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Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 670 Die Namenlose Zone
Das Sonnen‐Tabu von Peter Terrid
Der Befreiungskampf der Paudencer
Es geschah im April 3808. Die entscheidende Auseinandersetzung zwischen Atlan und seinen Helfern und Anti‐ES ging überraschend aus. Die von den Kosmokraten veranlaßte Verbannung von Anti‐ES wurde gegenstandslos, denn aus Wöbbeking und Anti‐ES entstand ein neues Superwesen, das hinfort auf der Seite des P
ill oder nicht, der Arkonide wird ve
der BRISBEE‐Kinder die Möglichkeit, dennoch in
tmacht heran, denn er ist entschlossen, eine Wende zum PIhm entgegen steht DAS SONNEN‐TABU …
ositiven agiert. Die neue Sachlage gibt Anlaß zum Optimismus, zumal auch in der künstlichen
Doppelgalaxis Bars‐2‐Bars endgültig der Friede einkehrt. Für Atlan jedoch ist die Situation alles andere als rosig. Der Besitz der Koordinaten von Varnhagher‐Ghynnst, ohne die er nicht den Auftrag der Kosmokraten erfüllen kann, wird ihm nun durch Chybrain vorenthalten. Ob er es wrpflichtet, die Namenlose Zone aufzusuchen. Inzwischen schreibt man den September des Jahres 3808. Trotz der Vernichtung
des Junk‐Nabels, des letzten Übergangs zwischen Normaluniversum und Namenloser Zone, gibt es mit Hilfe dieses Raumgebiet zu gelangen. Dort – so weiß man inzwischen – verkörpern die Zyrtonier die eigentliche
Macht. Und gegen diese negativen Wesen tritt Atlan erneut an. Der Arkonide führt eine beachtliche Streiositiven herbeizuführen.
Die Hauptpersonen des Romans: Atlan ‐ Der Arkonide durchlebt die Vision vom Ziel der SOL. Ziir‐Tinc ‐ Emulator der Walgonier. Raan‐Mar und Ollon‐Tur ‐ Anhänger des Emulators. Daan‐Bar ‐ Mitglied des Herrschaftsrats der Walgonier. Daug‐Enn‐Daug und Borallu ‐ Sie üben Einfluß in der Namenlosen Zone aus.
1. »Der Tag wird kommen«, beteuerte Ziir‐Tinc. »Ich schwöre es euch.« Der Emulator betrachtete die Gesichter seiner Zuhörer. Es waren
Freunde, die ihn ansahen, Walgonier, die durch zwei Bande zusammengehalten wurden – durch ihren unerschütterlichen Glauben an Paudenc und durch die Tatsache, daß sie Freiheit und Leben verlieren konnten, wenn es jemals ruchbar werden sollte, daß sie anderen Glaubens waren als ihre Mitbewohner des Systems der Doppelsonne. Der Emulator konnte sehen, daß seine Zuhörer ihm nicht recht
glauben wollten. Verwunderlich war es nicht. Viele Generationen waren auf den beiden Walgon‐Planeten
aufgewachsen, hatten gelebt und gearbeitet und waren gestorben, ohne daß sich irgend etwas geändert hätte. Und nun sollten ausgerechnet sie den Tag der Befreiung erleben? »Ich weiß, daß es unglaublich klingt«, sagte Ziir‐Tinc. »Aber
bedenkt, der Tag, von dem ich spreche, kehrt nur in Abständen von Jahrtausenden wieder. Was sich zugetragen hat in ferner Vergangenheit, wissen wir nicht mehr. Diese Geheimnisse werden vom Herrschaftsrat sorgsam gehütet, und selbst uns ist es nicht möglich gewesen, darüber etwas Genaues zu erfahren. Aber eines wissen wir alle sehr genau – bei der letzten Wiederkehr dieses Tages brach das Verhängnis über unser Volk herein. Seither sind wir
gefangen, eingesperrt und unterdrückt. In sehr kurzer Zeit wird sich das Ereignis wiederholen, das jenen Tag kennzeichnet – und dieses Mal wird es das Ende unserer Sklaverei herbeiführen.« Raan‐Mar, eine Frau mittleren Alters, stand auf. »Ich glaube dir«, sagte sie mit lauter Stimme und sah sich dabei herausfordernd um. Einige Köpfe wurden zustimmend bewegt. »Aber wenn jener Tag tatsächlich kommt und eine Wende zum Guten bringt – wofür sollen wir uns dann anstrengen? Wofür gehen wir die Gefahren ein, die mit unserem Glauben verbunden sind?« Der Emulator breitet die Arme aus. »Nichts geschieht von allein. Der Tag ist der Zeitpunkt, zu dem
wir unsere Kraft zusammenfassen und handeln müssen. Tun wir es nicht, wird sich auch nichts ändern an unserem Elend. Überlegt euch die Sache, wenn ihr in eure Unterkünfte zurückkehrt. Wir treffen uns in einer Woche an der gleichen Stelle.« Die Versammlung, einhundertsiebzig Köpfe stark, löste sich auf.
Einzeln verließen die Mitglieder den Raum, schlüpften durch das System von Gängen und Rohren und tauchten an unterschiedlichen Stellen an der Oberfläche des Planeten wieder auf. Niemand, der sie wenig später über die Straßen gehen sah, konnte ahnen, daß sie sich kurze Zeit vorher zu einer verbotenen Versammlung getroffen hatten. Raan‐Mar war zurückgeblieben, sie wollte noch mit dem Emulator
reden. Sie bot Ziir‐Tinc von ihren Genuß‐Pastillen an, aber der Emulator lehnte freundlich ab. »Ich muß einen klaren Kopf behalten«, sagte er. Raan‐Mar zuckte
mit den Schultern und steckte die kleine Schachtel wieder weg. Die Wirkung des Euphorikums trat rasch ein, Raan‐Mars Augen begannen leicht zu glänzen. »Du sprichst immer wieder von diesem Tag, ohne uns zu sagen,
wodurch er sich von den anderen Tagen unterscheiden wird«, sagte sie dann. »Es hat mit Sternenzauberei zu tun, weißt du?« antwortete Ziir‐
Tinc. »Ich habe es mir gedacht«, antwortete Raan‐Mar. »Unser ganzes
Leben wird von Sternenzauberei beeinflußt.« »Es ist so, wenn ich den Oberzauberer unserer Organisation
richtig verstanden habe: Wir leben in einem Sonnensystem, das zwei Sonnen hat, die Große Gaulat und Paudenc.« »Das weiß jedes Kind«, gab Raan‐Mar zurück. »Während der
Herrschaftsrat behauptet, daß die Große Gaulat unser Leben beeinflußt, behaupten wir, daß es vor allem Paudenc ist. Und aus diesem Grund nennen wir uns Paudencer und die anderen Gaulater, obwohl wir alle Walgonier sind.« »Und auf zwei Planeten leben, die diese beiden Sonnen umkreisen.
Und diese beiden Sonnen wiederum kreisen um einen Kraftpunkt zwischen ihnen. Wir stehen auf Walgon II, dem äußeren Planeten, und der Herrschaftsrat hat seinen Sitz auf Walgon I. Auch das ist bekannt. Aber nur in den Schulen für Sternenzauberei kann man erfahren, daß die Bahnen dieser Planeten um die beiden Sonnen nicht immer gleich sind.« Ziir‐Tinc suchte nach Möglichkeiten, das bildlich auszudrücken,
was er wußte. »Genaugenommen bewegen sich alle Himmelskörper in unserem
System um den Kraftpunkt. Die beiden Sonnen tun es sehr nahe, die beiden Planeten weiter weg. Und ihre Umlaufbahnen drehen sich auch – die von Walgon I in der einen Richtung, die von Walgon II in der anderen Richtung. Stell dir vor, du hast einen Reifen, wie ihn Kinder zum Spielen benützen. Stell dir weiter vor, du hast einen zweiten, kleineren Reifen. Nun legst du beide Reifen auf den Tisch, den kleinen in den größeren hinein, aber so, daß der Abstand zwischen beiden Reifen überall gleich ist. Dann gehst du hin und spießt diese beiden Reifen auf einen langen dünnen Spieß.« An Raan‐Mars linkem Gesicht konnte Ziir‐Tinc ablesen, wie es der
Frau schwerfiel, diese Vorstellung aufzufassen. Innerlich murmelte Ziir‐Tinc eine Verwünschung.
Wenn das verhaßte System des Herrschaftsrats erst beseitigt war, mußte als erstes ein Gesetz erlassen werden, das die Trennung der Nervenverbindung zwischen den beiden Gehirnen eines Walgoniers unter Strafe stellt. Bei Raan‐Mar waren die Folgen dieser Operation, die gewöhnlich kurz nach der Geburt vorgenommen wurde, sehr deutlich zu sehen. Mit dem linken Gehirn konnte die Frau die Tatsachen, die Ziir‐Tinc ihr vortrug, einwandfrei verarbeiten. Es war die Gehirnhälfte, die für logisches Denken zuständig war, auch für die Verbalisierungsfähigkeit und andere intellektuelle Aufgaben. Die rechte Hirnhälfte hingegen war für bildliches, symbolisches Denken zuständig, für Empfindungen und die Wahrnehmung von ganzheitlichen Gestalten. In diesem Schädel war jetzt das Bild von den Reifen angekommen und wurde dort verstanden – aber wegen der Komissurotomie war sie nur mit Mühe imstande, von diesem Bild zu abstrahieren und die Regeln der Sternenzauberei hinter dem symbolisch Dargestellten zu erkennen. »Ich glaube, ich begreife es allmählich«, sagte Raan‐Mar. »Nimm die beiden Reifen jetzt vom Tisch. Du kannst den inneren
Reifen um die Achse des Spießes drehe, den äußeren auch – und zwar beide in unterschiedlicher Richtung.« Wieder mußte Ziir‐Tinc seinem Gegenüber Zeit lassen, das Bild zu
verarbeiten. »Ich habe es. Und auf die gleiche Weise bewegen sich auch
Walgon I und II um den Kraftpunkt?« »Ihre Bahnen entsprechen den Kreisen. Kannst du dir zwei dicke
Perlen vorstellen, die sich auf diesen beiden Reifen bewegen? Das sind die beiden Planeten. Manchmal sind sie sich sehr nah, manchmal sind sie sehr weit entfernt. Und einmal in vielen tausend Jahren passiert es, daß nicht nur die beiden Planeten so nahe beieinanderstehen wie möglich, sondern daß die Achse – der Spieß aus dem Bild – auch durch beide Sonnen und den Kraftpunkt hindurchführt. Die Sternenzauberer nennen dieses Ereignis die Große Magische Synopse.«
»Es fällt mir schwer, aber ich glaube, ich habe es verstanden. Und was passiert dann?« »Beim letzten Mal hat die Reihenfolge der Himmelskörper so
ausgesehen, von außen nach innen: Walgon II, dann Walgon I, dann Gaulat, dann der Kraftpunkt und dann erst Paudenc. An diesem schrecklichen Tag geschah es, daß unser Volk von unbekannten Mächten eingesperrt wurde, in die Barriere der Ewigkeit, denn damals war am Himmel über den Planeten nur eine Sonne zu sehen, die Große Gaulat. Es ist ein Tag des Unheils gewesen.« Raan‐Mars Augen weiteten sich. »Und beim nächsten Mal wird Paudenc vor Gaulat stehen, nicht
wahr? Dann wird unsere Sonne den Haupteinfluß auf unser Leben nehmen, und wir werden frei sein.« »So wird es sein«, stimmte der Emulator zu. »Aber sprich mit
niemandem darüber. Es gibt nur wenige, die die magischen Zusammenhänge dieses Tages kennen.« Raan‐Mar nickte eifrig mit beiden Köpfen. Der Emulator lächelte, obwohl ihm danach nicht zumute war.
Seine Aufforderung, diese Geheimnisse nicht auszuplaudern, würde ohnehin nur ein paar Tage wirksam sein. Danach würde höchstwahrscheinlich passieren, was Ziir‐Tinc schon Hunderte von Malen erlebt hatte. Das gerade Begriffene würde sich in den Gehirnen von Raan‐Mar
wieder auflösen in einen analytisch‐sternenzauberischen Teil und ein deutliches Bild von Reifen und Perlen, aber es würde Raan‐Mar unmöglich sein, diese beiden unterschiedlichen Aspekte der Wirklichkeit wieder zusammenzusetzen. Selbst in den scheußlichen Verhörkammern der Tabu‐Jäger würde sie nichts ausplaudern können. Entweder würde sie den Folterern etwas Wirres von Reifen und Perlen erzählen, oder sie würde schweigen, weil sie nicht in der Lage war, ihr Wissen um die Zusammenhänge so auszudrücken, daß man sie verstehen konnte. Überaus begeistert davon, daß sie nun Geheimnisträgerin war,
machte sich Raan‐Mar auf den Heimweg. Sie hatte zwei Männer und sieben Kinder zu versorgen und mußte sich jede Stunde, die sie bei den Versammlungen der Paudencer verbrachte, von ihrer kargen Freizeit gleichsam absparen. Ihr Mann war ein sehr entschiedener Gaulater, obendrein im Staatsdienst angestellt und damit gleichsam von Amts wegen zu einer einzigen Betrachtungsweise der Wirklichkeit verurteilt. Auch Ziir‐Tinc machte sich auf den Heimweg. Der Abend senkte sich über Hulth, die größte Stadt des Planeten
Walgon II. Auf den Straßen waren viele Walgonier unterwegs, darunter viele Frauen, die alle vier Hände voll Waren hatten. Das mußte man dem Herrschaftsrat lassen, er sorgte dafür, daß
kein Walgonier darben mußte. Das Zuteilungssystem war perfekt. Die Verkehrssysteme funktionierten, und der Pendeldienst der Fähr‐ und Transportschiffe von Walgon I nach Walgon II funktionierte sekundengenau. Sieben Milliarden Walgonier lebten auf den beiden Welten, drei
Milliarden auf Walgon II, vier Milliarden auf dem inneren Planeten. Von den drei Milliarden Bewohnern von Walgon II tendierten inzwischen zwei Drittel zum Glauben der Paudencer, auf Walgon I, wo der Herrschaftsrat saß, waren die Verhältnisse nicht so gut, dort waren drei Viertel der Bevölkerung Gaulater, darunter natürlich der gesamte Behördenapparat. Ziir‐Tinc seufzte leise, als er an der Kreuzung stehenblieb. Neben
ihm bauten sich andere Walgonier auf, die gleich ihm auf das Lichtsignal warteten, das den Weg für die Fußgänger freigab. Selbst Ziir‐Tinc als Emulator fiel immer wieder darauf herein –
auch er reagierte beim Anblick eines Stoppsignals völlig automatisch. Das Signal war nicht ohne Grund für das rechte Gehirn bestimmt, wurde dort wahrgenommen und befolgt, als handele es sich um ein eigenes, inneres Bedürfnis stehenzubleiben. Nur geschulte Zweidenker waren in der Lage, hinter dem Farbsymbol den abstrakten Befehl von oben zu sehen, den Zwang, der ausgeübt
wurde. Als das Signal umsprang, marschierte Ziir‐Tinc ebenso
automatisch los wie seine Nebenleute; jedes andere Verhalten wäre sehr auffällig gewesen. Gewohnheitsmäßig sah sich Ziir‐Tinc um. Er wußte, daß überall
Tabu‐Jäger unterwegs waren, um Abtrünnige aufzuspüren und festzunehmen. Wer es wagte, die offizielle Lehre vom Primat Gaulats anzutasten, das Sonnen‐Tabu in Frage zu stellen, der riskierte Haft, Zwangsarbeit und im schlimmsten Fall den Tod. Ziir‐Tinc machte sich keine Illusionen – falls man ihn aufgreifen sollte, war er dem Tod verfallen. Ziir‐Tinc sah hinauf zum Himmel, bevor er das Wohnhaus betrat,
in dem er lebte. Beide Sonnen waren am Himmel zu sehen. Paudenc wirkte etwas
größer, weil die Sonne näher stand. Ihr Licht war rein und weiß. Hinter ihrem rechten Rand strahlte das unangenehme Grün von Gaulat. Es konnte nicht mehr lange dauern, dann würde Paudenc Gaulat völlig verdecken. Dann war die Endzeit für die Gaulater gekommen – in einigen Tagen standen dann auch die beiden Planeten richtig. Ziir‐Tinc versuchte sich den Augenblick vorzustellen. Am Himmel die strahlend weiße Sonne Paudenc, die das grüne
Ungeheuer Gaulat völlig abdeckte. Und dann würde der Schatten des inneren Planeten anfangen über die Sonnenscheibe zu wandern. Beim bloßen Gedanken an dieses Bild spürte Ziir‐Tinc Schauer der Erregung über seinen Körper laufen. Aber es würde viel Arbeit und Mühe kosten, den Umsturz an
diesem Tag durchzuführen. Die Tabu‐Jäger des Herrschaftsrats waren nicht zu unterschätzen, immer wieder gerieten ihnen Paudencer in die Finger und verschwanden auf Nimmerwiedersehen. Ziir‐Tinc ließ sich vom Antigravschacht hinauftragen in das
siebenunddreißigste Stockwerk des Hauses. Er liebte es, abends von
seiner Wohnung aus die Stadt zu überblicken und sich vorzustellen, wie man dieses Bild ändern könnte. Hulth war unter der Herrschaft der Gaulater kalt und häßlich
geworden. Ziir‐Tinc hatte einige spärliche Unterlagen sehen können, die ihm gezeigt hatten, wie die Stadt vor vielen Jahrtausenden einmal ausgesehen haben mußte. Damals hatte es kein Geradenmuster gegeben, das die Stadt in
exakt gleiche Viertel und Wohnblocks zerschnitt. Auch die konsequente Aufgliederung der Riesenstadt hatte es damals noch nicht gegeben. Jetzt aber konnte Ziir‐Tinc von seinem Fenster aus sehen, daß im Arbeitsviertel fast alle Lichter gelöscht worden waren. Das Einkaufsviertel war noch zur Hälfte beleuchtet, während im Amüsierviertel die Lichter gerade angingen. In der Verwaltungssektion waren ebenfalls noch einige erleuchtete
Fenster zu sehen, aber Ziir‐Tinc wußte, daß es sich um Betrug handelte. Die Staatsbediensteten waren längst in ihren Wohnungen. Die Lichter sollten der Bevölkerung lediglich vortäuschen, daß die Verwaltung selbst in den Abendstunden noch für das Wohl der Walgonier arbeitete. Die einzige Behörde, in der um diese Zeit tatsächlich noch gearbeitet wurde, war das Tabu‐Silo, ein fensterloser Betonklotz. Dort wurde zu jeder Tages‐ und Nachtzeit gearbeitet, das hieß: verhört, gefoltert, ohne Urteil bestraft. Unablässig waren die Tabu‐Jäger auf Beutesuche. Sie wurden nach ihrem Erfolg bezahlt, infolgedessen schleppten sie immer neue Verdächtige in die Verhörmühlen des Tabu‐Silos. Der Herrschaftsrat hatte sich eine ganz besondere Bosheit einfallen
lassen, die im Tabu‐Silo praktiziert wurde. Dank der ebenso barbarischen wie perfekten Verhörmethoden konnten Gaulater von Paudencern sehr zuverlässig unterschieden werden – und die Tabu‐Jäger ließen Unschuldige in jedem Fall frei. Diese Tatsache beeindruckte viele Gaulater so sehr, daß sie darüber das Schicksal der Paudencer, die in keinem einzigen Fall freigelassen wurden, völlig vergaßen. Systematisch trieb so die Staatsführung einen Keil
in die Bevölkerung, und sie war erfolgreich damit. Es wurde rasch dunkel. Ziir‐Tinc zog das Gewand aus und setzte
sich auf das Bett. Er nahm eine Meditationshaltung ein und versenkte sich in die Innenschau. Nur durch hartnäckiges und intensives Training war es möglich,
die Folgen der Komissurotomie wenigstens teilweise zu beseitigen und die volle Denkkraft zurückzuerhalten. Ziir‐Tinc spürte, wie sich seine Muskeln entkrampften und schlaff
wurden. Seine Atemfrequenz senkte sich, der Atem wurde tiefer. Jeden Gedanken einfach verwehen lassend, ohne sich mit ihm zu
beschäftigen, versenkte sich Ziir‐Tinc tiefer und tiefer. Maßloser Schreck durchfuhr ihn, als er zu halluzinieren begann.
Es war, als melde sich in ihm eine fremde Stimme. Zirr‐Tinc holte tief Luft und brach die Meditation ab. »Was hat das zu bedeuten?« fragte er sich. Er trank etwas, ging
unruhig in seiner Wohnung auf und ab. »Versuchen wir es«, stieß er schließlich hervor und nahm wieder
eine Meditationshaltung ein. Diesmal zögerte er den Entspannungsprozeß hinaus. Er wollte
ganz genau herausspüren, in welcher Phase sich diese unheimliche Stimme zu melden begann. Beim zweiten Versuch schien sie auszubleiben, und das beruhigte
den Emulator sehr. Er meditierte intensiver, schaltete die äußere Wahrnehmung völlig aus, ließ sich vom Schlag seines Herzens treiben und spürte den Atem durch seinen Körper fließen. Abermals meldete sich die Stimme. Klar und deutlich waren ihre
Worte zu verstehen. »Diese Botschaft wirst du nur einmal hören, in diesem Augenblick.
Wisse, daß sich das Schicksal deines Volkes entscheiden wird in nächster Zukunft. Es kann sich zum Schlechten wenden, es kann sich aber auch verbessern. Wisse daher, daß du in Bälde Besuch bekommen wirst. Es wird in deinem Interesse und in dem deines Volkes sein, wenn du diese Fremden in ihren Bemühungen
unterstützt.« In Ziir‐Tincs Denken formte sich das Bild eines Lebewesens, das
wie ein seltsam unfertiger Walgonier aussah, mit nur einem Kopf, zwei Armen und zwei Beinen. Daneben tauchte kurz das Bild eines ganz anderen, vollkommen fremdartigen Geschöpfs auf, das Ziir‐Tinc großen Schrecken einflößte. Ebenso rasch wie sie gekommen waren, verschwanden die Bilder
wieder. Im Denken des walgonischen Emulators formte sich eine Frage. »Ich bin die Emulator‐Quelle«, sagte die geheimnisvolle Stimme
und verstummte dann. Ziir‐Tinc stieß einen tiefen Seufzer aus. Eine Weile lauschte er
noch in sich hinein, dann tauchte er aus der inneren Versenkung wieder auf. Nachdenklich wiegte er die Köpfe. »Ich werde mich entscheiden müssen«, murmelte er.
2. Daan‐Bar, als Mitglied des Herrschaftsrats für Fragen der Systemsicherheit zuständig, zog beide Stirnen kraus. Die Meldungen, die ihm auf den Tisch geflattert waren, behagten
ihm überhaupt nicht. In seinem Auftrag waren in den letzten Wochen wieder einmal
Tabu‐Forscher unterwegs gewesen, um die Meinung in der Bevölkerung zu erkunden. Dabei wurden in eine Fülle von Fragen, die nur für die Verwaltung wichtig waren, auch ein paar Begriffe eingeschleust, die das Denken der Walgonier erkunden sollten. An den Gefühlsreaktionen auf den rechten Gesichtern ließ sich sehr gut ablesen, wie die Befragten zu heiklen Problemen wirklich dachten. Dank dieses einfachen wie wirkungsvollen Mittels war der Herrschaftsrat jederzeit über die Stimmung in der Bevölkerung
informiert. »Sieben Prozent Zuwachs allein im letzten Halbumlauf«, stieß
Daan‐Bar hervor. »Das ist entschieden zuviel. Diese Paudencer werden noch zu einer echten Gefahr.« »Sind sie es nicht schon längst?« fragte der Abteilungsleiter, der
die Organisation dieser Umfragen zu verantworten hatte. »Die Werte sind doch schon seit etlichen Umläufen besorgniserregend.« Daan‐Bar winkte ab. »Nicht für uns«, sagte er heftig. »Es genügt uns zu wissen, wer die
führenden Köpfe dieser Bewegung sind, damit wir sie beaufsichtigen können. Besser eine Untergrundbewegung, die wir bestens kennen, ohne etwas dagegen zu unternehmen, als eine Organisation, die wir nicht kennen und infolgedessen auch nicht bekämpfen können.« Er tippte ein paar Befehle in die Tastatur des Rechners. Auf den
Bildschirm waren wenig später Listen zu sehen – Namen mit vollständiger Anschrift und einer neunstelligen Kennziffer. »Wir haben die Sammlung komplett beieinander«, verkündete
Daan‐Bar. »Wenn es soweit ist, einen Tag vor dem großen Tag, auf den die Paudencer in ihrem Wahn verzweifelt warten, werden wir zuschlagen. Bis dahin sollen sie ruhig glauben, wir wüßten nicht viel über ihre Umtriebe.« »Wenn das so ist, was bedeuten dann die sieben Prozent Zuwachs
für eine Bedrohung?« Daan‐Bar schaltete den Rechner wieder aus und verschränkte die
Arme. »Nur eine Person aus dem Führungskreis der Paudencer kennen
wir nicht. Sie nennen ihn den Emulator, und er gilt als ihr oberster Anführer. Dieser Zuwachs geht auf sein Konto – und das bedeutet, daß er sehr aktiv geworden ist. Hättest du mir zusammen mit der Umfrage den Namen dieses Verräters gebracht, würde ich mich nicht weiter aufregen. So aber bedeuten die sieben Prozent Zuwachs in einem Halbumlauf, daß er es geschafft hat, unser
Überwachungssystem zu unterlaufen.« »Und wieso ist es nicht möglich, diesen Burschen zu fassen?
