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Das Neugeborene im Bereich der Geburtshilfe

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Page 1: Das Neugeborene im Bereich der Geburtshilfe

F. J. Schulte · Hamburg

Das Neugeborene im

Bereich der Geburtshilfe

Untersuchung und Dokumentation

Zum Thema

Geburtsassoziierte persistierende Hirnschä-

den treten besonders bei solchen Kindern

auf, die perinatal oder auch in der frühen

Postnatalperiode eine Depression vitaler Pa-

rameter und/oder eine Azidose aufgewiesen

haben. Deshalb ist eine sorgfältige und qua-

lifizierte Überwachung solcher Neugebore-

ner auch längere Zeit nach der Geburt not-

wendig. Eine alleinige Kontrolle der Apgar-

und pH-Werte reicht nicht aus. Grundsätzlich

müssen die wichtigsten vitalen Funktionen

überwacht werden. Zu beachten ist, daû die

sekundäre Verschlechterung der vitalen Pa-

rameter oft bedenklicher ist, als eine Beein-

trächtigung unmittelbar nach der Geburt. Es

wird auf die Wichtigkeit einer lückenlosen

Dokumentation hingewiesen.

Geburtsassoziierte, also perinatale

Encephalopathien, sind sehr selten ge-

worden. Bleibende Hirnschäden entste-

hen allerdings sehr häufig bei solchen

Kindern, die bestimmte Indizien,

Praediktoren, ¹cluster of neonatal ev-

entsª aufweisen. Hierzu gehören unter

der Geburt Zeichen von Versorgungs-

störungen (CTG-Veränderungen und

Fruchtwasserverfärbung), nach der Ge-

burt eine Depression der vitalen Para-

meter und u.U. eine metabolische Aci-

dose sowie in derNeugeborenenperiode

ein sogenanntes neurologisches Durch-

gangssyndrom als Zeichen der akuten

hypoxisch-ischämischen Encephalopa-

thie (Tab. 1) [8, 4, 3]. Je nach Schwere

und Ausprägung dieser Praediktoren,

zu denen in der Neugeborenenperiode

dann auch noch hypoxische Funktions-

störungen anderer Organe hinzukom-

menkönnen [6], könnenbis zu 70%sol-

cher Kinder der hypoxisch-ischämi-

schen Encephalopathie entweder erlie-

gen oder mit bleibenden Hirnschäden

überleben (Tab. 2).

Daraus ergibt sich die Notwendig-

keit einer sorgfältigen Überwachung

von Neugeborenen unmittelbar nach

der Geburt mit detaillierter und umfas-

sender Dokumentation der Befunde,

um (1.) auch bei der geringsten Depres-

sion vitaler Parameter möglichst noch

vor dem Beginn einer hypoxisch-isch-

ämischen Encephalopathie die notwen-

dige Therapie einzuleiten und um

(2.) während der alles entscheidenden

Periode die sonst unwiederbringliche

Klarheit zu schaffen für alle nachfolgen-

den Überlegungen zur ¾tiologie und

Pathogenese evtl. auftretender psycho-

neurologischer Entwicklungsstörun-

gen. Für alle diese Neugeborenenmit ei-

nem überhöhten Schwangerschafts-

oder Geburtsrisiko reicht die Apgar-Be-

wertung eindeutig nicht mehr aus, da-

für war dieseUntersuchung auch nie ge-

dacht.

Für alle sogenannten ¹Risikokin-

derª, die aus irgendeinem Grunde zu-

nächst oder endgültig im Bereich der

Geburtshilfe verbleiben, sollte eine

Überwachung und Dokumentation un-

abdingbar sichergestellt sein (Tab. 3).

Grundsätzlich ist die Überwachung der

vitalen Parameter in den ersten zwei

Stunden durch eine erfahrene Schwe-

ster oder einen erfahrenen Arzt nicht

unbedingt schlechter als durch Maschi-

nen, die ohnehin wiederum überwacht

werden müssen. Cave: Die ¹menschli-

cheªÜberwachung ist sehr personalauf-

wendig und die punktuelle, ganz dichte

und lückenlose Dokumentation ist an-

fällig einerseits für Fehler und anderer-

seits für spätere Zweifel. Die Ausstat-

tung für eine apparative Überwachung

und die Erfahrung damit sollte kaum

Der Gynäkologe 1´97

|

7

Der Gynäkologe

1997 ´ 30:7±9 � Springer-Verlag 1997

Prof. Dr. F. J. Schulte,

ehem. Direktor der Kinderklinik

des Universitätskrankenhauses Eppendorf,

Martinistraûe 52,

D-20246 Hamburg

Tabelle 1

Indizien, Risikofaktoren, Praedik-

toren (cluster of neonatal events)

für permanente, geburtsassoziierte

Hirnschäden

· ¹fetal distressª (z. B. CTG, grünes Frucht-

wasser)

