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www.muenchner-stadtgespraeche.de Nr. 78 Dezember 2017 Münchner Stadtgespräche AUTOVERKEHR Geliebte Umweltsünde CRITICAL MASS Wir sind der Verkehr! SCHIFFFAHRT Die Container- Revolution Transport

Das Referat für Gesundheit und Umwelt fördert Lastenräder ... · Hintergrund war und ist die Idee, dass es der ... traktiv geworden. Niemand lässt seine Kinder fröhlich am Mittleren

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www.muenchner-stadtgespraeche.deNr. 78 Dezember 2017

MünchnerStadtgespräche

AUTOVERKEHR

GeliebteUmweltsünde

CRITICAL MASS

Wir sind der Verkehr!

SCHIFFFAHRT

Die Container-Revolution

Transport

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aus dem referat für gesundheit und umweltdie seite zwei

Der innerstädtische Transportverkehr hat in München – bedingt durch das Wirtschafts- und Bevölkerungs-

wachstum sowie durch die immer größere Nachfrage im Onlinehandel – in den letzten Jahren stetig zugenommen. Die gute Nach-richt: Immer mehr Unternehmen entdecken nun Lastenräder für sich. Viele Paketzustel-ler, Lieferdienste und Handwerker nutzen sie für die Zustellung und Erbringung von Dienst-leistungen.

Im Glockenbachviertel, einem der drei Münchner Testbezirke im Forschungspro-jekt City2Share, hat ein Paketdienstleister beispielsweise sogenannte „Micro-Depots“ eingerichtet. Dort werden die Päckchen und Pakete nun per Lastenrad abgeholt und zu den Kunden gefahren. Diese Zustellart auf der „letzten Meile“ ersetzt die bisher übliche Zustellung mit großräumigen Fahrzeugen und spart die damit verbundene Belastung durch Lärm, Abgase und einen hohen Platzbedarf.

Die Vorteile der Nutzung liegen auf der Hand: Lastenräder bieten viel Platz für den Transport von Waren aller Art bis hin zu Haushaltsgroß-geräten. Sie sind einfach zu be- und entladen, man kann mit ihnen in der Regel bis direkt vor die Tür fahren und ist deshalb im Schnitt deut-lich schneller unterwegs als mit dem ÖPNV oder einem Fahrzeug, das eine Parkplatz-suche erfordert. Mit Stauraum von bis zu zwei Kubikmetern kann man sogar mehr transpor-tieren als in einem herkömmlichen Autokof-ferraum. Und man spart sich die Kosten für Kfz-Versicherung, Kfz-Steuer, Sprit und Park-ausweis.

Vollbeladen wird das Fahren auf einem Las-tenrad ohne Tretunterstützung allerdings rasch anstrengend und die Fahrt dadurch langsamer. Insofern lohnt es sich, in einen E-Motor zu investieren, der beim Treten mit-hilft. Die Mehrkosten betragen oft nur 200 bis 300 Euro. Seit Januar 2017 können sich alle Münchner Unternehmen, Vereine und

Bürgerinnen und Bürger 25 Prozent des Kauf-preises eines Lasten-Pedelecs (bis max. 1000 Euro) erstatten lassen, wenn Sie vor dem Kauf einen Förderantrag beim Referat für Gesund-heit und Umwelt (RGU) stellen. Wird nachge-wiesen, dass im Gegenzug ein Fahrzeug mit Verbrennungsmotor verschrottet wird, gibt es sogar noch einen zusätzlichen Bonus in Höhe von 1000 Euro.

Hintergrund war und ist die Idee, dass es der Münchner Luftqualität zugute kommt, wenn im innerstädtischen Verkehr möglichst viele Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor durch E-Fahrzeuge ersetzt werden.

Seit April 2016 hat München deshalb mit 60 Millionen Euro das bis dato größte kom-munale E-Mobilitäts-Förderprogramm aufge-legt (www.muenchen.de/emobil). Gefördert werden zwei-, drei- und vierrädrige Leichtfahr-zeuge, Ladeinfrastruktur und Beratungsleis-tungen.

Machen Sie mit und steigen Sie um auf um-weltfreundliche Mobilität und Transportarten: Profitieren werden alle, die sich fit „stram-peln“ und diejenigen, die frei durchschnau-fen können.

TEXT Stephanie Jacobs Referat für Gesundheit und Umwelt (RGU) FOTOS Flickr / adfc.sachsen Elena Hegerich

Zur Person

Stephanie Jacobs leitet seit dem 1. Sep-tember 2015 das Referat für Gesund-heit und Umwelt. Zuvor arbeitete die Ju-ristin und Fachfrau für Gesundheits- und Umweltfragen im bayerischen Ministerium für Umwelt/Gesundheit und Verbraucher-schutz. Die gebürtige Fränkin ist verheira-tet und Mutter zweier Kinder.

Transport:Nachhaltig, neu gedacht

Das Referat für Gesundheit und Umwelt fördert Lastenräder mit E-Motor

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Liebe LeserInnen und Leser,

wie sind Sie heute zur Arbeit gekommen? Vielleicht waren Sie mit dem Bus unterwegs, ha-ben bei jeder Haltestelle genervt auf die Uhr geschaut, weil der mal wieder im Stau stand. Oder mit der S-Bahn, wo gerade noch ein Stehplatz frei war. Wenn Sie zu den BerufspendlerInnen in Deutschlands „Stau-Hauptstadt“ München gehören, mussten Sie wohl besonders gute Nerven mitbringen: Ganze 49 Stunden im Jahr, also deutlich mehr als eine ganze Arbeitswoche, stecken diese im Stadtverkehr fest.

Das ist keineswegs eine neue Entwicklung. Doch manchmal fragen wir uns fassungslos, wann wir eigentlich begonnen haben, den täglichen Weg durch Lärm und Gestank als völlig „nor-mal“ zu akzeptieren. Denn nicht nur zur Rush-Hour ist das Leben im öffentlichen Raum unat-traktiv geworden. Niemand lässt seine Kinder fröhlich am Mittleren Ring spielen oder setzt sich gemütlich auf eine Parkbank in der Landshuter Allee, die bundeswert einen Spitzenwert bei der Stickstoffdioxid-Belastung erreicht. Doch nicht alle möchten sich das gefallen lassen. Bewe-gungen wie „Critical Mass“ wollen die Straßen zurückerobern (siehe Artikel auf Seite 12) und auch viele ExpertInnen sind sich einig: Eine Verkehrswende ist längst überfällig.

In unserem Heft lesen Sie mehr über Alternativen zum Auto, umweltfreundlichere Transportmög-lichkeiten und wie riesige Container-Schiffe unser Konsumverhalten beeinflussen.

Eine aufschlussreiche Lektüre wünscht Joy Mann

Editorial

04

13

20

Inhalt

07 Platz da! Warum gehört der öffentliche Raum den Autos?

Selbst ist der Transport Lastenrad, Anhänger & Co. im Überblick18

Atomtransporte Gefährliche Fracht unter dem öffentlichen Radar

2022Die Zeit ist reif

Dr. Weert Canzler über die Verkehrswende

13

04 Geliebte UmweltsündeWie Deutschland zum Autoland wurde

10

02 Nachhaltig neu gedacht München fördert Lastenräder mit E-Motor

Die Container-Revolution Schiffstransporte belasten unser Klima

Wir sind der Verkehr! „Critical Mass“ erobert die Straßen

15 ZugestelltLieferverkehr auf der „letzten Meile“

24 Impressum, Kontakte, Termine

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Geliebte Umweltsünde

Das Auto ist und bleibt das Umweltproblem Nummer Eins. Die Hoffnung, dass die Branche durch grundlegende Innovationen zur Verbesserung in der Lage wäre, ist spätestens seit dem „Dieselgipfel“ im Sommer 2017 verflogen. Die Autoindustrie

kommt vom Verbrennungsmotor nicht los.

Dieses Innovationsdilemma ist umso dramatischer, weil die Kfz-Industrie zu den wichtigsten Industriezweigen in Deutsch-land gehört. Die Wertschöpfung ist hoch, die Exportanteile rie-

sig und die Beschäftigtenzahlen sind beeindruckend. Nirgends gibt es so viele gut bezahlte Jobs wie in den hochmodernen Fabriken der bis-her so profitablen Hersteller und ihrer Systemzulieferer.

Dabei ist kein Sektor so weit entfernt von dem Ziel, Treibhausgas-emissionen zu senken wie der Verkehr. Der Dieselskandal zeigt auch, dass mit zusätzlichen Reinigungsverfahren und einer optimierten Steu-erungssoftware alleine weder die erforderlichen Verbrauchs- noch die Emissionsgrenzwerte zu schaffen sind.

Das Verkehrssystem insgesamt muss sich ändern, schon deshalb, weil der überbordende motorisierte Individualverkehr viel zu viel Platz braucht. Der massenhafte Individualverkehr kommt schon seit Jahren in den Metropolen der Welt an seine Grenze oder hat diese längst über-schritten. Es stockt und staut sich, die Luft ist schlecht und an Platz für die Aufenthaltsqualität fehlt es auch. Wie schaffen wir das?

Wenn man sich heute die weltweite Flotte an Automobilen vergegen-wärtigt, dann fällt es schwer zu glauben, dass das Automobil ein ver-gleichsweise neues Phänomen in der Menschheitsgeschichte ist. Um 1900 war die Zahl noch auf wenige tausend Exemplare begrenzt und zu diesem Zeitpunkt war auch noch keineswegs klar, dass aus den knat-ternden, stinkenden und gefährlichen Geräten einmal eine Massenbe-wegung werden sollte.

Das Ende der übermächtigen „Reichsbahn“

Deutschland steht für ein besonders krasses Entwicklungsmuster. Mit Blick auf die starke deutsche Kraftfahrzeugindustrie könnte man anneh-men, dass das Auto gleichsam in die DNA der Deutschen eingeschrie-ben wäre – doch so ist es nicht.