Haben wir nicht genug Paudencer verhaften lassen?« Daan‐Bar schüttelte die Köpfe. »Dieser Emulator arbeitet vorwiegend rechtshirnig. Er spricht
mehr das Gefühl der Walgonier an als ihren Verstand. In ihrem Rausch der Begeisterung nehmen seine Zuhörer ihn rational kaum mehr wahr. Wenn wir sie nach ihm befragen, hören wir etwas über Güte, Freundlichkeit und tiefe Einsicht, aber nichts über Körpermerkmale und andere Faktoren, mit denen wir etwas anfangen könnten.« Der Abteilungsleiter rümpfte die linke Nase. »Vielleicht gibt es doch eine Möglichkeit«, sagte er nachdenklich. »Und die wäre?« Daan‐Bar spürte einen Anflug von Ärger. Was fiel diesem
subalternen Stubenhocker ein, ihm gute Ratschläge zu geben? Seit drei Jahren arbeitete Daan‐Bar hauptsächlich an diesem Problem, und er hatte schon manchen Rüffel der Kollegen einstecken müssen, weil er des Emulators immer noch nicht habhaft geworden war. »Tabu‐Raster«, sagte der Abteilungsleiter. »Haben wir schon versucht«, sagte Daan‐Bar geringschätzig. »Es
gibt keine auffälligen Merkmale bei diesem Walgonier, die wir durchmustern könnten.« »Wo treffen sich die Paudencer? Meines Wissens meist in
unterirdischen Verstecken.« »Das ist richtig, wir haben bereits Dutzende dieser Verstecke
gefunden und gespeichert.« »Und wie kommen die Besucher dorthin?« »Mit ganz gewöhnlichen öffentlichen Verkehrsmitteln«,
antwortete Daan‐Bar gereizt. »Aber nicht genau bis ins Versteck. Den Rest der Strecke werden
sie zu Fuß zurücklegen, oder?« »Bei Gaulat, was soll der Unfug?«
Der Abteilungsleiter ließ sich in seinem Eifer nicht bremsen. Er schien fest von der Durchführbarkeit seines Plans überzeugt zu sein. »Außerdem sind die Zugänge zu diesen Verstecken wohl nicht
das, was man als öffentliche Wege bezeichnen kann. Ich vermute, daß es Gänge und Stollen sind, einige davon ziemlich feucht und dreckig. Die Besucher werden sich des öfteren schmutziges Schuhwerk einhandeln.« »Schuhe kann man säubern«, sagte Daan‐Bar wütend. Er war nahe
daran, diesen Schwätzer hinauszuwerfen. »Aber davon werden sie bestimmt nicht besser. Unser Mann wird
daher, wenn er eine Versammlung nach der anderen besucht, einen sehr beachtlichen Verschleiß an Schuhwerk haben.« Daan‐Bar wurde hellhörig. »Erzähl weiter«, sagte er und bestellte über die Tastatur
Erfrischungen. »Es scheint mir weiterhin logisch zu sein, daß er sich davor hütet,
mit Ordnungsorganen zusammenzustoßen. Und da die Versammlungen überall im System stattfinden, wird er die öffentlichen Verbindungen in ganz besonderem Maß beanspruchen.« Daan‐Bar verzog die Münder zu einem anerkennenden Grinsen. »Raster eins«, sagte der Abteilungsleiter, dem das Lächeln nicht
entgangen war. »Alle Personen, die auffällig viele Schuhe bestellt haben. Raster zwei: Personen, die in besonders starkem Maß öffentliche Verkehrsmittel benutzen. Raster drei: Personen, die sich betont unauffällig verhalten. Glücksspieler, Trinker, Verbrecher – all diese Personen fallen aus dem Raster heraus. Ich schätze, daß die Zahl der Personen, auf die alle diese Merkmale zutreffen, ausgesprochen gering ist.« Daan‐Bar nickte. »Und dann noch etwas«, fuhr der Abteilungsleiter fort und
lächelte triumphierend. »Ich habe davon gehört, daß dieser sogenannte Emulator unsterblich sein soll.«
»Blödes Zeug«, verwahrte sich Daan‐ Bar. »Das gehört zu seiner Fabel, aber es kann nicht Tatsache sein.« »Ob es wahr ist oder nicht, spielt gar keine Rolle. Um eine solche
Legende unterstützen zu können, darf unser Mann keine lebenden Verwandten mehr haben. Immerhin sollen diese Emulatoren schon seit Jahrtausenden unter uns weilen.« »Du bist auffallend gut informiert«, sagte Daan‐Bar mit einem
Unterton von Schärfe. »Ich bin ehrgeizig«, gab der Abteilungsleiter zu. »Und wenn ich
aufsteigen will, muß ich nachweisen, daß ich etwas kann.« »Fahr fort«, bestimmte Daan‐Bar. Der Spender servierte die
Getränke, Daan‐Bar gab einen Becher an den Abteilungsleiter weiter. »Der Emulator hat keine Verwandten, jedenfalls keine, die noch
leben. Höchstwahrscheinlich wird sich bei einer Nachforschung nach seinen Ahnen die Spur Jahre vor seiner Geburt verwischen – entweder, weil er unsterblich ist und tatsächlich vor Jahrhunderten geboren worden ist, oder weil er seine Dokumente gefälscht hat. Wenn wir all das zusammennehmen, ist der Raster eng genug.« »Das können wir überprüfen«, murmelte Daan‐Bar. Er schwang
mit dem Sessel herum und griff zur Tastatur des Rechners. Langsam und gründlich begann er das Rasterprogramm einzugeben. »Fangen wir an mit allen Personen, die keine lebenden
Verwandten mehr haben«, murmelte er. Der Rechner brauchte zehn Minuten, dann hatte er sämtliche
Dateien nach diesem Faktor durchgeprüft. »Zwölf Millionen«, stieß Daan‐Bar hervor. »Du kannst die Frauen herausnehmen, der Emulator ist nach allen
Aussagen männlich.« »Bleiben sechs Millionen, immer noch zuviel«, erklärte Daan‐Bar,
als der Rechner diese Arbeit erledigt hatte. »Und als nächstes alle Personen herausfiltern, die besonders oft
gereist sind – mehr als zehn Mal pro Umlauf von einem Planeten
zum anderen.« Diesmal brauchte der Rechner eine knappe Minute. »Siebzehntausend«, las Daan‐Bar vom Bildschirm ab. »Als nächstes ein Vergleich mit der Ordnungswidrigkeitenkartei.« »Bleiben achthundertvierundsiebzig«, las Daan‐Bar ab. »Es scheint
zu funktionieren.« »Wie viele von diesen Personen haben sich in der Vergangenheit
neue Identitätspapiere ausstellen lassen?« Daan‐Bar schluckte. »Sechzehn«, las er ab. »Das reicht völlig – einer von diesen
sechzehn muß der Emulator sein.« »Und als letztes versuchen wir es mit den Schuhen.« Dieses Mal dauerte der Vorgang ziemlich lange. Die erforderlichen
Daten mußten erst aus dem Zentralspeicher des Herrschaftsrats abgerufen werden und ließen sich dann erst mit den bereits gefundenen Personeninformationen vergleichen. Daan‐Bar stieß einen Laut der Verblüffung aus, als er das Ergebnis
sah. Übriggeblieben waren nur zwei Namen. »Einer davon muß unser Mann sein«, stieß Daan‐Bar hervor. Er
spürte, wie ihn eine Art Jagdfieber erfaßte. Er sah hinüber zu dem Abteilungsleiter. Der wollte sich gerade mit verschränkten Armen in einer Na‐also‐Geste genießerisch zurücklegen, sah dann aber Daan‐Bars Blick und blieb aufrecht sitzen. »Hm«, machte Daan‐Bar. Nur er konnte die beiden Namen auf
dem Bildschirm lesen, und er hatte sich beide Informationen bereits eingeprägt, auch die zugehörigen Adressen. Wenn er den Emulator nun selbst stellte und verhaftete? In der letzten Zeit hatte er im Herrschaftsrat einiges einstecken
müssen. Solch ein Erfolg hätte nicht nur den Kritikern das Maul gestopft – er konnte auch Daan‐Bars Einfluß im Herrschaftsrat stärken. Vielleicht gelang es ihm dann auch, den Oberbefehl über die Flotte zu bekommen.
Daan‐Bar ging die Möglichkeiten durch. Wer konnte, für den Fall, daß der Aufstieg klappte, sein Nachfolger, in seinem jetzigen Amt werden? Haan‐Kur auf keinen Fall, und das war gut so, denn er verstand sich mit Daan‐Bar alles andere als gut. Tool‐Min, das wäre der rechte Mann, gut, zuverlässig und gewissenhaft und privat mit Daan‐Bar befreundet. Die Flotte und die gesamte Systemsicherheitsorganisation in der Hand zweier Freunde – das hätte den beiden im Herrschaftsrat eine Position eingebracht, die nicht mehr zu erschüttern war. Und soweit Daan‐Bar bekannt war, wußte niemand etwas von seiner Freundschaft zu Tool‐Min. Den Abteilungsleiter gedachte Daan‐Bar ein paar Rangstufen
hinauf und einige Machtstufen hinab zu befördern – auf irgendeinen klangvollen, gutbezahlten Posten, auf dem er wenig Schaden anrichten konnte. Langsam nahm der Plan in Daan‐Bar Gestalt an. Ja, so würde er
vorgehen. »Gute Arbeit«, lobte er den Abteilungsleiter. »Es wird sich für dich
lohnen, das verspreche ich dir.« »Soll ich unsere Jäger informieren?« fragte der Abteilungsleiter
und konnte sich dabei ein feines Lächeln nicht verkneifen. Vermutlich hatte er in groben Zügen Daan‐Bars Absicht durchschaut. »Ich werde diesmal andere Methoden verwenden«, bestimmte
Daan‐Bar. Er schaltete den Monitor ab. »Das war wohl alles für den Augenblick.« Der Abteilungsleiter verstand und verschwand aus dem Zimmer. Daan‐Bar leckte sich die Lippen. Einen Emulator mit eigener Hand
verhaften, das war etwas. Natürlich durfte er die Sache nicht publik machen, das hätte dem Ruf des Herrschaftsrats geschadet. Daß es einen Emulator gab, war zwar ein offenes Geheimnis, aber in amtlichen Verlautbarungen war eine solche Person niemals erwähnt worden – jedes andere Verhalten hätte dem Emulator nur neue Kundschaft zugeführt.
Daan‐Bar öffnete eine Schublade und nahm seine Waffe heraus. Er verließ sein Büro und ließ sich vom Antigravlift hinuntertragen in die vierte Kelleretage zum Schießstand. Er hatte lange nicht mehr geschossen und wollte erst einmal überprüfen, wie sicher seine Hand noch war. Mit dem Ergebnis konnte er zufrieden sein, fast alle Schüsse lagen
gut, einige sehr präzise im Zentrum. Gutgelaunt verließ Daan‐Bar das Gebäude auf dem üblichen
Schleichweg. Das Wetter war ausgesprochen scheußlich. Über Khadan fegte ein
heftiger Schneesturm, der den öffentlichen Verkehr teilweise hatte zusammenbrechen lassen. Daan‐Bar sah viele mürrische und verdrossene Gesichter, aber es störte ihn nicht. Solange die Walgonier über das Wetter zu schimpfen hatten, ließen sie ihre Kritik nicht am Herrschaftsrat aus. Außerdem war das winterliche Wetter bestens dazu geeignet, alle optimistischen Erwartungen zu dämpfen, die mit dem großen Tag der Großen Magischen Synopse zusammenhingen. Darüber wurde in letzter Zeit viel zuviel gemunkelt, fand Daan‐Bar. Der erste Verdächtige, für den er sich entschieden hatte, war ein
gewisser Laar‐Pan, ein Handelsvertreter für Kräuterprodukte, angestellt bei einem großen Staatsunternehmen, das im ganzen System Filialen hatte. Laar‐Pan war schon ziemlich alt, hatte keine lebenden Angehörigen, war unverheiratet und lebte auch mit niemandem zusammen – dies und einiges mehr hatte Daan‐Bar den Akten des Mannes entnehmen können. Außerdem hatte die schnelle Überprüfung seiner Gleiterfahrten
ergeben, daß sein Fahrzeug auf dem Siloplatz seiner Firma abgestellt war, seit acht Stunden. Daan‐Bar lächelte, als er daran dachte. Die automatische Wegüberprüfung hatte er durch erheblichen
Widerstand gegen eine Mehrheit im Herrschaftsrat durchsetzen können. Schließlich war es mit immensen Kosten verbunden
gewesen, jedes im System zugelassene Fahrzeug mit einem Kodegeber zu versehen und dessen Impulse von einem großen Rechner fortwährend auswerten zu lassen. Erst als Daan‐Bar eine Sonderliste von Fahrzeugen zugestanden hatte, die nicht auf diese Weise überwacht wurden, hatten sich die Mitglieder des Herrschaftsrats überzeugen lassen. Im Fall von Laar‐Pan hatte die Auswertung ergeben, daß der
Gesuchte am Morgen pünktlich in seiner Firma erschienen war und seinen Gleiter im Silo abgestellt hatte. Die Auswertung früherer Fahrten hatte ergeben, daß Laar‐Pan
üblicherweise nach Dienstschluß ohne Umwege in seine Wohnung fuhr. Dorthin machte sich Daan‐Bar auf den Weg. Laar‐Pan schien nicht schlecht zu verdienen. Das Viertel, in dem er
wohnte, gehörte zu den besseren Quartieren in dieser Wohnsektion. Von den Massenunterkünften war es weit entfernt, und nur zwei Gebäudezeilen trennten es von jenem Viertel, in dem auch Daan‐Bar Quartier bezogen hatte. Als er den Bezirk erreichte, stellte Daan‐Bar leicht gruselnd fest,
daß er den geheimnisvollen Emulator theoretisch von seinem eigenen Badezimmerfenster hätte überwachen können. War es Zufall, daß Laar‐Pan ausgerechnet in der Nähe des Prominentenviertels eine Wohnung bezogen hatte? Bisher waren keinerlei Aktivitäten des Emulators
bekanntgeworden, aus denen man auf gewalttätige Umsturzversuche, Attentate oder dergleichen hätte schließen können. Die jüngste Beobachtung ließ Daan‐Bar am Ergebnis solcher Auswertungen allerdings zweifeln. Daan‐Bar zog die Jacke enger um die Schultern. Der Wind pfiff
über die Straßen und ließ den Schnee fast waagrecht durch die Luft fliegen. Es war schmerzhaft kalt, aber Daan‐Bar drückte sich in der Nähe des Parkplatzes herum, auf dem Laar‐Pan seinen Gleiter normalerweise abstellte. Er brauchte nicht lange zu warten. Daan‐Bar hatte sich das
amtliche Kennzeichen gemerkt. Es war Laar‐Pans Gleiter, der sich durch den Schneesturm kämpfte und endlich auf dem üblichen Platz zum Stillstand kam. Daan‐Bar legte die Hand über die Augen, um besser sehen zu
können, aber es half nicht viel. Das Schneetreiben ließ nur eine vermummte Gestalt erkennbar werden, die den Gleiter verließ und eilig den schmalen Weg zum Haus entlangtrabte.
3. »Was willst du?« fragte Laar‐Pan entsetzt und hielt alle Arme in die Höhe. Die Aktentaschen hatte er fallengelassen. »Geld?« »Zwei Schritte zurück zur Wand, dann dreh dich um!« stieß Daan‐
Bar hervor. Er hatte Laar‐Pan überrascht, als der Emulator gerade die Tür zu
seiner Wohnung geöffnet hatte. Mit einem Fuß stieß Daan‐Bar die Tür zu, während er mit den unteren Armen dem Verhafteten die Handschellen anlegte, ihn mit der Waffe in der oberen Rechten bedrohte und die Linke dabei war, Laar‐Pan nach Waffen zu durchsuchen. »Ich habe keine Waffe«, stieß Laar‐Pan hervor. Er hatte beide
Köpfe gewendet. Der linke Kopf sah völlig verständnislos drein, im rechten Gesicht spiegelte sich Panik beim Anblick der Waffe. Daan‐Bar stieß den Emulator in seine Wohnung hinein. »Du hast jetzt zwei Möglichkeiten«, sagte er scharf, während er die
Waffe auf den Verhafteten gerichtet hielt. »Entweder du redest jetzt und freiwillig, oder wir werden dir die Zungen mit unseren Methoden zu lösen wissen. Also, gibst du es zu?« »Was, beim Licht Gaulats, soll ich zugeben? Ich habe nicht einmal
das kleinste Gebot übertreten.« »Ich weiß«, lächelte Daan‐Bar. »Das ist mit ein Grund, weshalb ich
hier bin.«
Er hielt dem Gefangenen sein Dienstkennzeichen hin, das ihn als Mitglied der Tabu‐Jäger auswies, allerdings als rangniedriges. »Weil ich nichts getan habe, verhaftest du mich?« Laar‐Pan begann am ganzen Leib zu zittern. Offensichtlich war er
nicht nur emotionell am Ende seiner Kräfte, sondern auch verstandesmäßig völlig überfordert. »Außerdem hast du keine lebenden Angehörigen«, hielt Daan‐Bar
dem Emulator vor. »Wie sollte ich«, stieß Laar‐Pan hervor. »Ich wurde als einziger
Überlebender einer Raumschiffskatastrophe geborgen, ohne jedes Identitätspapier. Meine Eltern müssen an Bord gewesen sein, aber es hat sich nicht feststellen lassen, wer sie gewesen sind. Das Schiff wurde durch eine Explosion völlig zerstört. Meinen Namen habe ich von der Behörde bekommen.« »Wann ist das gewesen?« fragte Daan‐Bar. »Ich war damals ein Säugling«, antwortete Laar‐Pan. Er sah, daß
es ihm nicht ans Leben ging, wenigstens nicht sofort, und beruhigte sich ein wenig. Daan‐Bar stieß eine Verwünschung aus. »Das wird sich feststellen lassen«, sagte er drohend. »Arbeitest du
auch zu Hause?« »Mein Anschluß steht dort drüben. Du brauchst nur die Klappe zu
öffnen.« In dem Fach fand sich der Standardanschluß für den Großrechner
der Stadt. Daan‐Bar schaltete das Gerät ein und stellte über den städtischen Rechner eine Verbindung zum Rechner seines Amtes her. Der Kode, den er schnell eintippte, berechtigte ihn zum Zugriff auf allgemeine Daten – mehr war in diesem Fall auch nicht nötig. Es dauerte zwei Minuten, dann rollte die Akte des Laar‐Pan über
den Bildschirm. Er war tatsächlich im Alter von sechs Monaten aufgefischt worden. Ein Rettungsschiff hatte als einziges Überbleibsel des Fährschiffs zwischen den beiden Planeten die Notboje gefunden. Das Kind wurde von Amts wegen mit dem
Namen Laar‐Pan ausgestattet und war in staatlichen Organisationen erzogen worden. Daan‐Bar murmelte eine Verwünschung. In seinem Eifer hatte er
vergessen, sich diese Daten schon vorher geben zu lassen. Er kam sich ziemlich lächerlich vor. »Und was ist mit deinen Schuhen?« fragte er, obwohl er mit keiner
Antwort rechnete, die ihm in irgendeiner Form weiterhalf. »Was soll damit sein? Es sind bequeme Schuhe. Ich bestelle schon
seit Jahrzehnten immer dieses Modell, ich kann darin besonders gut laufen, weißt du, und ich muß sehr viel laufen in meinem Beruf.« Daan‐Bar schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab. »Du verbrauchst sehr viele Schuhe«, stellte er fest. »Und deswegen legst du mir Handschellen an? Weil ich ein paar
Schuhe mehr brauche als andere? Weiß dein Vorgesetzter davon, was du hier veranstaltest? Ich werde mich beschweren.« In Daan‐Bars Augen glomm ein gefährliches Feuer auf. Wenn Laar‐Pan sich tatsächlich beschwerte, hatte er
selbstverständlich keine Aussicht auf Erfolg – Daan‐Bar würde den Vorgang verschwinden lassen. Aber auf dem Weg zu seinem Büro wurde dieser Vorgang von einer Instanz nach der anderen zur Kenntnis genommen, und dann war es unausbleiblich, daß der eine oder andere sich fragte, warum wohl der Leiter der Sicherheitsorganisation auf eigene Faust Verhaftungen vornahm. Das durfte unter keinen Umständen geschehen. »Das wirst du nicht tun«, sagte Daan‐Bar leise. Mit beiden
Augenpaaren starrte er sein Gegenüber an. Laar‐Pan erbleichte. »Ich werde schweigen«, sagte er nach einigem Zögern. Daan‐Bar löste seinem Gefangenen die Handfesseln. Er sah ein,
daß er einen Fehler gemacht hatte. »Du solltest den Vorfall vergessen«, sagte Daan‐Bar. Um den
Handelsvertreter für den Schreck ein wenig zu entschädigen, legte Daan‐Bar ihm ein paar Sonderbezugsscheine auf den Tisch. Der Alte sah es und lächelte.
»Von mir wird niemand etwas erfahren«, sagte er. Daan‐Bar ließ seine Waffe wieder in der Kleidung verschwinden
und verließ verdrossen die Wohnung. Auf der Straße schlug er sich den Kragen hoch, damit ihm der Schnee nicht in den Nacken rieseln konnte. Er murmelte eine Verwünschung.
* Laar‐Pan spähte aus dem Fenster. Er konnte den unfreundlichen Besucher im Schneetreiben verschwinden sehen. Laar‐Pan nickte langsam. »Also doch«, sagte er leise. Dann ging er hinüber zu seinem Rechneranschluß und wählte eine
Nummer. Wenig später tauchte auf dem Bildschirm das wohlvertraute Gesicht des Emulators auf. »Ich grüße dich, Laar‐Pan«, sagte Ziir‐Tinc freundlich. »Ich habe gerade Besuch bekommen«, berichtete Laar‐Pan sofort.
»Jemand von der Sicherheitsorganisation. Ich müßte mich sehr täuschen, wenn es nicht Daan‐Bar gewesen ist.« »Der Leiter der Behörde?« Laar‐Pan nickte. »Ich habe sein Bild oft genug gesehen. Er kam allein – und er hat
nach den Schuhen gefragt.« Über die Gesichter von Ziir‐Tinc flog ein Lächeln. Auf dem
Verstandeskopf wirkte es überlegen, auf dem Gefühlskopf ein wenig spöttisch. »Ich habe es geahnt«, sagte Ziir‐Tinc. »Es hat lange gedauert, aber
unser Trick hat funktioniert.« »Ein sehr gefährlicher Trick, wie ich finde«, antwortete Laar‐Pan.
»Mir schlottern noch jetzt alle vier Knie. Als Daan‐Bar bemerkte, daß er bei mir nicht weiterkam, war ich so leichtsinnig, ihm mit einer Beschwerde zu drohen. Er hat mich angesehen, als wollte er
mich gleich auf der Stelle ermorden.« »Er hat es nicht getan«, sagte Ziir‐Tinc gelassen. »Und jetzt bist du
außer Verdacht, ein für allemal. Sollte jemals eine Spur zu dir führen, solange Daan‐Bar im Amt ist, wird er selbst dafür sorgen, daß man dich in Ruhe läßt.« »Wer hat eigentlich diese verrückte Idee ausgebrütet? Über
Mittelsmänner in der Sicherheitsbehörde den Verdacht genau auf uns zu lenken?« »Das ist meine Idee gewesen«, antwortete Ziir‐Tinc zufrieden.
»Gerade in dieser Zeit müssen wir ungestört arbeiten können, und was wäre da hilfreicher als eine amtliche Überprüfung, die jeden Verdacht aus der Welt schafft.« »Ich bin nicht ganz sicher, ob dieser Plan auch wirklich
funktioniert«, sagte Laar‐Pan. »Dieser Daan‐Bar scheint mir ein sehr gefährlicher Mann zu sein, intelligent und ehrgeizig, das ist eine üble Kombination, wenigstens aus unserer Sicht.« »Völlig richtig«, stimmte Ziir‐Tinc zu. »Aber er ist auch eitel, und
wenn du von der Summe seiner Begabungen und Fähigkeiten die Eitelkeit abziehst, bleibt nicht mehr sehr viel übrig.« »Du wirst es wissen. Laufen die Vorbereitungen plangemäß?« Ziir‐Tinc machte eine Geste der Zustimmung. »Wir brauchen uns keine Sorgen zu machen«, sagte er zufrieden.
»Im übrigen – ich brauche einen Satz neuer Schuhe. Hast du daran gedacht?« »Sie werden dir in der nächsten Zeit zugehen«, versprach Laar‐
Pan, dann trennte er die Verbindung. Zur Gänze beruhigt hatte ihn Ziir‐Tinc nicht. Es blieb ein Rest von
Unsicherheit – ein sehr bedrohlicher Rest.
