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Das Zeitalter der Technik erfindet seine Formen selbst Technik und Bau im Spannungsverhältnis von Entwurf und Konstruktion. Vergleichende Auswertung von technischen Zeichnungen zum Brückenbau des 19. und frühen 20. Jahrhunderts im Archiv des Deutschen Museums Christian Burchard PREPRINT NR. 1

Das Zeitalter der Technik erfindet seine Formen selbst · Technikgeschichte 61 (1994), S. 330. 2 Mayring, Eva. A.: Technische Zeichnung zwischen Entwurf und Konstruktion. In: Archiv

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Das Zeitalter der Technik erfindet seine Formen selbst

Technik und Bau im Spannungsverhältnis von Entwurf und Konstruktion. Vergleichende Auswertung von technischen Zeichnungen zum Brückenbau des

19. und frühen 20. Jahrhunderts im Archiv des Deutschen Museums

Christian Burchard

PREPRINT NR. 1

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Technische Zeichnungen sind Ausdruck der gedanklichen Schritte des Ingenieurs bei der Visualisierung eines zunächst noch virtuellen Gegenstandes.1 Als visuelle Quelle spiegeln die technischen Zeichnungen „den Werkprozess wider vom kreativen Moment der Ideenskizze über die Ansichtszeichnung für das gesamte Projekt bis hin zur Lösung konstruktiver Details. Die Anforderungen, die an das projektierte Erzeugnis gestellt werden, sind häufig widersprüchlicher Natur. Art und Form der Konstruktion stehen in einem Spannungsverhältnis von baulichen Gestaltungsfaktoren und technischen Spezi-fikationen. Diese Wechselwirkung von gestalterisch-ästhetischen und technischen Konstruktionsprinzipien soll anhand von Entwürfen zum Brückenbau aus dem Archiv des Deutschen Museums für den Zeitraum frühes 19. bis frühes 20. Jahrhundert untersucht werden.“2

Im Mittelpunkt stehen Brückenbauzeichnungen von Carl Friedrich von Wiebeking. In der Geschichte des Brückenbaus in Bayern nimmt Wiebeking eine Sonderstellung ein. Als aufgeklärter Brückenbauingenieur setzte er sich nicht für den modernen Werkstoff Eisen ein, sondern entschied sich aus ökonomischen Überlegungen für Holzbrücken. Die Zeichnungen von Wiebeking werden verglichen mit technischen Brückenbauzeichnungen in Deutschland und Nordamerika bis ins erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts.

Da es sich in dieser Studie im Wesentlichen um Präsentations- und Ausführungszeich-nungen von Ingenieuren des 19. Jahrhunderts handelt, die ihre Entwürfe aus innovativen Konstruktionsprinzipien und Montagetechniken ableiten, wird der Begriff „Konstruktion“ in den Vordergrund gestellt.3 Der Begriff „Funktion“ und die damit verbundene Strömung des Funktionalismus hingegen kennzeichnet eine programmatische Sichtweise von Architekten und Gestaltern des 20. Jahrhunderts, die die Form von Gebäuden und Objekten nach Zweckmäßigkeit und Gebrauch bestimmen. In der Studie wird der Begriff „funktionale Moderne“ verwendet, um Strömungen utilitaristischer Gestaltung im 19. und 20. Jahrhundert zusammenzufassen.

„Das Zeitalter der Technik erfindet seine Formen selbst“

Für ein besseres Verständnis der exponierten Stellung der Ingenieure im Spannungsfeld von konservativem Zeitgeschmack und funktionaler Moderne sei kurz der historische Rahmen skizziert, indem sich die folgenden Fallbeispiele bewegen.

1 Vgl. Banse, Gerhardt: Konstruieren im Spannungsfeld von Kunst und Wissenschaft. In: Technikgeschichte 61 (1994), S. 330. 2 Mayring, Eva. A.: Technische Zeichnung zwischen Entwurf und Konstruktion. In: Archiv Info. Deutsches Museum, 1/Heft 2, 2000, S. 6. Die Fragestellungen zu dieser Studie ergaben sich im Rahmen eines Projektes des Deutschen Museums „Technik und Bau im Spannungsverhältnis von Entwurf und Konstruktion“ mit dem Schwerpunkt technische Zeichnungen zum Bauwesen, sowie eines vorangegangenen Projektes zur Erschließung verkehrstechnischer Zeichnungen und Pläne. Beide Projekte waren im Archiv des Deutschen Museums angesiedelt unter der Leitung von Eva. A. Mayring. 3 Nicht zu verwechseln mit Konstruktivismus als Avantgardeströmung des 20. Jahrhunderts oder gar dem sozialen Konstruktivismus seit den 70iger Jahren; vgl. Sozialer Konstruktivismus, Max Plank Institut, Berlin 1992. Der Begriff „Konstruktion“ betont hier den Gestaltungsansatz der Ingenieure.

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Langsam entwickeln sich im 19. Jahrhundert die Entwürfe und Bauten der Ingenieure4

zu Schrittmachern einer neuen Architektur und eines neuen Designs. Ohne Manifest und Programm gelingt es dem Ingenieurberuf, die tradierten ästhetischen Ideale und Konventionen im Bereich Gestaltung, Kunst und Architektur in Frage zu stellen. Im 19. Jahrhundert dominiert noch eine klassizistisch geprägte Weltsicht im Verbund mit einer lateinisch-humanistischen Erziehung. Selbst an den Bauschulen und Architektur-akademien steht das zeichnerische Studium der Antike an erster Stelle.5 In diesem arka-dischen Weltbild einer konservativen Bildungselite wird Industrie und Technik nicht selten mit einer abwehrenden Haltung begegnet. In den Schriften des einflussreichen Sozialreformers und Kunsthistorikers John Ruskin (1819-1900) steigert sich die Ablehnung in einen Hass auf das Maschinenzeitalter. Als 1887 der Eiffelturm als modernes Wahrzeichen von Paris entsteht, fordert eine konservative Fraktion seinen Abriss und formulierte in ihrem öffentlichen Aufruf: „...Soll sich die Stadt denn noch länger mit den lächerlichen merkantilen Ideen eines Maschinenbauers verbinden, um unwiderruflich hässlich zu werden und sich verschandeln zu lassen.“6 Fabriken und Unternehmen verwenden Symbole und Allegorien des historistischen Zeitgeschmacks zur Selbstdarstellung.7 Maschinen, wie z.B. die im Deutschen Museum ausgestellte Präzisionsdampfmaschine der Gebrüder Sulzer von 1865, erhalten ein antikes Erscheinungsbild mit funktional adaptiertem Architrav auf dorischen Säulen.

