst überlassen und sich einem Meta-Mainstream zugewandt, der jegliches Ver-trauen auf längerfristige Entwicklungen ne-giert.

Aber geht dieses Konzept auch ökono-misch auf? Sind es nicht gerade solche musi-

Die großen Plattenfirmen haben stets auf neue musikalische Trendsreagiert. Sie haben Punk schnell als neue, gewinnträchtige Bewegung

erkannt und Mitte der siebziger Jahre nahezu alle bekannteren Punkbandsunter Vertrag genommen. Ähnliches gilt für HipHop Anfang der Achtzi-ger, als dieser auch in die weißen Viertel der US-amerikanischen Groß-städte vorgedrungen war. Mit Grunge und dessen Vorzeigeband Nirvanamusste sich die Musikindustrie zu Beginn der 1990er Jahre sogar denVorwurf gefallen lassen, eine Bewegung selbst ins Leben gerufen oderdoch zumindest als solche erst medial verbreitet zu haben.

PopmusikZwischen Stilvielfalt und Casting-Pop:

Martin Büsser konstatiert: Der Markt der populären Musik gehört längst den Nischen

DIE ZUKUNFT DER

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45MUSIK�ORUM

kalischen Eintagsfliegen, die nicht mehr zumKauf einer CD, sondern zum Downloadmotivieren? James Murphy, Betreiber deskleinen New Yorker Independent-Labels„DFA Records“ beschrieb die Situation 2002folgendermaßen: „Wenn die Menschen dieMusik, die sie im Internet runterladen, wirk-lich mögen, dann kaufen sie sich auch diePlatte und liegen ihren Freunden in denOhren, sie ebenfalls zu kaufen (…). Die gan-ze Download-Debatte sollte die Platten-industrie endlich dazu bringen, etwas kreati-ver zu werden. Ein Teil der Kreativität könn-te darin bestehen, den Kids keine CDs mehrfür 20 Dollar anzudrehen, die aus einemHaufen beschissener, morgen schon verges-sener Musik bestehen, dargeboten in mise-rablem Artwork und hässlicher Plastikhülle.“

Die Wiederkehr derIndividualisten

Was bedeutet dies nun für die Zukunftder Popmusik? Zunächst einmal erleben wirein bislang einzigartiges Auseinanderklaffenzwischen Independent-Szenen und Musik-industrie, begünstigt durch ein immer ein-seitiger auf Charts abonniertes Radiopro-gramm. Die Industrie hat lange Zeit die Ent-wertung des Tonträgers durch Internet-Tauschbörsen und Download beklagt undzugleich selbst an dieser Entwertung gear-beitet, sei es durch nur noch auf den schnel-len Hit angelegte Casting-Acts, sei es durchdie im Herbst 2004 gestartete Strategie derPlattenfirma BMG, ausgewählte CDs auchin billigeren Versionen auf den Markt zubringen, die ganz ohne Beiheft auskommenund sich damit kaum mehr von einer selbst-gebrannten CD unterscheiden.

Alleine die Independent-Labels vertrauenweiterhin darauf, dass Tonträger auch einenideellen Wert darstellen, der über gespei-

cherte Daten hinausgeht. Dies hängt nichtzuletzt mit der Anbindung des Interpretenan das Publikum, aber auch mit der Vorstel-lung von Musik als künstlerischem Aus-drucksmittel zusammen, deren primäres Zielnicht im Chartserfolg liegt. MusikalischeQualität wird sich also erst einmal weiterhinin den zahlreichen Nischen abspielen, überdie man nichts mehr im Radio oder im Mu-sikfernsehen, sondern im Internet und inSpezialzeitschriften erfährt. Da sich das mu-sikalische Spektrum der Popmusik in dieBreite entwickelt hat, können die meistendieser Independent-Labels oft nur als Ein-Personen-Betrieb überleben und stellen des-halb keine nennenswerte Konkurrenz fürFirmen wie BMG dar. In ihrer Gesamtheitjedoch – und das haben die großen Firmenlange Zeit nicht berücksichtigt – gehört derMarkt längst den Nischen.

Es ist zudem auch nicht abzusehen, dassdie Koexistenz der Stile mitsamt ihren loka-len Besonderheiten bald einer neuen, allesdominierenden Bewegung weichen würde.Das Fehlen solcher Trends führt jedochnicht notgedrungen zu einem „AnythingGoes“ und auch nicht zum Retro, also demständigen Rückgriff auf Bewährtes, sondernmacht Platz für einen neuen Individualis-mus. Je mehr der Casting-Pop auf Anpas-sung an immergleiche Erfolgsmuster setzt,desto differenziert eigenweltlicher arbeitenviele Künstler in ihren Nischen. Kreation ei-nes eigenen künstlerischen Kosmos, Wie-dererkennbarkeit, Originalität – all daszeichnet so unterschiedliche jüngere Nicht-Mainstream-Künstler wie Bonnie „Prince“Billy, The White Stripes, Adam Green, ThePolyphonic Spree oder Animal Collectiveaus.

Die hier genannten individuellen Kon-zepte verweisen darauf, dass stilistische Zu-ordnung immer stärker an Bedeutung ver-

liert: Bezeichnungen wie Folk, Punk undReggae werden obsolet, wenn Musiker sichin kein stilistisches Korsett mehr zwängen.Pop als Massenkultur ist aufgrund einerimmer risikoloser arbeitenden Musikindust-rie banaler denn je geworden. Versteht manunter Pop jedoch jegliche musikalische Äu-ßerung, die sich auf populärmusikalischeFormen jenseits von Neuer Musik und Jazzbezieht, so trifft man seit einigen Jahren aufeine schier erschlagende Vielfalt an span-nender Musik, deren Akteure gelernt haben,sich ihre eigenen Kommunikationswegeaufzubauen.

Die Zukunft wird den Nischen gehören.In ihnen spielt sich nicht notgedrungen elitä-re Spezialisten-Kultur ab. Vielmehr sind dieNischen als Folge von einseitig orientiertemRadio und einer auf schnellen Absatz set-zenden Plattenindustrie entstanden undzugleich im Laufe der Jahre so mächtig ge-worden, dass die Musikindustrie darum ban-gen muss, mit ihrem Casting-Pop eines Ta-ges selbst nur noch eine Nische unter vielenzu bedienen.

Literatur:

Diederichsen, Diedrich: Freiheit macht arm. Das Lebennach Rock'n'Roll, Köln 1993.Holert, Tom/Terkessidis, Mark: Mainstream der Minder-heiten. Pop in der Kontrollgesellschaft, Berlin 1996.Behrens, Roger/Büsser, Martin (Hg.): testcard-Beiträgezur Popgeschichte # 10: Zukunftsmusik, Mainz 2001.

Der Autor:

Martin Büsser studierte Vergleichende

Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte

und Theaterwissenschaft in Mainz und

ist heute als freier Autor und Journalist

tätig (u. a. für Jazzthetik, taz, Konkret,

Intro). Er ist Herausgeber der seit 1995

erscheinenden Buchreihe „Testcard-

Beiträge zur Popgeschichte" und ver-

öffentlichte diverse Bücher zur Pop-

musik (u. a. If the kids are united – Von

Punk zu Hardcore und zurück (1995),

On The Wild Side – Die wahre Geschich-

te der Popmusik (2004).

Die Zeit des Purismus ist vorbei: Die kanadi-sche Band „Godspeed You Black Emperor“fühlt sich zwar dem Punk und der Unabhän-gigkeit verpflichtet, spielt aber eher einesymphonische Musik.

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MUSIK�ORUM46

BILDUNG.FORSCHUNG

Dass Ängste musikalischeAuftritte ganz wesentlich –

und meist negativ – beeinflussenkönnen, ist gemeinhin bekannt.Dass Musiker an ihren Ängstensogar scheitern können, sodassam Ende die eigene Biografieumgeschrieben werden muss, istkeine Seltenheit. Umso wichtigeraber ist es zu wissen, wie man mitÄngsten umgehen kann.

Der 1949 in Schwäbisch Hall geboreneund heute als Professor an der DetmolderHochschule für Musik lehrende PianistMatitjahu Kellig arbeitet mit seinen Studie-renden bereits seit einigen Jahren in voll-kommen neuer Weise an diesem Problem,indem er sie (zusammen mit Psychologen)Erfahrungen auf dem Hochseilgarten ma-chen lässt, die anschließend aufgearbeitetwerden. Seine These: Angst in eine positiveEnergie verwandeln. Dass diese Erfahrungenwiederum Auswirkungen auf die Interpreta-tion haben kann, bestätigen immer wiederTeilnehmer seiner erfahrungsorientiertenSeminare, in denen es natürlich gleichzeitigum das Musizieren geht.

Mit Kellig sowie seiner KlavierschülerinMirjam Terbuyken sprach Hans Bäßler.

Als Klavierprofessor haben Sie sichdadurch ausgezeichnet, dass Sie den Muthatten, bestimmte Aspekte des künstlerischenStudiums an Musikhochschulen kritisch zukommentieren. Worin besteht Ihre Kritik?

Kellig: Die Kritik ist sowohl positiv alsauch negativ. Ich bin immer noch guterHoffnung, dass Kreativität und Innovationan den Hochschulen bestehen und ausge-baut werden können. Soweit die positiveKritik. Das Negative – und dazu muss maneinfach stehen – ist, dass wir in den vergan-genen zehn bis 20 Jahren falsch ausgebildethaben. Es ist immer wichtig, dass wir Weit-sicht haben. Ich muss also jetzt darübernachdenken, was in zehn Jahren notwen-dig sein könnte, und genau da ist bisher

etwas fehl gelaufen. Sich das einzugestehen,ist natürlich der beste Weg, etwas Neues inGang zu setzen.

Worin besteht diese Diskrepanz zwi-schen der bestehenden Ausbildung und der,die wir im Jahr 2010 oder 2020 benötigen?

Kellig: Ich glaube, die besteht haupt-sächlich darin, dass viele Kollegen, unab-hängig vom Instrument, Hochschule immernoch als staatlich organisierten Privatunter-richt betrachten. Das eigene Profil wirdmehr in der eigenen künstlerischen Tätig-keit gesehen als in der Integration in eineHochschule.

Mirjam Terbuyken, Sie studieren seitvier Jahren Schulmusik in Detmold mit Haupt-fach Klavier bei Professor Kellig. Haben Siedie falsche Perspektive in der Ausbildung anHochschulen, die eben beschrieben wurde,auch beobachtet?

Terbuyken: Ich denke schon, dass ichdas bestätigen kann. Ich sehe die Problema-tik allerdings aus einer ganz anderen Pers-pektive. Meine Kritik ist eher die, keinenHalt zu finden in den Hochschulen, die wirStudenten vorfinden. Es gibt keine wirkli-chen Anhaltspunkte, warum und wofür ichetwas mache. Wer hilft mir, auch bei seeli-schen Problemen zu bestehen? Das fängt

an mit einer Organisation, die meiner Mei-nung nach nicht wirklich vorhanden ist.

Inwieweit hat die Hochschule dieAufgabe, sich auch mit psychischen Proble-men von Studierenden, vielleicht auch vonLehrenden, zu befassen?

Terbuyken: Gerade eine Musik- oderallgemeiner eine Kunst-Hochschule musssich mit seelischen Problemen befassen,denn die Kunst ist ja genau das, was amnächsten an die Seele eines jeden Men-schen geht. Indem man Musik macht, zeigtman sein Innerstes nach außen. Jeder Leh-rer, der sich nicht damit befasst, lässt einenwesentlichen Teil der Arbeit außen vor.Jeder Student muss sich damit befassen,ansonsten kann man einfach keine schöneMusik machen.

In diesem Zusammenhang eineweiter führende Frage: Sind Sie auch derMeinung, dass der seelische Bereich eineAufgabe für den jeweiligen Hochschullehrerist? Oder mischt er sich da in Bereiche ein,von denen er nichts oder nur wenig versteht?

Kellig: Die Frage, wenig oder gar nichtszu verstehen, ist natürlich eine sehr ent-scheidende Frage. Die Aufgabe sollten wirHochschullehrer grundsätzlich haben, unsgerade auf diesem Gebiet weiterzubilden

IST EIN SCHLECHTER LEHRERAngst

Seelische Probleme – unter Musikern keine Seltenheit.

Pianist Matitjahu Kellig will Angst in positive Energie verwandeln

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47MUSIK�ORUM

und uns mit uns selbst zu beschäftigen.Denn erst dann kann man Empathie waltenlassen. Hochschule hat für mich nicht nureine so genannte Output-Frage zu beant-worten, sondern vor allem, uns mit derLebensbewältigung eine Bildung, Aus- undWeiterbildung anzubieten. Wir sind leiderals Geiger, Pianisten oder Sänger an dieHochschulen berufen worden, als Künstler,nicht als Pädagogen. Und das ist meinerMeinung nach das Gefährliche an diesemSystem. Und ich stehe zu diesem Wort„gefährlich“, weil wir als Hobbypsychologenagieren, oft aber mit unseren eigenen Prob-lemen gar nicht fertig werden. Wir solltenalso der Lebensbewältigung und der Per-sönlichkeitsbildung, die immer einhergehensollten mit dem Transfer zur Musik, ein vielhöheres Gewicht beimessen. Wir brauchenFachleute verschiedener Funktionen, Psycho-und Physiotherapeuten, Physiologen undallgemeine Therapeuten. Jede Schule hateinen Schulpsychologen, Musikhochschulenmeinen, sie bräuchten das nicht. Abergerade an einer Musikhochschule ist dasessenziell, denn Musik ist nichts anderes alsGefühl. Es ist nicht die viel beschriebene„Emotion“, sondern Musik hat direkt mituns selbst zu tun.

sich schon somatisch äußert. Jeder Musik-student, den ich kenne, hat solche Proble-me.