* Daan‐Bar schlürfte langsam das heiße Getränk. Die Wärme, die sich
in seinem Magen ausbreitete, trug etwas dazu bei, seinen Mißmut zu dämpfen. Er empfand seinen Rückzug aus Laar‐Pans Wohnung als demütigend. Eine solche Panne durfte ihm in seiner Stellung nicht unterlaufen. Daan‐Bar sah auf die Uhr. Bis die nächst Fähre nach Walgon II
startete, würden noch sieben Stunden vergehen. Der Flug nach Walgon II würde fast einen ganzen Tag in
Anspruch nehmen, desgleichen der Rückflug – falls Daan‐Bar auch dann wieder eine Fähre benutzte. Er würde drei bis vier Tage sein Büro nicht aufsuchen können. Schaffte er es, bei seiner Rückkehr einen verhafteten Emulator vorzuweisen, fiel das nicht weiter ins Gewicht. Kam er hingegen mit leeren Händen zurück, würde man ihm mit Sicherheit lästige Fragen stellen. Die anderen Gäste nahm Daan‐Bar nicht wahr. Er grübelte vor sich
hin. Schließlich kam er zu einer Entscheidung. Er wollte alles auf eine
Karte setzen. Von der Bedienung ließ er sich eine Verbindung zu seinem Büro
herstellen. Daan‐Bars Stellvertreter, ein schweigsamer Walgonier, dessen Gesichter von einem nicht auskurierten Magenleiden deutlich geprägt waren, meldete sich nach kurzer Zeit. Daan‐Bar kam sofort zur Sache. »Ich brauche einen schnellen Raumjäger, das schnellste Modell,
das wir haben«, ordnete er an. »Einsitzer?« fragte sein Stellvertreter knapp zurück, während er
gleichzeitig auf der Rechnertastatur herumfingerte und die Bestellung eingab. Daan‐Bar wollte mit dem Emulator als seinem Gefangenen
zurückkehren, und wahrscheinlich war es dann auch besser, ein oder zwei Wachen mitzunehmen. »Viersitzer«, antwortete Daan‐Bar. »Wann kann der Jäger startklar
sein?« »In weniger als einer Stunde, wenn es sein muß. Wir müßten die
Flotte um Hilfe bitten, die sind in solchen Sachen sehr flink.« Daan‐Bar rümpfte die Nasen. »Meinetwegen«, sagte er schließlich. »Ich bin in einer Stunde am
Raumhafen.« »Ich bekomme gerade die Bestätigung. Der Jäger wird dann
startklar sein.« Daan‐Bar nickte zufrieden und trennte die Verbindung.
Anschließend bezahlte er das Getränk, obwohl er als Mitglied des Herrschaftsrats Waren und Dienstleistungen normaler Art jederzeit ohne Bezahlung anfordern konnte. Das war eines der Privilegien, das mit dem Aufstieg in den Herrschaftsrat verbunden war. In seiner jetzigen Lage erschien es Daan‐Bar allerdings ratsam, sich nicht als Herrschaftsratmitglied erkennen zu lassen. Das Schneegestöber hatte keineswegs nachgelassen. Es sah ganz
danach aus, als würde in absehbarer Zeit der innerstädtische Verkehr völlig zusammenbrechen. Daan‐Bar hatte richtig kalkuliert. Bei diesem Chaos auf den
Straßen brauchte er fast eine Stunde, bis er den Raumhafen erreicht hatte. Während er den Gleiter abstellte, überflog er die Ansammlung von Schiffen auf dem Hafen. Wenn man die Tatsache berücksichtigte, daß es außer den
Walgoniern selbst kein Volk gab, gegen das man die Flotte hätte einsetzen können, mußte man die Raumflotte unter dem Oberbefehl des Herrschaftsrats geradezu als gigantisch bezeichnen – siebenundvierzig kampftüchtige Schiffe standen allein auf diesem Raumhafen und warteten auf einen Einsatz. Und es gab insgesamt siebzehn Raumhäfen für militärische Zwecke auf den beiden Planeten des Systems. Der flinke Jäger, der auf Daan‐Bar wartete, war in dieser Zahl noch
nicht einmal enthalten, er wurde zu den Beibooten gerechnet. Immerhin war er schnell genug, die Distanz zwischen den beiden Planeten in zwei Stunden zu bewältigen – im Extremfall wäre die Reise noch schneller vonstatten gegangen, aber die
Überlichttriebwerke wurden innerhalb der Ewigen Barriere nur sehr selten eingesetzt. Daan‐Bar ließ den Jäger starten und durchquerte die Atmosphäre
von Walgon I. Auf einem der Monitoren war eine Darstellung des gesamten
Systems zu sehen – deutlich war zu erkennen, daß es nicht mehr lange dauern konnte, bis die beiden Planeten und die beiden Sonnen in einer geraden Linie standen. Daan‐Bar konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken. Für gewöhnliche Walgonier war das Sternenzauberei – und so
sollte es auch bleiben, nach dem Willen des Herrschaftsrats. »Hm«, murmelte Daan‐Bar. »Warum eigentlich nicht?« Er änderte den Kurs seines Jägers. Statt des kürzesten Weges
zwischen den beiden Planeten wählte er einen Kurs, bei dem nach einiger Zeit Walgon I vor den beiden Sonnen zu sehen sein würde. Perfekt war die Konstellation zu dieser Zeit noch nicht, aber Daan‐Bar würde sich einen annähernden Eindruck von dem Schauspiel verschaffen können, auf das die mystischen Rebellen der Paudencer so sehnsüchtig warteten. Daan‐Bar wußte, daß er nur einen Planeten und zwei Sonnen zu
sehen bekommen würde, alles andere, was die Paudencer behaupteten, war Aberglaube und Unfug. Daan‐Bar stieß ein unterdrücktes Lachen aus. Das Erwachen bei den Paudencern würde schrecklich sein. Der
große Tag würde kommen, nichts würde geschehen, und die Paudencer würden überaus enttäuscht sein. Es hatte seine Gründe, daß der Herrschaftsrat die Paudencer
bisher außerordentlich gnädig behandelt hatte. Diese Untergrundbewegung wurde gleichsam offiziell geduldet, alle anderen feindlichen Bestrebungen allerdings gnadenlos bekämpft. Nicht zuletzt dieser Strategie hatten es die Paudencer in den letzten Jahrzehnten zu verdanken gehabt, daß ihre Zahl so angeschwollen war.
Wenn in absehbarer Zeit der große, geheimnisvolle Tag verstrich, ohne daß sich etwas änderte, würde die Untergrundbewegung der Paudencer mit einem Schlag in sich zusammenbrechen – von dieser Niederlage würden sie sich viele Generationen lang nicht erholen. Im Grunde würden sich diese Narren mit ihrem eigenen mystischen Unfug das Grab schaufeln. Daan‐Bars Jäger näherte sich der vorausberechneten Position.
Daan‐Bar warf einen Blick auf den Panoramaschirm. Gaulat begann gerade hinter Paudenc zu verschwinden, und von
links schien Walgon I auf dieses Gebilde zuzukriechen. Daan‐Bar änderte den Kurs ein wenig. Das Licht von Paudenc war nun sehr grell und weiß, an den
Rändern von grünlichen Schleiern durchsetzt. Es war ein beeindruckendes Schauspiel, fand Daan‐Bar. Walgon I stand erheblich näher am Jäger als die beiden Sonnen
und wirkte dadurch scheinbar, ebenso groß wie die Sonnen. Daan‐Bar hatte den Kurs exakt berechnet. Als schwarze Scheibe begann sich Walgon I vor das Bild der Sonne
zu schieben. Die Bewegung des Jägers ließ diesen Vorgang erheblich schneller werden, als er sich am großen Tag vollziehen konnte. Mehr als ein Drittel der beiden Sonnen war nun vom Schatten des
Planer ten bedeckt. Daan‐Bar spürte, wie eine leise Übelkeit in ihm aufstieg. Ihm
wurde unbehaglich zumute. Das gründliche Training, das er hatte absolvieren müssen, ließ ihn
die Gefühlsausbrüche seines rechten Gehirns unterdrücken. Kalt und nüchtern musterte er mit dem linken Kopf das Bild, während er rechts beide Augen geschlossen hielt. Von Paudenc war nur noch eine grell strahlende Sichel zu sehen,
die sich immer mehr verkleinerte. Daan‐Bar verzögerte den Jäger. Er wollte die letzten Augenblicke
des Schauspiels in die Länge ziehen. Langsam wurde die Sichel schmaler und schmaler. An den
Rändern des Walgon‐Schattens lohte und waberte die Korona der beiden Sonnen, die nur unter diesen Bedingungen überhaupt zu sehen war. Dann war es soweit. Walgon I deckte scheinbar beide Sonnen ab. Daan‐Bar sah das Bild, nickte und begann zu lachen. Ohne es zu
wollen, öffnete er die Augen des rechten Kopfes. Das Bild traf ihn wie ein körperlicher Schlag. Er verstand nichts – und begriff doch alles. Nur der rechte Kopf
war in der Lage, den Inhalt dieses Bildes aufzunehmen, und er schickte Gefühlswelle auf Gefühlswelle durch Daan‐Bar. Zuerst ergriff ihn fürchterliche Angst, die ihm den Atem
abschnürte. Die schwarze Scheibe von Walgon I vor dem lodernden Hintergrund der Sonnenkorona erschien ihm wie die Verkörperung des Todes. Daan‐Bar spürte, wie er zu zittern begann, seine Hände ballten
sich zu Fäusten, die Knöchel verfärbten sich weiß, die Nägel gruben sich tief ins Fleisch, und er spürte den Schmerz nicht. Nach der Angst kam die Trauer, der Schmerz einer völligen,
hoffnungslosen Einsamkeit, ein Strudel der Verzweiflung, der ihn nicht mehr loslassen wollte. Gleichzeitig wurden ihm die Zusammenhänge deutlich – was es
hieß, in der Ewigen Barriere eingesperrt zu sein, ohne die geringste Hoffnung und Aussicht auf Änderung. Maßlose Wut stieg in ihm auf. Das Zittern seines Körpers wurde
immer heftiger. In seinen durcheinanderwirbelnden Gedanken riß er die Ewige Barriere ein, zertrümmerte und vernichtete sie. Unglaublicher Haß auf die Mächte, die die Walgonier in der
Ewigen Barriere eingesperrt hatten, wühlte ihn auf. Der Jäger flog weiter, das Bild löste sich auf. Weißschimmernd
tauchte Paudenc auf, und Daan‐Bar spürte, wie sich die Krämpfe in seinem Körper lösten. Sein Atem ging tiefer und ruhiger, seine Gesichtszüge entspannten sich. Er kannte jetzt die Zusammenhänge, und er wußte, daß er sie
niemals würde vergessen können. Er wußte jetzt, daß die Walgonier ihre schreckliche Haft hinter der
Ewigen Barriere nicht jahrtausendelang hätten ertragen können, wäre nicht kurz nach dem Beginn der Haft das Gesetz über die Komissurotomie erlassen worden. Kein Walgonier hätte ohne diesen Eingriff lange leben können, er wäre wahnsinnig geworden. Tiefer Frieden breitete sich in Daan‐Bar aus, er lächelte auf beiden
Gesichtern. Er wußte jetzt, daß der große Tag tatsächlich die Wende bringen
mußte, auf die die Paudencer hofften. Der Anblick, der sich ihm geboten hatte, würde die ganze Bevölkerung in ähnlicher Weise aufwühlen wie ihn, vielleicht noch stärker. Dieser Tag würde das Ende des Herrschaftsrats bringen. Danach
würden sich die Walgonier niemals wieder einer rein logischen, vernunftmäßigen Gesellschaft unterordnen. Das herrschende System mußte auseinanderbrechen. Und Daan‐Bar freute sich darauf.
4. Ziir‐Tinc verließ die Wohnung seines Klienten mit einem Gefühl der Verbitterung. Wieder einmal waren seine Bemühungen vergeblich gewesen – einem Walgonier, der im Zweifelsfall seinem Verstand mehr traute als seinen wachen Sinnen, war nicht zu helfen, auch wenn er sich noch so quälte. Der Antigravlift brachte Ziir‐Tinc auf die Straße. Es war
Mittagszeit, und die Straßen waren fast leer. Nur ab und zu jagte ein Gleiter an Ziir‐Tinc vorbei, als er langsam den Weg nach Hause antrat. Schlimm war, daß er selbst es nur selten vermochte, die Impulse
seiner beiden Gehirne zu koordinieren; wieviel schwerer mußte das jemandem fallen, der es noch nie versucht hatte.
Unwillkürlich sah Ziir‐Tinc hinauf zum Himmel. Paudenc stand vor Gaulat, jeder konnte es sehen. Der entscheidende Tag kam immer näher. »Was werden sie unternehmen?« murmelte Ziir‐Tinc. Er war nicht so dumm, seinem Gegner Tatenlosigkeit oder Mangel
an Intelligenz zu unterstellen. Der Herrschaftsrat wußte von der Existenz der Paudencer, und Ziir‐Tinc kannte die Mittel der Gaulater gut genug – sie hätten den Paudencern auf ganz andere Art und Weise zusetzen können. Vor wenigen Wochen erst hatten die Ordnungskräfte eine
Geheimorganisation ausgehoben, eine weitverzweigte Verbrecherbande, die zwei Jahrzehnte lang ihr Unwesen auf beiden Planeten getrieben hatte. Ziir‐Tinc hatte die Berichte über die Fahndung und Festnahme der Bande genau studiert und sich über seine geheimen Kanäle einige weitere Informationen besorgt. Daher wußte er genau, daß der Herrschaftsrat die Paudencer längst hätte nahezu verschwinden lassen können, wenn es dem Herrschaftsrat gepaßt hätte. »Sie haben etwas vor, ganz bestimmt. Aber was?« Er benutzte einen der großen Personengleiter, die bis zu
vierhundert Fahrgäste schnell und bequem transportieren konnten. Auf dem Sektor erwies sich die sture Städtearchitektur des Herrschaftsrats ausnahmsweise einmal als günstig – das öffentliche Netz von Gleitern war nahezu perfekt. Keine Einstiegsstation war von einer Wohnung weiter als dreihundert Meter entfernt, und die Gleiterbusse fuhren in Abständen von drei bis vier Minuten. Mit nur einmaligem Umsteigen konnte man, eine günstige Witterung vorausgesetzt, binnen einer halben Stunde von jedem Ort der Stadt an jeden anderen gelangen. Gewohnheitsmäßig wechselte Ziir‐Tinc mehrfach den Gleiter; er
hielt sorgfältig Ausschau, ob ihn jemand verfolgte. Wie er nicht anders erwartet hatte, ließ man ihn in Ruhe. In der Nähe seiner Wohnung allerdings stieß Ziir‐Tinc auf eine
unangenehme Überraschung. Das Kennzeichen eines geparkten Privatgleiters kam ihm bekannt vor. Es war einer der Unterführer der Sektion sieben, die auf einem der
anderen Kontinente von Walgon II arbeitete. »Was fällt dem Burschen ein?« murmelte Ziir‐Tinc grimmig. Er
hatte immer dafür gesorgt, daß niemand seine Spuren verfolgen konnte – und jetzt suchte ihn einer der Unterführer privat auf. Hastig sah sich Ziir‐Tinc um. Von Spitzeln war nichts zu sehen,
allerdings wußte Ziir‐Tinc, daß es technische Geräte gab, die das Nachschnüffeln zu einem Kinderspiel werden ließen. Winzige Kameras, mikroskopisch kleine Mikrophone und allerlei andere Dinge. Ziir‐Tinc entschloß sich, seine Wohnung dennoch aufzusuchen. Der Unterführer der Sektion sieben war ein schlanker junger
Mann, der nervös mit allen zwanzig Fingern spielte und einen gehetzten Eindruck machte. Er wartete vor der Wohnungstür auf Ziir‐Tinc und riß alle vier Augen weit auf, als er den Emulator erkannte. »Du?« stammelte er. »Wundert dich das?« fragte Ziir‐Tinc grimmig. Niemand war auf
dem Gang. Er geleitete den jungen Mann in die Wohnung. »Aber ja doch«, stieß Ollon‐Tur hervor, sichtlich außer Fassung.
»Dich wollte ich gar nicht besuchen. Ich habe mir diese Adresse von Freunden geben lassen, weil ich einen guten Seelenheiler brauche.« Das war natürlich ein unglaublicher Zufall, aber leider nicht mehr
aus der Welt zu schaffen. »Setz dich«, sagte Ziir‐Tinc, während er die Kleidung wechselte.
»Falls du Hunger hast oder Durst – bediene dich.« Ollon‐Tur schüttelte die Köpfe. »Ich kann jetzt nichts essen«, klagte er. »Ich habe Probleme.« »Worum geht es?« fragte Ziir‐Tinc und nahm gegenüber von
Ollon‐Tur Platz. »Meine Frau«, sagte Ollon‐Tur kläglich. »Ich habe es bis jetzt vor
ihr geheimgehalten, daß ich zu euch gehöre, denn ich weiß, daß sie überzeugte Gaulaterin ist. Nun hat sie es aber herausbekommen und setzt mich unter Druck. Entweder soll ich die Organisation verlassen, oder sie verläßt mich.« »Und du willst beides nicht«, vermutete Ziir‐Tinc. Mit solchen Problemen wurde er des öfteren konfrontiert. In der
Regel schlug Ziir‐Tinc dann vor, daß der Bedrängte die Organisation verließ, jedenfalls nicht mehr mitarbeitete. Auf ein Mitglied mehr oder weniger kam es nicht mehr an. »Richtig«, bestätigte Ollon‐Tur. »Sie hat mir eine fürchterliche
Szene gemacht. Aber das wäre noch zu ertragen. Sie verlangt aber von mir als Beweis, daß ich wirklich nicht mehr dazugehöre … daß ich alles verrate, was ich über die Paudencer weiß. Und eines weiß ich ganz sicher – ich will mich nicht von meiner Frau trennen.« Ziir‐Tinc stieß einen Seufzer aus. Das Problem war ohnehin gewichtig genug, aber jetzt konnte er zu
einer echten Krise werden – Ollon‐Tur war das einzige nicht ranghohe Mitglied der Paudencer, das Ziir‐Tincs offizielle Identität kannte. Ziir‐Tinc betrachtete sein Gegenüber. Ollon‐Turs rechter Kopf
zeigte Verzweiflung und sehr viel Angst, das rationale Gesicht spiegelte Ratlosigkeit wider. »Hältst du es für möglich, Zeit zu gewinnen?« fragte Ziir‐Tinc. »Ein paar Tage vielleicht, aber ganz bestimmt nicht mehr«,
antwortete Ollon‐Tur. »Ich glaube zu wissen, was dir durch den Kopf geht. Du rechnest auf die Große Magische Synopse, darauf, daß sie alles zum Guten wendet, auch die Einstellung meiner Frau, nicht wahr?« Ziir‐Tinc lächelte. »Ich glaube fest daran«, sagte er. Ollon‐Tur beugte sich vor und
sah Ziir‐Tinc scharf an. »Wie fest?« fragte er leise. »So fest, daß du mir zumutest, meine
Partnerschaft zu riskieren?«
Ziir‐Tinc zog die Lippen zusammen. Wie fest war sein Glaube an Paudenc? Daß der große Tag kommen
würde, stand außer Zweifel. Nichts konnte die Sterne und Planeten aus ihren vorgezeichneten Bahnen werfen. Aber der gewaltige Eingriff in das Schicksal der Walgonier, der
mit diesem Tag verbunden war – war er ebenso sicher vorgezeichnet? Oder war er nur Schimäre, eine geistige Ausgeburt der Hoffnungslosigkeit? Ziir‐Tinc dachte an die geheimnisvolle Stimme der
Emulatorquelle. Hatte er die Worte wirklich gehört, oder hatte er halluziniert? »Gewißheit«, murmelte Ziir‐Tinc. »Absolute, unanfechtbare
Gewißheit – es gibt sie nicht.« »Ich verlange keine absolute Gewißheit, Ziir‐Tinc. Ich wüßte nur
gerne, wieviel du selbst aufs Spiel setzen würdest.« Ziir‐Tinc lächelte. »Ich wage mein Leben«, sagte er einfach. »Wenn die Gaulater mich
zu fassen bekommen …« Er wußte aus der Überlieferung der Emulatoren, daß ein Emulator
nur sterben konnte, wenn ein neuer Emulator bereits geboren war – aber in der Geschichte der Walgonier war diese Voraussage niemals exakt überprüft worden. Gewiß – Ziir‐Tinc hatte seinen Vorgänger gekannt und er wußte auch, daß er mehr als dreimal so alt war, wie ein Walgonier bei bester Pflege an Jahren überhaupt erreichen konnte. Rein körperlich fühlte sich Ziir‐Tinc dem Tode nicht nahe. Aber was wurde aus dieser extremen Langlebigkeit oder
Unsterblichkeit, wenn die Gaulater alles daransetzen, ihn zu töten? Das Entstehen eines Emulators, seine ganz besonderen
Fähigkeiten und Wirkungsweisen waren schon absonderlich genug. In welcher Weise wirkte das Emulatorprinzip? Griff es gestaltend in das Wesen und den Charakter eines einzelnen Walgoniers ein? Oder erreichte es durch Manipulation allen Geschehens, daß ein Emulator einfach nicht gefangengenommen und getötet werden konnte?
Was würde geschehen, wenn Ziir‐Tinc sich den Sicherheitsbeamten stellte, von ihnen zum Tode verurteilt und hingerichtet werden sollte? Würde dann in einem Augenblick ein neuer Emulator entstehen? Würden die Schüsse ihm nichts anhaben können? Oder griffen unbekannte Schicksalsmächte ein und ließen die Waffen unbrauchbar werden oder die Henker bewußtlos umfallen? Es gab keine Antworten auf diese Fragen, und in diesem
Augenblick empfand Ziir‐Tinc seine Existenz als Emulator weniger als Auszeichnung, sondern vielmehr als schreckliche Bürde. »Ich werde dir sagen, was ich tun werde«, sagte Ollon‐Tur und
stand auf. »Ich werde meine Frau ein paar Tage lang hinzuhalten versuchen. Ich werde ihr Gewissensqualen zeigen, die ich gar nicht einmal zu spielen brauche, denn ich fühle mich innerlich wie zerrissen. Ich werde ihr versprechen, mich den Behörden zu stellen – und ich werde sie ein paar Tage lang belügen. Sie wird fürchterlich böse auf mich sein, aber damit werde ich fertig werden können.« Ollon‐Tur sah Ziir‐Tinc scharf an. »Am Morgen des großen Tages werde ich mich tatsächlich stellen
– ich werde euch nicht verraten können, es wird für die Gaulater zu spät sein, um noch etwas unternehmen zu können. Unser Programm wird ablaufen können wie geplant. Geht alles gut, könnt ihr mich später befreien – das Risiko nehme ich auf mich. Geht es daneben, werde ich alles erzählen, was ich weiß – dann könnt ihr zusehen, wie ihr damit fertig werdet. Ist das ein anständiger Vorschlag?« Ziir‐Tinc nickte. »Ich kann ihn annehmen«, sagte er langsam. »Du nimmst eine
große Last von meinen Schultern.« Ziir‐Tinc schloß den jungen Paudencer in seine Arme. »Wir werden es schaffen«, sagte er zuversichtlich. Er geleitete Ollon‐Tur zur Tür und öffnete sie.
*
Daan‐Bar wußte sofort, daß er jetzt den Emulator gefunden hatte. Von Ziir‐Tinc strahlte etwas aus, das Daan‐Bar an das Erlebnis während seines Fluges erinnerte – an die Freude, die er am Ende empfunden hatte, und an die Zuversicht. Neben Ziir‐Tinc stand der junge Paudencer, den Daan‐Bar für sein
Spiel herangezogen hatte. Ollon‐Tur konnte natürlich nicht wissen, daß seine Frau seit vielen
Jahren auf der Gehaltsliste der Sicherheitsbehörden stand und alles, was sie von Ollon‐Tur erfuhr, an die Dienststellen weitergab. Er wußte auch nicht, daß die Berichte seiner Frau immer spärlicher und gehaltloser geworden waren; in den Akten der Sicherheitsorgane wurde sie ungeachtet ihres offiziellen Status längst als unbewußte Paudencerin geführt. Und was Ollon‐Tur ebenfalls nicht wissen konnte, war die Tatsache, daß Daan‐Bar die Frau nur mit einer Drohung dazu hatte verleiten können, Druck auf ihren Mann auszuüben – Daan‐Bar hatte sie persönlich aufgesucht, sich zu erkennen gegeben, und ihr unmißverständlich klargemacht, daß Ollon‐Tur für immer verschwinden würde, wenn sie Daan‐Bars Befehl nicht ausführte. Es war gelaufen, wie Daan‐Bar es geplant hatte. Ollon‐Tur hatte
sich in seiner Verzweiflung an seine Kameraden unter den Paudencern gewandt. Daß Ollon‐Tur beim ersten Versuch tatsächlich bis zum Emulator vordringen würde, hatte Daan‐Bar allerdings nicht zu hoffen gewagt. »Zurück«, sagte Daan‐Bar. Die beiden Paudencer hoben die Arme. Daan‐Bar trat ein und schloß die Tür hinter sich. »Ich kenne ihn«, stieß Ollon‐Tur hervor. Seine Gesichter waren
weiß vor Schrecken. Ziir‐Tincs Ratio‐Gesicht zeigte Unverständnis, der Gefühlskopf hatte einen Ausdruck der Neugierde. »Es ist Daan‐Bar«, sagte der Emulator gelassen. »Oberster
Dienstherr aller Tabu‐Jäger.« Daan‐Bar lächelte, dann steckte er die Waffe weg. Ollon‐Tur machte Anstalten, sich unverzüglich auf Daan‐Bar zu
stürzen, aber Ziir‐Tinc hielt ihn mit einer energischen Armbewegung davon ab. »Ich wittere eine Überraschung«, sagte Ziir‐Tinc. Er beugte sich
etwas vor und sah Daan‐Bar sehr genau an. Daan‐Bar lächelte noch immer. »Es ist so, wie du vermutest«, sagte er freundlich. »Ich bin nicht
gekommen, um euch zu verhaften. Ich will euch vielmehr helfen.« »Das glaube, wer will«, stieß Ollon‐Tur heftig hervor. Daan‐Bar berichtete kurz und knapp, was ihm bei seinem Flug
nach Walgon II zugestoßen war. Über die Gesichter von Ziir‐Tinc flog ein triumphierendes Lächeln, während Ollon‐Tur vor Staunen ganz starr stand. »Es ist so, wie ich es sage«, schloß Daan‐Bar seine Erklärung ab.