· postnatale Depression vitaler Parameter

(sogenannte Asphyxie)

· Acidose

· Neonatales neurologisches Durchgangs-

syndrom (Hypoxisch-ischämische Encephalo-

pathie)

· Hypoxische Funktionsstörungen anderer

Organe

Zum Thema

Page 2: Das Neugeborene im Bereich der Geburtshilfe

ein Problem sein. In jeder geburtshilf-

lichen Abteilung, in der Kaiserschnitte

und Narkosen durchgeführt werden,

müssen die gleichen Geräte und imUm-

gang damit vertraute ¾rzte (z.B. Anäs-

thesisten) ohnehin vorhanden sein. Die

Pulsoximetrie vereint die Herzfre-

quenzüberwachung mit der Kontrolle

der Effektivität der Atmung und ist da-

mit zumindest imRegelfall einer isolier-

ten Herzfrequenz- oder Atmungskon-

trolle vorzuziehen.

Die sonographische Untersuchung

des Schädels kommt sicher nur für ei-

nen kleinen Teil der Kinder in Betracht

und erfordert in der Regel die Einschal-

tung einer Kinderklinik. Dennoch sollte

bedacht werden, daû diese Methode die

bei weitem sicherste ist, um in der Peri-

natalperiode beginnende Hirnschäden

von solchen abzugrenzen, die längst

vor der Geburt entstanden sind [7]. Spe-

ziell bei Frühgeborenen und unterge-

wichtigen Kindern mit Zeichen einer

Versorgungsstörung während oder

kurz nach der Geburt ist diese Untersu-

chung dringend anzuraten, weil die ty-

pische Frühgeborenenencephalopathie,

die periventrikuläre Leukomalacie, kli-

nisch ¹silentª, d.h. weitgehend ohne die

oben angegebenen Indizien und

Praediktoren für eine bleibende ge-

burtsassoziierte Hirnschädigung ent-

stehen kann [9].

In Anbetracht der groûen Gefahr

von bleibenden Hirnschäden bei Ver-

sorgungsstörungen unter der Geburt

und angesichts der Tatsache, daû die ap-

parative Überwachung und Dokumen-

tation der vitalen Parameter in der Er-

wachsenenmedizin auch nach Bagatell-

eingriffen und in jedem Notarztwagen

beim Abtransport auch nur potentiell

Schwerverletzter fast flächendeckend

zur Selbstverständlichkeit geworden

ist, sollte man sich nicht mehr bei der

Definition von ¹Risikokindernª aufhal-

ten: Im Zweifel für die Überwachung.

Trotzdemkann dazu speziell für die

ersten zwei Stunden nach der Geburt

(Kreiûsaalzeit) eine einfach zu handha-

bende Mindestempfehlung gegeben

werden: Jeder vitale Parameter, der ent-

weder unter der Geburt (CTG, MBU)

oder in den ersten zehnMinutendanach

(Apgar-Werte) nicht eindeutig optimal

war, wird solange kontrolliert ± und falls

notwendig natürlich auch behandelt ±

bis er als stabil und als eindeutig normal

bezeichnet werden darf. Sinngemäû gilt

diese Empfehlung auch für eine Ver-

schlechterung, die nach der Apgar-Zeit

im Kreiûsaal und/oder auf der Neuge-

borenenstation auftritt. Da solche se-

kundären Verschlechterungen der vita-

len Parameter eher bedenklicher sind

als ihre Beeinträchtigung direkt nach

der Geburt, ist in diesen Fällen die Hin-

zuziehung eines Paediaters oder ggf.

die Verlegung in eine Kinderklinik mei-

stens anzuraten.