Kellig: Rückenschmerzen, Kopfschmer-zen, kalte oder warme Hände sieht manimmer wieder. Aber auch im Hoch- undRunterschrauben des Stuhles, das ja derinneren Positionsfindung entspricht, zeigtsich die Angst. Ich arbeite im Unterrichtviel mit Atmung, mit dem Spüren der eige-nen Bewegung, der Selbstfindung, macheMeditationsübungen. Wenn ich dann hin-terher frage „Wie geht’s dir?“, bekomme ichmeistens ein Lächeln und ein „eigentlichgeht es mir jetzt wieder gut“. Diese schönenReaktionen bestätigen mich in der persön-lichen Zuwendung zu den Studierenden.

Nun haben Sie inzwischen eineForderung aufgestellt, dass die Hochschuleninsgesamt etwas wie ein Umdenken in diesemBereich entwickeln müssten. Nicht zuletztdeswegen, weil diejenigen, die mit Angstbesetzt „an den Markt gehen“, irgendwannzum Scheitern verurteilt sind, da der Druckim Beruf ja noch um ein Vielfaches größerwird als im geschützten Raum einer Musik-hochschule. Kann man so etwas wie Grund-sätze formulieren, die notwendig sind, umeine verbesserte Form der Ausbildung zuerreichen?

Kellig: Eine verbesserte Form derAusbildung beinhaltet ganz konkret, dieAngst mit einzubeziehen – als positivenWegbegleiter. Kein Mensch kann ohneAngst leben, denn Angst ist auch einSchutzmechanismus. Man muss nur denUmgang mit ihr erlernen. Ich arbeite manch-mal mit paradoxer Intervention, feuere dieStudenten an, ordentlich daneben zu lan-gen. Und plötzlich treffen sie die Töne.Man muss die Angst aber vor allem zumThema machen. Das heißt für die Hoch-

das auch nur mit lebendigen Menschenumzusetzen ist.

Sie haben immer wieder darauf hin-gewiesen, dass in der Hochschulausbildungdas Umgehen mit Ängsten besonders proble-matisch ist. Angst wird negiert bzw. man istder Meinung, dass sie nur durch entsprechen-des Üben überwunden werden kann. KönnenSie beschreiben, wie sich aus Ihrer Sicht dieserAngstmechanismus ausdrückt und erkennbarwird im Spiel und im Unterricht?

Kellig: Meinen Erfahrungen nach hatdie Angst ganz speziell etwas mit Zukunfts-angst zu tun, mit Perspektivlosigkeit, wasdie Berufsausübung angeht. Das drücktsich sichtbar, hörbar, fühlbar auch im Spielaus. Die Gesellschaft ist auf Bewertungs-mechanismen ausgerichtet. Bewertung gibtes auch an der Hochschule, die Welt brichtzusammen, wenn man keine 1,0 erspielthat, dann kann man kaum noch durch dieHochschule gehen. In der Gesellschaftinteressiert es aber niemanden, wie manabgeschlossen hat, hier ist nur die künstleri-sche Darstellung von Belang. Dieser Druckinnerhalb der Hochschule hat sehr negativeAuswirkungen auf die Individualität desKlavierspiels, des Musikempfindens unddes Musikmachens. Gerade das versucheich abzubauen, denn Bewertung darf nichtsmit Selbstwertgefühl zu tun haben.Das Verdrängen von Ängstenbindet viel Energie und lenkt inandere Richtungen, anstatt ganzeinfach individuell Klavier zuspielen.

Sind bei Ihnen oder IhrenKommilitonen Ängste bekanntgeworden, die sich somatisch äußern?

Terbuyken: Ja, auf jeden Fall.Somatisch ist es bei Musikstuden-ten immer schwierig zurückzuver-folgen, denn jeder hat irgendwelcheHaltungsprobleme. Dann weiß mannicht, ob die Ursachen psychischsind oder nicht. Ich selbst binMigränepatientin. Wo das nunherkommt, ist schwer zu analysieren.Ich denke aber, dass viele Beschwerdenpsychisch bedingt sind. Gerade beiHaltungsfehlern am Klavier kann manfragen, woher es kommt, dass manverkrampft, die Schultern hochzieht, nichtatmet, plötzlich das Gefühl hat, erstickenzu müssen, nur weil der Wille, der Druckso groß ist, etwas Anständiges zu spielen.Warum aber ist der Wille so groß, „anstän-dig“ zu spielen, warum spielt man nicht so,wie man es fühlt? Ich denke also, dass es

Woher kommt es,dass man verkrampft,nicht atmet, nur weilder Druck so groß ist,etwas Anständigeszu spielen?

Kann dadurch nicht auch so etwaswie eine Abhängigkeit zwischen Lehrer undSchüler auf der personalen Ebene entstehen,wenn diese seelischen Prozesse in der Musikjeweils in die Erarbeitung mit einbezogenwerden? Anders gefragt: Ist nicht der Lehrergeradezu verpflichtet, in eine Distanz zu gehen,damit der Schüler sich selbst entwickeln kann?

Kellig: Ich glaube, es ist umgekehrteher die Gefahr, dass die Distanz zu großist. Denn dann wird nach bürokratischerund abprüfbarer Wertungsskala unterrichtetund keine Rücksicht darauf genommen,wie ein Schüler sich fühlt und wie manselber sich fühlt. Wenn man mit sehr leben-diger Musik umgehen will, glaube ich, dass

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schule, dass wir zu unserer eigenen Angstauch stehen und den Studierenden vermit-teln müssen, dass es uns genauso geht. Wennwir uns auf einen Thron setzen, Lampen-fieber und Ängste negieren und vermitteln,dass der durchs Raster fällt, der sich nichtgenau so verhält, dann projiziere ich etwas,das genau das Gegenteil bewirkt, nämlicheine noch größere Angst. Wenn wir unsauf eine gewissermaßen gleiche Ebene be-geben, als Menschen, die miteinander etwaserarbeiten, dann ist eine größere Chanceda, eine wirklich fundierte Ausbildung inGang zu setzen.

Haben Sie Angst im Instrumental-unterricht oder im Gesang?

Terbuyken: Im Klavierunterricht habeich natürlich Angst, wenn ich weiß, ich binnicht gut vorbereitet. Wenn ich aber weiß,dass ich gut vorbereitet bin und es klapptdann trotzdem nicht, dann bekomme ichvielleicht kurz Angst. Doch dadurch, dassmein Lehrer um meine Angst weiß undsich damit beschäftigt, ist meine Angst eineganz andere. Dann kann ich sie positiv um-setzen und habe das Gefühl, in dem Unter-richt zu Hause zu sein.

Die Angst ist immer vorhanden, auchim Unterricht, denn der ist ja immer wiedereine Art Prüfungssituation, der man sichaussetzt. Der Lehrer will natürlich wissen,was man geschafft hat, und man selbstmöchte ja auch weiterkommen und setztsich dadurch Stress aus. Aber wenn manmit seiner Angst bewusst umgeht, kannman viel mehr erreichen.

Herr Kellig hat inzwischen mehrfacheine spannende Idee realisiert, die im Rahmen

der Musikhochschulausbildung vollkommenneu ist. Können Sie kurz beschreiben, wie mansich einen Kurs mit ihm bei den internationa-len Interpretationskursen in Toblach in Italienoder im Hochseilgarten vorstellen muss?

Terbuyken: Das Seminar im Hochseil-garten lief so ab, dass wir mit der komplet-ten Klasse dort hingefahren sind, also miteiner Gruppe, die sich schon relativ gutkannte. Das war wichtig, denn es gab schonein Grundvertrauen in die Gruppenmitglie-der. Wir wussten alle nicht, was auf unszukommt, wir wussten nur, dass es einenHochseilgarten geben würde, wir aber auchKlavier spielen würden. Unsere Einstellungdem Projekt gegenüber musste also sehroffen sein, wir waren alle sehr gespannt.Wir haben dann als Vorbereitung ein Kla-vierstück bekommen, jeweils vier oder fünfStudenten dasselbe. Das Hochseil muss mansich als überdimensionales Klettergerüstvorstellen, zuerst drei Meter hoch, späteracht Meter. Am ersten Tag sind wir unterAnleitung von fünf Trainern angeseilt aufdie untere Ebene gegangen. Die größteÜberwindung war, erst einmal dorthochzusteigen.

Ist jemand abgestürzt?Terbuyken: Nein. Das wäre auch nicht

möglich, denn man ist immer mit Seilengesichert. Gleichzeitig wird man von denTrainern betreut, die psychologisch arbei-ten und auf alles sehr individuell eingehen.Am zweiten Tag haben wir dann morgensKlavier gespielt und versucht, die Hochseil-Erfahrung auf die Bühne zu übertragen.Wir haben direkt vor Publikum gespieltund versucht, die Gefühle vom Hochseilam Klavier nachzuvollziehen. Nachmittagssind wir dann auf die höhere Ebene gegan-gen – acht Meter sind noch eine ganzandere Erfahrung. Da haben einige nichtmehr mitgemacht. Die meisten ließen sichaber darauf ein und waren am Abendvoller positiver Energie.

Abends haben wir dann wieder Klaviergespielt und versucht, auch auftretendenegative Empfindungen wieder positiv um-zusetzen.

Kellig: Das heißt konkret, dass die Angstohne Scheu angesprochen werden konnte.Indem wir das getan haben, interaktionellund durch Selbsterfahrung, legte sich dieNervosität. Ein Stück selbst vorzubereitenund das dann auch noch innerhalb diesesHochseilwochenendes vor fremden Leutenvorzuspielen, hat die Angst ja erst einmalgesteigert. Aber sich einzugestehen, Angstzu haben, hat die Befreiung erst ermöglicht

MUSIK�ORUM48

Schon drei Meter sind unglaublich hoch,wenn man von einer Plattform auf denBoden blickt. Als die ganze Klasse sichüberwunden hatte und auf der Plattformangekommen war, ging es dann mit Balan-cieren über Holzbalken ohne Haltemög-lichkeit weiter. Schon hier zeigten sichgroße Ängste, die sogar zu Tränen führten.Nachdem es alle dann doch geschafft hat-ten, erfasste uns abends ein kollektivesGefühl des Stolzes und der positivenÜberraschung.

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BILDUNG.FORSCHUNG

Starke Erfahrung im Hochseilgarten: Da flossen

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und ausgelöst. Es passieren dadurch neuro-logische Vernetzungen, die im Sinne derSelbsterfahrung zur Sprache kamen – inBezug auf das Klavierspielen wie auch aufdie ganz persönlichen Ängste. Es flossenviele Tränen, aber diese Tränen befreiten.Ich selbst war auch sehr gerührt, meineStudenten in dieser Situation zu erleben.

Was empfinden Sie denn selbst, wennSie auf dem Hochseil sind?

Kellig: Als ich das erste Mal auf demHochseil war, hatte ich ein ganz entschei-dendes Schlüsselerlebnis. Zu der oberstenEbene führt ein Kletternetz, über das manauf die oberste Plattform gelangt. Ich warvöllig paralysiert vor Angst. Der Therapeutstand oben und ich fragte ihn, wie ichdenn jetzt nach oben käme. Die Antwort:Ich solle einfach klettern. Aber ich konntenicht. Nach weiteren fünf Minuten fragteer mich, ob ich Hilfe bräuchte.

Ich bejahte das, worauf er fragte, warumich das nicht schon vorher gesagt hätte.Jemanden um Hilfe zu bitten, ist eins dergrößten Probleme, die Menschen haben.Die Ängste auszusprechen und um Hilfezu bitten, war ein ganz wichtiger Punkt.Das habe ich auch an meine Studentenweitergegeben.

Die Erfahrung auf dem Hochseil sprichtSensitivität, Sensibilität, Vertrauen, Überlas-sen, Aneignen und Gelassenheit an: Grund-elemente, die wirklich erlebt werden. Inder Selbsterfahrungsgruppe „Ist Musik meinLeben oder Mein Leben Musik“ haben wirsehr ausführlich darüber gesprochen, wel-chen Stellenwert Musik für den Einzelnenhat. Da ging es darum, dass Berufung, Hoff-

nung, Erwartung, Erkenntnis, Bekenntnisdie zentralen Fragestellungen sind. In demKurs wurde aber nicht nur die Individuali-tät angesprochen, sondern auch das Teamund die Teamerfahrung.

Welche Konsequenzen zieht dieHochschule in Detmold aus den Erfahrungen,die Sie mit dieser Arbeit gemacht haben.

Kellig: Ich hoffe, dass die richtigen Kon-sequenzen gezogen werden. Ich habezusammen mit dem Rektor Kollegen ausLehre und Verwaltung eingeladen, einenTag am Hochseilgarten zu erleben. Dortwerden wir dann gemeinsam verschiedeneVertrauensübungen machen und ins Hoch-seil gehen. Abschließend soll eine Refle-xionsphase das Erlebte aufarbeiten. MeinZiel ist es, durch das gemeinsame Erlebnisauch die Verbindung zwischen Verwaltungund Lehre herzustellen.

Und vor allem geht es darum, festeTherapeuten-Stellen in den Lehrbetrieb miteinzubeziehen, sodass der Umgang miteigenen Ängsten Bestandteil der Ausbildungwird, vor allem auch in den künstlerischenStudiengängen.

Nicht alle Hochschulen werden solcheKonzepte umsetzen können und wollen.Andererseits werden sich seelische Problemein jeder Instrumentalklasse der 23 Musikhoch-schulen in Deutschland wiederfinden lassen.Was würden Sie – auch im Hinblick aufknappe Finanzen – den Hochschulen raten,die nicht unbedingt den Weg über den Hoch-seilgarten gehen wollen, aber das Problem derAngst anzupacken bereit sind?

Kellig: Es gibt sicher auch andere Mög-lichkeiten. Der Hochseilgarten ist nur eine.