Deutschland war lange das Land der Reichsbahn, das Land der Fahrräder, der Mopeds und Motorräder. Bis ins Jahr 1957 war die schwäbische Firma NSU, die später zusammen mit dem nach Ende des Zweiten Weltkrieges aus dem Osten in den Westen geflüchteten Auto-Union zur AUDI AG verschmolzen wurde, der Weltmarktführer im

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Zweiradgeschäft mit Fahrrädern und Mopeds. Und noch im Jahre 1938 gebührte der Deutschen Reichsbahn die Auszeichnung, mit mehr als 1,2 Millionen Beschäftigten das größte Unternehmen der Welt zu sein.

Das Unternehmen war weit verzweigt, Anteile an der Lufthansa ge-hörten genauso dazu wie der lange Jahre geheimgehaltene Kauf des größten deutschen Speditionsunternehmens Schenker. Und was kaum jemand weiß: die Reichsbahn war für die Reichsautobahnen verant-wortlich, fi nanzierte und organisierte den Bau durch eine eigene Toch-tergesellschaft.

Der im deutschen Sprachgebrauch ja doch etwas ungewöhnliche Begriff der „Autobahn“ ist daher kein Zufall, sondern wurde von den Ini-tiatoren der Idee Ende 1928 ganz bewusst als Reminiszenz an die da-mals als übermächtig empfundene Reichsbahn gewählt. Die heute so mächtig wirkenden deutschen Autohersteller waren zu dieser Zeit da-gegen eine Randerscheinung.

Das größte Unternehmen der Autobranche, die Adam Opel AG, war schon 1929 an den US-amerikanischen Konzern General Motors ver-kauft worden, die ehemals unabhängigen Unternehmen Horch, Wan-derer, Audi und DKW vereinigten sich kurz vor der Insolvenz unter der Regie des Finanzkapitals zur Auto-Union. Daimler musste bereits kurz nach dem Ersten Weltkrieg mit Benz fusionieren und mottete das Werk in Berlin Anfang der 1930er Jahre gleich ganz ein. Und das alles, weil kaum einer in Deutschland Autos kaufte. Zeitgenössische Beobachter prognostizierten bereits 1931 das Ende der gesamten Industrie.

Deutschland wird zum Autoland

Man kann ohne zu übertreiben sagen, dass in West und Ost die moder-ne Stadtplanung ab Ende der 1920er Jahre bis in die späten 1960er Jahre immer auf das Auto als das zentrale Verkehrs-mittel zugeschnitten war. Städte wurden primär als Transitzonen gedacht, da-mit die unterschiedlichen Funktion „Arbeit“, „Woh-nen“ und „Freizeit“ ange-messen miteinander ver-bindbar waren.

Das Auto wurde zum „Narrativ der Moderne“ und verdichtete sich zugleich zum Versprechen auf Freiheit auf individuelle Lebensführung mit eigenem Haus, Garten und Kleinfamilie. Das Kraftfahrzeug erlebte seinen Aufstieg daher nie nur als ein technisches Gerät, es war im-mer der Kern einer ganzen Lebensphilosophie, das Versprechen eines selbstbestimmten und kontrollierbaren Lebens.

Das war und das ist Politik aus einem Guss, alles passt zusammen, je-der und jede sollte Autos kaufen, fahren und auch abstellen können und jeder und jede sollte sich dies auch leisten können. Dazu gab es die passende und mitwachsende Infrastruktur – ein gesellschaftspolitisch sehr stabiler und über viele Jahrzehnte auch gelebter Konsens.

Der Erfolg stellte sich nach so vielfältigen Bemühungen dann auch lang-sam ein. Wer sich unter solchen Bedingungen kein Auto anschaffte, war jetzt klar im Nachteil. Aber auch für die langsam und dann immer schnel-ler kleiner werdende Gruppe der Nicht-Automobilisten wurde gesorgt.

Bereits im Dritten Reich war dazu das bis heute noch gültige Perso-nenbeförderungsgesetz (PBefG) eingeführt worden, durch das öffent-liche Verkehre mit Bussen und Bahnen im Geltungsbereich von Entfer-nungen unter 50 Kilometer, aber auch Taxis und Mietwagen unter eine behördliche Aufsicht gestellt werden. Der Staat deckt das durch Fahr-geldeinnahmen nicht zu fi nanzierende Defi zit des Betriebes von Bus-sen und Bahnen ab, behält sich aber dafür die Oberaufsicht sowie auch

die Genehmigung über alle Linien, Tarife und sonstigen Bedingungen vor.

Damit haben die Unterneh-men, die Teil dieser staatli-chen Daseinsvorsorge sind und in den Genuss der „Zu-zahlungen“ kommen, zwar eine auskömmliche Per-

spektive, dafür sind aber die Kernelemente der Leistungserbringung gleichsam eingefroren. Eine wettbewerbliche Dynamik war und ist in diesem System nicht vorgesehen. Der ÖPNV erfüllte daher jahrzehn-telang nur eine Ersatz- und Überlauffunktion für die Automobilgesell-schaft. Es sollte ganz bewusst keine Konkurrenz zum eigenen Auto auf-gebaut werden, denn das Auto war es ja, was es zu hegen und zu pfl egen galt.

Auto als Wohlstandsindikator

Wie viele Menschen im ÖPNV unterwegs waren, galt in den 1950er und 1960er Jahren keineswegs als wichtiger Ausweis, eher war das Ge-genteil der Fall. Hohe Fahrgastzahlen wurden eher als Zeichen der ge-

Autofahren bedeutet Unabhängigkeit und grenzenlose Mobi-lität. Das predigt die Werbeindustrie seit Jahrzehnten.

Der öff entliche Nahverkehr sollte bewusst nicht als Konkurrenz zum Auto aufgebaut werden, sondern

erfüllte nur eine Ersatz- und Überlauff unktion

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sellschaftlichen Rückständigkeit angesehen, denn nur die Zahl der zu-gelassenen Autos war als Wohlstandsindikator ausgewiesen. Heute, wo der ÖPNV das Rückgrat des zukünftigen Verkehrs sein soll, funktioniert das Personenbeförderungsgesetz nicht mehr, dennoch gilt es weiter.

Nachdem hinlänglich Fernstraßen gebaut und die Innenstädte zu Tran-siträumen umfunktioniert, alle Neubauten mit Stellplätzen und ge-nügend Erschließungsstraßen ausgestattet worden waren und zu-dem die Nutzung eines Kraftwagens steuerlich in einem Maße geltend gemacht werden konnten, die höher als die tatsächlichen Kos-ten lagen, stiegen die Zulassungen von Automobilen dann tatsächlich deutlich an. Mitte der 1960er Jahre erreichten sie in Westdeutschland erstmals internationales Niveau, 1965 waren knapp 9,3 Millionen Pkw zugelassen – was etwa einem Fünftel der zugelassenen Pkw im Jah-re 2015 entspricht.

Ein attraktiver Gesamtentwurf muss her

Das Erfolgsprogramm für das private Automobil ist auch die Blaupause für den Umbau der Automobilgesellschaft. Wenn man über ein halbes Jahrhundert den Menschen den privaten Autobesitz als Teil eines gu-ten Lebens anbietet und möglich macht und diese dann – nach erstem Zögern – dieses Angebot auch annehmen, dann muss man sich nicht wundern, wenn Widerstand gegen eine Veränderung so lange mobili-siert wird, solange es keine adäquate Alternative gibt. Umweltverbund,

Fahrräder oder gar die „intermodale Verkehrspraxis“ sind alles nur Teil-lösungen, die keinen attraktiven Gesamtentwurf darstellen.

Vielleicht gewinnt vor diesem Hintergrund doch die Elektromobilität eine neue Bedeutung. Hierunter lassen sich Busse und Bahnen, Autos und auch Pedelecs gleichermaßen subsumieren, und das alles auf Basis von Erneuerbaren Energien. Umfragen jedenfalls zeigen deutlich, dass die überwiegende Mehrzahl der Bevölkerung überzeugt ist: die Elektro-mobilität wird kommen.

TEXT Prof. Dr. Andreas Knie FOTOS Fotolia Flickr / Jakob Härter Wikimedia Commons / Chrischerf

Zur Person

Prof. Dr. Andreas Knie, geboren 1960 in Siegen, ist Professor für So-ziologie an der Technischen Universität (TU) Berlin. 2006 gründete er die InnoZ GmbH zur praxisnahen Untersuchung von Innovationsprozessen im Mobilitätssektor. Er ist seit 2010 Mitglied der Arbeitsgruppe „Rahmenbedin-gungen“ der Nationalen Plattform Elektromobilität. Seit 2017 leitet er die For-schungsgruppe Wissenschaftspolitik im Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung.

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Platz da!Seit Jahrzehnten gehört der öffentliche Raum nicht mehr den Menschen,

sondern den Autos. Warum eigentlich?

Würden Sie gerne an einer vierspurigen Straße wohnen und dort abends auf dem Balkon sitzen? Möchten Sie dort jog-gen gehen oder mit Ihrem Kind vor dem Haus spielen?

Stimmen Sie der Schlussfolgerung zu: Je mehr parkende Autos, desto schöner die Straße? Können Sie bei Autolärm besonders gut einschla-fen? Schicken Sie Ihre Kinder zum Spielen auf die Straße? Oder allei-ne in die Schule?

Sollten Sie eine oder mehrere Fragen mit „Nein“ beantworten, ha-ben Sie das Problem erkannt: Autos steigern nicht unbedingt die Le-bensqualität. Und eigentlich haben sie im Stadtverkehr nur Nachteile: Sie stehen durchschnittlich 23 Stunden pro Tag unbenutzt herum, errei-chen im Stadtverkehr keine hohe Durchschnittsgeschwindigkeit, trans-portieren meist nur eine Person, stellen eine tödliche Gefahr für alle sich ungeschützt auf der Straße bewegenden Menschen dar, verunstalten durch ihre Präsenz und ihre Verkehrsfläche den öffentlichen Raum, ver-ursachen Lärm, schaden dem Klima und der Gesundheit.

Teuer sind sie übrigens auch: Für den Autofahrer, der in Deutschland durchschnittlich 330.000 Euro während seines Lebens für das Auto-fahren ausgibt und auch für die deutschen SteuerzahlerInnen, die laut einer Studie der TU Dresden den Autoverkehr mit knapp 90 Milliarden Euro jährlich subventionieren.