¾hnlich wie die Definitionsübun-

gen zum Begriff des Risikos in Anbe-

tracht lebensentscheidender Probleme

wenig hilfreich sind, ist die immer wie-

der aufkommende Diskussion über die

mangelhafte Definition von Asphyxie

[1] unnötig. Da die exakte Übersetzung

von Asphyxie Pulslosigkeit bedeutet,

der Begriff in der Perinatologie aber für

Sauerstoffmangel steht, und da wir der-

zeit mit keiner postnatal eingesetzten

Methode den O2

-Mangel lebenswichti-

ger Organe unter der Geburt quantitativ

ganz zuverlässig erfassen [5], sind alle

pseudoexakten und schnell zu magi-

schenZahlenwerdendenGrenzangaben

für Apgar- und pH-Werte problema-

tisch. Die Depression vitaler Parameter

± Hautfarbe (Zyanose oder Blässe),

Muskeltonus und Spontanbewegungen,

Pulsfrequenz und, falls diese abnorm

hoch oder abnorm niedrig auch Blut-

druck, Atmung ± ist Grund genug, vor-

sichtshalber eine Versorgungsstörung

des Feten oder Neugeborenen anzuneh-

men, auchwenn sich nachher ± und d.h.

immer erst nach einer sorgfältigen und

längeren Untersuchung ± herausstellt,

daû z.B. eine Tonus- oder Bewegungs-

anomalie, und damit auch ein ernied-

rigter Apgar-Wert, überhaupt nicht auf

einem Sauerstoffmangel, sondern auf

einer angeborenen Erkrankung beruht.

Die Medizin ist mit fast allen

Aspekten ein ¹Hochsicherheitsbereichª

geworden, in dem der Verdacht auf eine

Störung ausreicht, um in diesem Falle

die Eltern zu ängstigen und bei bleiben-

der Hirnschädigung fast unumkehrbar

zu verunsichern. Damit ist eine im Er-

gebnis oft unbefriedigende Auseinan-

dersetzung vorprogrammiert in all den

Fällen, in denen nicht eine lückenlose

Dokumentation der vitalen Parameter

nach derGeburt vorgelegt werdenkann.

Fazit für die Praxis

Unabhängig von der Indikation zur Hinzuzie-

hung eines Pädiaters oder zur Verlegung in

eine Kinderklinik: Bei Neugeborenen mit ei-

ner Depression vitaler Parameter, die vor-

übergehend oder endgültig in der Frauenkli-

nik verbleiben, ist solange eine kontinuierli-

che Überwachung und exakte Dokumenta-

tion der Befunde notwendig, bis sich der

Zustand des Kindes dauerhaft stabilisiert hat.

8

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Der Gynäkologe 1´97

Zum Thema

Tabelle 2

Geburtsassoziierte Hirnschäden

durch Hypoxie, Ischämie, Trauma

· sind bei reifen Neugeborenen sehr selten

bezogen auf die Gesamtpopulation:

∼ 2±3½ Cerebralparesen (CP) davon

geburtsassoziiert: ∼ 10%

2±3 Kinder mit geburtsassoziierter CP auf

10000 Geburten

· sind häufig bezogen auf bestimmte Risiko-

gruppen: ∼ 70% CP (einschl. Todesfälle)

nach schwerer postnataler Depression

vitaler Parameter und deutlicher Acidose

und neonatalem neurologischem Durch-

gangssyndrom (z. B. Krämpfe)

[2, 3, 4]

Tabelle 3

Postnatale Überwachung von

Neugeborenen mit Risikofaktoren

für eine geburtsassoziierte Hirn-

schädigung

· Regelmäûige punktuelle Kontrolle durch

geschultes Personal mit Dokumentation

vitaler Parameter: Atmung, Herzfrequenz,

Pulsqualität, Hautfarbe, motorisches Ver-

halten, Körpertemperatur, BGA mit Häma-

tokrit.

· Apparative Überwachung von Atmung und

Herzfrequenz. Blutdruckmessungen

· Kontinuierliche O

2

-Sättigungskontrolle: Puls-

oximeter

· Serielle Schädelsonographie in der Neuge-

borenenperiode

Page 3: Das Neugeborene im Bereich der Geburtshilfe

Literatur

1. Cater BS, Haverkamp AD, Merenstein GB (1993)

ªThe definition of Acute Perinatal Asphyxiaº,

In: Clinics of Perinatology, 20: 287±304

2. Hagberg B, Hagberg G (1993) ªThe origins of

cerebral palsyº, In: Recent advances in Pediatrics.