Eine wesentliche Forderung meinerseits ist,dass alle Kollegen Offenheit einwickeln –in Bezug auf Weiterbildung und den Um-gang mit sich selbst. Niemand kann alleskönnen. Dies anzunehmen wäre nur eineLast, die an die Studenten weitergegebenwürde. Die vielen anderen Möglichkeiten,die sich daraus ergeben, entspringen derKreativität.

Mirjam Terbuyken, Sie stehen amEnde Ihres Studiums. Wenn Sie einem Erst-semesterstudenten einen Tipp geben sollten,was würden Sie raten?

Terbuyken: Ich würde vor allem sagen:Hört immer auf euer Innerstes, auf dieMusik, die in euch selbst wohnt. Nehmtdie Angst und die Gefühle, die immer dasind, als positiven Weg und als Wegbe-gleiter.

Redet mit euren Kommilitonen darüber,denn jeder hat Ängste. Das ist etwas ganzNatürliches. Wenn ihr Probleme habt, gehtund fragt jemanden, sucht euch Hilfe undRat. Steht dazu, dass ihr Angst habt!

Tränen der Angst, aber diese Tränen befreiten…

Die Bilder auf dieser Seite entstanden beieinem Besuch von Studenten der DetmolderHochschule für Musik im Hochseilgarten„Wollmarshöhe“ in Bodnegg.

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BILDUNG.FORSCHUNG

„Das war so einer der seltenen Momen-te, über die man sich als Mitglied des Präsi-diums des Deutschen Musikrats besondersfreut“, erinnert sich DMR-Vizepräsident HansBäßler an die Anfänge der gemeinsamen Ini-tiative von Musikrat und Yamaha-Stiftung.Asmus Hintz, Leiter der Yamaha Academyof Music und Stiftungs-Vorstandsmitglied, seinach Hannover gekommen und habe dieBereitschaft von „100 Jahre Yamaha“ e. V. er-klärt, mit einem Wettbewerb Innovationenim pädagogischen Bereich zu fördern.

Der Yamaha-Stiftung sei es ein Grundan-liegen, nicht nur die musikalische Breitenbil-dung in Deutschland zu fordern, sondern sieauch zu fördern, erklärt Asmus Hintz. „Waslag da näher, als mit dem Deutschen Musik-rat zusammen diese Idee durchzusetzen.Die Möglichkeit, dass die einzelnen Projek-te im vergangenn Jahr ihre Auszeichnungauf der Musikmesse durch den Bundesprä-sidenten erhielten, war ein besonders glück-licher Umstand“, so Hintz.

Was der Wettbewerbbewirken will

Mit der gemeinsamen Initiative setzensich Musikrat und Yamaha-Stiftung für dieEntwicklung und Förderung musikalischerBreitenbildung der Kinder vom 4. Lebens-monat an bis zur Pubertät ein. „Jedes Kindsoll den eigenen Umgang mit Musik alsselbstverständlichen Bestandteil seines tägli-chen Lebens erfahren,“ betont Hintz. „Wirmüssen die Chancen des Musiklernens in

Bereits zum zweiten Mal wird der Musikpreis INVENTIO für Innovationenin der musikalischen Bildung vergeben. Mit dem Wettbewerb werden

Projekte ausgezeichnet, die für die musikalische Bildung von Kindern,Jugendlichen oder Erwachsenen zukunftsweisend sind. Der DeutscheMusikrat (DMR) und die Stiftung „100 Jahre Yamaha“ bereiten mit dergemeinsamen Ausrichtung des INVENTIO 2005 dazu den Weg. Der Preisist mit insgesamt 10000 Euro dotiert.

Gruppen erkennen und solche Initiativenunterstützen.“

Und Bäßler ergänzt: „Es geht darum zu zei-gen, dass die Vielfalt ganz unterschiedlichermusikalischer Bildungsinitiativen zu einerwirklichen Verbesserung der recht desola-ten Situation gerade des Musikunterrichts inden Kindergärten und Schulen führen kann.“

Bliebe die Frage, wie all diese ausgezeich-neten Projekte dazu beitragen können, mu-sikalische Bildung in Deutschland wirklichbreitenwirksam zu implementieren. „Das isteine Aufgabe des Deutschen Musikrats“, er-klärt Bäßler. „Er muss mit unterschiedlichenImpulsen auf politischen Wegen dafür sor-

gen, dass die Anregungen publik und inkonkrete Bildungs- und Kulturpolitik umge-setzt werden.“

Das Engagement, die Motivation, dieGeschicklichkeit und die Ausdauer der Pro-jektinitiatoren, Neues zu wagen und zu ver-wirklichen, solle durch den INVENTIO-Preis bekannt gemacht werden und anderezur Nachahmung ermuntern, unterstreichtHintz. „Wir erwarten, dass durch die Förde-rung und Belohnung der Eigeninitiative einRuck der Ermutigung durchs Land geht undmehr an das Umsetzen als an das Klagenüber widrige Umstände gedacht wird.“

Zukunftsvisionen

Er habe das Ziel, dass in 20 Jahren jedesKind ungeachtet seiner sozialen Herkunftdie Wirkungen musikalischer Bildung erfah-ren und nutzen könne, beschreibt Stiftungs-und Vorstandsmitglied Hintz seine Visionfür die Zukunft in Bezug auf das Thema Mu-sikalische Breitenbildung. „Wirkliche Verän-

FÖRDERT INNOVATIONEN IN DERMUSIKAUSBILDUNG

Wettbewerb und Musikpreis:

INVENTIO 2005Wer kann teilnehmen?Aufgerufen sind alle, die herausragen-

de musikpädagogische Innovationenkonzeptionieren, realisieren oder erfor-schen. In ihrem Charakter müssen dieKonzepte nachhaltig die schulische und/oder außerschulische musikalische Bil-dung verbessern.

Wo bewirbt man sich?Weitere Informationen und die Aus-

schreibungsunterlagen erhalten Sie bei:Birnkraut | PartnerINVENTIO 2005Thadenstraße 130 A, 22767 [email protected]

Einsendeschluss: 31. Juli 2005

„INVENTIO“

derungen und Reformen“, so Hintz, „wer-den nicht durch Verordnungen von oben er-reicht, sondern nur durch Modelle und Er-fahrungen von unten. Reformen beginnen inden Köpfen. Köpfe ändert man aber nichtdurch Erlasse, sondern durch Erfahrungen.“

DMR-„Vize“ Hans Bäßler seinerseits träumtdavon, sich zukünftig nicht mehr rechtferti-gen zu müssen, „wenn man sich für die mu-sikalische Bildung von Kindern und Jugend-lichen einsetzt. Es ist doch selbstverständ-lich, dass alle, die es wollen, musikalische Bil-dung in ihrer ganzen Breite erfahren können,ohne dass sie dafür Geld bezahlen müssen.“

Gesa Birnkraut

Mitinitiator des Innovationspreises: Asmus J.Hintz, Vorstandsmitglied der „Stiftung 100Jahre Yamaha“ e.V. und General ManagerMusic Education der Yamaha Music CentralEurope GmbH.

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51MUSIK�ORUM

DOKUMENTATION

SIEBEN THESEN ZUR Musik in der SchuleIm Juli 2004 war es Wunsch des Präsidiums des Deut-schen Musikrats, eine möglichst griffige Formulierungfür die Aufgaben und Ziele des Musikunterrichts an deut-schen Schulen zu finden. Die Bitte um ein Positionspapierwurde an den Bundesfachausschuss Musikpädagogikweitergeleitet. Ihm ist nach eingehenden Diskussionennun so etwas wie die „Quadratur des Kreises“ gelun-

gen: nämlich zu formulieren, worin Essentials für einengelungenen Musikunterricht bestehen müssen. In sei-ner Sitzung am 12. März verabschiedete das Präsidiumden Text mit kleinen Änderungen. Die Präambel undsieben Grundsatzthesen stellen wir hier vor, weitereAusführungen des Positionspapiers finden Sie in dernächsten Ausgabe des MUSIKFORUM.

Präambel

Musik ist im privaten wie im öffentli-chen Leben in einer Weise gegenwärtig,wie dieses von einer anderen gesellschaft-lichen Tätigkeit kaum behauptet werdenkann. In besonderem Maße gilt dieses fürden Bereich der Kinder- und Jugendkultu-ren. Hier dient Musik sowohl der jugend-lichen Identitätsbildung als auch der grup-penspezifischen Abgrenzung von Jugend-kulturen untereinander.

Darin wird u. a. deutlich, dass Musikden Menschen wesentliche Erfahrungenermöglicht, die durch keine andere Tätig-keit gewonnen werden können. Unmög-lich ist es, diese sprachlich exakt zu fassenund zu beschreiben; denn wären sie die-ses, so wäre Musik überflüssig, da die da-rin zu gewinnenden Erfahrungen dannbereits über die Sprache zu erwerben wä-ren. Eines lässt sich jedoch zweifelsfrei sa-gen: Musik hören, Musik machen und et-was über Musik erfahren bereiten eine

spezifische Freude, ein Vergnügen ganzbesonderer Art und ein subjektiv als denganzen Menschen durchdringend empfun-denes Wohlbehagen; darüber hinaus stel-len diese Tätigkeiten vielfach eine ganz be-sondere Nähe zu anderen Menschen her.

Musikunterricht führt heran an diepraktische und geistige Auseinanderset-zung mit der eigenen kulturellen Identitätund schafft zugleich die Voraussetzung fürdie Entdeckung des Fremden, der kultu-rellen Identität der Anderen. Er kann ineiner multikulturellen Gesellschaft eineentscheide Katalysatorfunktion für künfti-ge Generationen erfüllen.

Musik heute entfaltet sich vor demHintergrund zum Teil weit zurückreichen-der sowie kulturell höchst unterschiedli-cher Musiktraditionen in großer Vielfaltund Breite. Die darüber zu gewinnendenErfahrungen werden jedoch vielfach nursehr eingeschränkt wahrgenommen. Er-

fahrungen aber sind erweiterbar, und dieMöglichkeiten der Erweiterung sind lern-und lehrbar.

Der zuletzt genannte Sachverhalt unddie Tatsache, dass die öffentliche Musik-praxis – wie nur von wenigen anderenTätigkeiten in ähnlicher Weise zu behaup-ten – substanziell, für Kinder und Jugend-liche bisweilen sogar existenziell, in denSchulalltag hineinreicht, macht es unab-wendbar, (a) die bereits vorhandenen Er-fahrungen im Schulunterricht aufzugrei-fen und über sensible unterrichtliche Leh-re im Interesse des Kindes und des Jugend-lichen erweitern zu helfen; (b) Kindernund Jugendlichen alle nur denkbaren Mög-lichkeiten anzubieten, ganz neue, bishernicht gekannte Erfahrungen zu machen.Dieses ist umso bedeutsamer, als die allge-mein bildende Schule der einzige Ort ist,an dem alle Kinder und Jugendlichen er-reicht werden.

Thesen

Musikunterricht muss

1. Freude an Musik wecken durch

ˇ eigene wie auch gemeinsame Musizierpraxis (Singen, Tan-zen, Instrumentalspiel),

ˇ vielfältige Hörerlebnisse und Hörerfahrungen,ˇ eigenes musikalisches Gestalten und Erfinden;

2. die Sensibilisierung und Differenzierung des Ohres und deranderen Sinnesvermögen fördern;

3. im Zusammenhang mit der sinnlich konkreten Erfahrung vonMusik Wissen über deren Entstehung, Struktur und Nutzungvermitteln;

4. anregen, außerunterrichtliche und außerschulische Beschäfti-gung mit Musik zu erweitern und zu vertiefen;

5. die Vielgestaltigkeit der Musik, insbesondere in den Erschei-nungsformen der Neuen Musik, der Populären Musik wie auchder Musik außereuropäischer Kulturen, mit ihren historischenEinschlüssen und in ihren aktuellen Gestaltungen erschließen;

6. die Vernetzung von Musik mit anderen Denk- und Tätigkeits-formen sichtbar machen;

7. die eigene Musikkultur in Geschichte und Gegenwart verste-hen lernen.

Deutscher Musikrat positioniert sich:

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MUSIK�ORUM52

DOKUMENTATION

DES ZWICKAUER SCHUMANNHAUSESSorgen um die Zukunft

Geburtshäuser von bedeu-tenden Komponisten der

Vergangenheit sind – ähnlich wiedie aller bedeutenden Künstlerund Wissenschaftler – im 20. und21. Jahrhundert häufig zu Museenund Gedenkstätten umgestaltetworden, vorausgesetzt sie sindnoch im Originalzustand erhaltenbzw. nur geringfügig verändertworden.

Sie dienen im Wesentlichen dazu, demNichtfachmann das Milieu zu vermitteln,dem der Künstler entstammt: Weniger dasWerk selbst steht im Mittelpunkt als die Vo-raussetzungen, die seine Entstehung an-bahnten bzw. zur Formung der schöpferi-

schen Persönlichkeit beitrugen. Nur in rela-tiv wenigen Fällen erfüllen Geburtshäuserzugleich eine ganz andere Funktion: nämlichdie als Forschungsstätte und zentraler Kno-tenpunkt, in denen die Nervenstränge derForschung zusammenlaufen, weil in ihnensolche Quellen lagern und philologisch-archi-valisch aufbereitet werden, auf denen jedeernst zu nehmende wissenschaftliche For-schungsarbeit beruht.