Jenseits dieser Widerstände setzt sich seit dem 18. Jahrhundert im Sog der Industrialisierung eine Reihe von großen Projekten der zivilen Ingenieurskunst als Wahrzeichen einer wissenschaftlich orientierten Technik- und Industriekultur durch. Ein frühes Beispiel dafür ist die gusseiserne Brücke Coalbrookdale (1779) von Darby und Wilkinson. Mit dem Bau des Londoner Kristallpalastes (1852-54) von Paxton erreicht der Ingenieurbau einen spektakulären Höhepunkt. Kaum zwei Jahre später findet die erste Allgemeine Industrieausstellung in einem Glas-Stahlpalast der Nürnberger Firma Cramer-Klett in München statt, errichtet nach Plänen von August Voit. Dieser puristische Ingenieurbau wird bis zum Brand im Jahre 1931 nicht nur für technische Messen, sondern auch für große Kunstausstellungen benützt.

Ähnlich herausragende Leistungen sind auch unter den Geräteentwürfen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu finden. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür ist die Rechenmaschine von Christoph Schuster (1820, Deutsches Museum Abteilung Informatik), ein Gerät, für das moderne Attribute wie „minimalistisch“ und „gestalterische Stringenz“ kennzeichnend sind. Es besitzt Modellcharakter, in der noch

41747 entsteht in Paris die “Ecole de Ponts et Chaussées“, die erste Ingenieurschule in Paris. 5Vgl. Weinbrenner, Friedrich: Die vollständige stufenweise theoretische und praktische Schule eines Baumeisters, Stuttgart 1810-1825. Albertis und Palladios klassische Vorstellung von Harmonie aus dem Zusammenspiel der Faktoren Invention (Idee), Firmitas (Material und Baukonstruktionen), Utilitas (Funktion u. Bautypologie), Venustas (Decorum) erstarren im Zeitalter des Historismus zu einem Dekorationsprogramm, dem das Zitat aus dem antiken Formenrepertoire genügt. Vgl. Walter, Hanno, Geschichte der Architekturtheorie. Von der Antike bis zur Gegenwart, München 1985, S. 47. 6 Les Artistes contre la tour Eiffel. In: Le Temps, 14.2.1887. 7 Vgl. Henle, Susanne: Allegorie-Sinnbild-Arabeske. Zur Selbstdarstellung von Unternehmen auf Briefköpfen des 19. Jahrhunderts, S. 74f. In: Korzus, Bernard (Hg.): Fabrik im Ornament. Ansichten auf Firmenbriefköpfen des 19. Jahrhunderts, Ausstellungskatalog, Münster 1980.

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die „handwerkliche Wärme“ der manuellen Mitarbeit des Erfinderkonstrukteurs zu spüren ist.8

Formal setzen die frühen technischen Erzeugnisse neue Maßstäbe. Sie rezipieren keine Tradition sondern sind die ästhetische Ausdrucksgeste ihrer selbst und der technischen Anschauung ihres Erfinders.9 Hier tritt ein neues Gestaltungsbewußtsein zu Tage von einer historischen Dimension, die Gert Selle als die Geburtstunde des Industrial Designs bezeichnet: „Mit den frühen Maschinen-Entwürfen beginnt nicht nur eine neue Ära des Produzierens, sondern auch die moderne Designgeschichte in ihren technischen und geistigen Fundamenten...Das Zeitalter der Technik erfindet seine Formen selbst.“10

Die Brückenentwürfe von Carl Friedrich von Wiebeking (1762-1842)

Wiebeking ist heute wenig bekannt.11 Sein Werk als Ingenieur ist exemplarisch für das Spannungsfeld zwischen Konstruktion, Wissenschaft und Gestaltung im Vorfeld der industriellen Revolution.

Wiebeking, 1762 in Wollin in Pommern geboren, begann seine Laufbahn als Zeichner von topographischen Karten, u.a. von Mecklenburg-Schwerin. Von Kurfürst Karl Theodor von der Pfalz wurde er als Wasserbaumeister in Düsseldorf verpflichtet. Nach drei Jahren am Wiener Hof als k.k. Hofrat für Wasserbau wechselte er nach Bayern und arbeitete von 1805 bis 1817 als Generaldirektor für Strassen-, Brücken- und Wasserbau. Wiebeking war ein typischer Vertreter des aufgeklärten Rationalismus der Ära Montgelas, dem bayrischen Staatsminister unter König Maximilian I. Joseph, der mit seinen Reformen die Grundlage für ein modernes Bayern schuf.

Das junge Königreich Bayern verdankt ihm wichtige verkehrspolitische Konzeptionen und infrastrukturelle Verbesserungen. 1814 zog Wiebeking eine Zwischenbilanz seiner durchgeführten Arbeiten:„Seit 1806 wurden im Königreich Bayern über zwei tausend Stunden Chausseen... verbessert... vierzig Stunden neue Kunst-Straßen angelegt; sechs und dreysig große Brücken ...erbauet, hundert und vier aber restauriert.“12 Wiebeking übersetzte die abstrakten Entfernungsmaße in „erfahrbare“ Zeitmaße bzw. „Reise-

8 Vgl. Selle, Gert: Geschichte des Design in Deutschland, Frankfurt/M. 1997(1994), S. 22. 9 Vgl. Ebenda, S. 30. 10 Ebenda, S. 20. 11 Es gibt nur wenige Angaben zu Wiebekings Biographie. Im Allgem. Lex. der bildenden Kunst, Vollmer, Hans (Hg.), Leipzig 1942, wird er mit Brückenbauten und Architekturprojekten angeführt. Im Katalog zur Ausstellung von Leo von Klenze im Stadtmuseum München wird er als Zeitgenosse von Klenze besprochen. Vgl. Nerdinger, Winfried (Hg.), Leo von Klenze, Architekt zwischen Kunst und Hof 1784-1864, München 2000. Nachlässe mit allgemeiner Korrespondenz befinden sich im Archiv der Bayr. Akademie der Wissenschaften und in der Handschriftenabteilung der Bayr. Staatsbibliothek. Eine Lebensbeschreibung mit Bibliographie befindet sich in Güthling, Wilhelm: Friedrich Wiebeking. In: Pommersche Lebensbilder, Bd. III, Stettin 1939, S. 191-203. 12 Wiebeking, Carl Friedrich, Theoretisch-praktische Wasserbaukunst, Neue umgearbeitete und vermehrte Ausgabe, Band III, München 1814, S. 744. Es folgen Aufzählungen über Flusskorrekturen, Wehre usw. und die Gesamtkosten.

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maße“13. Dieses Bestreben nach Anschaulichkeit ist ein Prinzip, dem wir auch später in seinen technischen Zeichnungen begegnen.

Dank seiner wissenschaftlichen Veröffentlichungen, z.T. in französischer Sprache, hatte Wiebeking einen internationalen Ruf und gehörte einer Vielzahl von wissen-schaftlichen Akademien in ganz Europa an. Er war u.a. Korrespondent des Institut de France, Mitglied der holländischen Gesellschaft für Experimental-Philosophie in Rotterdam, der physikalisch-ökonomischen Gesellschaft zu Heidelberg, der Akademie der Wissenschaften in München, Haarlem, Göttingen, Padua, Turin, Kopenhagen, Erfurt und Mitglied der Akademie der Künste in Berlin, Florenz, Gent, Perugia und Rom. In Rußland wurde er mit dem Titel „Commandeur de l’ordre impérial-Russe de St. Anne en Brillant“ ausgezeichnet. 14

In seinen Werken spiegelt sich eine Persönlichkeit der späten Aufklärung, die einerseits in den pragmatischen Kategorien eines Ingenieurs dachte, sich andererseits an der Klassik und Antike orientierte. Ein Beispiel seiner architekturhistorischen Schriften ist das zweibändige Werk Analyse Descriptive historique de Italie15, in dem Wiebeking eine Art Werkverzeichnis wichtiger Bauten und Wasserbauanlagen in Italien vorlegte. Diese Arbeit bestätigte seinen Ruf als Architekturhistoriker. Die römische Accademia di San Luca, eine der einflussreichsten Kunstakademien der Neuzeit, verlieh ihm den Professorentitel.