Trotzdem kommen wir von den Autos nicht los. Die Zulassungszahlen steigen und steigen. Allein in München sind über 800.000 Autos unter-wegs, obwohl das Straßennetz kaum noch wachsen kann.

Dabei sind die gravierenden Nachteile des Autoverkehrs den meis-ten Menschen bekannt. Das zeigt sich schon daran, dass Häuser an stark befahrenen Straßen weniger attraktiv und deshalb günstiger sind. Wer wohnt in München schon freiwillig in der Landshuter Allee, eine der lautesten, hässlichsten und am stärksten mit Abgasen belasteten Stra-ße in Deutschland?

Gründe für die Autosucht

Zwei Gründe begünstigen unsere Autosucht, die stark miteinander zu-sammenhängen und sich gegenseitig verstärken: Der extrem auf den Autoverkehr zugeschnittene öffentliche Raum zwingt uns fast schon dazu, Auto zu fahren. Angesichts der immensen Infrastruktur, die dem Auto zur Verfügung gestellt wird, scheint seine Wahl als primäres Ver-kehrsmittel tatsächlich eine naheliegende und rationale zu sein.

Hinzu kommt ein zweites Problem: Wer freiwillig auf ein Auto ver-zichtet, hat eigentlich nur Nachteile. Er muss sich mit einem öf-fentlichen Raum begnügen, in dem er als Fußgänger und Fahrrad-fahrer marginalisiert und diskriminiert wird. Berliner Studenten der

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BEST-Sabel-Fachhochschule haben 2014 über 200 Straßen vermes-sen und einen „Flächen-Gerechtigkeitsreport“ erstellt. Gerade einmal drei Prozent der Verkehrsfläche entfielen auf Radwege, obwohl deren Anteil am Verkehrsaufkommen schon damals bei 15 Prozent lag. Wer nicht selbst im Auto sitzt, bekommt umso stärker die negativen Aus-wirkungen des Verkehrs zu spüren.

Die autogerechte Stadt

Auch wenn man es sich heute kaum noch vorstellen kann: Städte haben tatsächlich tausende Jahre ohne Autos funktioniert. Das Leben spielte sich früher sprichwörtlich auf der Straße ab. Noch die Kindheitserzäh-lungen der Großeltern handeln vom Spielen und Toben auf der Straße. Das wäre heute undenkbar. Der öffentliche Raum gehört nicht mehr den Kindern, sondern den Autos. Das Elterntaxi chauffiert den Nachwuchs in die Kita, den Kindergarten und später zur Schule, weil der Fuß- oder Radweg für den eigenen Nachwuchs als zu gefährlich gilt – ironischer-weise aufgrund des Autoverkehrs.

Konnten die Wohnverhältnisse früher auch deshalb noch vergleichswei-se eng sein, weil der öffentliche Raum genug Ausweichfläche bot, muss das Leben heute zwangsläufig vor allem in den eigenen vier Wänden stattfinden. Die Folge: Der Wohnflächenverbrauch steigt auf mittlerweile durchschnittlich 46 Quadratmeter pro Person in Deutschland.

Der Verkehrswissenschaftler Hermann Knoflacher bezeichnet das Auto in einem Interview denn auch als ein Virus, „das sich im Gehirn fest-setzt und Verhaltenskodex, Wertesystem und Wahrnehmung total um-kehrt. Ein normaler Mensch würde unseren derzeitigen Lebensraum als total verrückt bezeichnen! Wir ziehen uns mehr oder weniger freiwillig in abgedichtete Häuser mit Lärmschutzfenstern zurück, um den Außen-raum dem Krach, dem Staub und den Abgasen der Autos zu überlassen.“

Die unabdingbare Grundlage für unsere „Autosucht“, nämlich die Schaf-fung von Parkplätzen, wurde im Dritten Reich gelegt. In der Reichsga-

ragenordung von 1939 wurde erstmals gesetzlich geregelt, dass bei je-dem Neubau oder beim Bauen im Bestand Autostellplätze geschaffen werden müssen. Die Tragweite dieser Verordnung, die bis heute wei-testgehend in den Bauordnungen der Bundesländer, Städten und Kom-munen weiterlebt, kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Denn Autoverkehr funktioniert nur, wenn es auch Parkplätze gibt. Wer ein Haus errichtet, muss deshalb pro Wohnung einen bestimmten Stell-platzanteil bauen. Falls er das nicht kann, muss der Stadt oder Kommu-ne eine festgelegte Entschädigung gezahlt werden, die meist zweckge-bunden für die Parkraumerschaffung eingesetzt wird.

Diese zusätzlichen Kosten verteuern das Wohnen und Bauen in der Stadt für alle. Denn auch Menschen, die sich bewusst gegen ein Auto entschieden haben, subventionieren den Autobesitz der Anderen mit. Die Stellplatzverordnung trifft auch das Gewerbe und treibt es auch aus diesem Grund an den Stadtrand, wo Bauland meist günstiger ist und wo die Stellplatzvorgaben dann mehr als erfüllt werden.

Bequemlichkeit siegt

Es ist diese Verfügbarkeit von nahezu kostenlosen Parkplätzen, die Au-tofahren trotz aller Nachteile so bequem und attraktiv macht. Mit dem Anwohnerparkausweis kosten die 13,5 Quadratmeter Flächenver-brauch des Autos in München nur 30 Euro im Jahr, in Berlin sogar nur zehn. Es gibt sie also noch, die echten Schnäppchen in absoluten Top-Lagen – allerdings nur für Autos. Doch könnte man die geschätzten zehn Millionen Quadratmeter oder zweieinhalb Englischen Gärten, die allein die Münchner Autos zum Parken verbrauchen, nicht zumindest in Teilen für Besseres benutzen? Für Erholungsflächen oder ruhigere Straßen, die den Zwang zur Autofahrt ins Grüne vermindern? Für breite Fahrradwege? Für mehr Spielplätze? Für Sportplätze und Bäume?

Es ist wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung: Würden genug Men-schen ohne Auto auskommen, könnten sich die meisten ihrer Mobili-

Der Autoverkehr lässt den öffentlichen Raum so unattraktiv werden, dass sich das Leben zunehmend in die Innenräume ver-lagert. Erholungsorte findet man nur noch außerhalb der Stadt. Zeit, unsere „Autokultur“ einmal kritisch zu hinterfragen.

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tätsbedürfnisse befriedigen lassen. Denn der Autoverkehr in der Stadt erschafft sich weitestgehend selbst. Er lässt den öffentlichen Raum so unattraktiv werden, dass sich das Leben in die Innenräume verlagert und man nur noch außerhalb der Stadt Erholungsorte fi ndet. Folglich steigen die Ansprüche an die Wohnungsgröße der Menschen, was wiederum zu einer weniger dicht besiedelten Stadtstruktur führt.

So nehmen Distanzen und Zersiedlung zu, der öffentliche Nahver-kehr wird teurer, langsamer und lässt sich schlechter erschließen. Der Autoverkehr erscheint nun als probates Mittel, um die Probleme zu lö-sen, die er selbst geschaffen hat.

Das Auto im Kopf

Man muss also nicht nur den völlig unverhältnismäßigen Flächenver-brauch des Autos im öffentlichen Raum endlich einschränken, sondern auch an das Auto in unseren Köpfen ran. Dort ist es fest verankert, be-feuert von einer jahrzehntelangen Autokultur und einer immensen Lob-by, die das Auto fest als unhinterfragbare Großinvestition im Leben der meisten Deutschen verankert hat.

Der Mythos von Freiheit, Kraft und Prestige scheint trotz Verkehrskol-laps, Dieselskandal und Klimawandel noch immer unerschütterlich mit dem Auto verbunden zu sein. Man hat den Deutschen daher zu Recht ein geradezu libidinöses Verhältnis zu ihren Gefährten unterstellt.

Am Mythos Auto arbeiten sich die Umweltschützer in Deutschland denn auch genauso ab wie die Gegner des Waffenbesitzes in den USA am Mythos des sich selbst verteidigenden Siedlers. Die Realität kann einem ungezügelten Auto- und Waffengebrauch noch so sehr wider-sprechen, es ist, als wären diese emotional so stark besetzten Praktiken jeglicher rationalen Betrachtungsweise entzogen.

Politiker tun sich nicht leicht damit, Autofahrern den Platz in der Stadt zu beschneiden. Kein Wunder, sind sie doch selbst ganz überwiegend Au-tofahrer. Wer die grassierende Autosucht in unseren Städten therapieren will, muss sich auf einen schwierigen Entzug einstellen: Die Junkies wer-den schimpfen, schreien, betteln und alles versuchen, um an den Stoff zu kommen, der ihnen und anderen massiv schadet. Erst nach dem Ent-zug werden sie sich bedanken, dass es ihnen besser geht.

Wer Städte sehen will, die einen solchen Entzug bereits erfolgreich geschafft haben, wo der öffentliche Raum gerechter verteilt, die Luft- und Lebensqualität gestiegen ist und in denen es sich nun viel gesünder leben lässt, sollte die selbsternannte „Radlhauptstadt“ München Rich-tung Niederlande oder Dänemark verlassen. Aber nicht mit dem Auto, auch wenn es schwerfällt.

TEXT Johannes SchubertFOTOS Flickr / Sebastian Grasegger Flickr / Metro Centric München Google Street View / urb-i.com

Houston, San Jacinto Street im Jahr 2007 und 2015

Rom, Piazza di San Calisto im Jahr 2008 und 2015

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Herr Canzler, Sie fordern in Ihren Publi-kationen eine „echte Verkehrswende“. Wie könnte diese aussehen? Vor allem geht es um den Klimaschutz. Und der erfordert den Abschied von den fossilen Energien auch im Verkehr. Bis Mitte des Jahr-hunderts, also in gut 30 Jahren, muss der Verkehr fast vollständig dekarbonisiert sein. Ein großer Teil des Öls, das verfeuert werden könnte, muss im Boden bleiben. Nur so ist ein unkontrollierter Anstieg der durchschnittlichen Temperatur auf der Erde zu verhindern. Der folgerichtige Schritt ist daher die Elektrifizie-rung des Verkehrs bei gleichzeitigem Ausbau der Wind- und Solarenergieanlagen.