»Dieser Tag wird das Schicksal unseres Volkes von Grund auf ändern.« »Hm«, machte Ziir‐Tinc. »Wenn die Wirkung jetzt schon zu
spüren ist …« Der Kommunikator meldete sich mit einem hohen Piepston. Ziir‐Tinc runzelte die Brauen, dann ging er zu dem Gerät hinüber.
Das Gesicht einer Frau erschien auf dem Bildschirm. Sie sah an Ziir‐Tinc vorbei, ihre Gesichter war von Ratlosigkeit und Schreck gezeichnet, der Gefühlskopf wies eine deutliche Schamröte auf. »Loon‐Ryt«, rief Ollon‐Tur aus und trat an das Gerät. »Weshalb
rufst du mich hier an?« »Gerade waren vier Tabu‐Jäger hier«, rief die Frau aufgeregt. »Sie
wollten wissen, wo du bist, und ich war so erschrocken, daß ich es ihnen gesagt habe.« Ollon‐Tur und Ziir‐Tinc wechselten rasche Blicke. Daan‐Bar preßte
die Kiefer aufeinander. Er stieß einen Fluch aus.
»Der oberste aller Spitzel wird selbst bespitzelt«, murmelte er. Irgend jemand in seiner Dienststelle hatte sich vermutlich in sämtliche Kommunikationsstränge eingeschaltet und bekam jede Auskunft erteilt, die auch Daan‐Bar angefordert hatte. Vermutlich der harmlos erscheinende Abteilungsleiter, der hoffte, durch diesen pfiffigen Trick seinen Vorgesetzten ausschalten und selbst dessen Amt übernehmen zu können. »Sie müssen bald bei euch sein«, sagte Loon‐Ryt. »Was machst du
da eigentlich? Hat er dir helfen können?« »Ich hoffe es«, stieß Ollon‐Tur hervor. Fragend wandte er sich an
Ziir‐Tinc, der wiederum sah Daan‐Bar an. Daan‐Bar zuckte die Achseln. »Ich kann euch jetzt nicht mehr helfen«, sagte er bitter. »Meine
Zeit ist abgelaufen, ich werde jetzt genauso gejagt wie ihr.« »Hast du Freunde, Loon‐Ryt, bei denen du dich ein paar Tage lang
verstecken kannst?« fragte Ziir‐Tinc die junge Frau. »Sicher, aber was hilft das uns?« »Zeit gewinnen«, antwortete Ziir‐Tinc. »Alles, was wir jetzt
brauchen, ist Zeit. Die Umstände arbeiten für uns, aber wir müssen unbedingt verhindern, daß die Tabu‐Jäger noch irgendwelche Gegenmaßnahmen treffen können.« »Vielleicht haben wir noch eine Chance«, murmelte Daan‐Bar. Er
zog die Fernsteuerung des Raumjägers aus der Tasche. Mit ihrer Hilfe konnte Daan‐Bar nicht nur das Fahrzeug an jeden beliebigen Ort lenken, er konnte auch eine allerdings etwas grobe Ferninspektion durchführen. Die Leuchtdioden zeigten an, daß der Jäger noch intakt war. »Ich bin sicher, du hast einen geheimen Fluchtweg aus deiner
Wohnung«, sagte Daan‐Bar. Der Emulator nickte. »Wir werden ihn benutzen, aber vorher trenne die Verbindung.
Loon‐Ryt braucht nichts zu erfahren, was man ihr möglicherweise entlocken könnte.« Mit einem Handgriff schaltete Ziir‐Tinc den Kommunikator aus,
ohne sich um die Proteste des Paares zu kümmern. »Gehen wir«, sagte Daan‐Bar. »Wohin soll ich meinen Jäger
bestellen?« Ziir‐Tinc nannte einen Ort am Rand der Stadt, dessen Koordinaten
Daan‐Bar sich merkte. Als vorsichtiger Mann gab er sie noch nicht weiter, sondern ließ den Jäger nur aufsteigen und eine weite Runde über die Stadt fliegen. Ziir‐Tinc öffnete unterdessen einen Schrank und schob die Kleider
zur Seite. Ein Knopfdruck ließ die Rückseite des Schrankes verschwinden, die Öffnung eines Schachtes wurde sichtbar. »Wo führt das hin?« fragte Ollon‐Tur. »Zur Energieversorgung des Hauses«, antwortete Ziir‐Tinc. »Wir
müssen aber sehr vorsichtig sein – diesen Fluchtweg habe ich für eine extrem gefährliche Lage vorgesehen, und so ist er auch selbst ausgefallen.« Daan‐Bar, der als einziger eine Waffe besaß, schwang sich als
erster in den Schacht. Die Röhre war gerade groß genug, um einem Walgonier Platz zu
bieten. Es gab kein Licht, und von einer glatten Verkleidung war nicht die Rede. Daan‐Bar schürfte sich Hände und Gesicht auf, als er in die Tiefe glitt. »Du mußt dich bücken!« erklang von oben die Stimme von Ziir‐
Tinc. »Du wirst eine Platte finden. Hebe sie an und schlüpfe in das Loch, aber geh nicht weiter!« Daan‐Bar folgte der Anweisung. Er war froh, das Schachtende
verlassen zu können, denn Ziir‐Tinc hatte sich wahrhaftig einen lebensgefährlichen Endpunkt ausgesucht – unmittelbar neben dem Landeplatz, der auf drei Seiten von Mauerwerk begrenzt wurde, stand ein großer Energieerzeuger, dessen Kontakte frei lagen. Funkenbündel elektrischer Entladungen tanzten auf den Polen und ließen Daan‐Bar die Haare zu Berge stehen. Er kroch in das Loch hinein – es führte zu einem Abwasserschacht,
der horizontal unter der Erde verlief. Wenig später erschien Ollon‐
Tur, als letzter kam Ziir‐Tinc. Der Emulator war ein wenig außer Atem. »Von hier aus kann ich den Antigravschacht stillegen«, sagte er
keuchend. »Und von oben kann man ihn nicht wieder einschalten – und es werden Stunden vergehen, bis die Tabu‐Jäger diesen Ort erreicht haben können.« Daan‐Bar schüttelte den Kopf. »Sie werden die Pläne des Hauses aus dem Rechner holen und
sehr bald genau wissen, daß der Schacht genau auf dem Abwasserkanal endet.« »Auch das wird Zeit kosten«, stieß Ziir‐Tinc hervor. »Kommt, ich
werde euch den Weg zeigen.«
5. Selbst in seiner Zeit als junger Tabu‐Jäger, als er ausgebildet worden war, hatte Daan‐Bar nicht soviel Schmutz und Unrat auf der Kleidung und am Körper gehabt. Durch die Abwässer einer Millionenstadt zu krabbeln, war eine Tortur für Auge, Ohr und vor allem für die Nase. Es stank bestialisch. »Wir können ein wenig verschnaufen«, stieß Ziir‐Tinc hervor.
»Wie sieht dein Plan aus, Daan‐Bar?« »Wenn es gelingt, schnappen wir uns die Raumjäger und starten
damit.« »Man wird sofort die Verfolgung aufnehmen, und innerhalb der
Ewigen Barriere gibt es nirgendwo einen Platz, an dem wir uns verstecken könnten.« »Es gibt einen«, sagte Daan‐Bar, »und wir sind völlig sicher dort.« »Welchen Ort meinst du?« fragte der Emulator. »Die Verlängerung der Achse Gaulat‐Paudenc‐Walgon I«,
antwortete Daan‐Bar. »Wer uns dort zu nahe zu kommen versucht, wird das gleiche erleben wie ich.«
»Hm«, machte Ziir‐Tinc. »Kein schlechter Gedanke. Aber ich kann mich nicht tagelang dort verstecken. Ich werde hier gebraucht.« »Dann trennen sich jetzt unsere Wege«, sagte Daan‐Bar und
drückte dem Emulator die Hände. »Wir werden uns wiedersehen – in wenigen Tagen schon!« »Hoffentlich«, sagte Ollon‐Tur, dem ersichtlich nicht wohl war bei
dem Gedanken, die Flucht an der Seite des obersten Tabu‐Jägers weiterzuführen. »Ich kenne einen Weg, der uns ins Freie führt«, sagte Ziir‐Tinc.
»Dort gehen wir auseinander.« Der Ort war nach kurzer Zeit erreicht. Ziir‐Tinc kehrte in das
Abwässersystem zurück, um an einem anderen Ausgang das Tageslicht zu erreichen. Daan‐Bar und Ollon‐Tur krochen eine Leiter hoch, stemmten eine schwere Platte zur Seite und erreichten so die Oberfläche. »Jetzt wird es spannend«, sagte Daan‐Bar. Er betätigte die,
Fernsteuerung. Der Raumjäger mußte bei seinem Rundkurs über die Stadt
ohnehin sehr bald an dieser Stelle vorbeikommen, und so dauerte es nicht lange, bis das Fahrzeug in Sicht kam. »Wenn jemand an Bord ist, verschwindest du in den Kanälen«,
bestimmte Daan‐Bar. »Ich decke dir den Rückzug.« »Kein Waffengebrauch meinetwegen«, stieß Ollon‐Tur hervor.
»Wir Paudencer arbeiten nicht mit solchen Mitteln.« »Nicht alle, einer tut es«, sagte Daan‐Bar. Er wußte, daß ein Kampf früher oder später unausbleiblich wurde,
wenn ihm die Tabu‐Jäger im Nacken saßen. Erfuhr man im Herrschaftsrat von der Wirkung der Großen Magischen Synopse, dann würde der Herrschaftsrat Mittel und Wege finden, die Wirkung dieses Schauspiels zu verhindern, und sei es dadurch, die ganze Bevölkerung für einen Tag einzusperren. Die Paudenc‐Katharsis, wie Daan‐Bar für sich die eigentümliche Wirkung der Konstellation genannt hatte, war offenbar nur dann
wirksam, wenn das Bild vom rechten Schädel wahrgenommen und verarbeitet wurde, es wirkte nur auf die Emotionen der Walgonier, nicht auf ihren Verstand. Es war auch möglich, daß der Herrschaftsrat für diesen Tag das Tragen von Augenbinden vorschrieb – ein einfaches, billiges, leicht zu kontrollierendes Hilfsmittel. Dazu durfte es nicht kommen, das war Daan‐Bars Wille, und er
war bereit, dafür zu kämpfen. Der Raumjäger schwebte heran und setzte auf. Die Mannschleuse
öffnete sich. »Ich gehe hinüber. Erst wenn ich dir ein Zeichen gebe, kommst du
nach!« bestimmte Daan‐Bar. Der Raumjäger war leer, Daan‐Bar brauchte nur einige
Augenblicke, um das festzustellen und Ollon‐Tur heranzuwinken. Der junge Paudencer nahm auf dem Sitz des zweiten Piloten Platz, während Daan‐Bar das Triebwerk hochfahren ließ. Ein Knopfdruck setzte automatisch den Rettungsalarm in Kraft.
Breite Gurte legten sich um die Körper der beiden Walgonier, außerdem schaltete sich die autarke Notversorgung für den Vorderteil des kleinen Schiffes ein, der im Ernstfall zugleich als Rettungsboje fungierte. Sehr echt schoß der Jäger in den Himmel hinauf. Sobald er die
Wolkendecke durchstoßen hatte, erkannte Daan‐Bar auf dem Bildschirm einen Pulk von größeren Schiffen der Flotte. »Man erwartet uns bereits«, stieß er grimmig hervor. Sein rechter
Kopf hatte die Augen geschlossen. Es kam jetzt darauf an, alle Emotionen beiseite zu lassen und ganz rational und kaltblütig zu handeln. Die Verfolger beschleunigten, die Jagd hatte begonnen. Daan‐Bar wußte, daß sein Schiff schneller war als die großen
Einheiten, aber es gab auch Raumtorpedos, die erheblich schneller waren als der schnellste Jäger. Ollon‐Tur war ziemlich bleich.
»Jetzt brauchst du noch keine Angst zu haben«, stieß Daan‐Bar hervor, während er das Triebwerk bis zum Äußersten beanspruchte. »Ich bin völlig sicher, daß sie wenigstens mich erst einmal lebend haben wollen.« »Und wenn nicht?« fragte Ollon‐Tur. »Dann bekommen sie uns tot«, antwortete Daan‐Bar. Er war in
diesem Augenblick froh, daß er selbst in einer so kritischen Lage imstande war, seine Emotionen völlig zu unterdrücken. Ausnahmsweise machte sich die strenge Trennung von Verstand und Gefühl einmal bezahlt, keine Furcht, keine Panik ließ ihn zittern. »Ich möchte nur wissen, warum man dir nachspioniert hat«,
murmelte Ollon‐Tur nervös. Daan‐Bar zuckte mit den Schultern. »Ich habe keine Ahnung«, sagte er. »Wir werden es später
erfahren!« Er rechnete sich aus, daß er etwas länger als eine Stunde brauchen
würde, um die sichere Zone erreichen zu können – viel Zeit für eine lange, gefährliche Verfolgungsjagd. Vom vordersten der Verfolger löste sich ein Energieschuß, aber die Entfernung war entschieden zu groß. Der Treffer auf die Schutzschirme des Jägers hatte nur den einen, erfreulichen Effekt, das Schiff noch ein wenig schneller zu machen, als es ohnehin schon war. Daan‐Bar lächelte, als er sah, wie heftig Ollon‐Tur bei dem Treffer
erschrak. »Keine Panik«, sagte er. »Sie sind viel zu weit entfernt, und in ein
paar Minuten werden sie uns überhaupt nicht mehr erreichen können.« Eine Viertelstunde verging, ohne daß sich etwas Besonderes
ereignete. Der Jäger raste durch den Raum, schnurgerade auf das ersehnte Ziel zu. Daan‐Bar änderte den Kurs ein wenig. Er wollte so nahe wie möglich an die Ewige Barriere heran. Dort
mußte der kegelförmige Wirkungsbereich der Paudenc‐Katharsis besonders groß sein – groß genug hoffentlich, um die ganze Verfolgerflotte auf einmal erfassen und ausschalten zu können. Abenteuerliche Spekulationen jagten durch Daan‐Bars Hirn.
Vielleicht war es nach diesem Coup möglich, auch andere Verbände der Walgon‐Flotte anzulocken. War die Raumflotte erst einmal für die Sache der Paudencer gewonnen, hatte der Herrschaftsrat ausgespielt. Da wenig für ihn zu tun war – der Jäger behielt seinen Kurs bei
und raste rechnergesteuert durch das All –, gab sich Daan‐Bar seinen Träumen hin. Mit der Flotte hinter sich konnte er leicht den Herrschaftsrat
absetzen und entmachten. Wer sollte danach aber über die beiden Walgon‐Planeten regieren? Paudencer waren in hohen Regierungsämtern wahrscheinlich nur in sehr geringer Zahl anzutreffen, auf der Ebene der obersten Entscheidungsträger gab es keinen einzigen, der dem Paudenc‐Glauben anhing. Daan‐Bar war der einzige. Daan‐Bar begann breit zu grinsen, als ihm einfiel, daß jedem im
Herrschaftsrat das gleiche passieren konnte wie ihm. Wie Seifenblasen platzten seine Träume von der Herrschaft über Walgon auseinander, und er war nicht einmal verärgert darüber. »Hä?« machte Daan‐Bar, als ihn ein Geräusch aus seinen Träumen
aufweckte. »Ich fragte, was das ist«, wiederholte Ollon‐Tur und zeigte auf den
Bildschirm. Daan‐Bar wandte den Kopf und erstarrte. »Bei Paudenc!« entfuhr es ihm. »Raumminen!« Er stieß einen Fluch aus. Jemand – wahrscheinlich die Flotte im Auftrag des Herrschaftsrats
– hatten den ganzen Bereich zwischen Walgon II und der Ewigen Barriere mit Treibminen vollgepackt – und zwar boshaft genau im Wirkungsbereich der Paudenc‐Katharsis.
Daan‐Bar sah auf den anderen Schirm. Die Verfolgerflotte war weit entfernt, aber wenn Daan‐Bar den
Flug jetzt abbremste, war sie im Handumdrehen nahe heran. Weiterfliegen war glatter Selbstmord. Deutlich konnte Daan‐Bar auf den Orterschirmen die endlos
langen Energiefäden sehen, die von den Minen ausgingen und wie die Tentakel eines Ungeheuers sich durch den Raum schlängelten. Ein Schiff, das auch nur einen dieser Tentakel berührte, war verloren – der Tentakel zog die Mine in Blitzeseile an das Schiff heran, und dann ging eine atomare Ladung hoch, die ausreichend stark war, um auch das stärkste Schiff der Walgonflotte in Atome zu zerblasen. »Was machst du?« schrie Ollon‐Tur. Daan‐Bar handelte wie in Trance. Er spürte bei klarem Verstand, daß ihm die Kontrolle über seinen
Körper entglitt. Der rechte Kopf hatte den Körper übernommen, die emotionale Seite seines Ichs bewegte die Hände, ließ sie über die Tastatur des Rechners huschen. Bei klarem Verstand sah Daan‐Bar, wie seine durchgedrehten
Gefühle einen Linearsprung einleiteten, eine winzige Strecke nur, aber dennoch viel zu lang. Das Schiff mußte in der Ewigen Barriere zerschellen, unweigerlich.
Auch im Linearflug war es nicht möglich, sie zu durchbrechen. In Daan‐Bars Logikgehirn tauchten wie auf einem Leseschirm die Daten der letzten Fehlversuche auf. Auch stark modifizierte Aggregate hatten es nicht geschafft. Seit dem Tag, da das System der Doppelsonne eingekerkert worden war, hatten die walgonischen Wissenschaftler immer wieder versucht, ein Mittel zu finden, die Ewige Barriere zu durchbrechen oder zu überlisten. Keiner dieser Versuche war erfolgreich gewesen, nicht einmal Robotsonden hatten das System verlassen können. Gerade die Tatsache, daß jahrhundertelang betriebene aufwendige Forschung völlig ohne brauchbares Ergebnis geblieben war, hatte der Barriere ihren
entsetzlichen Beinamen eingetragen. »Nein!« schrie Ollon‐Tur, als er erkannte, was Daan‐Bar zu tun
beabsichtigte. Auch bei ihm brachen die Emotionen durch – grauenvolle Angst
und eine unbezähmbare Wut auf Daan‐Bar, der den Jäger mit seinen beiden Insassen dem sicheren Untergang zusteuerte. Ollon‐Tur spannte wutbrüllend die Muskeln an. Schnalzend
platzten die Gurte auseinander, dieser Kraftentfaltung waren sie nicht gewachsen. Daan‐Bars Logik und Ratio ließen ihn an die Testwerte dieser
Gurte denken, danach mußte Ollon‐Tur das Zehnfache normaler Körperkraft aufgeboten haben, um diesen Kraftakt vollbringen zu können. Ollon‐Tur stürzte auf Daan‐Bar zu, versuchte, ihn an dem
selbstmörderischen Vorhaben zu hindern, aber Daan‐Bar packte zu und schleuderte den tobenden Ollon‐Tur einfach zur Seite. Klargeistig kam Daan‐Bar zu dem Ergebnis, daß auch sein Körper
emotional bis zum Äußersten aufgeputscht war. Ollon‐Tur landete auf dem Boden und blieb dort liegen. Auf der Leuchtanzeige tickten die Sekunden herunter. Sie zeigte
an, daß nur noch sieben Sekunden vergehen mußten, bis die Linearetappe eingeleitet wurde. Daan‐Bar sah mit dem linken Kopf auf einen anderen Wert. Er
zeigte an, daß in acht Sekunden der Raumjäger die erste der Raumminen erreichen würde. Die sieben Sekunden verstrichen sehr langsam. Daan‐Bar empfand keinerlei Furcht. Er registrierte völlig
gefühlskalt, was um ihn herum vorging, wie die Leuchtfinger der Treibminen näher zu kommen schienen, wie die Verfolgerflotte verzögerte, um nicht selbst ins Verhängnis zu rasen. Dann war die Wartezeit vorbei. Im gleichen Augenblick, in dem der Jäger in den Hyperraum
vorstieß, verlor Daan‐Bar das Bewußtsein.
* »Wo sind wir?« fragte Ollon‐Tur. Daan‐Bar lächelte. »Auf der Lebensseite der Wirklichkeit«, sagte er sanft. »Wir leben
noch, aber frage mich nicht, warum.« Ollon‐Tur kam hoch. Er war vor einer halben Minute wieder zu
sich gekommen. Daan‐Bar hatte bereits vor fünf Minuten das Bewußtsein wiedererlangt. »Was ist das?« fragte Ollon‐Tur und deutete auf den
Panoramaschirm. »Das Nichts«, antwortete Daan‐Bar. »Der freie Raum – er ist völlig
leer.« »Leer?« »Es ist nichts zu sehen, absolut nichts«, antwortete Daan‐Bar. Völlig verwirrt und erschüttert sank Ollon‐Tur auf den Sessel des
Zweiten Piloten. Die Gurte, die er zerrissen hatte, baumelten seitlich daran herab. Daan‐Bar konnte die Verwirrung seines Begleiters sehr gut
begreifen, seine eigene Bestürzung war noch weit größer gewesen. Als Mitglied des Herrschaftsrats hatte er natürlich Kenntnisse über die Geschichte der Walgonier gehabt, die über den Wissensstand der einfachen Leute weit hinausgingen. So wußte Daan‐Bar, daß die Walgon‐Planeten vor Urzeiten einmal
das Kerngebiet eines mächtigen Sternenimperiums gewesen waren, eines Machtbereichs, der sich nach Tausenden von besiedelten oder unterworfenen Sonnensystemen bemaß. Walgon war gefürchtet gewesen zu seiner Zeit, seine Raumflotten hatten jeden Gegner erbarmungslos niedergeworfen, und wegen der unerbittlichen Tyrannei der Walgonier in ihrem Sternenimperium hatte es Gegner genug gegeben. Und waren die inneren Rebellionen
niedergeschlagen, beschäftigte sich die Flotte damit, weitere Welten aufzustöbern, mit Zwangskolonisten zu besiedeln, oder aber, wenn die Welten eigenes Intelligenzleben hervorgebracht hatten, diese Intelligenzen zu unterwerfen. In der Wahl der Mittel waren die Vorväter der heutigen Walgonier nicht zimperlich gewesen. Daan‐Bar, der die Praktiken des Herrschaftsrats kannte, konnte
mit dem verharmlosenden Ausdruck »nicht zimperlich« etwas anfangen – wenn er sich die Szenen vorstellte, die damals zum Alltag der Walgon‐Herrschaft gehört hatten, wurde ihm schlecht, und er schämte sich Walgonier zu sein. Dann aber, an einem Tag der Großen Magischen Synopse, war es
vorbei gewesen mit den großen Tagen Walgons. Von da an hatte es nur das System der Doppelsonne gegeben, und im Lauf vieler Jahrhunderte waren die glanzvollgrausamen Zeiten in Vergessenheit geraten. Das alles wußte Daan‐Bar. Nach diesem Wissen hätte es dort draußen Sterne geben müssen –
nicht nur einen oder zwei. Er hätte eine ganze Galaxis sehen müssen, Kugelsternhaufen, Dunkelwolken, Millionen von Einzelsternen. Mit vielen dieser Begriffe konnte Daan‐Bar gar keine rechte Vorstellung verbinden – unter dem Wort Galaxis stellte sich Daan‐Bar etwas ungeheuer Großes vor. Es gab aber keine Sterne, keinen einzigen. »Müßten wir nicht Sterne sehen können?« fragte Ollon‐Tur. »Ich
habe davon reden hören, daß es sie geben soll. Sehr viele sogar, mindestens zwanzig oder dreißig.« »Es gibt keinen einzigen«, antwortete Daan‐Bar rauh. »Und wo ist Gaulat? Und Paudenc?« »Auch verschwunden«, sagte Daan‐Bar. »Es gibt nichts außer
uns.« »Nichts?« »Überhaupt nichts.« Es war unmöglich, sich das vorzustellen. Ein völlig leeres
Universum, in dem nichts existierte außer einem kleinen Raumschiff und seinen beiden Passagieren. Ollon‐Tur schlug die Hände vor das Emotionsgesicht und begann
zu schluchzen. Sein Rationalkopf verdrehte die Augen und fiel nach hinten. Daan‐Bar holte tief Luft. Er hatte es drei Minuten lang versucht, aber ohne Ergebnis. Auch
von Walgon war nichts zu sehen. Die Ewige Barriere schien das Walgon‐System von einem absolut leeren Universum abzutrennen. Da es nicht den geringsten Bezugspunkt für irgend etwas gab, ließ
sich auch nicht mehr feststellen, wo der Raumjäger in dieses Parallel‐ oder Überuniversum oder was auch immer eingedrungen war. Was das hieß, lag auf der Hand. Der Jäger mit seinen Passagieren war abgeschnitten für alle
Ewigkeit. Irgendwann in den nächsten Wochen würde der Sauerstoff ausgehen, und dann mußten die beiden Insassen sterben. Danach würde ein Totenschiff durch ein leeres Universum gleiten.
