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Davidi · Paradiso als Pardes

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Davidi · Paradiso als Pardes

Einat Davidi

Paradiso als PardesKontrapunktisches Lesen der PoetologieJosé Lezama Limas und der Sprach- und

Geschichtstheorie der Kabbala

Wil helm Fink

Umschlagabbildung:Ouroboros. Zeichnung von Theodoros Pelecanos aus „Synosius“,

einem alchemistischen Traktat (1478)

Bibliografi sche Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografi e; detaillierte bibliografi sche Daten sind im Internet über

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Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung

einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien,

soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten.

© 2012 Wilhelm Fink Verlag, München(Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn)

Internet: www.fi nk.de

Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, MünchenPrinted in Germany

Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co KG, Paderborn

E-Book-ISBN 978-3-8467-5295-1ISBN der Printausgabe 978-3-7705-5295-5

Meinen Eltern,Hadassa und Haim Davidi

DANKSAGUNG

Ein uneingeschränkter Dank gilt dem Übersetzer von Lezama Limas La expresión americana ins Deutsche, meinem Doktorvater, Prof. Gerhard Poppenberg von der Universität Heidelberg, für sein wahrhaftes Interesse an diesem Projekt und seine teure und treue Begleitung. Weit entfernt von künstlicher und verehrender Tole-ranz ergab sich aus den zahlreichen Streitgesprächen mit ihm eine produktive und tief gehende Auseinandersetzung über Urteile und Vorurteile, der das vorliegende Buch sich verdankt und an der ich weitgehend gewachsen bin. Dafür, dass er ausge-hend von der Promotion auch weiterhin meine wissenschaftliche Weiterentwick-lung unterstützt, möchte ich mich ganz herzlich bedanken.

Ein weiterer Dank gilt Prof. Dieter Ingenschay von der Humboldt Universität zu Berlin, einem ebenso guten Kenner von Lezama Lima. Seine Förderung ermög-lichte mir Studium und Forschung in Kuba, und er übernahm freundlicherweise das zweite Gutachten.

Bei Prof. Ivan González Cruz, dem Enzyklopädisten Lezama Limas von der Uni-versidad Politécnica de Valencia, möchte ich mich für seine hilfreichen Hinweise bedanken. Prof. Ruth Fine von der Hebräischen Universität Jerusalem, Prof. Dani-el Krochmalnik von der Hochschule für jüdische Studien in Heidelberg und Prof. Bernhard Teuber von der Universität München gilt ein Dank für die Lektüre und Kritik einzelner Kapitel.

Ein weiterer Dank gilt Dr. Jan Eike Dunkhase, Dr. Christian Grünnagel, Dr. Herle-Christin Jessen und Karen Saban für ihre Lektüren, Anmerkungen und Kor-rekturen. Ein besonderer Dank gilt Dr. Stephanie Geldbach; ohne ihren energi-schen pragmatischen Antrieb hätte dieses Projekt sicher noch lange Jahre gedauert.

Dr. Alon Segev, meinem Lebensfreund und Hausphilosophen, danke ich für sei-ne gnadenlose Kritik und vielfältige Unterstützung.

Schließlich gilt ein sehr herzlicher Dank meinem Bruder Tsach-Isaac und mei-nen Eltern Hadassa und Haim, die während meines Studiums unseren mediterra-nen Pardes aufrecht erhalten haben.

INHALT

EINFÜHRUNG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

1. ‚DER ANFANG SCHUF GOTT‘ JOSÉ LEZAMA LIMA ZWISCHEN THEOGONIE UND THEOSOPHIE . . . . . . . . . 291.1 Lezama Lima – Mythopoetik, Theopoetik, Kulturtheorie . . . . . . . . 291.2 Die Geschichte Orpheus’ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331.3 Vicos Poetische Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391.4 Die orphische und die parmenideische Nacht . . . . . . . . . . . . . . . . . 431.5 Orphisch-zoharische Schöpfungsgeschichte in Paradiso . . . . . . . . . 481.6 Die Schöpfungstheorie der theosophischen Kabbala . . . . . . . . . . . . 541.7 Das Androgyne, der Ouroboros und die moderne Magie . . . . . . . . 601.8 Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65