Damit verbunden ist ein enormer Strukturwan-del. Der fängt bei der Antriebstechnik an, wo statt hochgezüchteter Verbrennungsmotoren relativ einfache Elektroantriebe in die Fahr-

zeuge eingebaut werden. Doch bedeutet eine Verkehrswende mehr als nur das Antriebsag-gregat auszutauschen. Es geht vielmehr um die effiziente Verknüpfung der verschiedenen Verkehrsmittel. Eine solche Verknüpfung ist dank der Digitalisierung auch möglich und eine Reihe von Start-ups setzen darauf. Über digitale Plattformen werden Zugänge gewähr-leistet, das einzelne Verkehrsmittel verschwin-det dahinter.

Allerdings ist die Verkehrswende nicht nur eine technische Herausforderung. Wir müs-sen uns auch gedanklich von der überkom-menen Vorstellung des privaten Autos lösen. Viel weniger Autos sind nötig, wenn alle Ver-kehrsmittel zu „Mobilitätsdienstleistungspa-keten“ geschnürt werden. Das ist für die Au-tomobilwirtschaft eine Revolution und für viele von uns, die wir als Privatautomobilisten so-

zialisiert wurden, auch. Man erinnere sich an die Einführung des Smartphone – noch vor zehn Jahren hätte kaum jemand eine solche Technologie für möglich gehalten.

In diesem Zusammenhang fällt immer wieder der Begriff „Sektorkopplung“. Was ist darunter zu verstehen?Wie gesagt: aus Klimaschutzgründen ist die Elektrifizierung des Verkehrs ein wichtiges Ele-ment der Verkehrswende. Nach Stand der Din-ge ist der batteriebasierte Elektroantrieb der aussichtsreichste Kandidat, zumal die Batte-rien künftig kostengünstiger produziert wer-den können und zudem leistungsfähiger wer-den. Auf längere Sicht dürfte auch das mit einer Brennstoffzelle – gespeist von grünem Wasserstoff – versorgte E-Fahrzeug seinen Platz haben, zumindest im Lkw- und sonstigen Nutzfahrzeugbereich.

Der Wissenschaftler und Mobilitätsforscher Dr. phil. habil. Weert Canzler ist davon überzeugt, dass sich unsere Mobilität drastisch verändern muss. Wie eine umfassende

Verkehrswende gelingen kann, erklärt er im Interview.

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Eine Elektrifizierung macht jedoch nur Sinn, wenn Erneuerbare Energien genutzt werden. Ihre Besonderheit liegt darin, dass sie de-zentral gewonnen werden und zugleich fluk-tuierend auftreten. Um einen Ausgleich zwi-schen dem so genannten „Dargebot“ und der Nutzung von Erneuerbaren zu schaffen, wer-den alle Verbrauchssektoren – Strom, Wärme und Transport – zunehmend miteinander ge-koppelt, um so Flexibilitäten im Gesamtsys-tem zu schaffen. Das nennt man dann Sek-torkopplung.

Welche politischen Maßnahmen wären für eine Transformation des Verkehrs notwendig?Der Widerspruch könnte kaum größer sein: Die Dekarbonisierung ist nach dem Kli-ma-Gipfel von Paris gesetzt und gleichzei-tig gibt es nicht die geringsten Fortschritte in

dem Sektor, der fast zu 100 Prozent karbo-nisiert ist: im Verkehr. Gerade im Straßenver-kehr wurden alle Effizienzgewinne der letzten Jahrzehnte durch mehr Verkehr, größere Fahr-zeuge und längere Wege aufgefressen. Dabei ist die Technik des Verbrennungsmotors aus-gereizt. Das ist die eigentliche Erkenntnis des Dieselgate-Skandals.

Um den Verkehr zu transformieren ist zum ei-nen eine verbindliche Ausstiegsperspektive für den Verbrennungsmotor festzulegen. Zum anderen müssen der öffentliche Verkehr und die aktive Mobilität, also das Zufußgehen und das Radfahren auch zu Lasten des privaten Autos, konsequent gefördert werden. Konkret heißt das, auch so unpopuläre Dinge wie eine systematische Parkraumbewirtschaftung und den Rückbau von Straßen und Parkflächen voran zu bringen.

In welchen Bereichen sehen Sie bereits Fortschritte?Es gibt durchaus Grund für Optimismus: In den letzten Jahren hat sich im Verkehr einiges verändert, was auf den ersten Blick nicht di-rekt damit in Verbindung gebracht wird. Man kann diese Veränderung als „Digitalisierung im Kleinen“ bezeichnen.

Die hohe Verbreitung von Smartphones und das Phänomen des „Permanent-On-line-Seins“ hat zu neuen Verhaltensweisen geführt, auch im Verkehr. Der Zugang zu Ver-kehrsoptionen ist so einfach geworden wie nie, zwei oder drei Klicks reichen. Ob Busse, Bahnen oder Fahrräder oder auch Carsha-ring-Autos: alles kann über das Smartphone geortet, gebucht und auch wieder „abge-geben“ werden. Was wir sehen, ist der Be-deutungsverlust des einzelnen Gerätes, die

Der Wissenschaftler und Mobilitätsforscher Dr. phil. habil. Weert Canzler ist davon überzeugt, dass sich unsere Mobilität drastisch verändern muss. Wie eine umfassende

Verkehrswende gelingen kann, erklärt er im Interview.

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Nutzungschancen sind wichtiger als die PS-Zahl, die Farbe oder das Markenimage.

Eine Verkehrswende zur elektrisch basierten Intermodalität und zu mehr Fahrradverkehr fällt jedoch nicht vom Himmel. Es müssen die Rahmenbedingungen stimmen und für die Käufer und Nutzer tatsächliche Vorteile einge-räumt werden. Dazu gehören beispielsweise Sonderabschreibungen für Flottenfahrzeuge sowie eine Bevorzugung von gemeinschaftlich genutzten E-Fahrzeugen im öffentlichen Raum und sichere Fahrradwege.

Der Anfang könnte in „Realexperimenten“ ge-macht werden. Gleichzeitig muss ein solcher Experimentierraum auch das Versprechen auf den großen Durchbruch („Tipping Point“) akti-vieren können und mit attraktiven neuen Leit-bildern verbunden werden.

Welche Alternativen gibt es zu unserem meistgenutzten Fortbewegungsmittel, dem Auto? Natürlich gibt in den Städten und Ballungs-räumen auch noch den öffentlichen Nah- und Fernverkehr. Besonders gern wird aber die „aktive Mobilität“ unterschätzt. Im Nahbereich sind das Zufußgehen und das Fahrradfah-ren eine attraktive Alternative zum Auto, wenn es Spaß macht, sicher ist und wenn tatsäch-lich die wichtigsten Versorgungseinrichtungen nicht zu weit auseinanderliegen. Eigentlich eine Banalität, aber in vielen Gemeinden und Städten ist die Lage eine ganz andere.

Das Fahrrad kann noch mehr, es ist auch für mittlere Strecken geeignet, wenn es entspre-chende Fahrradwege und Abstellmöglichkeiten gibt. Kopenhagen und viele niederländische Städte zeigen, was bei einem konsequenten Infrastrukturausbau für das Rad möglich ist. Übrigens sind weder Kopenhagen noch etwa Utrecht von der Sonne verwöhnt und einen Winter gibt es da auch. Zusätzliche Optionen für Pendler bieten verstärkt die Pedelecs.

Wie könnte der Gütertransport in Zukunft funktionieren?Auch hier ist wieder zwischen dem Nah- und Ferntransport zu unterscheiden. In der Nah-versorgung ist vieles mit kleinen, elektrisch betriebenen Fahrzeugen zu leisten, auch das elektrisch unterstützte Lastenrad kann da gute Dienste leisten. Das passiert übrigens auch schon in vielen Städten.

Lastenfahrräder werden zunehmend beliebt, sie sind einfach fl exibler, brauchen weniger Platz beim Fahren und vor allem beim Parken. Oft sind sie sogar schneller als Transporter. Mittlerweile setzen sogar einige Paketdienste Lastenräder ein. Größere Transporteinheiten werden von diesen künftig mit elektrisch be-triebenen Fahrzeugen transportiert, Vorrei-ter ist da die DHL mit ihrem ambitionierten Streetscooter-Projekt.

Im Fernverkehr ist der Umstieg schwieriger. Weiterhin ist es natürlich sinnvoll, mehr Gü-ter auf die Schiene – und auf die Wasserwe-

ge – zu verlagern. Nur sind die Kapazitäten begrenzt. Wir werden daher um eine Elektrifi -zierung auch des Güterverkehrs auf der Stra-ße nicht herumkommen. Und auch nicht um eine Reduktion von Transporten. Einfach wird das nicht.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

INTERVIEW Joy MannFOTOS Fotolia Heinrich-Böll-Stiftung

Zur Person

Dr. phil. habil. Weert Canzler, geboren 1960 in Hage, Ostfries-land, ist Senior Researcher in der Forschungsgruppe Wissenschafts-politik im Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung gGmbH (WZB) und Sprecher des Leibniz-Forschungsverbundes Energiewende. Gemeinsam mit Prof. Dr. Andreas Knie veröffentlichte Canzler u.a. das Buch „Die digitale Mobilitätsrevolution – Vom Ende des Verkehrs, wie wir ihn kann-ten“ (Oekom-Verlag 2016, ISBN-13: 978-3-86581-754-9).

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Wir sind der Verkehr!

Critical Mass München nennt sich dieses Phänomen, und wenn der riesige Radler-Schwarm auf Münchens Hauptverkehrsa-dern unterwegs ist, dann ist der Autoverkehr erst einmal lahm-

gelegt. Wer schon einmal mit Critical Mass auf dem Mittleren Ring über die Donnerberger Brücke geradelt ist, eine von vier oder sechs Auto-spuren auf der Sonnenstraße in Beschlag genommen und entspannte Kreise um das Siegestor auf der Leopoldstraße gezogen hat denkt sich: Wow, so viel Platz! So viel Bewegungsfreiheit! Mitten in der Stadt! Wenn dann nach einer Stunde die Straße wieder den Autos gehört, fragt man sich: Warum muss das eigentlich so sein?