XI. Ed. T. J. David, Churchill Livingstone Edinburgh

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3. Low JA ªFetal Acid-Base Status and Outcomeº,

In: Fetal neurology, A. Hill and J. J. Volpe (Eds), In-

ternational Review of child neurology series, Ra-

ven-Press, 1989

4. Nelson KB, Ellenberg JH (1986) ªAntecedents of

Cerebral Palsy. Multivariate Analysis of Riskº,

The New England Journal of Medicine. 315: 81±86

5. Nelson KB, Emery ES (1993) ªBirth Asphyxia and

the Neonatal Brain: What Do We Know and

When Do We Know It?º, In: Clinics in Perinatol-

ogy, 327±344

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Amon E (1989) ªAcute systemic organ injury in

term infants after asphyxiaº. Am J Dis of

childh 143: 617±620

7. Siegel MJ (1991) ¹Pediatric Sonographyª, Raven

Press, New York

8. Schulte FJ, Michaelis R, Filipp E (1965) ªNeurolo-

gie des Neugeborenen, I. und II.Mitteilungº,

Zeitschrift für Kinderheilkunde 93: 242±263,

264±276

9. Volpe JJ (1995) ªNeurology of the Newbornº,

3rd Edition, W. B. Saunders Company, Philadelphia

± London ± Toronto ± Sidney

Hrsg.: D. Reinwein

Checkliste Endokrinologie und

Stoffwechsel

3., völlig neubearb. und erw. Aufl. Stuttgart,

NewYork: Thieme Verlag. (ISBN 3-13-627003-7),

DM 58,±

In der vollständig überarbeiteten 3. Auflage

dieses Buches verfolgen die Autoren das

Ziel, dem Arzt in Klinik und Praxis in über-

sichtlicher und komprimierter Form kon-

krete Hinweise zur Diagnostik und Therapie

endokriner und Stoffwechsel-Erkrankungen

zu geben. Trotz der Fülle an Informationen

erscheint dieses Buch im handlichen Ta-

schenformat, so daû es hierdurch ständiger

Begleiter in der täglichen Praxis sein kann.

Der Aufbau des Buches ist straff geglie-

dert. Farbliche Untergliederungen erleich-

tern dem Leser die rasche Orientierung. Zu

den besprochenen Organen bzw. Organsy-

stemen gehören Hypothalamus Hypophyse,

Schilddrüse, Nebenschilddrüse, Nebennie-

renrinde, Nebennierenmark, männliche

und weibliche Gonaden, Pankreas sowie

Knochenstoffwechsel, Fettstoffwechsel und

Endokrinologie der Schwangerschaft.

Im ersten Teil werden Untersuchungs-

methoden, nach Organsystemen geordnet,

aufgeführt. Dazu zählenbildgebendeVerfah-

ren, Hormonbestimmungen und Funktions-

tests, genetische Diagnostik, invasive Unter-

suchungsverfahren sowie nuklearmedizini-

sche Verfahren. Die in diesen Abschnitten

enthaltenen Fakten ermöglichen dem Arzt

die Kontrolle auf Vollständigkeit seiner dia-

gnostischen und differentialdiagnostischen

sowie therapeutischen Erwägungen und ent-

halten darüber hinaus Angaben über die

Sinnhaftigkeit der einzelnen Untersu-

chungsmethoden sowie über Fehlerquellen.

Die Informationen über den prädiktiven

Wert der Untersuchungen ermöglichen ra-

tionelles praxisrelevantes Arbeiten.

In einem zweiten Abschnitt wird auf die

Differentialdiagnose häufiger Symptome

wie z.B. Minderwuchs, Hochwuchs, Hyper-

prolaktinämie, ,,Empty sella" Syndrom, Hy-

peraldosteronismus, Pubertas praecox

u.a.m. eingegangen.

Im letzten, umfassendsten Abschnitt

des Buches werden schlieûlich die wiederum

nach Organsystemen gegliederten endokri-

nen Krankheitsbilder und Stoffwechselstö-

rungen nach Grundlagen, Klinik, Diagnose,

Differentialdiagnose, Therapie, Prognose

und Verlaufsuntersuchungen abgehandelt.

Durch quantitative Angaben zu Häufigkei-

ten von Krankheiten und deren Symptome,

zu Risiken, Erfolgsdaten und Nebenwirkun-

gen sowie Prognose wird der Informations-

gehalt weiter erhöht. Die Übersichtlichkeit

wird durch zahlreiche tabellarische Wieder-

gaben erleichtert.

Hier handelt es sich um ein sorgfältig

zusammengestelltes Buch, das auch den

nicht endokrinologisch versierten Fachkol-

legen in die Lage versetzt, sich rasch und

kompetent über Fragen endokriner Erkran-

kungen und Stoffwechselstörungen zu infor-

mieren. Dieses Buch kann uneingeschränkt

jedemklinischund in der Praxis tätigen ärzt-

lichen Kollegen empfohlen werden.

Prof. Dr. med. K. Rudolf, Hamburg

Der Gynäkologe 1´97

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