2. FEHLER IM PARADIES

FEHLERHERMENEUTIK UND PROPHETISCHE KABBALA . . . . . . . . . . . . . . . . 672.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 672.2 Fehlerinterpretation und Fehlinterpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73

2.2.1 Cortázar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 732.2.2 Sarduy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 762.2.3 Santí und Teuber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 772.2.4. Rogmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79

2.3 Fehler in Paradiso . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 832.3.1 Ravels Fehler? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 832.3.2 Fehlerhaftes Gewächs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 852.3.3 Der Fehler als Vorfall und Unfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 902.3.4 Irr-Wege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 932.3.5 Fehler, Fallen und Zu-Fallen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 952.3.6 Fehler und Fehlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97

2.4 Fehler, Kanonisierung und Zeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 992.4.1 Die Aporie der Autorität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1002.4.2 Die Massorah . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1032.4.3 Der Fehler als Vor-Zeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107

8 INHALT

2.5 Abraham Abulafias prophetische Kabbala . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1092.5.1 Der fünfte Pfad . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1102.5.2 Abulafia und Maimonides . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1122.5.3 Der sechste Pfad . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1162.5.4 Der Fehler und das Orakel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1202.5.5 Der Delphische Kurs und das Ge-Fallen . . . . . . . . . . . . . . . . 128

2.6. Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135

3. VOM BRUCH DER GEFÄSSE UND GÖTTLICHER IRONIE

DER LURIANISCHE MYTHOS UND DIE POETIK DES FRAGMENTS . . . . . . . . . 1413.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1413.2 Das Kapitel XII – Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149

3.2.1 Die Geschichte vom zerbrochenen Krug in seinem Kontext . . 1493.2.1.1 Die Vita des Generals Atrio Flaminio

(A-Fragmente) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1493.2.1.2 Nächtliche Erfahrungen (C-Fragmente) . . . . . . . 1503.2.1.3 Kritischer Geist und Todesangstwahn

(D-Fragmente) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1523.2.1.4 Vereinigung zum Tode (Das E-Fragment) . . . . . . 153

3.2.2 Der Bruch der jarra danesa – Kommentar . . . . . . . . . . . . . . 1543.2.2.1 Der Ur-Bruch der jarra danesa . . . . . . . . . . . . . . . 1553.2.2.2 Der Un-Bruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1613.2.2.3 Der Um-Bruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1633.2.2.4 Der neue Krug (B4/E) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165

3.3 Die lurianische Kabbala und das System von Paradiso . . . . . . . . . . . 1693.3.1 Die lurianische Kabbala: Schöpfungstheorie nach

historischer Zäsur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1703.3.2 Verdeckung und Aufdeckung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1753.3.3 Zimzum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1813.3.4 Vom estilo sistálico zum estilo hesicástico . . . . . . . . . . . . . . . . 1883.3.5 Das Zyklische und die Spirale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1973.3.6 Neobarock . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204

3.4 Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205

4. DIE VITA ACTIVA DES GENERALS ATRIO FLAMINIO . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2094.0 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2094.1 Fragmentierte Vita? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210

4.1.1 General im (Waffen)Stillstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2104.1.2 Die Schlacht von Milet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213

9INHALT

4.1.3 Die Schlacht von Thessalien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2174.1.4 Die Schlacht von Larisa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2224.1.5 Der General im Sarg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228

4.2 Generalsfigur und Generalsfigura . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2294.2.1 Flaminio als Allegorie des acto . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2364.2.2 Die metaphysische Dimension: der aktiver Mensch

als Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2384.2.3 Die ethische Dimension: Acto und Vita . . . . . . . . . . . . . . . . 2434.2.4 Acto, Tod und Imago . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253

4.3 Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258

NACHWORT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261

BIBLIOGRAPHIE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263

Es ist dazu gekommen, dass die Sprache des Menschen wie zu zweien geworden ist, wobei sich die eine aus der Zerstörung der anderen bildet. (Chaim Nachman Bialik)

Die wahre Ästhetik ist die Kabbala. (Friedrich Schlegel)