Eines der wenigen Häuser, das diese bei-den grundverschiedenen Funktionen in glei-cher Weise erfüllt, ist das Robert-Schumann-Haus in Zwickau. Wie nur wenige Gedenk-stätten steht es unübersehbar im Zentrumder Stadt, bildet als ehemaliges großes bür-gerliches Wohn- und Arbeitshaus einen un-verzichtbaren Teil des Hauptmarkts und prägtdas historische Stadtbild entscheidend mit.In ihm befinden sich die Sammlungen, deren

Ausgangspunkt das 1910 von Martin Kreisiggegründete Museum bildet. Kreisig sowieseine Nachfolger Georg Eismann, MartinSchoppe und Gerd Nauhaus waren Pioniereder Schumann-Quellenforschung. Von dervon ihnen betreuten Institution gingen diegroßen Editionen der Schriften, Briefe undTagebücher Schumanns aus, die bis heuteweltweit das Fundament der Schumannfor-schung bilden. Es dürfte weltweit kaum ei-nen Schumannforscher geben, den seine Ar-beit nicht mindestens einmal, meist jedochöfter, nach Zwickau geführt hat. Für dieneue Ausgabe der Werke Robert Schu-manns, deren Editionszentrum noch zu Zei-ten der deutschen Teilung in Düsseldorf (alsder einzigen westdeutschen Stadt, in derSchumann für längere Zeit gewirkt hat) etab-liert wurde, bedeutet das Zwickauer Schu-mannhaus den wichtigsten Bezugspunkt.

Neubesetzung des wichtigen Direktorenpostens wird zur Finanzierungsfrage – Lösung ungewiss

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53MUSIK�ORUM

Wegen der Fülle an Materialien zum Lebenund zum Werk des Komponisten, die in die-ser Vollständigkeit an keinem anderen Ortder Welt zu finden ist, wurde hier auch eineeigene wissenschaftliche Mitarbeiterstelleeingerichtet. Darüber hinaus fungierte dasSchumannhaus bereits zu DDR-Zeiten alswichtige Begegnungsstätte für die weltweiteSchumannforschung, von der wichtige Im-pulse ausgingen und weiterhin gehen. Überviele Jahrzehnte hinweg fanden hier wissen-schaftliche Symposien statt, wurden renom-mierte wissenschaftliche Publikationsreihenherausgegeben.

Daneben erfüllte das Schumannhauswichtige kulturpolitische Aufgaben. Schonzu DDR-Zeiten wurde der Robert-Schu-mann-Wettbewerb eingerichtet, dessen Pla-nung und organisatorische Ausrichtungdem Schumannhaus obliegen und dessenRenommee maßgeblich seinen Leitern zuverdanken ist. Darüber hinaus bedeuten diehier durchgeführten Konzertreihen seit Jahr-zehnten einen für Stadt und Region wesent-lichen Attraktionspunkt. Sie setzen für dieAufführungspraxis von Schumanns Werkund für die Musik seiner Zeit wichtige Ori-entierungsmarken.

Hohe Kompetenz verlangt

Aus all dem wird klar, dass die Qualitätder Institutionsleitung von ausschlaggeben-der Bedeutung ist. In ihr müssen mindes-tens drei Kompetenzbereiche zusammen-kommen, ohne die das Haus seine Aufga-ben nicht erfüllen kann: Der Leiter musserstens ein Schumannforscher von hohemRang sein; er muss zweitens über ein siche-res Urteil auf künstlerischem Gebiet sowieüber Fantasie zur Weiterentwicklung subs-tanzieller Beiträge des Schumannhauseszum musikalischen Leben verfügen; drit-tens muss er ein beträchtliches Geschick ha-ben in der organisatorischen, finanziellenund kulturpolitischen Steuerung des in sichäußerst heterogenen Komplexes von wissen-schaftlichen, künstlerischen und gesellschaft-lich-pädagogischen Aufgabenstellungen.

Ausgerechnet diese Leitungsfunktionsollte jetzt, da der Vorruhestand des bisheri-gen hochverdienten Direktors Gerd Nau-haus ansteht, auf unabsehbare Zeit unbe-setzt bleiben, da sich die Stadt Zwickau –die alleinige Trägerin der Institution – in ei-ner schwierigen finanziellen Situation befin-det. Man glaubt in der Verwaltung allenErnstes eine Lösung in der Aufteilung derStelle zu sehen: Die wissenschaftliche Hälftesoll von der derzeitigen im Auftrag der Ge-samtausgabe im Schumannhaus arbeiten-

den Musikologin Ute Bär übernommenwerden, die organisatorische dagegen vomDirektor eines Museums, das sich bishervorwiegend mit der Stadt-, Regional- undBergbaugeschichte befasste. Abgesehen vonder absurden Vorstellung, das weltweit größ-te Schumann-Archiv werde künftig von ei-nem Archäologen repräsentiert, zeugt dieIdee, die Aufgabe des Leiters dieser For-schungsinstitution – sie ist mit dem künstle-rischen Management zu einer Doppelfunk-tion verknüpft – sei als Teilzeitarbeit zu erle-digen, nicht nur von der Unkenntnis derkommunalen Kulturfunktionäre bezüglichdes puren Umfangs der hier anfallenden Ar-beit; sie wirft auch ein bezeichnendes Lichtauf die Bewertung der Bedeutung musikwis-senschaftlicher Arbeit und ihrer Ergebnissefür die Formierung des gesamtgesellschaft-lichen kulturellen Bewusstseins.

Zwar hat eine – sowohl in der Stadt alsauch deutschland- und europaweit – losbre-chende Welle der Empörung und des Pro-tests dazu geführt, dass seit der Sitzung desstädtischen Haupt- und Verwaltungsaus-schusses am 3. März die Ausschreibung und

Wiederbesetzung der Stelle nicht mehr in Fra-ge steht, doch: Der Vorgang zeigt schlag-lichtartig auf, dass damit die Zukunft derInstitution keineswegs gesichert ist. Der Zu-stand, dass sie allein von der Stadt abhängtund total den Wechselfällen der finanziellenSituation, aber auch der kultur- und gesamt-politischen Wetterlage ausgesetzt ist, erscheintmittel- und langfristig unmöglich. Es bedarfschnell einer Lösung, in die Bund und Landeingebunden werden.

Die derzeitigen Träger sollten endlich Ge-spräche mit den zuständigen Ministerien su-chen, wobei musikpolitischen Gremien –allen voran Landesmusikrat und DeutscherMusikrat – wichtige Aufgaben als Katalysa-toren und Beratungsinstanzen zukommen.Nur so ist zu gewährleisten, dass das Schu-mannhaus die ihm (im Sinn des 2002 vonPaul Raabe erarbeiteten Blaubuches) gebüh-rende Rolle als „kulturellem Gedächtnisort“bei der Förderung und Weiterentwicklungeiner weltweit maßstabsetzenden Schumann-Forschung und Schumann-Interpretationspielt.

Arnfried Edler

Milieu derkünstlerischen

Entfaltung:das Gedenk-

zimmer imZwickauer

Schumannhaus.

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MUSIK�ORUM54

PORTRÄT

Aufgewachsen in Peking, wo beide Eltern Ärzte sind,studierte Yueyang Wang in der chinesischen MetropoleKomposition (1991-1994), setzte ihre Studien dann ander Staatlichen Hochschule für Musik und DarstellendeKunst in Stuttgart fort, wo sie zwischen 1995 und 1999den Schwerpunkt Neue Medien und Musiktheorie wählte.Stipendien und ein Aufbaustudium an der Berliner Uni-versität der Künste (2002-2003) schlossen sich an.

Sie lebt und arbeitet in Berlin.

Sie lebt seit 1995 in Deutschland,sucht nach neuen kompositorischen

Ansätzen und findet zugleich eigenechinesische Wurzeln.

YUEYANG WANG ERZÄHLT

Mit der chinesischen Elektronik-Komponistin und Klanginstallateurin sprach Ulrike Liedtke

Geschichten

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55MUSIK�ORUM

Yueyang Wang ist aufgeschlossen. Tem-peramentvoll reagiert sie mit ihrer Kunst aufMenschen und Eindrücke um sie herum:Die Klanginstallation Wo bin ich? VI 3BBern-Berlin-Beijing lotet Innen- und Außen-räume eines von Klangschläuchen durchzo-genen Projektraums in Bern aus. Auf derKryptonale 9 in Berlin führt sie Peepshowauf – mit dem Schlüsselloch-Blick auf Zym-bal, Erhu, Saxofon, Live-Elektronik, Tanzund Licht. Für den 4. Internationalen Feuer-salon in Stromboli (Italien) inszeniert sie eineAusstellung auf einem aktiven Vulkan (alles2003). Als sie zum Stipendien-Aufenthalt indas kleine märkische Rheinsberg kommt,liest sie den Einheimischen aus Marco Polovor (Vom Ende der Welt – weit hinter Indien)und spielt Zheng, eine Art Tischzither mit3000-jähriger Geschichte. Sie kommentiertden Bericht von Graf Schleuben aus Kine-sien und stellt China in der Zeit des preußi-schen Königs Friedrich II. vor. Über die chi-nesische Vogeltapete im Rheinsberger Schlossbemerkt sie: „Es müssen genau einhundertVögel auf ihr abgebildet sein, ansonsten istsie nicht echt.“ Ob das wohl stimmt?

Nach unserem Gespräch schreibt mirYueyang Wang, was ihr wichtig ist. Ich gebees deshalb genau wieder und zitiere ausdem Brief:

„Nachfolgend zu unserem persönlichenGespräch am Abend des 5. November muss-te ich mich daran erinnern, was mein alterProfessor von der Staatlichen Musikhoch-schule Peking, Herr Zhongrong Luo, heutesicher schon 80 Jahre alt, mir mit auf denWeg gegeben hatte:

Man kann nur nachhaltig und mit Liebekomponieren, wenn man ein korrekter Menschist und Oberflächlichkeit vermeidet. Man sollanstreben, gewissenhaft und ernsthaft bereitsErlebtes wiederzugeben und zu einem neuenEindruck bereit sein. Das schließt ein, dass mandie Natur beim Erleben als gegeben akzeptiertund den Alltag und das gesellschaftliche Um-feld als Erzählung dazu betrachtet …“

„Lai Qu...“, „Kommen und gehen“ heißteine Komposition für Zheng und Live-Elekt-ronik von 2002. Ankommen, weggehen, inverschiedenen Teilen der Welt – auch einephilosophische Frage?

Yueyang Wang: Man weiß nicht, wasspäter passiert, wann es Kommen oder Gehenist. Die Komposition beschreibt eine Reise-geschichte. Im August 2001 war ich für zweiWochen in der Toscana bei einem Musik-Workshop. Diese Landschaft war so toll, abermeine Stimmung schlecht, ich war krank undeinsam, hatte Heimweh. Nachts stand dasFenster offen, man konnte die Ruhe hören,aber ich hatte keine Ruhe. Ich wollte dieLandschaft malen, im Bild festhalten. Ichkann gar nicht wirklich malen, aber als ich esversuchte, entstand die Idee für eine Kompo-sition. Ich habe mein Bild auf eine Postkartegeklebt und einem Künstlerkollegen, AndréBartetzki, nach Berlin geschickt. Wir wolltenein neues Stück machen, aber ich hatte erstjetzt, in der Toscana, eine Vorstellung davon.Dann haben wir gemeinsam in seinem Ton-studio Klänge ausprobiert. Er wusste genau,was ich suchte, aber es hat langegedauert, ehe wir diese Sonnen-klänge fanden. Ausgangspunkt wareine traditionelle chinesische Me-lodie. Es gibt 1000 Möglichkeiten,damit umzugehen und neue Klän-ge zu produzieren. Zwischendurcherklingen unerwartet Kuhglocken.Die hatte ich im Kopf gespei-chert, als ich auf einem Berg inder Schweiz stand – es war un-glaublich, dieser Klang. Obwohldie eigentliche Komposition schonfertig vorlag, fehlte mir etwas amSchluss: die Peking-Geräusche! Ichhatte sie selbst zuvor in Peking aufder Straße aufgenommen. Kom-men und Gehen hat immer etwasmit Peking zu tun. Zurückkom-men mit in die Schweiz, nach Stutt-gart, Rheinsberg oder Berlin gehen. Das istauch meine Geschichte, eine Aufzeichnungmeiner Erlebnisse. Meine Stücke erzählenimmer eine Geschichte von mir.

Geschichten, die Musik und Natur mit-einander verbinden, wobei Natur nicht nurvorstellbar ist als Berge, Seen, Sonne, son-dern auch als Gefühl wie Heimweh, Sehn-sucht, Trauer und Freude. In der alten chine-sischen Vorstellung glaubten die Menschen,Musik habe Einfluss auf die Natur, könneetwa Regen herbeizaubern. Später war dieAuffassung verbreitet, die menschliche See-le könne Ruhe finden beim Anhören vonMusik. Leben diese Gedanken fort?

Meine Impulse und/oder meine Ideennehme ich aus der Natur in China bzw. ausaußermusikalischen Anreizen durch tradi-tionelle, alte Techniken in China, zum Bei-spiel das rhythmische Arbeiten bzw. mar-kante Klappern einer Reismaschine, aberauch neue Techniken in China wie die Ge-räusche der Autoproduktion in Shanghaiund das Fahrgeräusch des Transrapid, das inDeutschland nicht live zu bekommen ist,weil der Transrapid hier nicht fährt.

Ich bemühe mich gerade um Geräusch-aufzeichnungen vom ersten Weltraumstarteines chinesischen Astronauten. Auch hiergibt es in Deutschland nichts vergleichbaresEigenes.

Anregungen für die zeitgenössische Mu-sik, für das Komponieren aus Schnittmen-gen zwischen Natur und Musik finde ich

sehr gut. Und ich persönlich sehe die Gren-zen für die Neue Musik dort beginnen, woman die Schnittmengen verlässt, um eigenekünstlerische Freiheit zu suchen und zu fin-den. Deshalb besteht bei meiner Arbeit alsKomponistin und Musikerin immer auchein Bezug zum Taoismus: Tao als Werk, alsLeben, als Vollendung, als Arbeit, als Auf-gabe und als Verantwortung, Tao als Sein.Diesbezüglich ist Tao nicht übersetzbar. Manbraucht das: Erleben, die Vorstellung unddas Geschick des erfolgreichen Umsetzens.

!