Es gab nichts, was diesen Flug hätte aufhalten oder hindern können. Es gab keinen kosmischen Staub, der das Schiff im Lauf von Jahrmillionen hätte abbremsen oder zerschmirgeln können. Es gab keine Sonne, in der es hätte verglühen können. Bis zum Ende aller Zeiten – falls es in diesem absonderlichen Universum überhaupt eine Zeit gab – würde das Schiff weitertreiben, und kein Wesen würde die Leichen von Daan‐Bar und Ollon‐Tur jemals zu Gesicht bekommen. Daan‐Bar begann zu lachen. Er lachte, bis ihm über beide
Gesichter die Tränen liefen. »Ich möchte wissen, was daran so erheiternd ist«, fragte Ollon‐Tur
und sah Daan‐Bar boshaft an. Daan‐Bar wischte sich die Tränen ab. »Entschuldige«, sagte er. »Mir wurde gerade bewußt, wie
ehrgeizig ich bin. Und mir wurde bewußt, daß ich zur Krönung
dieses Ehrgeizes etwas bekommen werde, was außer mir und dir wahrscheinlich keinem anderen Lebewesen jemals beschieden sein wird. Dagegen verblaßt alles, was es überhaupt gegeben hat.« »Und was wäre das?« »Unser Grabmal«, sagte Daan‐Bar und deutete auf den
Panoramaschirm, der nichts anderes zeigte als Schwärze. »Das größte Grabmal aller Zeiten – ein ganzes Universum, ganz für uns.«
6. Daug‐Enn‐Daug begrüßte mich überschwenglich. Er schien außerordentlich erleichtert zu sein, mir zu begegnen. Er war auch der erste, der zur allgemeinen Lagekonferenz an Bord der Futurboje erschien. »Gefällt es dir bei uns?« fragte ich den Vulnurer. Daug‐Enn‐Daug gab einen verhaltenen Laut von sich. »Ich kann nicht klagen«, sagte er dann. »Und doch habe ich
Probleme.« »Schildere sie, vielleicht kann ich für Abhilfe sorgen.« Welches sein vordringliches Problem sein würde, wußte ich
bereits. Ich war außerordentlich überrascht gewesen, als mich ein Funkspruch von den Vulnurer‐Schiffen erreicht hatte, des Inhalts, daß dort der Emulator der Vulnurer, eben Daug‐Enn‐Daug, mich erwartete. »Ich weiß nicht, wie ich überhaupt hierhin gekommen bin«, sagte
der Vulnurer. »Plötzlich war ich an Bord der MORGEN, und ich habe keine Erklärung dafür, noch weniger für den Umstand, daß ich damit die Namenlose Zone verlassen habe.« »Wir werden dieses Problem klären«, versprach ich. »Im
Augenblick allerdings sehe ich auch nicht den Ansatz zu einer Lösung. Wie kommst du mit den anderen Vulnurern aus?« Daug‐Enn‐Daug machte eine Geste, die ich als Ausdruck von
Verlegenheit deutete. »Man behandelt mich sehr freundlich, fast ehrerbietig. Ja, man
scheint mich sogar für eine Art Anführer zu halten. Man hat mir den Titel eines Vul‐Mono verliehen.« »Stört es dich?« »Ich kenne mich bei meinen eigenen Artgenossen nicht aus«,
gestand Daug. »Ich kenne die Regeln ihrer Gesellschaft zu wenig, auch wenn mir Borallu in jeder Hinsicht behilflich ist. Ich bin zu lange von meinem Volk getrennt gewesen.« »Ich weiß«, antwortete ich nachdenklich. »Können wir dich sprechen?« fragte eine helle Stimme hinter mir.
Ich drehte mich um. Es war eine kleine Abordnung der BRISBEE‐Kinder, die aufgetaucht war – Lara, Menizza und Jauter. »Was kann ich für euch tun?« fragte ich. Jauter lächelte verhalten. »Vielleicht können wir etwas für dich tun«, sagte er freundlich.
»Und für uns, zur gleichen Zeit.« »Das hört sich geheimnisvoll an«, sagte ich. »Setzt euch und
erzählt.« »Es ist so«, sagte die vierzehnjährige Lara. »Wir haben Heimweh.« »Nach der Namenlosen Zone?« »Mehr nach der Welt, auf der wir aufgewachsen sind. Dies alles
hier ist sehr fremd für uns, wir fühlen uns hier nicht richtig wohl.« »Das kann ich verstehen, aber wie kann ich euch dabei helfen?« Lara lächelte verschmitzt. »Es sieht so aus, als hätten wir schon versucht, uns selbst zu
helfen«, sagte sie. »Wir saßen neulich zusammen und plauderten, und wir waren sehr traurig vor Heimweh. Und irgendwie ist es dann passiert. Wir bekamen Kontakt zur Namenlosen Zone.« »Ihr könnt ganz allein Kontakt aufnehmen?« fragte ich. »Wenn wir uns zusammentun, jederzeit«, antwortete Menizza.
»Damals hatten wir Kontakt zu einem Wesen, und wir haben dieses Wesen hierher geholt.«
Daug‐Enn‐Daug sprang auf. »Ihr meint mich«, stieß er hervor. »Vermutlich«, antwortete Jauter. »Ganz genau wissen wir das
nicht, denn es ist nebenbei passiert. Aber inzwischen haben wir nachgedacht und ein wenig nachgeprüft, was wir können.« »Und zu welchem Ergebnis seid ihr gekommen?« Jauter holte tief Luft. »Wenn du willst, können wir die ganze SOL
hinübertransportieren«, sagte er laut. »Die SOL?« Die Kräfte dieser Kinder waren unsagbar groß. Bei der SOL
handelte es sich schließlich um ein Raumschiff von geradezu gigantischen Abmessungen. »Wir könnten es«, sagte Lara zuversichtlich. »Aber es wird wohl
nicht gehen.« Ich ahnte, worauf sie anspielten. Schnell stellte ich eine Funkverbindung zur SOL her. Breckcrown
Hayes erschien auf dem Bildschirm, er sah müde aus. »Neuigkeiten?« fragte er nach einer knappen Begrüßung. Ich deutete auf die Kinder. »Unsere freundlichen Helfer haben mir gerade anvertraut, daß sie
sich zutrauen, die ganze SOL in die Namenlose Zone zu befördern. Frag mich nicht, wie sie das machen – es genügt mir, daß sie es können.« »Mir auch«, antwortete Hayes. »Erzähle das niemandem, die
Stimmung ist nicht danach.« »Widerstand?« »Ganz erheblich«, erklärte er. »Es gibt ein paar an Bord, die euch
nicht einmal Wasser und Brot hinüberschicken würden, wenn es nötig wäre. Viele Solaner sind die ganze Sache gründlich leid – zu einem neuen Vorstoß in die Namenlose Zone wirst du hier kaum jemanden verlocken können. Ich halte entsprechende Versuche für völlig sinnlos.«
»Ich danke dir für den Rat«, antwortete ich. »Aber unsere Schiffe«, stieß der Emulator der Vulnurer hervor.
»Ist es möglich …?« Jauter nickte. »Wenn wir uns auf die Schiffe verteilen, wird es möglich sein«,
sagte er. »Auch die MJAILAM und die FARTULOON können wir noch
mitnehmen«, erklärte Menizza. »Wir müssen uns nur gut koordinieren.« Hayes sah von dem Bildschirm auf mich herab. »Wenn du es willst – so kannst du es machen. An Bord der beiden
Schiffe sind nur Freiwillige. Wenn sie zustimmen, kannst du losfliegen. Den Vulnurern haben wir nichts zu befehlen oder zu verbieten, und was die Kinder angeht …« »Wir wollen zurück …«, sagten sie alle drei zur gleichen Zeit. »Du hörst es, Atlan. Meinen Segen hast du. Aber, wie bereits
gesagt, rechne nicht mit Hilfe von der SOL. Mir sind die Hände gebunden, die Stimmung ist eindeutig gegen jede weitere Eskapade, wie es hier genannt wird.« Ich wölbte die Brauen. »Ich kann es nicht ändern«, sagte Hayes. »Jedenfalls nicht sehr
schnell. In der letzten Zeit hat es entschieden zuviel Durcheinander gegeben.« Er lächelte. »Vergiß nicht, daß nicht alle Solaner so abenteuerlustig und
nervenstark sind wie du.« Ich nickte. »Dann werden wir es so machen«, entschied ich. »Wir verteilen
die Kinder auf die fünf Schiffe, ich bleibe an Bord der Futurboje, die den Wechsel ohne Hilfe der Kinder bewerkstelligen kann. Ich nehme an, daß es auf dem gleichen Weg möglich sein wird, der SOL Nachrichten zukommen zu lassen?« Die Kinder bestätigten meine Vermutung mit einem Nicken.
»Einverstanden«, sagte Breckcrown Hayes. »Ich wünsche euch viel Glück, und ich hoffe, ihr werdet es nicht brauchen.« Er lächelte schwach und schaltete ab. Ich sah die BRISBEE‐Kinder an. Die drei strahlten. Was den
Solanern offenbar zu gefährlich und wagemutig erschien, war für diese Kinder wohl die Erfüllung eines Herzenswunsches.
* »Die Namenlose Zone«, stellte ich fest. »Das Experiment hat funktioniert.« Daß die Futurboje in die Namenlose Zone vordringen würde,
stand für mich fest, ein wenig aber hatte ich daran gezweifelt, ob es den BRISBEE‐Kindern tatsächlich möglich sein würde, fünf Schiffe hinüberzutransportieren. Sie waren dazu fähig. Eines nach dem anderen tauchte auf, erst die
drei Vulnurer‐Schiffe, dann die MJAILAM und die FARTULOON. Ich stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Schnell war eine Sprechfunkverbindung zwischen den einzelnen
Schiffen hergestellt. Auf einem separaten Bildschirm waren die Gesichter von Borallu, Daug‐Enn‐Daug und Hage Nockemann zu sehen. Diese drei hatten sich zusammengefunden, um die anstehenden wissenschaftlichen Probleme zu erörtern und möglicherweise zu lösen. Wenn ich Nockemanns Gesichtsausdruck richtig interpretierte, schienen die drei gut zu harmonieren. »Da wären wir«, sagte ich zufrieden. »Nun müssen wir
entscheiden, was wir unternehmen sollen.« Daug‐Enn‐Daug zuckte zusammen. »Kontakt!« stieß er hervor. »Womit?« fragte ich sofort. Der Emulator der Vulnurer schwankte ein wenig. »Die Lichtquelle«, sagte er leise. »Sie hat mit mir Kontakt
aufgenommen.« »Wo ist sie? Wir brauchen den genauen Standort!« »Sie hält sich verborgen«, verkündete Daug‐Enn‐Daug mit einer
seltsam verfärbten Stimme. »Man ist ihr auf der Spur.« »Wer ist man! Die Zyrtonier?« Daug‐Enn‐Daug machte eine Geste der Zustimmung. »Sie wird sich zur gegebenen Zeit bei uns melden und auch
zeigen, wenn es die Umstände zulassen.« Also mußten wir vorläufig ohne die Hilfe der Lichtquelle
auskommen, so betrüblich das auch war. Immerhin schien sie in Sicherheit vor den Zyrtoniern zu sein. »Ich begreife«, murmelte Daug‐Enn‐Daug. »Langsam klären sich
die Zusammenhänge.« Seine Augen blickten starr. Der weitaus größte Teil seiner
Wahrnehmung war nach innen gerichtet, auf die Botschaft der Lichtquelle, die für uns nicht hörbar war. »Ich verstehe«, murmelte Daug‐Enn‐Daug. »Sie ist die eigentliche
ordnende und positive Kraft unseres Volkes – und auch der Zyrtonier. Ich ahne, daß sie der wahre Emulator der Vulnurer und Zyrtonier ist.« Daug‐Enn‐Daug kehrte völlig in die Wirklichkeit zurück, der
Kontakt war unterbrochen. »Was hat die Lichtquelle gesagt?« wollte ich wissen. Hage Nockemann sah Daug so gierig nach Information an, daß
man den Eindruck gewinnen konnte, er wolle sich auf den Emulator stürzen. »Die Lichtquelle drückte Freude aus«, sagte Daug‐Enn‐Daug.
Seine Stimme klang wieder völlig normal. »Es sei an der Zeit, sagte sie mir, daß sich das Gleichgewicht der Kräfte in der Namenlosen Zone verschiebt. Dazu seien die Vulnurer von besonderer Bedeutung. Große Veränderungen müßten gewagt und die Pläne der Zyrtonier durchkreuzt werden.« »Das ist zu vage«, sagte ich. »Hat die Lichtquelle sich nicht
deutlicher ausgedrückt?« Daug‐Enn‐Daug verneinte. »Mehr konnte ich nicht erfahren«, sagte er betrübt. »Und jetzt
schweigt die Lichtquelle.« »Hm«, machte ich. Viel war es nicht, was die Lichtquelle verraten
hatte, mehr Andeutungen als präzise Informationen. »Ortung!« gellte ein Schrei durch die Zentrale der Futurboje. Ich fuhr herum. »Einzelheiten!« forderte ich. »Wir empfangen sehr schwache Hyperfunksignale«, bekam ich zu
hören. »Unglaublich verwaschen, wie gefiltert.« »Entfernung?« »Unterschiedlich. Das nächste Signal ist achtundvierzig Lichtjahre
entfernt, das fernste knapp einhundert. Jetzt ist es verschwunden.« »Weitermachen«, bestimmte ich. »Was hat das zu bedeuten?« Auf dem Monitor der Funkverbindung konnte ich Hage
Nockemann sehen, der die einlaufenden Daten musterte. Der Wissenschaftler wirkte aufgeregt. Dann sah er auf. »Ich habe einen Verdacht«, begann er. Ich machte eine energische
Handbewegung. »Die Schockfronten weichen auf«, erklärte Nockemann. »Was
dafür verantwortlich ist, weiß ich nicht. Es hat den Anschein, als würden die Schockfronten langsam aber sicher durchlässig. Die Stärke der ankommenden Impulse ist nicht proportional der Entfernung der Impulsquelle.« »Das heißt im Klartext?« »Du magst mich für einen Aufschneider halten, aber dieser
Auflösungseffekt scheint um so stärker zu sein, je näher das betreffende System an unserem derzeitigen Standort liegt – und der Effekt wandert mit uns. Oder, wenn du es noch optimistischer hören willst – wir bewirken das.« »Unglaublich«, entfuhr es mir. »Ist das der Wandel, von dem die Lichtquelle sprach?« wollte
Daug wissen. »Wir werden es sehen«, antwortete ich. »Neue Ortung, diesmal völlig klar und eindeutig. Ein
Raumfahrzeug, sehr klein und sehr weit entfernt.« In einer normalen Galaxis wäre dieses Fahrzeug wahrscheinlich
gar nicht einmal anzumessen gewesen, aber von dem Nichts, das uns umgab, hob es sich trotz seiner geringen Größe und der großen Entfernung deutlich ab. »Wir sehen nach«, entschied ich. »Und wir bleiben zusammen.« Die Kommandanten leiteten einen kurzen Linearflug ein. Das
fragliche Objekt war neunzig Lichtjahre von uns entfernt, ein Flohsprung für unsere Schiffe. Sobald wir in den Normalraum zurückkehrten – sofern man die
Namenlose Zone überhaupt so nennen konnte – wurden die Meßergebnisse deutlicher. »Ähnlich einer Space‐Jet«, lautete die Auswertung der
Ortungsergebnisse. »Schiff nimmt Fahrt auf, hält auf uns zu.« In der Namenlosen Zone mußte man auf böse Überraschungen
gefaßt sein. Ich löste Alarm aus – es konnte sich auch um eine fliegende Bombe handeln. »Das Schiff kommt vermutlich aus dem Sonnensystem in der
Nähe«, erklärte Hage Nockemann plötzlich. »Sonnensystem?« »Die Daten sind noch immer gestört«, berichtete der
Wissenschaftler. »Die Meßergebnisse können einstweilen nur mit Hilfe der Positronik zusammengesetzt werden. Danach gibt es vor uns ein System mit einer Doppelsonne und zwei Planeten. Zu sehen ist es nicht, dafür ist die Schockfront noch zu stark – aber es ist anmeßbar für unsere Instrumente. Tut mir leid für unsere Buhrlo‐Freunde, aber es sieht danach aus, als würden wir in nächster Zeit auf ihre Teppelhoff‐Begabung verzichten können.« »Fremdes Raumfahrzeug verzögert, geht längsseits MJAILAM.« Ich überlegte kurz. Die Funkverbindung war so hervorragend, daß
ich darauf verzichten konnte, dem oder den Fremden persönlich gegenüberzutreten. »Wenn möglich an Bord nehmen«, bestimmte ich. »Andockmanöver bereits eingeleitet«, erklang es aus den
Lautsprechern. »Schiff hat zwei Mann Besatzung. Sie verlassen gerade das Schiff. Analyse der abgelassenen Schiffsatmosphäre ergibt Sauerstoffatmer. Jetzt Sichtkontakt.« Ich konnte ein leises Schmunzeln nicht unterdrücken. Es war
immer eine sehr aufregende Sache, einem unbekannten Volk zu begegnen, aber sie wurde in diesem Augenblick ein wenig grotesk durch den Umstand, daß er gleichsam hinter geschlossenen Türen stattfand. Was ich davon erfuhr, war der knappe, sachliche Report der Frau, die das Andockmanöver durchgeführt hatte. Zu sehen bekam ich die Gesichter der Kommandanten und der Zentralebesatzungen. »Grundform humanoid, Haut leicht bläulich schimmernd. Vier
Arme, vier Beine – und zwei Köpfe.« »Oha«, entfuhr es mir. Unwillkürlich mußte ich an Iwan Iwanowitsch Goratschin denken,
eine der monströsesten Kreaturen, die jemals den Namen Mensch getragen hatten – und charakterlich eine Perle, wie man sie nur äußerst selten fand. Der Doppelkopfmutant, erbgeschädigt durch eine Kernwaffenexplosion im Sibirien des zwanzigsten Jahrhunderts, hatte sich immer wieder für seine Mitmenschen eingesetzt, für ihre Freiheit und Sicherheit immer wieder das eigene Leben gewagt – für die gleichen Mitmenschen, die ihn wegen seiner Gestalt nicht als ihresgleichen ansahen. Goratschin war längst tot. 3432 im Kampf gegen Agenten Ribald Corellos gestorben … Zurück in die Wirklichkeit, meldete sich der Extrasinn. Unwillkürlich nickte ich. Goratschin, das lag zeitlich und räumlich
entsetzlich weit entfernt. Im Hintergrund des MJAILAM‐Bildes tauchten die beiden
Fremden nun auf. Sie näherten sich der Kameraoptik.
Offenbar hatten sie bereits festgestellt, daß unsere Atemluft auch für sie verträglich war. Die Helme waren zurückgeschlagen. Es folgte das übliche Ritual. Begrüßung mit Gesten und Mienen,
dann Hinweis auf den Translator. Danach wurde Vokabular ausgetauscht, bis die positronischen Übersetzer in der Lage waren, einen einwandfreien Dialog zu ermöglichen. Die eindeutige Eröffnung des Gesprächs ging von den Fremden
aus. Einer der beiden zog eine Waffe aus seiner Kleidung und übergab sie einem Besatzungsmitglied der MJAILAM. Von diesem Zeitpunkt an konnten wir sicher sein, es mit Freunden zu tun zu haben. »Wir gehören zum Volk der Walgonier«, erklärte einer der beiden
Fremden, der sich als Daan‐Bar vorgestellt hatte. »Es ist uns gelungen, die Ewige Barriere um unser System zu durchdringen. Niemals zuvor ist das gelungen.« . Ich sah Daug‐Enn‐Daug an. Offenbar begannen die Bastionen des Bösen in der Namenlosen
Zone allmählich zusammenzubrechen. Die Sklaverei hinter den Schockfronten hörte auf – es fragte sich nur, was für Völker es waren, die nun ihre Freiheit wiedererlangten.
7. VISION: »SPOODIES« Ich werfe einen Blick auf Breckcrown Hayes. Das Gesicht wirkt
sehr blaß, die Augen liegen tief in den Höhlen. Schwermut drücken seine Züge aus. Ich weiß, daß es ihm sehr schlecht geht. Jeder andere hätte längst
um Ablösung gebieten, die Last der Verantwortung für die SOL auf jüngere, kräftigere Schultern gelegt. Nicht so Breckcrown Hayes. Er ist High Sideryt, er wird als High Sideryt sterben. Was ihn noch auf den Beinen hält, ist sein eiserner Wille. Er zwingt seinen
ausgemergelten Körper von einem Tag auf den anderen ins Joch, hält hier Beratungen ab, sieht dort nach dem Rechten, trifft Entscheidungen, leitet und regelt. Seine Arbeit ist ein wenig leichter geworden. In der Zeit, die hinter uns hegt, haben sich die Verhältnisse an
Bord der SOL stabilisiert. Das Mißvergnügen, der verdeckte Unmut, sie sind verschwunden. Eine Kette unglaublicher Abenteuer liegt hinter uns, aber in den letzten beiden Jahren wurden die Gefahren geringer, die wir zu bestehen hatten, die Aufgaben waren leichter zu lösen, das Schiff selbst geriet nie wieder in scheinbar aussichtslose Gefahrenlagen. Vor allem haben die Solaner den Auftrag der Kosmokraten
akzeptiert. Sie wollen selbst das Ziel erreichen, das uns aufgetragen ist. Als gäbe es eine geheime Verschwörung an Bord, wird überall angepackt und gehandelt. Die Solaner haben sich zusammengefunden, auch verbunden durch den Willen, ihrem High Sideryt das Leben zu erleichtern. Vieles, was man früher ihm aufgebürdet hätte, wird nun ohne ihn entschieden und durchgeführt, auch wenn es schwerer fällt und mühseliger ist. Die Solaner scheinen zu spüren, daß die Lebensflamme ihres High Sideryt zu flackern begonnen hat. »Wir sind bald am Ziel«, sage ich. In Hayes Gesicht verzieht sich
kein Muskel, er scheint durch mich hindurchzusehen. »Gut«, sagt er schließlich und steht auf. Von einem Augenblick auf den anderen ist er wieder voll da. Er
muß erschöpft und ausgelaugt sein, aber seine Bewegungen zeigen die alte Kraft und Schnelligkeit. Er ist zielstrebig und kurzentschlossen wie eh und je. »Gehen wir in die Zentrale«, schlägt er vor. Er wirft einen Blick auf
die Service‐Tastatur. An diesen kleinen Zeichen kann man erkennen, wie es um ihn steht. Früher hätte er sich bei dieser Gelegenheit Kaffee bestellt, in einer selbstmörderischen Stärke, die einen Siganesen zum ertrusischen Schwergewichtsmeister hätte
aufputschen können. Jetzt zögert er einen Augenblick, lächelt und hebt den Blick. Wir verlassen die Klause. Sie hat noch immer einen eher
mönchischen Zuschnitt. Alle Versuche, Hayes mit ein wenig Luxus zu verwöhnen, hat er abgeblockt. Er ist an Bord, um eine Aufgabe – seine Aufgabe – zu erfüllen, nicht um auf weichen Kissen herumzuliegen und sich von freundlichen Solanerinnen Komplimente anzuhören. In der Zentrale der SOL ist es ruhig. Jedermann versieht gelassen und routiniert seinen Dienst. Im Linearflug bewegen wir uns auf den Koordinatenpunkt zu, den
wir erreichen sollen. »Noch zwanzig Minuten, schätzungsweise«, sagt der Pilot. Hayes nickt. Ich spüre die Beklemmung, die ihn befallen hat. In weniger als
einer halben Stunde sind wir am Ziel, damit ist der Auftrag der Kosmokraten erfüllt. Danach gibt es nichts mehr zu tun – jedenfalls nichts, von dem wir jetzt wüßten. Ich spüre, daß Hayes mit seinen Gedanken bereits in der Zukunft
ist. Was wird aus der SOL werden, wenn der Auftrag erledigt ist? Wie werden sich die Solaner entscheiden? Für ein freies, ungebundenes Herumvagabundieren im Weltraum?