Unter der Flagge von Critical Mass München sammeln sich die unter-schiedlichsten Leute: Freizeitradler, Lastenfahrradfahrer, urbane Zwei-rad-Hipster, Fahrradaktivisten, Umweltschützer und Mitglieder des Fahrradclubs ADFC jeglichen Alters und unterschiedlichster sozialer Couleur. Was sie alle eint ist die Freude am Radeln und die Überzeu-gung, dass das Fahrrad die urbane Mobilität der Zukunft ist.

Kein anderes Fortbewegungsmittel ist so umweltfreundlich, fl exibel, platzsparend, sozial verträglich und demokratisch wie der Drahtesel –

er ist das genaue Gegenteil vom Konzept Auto. Und deshalb beinhal-tet ihre Idee der autofreien Stadt auch viel mehr als nur die Forderung nach mehr und besseren Radwegen. Es geht um die Vision einer ge-rechteren Stadt, in der der öffentliche Raum wieder von allen Menschen – und nicht vorrangig von Autos und ihren Besitzern – genutzt und ge-nossen werden kann.

Gemeinsam zur „kritischen Masse“

„Critical Mass“, also „Kritische Masse“ ist ein Begriff aus der Kernphy-sik. Er beschreibt das Phänomen, dass bei der Kernspaltung ab einer bestimmten Masse an spaltbaren Stoffen eine Kettenreaktion einsetzt, die die Zahl der Neutronen exponentiell wachsen lässt. Eine solche Kettenreaktion lösten auch die ersten Fahrradaktivisten 1994 in den USA mit ihren spontanen Stadttouren aus: Eine Critical Mass formiert eine möglichst große Zahl an Radfahrern, die gemeinsam durch die Stadt radeln.

Jeder, der Lust hat, kann spontan mitfahren, so dass die Gruppe immer größer wird – was irgendwann dazu führt, dass durch die Rad-fahrer-Massen der komplette Verkehr in der Stadt lahmgelegt wird.

Wir sind der Verkehr!

Offi ziell gibt es keinen Veranstalter. Offi ziell ist es auch keine Demonstration. Offi ziell treff en sich in München 300 bis 400 Radfahrer einmal im Monat immer wieder einfach so, um gemeinsam gemütlich mit Musik und Kaltgetränken durch ihre Stadt zu radeln.

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Längst hat sich die Bewegung ihren Weg rund um den Globus ge-bahnt: Den Rekord hält bislang Budapest mit einer Critical Mass von etwa 80.000 Radfahrern.

Während sich die Radler in anderen Ländern oft genug teils auch ge-walttätigen Auseinandersetzungen mit Autofahrern und Ordnungshü-tern stellen müssen, kann man sich in Deutschland auf den überaus praktischen Paragraphen §27 der Straßenverkehrsordnung berufen: Der erlaubt Radfahrern ab einer Gruppenstärke von 15 Personen, als geschlossener Verband nebeneinander auf der Fahrbahn und über Kreuzungen zu fahren, auch wenn die Ampel schon rot ist. Auf diesen Paragraphen, der ursprünglich für radelnde Sportgruppen und Vereine gedacht war reagiert der durchschnittliche deutsche Autofahrer – ge-linde gesagt – genervt.

Und genau das ist das Kalkül bei Critical Mass, wirft diese Reaktion doch die Frage auf: Warum ist es aus Autofahrersicht eine ganz norma-le Sache, wenn im Berufsverkehr tausende Autos die Straße durch Stau blockieren? Warum hingegen sieht ein Autofahrer rot, wenn hunderte Radfahrer den Verkehr aufhalten? Der Effekt ist ja der gleiche.

Laut Gesetz sind Fußgänger, Radfahrer und Autofahrer gleichberechtigte Verkehrsteilnehmer. Laut Gesetz sind Radfahrer berechtigt, die Straße anstelle des Radwegs zu benutzen. Laut Gesetz wird von allen Verkehrs-teilnehmern gegenseitige Rücksichtnahme erwartet. Mit durchschnitt-lich drei schwerverletzten und einem getöteten Radfahrer pro Tag in Deutschland sieht die Realität aber ganz anders aus: der Straßenver-kehr funktioniert dann doch eher nach dem Gesetz des Stärkeren.

Leben in der Autostadt

Der Anteil der Radfahrer am Straßenverkehr in München ist in den letz-ten Jahren sprunghaft auf fast 20 Prozent angestiegen. Und trotzdem tut sich die Stadt schwer, verkehrspolitische Konsequenzen zu ziehen:

In kaum einer anderen deutschen Stadt wird das Auto so verehrt, ist die Auto-Lobby so stark, ist das Auto so sehr Statussymbol wie in der Lan-deshauptstadt. Immer noch werden Radwege vorrangig gebaut, um den Autoverkehr zu entzerren, nicht um die täglich etwa 1,2 Millionen Fahr-radfahrer schneller und sicherer durch die Stadt zu leiten oder gar um das Fahrradfahren insgesamt attraktiver zu machen.

Aktuelle Entwicklungen wie Dieselgate oder die Feinstaub-Rüge aus Brüssel sind Wind in den Segeln der Fahrradaktivisten. Andreas Schus-ter von Green City, selbst langjähriger Critical Mass-Mitstreiter, hat für sein Bürgerbegehren „Sauber sog I“ letzten November innerhalb von zwei Monaten 15 000 Unterschriften gesammelt.

Dass der Stadtrat dieses Bürgerbegehren dann auch tatsächlich ab-genickt und unterzeichnet hat, kam selbst für Schuster überraschend: Immerhin verpfl ichtet sich die Stadt München damit, seinem 10-Punkte-Plan zur Beseitigung der Luftverschmutzung in München zu folgen und bis 2025 mindestens 80 Prozent des Verkehrs durch Fußgänger, Radler, Elektrofahrzeuge und den Öffentlichen Nahverkehr zu ersetzen.

Wenn es nach den Critical Mass-Radlern ginge, hätte München eine autofreie Innenstadt, in der die Zulieferung an Geschäfte und Gewer-be über ein Lastenräder- und E-Transporter-System erfolgt – eine For-derung übrigens, die auch Logistik-Unternehmen wie DHL bereits ak-tiv unterstützen (siehe Artikel auf Seite 15). Parkräume und Stellplätze würden umgewidmet in Grünfl ächen oder zum Bau von Radwegen ge-nutzt, und der gesamte Innenstadtverkehr wäre über ein gut strukturier-tes Netz von öffentlichen Verkehrmitteln abgewickelt.

Dass die Idee funktioniert, zeigt das Pilotprojekt Sendlinger Straße: Die umstrittene Sperrung für den Autoverkehr hat die Qualität der Einkaufs-straße für alle Beteiligten deutlich erhöht – niemand wünscht sich hier den Autoverkehr zurück. Dagegen hoffen viele Münchner, dass weitere „autobefreite“ Zonen folgen werden.

Wer selbst einmal in der Vorstellung schwelgen möchte, Radfahrer und Fußgänger könnten sich auf allen Straßen unbedrängt, sicher und in sauberer Luft bewegen, der sollte einfach mal bei Critical Mass Mün-chen mitradeln und erleben, wie anders sich diese Stadt anfühlt, wenn Autos einmal keine Vorfahrt haben.

TEXT Christiane KretzerFOTOS criticalmass-muenchen.de Christiane Kretzer Fotolia

Was die „Critical Mass“ eint ist die Freude am Radeln – und die Überzeugung, dass das Rad die urbane Mobilität der Zukunft ist.

Christiane Kretzer Fotolia

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Der Versandhandel wächst und wächst, und mit ihm auch der Lieferverkehr. Die „letzte Meile“ wird zunehmend ein Problem für den öffentlichen Raum.

Zugestellt

Die Logistik-Branche hat einen Grad an Perfektion erreicht, dem man tatsächlich Respekt schuldet: Allein in Deutschland wurden bereits im Jahr 2013 über zwei Milliarden Sendungen

ins In-und Ausland verschickt. Und auch der boomende Online-Handel bringt die Logistik-Branche erst einmal nicht in Verlegenheit: Mit rie-sigen Flugzeug- und Transporterflotten, zu Wasser, auf Schienen und per Fahrrad, mit hocheffizienten Logistik- und Verteilzentren steuert sie Tag und Nacht präzise und minutiös getaktet die gigantischen Waren-ströme rund um den Globus.

Auf rund 70 Milliarden Euro schätzen die Unternehmensberater von McKinsey einer Studie zufolge die Kosten, die pro Jahr allein für die weltweiten Pakettransporte entstehen. Und doch hat die-ses Wunderwerk der Trans-portlogistik eine Achillesferse: Die sogenannte „letzte Mei-le“. Wenn die Sendung kurz vor Ende ihrer Reise den Weg zur Haustür des Empfängers antritt, wird Hightech-Logistik plötzlich wieder zur Manufaktur.

Hans Fink zum Beispiel, Brief- und Paketzusteller in den Alpen auf 1500 Metern Höhe, erreicht seine Empfänger im Winter nur auf Ski. Die Post-botin Andrea Bunar aus dem Spreewald tuckert mit ihrem Kahn auf dem Wasserweg zu ihren Kunden. Und der Kurierfahrer Ahmed Özer vollbringt täglich das Kunststück, mit drei Minuten Zustellzeit pro Päck-chen seinen Laster durch das Verkehrsdickicht der Münchner Innen-stadt zu manövrieren.