Seine wichtigste ingenieurwissenschaftliche Arbeit ist die Theoretisch praktische Wasserbaukunst16 mit über 2000 Seiten Text in vier Bänden, ergänzt durch einen Bildatlas mit ca. 140 Stichen. Der Text enthält einen ausführlichen historischen Überblick über Wasserbauanlagen, Deiche, Kanäle und Brücken, ferner Verbesserungsvorschläge, mathematisch-physikalische Berechnungen und detaillierte Angaben zu Herstellung, Material und Kosten. Zu diesem Werk befinden sich in der Plansammlung des Archivs des Deutschen Museums Originalradierungen, Zeichnungen und Aquarelle (aus denen folgende Entwürfe für eine Fallstudie ausgewählt wurden). Bei den Zeichnungen handelt es sich offenbar um Auftragsarbeiten, denn die Blätter verweisen nur im Titel auf Wiebeking, sind aber ohne Namenszug. Nur wenige Blätter sind vom Zeichner oder Graveur signiert.

Die Holzbogenbrücke über den Inn bei Rosenheim (1811)

Wiebeking konstruierte fast ausschließlich Holzbrücken. Sie waren für ihn, 25 Jahre vor Beginn des Eisenbahnzeitalters in Deutschland, die ökonomische Alternative zu Steinbrücken und ermöglichten zudem größere Spannweiten. Er rationalisierte und

13Eine "Stunde" Längenmaß entspricht 4,531 km. Vgl. Kahnt, Helmut/Knorr, Bernd: Alte Maße und Gewichte (Lexikon), Leipzig 1986 14 Nach der Aufzählung seiner Ehrenämter auf der Titelseite seines Buches: Analyse Descriptive Historique et Raisonée des Monuments de Italie, München 1838. 15 Wiebeking, chevalier de : Analyse Decriptive historique et raisonée des monuments de l´antiquitéde Italie de édifices les plus remarquable des rivieres, des canaux navigables et des canaux d´irrigations, des desséchemens, et des ponts, et de ports de lítalie, München 1837. 16 Wiebeking, Carl Friedrich: Theoretisch-praktische Wasserbaukunst, Neue umgearbeitete und vermehrte Ausgabe, Band I-IV, München 1811-1817. Der dazugehörige großformatige Bildatlas umfasst 141 Stiche. Eine Ausgabe befindet sich in der Bibliothek des Deutschen Museums.

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verbesserte wesentlich die Konstruktion und ersetzte das Hänge- und Sprengwerksystem durch eine Bogenbrücke aus gekrümmten Harthölzern wie Lärche und Eiche. Steinbrücken kosteten nach Wiebeking das 40fache, so dass die geringere Haltbarkeit der Holzbrücke - Wiebeking kalkulierte 100 Jahre - nicht ins Gewicht fiel.17 Sie waren aber tatsächlich den schnell-fließenden bayrischen Gewässern nicht gewachsen.18 Wiebekings Brücken erreichten die für Europa beachtliche Spannweite von bis zu 60 Metern.

Im November 1810 wurde nach den Entwürfen Wiebekings der Bau einer Holzbrücke über den Inn bei Rosenheim begonnen. Nach sechs-monatiger Bauzeit konnte die Brücke im Mai 1811 eingeweiht werden. Sie bestand aus drei Bögen mit einer Spannweite von je 124 bayrischen Fuß (ca. 40 Meter) und war sowohl von der Konstruktion als auch von der zeichnerischen Ausführung her exemplarisch für Wiebeking und die Modernisierungs-tendenzen seiner Zeit. In der Plansammlung des Deutschen Museums sind zwei Blätter – ein Kupferstich19 und Aquarell20 (Abb. 1 und 2) - zur Rosenheimer Brücke erhalten.

Abb. 1

Abb. 2

Das Aquarell (Abb. 2), eine perspektivische Ansicht, ist unvollendet mit teilweise skizzenhaftem Charakter und diente offenbar als Vorlage für den Kupferstich. Es zeigt die Holzbogenbrücke in Form einer „erklärenden Zeichnung“, das heißt, es werden verschiedene Werkstufen abgebildet, welche die Konstruktion und Herstellung der Brücke erläutern. Der erste Bogen beschreibt die Brücke im Rohbau mit Leergerüst. Deutlich

17 Vgl. Wiebeking: Theoretisch-praktische Wasserbaukunde, Bd. III, 1814, S. 303-306. Wiebeking spricht von insgesamt 940 Holzbrücken (?) über 30 Fuß Länge in Bayern, die, wegen fehlerhafter Konstruktion, alle 15 Jahre erneuert werden mussten. Wiebeking verbesserte die Konstruktion und kalkulierte die Kosten auf 50 Tsd. Gulden (Brücke von 100 Schuh Breite) - eine Steinbrücke kostete im Vergleich zwei Millionen Gulden. 18 Vgl. Güthling, Friedrich Wiebeking, 1939, S. 201. 19 Deutsches Museum, Archiv TZ 013067. 20 Ebenba., TZ 012992.

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sind die vier Brettschichten des Brückenbogens zu erkennen (Laminatbauweise), die provisorisch mit Klammern zu einem tragenden Balken verbunden sind. Im zweiten Abschnitt sieht man den fertigen Bogen ohne Leergerüste. Jetzt sind die gebogenen Balken durch Zargen fixiert, die zugleich die Fahrbahn tragen. Der dritte Abschnitt zeigt die fertige Brücke mit einer bemalten Brettverschalung, die eine Steinbrücke imitiert. Im mittleren Brückenabschnitt ist offensichtlich nachträglich mit Bleistift eine Gruppe von Arbeitern an einem Rammgerüst skizziert. Das Gerüst wurde beim Bau der Brücken-pfeiler benützt, wie ein Stich zum Bau einer ähnlichen Wiebekingschen Holzbrücke über den Lech bei Augsburg zeigt (Abb. 3).21

Abb. 3

Auf der Radierung sind Gesamtansicht und Konstruktionszeichnung auf einem Blatt vereinigt. Sie werden optisch getrennt durch einen Textbalken in Französisch mit einem beschreibenden Bildtitel: „Vue perspective, elevations, profils etc. du pont sur la riviere Inn prés Rosenheim...“22 Der Maßstab ist in bayrischem und Pariser Fuß angegeben, denn zu dieser Zeit gab es noch über hundert verschiedene Maßsysteme in Deutschland.