Für eine Rückkehr in die heimatliche Milchstraße? Für ein Leben ohne großes Ziel? Oder für einen neuen Auftrag, von wem auch immer er kommen mochte? Eines steht fest: nach dem Abschluß dieses Auftrags wird die SOL
nicht mehr das gleiche Schiff sein. Die Ereignisse der letzten Jahre, mochten sie auch noch so gefährlich gewesen sein, haben der SOL und den Solanern einen Stempel aufgedrückt. Schon jetzt geht es mitunter bei privaten Zusammenkünften hoch her: »Weißt du noch, damals … als wir Hidden‐X… und dann die Vulnurer …? Es sieht fast danach aus, als sollten die turbulenten Zeiten der
letzten Jahre allmählich zur »guten alten Zeit« der SOL werden, ein
Gedanke, der niemand mehr amüsieren kann als mich, wenn ich an die Hindernisse denke, die mir von den Solanern in den Weg gelegt worden sind. »Rückkehr in den Einsteinraum in zehn Minuten.« Allmählich zeichnet sich unser Ziel genauer ab. Es scheint eine linsenförmige Spiralgalaxis zu sein, Durchmesser
etwa einhunderttausend Lichtjahre. Eine erste Schätzung der Zahl der Sonnen erreicht den Wert von einhundert Milliarden. Der größte Teil dieser gigantischen Masse ist im Zentrum zusammengeballt, weiter draußen entsprechen die Sternverteilung und die Sterntypen weitgehend dem, was ich von der Milchstraße her kenn. Die Milchstraße. Erinnerungen bestürmen mich. Jetzt, so nahe dem Abschluß
meines Auftrags, schließt sich der Gestaltbogen. Ist dies wirklich der Abschluß – das Ende eines Abenteuers, das
vor Jahrtausenden begonnen hat, in jenem Augenblick, in dem ich aus der Werkstatt der Kosmokraten den Zellaktivator empfing, den ich noch immer trage. Damals hat es angefangen, mit dem auf die wüste und barbarische
Erde verschlagenen Kristallprinzen von Arkon. Zehn Jahrtausende lang Versteckspiel, einhundert Jahrhunderte lang Bemühungen, dieses wilde Planetenvolk in den Raum vorstoßen zu lassen. Ein Mann gegen einen Planeten, vergebliche Liebesmüh. Hat Absicht der Kosmokraten dahintergestanden, mich diese schier endlos lange Spanne Zeit auf Terra zu isolieren? Sollte ich geprägt werden durch dieses Asyl wider Willen? Ich habe viel gesehen in dieser langen Zeit. Ich habe gesehen, wie
sich die großen Pyramiden der Ägypter in die Höhe stemmten. Ich habe die Türme gesehen, gebaut aus Festungstrümmern und Menschenschädeln – es waren die einzigen Bauwerke, die Timuri‐Lenk auf seinen Raubzügen von eroberten Städten und ihren Bewohnern zurückließ. Tamerlan hatten ihn andere genannt, und er trug voll Stolz seinen schrecklichen Beinamen: terror mundi,
Schrecken der Welt, oder Geißel Gottes. Ich habe gesehen, wie Rom brannte und Troja fiel. Gottkönigen
und in Selbstvergötterung verfallenen Kaisern habe ich gedient – und sie für meine Zwecke einzuspannen versucht. Herrscherirrsinn und Sklavenelend habe ich bis in die letzte Faser studieren können. Wozu das alles? Ich habe den Mongolensturm erlebt, jene ungeheuerliche Masse
aus Pferdeleibern, gepanzerten Reitern und hageldicht fallenden Pfeilen, die alles vor sich her warf, aus der Steppe des Ostens heranbrausend, gut geschult, gut geführt und nahezu unwiderstehlich. Ich habe die Pest durch Europa rasen sehen, die Zeit, in der sich
die Leichen auf den Straßen türmten, weil niemand sie wegzuschaffen wagte, in denen Menschen sich bis auf die Knochen geißelten, um der Pest zu entgehen, während andere sich schrankenlosem Hedonismuß hingaben, um die letzten Tage und Stunden ihres Lebens so genußreich zu verbringen wie nur möglich. Hat das einen Sinn gehabt? Gehört es irgendwie zusammen mit
dem, was sich jetzt dem nähert? Ich habe Nero erlebt – und Seneca. Die Polos sind meine Gäste
gewesen wie der legendäre Ibn Batutta. Ich habe mit Michelangelo gesprochen – und mit jenem Fürsten des Grauens, der den Namen des Großinquisitors trug. Und immer benutzte ich Waffen. Mal nur das, was mir die Natur gegeben hatte. Fartuloon, der
dicke Bauchaufschneider, der mich in der waffenlosen Kunst des Dagor unterwiesen hatte; der sanftäugige Mönch im gelben Gewand, der mich die Anmut des Tai‐Chi‐Chuan lehrte – und die tödliche Variante des Kung‐Fu. Schwerter hatte ich geführt, den kurzen römischen Gladius wie
das germanische Griffzungenschwert, die mittelalterlichen Beidhänder, die Krummsäbel des Janitscharen, die schmiegsamen Damaszenerklingen, die prachtvollen Raufdegen toledanischer
Fertigung. Ambrustbolzen hatten mir die Haut geritzt, ich hatte
Blasrohrpfeile abgewehrt, bei Azincourt hatte ich es mit den ebenso eleganten wie furchtbaren Langbögen der englischen Bogner zu tun gehabt, und wie es sich anhört, wenn ein geschickt geworfener Tomahawk angesaust kommt, weiß ich bis heute. Paßt das zusammen? Gibt dieses wirre, manchmal heitere, des
öfteren aber blutige Mosaik am Ende ein Bild? Was gehört nicht alles dazu? Wie lange habe ich über koans
meditiert, bis sich satori einstellte? War es nützlich, das Hatha‐ und Rama‐Yoga zu erlernen, an den Quellen der Kunst? Hat es irgendeinen, noch so absonderlichen Bezug zu dem, was sich in wenigen Minuten vollenden wird? Bilder steigen auf, werden scharf und verschwimmen wieder, um
anderen Erinnerungen Platz zu machen. Die architektonisch völlig mißratene Kapelle, in der Papst Sixtus
zu beten pflegte, die nach ihm die sixtinische heißt und doch nur berühmt ist wegen zweier Männer, die darin Unvergeßliches, Unwiederbringliches schufen. Ich sehe den alten Mann vor mir, wie er sich allein, fast ohne Gehilfen abschindet, die frischen Farben selbst anrührt und sie auf den feuchten Putz aufträgt. Jeder Strich muß sitzen, nichts läßt sich nachträglich mehr ändern, und das auf dem Rücken liegend, auf einem schwankenden Gerüst, hoch über dem Boden, einen mit Kerzen besteckten Hut auf dem Kopf, um wenigstens ein bißchen Licht zu haben. Jahr um Jahr hat er diese Sklaverei der Kunst ertragen, dabei gleichzeitig Bramantes kümmerliche Pläne verbessert und der Vittoria Colonna einige der schönsten Sonette geschrieben, die je verfaßt wurden. Was für ein Genie, dieser dick‐schädlige Toskaner, der sich als alfresco‐Maler betätigte, als Bronzegießer, als Poet, als Baumeister, und der doch nur eines wollte – dem weißen, strahlenden Marmor aus Carrara Meisterwerke entmeißeln wie seinen unglaublichen David. Ein Großfürst in jeder Kunst, in der er sich versuchte – Michelangelo
Buonarotti. Der kleine Mann mit dem Mausegesicht, der die Finger nicht von
Würfeln und Karten lassen konnte, der ein Vermögen verspielte, das er nicht hatte, weil er dem vertraute, was er in unglaublichem Maß besaß, seinem unerschöpflichen Schatz an Melodien; der Briefe in einer Fäkalsprache schrieb, die seine Nachwelt in Staunen versetzte, der nach einmaligem Anhören einer mehrstimmigen, langen Messe imstande war, sie nahezu fehlerfrei Note für Note aus dem Gedächtnis aufzuschreiben und fast in den Geruch ketzerischer Zauberei geriet, der immer am Rand des Ruins Meisterwerk um Meisterwerk schrieb, um zuletzt am hitzigen Frieselfieber zugrunde zu gehen und in einem unbekannten Massengrab verscharrt zu werden – Mozart. Oder der bleiche junge Mann mit den Buchhaltermanieren, scheu
und zurückhaltend, niemals auffällig, gewaltig nur in dem, was er still für sich schrieb und am liebsten vernichtet hätte, der in seinen Erzählungen Ängste und Verzweiflung auslotete bis an die Grenze des Wahnsinns, der den Käfig seiner Neurosen bis in jeden Winkel kannte, jede Mauerritze darin, wie sein Brief an den Vater beweist – und doch noch imstande war, diese innere Grenze zu überwinden – Franz Kafka. »Es kann nicht mehr lange dauern!« Die Stimme von Breckcrown Hayes. Mit wem soll ich ihn vergleichen? Mit den Condottieri der
Renaissance, den streitbaren Fürsten des Mittelalters? Er hat die Selbstzucht eines Samurai, als sei das bushido für ihn geschaffen. Oder mit Robert Falcon Scott? Irgendwo zwischen Südpol und der
Welt, ein enges Zelt, von grauenvollen Stürmen umtost, die Freunde sind bereits tot oder liegen im Sterben, und er schreibt, führt seinen Bericht fort, macht Notizen, obwohl er weiß, daß die Zahl seiner Stunden gering ist. Ruhig schreibt er weiter, bis seine erkaltenden Finger den Stift kaum mehr zu halten vermögen. »Schickt dieses Tagebuch meiner Frau«, lautet die letzte
Eintragung. Bei klarem, einsichtigen Verstand wird der Stift geführt, durchstreicht das Wort Frau und setzt in klarer Erkenntnis darüber Witwe. Etwas von diesem Mann ist in Breckcrown Hayes. Er steht neben
mir, sieht auf den Panoramaschirm. Bald wird das Ziel auftauchen. Er wendet sich um, hält mich fest, bevor ich fallen kann. Der Ansturm der Gedanken ist übermächtig. Alle Schleusen des
Gedächtnisses sind geöffnet. Wirr springen die Erinnerungen hin und her. Perry Rhodan, Bully, Gucky – schemenhaft tauchen die Gesichter
auf und verschwinden wieder. Auris von Las‐Toor – die schöne Frau von Arkon, die ich liebte,
und die Perry Rhodan liebte. Crysalgira, die Prinzessin von Arkon, die vertraute Gefährtin
meiner Abenteuer als entrechteter Kristallprinz, verfolgt und gejagt vom eigenen Onkel, dem Brudermörder. Thalia, die ich nach langen, gemeinsamen Kämpfen verlor. Mirona
Thetin, ebenso schön wie gefährlich als Faktor I der MdI. Warum denke ich gerade jetzt an diese Frauen, die meinen
Lebensweg begleitet haben? Ich lasse meinen Blick durch die Zentrale der SOL schweifen. Es ist
sehr ruhig, wenn es eine Aufregung gibt, wird sie zumindest sehr gut versteckt. Mich scheint niemand zu beachten, und mir ist es recht so. Ich versuche zu begreifen was in diesem Augenblick geschieht. Ich bin an Bord der SOL, ich bin Atlan, und alles, was ich sehe,
rieche, berühre, ist real. Und doch spüre ich, daß es nicht real ist. Ich komme mir vor wie in einem überaus perfekt inszenierten Traum. Jedes Detail stimmt, aber die Summe aller dieser Details ist nicht die Wirklichkeit. Ich möchte aus diesem Traum aufwachen. Er ängstigt mich – nicht weil es konkrete Gefahren gäbe, sondern wegen der Stimmung des Unwirklichen, die mich erfaßt hat. Breckcrown Hayes lächelt. Ich weiß, daß er zufrieden ist. Er kann
mit sich zufrieden sein, er hat Unglaubliches geleistet in den letzten Jahren. Er hat sogar den legendären Chart Deccon vergessen machen. Breckcrown Hayes ist der High Sideryt der SOL, an ihm wird man seine Nachfolger messen, und sie werden es schwer haben, nach ihm zu bestehen. »Kontakt!« Die SOL fällt in den Normalraum zurück. Die scheinbare
Bewegung der Sterne auf dem großen Panoramaschirm hört auf. »Wir sind am Ziel«, sagt Breckcrown Hayes. »Noch nicht ganz«, antworte ich. Die Taster durchstreifen das Weltall, auf der Suche nach dem, was
wir am Zielgebiet finden sollen. Jetzt endlich wird das Rätsel gelüftet, hinter dem wir so lange Zeit hergejagt sind. Was erwartet uns dort? Irgendeine gewaltige Raumstation? Ein Empfangskommando der
Kosmokraten? Die Abgesandten eines Sternenreichs? »Wir haben etwas gefunden«, höre ich von der Ortung. »Sieht sehr
seltsam aus.« »Projektion!« verlangt Breckcrown Hayes. Auf dem Panoramaschirm wird ein Bild dessen gezeichnet, was
die Fernortung hat erfassen können. »Sieht aus wie ein energetischer Bienenschwarm«, sagt jemand
und lacht dazu. Auf dem Schirm erscheint ein annähernd kugelförmiges Gebilde,
das zu leben scheint. Gleich einer Amöbe breitet es sich hierhin und dorthin aus, dehnt und streckt sich, zieht sich wieder zusammen. Es scheint zu pulsieren. Was ist es? Ich weiß, daß dieses Gebilde das Ziel unserer langen Reise ist. Eine
Gefahr, die wir zu beseitigen haben? Ich kann mir nur schwer vorstellen, daß es im Kosmos eine Gefahr gibt, die die Kosmokraten nicht bestehen könnten – und wenn doch, dann sind sie ganz sicher nicht durch die SOL oder meine Person zu retten. Es wäre lächerlich
anzunehmen, sterbliche Wesen wie wir, an die Gesetze des Einsteinraumes gebunden, könnten zu Helfern von Wesen werden, die die Grenzen dieser Gesetze wahrscheinlich längst überstiegen haben. »Langsam heranfliegen«, ordnet Breckcrown Hayes an. Er geht
langsam zu seinem Sessel hinüber, läßt sich hineinfallen. Seine Finger huschen über die Tastatur. Wenig später erscheint die unvermeidliche Portion Kaffee. Hayes sieht mich an, verzieht das hagere Gesicht zu einem breiten Grinsen. »Varnhagher‐Ghynnst«, sagt er zufrieden. Den Namen kennen wir, aber wir wissen nicht, was sich damit
verbindet. Das Gebilde scheint näher zu kommen. Das Abbild wird schärfer.
Der Vergleich mit dem Bienenschwarm verstärkt sich. Wenn es Energiebienen sind, dann ist es ein riesiges Volk.
Wahrscheinlich Milliarden von Einzelwesen, die einander umkreisen, durcheinander schwirren. Auch eine äußere Struktur wird erkennbar. Hauchfeine Linien
ziehen sich als dichtes Netzwerk über den Energieschwarm, im Näherkommen werden diese Linien stärker und deutlicher erkennbar. »Wir haben einen Asteroidenschwarm gefunden«, erklingt es von
der Ortung. Auch die Massetaster haben etwas gefunden, auch ihre Ergebnisse werden auf den Schirm projiziert. Da ist der energetische Bienenschwarm, umgeben von einem
dunklen Netz, das die ganze Versammlung umschließt. Je näher wir kommen, um so dichter scheint dieses Netz zu werden. In der Nähe dieses Gebildes driften Dutzende von Asteroiden
durch den Raum. Im Näherkommen vergrößert sich ihre Zahl, die Messungen erfassen jetzt auch kleinere, unscheinbarere Objekte. »Gesamtmasse der kosmischen Kleinkörper ergibt zusammen
einen kleinen Planeten, einen sehr kleinen.« »Planeten ohne Sonne gibt es nicht, es sei denn, jemand hat daran
herumgefingert«, sagt Breckcrown Hayes. Vorsichtig nippt er an dem brühheißen Kaffee. Barkon, schießt es mir durch den Kopf. Der sonnenlose Planet im
Leerraum zwischen der Milchstraße und dem Andromedanebel. In dieser Abschlußphase unserer Abenteuer, in der seltsam abstrakten Stimmung, in der ich mich befinde, bekommen selbst Assoziationen ein anderes Gewicht. Warum denke ich gerade jetzt an Barkon – nur wegen der geringen Ähnlichkeit? Oder verknüpft sich hier und jetzt, was ich alles erlebt habe? Eines wird für mich in diesem Augenblick überdeutlich –
entweder ist dies das Ende, oder es ist ein neuer Anfang. Und wenn es Neubeginn ist, ich spüre, daß ich mit dieser
Vermutung ins Schwarze treffe, dann war alles bisherige nur Ouvertüre, das eigentliche Konzert beginnt erst.
8. VISION: »SPOODIES« Fahrtlos treibt die SOL durch den Raum. Riesenhaft zeichnet sich
das rätselhafte Gebilde auf den Schirmen ab. Jemand hat bereits Bezeichnungen geprägt. Spoodies werden die seltsamen Energien genannt, die im Innern
des leuchtenden Gebildes durcheinander schwirren. Eine Ausmessung hat ergeben, daß das Feld der Spoodies knapp zehn Lichtminuten groß ist und annähernd kugelförmig. Das hört sich nach wenig an, wenn man an die millionenfache
Lichtgeschwindigkeit denkt, die die Lineartriebwerke erreichen können. Nimmt man als Maßstab aber das Sonnensystem der Terraner, werden die Proportionen deutlicher – die Erde ist knapp acht Lichtminuten von Sol entfernt. Die Spoodie‐Kugel schließt also ein Volumen ein, in das man mühelos Sonne und Erde auf der Umlaufbahn hineinpacken könnte. Mit Milliarden ist die Zahl der
Spoodies viel zu gering veranschlagt. Da von dem Feld gleichsam nur die Oberfläche zu erkennen ist, können wir das Innere des Gebildes nicht erkennen. Möglich, daß die Spoodies wie Elektronen auf einem
Kugelkondensator nur auf der Oberfläche herumschwirren, selbst dann ist ihre Zahl gigantisch. Füllen sie aber die ganze Kugel aus, wächst die Zahl in astronomische Größenordnungen. Für das dichte Netzwerk, das den Schwarm zusammenzuhalten
scheint, hat jemand den Namen Raumtang geprägt. Auf den Bildschirmen erscheint der Raumtang als ein Netz breiter, blauschwarzer Linien, von dunkelroten Blasen durchsetzt. Messungen haben ergeben, daß der Raumtang lebt. Eine
Lebensform, die mir wenig anheimelnd erscheint. Die Buhrlos an Bord hingegen sind entzückt. Sie erkennen in dem
Raumtang eine, wenn auch sehr entfernt, verwandte Lebensform. Ich kann die Buhrlos verstehen. Der Akt der Schöpfung, dem sie
ihre Entstehung verdanken, nähert sich dem Ende. Es ist abzusehen, daß es in ein paar Jahrhunderten kaum noch Buhrlos geben wird. Zwar bekommen Buhrlo‐Frauen nach wie vor Kinder, aber der weitaus größte Teil dieser Kinder gehört zum Normaltypus des Solaners – nur selten noch werden echte Buhrlos geboren. Die Wissenschaftler haben ausgerechnet, daß die Spezies der
Buhrlos nur dann Aussichten auf Fortbestehen hat, wenn jede Buhrlo‐Frau im Lauf ihres Lebens sieben Kinder zur Welt bringt. Die Gesamtpopulation der Buhrlos würde dann unmerklich langsam um den Faktor 1,007 wachsen, normale Lebensverhältnisse vorausgesetzt. Die gleichen Wissenschaftler haben auch ausgerechnet, daß wegen des dann entstehenden Geburtenüberschusses vom Normaltyp‐Solaner die SOL in spätestens drei Jahrhunderten entschieden zu klein würde, um all diese Solaner unterbringen zu können. Und relativ zur Gesamtbevölkerung der SOL würden die Buhrlos eine immer kleiner werdende Minderheit werden.
Was sollen wir hier? »Nun?« fragt Hayes. »Was hast du vor? Dies sind die
geheimisvollen Koordinaten von Varnhagher‐Ghynnst, die du aufsuchen sollst. Wir sind am Ziel, jetzt bestimme du, was zu geschehen hat.« »Ich werde mir eine Space‐Jet nehmen«, sage ich, »und damit das
Spoodie‐Feld genauer erkunden.« Der Name Spoodie gefällt mir, er klingt irgendwie heiter. »Wen willst du mitnehmen?« »Bjo vor allem«, antworte ich ohne Zögern. »Wenn dieses Zeug
lebt, wird es wohl Gedanken haben.« Bjo steht in meiner Nähe. Er nickt. »Bis jetzt habe ich nichts erfassen können«, sagt er. »Jedenfalls
nicht von den Spoodies. Und die Gedankenvorgänge bei diesem Raumtang sind so verworren, daß ich nichts Klares erkennen kann.« »Das kann sich ändern, wenn wir näher heran sind«, sage ich. Wir machen uns fertig. Die Space‐Jet steht startklar im Hangar. Bjo
übernimmt die Steuerung. Außerdem ist noch eine Gruppe von sieben Freiwilligen an Bord, Solaner, von denen ich bislang nur den Namen und das Gesicht kenne. Die Sache scheint mir nicht sonderlich gefährlich zu sein, und so habe ich nichts dagegen, sie an Bord zu haben. Die sieben, vier Frauen und drei Männer, machen ein solches Unternehmen zum ersten Mal mit und zeigen sich bemerkenswert ruhig. Die SOL schießt die Space‐Jet aus dem Hangar. Das Spoodie‐Feld mit seinem weißblauen Licht bestrahlt den
Riesenkörper der SOL. Einmal mehr sehe ich, wie gigantisch dieses Schiff ist. Ruhig und massig hängt die SOL im Raum. »Kaum zu glauben, daß wir all das überstanden haben, ohne einen
Teil der SOL zu verlieren«, sagt die Funkerin. Rhana Gernat heißt sie, eine Frau mittleren Alters mit grauen Haaren und flinken, klugen Augen. Ich nicke.
Bjo steuert die Space‐Jet langsam auf das Spoodie‐Feld zu. Verglichen mit dem Feld ist selbst die SOL ein winziges Gebilde,
noch winziger erscheint die Space‐Jet. »Vielleicht ist da drin irgendwo eine Sonne verborgen, oder ein
ganzes Planetensystem«, sagt Thorn Beiden, ein schlanker junger Techniker. »Möglich wäre es«, antworte ich. »Aber die Massetaster haben im
Innern keinen entsprechend großen Körper orten können.« »Vielleicht ist das hier die Sonne, eine ganz neue, unbekannte
Form von Sonne«, setzt er seine Spekulationen fort. »Das Spoodie‐Feld ist in seinem Innern genauso kalt wie außen«,
antworte ich ruhig. Einhundert Kilometer sind nach kosmischen Maßstäben nicht sehr
viel. Von der SOL und von dem Spoodie‐Feld sind wir nun genau gleichweit entfernt. Ich sehe, wie Bjo zusammenzuckt. »Der Raumtang!« ächzt er und greift in die Steuerung. »Er
attackiert uns!« Mein Kopf fährt herum, ich schaue auf den Panoramaschirm. Wie Peitschenschnüre kommen sie herangeschossen, breitlappige
Bänder des Raumtangs. Sie schnellen auf uns zu. Ein harter Schlag geht durch die Space‐Jet, irgendwo kreischt Metall auf. Bjo schiebt den Beschleunigungshebel nach vorn. Die Space‐Jet
entfernt sich von dem Raumtang, aber nur scheinbar. Wir schleifen die Bänder hinter uns her, sie dehnen sich und ziehen weitere Tangtentakel hinter sich her. »Geht es?« frage ich. »Knapp«, sagt Bjo. Er schüttelt den Kopf, als wolle er einen
lästigen Druck loswerden. »Verbindung zur SOL«, rufe ich. »Steht!« antwortet Rhana ruhig. »Monitor vier.« Breckcrown Hayes ist zu sehen. »Können wir helfen?« fragt er gelassen. »Wir können sehen, daß
euch der Tang eingefangen hat.« »Er wird uns nicht bekommen«, stoße ich hervor. Die ganze Zelle
der Space‐Jet ächzt und knirscht. Der Tang hat sich um den Körper gewickelt und zieht und zerrt daran. »Zerschießt die Verbindung zwischen uns und dem Tang«, rufe
ich. »Aber macht schnell – das Zeug gewinnt an Kraft.« Die Geschwindigkeit, mit der wir uns der SOL nähern, wird
immer geringer – als hingen wir an einer langen Gummileine, die sich immer mehr strafft und sich immer weniger dehnen läßt. »Punkt Null!« stößt Bjo hervor. Die Space‐Jet beschleunigt nicht
weiter, obwohl alle Triebwerke mit Vollschub arbeiten. Die SOL ist noch dreißig Kilometer entfernt, noch immer bewegen wir uns auf das Mutterschiff zu, aber mit immer geringer werdender Geschwindigkeit. Das Extrahirn liefert mir knapp die Ergebnisse seiner Kalkulation. Ungefähr sieben Kilometer vor der SOL werden wir gänzlich zum Stillstand kommen, danach wird uns der Tang zu sich heranziehen. »Erschreckt nicht«, ruft Breckcrown Hayes. »Wir zielen knapp
hinter euch.« »Los, fang an damit, das Zeug wird lästig.« Hayes hat kleinere Thermokanonen einsetzen lassen, das müßte
eigentlich genügen. Es genügt nicht. Dort, wo die Strahlen auf den Tang auftreffen, beginnt er grell
aufzuleuchten. Feuerbälle entstehen und gleiten an den Fängen des Raumtangs auf die große Tanghülle zu. Es sieht fast so aus, als würde sich das unheimliche Wesen davon ernähren. »Mehr!« ruft Bjo. Der Tang um die Space‐Jet herum beginnt sich
zusammenzuziehen. Das Knirschen und Ächzen wird immer stärker. Ich sehe, daß einigen an Bord der Angstschweiß auf der Stirn steht. Noch sind alle ruhig und gefaßt, keiner fällt in Panik. Hayes setzt größere Kaliber ein, ergebnislos.