EINFÜHRUNG

Gegenstand der vorliegenden Studien ist die Poetologie des kubanischen Schrift-stellers, Dichters und Essayisten José Lezama Lima. Diese Poetologie versteht sich als eine radikale Schöpfungstheorie im weitesten Sinne, als eine die Sprache, Ge-schichte und Kultur als permanente Schöpfung auffassende. Sie soll in ihrer Affini-tät zu einigen Denkmodellen der jüdischen Mystik, der Kabbala1 gelesen werden. Die Kabbala ist ein Textkorpus, in dem Sprachschöpfung und Weltschöpfung gleichzeitig und als gleichzeitig gedacht werden. Die folgenden Überlegungen sol-len einen Beitrag zur Philologie Lezama Limas und damit zu einem Grundstein der lateinamerikanischen Literatur- und Kulturtheorie im 20. Jahrhunderts leisten, der gemeinhin unter der Kategorie des Neobarocks bekannt ist. Sie sollen weiterhin die vielfältige Literatur zur Erforschung der Affinität zwischen jüdischer Mystik und Sprach- und Literaturtheorie bereichern.2

1 Kabbala wird die jüdische Mystik erst seit dem 12. Jahrhundert genannt. 2 Die Verbindung zwischen Kabbala und Ästhetik, Kabbala und Literatur, Kabbala und Sprachthe-

orie ist keine Neuigkeit. Sie liegt in erster Linie der endogenen jüdische Kabbala als immanente Verfassung zugrunde, deren Kardinalpunkt das frühe Buch der Schöpfung (Sefer Yezira), das Ur-buch der jüdischen Ars poetica bildet. Die Bedeutung und die Autorität dieses heute auf die Zeit zwischen dem 2. und 3. Jahrhundert n. Ch. datierten, anonym überlieferten Buches kann für die Entwicklung der Kabbala nicht hoch genug eingeschätzt werden (Sefer Yesira, herausgegeben, übersetzt und kommentiert von A. Peter Hayman, Mohr Siebeck, Tübingen 2004). Yehuda Lie-bes hat es als poetologisches Buch im eigentlichen Sinne gedeutet und geht so weit, dass er die ganze Kabbala als die Deutung dieses Buches ansieht, denn „nicht die Kabbala gebar Deutungen vom Buch der Schöpfung, sondern die Deutungen des Buches gebaren die Kabbala“. Vergleiche auch Yehuda Liebes: Ars Poetica in Sefer Yetsira, Schocken Publishing House, Tel Aviv 2000, S. 9 und 244. Die Verbindung zwischen Kabbala und Ästhetik oder Kabbala und Literatur bildet aber vor allem einen wesentlichen Bestandteil der so genannten exogenen, christlichen Kabbala, deren Geschichte bis zu den spanischen Mystikern Poeten zurückreicht (siehe Catherine Swietlicki: Spanish Christian Cabala: The works of Luis de Leon, Sante Teresa de Jesús and San Juan de la Cruz, University of Missouri Press, Columbia 1986 und Dominique Reyre: „Fray Luis de San Francisco, un hebraísta cristiano del Siglo de Oro frente a la cábala rabínica“, in: Criticón 75 (1999), S. 69-89) und bis in die Anfänge der Neuzeit bei Pico della Mirandola (siehe Chaim Wirszubski: Pico della Mirandola’s Encounter with Jewish Mysticism, Israel Academy of Sciences and Humanities, Je-

12 EINFÜHRUNG

Die interdisziplinär und komparatistisch ausgerichtete Verbindung zwischen diesen so verschiedenen textuellen Landschaften zielt nicht auf die Herausarbei-tung eines Einflusses auch wenn ausreichende Beweise für einen solchen vorliegen,3