Ob Brief, Päckchen, Paket oder Sperrgut – jede Zustellung muss ein-zeln ausgeladen, zu den unterschiedlichsten Wohnungstüren gebracht und dort dem Empfänger persönlich übergeben werden. „Jede Zustel-lung hat ihre eigene letzte Meile“, sagt Merle Breyer, zuständig für das

Projekt „City2Share“ im Münchner Referat für Stadtplanung und Bau-ordnung. Breyer meint damit: Der Abschnitt zwischen dem letzten Ver-teilzentrum und dem Empfänger einer Ware erfordert immer eine indivi-duelle Lösung. Er ist für alle Beteiligten eine logistische Herausforderung. Nicht umsonst verursacht er 40 Prozent der gesamten Transportkosten.

Die Kurier-, Express- und Paketdienste verzeichnen aktuell ein Wachs-tum von etwa 5,5 Prozent, die Zahl der Liefertransporte nimmt stän-dig zu. Das hat Folgen, die am deutlichsten in den Ballungsgebieten zu spüren sind: Ihre unzähligen Stopps quer durch die Stadtviertel, in Ein-fahrten, auf Geh- und Radwegen oder in den überfüllten Straßen der In-nenstadt bescheren dem öffentlichen Raum nicht nur stetig steigende

Abgas-Emissionen.

„Das größte Problem ist die Flächenkonkurrenz“, meint Merle Breyer. „Das ist eine Dauerproblematik, und sie nimmt ständig zu. Der Lie-ferverkehr konkurriert mit

den anderen Verkehrsteilnehmern um deren Ansprüche und das führt dann zu vielen weiteren Einzelproblemen.“

City2Share ist ein Projekt der Stadt München mit neun weiteren Part-nern. Es soll neue Konzepte für eine stadtverträgliche Mobilität und eine verbesserte Aufenthaltsqualität in den Quartieren entwickeln und auf Praxistauglichkeit testen. Einer der Schwerpunkte ist die E-Logistik auf der letzten Meile. „Für die Bevölkerung ist es ein Ärgernis, wenn der Lie-ferverkehr alles blockiert, das ist ein Konflikt. Aber eine Lösung können wir nur zusammen mit den Logistik-Partnern entwickeln. Deshalb ar-beiten wir mit dem Paketzusteller UPS zusammen. Gemeinsam suchen wir nach Modellen, mit denen wir die letzte Meile neu zu gestalten kön-nen“, sagt Merle Breyer.

„Wenn sich die Menschen demnächst jeden Liter Milch frischgekühlt an die Haustür liefern lassen, stehen wir vor

einer Herausforderung.“

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Das Testgebiet von City2Share ist die Isarvorstadt und Untersendling, und dort wird derzeit mit dem Konzept „Microdepot“ experimentiert: An-stelle von Lieferwägen, die im Viertel von Haus zu Haus fahren, bringt ein E-Laster morgens eine Art Paketcontainer an eine zentrale Stel-le, lädt ihn dort ab und verlässt das Viertel wieder. Am Container oder Microdepot holen E-Lastenräder die Sendungen ab und liefern sie leise, platzsparend und umweltschonend an die Haushalte aus.

Dieses Verfahren spart rund 280 Stopps von Lieferwägen und ent-lastet damit spürbar die Umwelt und den Verkehr. Das Problem: Jede Logistik-Firma fordert ein eigenes Microdepot, da sie rechtlich für die Sendungen verantwortlich ist und dieser Verantwortung in einem Sam-meldepot mit anderen Lieferfi rmen nicht nachkommen kann.

Im Münchner Domagk-Park verfolgt man deswegen ein anderes Kon-zept: Hier wurde im September auf Betreiben von Civitas Eccentric, einem EU-Projekt für neue Mobilität, eine Concierge-Station eingeweiht, an der alle Zusteller zentral ihre Sendungen abliefern. Von dort können die Bewohner des Domagk-Parks dann ihre Sendungen zeitunabhängig

selbst abholen. Glaubt man aber der „Last Mile“ Stu-die von McKinsey, ist die generelle Bereit-

schaft der Kunden für den Gang zum Depot – ob Pack-

station oder der eigene Kofferraum – eher gering. Nur wenn die persön-liche Zustellung Mehrkosten von drei Euro überschreitet, so die Studie, wären viele bereit, ihre Sendungen an einem Zustellort selbst abholen.

Smarter Together München, ebenfalls ein von der EU gefördertes Pro-jekt, testet deshalb derzeit in Neuaubing ein digital gesteuertes Gesamt-mobilitätssystem. Auf den persönlichen Lieferservice wird nicht ver-zichtet, aber er wird modifi ziert. Geliefert wird mit E-Fahrzeugen, die gleichzeitig auch als Transporter, Taxi, Schulbus, Privatwagen etc. je-dem im Viertel zur Verfügung stehen und mittels Quartiers-App jeder-zeit und überall gefunden, gebucht und genutzt werden können. Durch dieses Sharing reduziert sich nicht nur der CO

2-Ausstoß, sondern das

Verkehrsaufkommen insgesamt.

Lastenrad ersetzt Transporter

In Bezug auf die letzte Meile hat die EU eine ganz klare Zielvorgabe for-muliert: Bis 2030 soll in „größeren städtischen Zentren“ eine „im We-sentlichen CO

2-freie Stadtlogistik“ installiert sein. Nicht nur aus diesem

Grund entwickeln die Logistik-Unternehmen selbst seit einigen Jahren viele neue Konzepte. Sie müssen auf der letzten Meile effi zienter wer-den, da diese den größten Kostenfaktor darstellt.

DHL hat in Ermangelung von kooperationsbereiten Partnern aus der Autoindustrie einfach selbst verschiedene E-Transporter-Modelle ent-wickelt und gebaut. Der Verkauf dieser Fahrzeuge ist mittlerweile ein ei-gener, sehr erfolgreicher Geschäftszweig. Die E-Transporter wiederum sind Teil des „City Hub“-Konzepts: Sie liefern viele kleine Paket-Con-tainer an wenige zentrale Stützunkte in der Stadt, von wo sie dann von speziell für diese Art der Ladung gefertigten Lastenräder („Cubicycle“) aufgenommen werden. Die Testphase lief bereits so erfolgreich, dass nach Frankfurt und Utrecht künftig auch Berlin nach dem City Hub Prin-

die von McKinsey, ist die generelle Bereit-

Depot – ob Pack-

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zip versorgt werden soll: Jedes Lastenrad kann im Durchschnitt ein Zu-stellfahrzeug ersetzen und spart so jährlich nicht nur Kosten, sondern auch über acht Tonnen CO

2 ein.

Paketdrohnen im Testlauf

Neben diesen Ansätzen, die vor allem auf eine Kombination aus E-Trans-portern, Lastenrädern und den Möglichkeiten der Digitalisierung setzen sind auch die sogenannten „PostBOTs“, von BriefträgerInnen begleitete Lastenroboter und die Drohnenzustellungen in der Testphase. Der On-line-Versandriese Amazon und DHL planen, speziell für Zustellungen außerhalb der Ballungsräume eine emissionsärmere und wirtschaft-lichere Lieferung per Transport-Drohne.

Im letzten Jahr hat DHL über seine Flugstation in Reit im Winkel bereits erfolgreich Drohnen auf abgelegene Almhütten und zu Krankenhäusern mit eiligen Medikamentenlieferungen geschickt.

Doch es gibt noch etliche Beschränkungen für eine standardisier-te Drohnen-Zustellung: In Deutschland dürfen unbemannte Fluggeräte nur bis zu einem Gewicht von bis zu fünf Kilogramm fliegen, so dass eine Paket-Drohnen-Flotte im großen Stil derzeit nicht realisierbar wäre. Auch ist eine gesicherte Abwicklung der Flüge noch nicht in Sicht. Un-beaufsichtigte Landeplätze, die mögliche Manipulation von Drohnen während des Flugs und auch das Unfallrisiko sind Probleme, für die erst noch Lösungen entwickelt werden müssen.

Aber neue Konzepte sind dringend nötig, wenn sich der Verteilverkehr so weiterentwickelt, wie der Bundesverband Paket und Expresslogistik

e. V. prognostiziert: Derzeit wächst der Onlinehandel um etwa zehn Pro-zent pro Jahr und wird weiter zunehmen. Beim neuen Trend, der Le-bensmittellieferung an die Haustür, zeigt ein Blick nach Großbritannien, dass auch in Deutschland eine Wachstumssteigerung von derzeit ein auf zehn Prozent nicht nur möglich ist, sondern wahrscheinlich.

„Geordnete Bahnen“ für den Lieferverkehr

Diese Entwicklung stellt die Stadt- und Verkehrsplaner vor beachtliche Probleme und erfordert dringend einen neuen Umgang mit der letzten Meile. „Wir wollen als Stadt nicht immer nur verbieten, sondern helfen, Lösungen zu finden“, erklärt Merle Breyer. „Wenn sich aber all diese Trends noch weiter verstärken, wenn sich die Menschen demnächst jeden Liter Milch frischgekühlt an die Haustür liefern lassen, dann ste-hen wir vor einer zunehmenden Herausforderung, welcher wir uns kreativ und konstruktiv stellen müssen. Dabei muss es das Ziel sein, den Verteilverkehr in geordnete Bahnen zu lenken, so dass er auch künftig in einem angemessenen Verhältnis zur Infrastruktur und zum öffentlichen Raum steht.“

TEXT Christiane Kretzer FOTOS Deutsche Post AG Fotolia

Das „Cubicycle“ kann mit seinem Ladevolumen von einem Kubikmeter im Durchschnitt ein herkömmliches Zustellfahrzeug ersetzen. Nach Frankfurt und Utrecht will nun auch Berlin die umweltfreundlichen Lastenräder zum Einsatz bringen.

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Selbst ist der Transport

Das neue Regal, der Großeinkauf oder der eigene Nachwuchs – mittlerweile lässt sich alles mit dem Fahrrad oder Pedelec transportieren. Doch welches Transportmittel

eignet sich am besten für die eigenen Bedürfnisse? Ein Überblick.

Seit ein paar Jahren erlebt das Las-tenfahrrad eine beispiellose Renais-sance im Stadtverkehr. Lastenräder kommen dem Konzept eines Au-tos am nächsten und scheinen auch deshalb eine niederschwellige Alter-native dazu zu sein: Ein einteiliges System mit Laderaum zum Transport von Menschen und Dingen.