Der Konstruktionsteil zeigt 45 einzelne Figuren, die mit lateinischen Ziffern durchnumeriert sind und im Buchtext erläutert werden. Grundprinzip, wie schon beim Aquarell, ist Konstruktion und Arbeitsphasen zu veranschaulichen, einschließlich der benötigten Gerätschaften. Drei Längsschnitte verdeutlichen den Herstellungsprozess: Der erste zeigt die gesamte Brücke mit Flussbettprofil, einschließlich der exakten Positionierung der Balken und Hölzer vom Leergerüst, der zweite die Verbindungen von Brückenbogen mit Fahrbahnträger, der letzte die notwendigen Hilfskonstruktionen für das Fixieren der gebogenen Rippen. In ähnlicher Weise sind alle Konstruktionsteile so detailliert dargestellt, dass nach der Konstruktionszeichnung eine Stückliste sämtlicher Teile mit ungefähren Längenmaßen erstellt werden kann. Allerdings fehlen der Zeichnung die Querschnittmaße der Hölzer, welche für die Statik ausschlaggebend sind. Diese sind aber nicht der Erfahrung der Zimmerleute überlassen, sondern Wiebeking verweist auf Mustertabellen, in denen er als Ergebnis eigener empirischer Untersuchungen die geforderten Querschnitte, je nach Belastung und Spannweite, angibt. 23

21 Ebenda, TZ 013055. 22 Der vollständige Titel heißt: Vue perspective, elevations, profils etc. du pont sur la riviere Inn prés Rosenheim... Ce pont a trois arches chacune de CXXIV pieds d´ouverture a été exécute en 1811 dàpres le projet et sous la direction de M. Wiebeking, directeur géneral des ponts et chausssées en Baviére. 23 Wiebeking, Theoretisch-Praktische Brückenbaukunde, III, S. 318 f.

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Die Konstruktionszeichnung wird durch die gestochene perspektivische Gesamt-ansicht ergänzt. Sie ist in Form einer Vedutenansicht klassisch in drei Bildebenen komponiert. Der Vordergrund ist durch die Darstellung von Stadt- und Landbevölkerung belebt. Im Mittelgrund erkennt man ein Dorf mit Kirche, den Hintergrund dominiert die gewaltige Alpenkette. Die Brücke im Bildzentrum ist ein dynamisches, diagonales Kompositionselement, das Vorder- und Mittelgrund verbindet.

Die Bedeutung dieser malerischen Erhöhung der Brücke in realer topographischer Umgebung spricht aus folgenden Zeilen, mit welcher Wiebeking seine Brücken-beschreibung beendet: „Diese Brücke bildet einen der schönsten, vielleicht den schönsten Standpunkt des Königreichs; denn man sieht von hier aus die große Gebirgskette, und im Hintergrunde einen Theil des Glockner ...“24 Tatsächlich spielt in diesem komplexen Bildaufbau die Brücke eine untergeordnete Rolle, sie ist nur eines der Requisiten unter anderen, welche das Panoramabild beleben.

Die Brücke ist weder repräsentativ noch architektonisch anspruchsvoll, sondern eine rein technische Lösung, aber für die Darstellung der Brücke sind alle Register der Bildgestaltung instrumentalisiert. Wiebeking zögert sogar nicht, die Brücke halbfertig als Baustelle zu zeigen. Warum hat Wiebeking, für den die rationelle, technische Lösung Priorität hatte, nicht an dieser Stelle eine Eisenbrücke konzipiert? Es wäre die erste Eisen-brücke in Bayern gewesen und hätte seinen Ruhm als Brückenbaupionier gesichert. Tatsächlich setzte sich Wiebeking ausführlich mit englischen und französischen Eisenbrücken auseinander. Er ließ eine Modellbrücke mit Eisenrohren anfertigen und prüfte sie auf Statik, Elastizität und Bruchwiderstand. Vom königlichen Gussmeister forderte er ein Gutachten an und veröffentlichte es in seinen Ausführungen über Bogenbrücken, ohne aber daraus Konsequenzen zu ziehen.25 Dennoch ist Wiebeking dem neuen Werkstoff aufgeschlossen und entwirft selber zwei Eisenbrücken für München, die nicht zur Ausführung kommen.26 Aber der Entwurf der Brücke in einem neuen Material bringt keine Änderung in der Form der technischen Zeichnung (Abb. 4).

Abb. 4 24 Ebenda, S. 397. 25 Ebenda, S. 440-474. 26 Kolorierter Kupferstich, Deutsches Museum, Archiv, TZ 012997, Vgl. ebenda, S. 440 ff. Wiebeking beklagt, dass er sich im Eisenbrückenbau auf keine empirischen Werte stützen kann. Er verweist auf die eiserne Brücke über das Striegauer-Wasser bei Laasan, Schlesien, erbaut im Jahre 1794, die aber nur eine Spannweite von 13 Meter besaß. Ebenda, S. 439.

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Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Zeichnungen von Wiebeking nach dem Prinzip der Anschaulichkeit möglichst allgemeinverständlich ausgeführt sind. Sie haben ebenso illustrativen malerischen Charakter mit perspektivischen und isometrischen Darstellungen wie auch technischen Charakter mit Ansichten und Schnitten auf orthogonalen Projektionsflächen. Die formale, deskriptiv-bildliche Ausarbeitung der Zeichnung mit Produktionsabläufen, Produktionsinstrumenten und Darstellung der Arbeitenden steht in der Tradition der Gewerbebeschreibungen der enzyklopädischen Sammelwerke des 18. Jahrhunderts.27 Die dreidimensionalen Elemente sind ein charakteristisches „vorindustrielles Antezedent“.28 Es sind keine bemaßten Werkstatt-zeichnungen als Vorlage für die Produktion, sondern geben dem Auftraggeber als auch dem ausführenden Handwerker eine ästhetisierende Gesamtvorstellung vom Projekt. Die exakte Ausführung und die Ausarbeitung von Details setzt noch fundiertes Fachwissen und Kreativität der Ausführenden voraus.29

Inhaltlich sind Wiebekings Brückenbaukonzeptionen aber pragmatische Entwürfe eines Ingenieurs auf der Grundlage der schon erwähnten empirischen Studien zur Materialstatik.