rusalem 1989). Doch vor allem schlug diese Verbindung in Deutschland zu Buche und erreicht ihren Höhepunkt in der Romantik. Eine Reihe von in den letzten Jahren in Deutschland erschie-nenen wissenschaftlichen Beiträgen zur Historiographie der Konfiguration der kabbalistischen Sprachtheorie und ihrer Umdeutung zeigt aus historischer Sicht die Produktivität kabbalistischer Denkmodelle für zahlreichen Sprachphilosophien wie z. B. Herder, Hamann, Molitor, Harsdörf-fer, Schlegel, Novalis, Baumgarten u. a. (vergleiche Andreas Kilcher: Die Sprachtheorie der Kabba-la als ästhetisches Paradigma. Die Konstruktion einer ästhetischen Kabbala seit der Frühen Neuzeit, Metzler, Stuttgart 1998 und die Sammelbände von Goodman-Thau, Mattenklott, Schulte (Hg.): Kabbala und Romantik, Niemeyer, Tübingen 1994 und Eveline Goodman-Thau (Hg.): Kabbala und die Literatur der Romantik: zwischen Magie und Trope, Tübingen, Niemeyer 1999). Auch im 20. Jahrhundert finden kabbalistische Denkmodelle ihren Weg in die Literatur und Literaturthe-orie. Zu dieser evidenten und wiederbelebten Affinität zwischen Kabbala und Literatur- bzw. Sprachtheorie zählen einerseits Schriftsteller und Dichter, die kabbalistischen Einfluss aufweisen wie Jabés, Kafka (siehe Karl Erich Grözinger: Kafka und die Kabbala. Das Jüdische in Werk und Denken von Franz Kafka, Eichborn, Frankfurt am Main 1992) und Celan (siehe Jean Figes: Vom Osten gestreut, einzubringen im Westen: Jüdische Mystik in der Dichtung Paul Celans, Sonnenberg Verlag, Annweiler 1998). Andererseits sind auch Sprachtheoretiker zu nennen, die sich auf kab-balistische Denkmodelle beziehen (Ausführlich dazu siehe Andreas Kilcher, Die Sprachtheorie der Kabbala, S. 329-352) oder diese ganz gar in ihre Theorien ganz einbauen (vergleiche Harold Bloom: Kabbalah and Criticism, Continuum, N.Y. 1999 und ders.: The Breaking of the Vessels, Chicago University Press, Chicago 1982). Hierzu gehören auch lateinamerikanische Schriftstel-ler, die in verschiedenen Formen mit kabbalistischen Modellen gearbeitet oder sich auf sie bezo-gen haben, wie unter anderem Borges (siehe „Una vindicación de la cábala“ und „El Alef“, in: Jorge Luis Borges: Obras Completas, Bd. I, Emecé Editores, Buenos Aires 1989, S. 209-212 und 617-628. Dazu Saúl Sosnowski: Borges y la Cá bala: la bú squeda del verbo, Ediciones Hispamé rica, Buenos Aires 1976), oder Autoren, die die Kabbala als eine Chiffre verwendet haben, wie bei Alejo Carpentier das Motto zu El siglo de las luces, Gabriel García Márquez in Cien años de soledad sowie in Roa Bastos’ Vigilia del Almirante. Die „vielberufene Verbindung zwischen Dekonstrukti-on und Kabbala“ (Aleida Assmann, „Einleitung“, in: ders. (Hg.): Texte und Lektüren. Perspektiven in der Literaturwissenschaft, Fischer, Frankfurt am Main 1996, S. 20) sowie von Hermeneutik und Kabbala wurde ausführlich in zahlreichen Büchern und Studien von Elliot R. Wolfson, Moshe Idel und Haviva Pedaya herausgearbeitet; es sind auch diese Studien, die in dieser Studie als Brü-cke zwischen der endogenen Kabbala und der späteren Perspektive auf sie im 20. Jahrhundert die-nen. Schließlich kann diese exemplarische Liste nicht ohne den Namen Gershom Scholems ge-schlossen werden, des großen Patriarchen der modernen Kabbala-Forschung, der durch seine – von ödipalem Gehabe nicht freien – Schüler und Nachfolger selbst unter romantischem Verdacht steht, also als jemand, der selbst die Kabbala in romantischem Sinne ästhetisiert hat. Dieser Vater bleibt unserer Auffassung nach jedoch unverzichtbar.