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Dafür nutzen Sie alles Hörbare als Mate-rial, fügen ohne Scheu und „global“ zusam-men, was Ihnen erzählenswert erscheint. Siekomponieren die Materialbestandteile nachganz unterschiedlichen Verfahren zusam-men – neben fester Notation gibt es Ab-schnitte von unbestimmter Tonhöhe, Impro-visationen, Live-Elektronik, die jeden Abendzu einem anderen Ergebnis führen wird.Kann man sagen, dass es Ihnen eher auf denAusdruck als auf die genaue Wiedergabeder Töne ankommt?

Ja, das ist mir auch am Wichtigsten. Diebestimmte Tonhöhe spielt keine so wesent-liche Rolle. Wichtig ist, wie es klingt, wel-ches Gefühl dahinter steht. In alter chinesi-scher Musik spiele ich oft nur chinesischeZeichen, die aussagen, wie lange eine Notezu sein hat, wo der Schwerpunkt einer Phra-se liegt oder es ist die Spielweise vorge-schrieben. Es gibt Raum für individuelle In-terpretation. Das liegt sicher auch daran,dass es in China lange Zeit keine der euro-päischen Musik vergleichbare verbindlicheNotenschrift gab.

Bei mit basiert jedes Stück auf einem ei-genen Kompositionsverfahren. In den DreiChinesen mit ’nem Kontrabass habe ichbeispielsweise viel fest komponiert, Notenund Klang bestimmt, aber auch absichtlichImprovisation vorgeschrieben, weil ichweiß, dass nicht das rauskommen wird, wasich erwarte. Meine Kompositionsverfahrenwerden wesentlich bestimmt von den Or-

ten der Aufführung. Ich könnte nur zwölf-tontechnisch komponieren, das habe ich ge-lernt. Aber die Notenlinien und Technikenengen mich auch ein. Meine Musik bestehtaus vielen verschiedenen Bestandteilen, dienur ich so sortiere – gelernte Techniken,Klangfarben alter chinesischer Instrumente,meditative Elemente, Geräusche u. a.

Ich glaube, eine große Rolle in chinesi-scher Musik spielen Variationen. Ich be-schäftige mich jetzt gerade sehr viel mit alterchinesischer Musik und stelle fest, dass diechinesische traditionelle Musik und vieles,was heute noch in China komponiert wird,besonders Wiederholungen nutzt. Aber –und das ist auch ein philosophischer Aspektin chinesischer Musik – diese Wiederholun-gen sind keine wirklichen Wiederholungen,sondern haben immer kleine Veränderun-gen. Im Lauf der Zeit gibt es dasselbe nichtnoch einmal, nur etwa genau so. Ein Motiv,eine lange Melodie kann man 25-mal wie-derholen und immer hat sich etwas Kleinesverändert, eine Stimmung, eine Vortrags-weise, immer auch mit dem Ziel, Gleich-klang zu finden, den es nicht tatsächlich gibt.

Sie wählen szenische Darstellungsweisen,Klangaktionen, Musik geht eine Verbindungmit Visuellem ein, ästhetisch reizvoll undauch witzig, wobei Sie herzhaft über sichselbst lachen können, wie in „Drei Chinesenmit ’nem Kontrabass“…

PORTRÄT

MUSIK�ORUM56

Ich versuche immer, Neues zu erzählen,das Erzählte ist schnell Vergangenheit. Aufder Straße sangen Kinder dieses Lied hintermir her. Drei musizierende Chinesen undein deutscher Polizist auf der Straße – das isteine herrliche kleine Szene! Der Polizist willdie Musikanten mitnehmen, aber die hakensich unter und spielen erst recht auf ihrenchinesischen Instrumenten. Aus dem Laut-sprecher erklingt meine Stimme, Polizistoder Kommentar, ein Zuspielband. DieMusiker spielen live. Das deutsche Kinder-lied diente nur als Anregung, meine Kom-position hat mit der Melodie dieses Liedesüberhaupt nichts zu tun. Stattdessen habeich ganz kurz ein chinesisches Kinderliedeingebaut, nur insgesamt acht Takte, jederin China kennt dieses Lied. Ich stelle kom-positionstechnisch eine Umkehrung davonher, die chinesische Melodie erklingt bei mir„auf den Kopf gestellt“, auch ein bisschenverarbeitet mit ein paar ergänzenden Tö-nen. Meine chinesischen Freunde und Be-kannten haben sofort verstanden, was ichmeine. Das deutsche Kinderlied „Drei Chi-nesen mit ’nem Kontrabass“ löste bei mir dieErzählung über mein Heimweh aus, aberauch Selbstironie. Ich verwende z. B. Wort-spiele mit der chinesischen Sprache überden „Fluss“. Fluss bedeutet Leben, ist Kraft,ist Bewegung, ist Reichtum – zusammenge-fasst: erfülltes Leben. Auch Zitate aus einemsehr schönen, musikalischen Gedicht vonMao Tse Tung zum „Fluss“ beziehe ich ein.

Drei musizierendeChinesen und eindeutscher Polizistauf der Straße –eine herrliche Szene!

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57MUSIK�ORUM

Die beiden Instrumentalisten der chinesi-schen Instrumente haben versucht, mir die-se Worte zu spielen. Das hat mich wiederinspiriert und genau in der Mitte des Stü-ckes kommt das Wort „Zhong Guo“, dasheißt auf deutsch „CHINA“ – das Reich derMitte.

Musik und Tanz gehören in China engerzusammen als in der abendländischen Kul-tur, die Visualisierung von Musik liegt nahe.Sie notieren Ihre Kompositionen mit buntenFarben, in Notenlinien, verbal oder gezeich-net. Sie schaffen Assoziationen durch außer-musikalische Begriffe wie Sonne, Staub, Ar-beiten mit Bildern. Sehen Sie Klangvor-stellungen, Formen, Dramaturgie als Bildervor sich?

Ich habe immer Bilder von meiner Kom-position im Kopf, manchmal auch einenFilm vom Kompositionsprozess. Aber ichdenke nicht in Kunstkategorien, nicht in vor-handenen Gemälden. Vielleicht habe ich zuviel bildende Kunst gesehen. In China warich in jeder Ausstellung. Ich bin gern mit ei-nem Bild alleine in der Ausstellung, ich mussüberhaupt nicht jedes Bild verstehen, aberin meinem Kopf entwickelt sich eine eigeneIdee. Auch in Rheinsberg habe ich viele Bil-der gesehen. Jetzt suche ich bewusst Ab-stand, um wieder eigene Ideen zu erfinden.

Welche neuen Ideen beschäftigen Sie ge-rade?

Im Moment drei neue Stücke: Im Hinter-hof für Frauenstimme, Bassflöte, Kontrabassund Akkordeon, music flies…2 für eine Pia-nistin mit langen Fingernägeln und einenAkkordeonspieler, das dritte Stück verbin-det Musik, Fotokunst und Text unter demTitel Eine Chinesin in Rheinsberg.

Den Asiaten sagt man nach, dass sie ihreGefühle weniger zeigen. Sie sind ein sehr lei-denschaftlicher Mensch. Stimmen unsereeuropäischen Vorstellungen von Menschenund Musik einfach nicht oder sind alle Asia-ten (und ihre Musik) genau so verschiedenwie die Europäer auch?

Ja! Ganz verschieden! Ich bin bald zehnJahre in Europa und vergleiche europäischeund chinesische Musik. Dabei stelle ich fest,dass ich im Erleben die chinesische Musikimmer besser verstehe.

Preise und Stipendienfür Yueyang Wang:Pekinger Akademie-Preis für Chor-Kompo-

sition (1992); Internationale Ferienkurse fürNeue Musik, Darmstadt, Förderpreis (1998und 2000); Donaueschinger Musiktage, För-derpreis (1999); Rotary Stiftung, Stipendium(1998-2000); Musikstiftung L-Bank Baden-Württemberg Stipendium (1999-2000); Pro-jektförderung der Stadt Esslingen (2001);Projektförderung LBBW (2001); Kulturförder-preis Zukunftsstiftung Germany (2002); Sti-pendium für künstlerischen Nachwuchs Berlin(2002-2003); Hauptstadtkulturfonds Projekt-förderung (2003); Landesstipendium Schles-wig-Holstein für Komposition, Lübeck (8/9.2003); Kompositionsstipendium im Künstler-haus Schloss Wiepersdorf der Stiftung Kultur-fonds (April-Juli) 2004; Berliner Kompositions-auftrag für „Im Hinterhof“ Berlin 2004; Sti-pendium für Komposition in der Bundes- undLandesmusik-Akademie Rheinsberg 2003/04.

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MUSIK�ORUM58

Beinahe täglich lesen wir in derZeitung von Unternehmens-

pleiten, von Stellenabbau undgeringen Wachstumsaussichten.Gerade die traditionellen deutschenIndustrien sind davon betroffen:Die Automobilindustrie, die Bau-branche, die chemische Industrie– alle klagen sie über zunehmendschlechtere wirtschaftliche Bedin-gungen und verlagern Arbeits-plätze ins Ausland.

Deutschland ist als Produktionsstandortzu teuer. Um die Auswirkungen der Globa-lisierung abzufangen, muss Deutschland re-agieren, indem es neue Beschäftigungsmög-lichkeiten schafft. Dazu müssen sich die Wirt-schaft, aber auch die Wirtschaftspolitik neuausrichten. Wandel durch Wissen heißt dasStichwort. Die Entstehung einer Wissensge-sellschaft ist das Ziel.

Neben dem (zu teuer gewordenen) Pro-duktionsfaktor Arbeit und neben dem (oftzu knapp vorhandenen) ProduktionsfaktorKapital wird in der Wissensgesellschaft einweiterer Produktionsfaktor enorm an Be-deutung gewinnen: Kreativität. Kreativitätist die entscheidende Ressource der Zu-kunft. Sie spielt eine wesentliche Rolle beider Erstellung von Produkten und Dienst-leistungen. Kreativität und Wirtschaft Ge-winn bringend zu verknüpfen muss einesder vorrangigen Ziele sein.

Auch Kunst und Kulturmüssen Wert schöpfen

Anstatt als „brotlos“ zu gelten, sollte Kunstim weitesten Sinne ihren Anteil zur Wert-schöpfung beitragen. Die Zukunft der Kul-tur wird nicht im Ausbau von Subventions-bereichen liegen. Vielmehr muss es einebelastbare Aufgabenteilung zwischen krea-tivwirtschaftlich organisierten, sich selbst tra-genden Bereichen und staatlich finanzierterKultur geben. Dem gibt das Modell der Krea-

ZU EINEM KONZEPT VERBINDEN

Kreativität und Wirtschaft

WIRTSCHAFT

Steffen Kampeter über „Creative Industries“ als Standortfaktor im digitalen Zeitalter

tivwirtschaft Recht, denn es stützt sich aufdrei, zum Teil ineinander greifende, Säulen:den privatwirtschaftlichen Bereich, den ge-meinnützigen Bereich und den öffentlichenBereich.

Bereits seit längerem hat sich die Auffas-sung durchgesetzt, dass Kunst und Kulturnicht der Maxime l’art pour l’art genügenmüssen. Ausgehend vom bereits in den80er Jahren in Großbritannien geprägtenBegriff der Cultural Industries wird der vonmanchen wahrgenommene, angeblich un-vereinbare Gegensatz von Kunst und Kulturund wirtschaftlichem Handeln aufgelöst.Das Mitte der 90er Jahre geprägte Konzeptder Kreativwirtschaft reicht noch weiter.Unter die so genannten Creative Industriesfallen sehr heterogene Wirtschaftszweige.Sie reichen von Software bis Film, von Lite-ratur bis Werbung, von Mode bis Musik.Allen ist jedoch eines gemeinsam: Kreativi-tät stellt einen wesentlichen Input für dieEntwicklung von Produkten und Dienstleis-tungen dar. Es geht vor allem um Content.Es geht um Wertschöpfung und Arbeits-platzschaffung durch die Kreation und Ver-

wertung von geistigem Eigentum. Gerade inder Musikwirtschaft ist das Zusammenwir-ken von Kreativität und Erfolg versprechen-den Geschäftsmodellen besonders gut sicht-bar. Egal, ob es sich um Download-Plattfor-men oder Klingeltöne handelt, um Web-Radios oder Konzertveranstalter – Ausgangs-punkt ist immer die Komposition, also diekreative Leistung.

Urheberrecht Marktordnungs-instrument der Zukunft

Diese Leistung ist als geistiges Eigentumschützenswert, denn sie bildet die Grund-lage für ein erfolgreiches Geschäft. Der Out-put kreativer Köpfe und daraus entstehen-des geistiges Eigentum ist in der Wissens-gesellschaft wesentlicher Rohstoff, Standort-faktor und dynamische Wachstumsquelle.Digitaler Diebstahl erfolgt lautlos und hat imprivaten Bereich leider den Charakter desKavaliersdelikts angenommen. Die Musik-und Filmwirtschaft haben das wirtschaft-liche Desaster, das aus illegaler digitaler Ver-vielfältigung entstehen kann, am eigenenLeib erfahren. Dabei ist neben den direktenwirtschaftlichen Folgen vor allem der Ver-lust an kreativem Angebot – z. B. durch Auf-lösung von Künstlerverträgen in der Musik-wirtschaft – zu beklagen. Diese Erfahrungenzeigen, dass das Urheberrecht das Marktord-nungsinstrument der Zukunft sein wird undein ausreichender Schutz von geistigem Ei-gentum in der Wissensgesellschaft unver-zichtbar ist.

Die Creative Industries müssen stärker alsbisher in wirtschaftspolitische Überlegungeneinbezogen und gefördert werden. EinigeLänder haben das bereits erkannt und ma-chen es uns vor: Großbritannien befasst sichschon lange mit den Möglichkeiten der Crea-tive Industries. In Österreich ist die Kreativ-wirtschaft ein fester Begriff. Ein bundeswei-ter Kreativwirtschaftsbericht und die Ein-richtung einer Arbeitsgemeinschaft „creativwirtschaft austria“ bei der österreichischenWirtschaftskammer belegen das große Po-tenzial, das man diesem Wirtschaftszweig

„Kreativität lässt sich nicht in ein Korsettzwingen“: Steffen Kampeter.