Allerdings kosten moderne Las-tenräder auch mittlerweile so viel wie mancher Gebrauchtwagen (die Stadt München fördert das Lasten-rad mit einer Kaufprämie, siehe Arti-kel auf Seite 2). Kleinere Stückzahlen und die sich anbietende elektrische Unterstützung treiben den Preis in die Höhe.

Doch gerade beim Lastenfahrrad mit seinem hohen Eigengewicht und sei-ner Transportkapazität macht die Elektrifi zierung Sinn. Zweirädrige Lastenräder sind besonders populär,

das Angebot mittlerweile groß. Sie verfügen über eine für die meisten Anforderungen ideale Balance aus Wendigkeit, Schnelligkeit und Kapa-zität.

Dreirädrige Lastenräder sehen zwar auf den ersten Blick sicherer zu fah-ren und bequemer aus, sind jedoch noch einmal bedeutend schwerer, haben hohe Lenkkräfte und neigen in der Kurve bei höheren Geschwin-digkeiten zum Umfallen.

Achten sollte man beim Kauf eines Lastenfahrrads vor allem auf eine zeitgemäße Bremsanlage (hy-draulische Scheibenbremsen) sowie eine gut untersetzte Nabenschal-tung, die das Anfahren erleichtert und sich auch im Stehen schalten lässt. Dies ist besonders wichtig bei Lastenrädern ohne elektrische Un-terstützung, wo das effi ziente Zu-sammenspiel von Mensch und Rad besonders wichtig ist.

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TEXT Johannes SchubertILLUSTRATION Verena Kattinger

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Eine Alternative zum Lastenrad ist der Kinderanhänger. Während Lastenrä-der nur in Einheitsgrößen erhältlich sind, lässt sich der Kinderanhänger mit den unterschiedlichsten Fahrrä-dern kombinieren. Kinder sind zudem in einer „Fahrgastzelle“ mit Überroll-bügel besser geschützt. Die meisten Kinderanhänger können am Zielort auch als Buggy weitergenutzt wer-den, was sehr praktisch sein kann. Mittlerweile gibt es zudem Modelle, deren Sitze im Neigungswinkel ver-stellbar sind, falls das Kind unterwegs einschlafen sollte.

Gute Kinderanhänger gibt es neu ab ca. 600 Euro oder aber gebraucht zu kaufen, wobei auch hier die guten Anhänger sehr wertstabil und dem-entsprechend teuer sind. Wer ne-ben dem Kindertransport auch öf-ter den Großeinkauf bewerkstelligen will, sollte auf eine feste Bodenwan-ne achten. Die einfache Blattfede-rung der meisten Kinderanhänger kann grobe Unebenheiten ausbügeln, spricht jedoch nicht besonders fein an. Hier sind gute, großvolumige Rei-fen mit niedrigem Luftdruck eine sinn-volle Ergänzung für mehr Komfort.

Geht es um den reinen Lastentrans-port mit dem Fahrrad, sind Las-tenanhänger die Profis. Sie haben gegenüber dem Lastenrad ähnliche Vorteile wie der Kinderanhänger: Lastenanhänger lassen sich an jedes existierende Rad oder Pedelec bei Bedarf koppeln und haben die größ-ten Ladekapazitäten.

Selbst überlange Gegenstände pas-sen auf die meisten Lastenanhänger,

die es mittlerweile in einer Vielzahl an Größen bis hin zur Europalette gibt. Falls man einen größeren Anhänger anschaffen will, sollte man genug Platz zum Unterstellen haben oder ein Modell wählen, das sich leicht und schnell auseinandernehmen und dadurch besser lagern lässt. Hoch-wertige Lastenanhänger bekommt man ab ca. 300 Euro.

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TEXT Johannes Schubert ILLUSTRATION Verena Kattinger

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Bei über 60 Prozent des internationalen Transports kommen heute Container zum Einsatz. Äpfel aus Neuseeland, T-Shirts aus Bangladesch, Elektronik-Bauteile aus China oder Motorrä-

der aus den USA – alle diese Waren sind in 19 Fuß und 10,5 Zoll langen Containern verstaut, wenn sie am Hamburger Hafen ankommen. Dass alle Container gleich sind, macht es einfach und billig, sie zu verladen. Und weil Hunderttausende davon jedes Jahr gebaut werden, sind auch die Container selbst günstig zu erwerben.

Die Standardisierung hat auch für die Logistik immense Vorteile. Die Container lassen sich ohne Probleme aufeinander stapeln. Sie können mit standardisierten Maschinen von Schiffen auf Züge und von Zügen auf Lastwagen verladen werden. In Kombination mit elektronischer Da-tenverarbeitung können selbst riesige Schiffe und Häfen mit sehr wenig Personal betrieben werden.

In Europas größtem Hafen in Rotterdam werden Schiffe vollautoma-tisch entladen. Computer erkennen unter zehntausenden Containern jeden einzelnen. Riesige Kräne verladen sie zielsicher zwischen Schif-fen, Zügen und kleineren Transportfahrzeugen. Die Fahrzeuge am Bo-den waren schon vor zehn Jahren selbstfahrend. Menschen braucht es nur noch, um das Ganze zu überwachen. Diese Automatisierung ist schnell, effizient und unschlagbar billig. Selbst ein Schiff mit 10.000 Containern kann in weniger als einem Tag komplett ent- und wieder beladen werden.

Von diesen Riesenschiffen gibt es immer mehr. Seit der interna-tionalen Standardisierung der Maße 1968 ist die Zahl und Größe der Containerschiffe stetig gestiegen. Ende der 1960er Jahre galt ein Schiff mit einigen hundert Containern als „groß“. Das derzeit größ-te Containerschiff, die OOCL Hong Kong, trägt bis zu 21.400 Stück. Sollte ein Zug all diese Behälter transportieren, wäre er über 130 Kilometer lang.

Die stetig steigende Größe der Schiffe hat unter ExpertInnen den Begriff „Malaccamax“ entstehen lassen. Er bezeichnet ein Schiff, das so viel Tiefgang hat, dass es gerade noch durch die Straße von Malakka fah-ren kann, die an ihrer seichtesten Stelle nur 25 Meter tief ist. Die Frage ist: Was soll man tun, wenn die Schiffe noch größer werden? Schon gibt es Überlegungen, diese Grenze des Wachstums offensiv zu überschrei-ten und das Meer bei Singapur auszubaggern, wie es bei den Elbvertie-fungen für den Hamburger Schiffsverkehr geschieht.

Standardisierung, Mechanisierung und die Größe der Schiffe haben den Preis für den Transport von Gütern über die Weltmeere immer weiter fal-len lassen. Deshalb können Äpfel aus Neuseeland in einem Supermarkt in München mit Äpfeln vom Bodensee oder aus Südtirol konkurrieren, obwohl sie zuvor einmal um die halbe Welt transportiert wurden.

Mit dem sinkenden Preis für Transporte steigt und steigt die Nach-frage. Weil es sich lohnt, werden immer mehr und mehr Waren glo-bal verschifft. Der globale Warenhandel auf Schiffen ist laut Zahlen der Vereinten Nationen in den Jahren 2013 und 2014 jeweils um 3,4 Pro-zent angestiegen. Es wird geschätzt, dass weltweit in allen Häfen rund 684 Millionen 20-Fuß-Container umgesetzt wurden. Ein Ende des Wachstums ist auch hier nicht in Sicht.

Luftverschmutzer auf See

Unter dem steigenden Schiffsverkehr leidet die Umwelt. Da die Schiffe auf internationalen Gewässern verkehren, die Reedereien ihren Sitz ger-ne in Ländern mit laschen Regeln haben und die Nationalstaaten unter-einander in Konkurrenz stehen, ist der Schadstoffausstoß für Schiffe im Vergleich zu Autos oder LKWs sehr schlecht reguliert. Sie tragen des-halb nicht nur zum Klimawandel bei, sondern haben auch einen beson-ders hohen Ausstoß an gesundheits- und umweltschädlichen Schwefel-oxiden, Stickoxiden und Rußpartikeln.

Eine einfache Idee hat fast unbemerkt eine Revolution ausgelöst: Der standardisier-te Container. Ohne ihn gäbe es keine Globalisierung. Wegen ihm sind Kosten für den Transport von Waren über die Weltmeere im Sinkflug. Das globale Transportvolumen

aber steigt und steigt. Wo sind die Grenzen des Wachstums?

Die Container-RevolutionUmweltinstitut München e.V. 12/201720

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Während in LKW-Diesel in der EU höchstens 0,001 Prozent Schwe-fel enthalten sein darf, ist in Schwerölen für die Schifffahrt bis zu 3,5 Prozent Schwefel zulässig. Im Durchschnitt enthalten Schiffstreibstoffe 2700 Mal mehr Schwefel als Diesel.

Auf den wichtigsten Routen haben die Emissionen der Handelsschiffe sogar einen starken Einfl uss auf das Wetter. Sie belasten das Klima, bringen zusätzliche Nährstoffe in Meere und Böden und führen zu sau-rem Regen. Dabei ist das Problem nicht nur irgendwo weit draußen: Weil ein großer Teil der Schadstoffe in Küstennähe ausgestoßen wird, sterben alleine in Europa jährlich rund 50.000 Menschen aufgrund von Emissionen aus Schiffen einen frühzeitigen Tod.

Billige Transporte belasten die Umwelt

Um die Umweltschäden durch den Transport zu reduzieren wird häu-fi g eine Erhöhung der Transportkosten diskutiert. Steigt der Preis, sinkt die Nachfrage und damit wird die Umwelt geschont. Gleichzeitig kön-nen die Einnahmen für den Staat genutzt werden, um die Kosten von Umweltzerstörung und Gesundheitsfolgen zu bezahlen. Zudem ist es nur fair, wenn diejenigen, die Kosten verursachen, sie auch tragen. Das stärkt lokale Wirtschaftskreisläufe und verstärkt Anreize, in effi zientere Techniken zu investieren. Die Öko-Steuer auf Treibstoffe, die durch die rot-grüne Bundesregierung 1999 eingeführt wurde, folgt dieser Idee.