»Hilf uns mit den Traktorstrahlprojektoren!« rufe ich. »Bereits eingeleitet!« erklingt die Stimme des High Sideryt. Ich spüre, wie ein Ruck durch die Space‐Jet geht. Sie macht einen
Satz auf die SOL zu. Der Tang kämpft, um uns festhalten zu können. »Wir schaffen es«, stößte Bjo hervor. »Wir kommen näher.« Die blauweiß bestrahlte Hülle der SOL taucht vor uns auf. Nur
noch zwei oder drei Kilometer, eine lächerlich geringe Entfernung. Dann sehe ich, wie Bjo kreideweiß wird. »Hayes!« schreit er. »Traktor aus, schnell.« Der Ruf kommt zu spät. Ich sehe, wie Bjo mit einem Gewaltmanöver die Space‐Jet
zurückschießen läßt; er gibt alle Kraft auf die Impulstriebwerke, die uns von der SOL fortstoßen sollen. Und auf einem anderen Schirm sehe ich, wie eine ungeheure
schwarzblaue Masse von hinten an uns heranschießt, die Space‐Jet berührt wie ein Sprungbrett und von dort auf die SOL zuschnellt. Hayes hat begriffen und reagiert. Die Space‐Jet zuckt zurück. Die
Beschleunigung ist so stark, daß die Andruckabsorber nicht mitkommen. Das Rettungssystem schießt seine Gurte heraus und fesselt uns an die Sitze, während uns vom Andruck die Luft wegbleibt. In rasender Fahrt entfernt sich die Space‐Jet von der SOL, auf die
sich der gigantische Fangarm des Raumtangs zubewegt. Das Zurückschnellen der Space‐Jet lähmt den Schwung dieses Angriffs, aber er reicht dennoch aus. Während der Andruck wieder normal wird, sehe ich, wie sich die
ersten Fäden des Raumtangs um das Mittelstück der SOL zu schlingen beginnen, und von hinten schieben sich ungeheure Tangmassen heran, um das Schiff vollständig einzuhüllen. Hayes reagiert, wie man es von einem High Sideryt erwarten
kann. Durch die Räume der SOL gellt Alarm, alle Triebwerke werden hochgefahren. Die SOL ruckt an. Wir hängen mit unserer Space‐Jet mitten in dem
Tanggewirr, und wir können hören, wie die Zelle der Space‐Jet zusammengedrückt wird. »Trennung!« ertönt Hayesʹ Kommando. Die SOL teilt sich. Das Mittelstück kämpft mit den Tangmassen,
die wie eine Sturmflut heranbranden, die beiden SOL‐Zellen entfernen sich ungefährdet. Hunderte von Kilometern lange Tentakel schießen den Kugelkörpern nach, können sie aber nicht erreichen. Von der SZ‐1 wird eine Transformbombe abgefeuert. Sie trifft eines der Tangbündel, das nach der SZ‐1 greift. Grellweiß steht der Ball der atomaren Explosion vor dem Schwarz des Weltraums, aber er bewirkt nicht, was sich die Besatzung erhofft hat. Aufgesplittert in Dutzende kleiner weißer Energiebälle wird der anbrandende Energiesturm der Transformbombe über das Netzwerk des Tangs abgeführt und auf weite Bereiche der Oberfläche verteilt. Irisierende Blitze zucken über das Tangnetz. Wir haben jetzt keine Zeit, uns um die SOL zu kümmern. Wir
müssen die eigene Haut retten. »Bjo, versuche durch das Tangnetz durchzustoßen ins eigentliche
Spoodie‐Feld!« Bjo nickt. Die Space‐Jet beschleunigt. Ich wende schnell den Blick.
In den Augen der anderen flackert Todesangst. Ich kann sie verstehen. Eingesperrt in eine winzige Space‐Jet haben sie erleben müssen, wie sich die riesige SOL nur durch Flucht hat retten können. Unerbittlich klammert sich der Tang an uns fest, auch das Mittelstück der SOL hat er im Griff, aber die Maschinen dieses Schiffes sind stark genug, den Zug des Tangs auszugleichen. Wie lange noch? Ich kann sehen, wie die Triebwerke der SOL arbeiten, aber das
Schiff bewegt sich nicht um Haaresbreite. Sind wir nur hierhergekommen, um in einer Todesfalle zugrunde zu gehen? »Achtung!« ruft Bjo. Auf dem Panoramaschirm kommt die Oberfläche des Raumtangs
näher. Noch immer wandern kleine Energiebälle über die
Netzstruktur, leuchten auf und verlöschen wieder. Es ist ein faszinierender Anblick – atemberaubend schön und atemberaubend gefährlich zugleich. Zum Glück sind wir bereits festgeschnallt, sonst hätten wir den
Aufprall schwerlich überstanden. Überall an Bord geht die Einrichtung zu Bruch, als die Space‐Jet mit einer Kante über den Tang schrammt und zu kreiseln beginnt wie ein Diskus. Schreie werden laut. Die Beleuchtung fällt für einige Sekunden
aus, dann setzt die Notbeleuchtung ein. Mattes Licht dringt in die Zentrale der Space‐Jet, ein kühles Blau,
in dem sich unsere bleichen Gesichter sehr sonderbar ausnehmen. Ich sehe als erstes nach dem Raumtang. Er hat sich von uns gelöst, die Fäden schnellen zum Netz zurück.
Ein Blick auf die SOL, sie ist nicht zu sehen. Ich versuche zu begreifen, was sich vor meinen Augen abspielt. Hunderttausende, wenn nicht Millionen von winzigen Körpern
schwirren vor dem Panoramaschirm, eingehüllt in ein sanftes blaues Leuchten. Ab und zu prallt einer dieser Körper gegen die Zelle der Space‐Jet. Es hört sich an wie sanfter Hagelschlag. Bjo läßt die Space‐Jet stoppen. Wenig später steht sie fahrtlos im
Innern des Spoodie‐Schwarms. »Wir sollten eines oder mehrere dieser Dinger an Bord holen«,
schlage ich vor. »Ich fange ein paar in der Schleuse ein«, sagt Bjo. Für ein paar Sekunden öffnet er die Mannschleuse, dann läßt er
die Verschlüsse wieder einrasten. Ich gebe Anweisung, die Raumanzüge anzulegen – wir wollen auf der Hut sein. Die innere Schleusentür ist hermetisch verschlossen. Durch ein
Fenster werfen wir einen ersten Blick auf die Spoodies. Sie liegen zu Tausenden auf dem Boden der Schleuse und
krabbeln durcheinander. Eines sitzt genau auf dem Fenster. Ich sehe es mir genau an. Der Spoodie ist ungefähr zwei Zentimeter lang und etwa fünf
Millimeter dick. Der Körper ist geformt wie ein schlanker Konus, die Farbe ist silbern. Am schmaleren Ende des Spoodies kann ich einen dünnen Augenring erkennen, des weiteren einen Doppelrüssel und einen schmalen Haarkranz. Mit vier winzigen, aber klar erkennbaren Beinpaaren hält sich der Spoodie auf dem Fenster fest. »Ich weiß nicht, ob die Dinger harmlos sind oder nicht«, sagt Bjo,
der neben mir steht. »Kannst du telepathisch etwas erkennen?« frage ich. Bjo schüttelt
den Kopf. »Nichts«, lautet seine knappe Antwort. »Glaubst du wirklich, daß
es diese Dinger sind, um derentwillen wir hierher gekommen sind?« Ich kann es mir auch nicht vorstellen. All die Mühen, Gefahren und Aufregungen – nur wegen ein paar
Billionen winziger Insekten. Gewiß, sie sehen recht hübsch aus, aber das ist kein Grund, die SOL durch den Weltraum zu jagen. Mehr noch – die lange, gefahrvolle Suche nach diesem Ort, die Hetzjagd nach den verlorengegangenen Koordinaten, haben Leben gekostet, das von Solanern und das anderer Geschöpfe. Und das nur, damit wir die silbernen Spoodies bestaunen können? »Wir sollten ein paar davon genauer untersuchen«, schlage ich
vor. Der Vorschlag klingt einfach, aber wie führt man ihn durch? Ich
habe keine Lust, in der Space‐Jet ein paar tausend Spoodies herumwimmeln zu lassen – schließlich ist es auch denkbar, daß sie eine ungeheure Gefahr darstellen. Wir versuchen es mit einem Robot, der sich in die Schleuse wagt
und nach kurzer Zeit zurückkehrt. Auf seiner Oberfläche sitzt ein Dutzend Spoodies. Drei davon packen wir, den Rest vernichten wir mit unseren Waffen. Die wissenschaftlichen Möglichkeiten an Bord der Space‐Jet sind
nicht die besten, wir können nur sehr oberflächlich Untersuchungen durchführen. Aber bereits die ersten Ergebnisse sind ebenso aufschlußreich wie verblüffend.
Sie sehen zwar aus wie kleine Lebewesen, diese Spoodies, aber bei näherer Betrachtung scheinen sie eher eine Art Mikromaschine zu sein – als Bjo versehentlich eines zerbricht, zerfällt es in sehr harte Mikroteilchen, die keinerlei Lebensspuren mehr aufweisen. Gern würde ich mich näher mit diesen seltsamen Wesen befassen, aber dazu fehlt uns die Zeit. Außerdem können wir feststellen, daß der Doppelrüssel der Spoodies aufgeteilt ist in einen Saugrüssel und einen, der ein Sekret absondert, für dessen Untersuchung uns die Mittel fehlen. Wesen, die stechen, saugen und Sekrete absondern, sind mir nicht
gerade geheuer. Wir sperren die Spoodies in einen transparenten Käfig, in dem sie munter herumkrabbeln, dann wenden wir uns anderen Problemen zu. Die Lage sieht nicht besonders günstig aus. Wir stecken mit der Space‐Jet in einem Spoodie‐Schwarm fest.
Wenn wir versuchen, den Raumtang wieder zu durchbrechen, wird er uns mit großer Wahrscheinlichkeit einfangen und zerquetschen. Das Mittelteil der SOL zerrt noch immer am Klammergriff des Tangs und kommt nicht von der Stelle. Was ist in dieser Lage zu tun? Eine echte Chance zum Durchbruch haben wir nur, wenn wir
genügend schnell sind. Aber unser Flug führt mitten durch den Spoodie‐Schwarm hindurch, und unter diesen Bedingungen werden wir nie die Geschwindigkeit erreichen, die wir brauchen. Es führt keine Gedankenmogelei an der harten Erkenntnis vorbei –
wir sitzen fest und wissen uns nicht zu helfen. Das Ziel ist erreicht, aber wir können nichts mehr unternehmen.
9. Tyari sah mich aufmerksam an. Ich nickte langsam. Mit ihr allein besprach ich die seltsamen
Visionen, die mich immer wieder überfielen. Gerade erst hatte ich ein Teil einer solchen Geschichte erfahren – auf eine sehr eigentümliche Weise. Das, was ich sah, hörte und fühlte, wirkte außerordentlich real.
Wäre ich mit einem Fetzen meines Bewußtseins nicht völlig klar geblieben, hätte ich den Unterschied zur Realität nicht bemerken können. So aber saß ich in meiner Kabine, starrte ins Leere und versuchte
mir die Bilder einzuprägen. Sie erfüllten mich mit nicht geringer Sorge. »Was ist es diesmal?« fragte Tyari. Ich wiederholte ihr kurz, was
ich gesehen hatte. Die Fortsetzung der Geschichte drängte in meinem Geist nach vorn. Noch bildete sie den Hintergrund meiner Wahrnehmung, aber ich war sicher, daß sie sich bald in den Vordergrund schieben und erschreckend echt Gestalt annehmen würde. »Ist das alles?« fragte Tyari. Ich schüttelte den Kopf »Es geht weiter«, antwortete ich. »Aber ich
habe jetzt nicht die Zeit, mich damit zu befassen. Wir wollen nach Walgon vorstoßen, das geht vor.« Tyari lächelte. »Woher willst du das wissen?« fragte sie sanft. Ich zuckte mit den
Schultern. Ich kannte mich selbst und meine Möglichkeiten gut genug, um zu
wissen, daß ich nicht im üblichen Sinn halluzinierte. Und eine derartige Prophetengabe hatte sich noch nie zuvor bei mir bemerkbar gemacht. Es gab nur eine plausible Erklärung – die Visionen kamen von außen. Aber woher? Von wem? Und was steckt dahinter? Ich fand beim besten Willen keine Antwort auf diese Frage. Die
raumzeitliche Quelle der Visionen herausfinden zu wollen, hielt ich für wenig sinnvoll – außerdem wäre wenig damit gewonnen gewesen. Wichtiger war, wer sie mir schickte.
Es gab viele Möglichkeiten. Parzelle beispielsweise. Die letzte Vision hatte viel mit meinem Auftrag zu tun. Wollten mir die Kosmokraten mit einem solchen Phantasiebild wichtige Informationen weitergeben, über Art und Umfang dieses Auftrags? KING fiel mir ein, aber es konnten auch die Zyrtonier sein. Ihnen war zuzutrauen, auch wenn ich mir das technisch‐biologisch nicht vorstellen konnte, daß sie meine Erinnerungen anzapften, hochrechneten und mir dann diese Visionen schickten, um mich geistig zu zermürben. Aufmunternd jedenfalls war diese letzte Vision nicht gewesen, eher niederschmetternd. Am Ende meiner langen Fahrt mit der SOL stand ein Feld voll Mikromaschinchen, in dem ich mit Freunden hoffnungslos festsaß. Tyari erinnerte mich an die Möglichkeiten der Lichtquelle, aber
auch in diesem Fall war ich nicht überzeugt. Die Sache blieb überaus rätselhaft. Ein Gedanke beschäftigte mich ganz besonders. Waren diese Visionen Abbilder einer vorweggenommenen
Wirklichkeit, also ein Einblick in meine Zukunft und auch die der SOL? Oder handelte es sich lediglich um Projektionen, geistige Hochrechnungen, Spekulationen? War das, was ich sah und erlebte, die Zukunft – oder nur eine
denkbare Spielart der Zukunft? War das die Zukunft, was dann? Ich erinnerte mich an Ernst Ellert,
den Teletemporarier, der in die Zukunft hatte reisen können – auch er hatte vor dem gleichen Problem gestanden. Konnte ich jetzt munter mit der SOL drauflos fliegen, ohne mir
Sorgen machen zu müssen, nur weil ich wußte, daß ich mit dem Schiff die langersehnten Koordinaten erreichen würde? Auf die Spitze getrieben: Was wurde aus den Visionen, wenn ich
mir eine Waffe nahm, an die Schläfe setzte und abdrückte? Zellaktivator hin, Zellaktivator her – solche Eingriffe in mein Leben verkraftete auch kein Zellaktivator. Was wurde dann aus den Abbildern der Zukunft – in denen ich ja nach wie vor lebte? Es gab eine einfache Lösung für das Problem – ich brauchte die
Visionen nur perfekt aufzuzeichnen und mich dann umzubringen. Ging das daneben, aus welchen Gründen auch immer, dann konnte ich davon ausgehen, daß meine Zukunft wenigstens bis zum Eintritt der Spoodie‐Vision in die Realzeit völlig gesichert war. Ob ich mich von hohen Felsen stürzte, Gift schluckte oder mich kopfüber in Himmelfahrtskommandos stürzte – mir konnte nichts passieren, denn in der Vision war ich noch frisch und munter, und in meinem Visionsgedächtnis war von schweren Verletzungen oder dergleichen nichts enthalten. Klappte der Selbstmord, würden zumindest meine Freunde
wissen, daß es eine solche Möglichkeit der Zukunftsvoraussage nicht gab – natürlich hatte ich keine Lust, das Experiment zu wagen. Auf diese Frage bekam ich also auch keine Antwort. Außer mit
Tyari wollte ich mit niemandem darüber sprechen – nach all den Aufregungen der Vergangenheit waren die Solaner bis obenhin gesättigt mit Problemen, und meinen ganz besonders. Wahrscheinlich hätte ich ihnen damit nur einen handfesten Vorwand geliefert, mich entweder einzusperren und auf meinen Geisteszustand untersuchen zu lassen, oder mich kurzerhand von Bord zu weisen. »Was willst du jetzt tun?« »Erst einmal das erledigen, was mir vordringlich erscheint – den
Vorstoß nach Walgon. Wenn es stimmt, daß die Schockfronten sich auflösen, ist das nicht nur wichtig für die Solaner und mich, sondern für viele Völker in der Namenlosen Zone – und vermutlich auch für viele Systeme außerhalb der Namenlosen Zone. Die meisten Völker, die hier eingesperrt worden sind, neigen nach wie vor zu stark aggressivem Verhalten, um es einmal sehr behutsam auszudrücken. Werden all diese Horden und Raumflotten wieder freigelassen, können sie sich entweder wechselseitig bekriegen – oder sie rotten sich zusammen und überfallen im Verbund friedliche Systeme. Das müssen wir verhindern, wenn wir es können. Und dazu brauchen wir so schnell wie möglich die neuesten Informationen. Im Walgon‐
System werden wir sie bekommen.« Ich stand auf und verließ meine Kabine. In der Zentrale der
Futurboje bestand noch die Konferenzschaltung mit den anderen Schiffen. »Ich schlage vor, daß die drei Vulnurerschiffe vorläufig noch
außerhalb des Systems bleiben. Mit der Futurboje, der MJAILAM und der FARTULOON werden wir in das System eindringen. Außerdem schlage ich vor, daß der Emulator der Vulnurer, Daug‐Enn‐Daug, und Borallu mich an Bord der Futurboje begleiten. Außerdem sollen die Walgonier an Bord kommen. Ihr Schiff können wir mitnehmen, in einem der MJAILAM‐Hangars.« Die Kommandanten waren damit einverstanden. Nach kurzer Zeit
trafen die beiden Vulnurer an Bord der Futurboje ein, wenig später erschienen die Walgonier. Als sie die Vulnurer sahen, blieben sie wie angewurzelt stehen. »Das ist es«, flüsterte Daan‐Bar. Er deutete auf die Vulnurer. »Sie
bewirken es, kein Zweifel, es ist ihr Einfluß.« »Wovon redest du?« fragte ich. Daan‐Bar schien Mühe zu haben, seine Gedanken zu ordnen. Er
holte tief Luft. Ich sah, daß sein Emotionsgesicht von Respekt, fast schon Ehrfurcht gezeichnet war. »Die Wirkung der Vulnurer auf mich«, stieß er hervor. »Es ist das
gleiche wie bei der Paudenc‐Katharsis, allerdings ein wenig schwächer.« Daug‐Enn‐Daug und Borallu wirkten ein wenig erstaunt, während
in mir der Verdacht aufstieg, daß es vor allem das Erscheinen der Vulnurer als gestaltender positiver Kraft zuzuschreiben war, daß die Schockfronten brüchig wurden. Wenn das stimmte, hatten wir beim Vorstoß ins Walgon‐System eine hervorragende Trumpfkarte in der Hinterhand. »Fliegen wir los«, bestimmte ich. Die Vulnurerschiffe blieben zurück, als die drei anderen Einheiten
beschleunigten.
Das Ziel unseres Anflugs war klar; es war jener Fleck am Rand des Walgon‐Systems, an dem der Hyperfunkverkehr und andere Hyperimpulse das System besonders leicht zu verlassen schienen. Dort war höchstwahrscheinlich die systemumspannende Schockfront besonders dünn, vermutlich handelte es sich bei diesem Gebiet um den Walgonschatten auf der Oberfläche der Schockfront. Ich sah, daß die beiden Walgonier sehr aufgeregt wurden, als wir
uns der Eindringstelle näherten. Wenig später entspannten sich ihre Gesichter, wir hatten die Schockfront durchdrungen, ohne etwas davon gespürt zu haben. Im nächsten Augenblick aber gellte der Alarm durch alle Räume. Die Raumflotte der Walgonier war nicht faul gewesen. Zwanzig
Schiffe lauerten unmittelbar hinter der Schwachstelle des Systems, außerdem wimmelte der Raum von Treibminen. Ich preßte die Lippen aufeinander. »Trennen!« bestimmte ich. Unsere Schiffe schwärmten auseinander. Die Futurboje hielt sich
näher an der MJAILAM, während die FARTULOON einen Kurs flog, der sie weit von uns entfernte. Eine der Treibminen berührte uns. Auf dem Monitor konnte ich
sehen, wie der Energiefaden unseren Schutzschirm berührte, sich zusammenzog und die Treibmine bis dicht an unser Schirmfeld brachte. Die darauf folgende Detonation entlockte den beiden Walgoniern einen leisen Schrei des Erschreckens, der Mann, der die Belastung des Schirmfelds überwachte, verzog nur die Lippen. »Keine Gefahr, wenn sie nicht in ganzen Bündeln auftreten.« Ich nickte zufrieden. »Wir räumen auf alle Fälle eine Gasse frei, wer weiß, wozu wir sie
brauchen können.« Vor allem konnten wir damit den Walgoniern einen gehörigen
Schock versetzen. Eine der Minen nach der anderen ging hoch, aber unbeirrt setzten unsere Schiffe ihren Flug fort. Eine tiefe, schmale Bresche schlugen wir in das Minenfeld. Um die Wirkung zu
vergrößern, fächerten wir unsere Schirmfelder weiter auseinander, dadurch vergrößerte sich die Zahl der Minen, die gezündet wurden. Die FARTULOON hatte das Minenfeld bereits passiert. Die
Walgonschiffe, die sich im Walgon‐Schatten recht langsam und behutsam bewegten, wurden nun schneller und aggressiver. Sie begannen die FARTULOON zu jagen. Natürlich hatten wir den Raumjäger der Walgonier kurz
untersucht. Der Stand der walgonischen Technik entsprach ungefähr dem, was wir von der SOL kannten. Allerdings hatten wir wenig über die Geschütze der walgonischen Schiffe erfahren können, und so sah ich diese Verfolgungsjagd mit einiger Besorgnis. Die FARTULOON zeigte sich von der Jagd wenig beeindruckt. Die
ersten Treffer in ihre Schirmfelder steckte sie klaglos weg und änderte ihren Kurs nicht um Haaresbreite. Ich sah hinüber zu Daan‐Bar. Er mußte sich in der Waffentechnik
seines Volkes einigermaßen auskennen. Seine Gesichter zeigten, daß er sehr gespannt war und auch ein wenig erschrocken, als die Wirkung der Schießerei ausblieb. Ich erlaubte mir ein Lächeln. Offenbar brauchten wir mit unserer
Defensivbewaffnung die Kanonen der Walgonier nicht zu fürchten. Dennoch galt es, vorsichtig zu sein – es konnte Überraschungen geben, von denen weder wir noch Daan‐Bar etwas ahnten. Eine dieser Überraschungen ließ nicht lange auf sich warten. Eine
zweite Flotte der Walgonier erschien, offenkundig mit dem einzigen Auftrag, die Flucht aus dem System unmöglich zu machen. Daß sie uns tatsächlich hindern konnten, brauchten die Walgonier
nicht zu wissen. Für uns reichte als Hindernis aus, daß wir uns den Fluchtweg hätten rücksichtslos freischießen müssen – solche Handlungen kamen für uns nicht in Frage. Und so spürte ich ein Unbehagen, als ich sah, wie die dreißig Schiffe starke Flotte die Einbruchstelle abzuriegeln begann und Schwärme von positronisch gesteuerten Raumtorpedos aussetzte, die in der Nähe der Eindringstelle ihre Kreise zogen und auf Beute warteten. Wenn zwei
oder drei dieser Torpedos gleichzeitig in unsere Schirmfelder einschlugen, war es mehr als fraglich, ob die Schutzschirme dem gewachsen waren. »Ihr weicht einem Kampf aus?« fragte Daan‐Bar. »Wir verabscheuen Blutvergießen«, erklärte ich ihm. »Wenn wir
kämpfen, dann nur, wenn wir unausweichlich dazu gezwungen werden.« »Hm«, machte Daan‐Bar zweifelnd. »Wo können wir den Emulator eures Volkes finden?« fragte ich
den Walgonier. »Wenn er sich nicht abgesetzt hat, auf Walgon II, dem äußeren
Planeten.« Die Walgonier arbeiteten uns in die Hand. Sie hatten wohl vor,
uns nicht sofort zu vernichten, sondern erst einmal gefangenzunehmen und zu befragen. Ihre Manöver deuteten darauf hin, daß sie uns zu einem ganz bestimmten Ort abdrängen wollten. Auf den Funkfrequenzen der Walgonier herrschte ziemliches
Durcheinander. Offenbar war die gesamte Flotte in Marsch gesetzt worden, ein Vorgang, der in der jüngeren Geschichte des Systems kein Vorbild hatte. »Kannst du etwas spüren?« fragte ich Daug‐Enn‐Daug. Der
Emulator der Vulnurer machte eine Geste des Zweifels. »Nichts Genaues«, antwortete er. »Ein großer Teil der Walgonier
scheint mir recht aggressiv zu sein, aber ich habe auch den Eindruck, als hätten sie nicht mehr sehr viel Erfahrung im Umgang mit ihren Waffen.« »Das stimmt«, warf Daan‐Bar ein. »Da es keinen greifbaren Feind
gibt, den man bekämpfen könnte, ist der Dienst in der Flotte nicht sehr beliebt.« »Das soll uns nur recht sein«, sagte Tyari. Sie lächelte mir
ermutigend zu. Sehr stark war die Flotte der Walgonier nicht, obendrein hatten
ihre Kommandanten keine Kampferfahrung. Vielleicht waren sie
noch nie gezwungen gewesen, die Leistungsfähigkeit ihrer Schiffskonstruktionen voll auszuloten. Die Haken, die die FARTULOON schlug, setzten die Walgonier
immer wieder in Staunen, auch wir schafften es immer wieder, unseren lästigen Verfolgern zu entgehen, obwohl sich deren Zahl immer mehr vergrößerte. Aus allen Winkeln des Systems kamen Schiffe herangejagt, um sich an der Jagd zu beteiligen. Wir hatten inzwischen die Umlaufbahn des äußeren Planeten
erreicht und näherten uns der kürzesten Flugroute zwischen den beiden Planeten. Dort rief unser Erscheinen beinahe eine Panik hervor. Die Besatzungen der harmlosen Fähr‐ und Transportschiffe hatten Angst, in einen Konflikt verwickelt zu werden, und versuchten, außer Reichweite zu kommen. In ihrem Bemühen, nicht in das erwartete Gefecht hineingezogen zu werden, landeten sie nicht selten genau auf den Routen der Kriegsschiffe. Das Fluchen der Kommandanten klang aus den Lautsprechern. Ich sah, daß Daan‐Bars Emotionsgesicht einen Anflug von Scham
zeigte. Wahrscheinlich genierte er sich, daß wir mit der stolzen Walgon‐Flotte derart Katz und Maus spielten. Die FARTULOON hatte es besonders schwierig. Sie wurde
hartnäckig verfolgt, und da die FARTULOON natürlich nicht daran dachte, sich den Weg durch die aufgescheuchten Frachtraumer freizuschießen, mußte sie verzögern und Ausweichmanöver fliegen, die sie immer näher an die Geschütze der Walgonier heranbrachten. Den größten Teil der Treffer konnten die Schirmfelder wohl verkraften, aber einen konzentrierten Beschuß aus allen Einheiten hätte das Schiff wohl schwerlich überstanden. »Wenn sie euch zur Landung zwingen wollen, laßt es zu«,
bestimmte ich über Funk. Auch uns versuchte man abzudrängen, auf den äußeren Planeten
zu. Da wir dort Ziir‐Tinc, den Emulator der Walgonier, vermuteten, hatten wir nichts dagegen. Wenn wir Kontakt mit ihm aufnehmen wollten, mußten wir ohnehin landen.