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zutraut (siehe Kasten). Auch die EU hatbereits die Beschäftigungseffekte erkannt,die von der Kreativwirtschaft ausgehen kön-nen. Musterbeispiele für den StandortDeutschland, wo erst die Länder Nordrhein-Westfalen und Hessen das Potenzial derKreativwirtschaft erkannt haben.

Bei der Bundesregierung jedoch ist dasKonzept der Creative Industries noch nichtangekommen. Zumindest trifft es dort bisdato nicht auf offene Ohren. Dabei ist derBund angesichts von fünf Millionen Arbeits-

diesem Land zu geben, sondern auch kon-krete Vorschläge zu unterbreiten, wie Kul-tur und Wirtschaft im Sinne der Creative In-dustries besser vernetzt werden können.

Basis einer erfolgreichen Kreativwirt-schaft ist trotz aller notwendigen wirtschaft-lichen Rahmenbedingungen allerdings im-mer noch die Kreativität des Einzelnen. Da-her reicht ein wirtschaftspolitisches Umden-ken allein nicht aus. Auch im Bereich Bil-dung muss wieder mehr Wert auf die Ent-deckung und Entwicklung von Kreativitätgelegt werden. Kreatives Potenzial sollte sofrüh wie möglich gefördert werden. DieAusschreibung verschiedenster Wettbewer-be, in denen besondere kreative Talente dieMöglichkeit erhalten, sich zu entfalten, kanndazu beitragen, die Besten ihres Faches zufinden und zu fördern.

Auf Kreativität setzendeAusbildung ist Grundstein

Vor diesem Hintergrund ist musischeund künstlerische Bildung in der Schulebesonders wichtig. Sie sollte neben den sogenannten „harten Fächern“ nicht vernach-lässigt werden, denn neben ihrem Selbst-zweck trägt sie entscheidend zur Persönlich-keitsbildung bei. Aus demselben Grund sindaußerschulische Angebote im künstlerisch-musischen Bereich zu unterstützen. Je viel-fältiger das Angebot, desto besser. Wahl-möglichkeiten sind wichtig, denn Kreativitätlässt sich nicht in ein Korsett zwingen. Siesollte in den Bereichen entwickelt werdenkönnen, die den persönlichen Interessenoder Begabungen am meisten entsprechen.Eine auf Kreativität setzende Ausbildungweckt nicht nur kulturelles Interesse, son-dern legt den Grundstein für den Einsatzvon Kreativität als Wirtschaftsfaktor.

Blick zum Nachbarn:

Österreich etabliertsich als Kreativstandort

Mit der „creativ wirtschaft austria“ be-steht in Österreich seit März 2003 eineArbeitsgemeinschaft, die von der Wirt-schaftskammer eingerichtet wurde, um den„Kreativen“ sowie den im Kreativwirt-schaftsbereich tätigen Unternehmen, Ins-titutionen, Personen etc. eine Plattformzu bieten, die diese Thematik aufgreiftund branchenübergreifend versuchen soll,das Potenzial der Kreativwirtschaft für dieWirtschaft zu nutzen.

Die Unterstützung von Akteuren, Ver-bänden und Institutionen der Kreativ-bereiche, die nicht in der Wirtschaftskam-mer organisiert sind, wird dabei aus-drücklich angestrebt. Das gemeinsameAuftreten soll die Bedeutung der Kreativ-wirtschaft unterstreichen und dazu beitra-gen, Österreich als „Kreativstandort“ zuetablieren.

Mitglieder der Arbeitsgemeinschaftsind Wirtschaftskammern, Museumsquar-tier, ORF, Außenwirtschaftsorganisation,Junge Wirtschaft, einige Fachverbändeund Fachgruppen der Wirtschaftskam-mer-Organisation, Designer, Architekten,Werbeagenturen, Unternehmen u. a.

www.creativwirtschaft.at

losen gefordert, innovativ zu denken. Sonn-tagsreden von der Wissensgesellschaft alsaussichtsreiches Zukunftsmodell müssendurch Taten unterstützt werden. Kulturbzw. Kreativität und Wirtschaft sind stärkermiteinander zu vernetzen, damit Synergienentstehen können. Die Enquête-Kommis-sion des Deutschen Bundestags, Kultur inDeutschland, hat bei ihrer Arbeit die Chan-ce, nicht nur einen Überblick über die Situa-tion von Kultur und Kulturschaffenden in

Der Autor:

Steffen Kampeter, kultur- und medien-

politischer Sprecher und Obmann im

Haushaltsausschuss der CDU/CSU-

Bundestagsfraktion, ist Mitglied des

Kuratoriums der Deutschen Phono-

Akademie und Mitglied im Kuratorium

von „Experiment e. V.“.

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MUSIK�ORUM60

Im Steingraeber Haus in Bayreuthfinden jährlich rund 60 Kultur-

veranstaltungen statt, darunterdie Serien „Zeit für Neue Musik inBayreuth“, „Junge MeisterpianistinDeutscher Musikhochschulen“ unddas „Bayreuther Klavierfestival“.Berühmte Pianisten loben dieSteingraeber-Flügel ebenso wiedie Studenten. Das SteingraeberHaus in Bayreuth muss etwasBesonderes sein, als Klavierbau-firma, als Wirtschafts- und Musik-betrieb.

Die Geschichte der Pianofortefabrik Stein-graeber & Söhne – sie nennt sich selbst gerne„die vielleicht ungewöhnlichste Klavierfabrikder Welt“ – beginnt um 1820 in Thüringen.Eduard Steingraeber, aus der zweiten Gene-ration der Steingraebers, ließ sich 1852 inBayreuth nieder und fertigte sein „Opus 1“,ein revolutionäres Meisterstück, in dem erdas Wiener mit dem Englischen Mechanik-system kombinierte. Bis heute ist es dabeigeblieben: beim historischen Firmensitz inBayreuth, bei der Familie Steingraeber, diedas Unternehmen mittlerweile in der sechs-ten Generation leitet, und bei den internatio-nalen Auszeichnungen für die Steingraeber-Klaviere, heute insbesondere in Frankreich.

Der Bund Deutscher Klavierbauer wähl-te Firmenchef Udo Schmidt-Steingraeberzu seinem Präsidenten (von 1990 bis 2001),seit dem Jahr 2000 ist er Vizepräsident des„Europiano“-Verbandes. Mit Schmidt-Stein-graeber sprach Ulrike Liedtke.

Bei Ihnen scheint sich alles zu einemGanzen zu fügen – die Liebe zu den Klavie-ren, ein über Generationen angewachsenesWissen vom Klavierbau, wirtschaftliches Ge-schick, zufriedene Kunden und nicht zuletzteine sinnvolle Politik im Bund deutscherKlavierbauer. Wie erwirbt sich der erfolgreicheFirmenchef den Respekt der Kollegen?

Udo Schmidt-Steingraeber: Zuallererstdurch die Qualität der Arbeit, denn meineKollegen sind ja – zumindest wasmeine Verbandsarbeit betrifft – dieKonzerttechniker und Klavierbauervor Ort beim Kunden und wenigerdie Klavierhersteller. Die Klavierbauerschätzen es, wenn der Hersteller vonder Pianistenwarte heraus denkt, wenner also Instrumente bietet, auf denensich die Pianisten musikalisch ausdrü-cken können. Kommt Service-Freund-lichkeit der Klaviere hinzu, dann sind

WIRTSCHAFT

»DER KLAVIERBAUER KANN

WENN SICH BEIDE

Mit Lust, Wagemut und Tradition: Seit dem Jahr 1820 betreibt

ihre Kunden leicht zufrieden zu stellen –und deren Servicefrau oder -mann sindglücklich.

Was mich bei der Verbandspolitik be-sonders interessiert, ist die Ausbildung derjungen Generationen und hier arbeiten wirbei Europiano gerade an einem Mammut-projekt: dem European Piano TechniciansDegree, also der Vereinheitlichung derhohen Standards des Klavierbaus in den

Manufaktur, Pianohausund Kulturzentrum:

das Steingraeber Haus in Bayreuth.

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DEM KÜNSTLER NUR OPTIMAL DIENEN,

wirklich verstehen«Steingraeber & Söhne kunsthandwerklichen Klavierbau in Bayreuth

14 Mitgliedsverbänden von Spanien überFinnland bis Russland. Übrigens: Die Quali-tät der jungen Klavierbauer ist ganz hervor-ragend. Der heutige Mix aus handwerklichintensiver Ausbildung mit sehr viel wissen-schaftlicher Theorie in Akustik und Physikist ein großartiges Fundament für perfekteArbeit an Schul- und Konzertinstrumenten.

Gibt es noch hör- und fühlbareGeheimnisse im Klavierbau?

Schmidt-Steingraeber: Im Grunde istes ganz einfach: Man nehme die bestennatürlichen Materialien und verbinde diesenach den Regeln einer hervorragendenKonstruktion zu einem lebendigen Instru-ment – dann entsteht der klangliche Farben-reichtum, den Vladimir Horowitz anmahn-te: „Es kommt darauf an, das Klavier vomSchlaginstrument in ein singendes Instru-ment zu verwandeln … [mit] Schattierun-gen, Farben und Kontrasten.“ Aber genaudies gelingt nur in weniger als zehn Manu-fakturen weltweit. Fast alle neuen Klavieresind heute eben doch nur auf das ‚Perkus-sive’, also das Schlaginstrument, reduziert.

Modulationsfähige Klangquellen sind fürprofessionelle Pianisten lebensnotwendig –für normale Klavierspieler sind sie dieVoraussetzung fürs Musizieren.

Bei Steingraeber & Söhne wird noch„mit der Hand“ gefertigt. Das ist aufwändig,kostet Zeit und Arbeitskraft. Widerspricht dieseHerstellungsart nicht den wirtschaftlichenAnforderungen der Zeit?

Schmidt-Steingraeber: Sicher, auchindustriell gefertigte Klaviere haben einenhohen Standard erreicht, aber sind dieseauch Klang-Quellen der Modulation? Wo-her kommen überhaupt die Klang-Farben,die nur noch bei den wenigen Spitzenin-strumenten erfahrbar sind? Ein Instrumentlebt durch seine natürlichen Materialien,die Handwerkskunst alter Schule ist damituntrennbar verbunden. Nicht umsonst sindfast alle berühmten Hersteller über 150Jahre alt. Der kleinste Hersteller unter die-sen Großen ist Steingraeber & Söhne. Rund50 Flügel und 120 Pianos entstehen hierpro Jahr – Tendenz bei Flügeln steigend.Die Kausalität ist ganz einfach: Natürliches

Material = natürlicher Wuchs = Abwei-chungen in der Natur = Handarbeit. Denn:computergesteuerte Maschinen benötigenpräzise vorhersehbares Material, also mög-lichst viele Kunststoffe. Es gibt einen durch-schlagenden Beweis für diese Aussage:Yamaha! Der Konzertflügel CFIIIS wirdnicht von Robotern gebaut wie die „nor-malen“ Yamaha-Flügel, sondern von Hand,wie dies auch in Bayreuth, Hamburg, Wienund einigen wenigen anderen Orten nochgeschieht.

Ihre Instrumente erhielten so oft wiekeine andere Klavierfirma den „choc“, dieAuszeichnung der gefürchteten französischenKlaviertests. Steingraeber & Söhne ist seit1988 ungeschlagen mit den Flügeln 205und 168 und den Klaviermodellen 138 und130 – die letztgenannten Drei wurden erstwieder im September 2004 als beste prämiert.Was macht diese Instrumente aus?

Schmidt-Steingraeber: Die Steingraeber-Konstrukteure streben eine neue Klanglich-keit an, für die Musik des 18. bis zum frü-hen 19. Jahrhundert, aber auch für das 20.und 21. Jahrhundert, beziehen sich nichtprimär auf das späte 19. Jahrhundert. Diesgilt auch für den Kammerkonzertflügel205, der bautechnisch noch weitgehend

Eine Werkstatt im 21. Jahrhundert? Nur auf den ersten Blick erscheint dashandwerkliche Ambiente anachronistisch. Denn dem echten Instrumenten-bauer können Maschinen nur assistieren.

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dem Steingraeber-Liszt-Flügel entspricht.Immer mehr Hochschulen schaffen diesenFlügel der B-Größe wegen seiner hohenDifferenzierungsfähigkeit an. Der Salon-flügel 168 wurde mehrfach als bester Flü-gel unter 200 cm in Paris ausgezeichnet –es ist also kein „Stutzflügel“. Physikalischliegt dieses Phänomen in der ungewöhn-lich breiten Form begründet. Durch siewerden die Bass-Saiten sehr lang und derBass-Steig kommt ohne Brücke aus, wiegroße Flügel auch.

Die größte Besonderheit des PianosModell 130 liegt dagegen in der Mechanik.Beispielsweise hat die Pianistenabteilungder Musikhochschule Felix MendelssohnBartholdy in Leipzig 16 Stück dieser Pianosmit Flügelspielgefühl und Tonhaltung ange-schafft, denn die Mechanik bietet alle not-wendigen Voraussetzungen für das profes-sionelle Studieren. Erreicht wurde das auch,weil Steingraeber keinen Tabubruch scheut:das Steingraeber-Spielwerk wird zwar inBayreuth gebaut, man verbindet aber dieeigenen Bauteile mit Teilen aus dem HauseRenner und – wenn es dem professionellenAnschlag dient – sogar von Yamaha!

Abgeschlossen wird die Reihe der Kla-viere mit dem weltweit größten Piano-modell: das Steingraeber 138 entsprichtakustisch einem Flügel von 180 cm Länge!Der Steingraeber Konzertflügel E-272 istso jung, dass er noch an keinem Test teil-nehmen konnte – er wurde in den Jahren1997 bis 2002 neu konstruiert und wird

WIRTSCHAFT

Echtes Meisterwerk: der Steingraeber Konzertflügel E-272. Pianist Cyprien Katsaris (imBild unten) ist von seinen „grenzenlosen Möglichkeiten der Modulation“ begeistert.