Vergleich zu nordamerikanischen Holzbrücken

Die Holzbrückenbausysteme von Wiebeking wurden im frühen 19. Jahrhundert im nordamerikanischen Brückenbau angewendet, aber schon bald durch Neuentwicklungen verdrängt.30 Der amerikanische Brückenbau übernahm schon bald eine Pionierstellung und beeinflusste in der zweiten Jahrhunderthälfte die Entwicklungen in Europa. Um das riesige Land schnell und ökonomisch zu erschließen, war es notwendig, die komplexen Holzverbindungen des europäischen Brückenbaus zu vereinfachen und zu normieren. So konnten sie auch von angelernten Hilfskräften gebaut werden.31 Es entstanden Verbesserungen im Bereich der Montage, wie z.B. beim Einsatz von eisernen Beschlägen, aber es wurden auch neue Brückentypen entwickelt. Bedeutende Innovationen waren die Gitterbrücken aus gekreuzten Streben und Latten von Ithiel Town (1820 patentiert) und die Gitterbrücken mit vorgespannten Rundeisenwerk von William Howe (1840 patentiert). Noch heute existieren Brücken in Europa, die nach diesem System gebaut wurden.32

27 Vgl. Aagard, Herbert: Zur Qualität und Aussagekraft von bildlichen Darstellungen in französischen und deutschen technologischen Werken des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. In: Technikgeschichte, 49 (1982), S. 290 f. 28 Brown, John K.: Design Plans, Working Drawings, National Styles, Engineering Practice in Great Britain and the Unites States, 1775-1945. In: Technology and Culture, 41 (2000), S. 199. 29 Vgl. Selle: Geschichte des Design, 1997(1994), S. 26. Vgl. auch Nedoluha, Alois, Kulturgeschichte des technischen Zeichnens, Wien 1960. 30 Culmann, Karl: Der Bau der hölzernen Brücken in den Vereinigten Staaten von Nordamerika, In: Allgemeine Bauzeitung, 16. Jg. (1851), S. 69. 31 Peters/Billington/Dubas u.a.: Die Entwicklung des Großbrückenbaus, Zürich 1980, S. 19. 32Beispiel für das Tragsystem Town ist die Schüelenbrücke im Vättis. Die Rheinbrücke in Sevelen-Vaduz ist nach dem Tragsystem Howe gebaut. Vgl. Stadelmann, Werner: Holzbrücken in der Schweiz, Chur 1990, S. 268 u. 272.

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Durch die Reiseberichte des Ingenieurs Karl Culmann (1821-1881), dem Begründer der graphischen Statik, wurden die amerikanischen Brückenkonstruktionen in Deutschland bekannt. Culmann unternahm 1849/50 eine Reise in die Vereinigten Staaten im Auftrag der bayrischen Staatsregierung und veröffentlichte seine Ergebnisse 1851 in der Allgemeinen Bauzeitung.33 Sein Bericht beeinflusste wesentlich die weitere Entwicklung vom Brückenbau in Deutschland. Die Reportage wurde mit zahlreichen Abbildungen veröffentlicht, von denen sich ein Satz in der Plansammlung des Archivs des Deutschen Museums befindet (Abb. 5).34

Abb. 5 Abb. 6

Aus Motiven der Wirtschaftlichkeit setzten amerikanische Ingenieure, ähnlich wie Wiebeking, auf den Baustoff Holz, der reichlich vorhanden war, und nicht auf arbeitsintensive, teure Steinbrücken. Aber auch die Vergrößerung der Spannweite verhieß eine Kostenersparung. Viele der ersten Brücken mit größerer Spannweite, gebaut nach europäischem Vorbild aber ohne Verbesserung der Konstruktion, stürzten aus statischen Gründen ein. 35 Die Delawarebrücke von Theodore Burr aus dem Jahre 1804 würdigt Culmann als den Anfang einer eigenen amerikanischen Brückenbautradition.36 Wichtigstes Glied der Brücke ist ein mächtiger Bogen, der auf gemauerten Widerlagern ruht. Im Gegensatz zu den Straßenbrücken von Wiebeking, wurde die Steifigkeit und Tragfähigkeit der Brücke durch die Kombination von Hängeeisen und diagonalen Streben der Brücke so entscheidend verbessert, dass sie später mit geringen Umbauten für den Eisenbahnverkehr benützt werden konnte (Abb. 6).

Vier Jahrzehnte später erreichte die Entwicklung amerikanischer Holzbrückenbau-kunst im Bau der Cascadebrücke von John Brown einen Höhepunkt.37 Die Brücke für die Erie-Eisenbahn führte über eine tiefe Schlucht und hatte eine spektakuläre Spannweite 33 Culmann, Karl: Der Bau der hölzernen Brücken in den Vereinigten Staaten von Nordamerika. In: Allgemeine Bauzeitung, 16. Jahrgang (1851). 34 Lithographien von amerikanischen Brücken. In: Allgemeine Bauzeitung, 16. Jahrgang (1851), Deutsches Museum, Archiv, TZ 013491-13499. 35Vgl. Culmann: Der Bau der hölzernen Brücken in den Vereinigten Staaten von Nordamerika. Ebenda, S. 69. Culmann skizzierte kritisch die Entwicklung des amerikanischen Brückenbaues ausgehend von den Holzbrückenbausystemen nach Wiebeking und dem englischen Ingenieur Gauthey. 36 Ebenda, S. 70. 37 Ebenda, S. 78 ff.

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von nahezu 100 Metern. Tragendes Element der Brücke war ein verstrebter Doppelbogen aus Holmen mit gebündelten Holzlagen, die sich zum Bogenscheitel verjüngten. Für die Versteifung der Gewölbeschenkel verwendete Brown Konstruktionen von Town und Howe. Die Brücke war sowohl ein technisches als auch ein ästhetisches Meisterwerk. „...allein ich kann nicht umhin“, schrieb Culmann begeistert in seinem Bericht,“ hier nochmals die Schönheit, Einfachheit und Zweckmäßigkeit dieses Baues herorzuheben“38 In der Cascadebrücke verschmolzen Technik, Materialökonomie und angewandte Statik zu einem vollkommenen einheitlichen Erscheinungsbild (Abb. 7).

Abb. 7

Abb. 8

Ein Beispiel für die radikale Materialökonomie in Entwurf und Gestaltung ist die Kennewick-Brücke über den Columbia River. Sie wurde 1888 von dem Ingenieurbüro Buck & Mc. Nalty in New York für die Northern Pacific Railraod konzipiert und ist in der Plansammlung mit Blaupausen umfassend dokumentiert.39 Die Pfeiler in einfacher Holzkonstruktion (trestle-bridge) mit darüber gelegten eisernen Fahrbahnträgern in Fachwerktechnik wirken auf den ersten Blick wie eine willkürliche Kombination heterogener Werkstoffe, die technischen Zeichnungen beweisen jedoch eine ins Detail durchdachte Konzeption. Dies zeigt z.B. die Zeichnung eines Pfeilers40 in Dreiseiten-ansicht mit sämtlichen Zuschnittmaßen für das notwendige Holz als Meterware. Um das aufwendige, die Zeichnung ästhetisierende System der Maßlinien zu umgehen, wie sie Kreuter auf seinen Konstruktionszeichnungen angewendet hat, werden die Maße und Maßlinien teils direkt in das gezeichnete Objekt hineingesetzt. Es ist eine Werkstattzeichnung mit präzisen produktionsrelevanten Angaben, die auf Anschaulichkeit

38 Ebenda, S. 80. 39 Ebenda, TZ 013179-013202. 40 Ebenda, TZ 013188.

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verzichten kann, weil ein leicht verständliches Grundprinzip die gesamte Konstruktion bestimmt (Abb. 8).