Walgon II kam näher. Es war eine hübsche Welt, die allerdings im Näherkommen Anzeichen städtebaulicher Barbarei zeigte – Städte, die wie vom Reißbrett in die Wirklichkeit gesprungen aussahen, erschreckend logisch und zweckdienlich entworfen, ohne das geringste Bemühen um ästhetische Kriterien. Auch die Landschaft zeigte eine Ordnungsstruktur, die wegen ihrer deutlich erkennbaren Regelmäßigkeit erschreckend wirkte. So konnten wir aus der Luft erkennen, daß weite Gebiete offenbar zu Monokulturen verurteilt waren, mit den entsprechenden Verarbeitungsanlagen an den Rändern der riesigen Areale, die jeweils nur mit einer Nutzpflanze bewachsen waren. Die Wasserläufe waren stark begradigt und größtenteils regelrecht einbetoniert. Zweckdienlichkeit schien das Prinzip zu sein, nach dem das Leben
auf den Walgon‐Planeten eingerichtet worden war. Daß Wohnmaschinen und andere menschenfeindliche städtebaulichen Prinzipien, Gewalttätigkeit geradezu herausforderten, hatte sich bei den Walgoniern noch nicht herumgesprochen. Auf der Erde hatten Fachleute schon vor Jahrtausenden erkannt, daß die Zahl jugendlicher Straftäter signifikant mit der Größe und Höhe der jeweiligen Wohnblocks korrelierte. »Das dort ist die Hauptstadt!« rief Ollon‐Tur aus und deutete auf
die größte der Häuseransammlungen. »Werden wir dort Ziir‐Tinc finden?« fragte ich. »Dort am ehesten«, antwortete Daan‐Bar. »Dann landen wir dort!« entschied ich. Ein kurzer Funkspruch
von der FARTULOON informierte mich darüber, daß dort das gleiche Manöver eingeleitet wurde. Auch die FARTULOON suchte sich einen Landeplatz in unmittelbarer Nähe der planetaren Hauptstadt. Langsam gingen wir tiefer. Die Flotte der Walgonier setzte uns nach. Ab und zu trafen noch
Schüsse unsere Schirmfelder, aber der Beschuß wurde schwächer, je tiefer wir sanken. Offenbar waren die Walgonier nicht so skrupellos,
ihre eigene Hauptstadtbevölkerung in Gefahr zu bringen. Mit schwachen Geschützen konnten sie uns nach wie vor bestreichen, ohne damit etwas erreichen zu können. Starke Geschütze einzusetzen, verbot sich inzwischen von selbst – hätten unsere beiden Schiffe tatsächlich einen Wirkungstreffer abbekommen, hätte eine nachfolgende Detonation der Reaktoren die gesamte Stadt in Schutt und Asche gelegt. Das wollten die Walgonier nicht riskieren. Wir kamen bei diesem makabren Spiel moralisch nicht besser weg
als die Walgonier – immerhin waren wir es, die gleichsam die Bewohner der Hauptstadt als Geiseln benutzten. Angesichts der Tatsache, daß man uns ohne jeglichen Kontaktversuch sofort angegriffen hatte, zögerte ich nicht, zu diesem Mittel zu greifen. Im Ernstfall, das stand von vorneherein fest, würden wir uns lieber auf Gedeih und Verderb ergeben, als die Walgonier in der Stadt in ernsthafte Gefahr zu bringen. Die MJAILAM und die Futurboje berührten den Boden des
Planeten und kamen zur Ruhe. Wie eine Traube hing die Flotte der Walgonier über uns. Ein Teil
der Schiffe ging in einen Parkorbit, der Rest setzte ebenfalls zur Landung an. Damit war die zweite Runde des Spiels eröffnet. Ich beschloß, den Walgoniern Zeit zu geben, sich eine Strategie auszudenken.
10. VISION: »SPOODIES« Langsam treibt die Space‐Jet durch das Gewimmel der Spoodies.
Um uns herum ist das kalte blaue Leuchten, das dieses Feld kennzeichnet. Bei der riesenhaften Ausdehnung des ganzen Feldes ist nicht zu hoffen, daß wir darin etwas finden, was man als einen Planeten ansehen könnte. Unser Ziel ist es, ein Stück durch diesen Spoodie‐Schwarm zu treiben und an einer anderen Stelle aus dem
Schwarm wieder hervorzubrechen, nach Möglichkeit dort, wo dieser widerliche Raumtang nicht auf einen solchen Durchbruch vorbereitet ist. Mehr können wir im Augenblick nicht tun. Die Stimmung an Bord ist gespannt. Von der SOL ist natürlich
nichts zu sehen und wegen des energetischen Leuchtens auch nichts mehr zu orten. Während wir durch einen Kosmos aus Spoodies driften, kann das Mittelstück der SOL, nur wenige tausend Kilometer entfernt, seinem Ende entgegengehen. Ich sehe mir die Mitglieder der Besatzung an. Ihre Gesichter
zeigen Beherrschtheit, mühsam gewahrt. Sie haben Angst, wen wundert das. Einzig Bjo zeigt einen Ausdruck unerschütterlicher Ruhe. Seine schräggestellten Augen blicken gelassen auf die Kontrollen, während er die Space‐Jet durch den Spoodie‐Wirbel steuert. Währenddessen sind zwei unserer Begleiter dabei, sich weiter um
die Spoodies zu kümmern. Zu irgend etwas müssen diese seltsamen Geschöpfe nützlich sein – ich kann mir nicht vorstellen, daß der ganze Auftrag der Kosmokraten, diese Koordinaten betreffend, nur darin bestehen soll, daß wir die Spoodies nur anstaunen. Sie müssen eine Funktion haben, eine Funktion, die dem Rang der Kosmokraten und der Wichtigkeit meines Auftrags entspricht. Bjos Augen, gerade noch halb geschlossen, öffnen sich. Er hat
jenen Blick, den er stets aufsetzt, wenn er mit seinen Psi‐Fähigkeiten etwas im Weltraum orten oder erkennen kann. »Aus!« Ich drehe mich um. »Was gibt es?« frage ich. Korn Hander kratzt sich heftig den Schädel. »Das Biest ist mir entwischt, und jetzt hat es mich gestochen.« Ich bin sofort alarmiert. Es gibt zwei Möglichkeiten – entweder
sind diese Spoodies ungeheuer nützlich, oder sie bedeuten eine große Gefahr.
»Warum hast du deinen Raumanzug geöffnet?« frage ich scharf. »Ohne Pfeife kann ich nicht arbeiten, und im Anzug ist schlecht
qualmen.« »Das ist kein Grund, elementare Sicherheitsvorkehrungen zu
vernachlässigen! Zeig her, vielleicht können wir den Spoodie finden.« Er kommt zu mir, neigt den Kopf und hält mir seine bräunlichen
Wuschelhaare hin. »Wo hat es dich gebissen?« »Hier«, sagt er und deutet auf eine bestimmte Stelle des Kopfes.
Vorsichtig streiche ich die Haare auseinander. Ein Fluch entfährt mir. »Was kannst du sehen?« fragt Korn. »Der Spoodie hat dich nicht nur gebissen. Er hat deine Kopfhaut
ein Stück aufgeschlitzt und sitzt jetzt unter der Haut. Ich werde versuchen, ihn zu entfernen.« »Tu das nicht«, sagt Korn und entzieht mir den Kopf. »Das Vieh wird dich möglicherweise umbringen«, sage ich scharf.
Korn sieht mich überlegen lächelnd an. »Das wird er nicht tun«, antwortet er mir. »Ich weiß es.« Meine Besorgnis steigt. Sondert der Spoodie etwa eine
Rauschdroge ab, ein Halluzinogen oder ein Mittel, das seine Wirte gefügig macht? Ich bin jetzt sehr sicher, daß es sich bei den Spoodies um Parasiten handelt, um Schmarotzer, die sich vom Blut des Wirtes ernähren. »Ich werde den Spoodie entfernen«, sage ich energisch. »Wir
dürfen kein Risiko eingehen.« Korn schüttelt den Kopf. »Er tut mir gut, ich spüre es. Als hätte ich ein paar Stunden
unglaublich gut und tief geschlafen.« Die anderen drängen sich heran, lauschen der Unterhaltung.
Durch die Frontscheiben der Helme kann ich die Gesichter sehen. Auch die anderen sind sehr besorgt.
»Korn, spiel nicht verrückt. Laß dir das Ding entfernen, bevor es zu spät ist. Selbst wenn du jetzt den Eindruck hast, als ginge es dir besser, kann das eine Täuschung sein. Und wenn du recht haben solltest, bekommst du einen neuen Spoodie.« Ich habe natürlich überhaupt nicht vor, ihm einen neuen Spoodie
zu geben, wenn der alte erst einmal entfernt ist. Das Ding wirkt auf die Psyche, das ist offensichtlich. Korn weigert sich mit einer unbegreiflichen Halsstarrigkeit – wie ein Süchtiger, dem man die Droge wegnehmen will, und der selbstverständlich jede Menge Ausreden parat hat, warum er von der Droge nicht lassen kann. »Atlan!« erklingt Bjos Stimme vom Pilotensitz. »Ich habe etwas
gefunden.« »Kümmert ihr euch um Korn, ich will sehen, was Bjo entdeckt
hat.« Ich gehe zu Bjo hinüber. Er deutet auf den Panoramaschirm. »Sieh selbst. Dort drüben!« »Geh näher heran«, bestimme ich. Ein Gebilde schält sich aus dem
Wirrwarr des Spoodie‐Strudels. Es sieht aus wie ein menschlicher Körper. Ein Opfer der Spoodies? »Wir nehmen ihn an Bord«, bestimme ich. »Beeilt euch!« Wenig später ist der Tote aufgefischt. Er muß tot sein, denn er
trägt im freien Raum keinen Anzug. Robots schaffen die Spoodies aus der Schleuse und nehmen den Körper an Bord. Vorsichtig wird die Schleuse geöffnet. Ich gehe im Raumanzug hinüber zu dem Körper, sehe ihn an –
und pralle zurück. Es ist mein eigenes Gesicht, das ich ansehe. Meine Züge, wenn
auch kantig und verzerrt, aber die wesentlichen Merkmale stimmen. Der Körper ist größer als meiner, und er sieht aus, als hätten die Spoodies bereits an ihm genagt. Noch bevor ich mich von meinem Schreck erholt habe, richtet sich
der Leichnam auf. In den Augenhöhlen erkenne ich zwei Spoodies, die mich anglänzen.
»Festhalten!« rufe ich, aber der Fremde hat sich in Bewegung gesetzt. Ohne mich zu beachten, spaziert er in die Zentrale der Space‐Jet. Wer ihn aufzuhalten versucht, wird einfach zur Seite gedrückt. Der Fremde baut sich neben Bjo auf. Er spricht kein Wort, aber er zeigt mit Gesten, was er beabsichtigt. Die Space‐Jet soll Fahrt aufnehmen. Bjo sieht mich an. Unsere Lage
ist verzweifelt, und der Fremde scheint zu wissen, wie er handeln muß. »Folge seinen Anweisungen!« Bjo nickt und gehorcht. Mit einer weit ausholenden
Handbewegung teilt der Fremde den Spoodie‐Schwarm vor uns – die Spoodies schwirren auseinander, die Bahn ist frei. Hinter mir werden Rufe der Verblüffung laut. Bjo beschleunigt die Space‐Jet, während der Fremde vor uns einen Kanal in den Spoodie‐Schwarm zeichnet. So schnell wir auch fliegen – der Kanal ist offen. Dann erreichen wir die Ummantelung. Die Spoodies flitzen
auseinander, das häßliche Netz des Raumtangs beginnt sich vor uns zusammenzuziehen. Längst weiß ich, daß dieser Raumtang ein Lebewesen ist – es scheint uns gespürt zu haben und trifft seine Maßnahmen. Gerade noch rechtzeitig schlüpfen wir hindurch. Tangtentakel
greifen nach uns, schlängeln aber an uns vorbei. Bjo beschleunigt mit Werten, die die Space‐Jet bis zum äußersten belasten. Ich weiß, daß er der einzige ist, der das kann. Seine Wahrnehmung ist unglaublich feinnervig, zudem ist er das reaktionsschnellste Lebewesen, das ich kenne. Der Fremde deutet an, wie er den weiteren Kurs haben will. Bjo
folgt seinen Anweisungen. Der Kurs führt zum Mittelteil der SOL. Wir stoßen Laute des Entsetzens aus, als wir das Schiff sehen. Das
Mittelteil ist nahezu vollständig von Raumtang bedeckt, jedenfalls die gesamte Vorderseite. Bjo schlägt auf Anweisung des Fremden einen Haken und nähert sich dem Mittelteil von hinten.
Dieser Anblick schreckt mich noch mehr – ein Schwarm von Beibooten ist dabei, die SOL zu verlassen. Ich stelle eine Funkverbindung her. Breckcrown Hayes erscheint
auf dem Schirm. »Du läßt die SOL evakuieren?« Er nickt. »Frauen und Kinder gehen von Bord. Der Raumtang hat ein paar
Türen geknackt und erobert das Schiff, Abschnitt für Abschnitt. Wir kämpfen gegen ihn an, aber wir haben bisher noch kein Mittel gefunden. Und wer ist das?« Ich zucke die Schultern. »Jemand, den wir aufgefischt haben«, sage ich. Hayes betrachtet
eine Zeitlang die Bewegungen des Fremden. »Sieht eher aus, als habe er euch aufgefischt«, sagt er trocken. Von
diesem Augenblick an hat der Fremde einen Namen – Fischer. »Wir kommen an Bord«, sage ich. »Einverstanden«, sagt Hayes. Neben ihm taucht ein vertrautes
Gesicht auf – Hallam Blake. »Noch an Bord?« frage ich. »Wir werden es schaffen«, sagt Hallam grinsend. »Mein Bauch
meint das auch.« Ich grinse. Hallams übersensibler Magen, der auf
unheilverkündende Anzeichen mit Krämpfen reagiert, ist einmal von einem Bordwissenschaftler als parahyperultrasensibler Psi Ulcus bezeichnet worden. Weit im Hintergrund kann ich jetzt die beiden Kugelsegmente der
SOL erkennen. Von dort schwirrt eine Meute Beiboote heran. Ich vermute, daß sie Männer, Waffen und Roboter heranschaffen. Ich ahne, daß wir entweder die SOL retten oder das Mittelteil der
SOL und Breckcrown Hayes verlieren werden. Nie und nimmer wird er von Bord gehen. Er wird sich in seiner Klause einschließen, aus der wir ihn nicht werden herausholen können – der Raumtang wird es dann tun. Hayes wird bis zum äußersten seiner Kräfte um
die SOL kämpfen – aufgeben wird er sie nur zusammen mit seinem Leben. Ein Mann und sein Schiff – beide einzig in ihrer Art. »Wir stoßen zu euch«, sage ich. Bjo steuert die Space‐Jet auf einen
Hangar zu. Katastrophenstimmung. Aus den Lautsprechern können wir ab
und zu Seufzer und Schluchzer hören. Für die Solaner ist dieser Exodus gleichbedeutend mit dem Untergang eines Kontinents auf der Erde. Dennoch vollzieht sich das Manöver mit größter Präzision. Wir landen in einem der Hangars. Das Schleusenkommando treibt
uns zur Eile, das Schiff wird sofort mit Frauen und Kindern bemannt und wieder auf die Reise geschickt. Auf dem Rückflug wird es Männer von einer der SOL‐Zellen mitbringen, wahrscheinlich auch eine ganze Anzahl Frauen, die sich seit langem das Vorrecht, für ihre Sache kämpfen zu können, nicht mehr nehmen lassen. Eine junge Frau geht an mir vorbei, den Strahler lässig geschultert.
Ich werfe einen kurzen Blick in ihr Gesicht. Das ist kein überschäumender Patriotismus, kein Heldenehrgeiz, der sich in diesen Zügen spiegelt – es ist die klare Entschlossenheit eines intelligenten und mutigen Menschen, sich nicht unterkriegen zu lassen, von nichts und niemandem. Ich suche Hayes in der Zentrale auf. Der Panoramaschirm zeigt
jetzt nicht mehr den Weltraum – er zeigt einen Schnitt durch das Mittelstück der SOL. Schwarzschraffiert sind die Gebiete, die der Raumtang bereits hat erobern können. Außerdem ist eine Außenaufnahme zu erkennen – sie zeigt, wie sich der Raumtang langsam an der Hülle vorbeiarbeitet, um die SOL auch von hinten angreifen zu können. Hayes deutet gelassen auf eine bestimmte Sektion der SOL. »Wenn er hier vordringt, können wir einpacken«, sagt der High
Sideryt. »Unsere Maschinen laufen noch immer mit Vollast, um den Zug auszugleichen. Und dort werden sie bedroht – gelingt es dem Raumtang, unseren Antrieb lahmzulegen …«
Hayes macht ein schlürfendes Geräusch. Ich habe es oft gehört, abends in der Bretagne, wenn die Fischer die frisch gefangenen bretonischen Austern aus der Schale schlürfen. Fischer steht neben uns und sieht sich das Diagramm an. Er sieht
bei Licht befrachtet reichlich scheußlich aus. »Noch etwas«, sagt Hayes und sieht mich an. »Der Raumtang
scheint dich zu kennen.« »Mich?« »Er bildet immer wieder Figuren aus, die dich nachformen,
ziemlich schlecht, wie ich zugeben muß, aber durchaus ähnlich. Natürlich fallen unsere Leute auf schwarzgrüne Atlans nicht herein, aber fröhlich stimmt sie dieser Anblick nicht. Sie haben deinen Nachbildungen auch einen Spitznamen verpaßt – Hallu‐Atlan.« »Sehr witzig«, sage ich. »Als erstes möchte ich die Montur
loswerden.« Ich streife den Raumanzug ab. Fischer wendet einen Augenblick
lang den Kopf und sieht uns an. In seinem holzschnittartigen Gesicht bewegt sich nichts. Was ist das für ein Ding? Ein Mensch, ein Robot, irgend etwas? »Nimm ihn mit, vielleicht kann er nützen«, sagt Hayes. Hallam
Blake taucht neben ihm auf, er lächelt schwach. »Ich hoffe, du schaffst es wieder einmal«, sagt er leise. »Meine
Familie wird es dir danken.« »Wieviel Häupter zählt sie inzwischen?« frage ich, während ich
den Anzug in eine Ecke schiebe. »Fünf«, sagt Hallam. »Das sechste ist unterwegs. Hoffentlich
wieder ein Mädchen.« »Die Knaben, die jetzt in den Windeln liegen, werden es dir zu
danken wissen«, gebe ich zurück. »Du kennst meine Töchter nicht«, antwortet Hallam grinsend.
»Die Männer, die sich um sie bemühen, werden es verflucht schwer haben.« Keine dreißig Sekunden dauert der kurze Dialog, dann hat uns die
Wirklichkeit im Griff. Auf den Gängen werden Verletzte vorbeigetragen. Es hat auch schon Tote gegeben. Ich greife mir eine Waffe, sehe Hallam an. Auch er hält eine
langläufige Waffe in der Hand. Außerdem hat er einen Strahler an der Hüfte. »Gehen wir!« Wir verlassen die Zentrale. Der Antigravlift und die Laufbänder
bringen uns näher an die Orte, an denen der Kampf zwischen dem Raumtang und den Solanern tobt. Mit stampfenden Schritten marschieren Kampfrobots an uns
vorbei. Hayes wirft alles ins Gefecht, was die SOL nur hergeben kann. Wir erreichen eine Sektion, die vom Raumtang gesäubert worden
ist. Zerbrochene Waffen liegen herum, dazwischen ein halbes Dutzend Roboter, total zerstört. Der Raumtang ist ein hartnäckiger Gegner, der ununterbrochen Nachschub an die Front werfen kann. Vor einem Schott bleiben wir stehen. Dahinter ist Lärmen zu
hören, das Zischen von Schüssen, das heisere Rufen von Männern, ab und zu die hellere Stimme einer Frau dazwischen. Ich öffne das Schott. Sofort schießen die ersten Fäden des Raumtangs auf uns zu. Ich reiße die Waffe hoch und feuere. Sonnenheiße Glut peitscht
den Fäden entgegen und verschmort sie, aber der größte Teil der Waffenenergie wird von den Fäden absorbiert, über vielfältige Kanäle weitergeleitet und rast als energetische Verstärkung zurück in das Hauptnetz des Tangs. Die vordersten Fäden können wir damit zerstören, aber gleichzeitig stärken wir alles, was noch auf uns zu brandet. Es scheint ein hoffnungsloser Kampf zu sein. Vor uns schreit ein Mann, schrill und laut. Ich sehe eine Frau, die
ihre Waffe fallen läßt, das Vibratormesser aus dem Gürtel reißt und nach vorn stürzt. Wild und verbissen hackt sie auf das Tanggestrüpp ein. Zertrennt fallen die Einzelstränge auf den Boden und beginnen davon zu kriechen.
Auch ich lege die Energiewaffe beiseite und greife nach dem Vibratormesser. Neben der Frau versuche ich, den umschlungenen Mann freizukämpfen. Es gelingt uns, aber als er endlich frei ist, bricht er besinnungslos zusammen. »Bring ihn zum nächsten Arzt«, sagt die Frau und streicht sich die
schweißnassen Haare aus der Stirn. »Beeile dich.« »Ich bleibe hier«, sage ich. Die Frau wendet sich kurz um. »In deinem Alter?« fragt sie, dann erkennt sie meine Augen.
Offenbar hat sie mich wegen meiner weißen Haare für einen Greis gehalten. Sie lacht kurz. Mit Einzelschüssen zerstöre ich die abgetrennten Fäden des
Raumtangs. Sie vergehen – und sie können die Energie nicht mehr ableiten an das Muttergeflecht. Gibt uns das eine Chance? Eine Hand legt sich auf meine Schulter. Ich fahre herum. Fischer
sieht mich an. Das Gesicht beginnt zu zerbröckeln. Die Spoodies lösen sich aus
den Augenhöhlen, einer fliegt genau auf mich zu. Ich schlage ihn mit der Hand aus der Luft. Es hilft nichts. Fischer zerfällt. Aus der menschenähnlichen Gestalt wird ein Schwarm von
Spoodies, die über uns herfallen. Verzweifelt versuche ich, den Angriff abzuwehren, aber es sind zu viele. Die Frau schreit auf. Im Innern Fischers beginnt es zu leuchten. Allmählich schält sich
seine wahre Gestalt heraus. Eine dreißig Zentimeter dicke Stange, knapp zweieinhalb Meter
hoch, mit verschiedenen Öffnungen und Tentakeln. Eines der Tentakel berührt einen Strang des Raumtangs, der weiß aufleuchtet und als Asche auf den Boden fällt. Um mich herum schreien die Menschen. Auch ich kann ein
Stöhnen nicht unterdrücken. Ich spüre, wie sich der Spoodie unter meine Haut schiebt, über meinem Gehirn.
Im gleichen Augenblick weiß ich alles, was ich über die Spoodies wissen muß. Sie saugen tatsächlich Blut aus den Körpern ihrer Wirte – aber sie
bezahlen dafür, überaus ehrlich. Das Drüsensekret, das sie absondern, hat, je nach Träger, stimulierende Effekte. Es macht stärker und intelligenter, stärkt die Leistungsfähigkeit in jeder Hinsicht. Das ist meine Mission. Ich weiß jetzt, was zu tun ist. Wir werden den Raumtang verjagen. Er gehört nicht zum
Spoodie‐Feld, er stammt von einem unheimlichen Gegner, dessen Name mir in diesem Augenblick bewußt wird – Seth‐Apophis. Mit Hilfe der Spoodies werden wir diesen Raumtang bezwingen.
Wir werden eine große Ladung der Spoodies an Bord nehmen. Sie werden, wie ich, im Auftrag der Kosmokraten ihre Arbeit tun. Und ich weiß, daß der Kern dieser Arbeit noch vor mir liegt.
ENDE Bei den Walgoniern, einem in die Namenlose Zone verbannten Volk, ist die Auseinandersetzung zwischen den Kräften des Negativen und oppositionellen Kräften des Positiven voll entbrannt. Der Kampf ist sozusagen ein Zweikampf der Welten – und ein Duell um den Frieden … DUELL UM DEN FRIEDEN – das ist auch der Titel des Atlan‐Bandes 671. Der Roman wurde ebenfalls von Peter Terrid geschrieben.