„Teamarbeit istdie Essenz desVorankommens“:Udo Schmidt-Steingraeber

seither von bedeutenden Pianisten als eineder eigenständigsten Spitzenkonstruktionendes Marktes gewürdigt. Cyprien Katsarisspielte seine drei letzten Aufnahmen aufeinem E-272 ein und sagt: „Der E-272 istein echtes Meisterwerk. Mit einem einzig-artigen Klangcharakter bietet er grenzen-lose Möglichkeiten der Modulation.“ Ähn-liche Lobeshymnen kommen von Nicolai

Demidenko, Ralf Gothoni, Markus Groh,Hartmut Höll und anderen. Einmalige Cha-rakteristika sind die ungewöhnliche Formder Klang reflektierenden Zarge, der kombi-nierte Strahlen-Kastenrasten und die Formdes Resonanzbodens im Diskant.

Welche Prüfungen hatten Sie zuabsolvieren, ehe Sie den ehrwürdigen Familien-betrieb übernehmen durften?

Schmidt-Steingraeber: Da muss ich Sieenttäuschen: keine! Ich hatte gerade meinerstes juristisches Staatsexamen an der Uni-versität München hinter mir, als der plötz-liche Tod meines Vaters die Nachfolge un-abdingbar machte. Zum Glück hatte ichden Klavierbau vorher durch eine Art Leh-re im eigenen Betrieb erlernt; die verschie-denen Stationen wurden verteilt auf Schul-und Semesterferien in den 70er Jahren.Seit 1980 führe ich nun den Betrieb, muss-te aber gerade in den ersten Jahren nochsehr viel, gerade an Konstruktionsarbeiten,dazu lernen. Nicht zuletzt deshalb ist Team-arbeit für mich die Essenz des Vorankom-mens und die Qualifizierung der Mitarbei-ter das „A und O“ für die Qualität derInstrumente.

Reizt es Sie auch, Ihre Klaviere selbstzu spielen?

Schmidt-Steingraeber: Fast alle Instru-mente, die das Haus verlassen, habe ichauch gespielt – oder besser gesagt: geprüft.Privat spiele ich gerne, aber viel zu selten.Da gibt es eben leider immer das großeZeitproblem und auch das Problem derSelbstkritik: Das eigene Können reichtleider lange nicht an das hin, was wir fasttäglich von Kunden zu hören bekommen!

Ihre Werkstätten stehen Besuchernoffen, Studentenseminare sind nach Anmel-dung möglich. Welchen Pianisten wünschenSie sich als Interpreten auf einem Ihrer Flügel?

Schmidt-Steingraeber: Die Künstlerund Interpreten sind unsere Ideenspender,die uns immer wieder aufs Neue zu Spitzen-leistungen treiben. Am liebsten sind unsnatürlich jene Pianisten, die gerne auf einInstrument reagieren (manche sehen es janur als Mittel zum Zweck, das immer mög-lichst gleich sein soll) – also Pianisten, dieeinen Flügel in allen seinen Extremen aus-loten, mit allen Farben, von pppp zu ffff.Es ist ja schon erstaunlich, wie der gleicheFlügel unter verschiedenen Händen völligverschieden klingen kann!

„Es ist erstaunlich,wie der gleicheFlügel unter ver-schiedenen Händenvöllig verschiedenklingen kann!“

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Lied-Pianisten und Kammermusikersind für uns genauso wichtig wie Solopia-nisten. Das unterscheidet uns Bayreuthervon anderen Herstellerkollegen. Deshalbsind klangliche Aspekte der Formbarkeitdes Klavierklangs zum Ton der Instrumen-talpartner oder der menschlichen Stimmewichtig oder z. B. auch Möglichkeiten dessecco-Spiels, also Fragen um die Präzisionder Dämpferarbeit; um unerwünschtessostenuto zu vermeiden, haben wir eineKammermusikdämpfung für große Konzert-klaviere entwickelt.

Was nun die Studentenseminare anbe-langt, so ist der Grundgedanke die Verbes-serung der Kommunikation zwischen Kla-vierbauer und Klavierspieler. Denn nur,wer als Künstler technisches Know-howvon der Mechanik und von der Intonationhat – und dies möglichst sogar selbsteinmal praktizierte –, kann seine musika-lischen und spieltechnischen Wünsche inKlavierbauersprache umsetzen.

Im Grunde dienen wir ja alle der Musik.Der Klavierbauer kann dem Künstler nurdann optimal dienen, wenn sich beide auchwirklich verstehen.

www.steingraeber.de

„Man nehme die besten natürlichen Materia-lien und verbinde diese nach den Regelneiner hervorragenden Konstruktion zu einemlebendigen Instrument“: Klavierbau in derManufaktur von Steingraeber.

PRÄSENTIERT

In der Rubrik „Präsentiert“ stellt das MUSIKFORUM kurz und bündigInitiativen aller Sparten im deutschen Musikleben vor:

˜ Die Musikzentrale Nürnberg bietet „music networking“ für junge Pop-,Rock- und Jazzmusiker. Angesichts schwieriger Rahmenbedingungen hilftsie z. B. bei der Suche nach Übungsräumen und beim Tonträgervertrieb.

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MusikzentraleNürnberg e.V.Die Situation für junge Musiker und Bands

im Pop-, Rock- und Jazzbereich hat sich in denvergangenen Jahren in vielen Punkten dra-matisch verschlechtert. Es fehlt an genügendgeeigneten (und bezahlbaren!) Übungsräu-men und an Veranstaltern, die das Risiko über-nehmen, neue, junge Bands bei sich auftre-ten zu lassen. In Zeiten von Kulturämtern mitschmelzenden Etats, von Plattenfirmen, dienur noch auf „sichere“ internationale Acts set-zen, und von Formatradios, die ausschließlichleicht verdauliche Massenware senden, habenes talentierte Newcomer schwer, sich Gehör zuverschaffen. Die „Musikzentrale Nürnberge.V.“ versucht, diesen Tendenzen mit neuenIdeen und kreativen Konzepten als Zentralefür „music networking“ entgegenzuwirken.Bereits seit den Anfängen des Vereins stelltdie Musikzentrale günstige und professionellbetreute Übungsräume in Zusammenarbeitmit dem Jugendamt zur Verfügung. Die enor-me Vielfalt an Musikern reicht von HipHop biszu Punk, aber auch Solo-Pianisten oder Stu-denten der Musikhochschule finden hier dendringend benötigten Raum, um ihr Trompe-ten- oder Schlagzeugspiel entscheidend vo-ranzubringen.

Unter der Marke „Nürnberg attacks“ hatdie Musikzentrale vor zwei Jahren ein erfolg-reiches Projekt begonnen: Neben Tournee-Paketen, Kooperationen mit größeren Festi-vals und engen Kooperationen mit Radio-

sendern bietet sie einen Promotion-CD-Sampler an, mit dem Bands die Möglichkeithaben, ihre Musik einem größeren Publikumvorzustellen. Außerdem wird ein eigens ge-gründeter CD-Vertrieb betrieben, mit demdie Kluft zwischen Eigenproduktion und Plat-tenindustrie verringert wird. Über die „Zent-rale“ können Bands kostengünstiger und vorallem in einem breiteren Radius ihre Tonträ-ger ausliefern und die großen Medienmärktesind bei einem zentralen Ansprechpartnerauch leichter zu motivieren, etwas für die re-gionale Szene zu tun. Mit all diesen Maßnah-men leistet die Musikzentrale erfolgreicheLobby-Arbeit für die regionale Musikszene.Eine erste „Nürnberg attacks“-Tournee 2004präsentierte Bands wie Liquid Star Sucker,Ernie’s Tale, Haddock, Mars Mushrooms, NoExpectations und Wide Scope.

Ab Ende 2005 wird mit dem dann fertigumgebauten Jugendhaus „GOST“ auch nochein eigener Live-Club zur Verfügung stehenund zusätzliche neue Auftrittsmöglichkeitenbieten. Das bringt dann auch noch mehr Ka-pazitäten für Bandaustausch und bundeswei-te Kooperationen.

Dieter Weberpals/C. Hofmann

Kontakt: Musikzentrale e.V., Kernstraße 32,90429 Nürnberg; Tel. 0911/26 66 22, Fax0911/26 31 21.E-mail: [email protected]

www.musikzentrale.com

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REZENSIONEN TONTRÄGER

Die Aufnahme ist neun Jahre altund auf CD war sie auch schon zuhaben. Es muss also gute Gründedafür geben, dass BMG Classics die-se Einspielung von Mahlers achterSinfonie mit Sir Colin Davis, demSymphonieorchester des BayerischenRundfunks und einem Großaufge-bot an Chören und Solisten wiederveröffentlicht hat. Und gewiss lag esnicht daran, dass die Mutter allerMonumentalsinfonien zu selten aufdem Schallplattenmarkt vertretenwäre. Denn obgleich Mahlers Achtezu den wenigen Werken gehört, dieangesichts der Anforderungen an diepersonelle Potenz auch im großstäd-tischen Konzertleben nicht oft zuhören sind, so ist der Aufwand fürgroße Ensembles doch kein wirkli-ches Hindernis.

Ja, Mahler hat für „das Größte,was ich bis jetzt gemacht habe“, allesaufgeboten, was zur Jahrhundert-wende denkbar schien. Das Ziel: dieHoffnung auf Erlösung – im erstenSatz christlich, lateinisch formuliert,im zweiten faustisch, deutsch – inTöne zu fassen. Doch dieser Sinfonieist mit Masse allein nicht beizukom-men, wenngleich es fraglos Passagengibt, wo alle Dämme brechen undeinzig die Kraft der Stimmbänderund Bläserlippen zählt.

Damit haben die von Sir ColinDavis angeleiteten Elite-Ensembleserwartungsgemäß keine Schwierig-keiten. Ihre wahre Klasse aber spie-len sie in den durchsichtig gewebtenmahlerschen Nachtschattenfigurenaus und noch mehr im transparen-ten Zusammenspiel von Orchester,Chor und Solisten. Das wird deutlichschon nach 65 Takten, wenn derhymnische Jubelruf „Veni creatorspiritus“ (Komm, Schöpfer Geist) ei-nem ruhigeren Ensemblesatz weicht:Es beginnt das „zweite Thema“ die-

Gustav Mahler

Symphonie Nr. 8 „Sinfonie der Tausend“

Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Chor des Bayerischen Rundfunks,Rundfunkchor Berlin, Südfunkchor Stuttgart, Tölzer Knabenchor; Ltg. Sir Colin Davies.RCA 82876 62834 2, 2 CDs.

ses monströsen Sonatensatzes. Hierbeweisen Sopran I (Alessandra Marc)und Tenor (Ben Heppner) hohe so-listische Klasse, ohne dabei die Ge-meinschaft mit dem ersten Chor zuvernachlässigen oder das schlank ge-führte Orchester zu übertönen.

Überhaupt hat Sir Colin Davismit Alessandra Marc, Sharon Sweet,Elisabeth Norberg-Schulz, Ning Li-ang, Ben Heppner, Sergei Leiferkus,René Pape sowie den Rundfunkchö-ren Stuttgart, Berlin, München (BR)und dem Tölzer Knabenchor ein ein-zigartiges Ensemble an der Hand, dasdieser Aufnahme bleibenden Wertgarantiert. Der ehemalige Chef der BR-Symphoniker dirigiert keinen spek-takulären, aber einen klugen, zumMischklang tendierenden Mahlermit viel Freude an fein abgestuftenFarbtönen – zu Beginn des zweitenSatzes ist die Wagner-Nähe frappie-rend. Kleiner Schönheitsfehler: Derlateinische Text des ersten Satzes istim Beiheft nur ins Englische über-setzt.

Johannes Killyen

orchester crossover

Mike Svoboda

Do You Love Wagner?

Scott Roller (cello, vocals, melodica), Wolfgang Fernow (bass, vocals, melodica), Mi-chael Kiedaisch (drums, vocals, accordion, e-guitar), Mike Svoboda (trombone, vocals,megaphone, harmonica).Wergo 6802 2.

Der amerikanische Jazz-PianistUri Caine ließ bei seiner Wagner-Fantasie den Meister in Venedig zu-rück. Melancholisch brütend undschon den nahenden Tod vor Augen.Der amerikanische Posaunist MikeSvoboda hingegen stellt RichardWagner jetzt mit seiner kunterbun-ten Würdigung Do You Love Wag-ner? nicht nur mit beiden Beinen ins20. Jahrhundert, sondern mit herz-erfrischendem Schalk auf den Kopf.Und das zudem mit Texten vonFriedrich Nietzsche, Erik Satie unddes Futurismus-Papstes Filippo Tom-maso Marinetti. Mit quirligen Part-nern bildet Svoboda ein gratwan-derndes Quartett für alle Stile undAugenzwinkereien, kommt der Jazz-Rock genauso wenig zu kurz, wie dieImprovisation, das Megafon, der Va-rieté-Ton und die folklore imaginaire.Und mittendrin natürlich alles, wasder eingefleischte Wagnerianer nurvor dem heimischen Altar im Smo-king auflegen würde: Lohengrin, dieMeistersinger, Tristan und Isolde, Tann-häuser. Ein Greatest Hits der berühm-testen Opernmotive Wagners also,die Svoboda Achterbahn fahrenlässt. Bereits in 2 up 1 down wird ausLohengrin ein swingender Recke, beidem Scott Roller am Cello derart flei-schig den Groove in die Saiten wuch-tet, wie es vormals nur ein HankRoberts schaffte. Und als ob das nichtalles fürs Erste schon an verwegenenSeitenhieben genügen würde, mischtsich ein schauerlich schöner Chormit den Wagner-Therapien Nietz-sches dazwischen. Spätestens dannwerden die Wagnerianer die Händeüber dem Kopf zusammenschlagen.