Im Vergleich zu europäischen Holzbrücken der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zeigt sich, dass die amerikanischen Brücken in ihrer Gesamtheit äußerst komplex wirken, sich aber im Detail auf ein einfaches Grundschema reduzieren lassen. Sie sind exemplarisch für den Pragmatismus der amerikanischen Technikkultur, die zudem nicht wie die europäische durch Traditionen eingeschränkt war. 41 Die funktionale Ästhetik amerika-nischer Holzbrücken ist ihrer Zeit weit voraus und fordert einen Vergleich mit eisernen „Skelettbrücken“ des frühen 20. Jahrhunderts heraus.42

Peter Speeth (1772-1831): Entwurf einer Kaiserbrücke über die Donau bei Wien (1823)

Auch im Vergleich zum amerikanischen Holzbrückenbau, stellt sich das Wiebekingsche Konzept für seine Zeit „modern“ dar. Das wird deutlich durch eine Gegenüberstellung mit dem Projekt einer konventionellen Steinbrücke aus seiner Zeit.

Abb. 9

Die Wettbewerbsentwürfe von Peter Speeth für eine Kaiserbrücke über die Donau bei Wien (1823) datieren 13 Jahre später als Wiebekings Entwürfe. Es handelt sich um vier großformatige Zeichnungen (bis 270 cm Länge), ausgeführt als lavierte Federzeichnung, mit Seitenansichten und Grundrissen.43 Der favorisierte Entwurf zeigt eine Bogenbrücke in Seitenansicht kombiniert mit einer perspektivischen Flusslandschaft im Hintergrund. Die Brücke wirkt überdimensioniert, obwohl sie nur für eine geringe Fahrbahnbreite ausgelegt ist. Die gedrungenen Brückenpfeiler sind als antike Säulen mit wuchtigen dorischen Kapitellen gestaltet, die zugleich eine begehbare Aussichtsplattform bilden. Die 41 Vgl. König, Wolfgang: Künstler und Strichezieher. Konstruktions- und Technikkulturen im deutschen, britischen, amerikanischen und französischen Maschinenbau zwischen 1850 und 1930, Frankfurt 1999, S. 223. 42 Vgl. Trautz, Martin: Eiserne Brücken in Deutschland im 19. Jahrhundert, Düsseldorf 1991, S. 26 f. 43 Deutsches Museum, Archiv, TZ 013639-013642.

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Brüstung der Fahrbahn besteht aus dem Architrav, welcher die Pfeiler verbindet. Im Scheitel der Bögen steht „Salve“. In den Fahrbahnbelag aus Pflastersteinen ist als Mosaik eine Schlange eingelassen, die sich in den Schwanz beißt. Auf der Innenseite der Brüstung ist ein Schillerzitat eingeschrieben.44 Die Brückenbogen gliedern und rahmen den Durchblick auf die Flusslandschaft im Hintergrund, in welcher dem antikisierenden Kuppelbau auf einer kleinen Anhöhe direkt unter der Brückeninschrift offenbar eine besondere Bedeutung zukommt. Für die Beschriftung wählte Speeth eine stilisierte mittelalterliche Schrift.

Die Zeichnung besticht durch den handwerklichen Aufwand. Jeder Schatten und jede Linie ist mit äußerster Präzision ausgeführt, jeder Quaderstein einzeln gezeichnet und koloriert mit Lichtkante und Schattenfläche. Die reduzierte Farbigkeit und das auf alle Details angewandte Hell/Dunkel-Schema gibt der Zeichnung eine beeindruckende kompositorische Klarheit.

Wiebekings Entwurf wirkt im Vergleich sachlich. Speeth verzichtet hingegen auf den Bezug zum Alltag und zeigt die Brücke ohne „Gebrauchsspuren“ in einer idealen, unberührten Landschaft. Es ist eine Zeichnung im Geiste der romantischen Natur- und Historiensehnsucht des frühen 19. Jahrhunderts, von der sowohl die Tempelarchitektur als auch das symbolische Blau der Donau, die einzige Farbe im Bild, zeugen.

Beim Vergleich der Entwürfe von Wiebeking und Speeth wird deutlich, dass zwei verschiedene Traditionen zusammenstoßen. Speeths Entwurf steht in der akademisch-malerischen Tradition des Archiktektenberufes. Wiebekings Entwürfe aber orientieren sich, wie schon ausgeführt, an Gewerbebeschreibungen im Geiste der Aufklärung mit dem didaktischen Ziel, Konstruktion und Herstellungsprozess zu veranschaulichen. Zu berücksichtigen ist, dass Speeths Arbeiten im Rahmen eines Wettbewerbes entstanden, Wiebekings Arbeiten im Hinblick auf eine Veröffentlichung.

Franz Kreuter (1842-1930): Projekt einer Donaubrücke zwischen Ofen und Pest über die Margaretheninsel, 1871

Eine Generation nach Wiebeking hat sich der Werkstoff Eisen im Brückenbau durchgesetzt. Ingenieure werden nach dem Vorbild Frankreichs auf Polytechnischen Schulen umfassend theoretisch ausgebildet - in Bayern seit 1840 auf drei gleichzeitig gegründeten Ingenieurschulen in München, Augsburg und Nürnberg.45

44 „Von Perlen baut sich eine Brücke, hoch über einen grauen See / sie baut sich auf im Augenblicke und schwindelnd steigt sie in die Höh...". Schiller, Friedrich, Gesamtausgabe, Bd. III, Düsseldorf/Zürich 1996, S. 391. TZ 013642. 45 Die Münchner Schule wurde von Heinrich von Alexander geleitet. An der Universität gab es zusätzlich einen Kurs für Ingenieure geleitet von Max Bauernfeind. Dieser Kurs wurde wegen Mangels an Studenten wieder aufgelöst. Vgl. Dienel, Hans-Liudger und Hilz, Helmut: Bayerns Weg in das technische Zeitalter. 125 Jahre Technische Universität München 1868-1993, München 1993.

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Abb. 10

Der Bau von Eisenbrücken ist nicht nur ein technisches Problem, sondern stellt auch den Entwurf vor völlig neue Aufgaben. Ein Beispiel dafür sind die Entwürfe Franz Kreuters für eine eiserne Stabbogenbrücke über die Donau bei Budapest. Die Zeichnungen für die Brücke, die unter Mitarbeit von Theodeor Geiger entstanden und sich heute im Deutschen Museum befinden,46 sind auf 1871 datiert (Abb. 10).

Kreuters Werdegang liegt im Spannungsfeld von Architektur und Ingenieurwesen. Sein Vater war der bedeutende fränkische Architekt mit gleichem Namen (1813-1889), bekannt u.a. für den Bau der Villa auf der Roseninsel im Starnberger See, die 1849 im Auftrag von König Max II. von Bayern gebaut wurde. Wie schon der Vater arbeitete auch der Sohn nicht nur als Architekt, sondern auch als Ingenieur für Eisenbahnprojekte der österreichischen Monarchie.