Das Dilemma: für den internationalen Schiffsverkehr ist diese Maßnah-me nicht geeignet. Selbst wenn die Weltgemeinschaft strenge Grenz-

werte für Schiffsemissionen, eine faire Bezahlung der Schiffsbesat-zungen und eine Ökosteuer auf die Treibstoffe durchsetzen würde, wäre Wein aus Südafrika in München noch kein Luxusprodukt und nieder-sächsische Hühnerhälse in Accra immer noch günstiger als Hühnchen von ghanaischen LandwirtInnen.

Der Anteil der Transportkosten am Preis des Endprodukts ist so gering, dass selbst eine Vervielfachung der Kosten den Welthandel nur geringfügig bremsen kann. Um das ständige Wachstum des Schiffs-transports und die damit verbundenen Probleme für den Klimawandel und die Risiken für die Weltmeere einzudämmen, sind radikalere Maß-nahmen nötig.

Neben der Container-Revolution war es nämlich die Liberalisierung des Welthandels mit der Gründung der WTO und Handelsabkommen wie dem General Agreement on Tariffs and Trade (GATT), die die Globalisie-rung der Wirtschaft ermöglicht haben. Wer ihre Auswüchse bekämpfen will, muss hier ansetzen und den internationalen Handel mit internatio-nalen Verträgen regulieren und beschränken. Dass der globale Handel immer weiter wächst, ist kein Wert an sich.

TEXT Karl BärFOTOS Fotolia Umweltbundesamt

2014 2015

Frachtschiffe stoßen tonnenweise Schadstoffe aus und belasten damit die Umwelt. Doch es gibt auch eine positive Entwicklung, wie das Kartenmaterial des Umweltbundesamts zeigt: Bei der Darstellung der Stickoxidbelastung im Jahr 2014 erkennt man in Schleswig-Holstein den Nord-Ostsee-Kanal als dicken, grünen Streifen. Die rechte Karte mit Jahresmittelwerten für 2015 zeigt, dass die neuen Re-geln der Internationalen Seeschifffahrtsorganisation IMO für Schiffstreibstoffe bereits Wirkung zeigen. Seit 2015 sind in der Nord- und Ostsee nur noch Treibstoffe mit höchstens 0,1 Prozent Schwefel zu-lässig. Schweröl kann in dieser Region daher nicht mehr als Treibstoff genutzt werden. Bis 2020 soll der Schwefelanteil weltweit auf höchstens 0,5 Prozent sinken.

Stickoxid-Emissionen auf hoher See

2014 2015

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Gefährliche Fracht unter dem öff entlichen Radar

Atom-Transporte

Atomtransporte durch Deutschland? In der öffentlichen Wahr-nehmung gehören sie oft der Vergangenheit an. In Erinnerung bleiben die zahlreichen Atommüll-Transporte ins Zwischenla-

ger Gorleben, die in den Jahren 1995 bis 2011 mit vehementen Pro-testen der Anti-Atom-Bewegung einhergingen. Dass auch heute tag-täglich Atomtransporte durch Deutschland rollen, ist hingegen meist nicht bekannt. Ohne sie wäre der Betrieb von Atomanlagen weder in Deutschland noch weltweit denkbar.

Auch der Forschungsreaktor in Garching bei München (FRM II) kann nicht ohne regelmäßige Transporte radioaktiver Materialien betrie-ben werden. Frische Brennelemente werden aus Frankreich angelie-fert. Dort wird Uran aus unbekannter Quelle verarbeitet. Heute, nach gut zehn Jahren Betrieb des Forschungsreaktors, ist die Lagerkapazi-tät für abgebrannte Brennelemente am FRM II erschöpft. Ab 2018 sol-len Transporte wieder Raum schaffen, da ein Verbleib der abgebrannten

Brennelemente vor Ort nicht eingeplant ist und auch ein Zwischenla-ger nicht zur Verfügung steht. Geplant ist, die abgebrannten Brenn-elemente in insgesamt 17 Transporten in das 700 Kilometer entfernte Atommüll-Zwischenlager im nordrhein-westfälischen Ahaus zu verbrin-gen. Bislang fehlt hierfür allerdings die Genehmigung.

Die Transporte von und nach Garching reihen sich ein in jährlich hun-derte von Atomtransporten allein in Deutschland – auf Schiene, LKW und Schiffen. Zu den transportierten radioaktiven Stoffen zählen Uran für die Brennelementefertigung, frische und abgebrannte Brennele-mente, hoch-, mittel- und schwachradioaktive Abfälle sowie radioaktiv kontaminierte Großkomponenten.

Die Verfrachtungen geschehen zumeist außerhalb der öffentlichen Aufmerksamkeit. Der Anti-Atom-Bewegung ist es zu verdanken, dass ein Teil der Transporte – ihre Wege, Anzahl und transportierte Materi-alien – bekannt werden. Die Aktivist_innen beobachten die Strecken,

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sichten die Ladung von Schiffstransporten, stellen parlamentarische Anfragen und bereiten die Informationen auf.

Die Angst fährt mit

Auch bei Atomtransporten sind Unfälle jederzeit möglich. Doch Kata-strophenschutzbehörden sind oftmals nicht darüber informiert, dass entsprechende Transporte durch ihre Gebiete rollen. Im Mai 2013 ent-kam Hamburg nur knapp einer Katastrophe. Stundenlang brannte im Hamburger Hafen ein Schiff, dass unter anderem 20 Tonnen radioak-tives Material, darunter neun Tonnen hochgiftiges Uranhexa-fl uorid und 4000 Kilo Munition geladen hatte. Tritt Uranhexafl uorid aus, bildet es zusammen mit Luftfeuchtigkeit Flusssäure, die zu töd-lichen Verätzungen führen kann. Zeit-gleich fand nur wenige Meter ent-fernt eine Großveranstaltung statt. Einige Städte reagieren auf derartige Risiken. So hat Bremen für einen Teil radio-aktiver Stoffe den Umschlag über seine Häfen verboten – Hamburg noch nicht.

Ursache für einen Großteil der Transporte durch Deutsch-land, aber auch weltweit, ist die Produktion von Brennelementen für Atomkraftwerke. Für die Brenn-elemente muss Uran in mehreren Ver-arbeitungsschritten in weltweit verstreut liegenden Spezialfabriken verarbeitet werden. Auch in Deutschland gibt es mit der Urananreicherungs-anlage im nordrhein-westfälischen Gronau und der Brennelementefa-brik im niedersächsischen Lingen zwei solcher Fabriken. Trotz des be-schlossenen ‚Atomausstiegs‘ Deutschlands im Jahr 2022 sollen die Fabriken auch in Zukunft unbefristet Atomkraftwerke weltweit mit Brennelementen versorgen.

Eine globale Atomspirale

Während die Atomindustrie hinsichtlich der Atomkraft von einem „Brennstoffkreislauf“ spricht, handelt es sich faktisch vielmehr um eine „Brennstoffspirale“ globalen Ausmaßes. In jedem Schritt der Brennele-mente-Fertigung fallen größere Mengen an radioaktiven und toxischen Rückständen an, mit denen umzugehen ist. Hinzu kommen nach dem Einsatz in Atomkraftwerken abgebrannte Brennelemente, die schlus-sendlich als Atommüll zu lagern sind. Die globale Atomspirale bedingt Atomtransporte über Tausende von Kilometern weltweit.

Der Ausgangspunkt der Atomspirale liegt in Ländern wie Kasachstan, Kanada, Namibia oder Australien. Dort wird in Minen Uranerz abgebaut. In Deutschland wird das Erz unter anderem im Hamburger Hafen per Schiff angelandet und anschließend in Güterzügen über Bremen, Osna-

brück, Münster, Hamm, Köln-Bonn, Koblenz und Trier nach Südfrank-reich transportiert. Dort wird das Erz in Spezialfabriken weiterverarbei-tet: Aus Uranerz wird Uranhexafl uorid (UF6) – ein Verfahren, das als Konversion bezeichnet wird. Aus Teilen dieses Uranhexafl uorids werden in weiteren Schritten in den deutschen Atomfabriken in Gronau (NRW) und im niedersächsischen Lingen Brennelemente gefertigt. Die Brenn-elemente versorgen Atomkraftwerke in aller Welt – darunter AKW in der Bundesrepublik, in Frankreich und in der Schweiz.

Bis heute kein sicheres Endlager

Nach dem drei- bis vierjährigen Einsatz der Brennelemente als Reaktor-Brennstoff und ih-

rer anschließenden mehrjährigen Lage-rung in Abklingbecken unter Wasser ste-

hen oftmals weitere Transporte an. So werden die abgebrannten Brenn-

elemente an Zwischenlagerstand-orten gebracht, an denen sie in Castorbehältern für Jahrzehnte provisorisch deponiert werden. Bis heute gibt es weltweit kein sicheres Endlager.

Auch in den kommenden Jah-ren wird es zahlreiche Atomtrans-

porte durch die Bundesrepublik ge-ben. Einige davon unter den Augen

der Öffentlichkeit wie die geplanten Atommüll-Transporte von Garching nach

Ahaus oder die angekündigten Transporte aus der seit 2005 in Deutschland verbotenen Wieder-

aufarbeitung hochradioaktiver Abfälle in Frankreich und England. Zwischen 2019 und 2021 werden mit Ziel Brokdorf, Biblis, Philippsburg und Isar bis zu 28 Castor-Behälter aus La Hague und Sel-lafi eld erwartet.

Sicher ist: Ohne Atomtransporte gäbe es keine Atomkraft und keine Atomwaffen. Für die Anti-Atom-Bewegung stellen die Transporte des-halb eine Achillesferse der Atomindustrie dar. Auch zukünftig werden Atomtransporte kritisch beobachtet werden. Wo Uran, Brennelemente und Atommüll auf den Weg gebracht werden, um die Atomindustrie auf-rechtzuerhalten, sind Proteste zu erwarten.

TEXT Dr. Philip BedallFOTOS Flickr / Frerk Meyer Fotolia

12/2017Münchner Stadtgespräche Nr. 78 23

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