Dabei ist Svobodas Spiel wenigereine Respektlosigkeit, als vielmehreine von allen Mythen bereinigteLiebeserklärung an den Komponis-ten. Beim berühmten Tristan-Motiv,

das in einer Fassung für Melodicas er-klingt, geht schließlich nichts von derfeierlichen Nostalgie verloren. Undauch die Tannhäuser-Ouvertüre ist inder gepfiffenen Version eine Köst-lichkeit und eine charmante Huldi-gung zugleich. Besonders, wenndaraus eine Polka wird und Svobo-das Posaune dazu verwegen säuselt,um danach geradezu hymnisch ro-ckend in die Zielgerade einzubiegen.

Wer diesen Wagner nicht liebt,gehört eben nach Bayreuth. Dorthin,wo auch Svoboda 1982 schoneinmal eine Aufführung des Parsifalbesuchte. „Heute kann ich mich ankeinen einzigen Ton mehr erinnern“,so Svoboda im Booklet. „Umso mehrerinnere ich mich an die beiden ein-stündigen Pausen, in denen schöneFrauen und edle Herren herumstan-den und Bockwurst mit den Fingernaßen.“ Den scharfen Senf dazu reichtSvoboda 22 Jahre später mit Do YouLove Wagner? nach.

Guido Fischer

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BÜCHER

Die Zeichen stehen momentannicht schlecht für die Musik KarlAmadeus Hartmanns. Tat sich nachseinem Tode 1963 in Sachen Hart-mann für einige Jahrzehnte erst ein-mal gar nichts, ist seine Musik heutewieder – oder sogar erstmalig? – einefeste Größe. Zu verdanken ist dieserUmstand Dirigenten wie Ingo Metz-macher, die Hartmanns Werke regel-mäßig aufführen, aber auch der Ar-beit mehrerer, nicht nur deutsch-sprachiger Musikschriftsteller, die fastvollständig im vorliegenden, zumHartmann-Jahr 2005 erschienenenBuch zu Worte kommen.

Es handelt sich um eine Werkbio-grafie: Die diversen Aspekte vonHartmanns Œuvre erfahren ihre Auf-arbeitung in einzelnen Texten ver-schiedener Autoren. Ulrich Dibelius,der Herausgeber des Bands, erklärtdiesen Ansatz mit einer gewolltenVielstimmigkeit, die dem tempera-mentvollen, spontanen Charakterdes Komponisten entsprechen solle:„Und auch die unschematische Of-fenheit in der Anordnung der einzel-nen Beiträge dient allein der Absicht,aus der Vielfarbigkeit des Gesonder-ten wie aus unterschiedlichen spekt-ralen Einzelwerten im Zusammen-wirken ein möglichst komplexes Bildentstehen zu lassen.“ Dieses Zielwurde voll und ganz erreicht – undohne dass „komplex“ hier wie so oftmit „unverständlich“ gleichgesetztwerden könnte.

Die Texte lassen sich in drei Kate-gorien aufteilen: erstens Beiträge, diekonkret auf bestimmte Facetten vonHartmanns Werk Bezug nehmen,zweitens Abhandlungen über dasÜbergreifen von Musik und Biogra-fie bzw. politisches Engagement, unddrittens Berichte von Menschen, diedem Komponisten nahe standen.Von besonderem Interesse in derersten Kategorie sind die Texte vonAndreas Jaschinski und Andrew Mc

Erstmals nach einer bescheide-neren Vorläuferausgabe (EuropäischeLieder in den Ursprachen, 1956) wirddurch den vorliegenden, bisher mehrals 300 Lieder umfassenden Lieder-atlas ein größerer Teil des von JosefGregor, seinen Mitarbeitern undGesinnungsfreunden zusammenge-tragenen gesamteuropäischen Lied-fundus der Allgemeinheit zugäng-lich. Die Form, in der dies hiergeschieht, hatte „Sepp" Gregor, Be-gründer der international aktivenSingvereinigung „Klingende Brücke“,selbst vorgezeichnet und in manchenseiner hektografierten Liedblätterschon ansatzweise praktiziert: SeinEditionskonzept sah – wie aus der in-formativen, Band 1 und 2 vorange-stellten Einführung hervorgeht – zujedem publizierten Lied „Erläuterun-gen geografischer, sprachlicher, his-torischer, philosophischer und sons-tiger Art“ vor, dazu Illustrationen undTonaufnahmen.

Dass dieses Idealkonzept Gregorsin den vorgelegten Bänden – derdritte erschien just im Jahr seines100. Geburtstags – schon weitge-hend umgesetzt wurde, ist vor allemein Verdienst seines langjährigenMitarbeiters und Liederatlas-AutorsGert Engel, der von 1981 bis 2003ebenso aktiv wie effektiv als Vorsit-zender des Trägervereins Gesell-schaft der Klingenden Brücke e.V.fungierte. Die erfreulich freigiebig je-dem Lied zwei volle Seiten einräu-mende Publikation fügt entspre-chend Gregors Editionskonzept allenLiedern – außer Originaltext undÜbersetzung – einen von Mitheraus-geberin Sonja Ohlenschläger verfass-ten erhellenden Kommentar zuTextaussage und Vokabular, zu Lied-funktion und -rezeption wie auchzum historischen oder volkskund-lichen Kontext bei. Dass in einer sol-chen Kommentierung hier und daZusammenhänge und Fragen offen

bleiben mussten bzw. in dem einenoder anderen Fall noch Korrektur-bedarf besteht, war den Autoren be-wusst: Nicht von ungefähr ermuntertEngel dazu, „zur Berichtigung, Ergän-zung und Erweiterung des Lieder-atlas beizutragen“.

Attraktiv sind die drei bisher vor-liegenden Bände auch durch ihre oftrecht charakteristischen und treffen-den Illustrationen zu fast jedem Lied,die manche zusätzliche Verständnis-hilfe bieten. Eine gute Idee war fer-ner ein doppeltes Inhaltsverzeichnisan jedem Bandanfang: Das ersteschlüsselt die Lieder nach Sprachenund damit nach Ländern auf, daszweite erschließt sie in rein alphabe-tischer Folge. Dem dritten Band wur-de außerdem ein Gesamtverzeichnisder Lieder als Beilage mitgegeben –sogar in vierfacher Aufgliederung:nicht nur nach Sprache und Alpha-bet, sondern auch nach Themen (aufdem Deckblatt Gattung benannt)und der Kategorie „Motive/Symbo-le“. Beide wurden in zweifellos auf-wändiger Vorarbeit erstellt, sind aberfür die Nutzer zumal bei anlass-bezo-gener Liedauswahl von besonderemGewinn. Angesichts dieser Vorzügeder gesamten Edition erscheint esbesonders erfreulich, dass der Lie-deratlas – wie Gert Engel in seinerEinführung zu Band 3 kundtut –nicht nur weitergeführt werden soll,sondern inzwischen auch durch Vor-sprech-Kassetten mit Musikbeispie-len aus mehreren Ländern ergänztwurde. Geplant ist darüber hinaus,Gregors Wunsch nach „Tonaufnah-me“ sogar noch weitergehend zu er-füllen: durch Tonbelege auf CD undvielleicht sogar durch Ton- und Bild-material auf DVD.

Fazit: Ein erfreuliches Publikations-projekt – und eine wahre Fundgrubefür alle, die Freude am Singen haben.

Wilhelm Schepping

Liederatlas europäischer Sprachen

Gestaltung: Gerd Engel und Sonja Ohlenschläger; Die Klingende Brücke (Hg.)Bände 1-3, Bonn 2001/2002/2003, je 210 Seiten, 23 Euro pro Band.

Karl Amadeus Hartmann

Komponist im WiderstreitUlrich Dibelius (Hg.)Bärenreiter, Kassel 2004, 346 Seiten, 29,95 Euro.

Credie, die sich mit der äußerst ver-wickelten Geschichte von Hart-manns Orchesterwerken der dreißi-ger und vierziger Jahre und ihrspäteres Zusammenschweißen zuden ersten sechs Sinfonien befassen,sowie Christoph Lucas Brehlers Auf-satz über das – auch heute noch vielzu wenig bekannte – Frühwerk desKomponisten. Hartmut Lück zeich-net ein sehr klares und lebendigesBild vom politisch denkenden undhandelnden Menschen Hartmann,und wie dessen Engagement sich inseiner Musik widerspiegelt. Ein bis-her kaum bekanntes Thema behan-delt Barbara Haas: das VerhältnisHartmanns zu Carl Orff und WernerEgk. Und schließlich machen die Er-innerungen von Richard und Elisa-beth Hartmann die Textsammlungbesonders wertvoll, da sie einen –aber nie voyeuristischen – Blick aufden privaten Menschen Hartmannzulassen.

Die Maßstab setzende Hartmann-Biografie von Andrew McCredie wirddurch dieses Buch nicht überflüssiggemacht, doch wer einen Einstieg zudem Münchner Komponisten undHumanisten finden oder sich überdie zahlreichen in den vergangenenJahrzehnten der Hartmann-Forschunghinzugewonnenen Erkenntnisse in-formieren will, wird nicht enttäuschtwerden.

Thomas Schulz

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MUSIK�ORUM66

MUSIK�ORUMDAS MAGAZIN DES DEUTSCHEN MUSIKRATS

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ISSN 0935–2562

© 2005 Schott Musik International, MainzPrinted in Germany

Das nächste MUSIKFORUMerscheint am 15. Juli 2005

Ich mag…diesen Satz nicht, den Otto Schily gesagthat: „Wer Musikschulen schließt, gefährdetdie innere Sicherheit!“ Das klingt fast so, alsseien Musikschulen das Gegenstück zum offe-nen Vollzug und – in Arbeitsteilung zu Reso-zialisierungmaßnahmen – das größte Soziali-sierungsnetzwerk. Ein Sammelbecken für Aus-gestoßene und Erfolglose, denen man immerdas Geld fürs Pausenbrot geklaut hat. Dienun in der Musikschule lernen, ein vollwer-tiges Mitglied unserer Gesellschaft zu wer-den – nach dem Motto: Zehn Jahre Flöten-gedudel kochen auch den härtesten Gewalt-verbrecher weich.

In Der kleine Prinz steht, dass große Leutekomisch sind. Wenn sie jemanden kennenlernen, interessieren sie sich für Zahlen:Wie alt? Wieviele Kinder? Wieviel Monats-gehalt? Nach einem Einsingen im Chor zähltall das nicht mehr. Ich komme mit Men-schen, nicht mit Zahlen und Fassaden inKontakt. In unserem Chor ist vom Teller-wäscher bis zum Millionär, von der „Primi-Maus“ bis zur Professorengattin alles vertre-ten. Nicht mal im Sportverein, bei den Kanin-chenzüchtern, geschweige denn im Bundes-tag, findet man ein derart weites Spektrumder Gesellschaft.

Ich reise…mit meinem Chor ins Ausland. Vergange-nes Jahr nach Frankreich und Polen, diesesJahr nach Israel, nächstes Jahr ins VereinigteKönigreich. Die meisten von uns wohnen inGastfamilien, immer nehmen uns freundlicheMenschen auf. Und während die Daheimge-bliebenen über ihren Alltag grübeln, lasse ichmir vom Gesang meines Hintermanns Oh-ren und Gehirn freipusten. Und lerne neben-bei andere Kulturen kennen. Dies sehr vielintensiver: Schließlich macht es einen Unter-schied, ob ich eine Kirche betrete, um sie zubesichtigen oder aber um dort zu singenund sie gleichzeitig zu erfahren. Genausomacht es einen Unterschied, ob ich mit Ein-heimischen als Tourist in Kontakt trete oderob ich in ihren Augen jemand bin, der mitseinem Chor ohne Bezahlung für sie singt.

Vielleicht hat Otto Schily ja doch Rechtmit seinem Satz…

Ich lese…die nächste Ausgabe des MUSIKFORUM,obwohl – oder gerade weil – ich noch jungbin. Aus aktuellem Anlass wird sich die Re-daktion dem Thema „Musik im drittenLebensalter“ widmen: Im Juli stellt die Bun-desregierung ihren 5. Altenbericht vor. Esliegt nahe, der Frage nachzugehen, wie mu-sische Aktivitäten und Erfahrungen im hö-heren Lebensalter aussehen. Das Heft stelltdie Musikakademie für Senioren in Ham-burg und das Projekt „New Generation“ vor.

Dieses und vieles mehr…Stefan Gesthüsen

Den Gedanken weiter gesponnen ran-giert auf der untersten Stufe der Nahrungs-kette: der Chorsänger! Zwar müssen sichInstrumentalisten die dümmsten Witze da-rüber anhören, was sie gerade mit sich he-rumschleppen (je größer die Tasche, destoschlechter der Witz), doch immerhin punk-ten sie damit, etwas Besonderes zu können.Im Gegensatz zum ärmlichen Chorsänger:Der ist nach vorherrschender Meinung der„Dartspieler“ der Musikerzunft – kann nichtsund hängt ständig in Kneipen rum.

Warum nur singe ich im Chor?

Ich bin…begierig, neue Erfahrungen zu machen. Ichtreffe im Chor Leute, mit denen ich sonst niezu tun hätte. Sie studieren andere Fächer,haben einen anderen Beruf, ein anderes Al-ter, andere Interessen. Eigentlich hätte mansich nichts zu sagen. Doch bereits beim Ein-singen offenbaren sich einem gnadenlos dieSchwächen und Fehler des anderen. Umge-kehrt natürlich genauso. Hat man sich ein-mal derart entblößt, läuft vieles anders. Manmuss sich nichts mehr beweisen (wie dennauch) – und so läuft das Kennenlernen ganzanders.

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Kinder optimal fördernMusikalische Breitenbildung

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