Vieles an Kreuters Präsentationsentwurf erinnert an die Radierung der Rosenheimer Brücke von Wiebeking. Die Zeichnung ist reichlich ausgestattet mit Staffage, z.B. Kutschenwagen mit Pferden und Menschen aus verschiedenen Berufsgruppen. Das Landschaftspanorama und die perspektivische Stadtansicht rahmen die Zeichnung ein. Mit Schifffahrt und Kutschenverkehr ist die Brücke so anschaulich und lebendig wie möglich, geradezu „gemütshaft“ dargestellt. Kreuter verzichtet wie Speeth auf die Darstellung der Brücke mit perspektivischer Verzerrung, sondern zeigt sie in Seiten-ansicht. Dadurch wird der symmetrische Aufbau der Brückenbogen sofort erkennbar.

Die illustrative Gesamtansicht wird ergänzt durch eine schematische Darstellung der Brückenfelder mit den Hauptabmessungen. Diese fehlen zur Gänze in der Wiebe-kingschen Zeichnung und können nur mittels der Maßlinie annähernd ermittelt werden. Auch in den dazugehörigen Detailzeichnungen von Kreuter und Geiger, die ebenso sorgfältig ausgeführt sind wie die Gesamtansicht, sind alle Teile mit Maßketten versehen. Sie entsprechen einer modernen Fertigungszeichnung, obwohl die Maßeinheiten - hier Wiener Zoll, Wiener Klafter und Wiener Fuß - nur regionale Bedeutung haben.47 Erst nach Definition des französischen Meters 1875 setzte sich allmählich im Baubereich das Dezimalsystem als grenzenübergreifende Norm durch.

46 Deutsches Museum, Archiv, TZ 013866-013873. 47 Wiebeking versuchte dieses Problem zu lösen, indem er zum Vergleich mehrere Maßlineale angab, z.B. hamburger Fuß, bayrischer Fuß und rheinländische Ruhten.

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Abb. 11

Die Einführung der Detailvermaßung ändert grundlegend die Komposition der Zeichnungen.48 Kreuters kolorierte Konstruktionszeichnungen mit Details der Knotenpunkten und Beschläge49sind dafür beispielhaft. Zusammengehörende Gegen-stände werden entlang einer gemeinsamen Grundlinie oder Mittellinie angeordnet und in äußerst feiner Linienstärke mit roter Tusche vermaßt. Die Begrenzungslinien werden auf die Maßlinie projiziert oder direkt in das Maßliniensystem übernommen. Ein Detail, z.B. die Schraube, ist in natürlicher Größe mit Gewinde in mehreren Ansichten ausgeführt. Bei der Zeichnung des Brückengeländers im Stil der Gründerzeit mit ornamentalen Formen50 legt Kreuter Wert auf die Darstellung der Konstruktion des Ornamentes aus den geometrischen Grundformen Quadrat, Kreis und Raute. Die Kolorierung - beschränkt auf Abstufungen der Farbe Blau – erleichtern die Lesbarkeit der Zeichnung.

Die rationale Ordnung der Details auf dem Bild, der sparsame Einsatz von graphischen Mitteln und die Balance von Farbwerten gibt der Zeichnung einen funktionalen technischen Charakter, der in seiner Gesamtheit aber durchaus bildhaft wirkt. Dies ist nicht zu verwechseln mit dem illustrativen Charakter der Wiebekingschen Zeichnungen. Es bedeutet lediglich, dass der Architekt bei der Anlage und Ausführung der Zeichnung immer die Gesamtwirkung der Zeichnung in ihrer graphischen Wirkung mit bedacht hat.

Die Zeichnungen von Kreuter dokumentieren den Übergang vom Künstler-Architekten, der den Schwerpunkt auf die Präsentation der Gesamtanlage in perspektivischer Darstellung legt, zum technischen Zeichner und Ingenieur, der mit Hilfe von Diagrammen und Schnittzeichnungen eine technische Lösung sucht, sie anhand von präzisen Schnitt- und Ansichtszeichnungen festhält, und mit Hilfe dieser Details die Besonderheit der projektierten Anlage begründet. Das deskriptive Prinzip mit dreidimensionalen Details wird ersetzt durch zweidimensionale Projektionen mit exakter Vermaßung, nach denen Stücklisten erstellt werden können. 51 Es ist ein Schritt auf dem Weg der Systematisierung der Entwurfspraxis, welche mit der Trennung der Berufsbilder

48 Vgl. Nedoluha, 1960, S. 75 f. 49 Deutsches Museum, Archiv TZ 013873. 50 Ebenda, TZ 013874. 51 König, Künstler und Strichezieher, S. 122 f.

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Architekt, Ingenieur und Arbeiter einhergeht. Der Ingenieur beginnt „sich über seine eigene Zeichnungskultur zu definieren“.52

Die Brückenentwürfe von Hermann Jordan (1869-1945)

Die Rationalisierung im Brückenbau erreichte um die Jahrhundertwende in den sogenannten Normalien - den uniformen Standardlösungen für sämtliche Brücken einer Eisenbahnlinie - einen Höhepunkt. Diese Entwicklung wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts von vielen Ingenieuren als eine Verarmung zu Lasten der gestalterischen Kompetenz der Ingenieure empfunden. Es entstanden Initiativen, die versuchten, innerhalb des Konstruktiven, Fragen der künstlerischen Gestaltung und des Designs ein größeres Gewicht beizumessen.

Beispielhaft für diese Reformströmungen ist ein Wettbewerb, den die königliche Bauakademie 1908 in Berlin ausschrieb. Die Ausschreibung mit dem Titel „Abhandlung über die künstlerische Gestaltung von Eisenkonstruktionen im Gebiet der Architektur und des Ingenieurwesens“ forderte eine kritische Würdigung der Geschichte der Eisenkonstruktionen im Brückenbau und die Darstellung weiterer Entwicklungs-möglichkeiten. Zwei Beiträge wurden ausgezeichnet und veröffentlicht. Es handelt sich um die Arbeiten des promovierten Bauingenieurs Hermann Jordan (1869-1945), kaiserlicher Baurat in Straßburg, und des promovierten Ingenieurs Eugen Michel (1873-1946), Professor an der Technischen Hochschule in Hannover. Die Zeichnungen von Jordan befinden sich in der Plansammlung des Deutschen Museums.

Die Zeichnungen von Hermann Jordan, ein Konvolut von 26 Wettbewerbs- zeichnungen mit ca. 200 Vorentwürfen und Skizzen, sind aus Gründen der Wettbewerbsgleichheit nur anonym mit einem Stempel gekennzeichnet. Jordan wählte als Aufdruck ein Goethezitat aus Wilhelm Meisters Wanderjahren „Vom Nützlichen durch das Wahre zum Schönen.“ Das Zitat ist programmatisch. Es zielt auf eine Verbindung von angewandter und bildender Kunst, von Gebrauchsgütern und Ästhetik, stellt also eine Gegenposition zur bürgerlichen l’art pour l’art-Bewegung dar. Diese Forderung scheint modern, wurde aber schon von Joachim Winckelmann als Grundsatz des Klassizismus formuliert.53 Es ist anzunehmen, dass Goethe sich auf die Winckelmannsche These bezieht.

Jordan entwarf eine systematische Entwicklungsreihe von Brückenformen und Hallenbauten, in denen er die gestalterischen Möglichkeiten der Fachwerktechnik auslotet und als Verbundform mit anderen Brückenbautechniken kombiniert. Sein gestalterisches Repertoire stützt sich auf die Variierung der geometrischen Raster der Verstrebungen, die

52 Lorenz, Werner: Der Blick des Produzenten - Zur Genealogie bautechnischen Zeichnens. In: Dresdner Beiträge zur Geschichte der Technikwissenschaften, Heft 23/2 (1994), S. 76. 53 Vgl. Winckelmanns These: „Die Künste, welche von der Zeichnung abhängen, haben, wie alle Erfindungen, mit dem Notwendigen angefangen; nachdem suchte man die Schönheit, und zuletzt folgte das Überflüssige: Dieses sind die drei vornehmsten Stufen der Kunst.“ Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Altertums, Weimar 1964 (1763), S. 21.

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Ausformung der Knotenpunkte, die Formung der Gurtung und den Abschluss der Träger auf den Widerlagern. Die Brücken werden nur in Seitenansicht gezeigt. Im Begleittext werden die Muster allgemein als Beispiele für vier gestalterische Kriterien erörtert: Proportion, Linienführung, Flächenbehandlung und Raumgestaltung.54

Die Abbildungen 12-1655 sind typische Beispiele der Jordan’schen Entwurfstechnik. Sie zeigen eine Sequenz von Fachwerkbrücken auf zwei Gelenken mit gleicher Stützweite. Tafel 1a ist eine Brücke mit einem Fachwerk von senkrechten und diagonalen Verstrebungen, die ein Raster von statisch stabilen Dreiecken ergeben. Auf Tafel 1b sind die Formen gerundet und die Brückenkonstruktion läuft in einer barocken Rocailleform aus. Tafel 2 übernimmt die verspielte Form von 1 b, lässt aber die Diagonalen im Schnittpunkt mit den senkrechten Streben kreuzen, so dass ein Muster mit gleichschenkligen Rauten und Dreiecken entsteht, die sich zu einem annähernd rechteckigem Feld zusammenschließen. Tafel 3 ist eine Verbundform von gebogenem Fachwerkbalken und Bogenbrücke. Die Rasterbreite für die Feldaufteilung ist auf die Hälfte reduziert. Tafel 5 ist eine Stabbogenbrücke mit verstärktem Obergurt.

Abb. 12-16

Jordans Entwürfe und auch die dazugehörigen Skizzen weisen keine Überarbeitungen auf, sondern sind fast immer als fertiger Entwurf ausgeführt. Nach den vorliegenden Zeichnungen auf Papierkarton und Durchpauspapier lässt sich vermuten, dass Jordan offenbar nach folgender Entwurfspraxis verfuhr: Auf die in Tusche ausgearbeitete Musterzeichnung wurde Transparentpapier aufgelegt und eine neue Variante nicht freihändig, sondern mit Lineal und Schablonen entworfen und diese wieder auf starkes Zeichenpapier übertragen. Jordan bewegt sich, ganz im Gegensatz zu seinen ideellen Ansätzen, im engen Rahmen der technischen Möglichkeiten des eisernen Brückenbaus,

54 Jordan, Hermann / Michel, Eugen. (Hg.): Die künstlerische Gestaltung von Eisenkonstruktionen im Auftrage der königlichen Akademie des Bauwesens in Berlin, Bd. I, Berlin 1913, S. 88 ff. 55 Tafel 1-5 Deutsches Museum, Archiv, TZ 013894-013898.

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die durch produkttechnische Innovationen im wesentlichen bestimmt werden. Diese sind u.a. die großtechnische Produktion von gewalzten Doppel-T-Trägern, ein praktisches Ergebnis der Materialstatik, und die Einführung von Heißnietung für die Montage von Stahlelementen.56

Jordan versucht, die „Fabrikware“ eiserne Fachwerkbrücke künstlerisch weiterzu-entwickeln, ohne sich applizierter Ornamente zu bedienen. Sein ästhetisches Konzept, spielt mit den Gestaltungsmöglichkeiten der technischen Formen. In seinem Bestreben, exemplarisch gestaltete Prototypen zu schaffen, die sich der Fertigungsmethoden der Industrie bedienen, nähert sich Jordan zeitgleichen Leitmotiven des Deutschen Werkbundes, der ein Jahr zuvor in München gegründet wurde.

Schlussbetrachtung

In der Entwicklung des modernen Gestaltungsbewusstseins nimmt der Brückenbau eine führende Rolle ein und dies nicht erst seit dem 19. Jahrhundert. Schon seit seinen historischen Anfängen ist der Brückenbau in seinem Erscheinungsbild durch die Konstruktion geprägt: Sogar die Fachbücher über Brücken sind nicht chronologisch oder nach Stilepochen geordnet, sondern nach ihrer statischen Bauweise: Bogenbrücke, Balkenbrücke und Seilverspannte Brückenkonstruktionen.57 Diese drei grundliegenden Konstruktionsprinzipien haben sich bis heute nicht geändert. Brückenbau ist somit einerseits eine konservative Fachrichtung, die sich über Jahrtausende wenig von ihren Ursprüngen entfernt hat, andererseits der moderne funktionale Nukleus in der komplexen Entwicklung der Architekturgeschichte zu funktionalen Formen im 20. Jahrhundert nach dem eingangs zitiertem Paradigma: „Das Zeitalter der Technik erfindet seine Formen selbst.“58

Die Entwicklung der technischen Zeichnung von Wiebeking bis Jordan zeigt die Bedeutung der ästhetischen Reflexion im Entwurfsprozess bei zunehmender Technisierung. Aus einer illustrativen, malerischen Konstruktions- und Entwurfs-zeichnung entsteht im Zuge von Rationalisierung und Arbeitsteilung die vermaßte technische Werkstattzeichnung. Die Konstruktionszeichnung, und dafür ist die Ent-wicklung des Brückenbaus im 19. Jahrhundert exemplarisch, ist nicht nur visuelle technische Information, sondern Ausdruck eines ästhetischen Gestaltungswillens. Die gestalterische Kompetenz des Brückenbauingenieurs ist aber - besonders anschaulich demonstrieren dies die Entwürfe von Jordan - das Produkt seiner technischen Kompetenz im kreativen Umgang mit den Möglichkeiten des Konstruktiven.

56 Doppel-T-Profle durch Torés 1849 in Frankreich eingeführt und in Deutschland seit 1881 in einem Normalprofilbuch zusammengefaßt. Vgl. Michel, Die künstlerische Gestaltung von Eisenkonstruktionen, S. 106. 57 Vgl. z.B. den Aufbau des Führers zur Brückenbauausstellung im Deutschen Museum: Bühler, Dirk: Brückenbau, Deutsches Museum (Hg.), München 2000. 58 Selle, Geschichte des Design, 1997(1994), S. 20. Vgl. auch Neue Sammlung München (Hg.): Die Verborgene Vernunft. Funktionale Gestaltung im 19. Jahrhundert. Ausstellungskatalog, München 1971.