3 Lezama Lima hatte wenig Zugang zur orientalischen Mystik, noch weniger als zu ostasiatischen Schriften. Doch ist es denkbar, dass er durch die enge Freundschaft mit Ángel Gaztelu in den frü-hen 1930er Jahren einen Zugang zu kabbalistischen Texten fand. Belegbar bleibt nur die in Para-diso explizit nachweisbare Lektüre des als christlicher Kabbalist geltenden Pico della Mirandola sowie Jakob Böhme. Doch verschiedene Indizien lassen kaum einen Zweifel daran, dass es weite-re Quellen gab, wenn auch mündlich-esoterischer Natur, aus denen Lezama Lima schöpft: so etwa die nicht seltenen Erwähnungen der Zohar als hombre de Zohar in dem Essay „A partir de la poe-

13EINFÜHRUNG

sondern ist vielmehr kontrapunktischer Natur. Es gilt, die Texte sich gegeneinander ausspielen zu lassen, damit sie einander beleuchten und beschatten. Jenseits der historischen und autobiographischen Erforschung einer Rezeption oder einer ge-nerativen Verwandtschaft handelt es sich hier um eine aus der Ferne geschlagene Brücke, die aber wieder dazu dient, auf eine innere, wesentliche Affinität hinzuwei-sen.

Das Heranziehen einer genuinen Sprachmystik dient dazu, die widersprüchliche Natur des Werkes Lezama Limas auf seine in Anspruch genommene Systematizität hin zu lesen, da auch letztere genau dort provokativ ein System zu etablieren be-hauptet, wo prinzipiell kein System bestehen kann. Wie wäre sonst ein poetisches System der Welt (un sistema poético del mundo4) zu verstehen?

Vielmehr als etwa vom Verhältnis zwischen Mensch und Mensch oder Mensch und Gott im engeren Sinne, handelt es sich im opus magnum Lezama Limas Paradi-so (1966) in erster Linie um die Beziehung von Mensch und Kosmos.5 Es versteht sich als eine Poetologie sui generis. Diese konstituiert sich als die Imagen,6 die im Gegensatz zur Metapher – verstanden als Verhältnis, bei dem eine sukzessive Kausa-lität gilt – die größtmögliche Diskontinuität bezeichnet,7 ein die zeitliche Folge

sia“ (in: La cantidad hechizada, Contemporáneos Unión, La Habana 1970, S. 46f. Vergleiche hierzu auch das erste Kapitel dieser Arbeit), die nicht weniger seltenen Erwähnungen der Figur von Zoar auf den ersten Seiten von Paradiso; oder der Hinweis auf das Volk der Edomiten und zwar gerade nicht in der biblischen Bedeutung, sondern in der kabbalistischen Hervorhebung (vergleiche Paradiso, S. 251 vollstaendige Angabe, und die erwähnte Stelle in A partir de la poesía sowie bei Armando Álvarez Bravo: „Órbita de Lezama Lima“, in: Recopilación de textos sobre José Lezama Lima, Selección y notas Pedro Simón, Casa de las américas, La Habana 1970, S. 58. Siehe dazu Manuel Pereira: Del tablon al puente. Comentando algunas cartas inéditas de Cortázar a Leza-ma, Vortrag im Literaturhaus in Berlin, 1988, S. 12 (unveröffentlicht)). Letztlich war es Julio Or-tega, der den kabbalistischen Niederschlag bei Lezama Lima als nahezu gleichwertig mit jenem der Patristik einschätzte, als er von „la audaz confluencia de la patrística y el cabalismo“ sprach („La biblioteca de José Cemí“, in: Eco 155 (1973), S. 324f.)

4 Im Folgenden wird bei Zitaten aus Werken von José Lezama Limas der Name des Autors mit „JLL“ abgekürzt: JLL: „Introducción a un sistema poético“, in: Tratados en La Habana, Univ. Central de las Villas, Dep. de Relaciones Culturales, La Habana 1958.

5 „Se plantean problemas esenciales de la relación del hombre y del cosmos. En ese sentido del diálogo del hombre con lo invisible. Diálogo del hombre con lo invisible.“ Diese Feststellung der in Paradiso behandelten Probleme siedelt sie weder in der Logik noch in der Metaphysik, sondern in erster Linie in der Welt der Physik an. So hat auch Cortázar bei Lezama Lima von jener „con-ducta de orientación cósmica“ gesprochen. Für Lezama Lima selbst gilt allerdings, dass diese Fra-gestellung einen Dichter zwangsläufig zu einem religiösen Poeten macht. Vergleiche sein Ver-ständnis der Kreationisten Huidobro und Guillén in: „La imagen para mí es la vida“. Interview mit Gabriel Jimenez Eman, in: Imagen 1976 (109), S. 46.

6 Aufgrund der etymologischen Verwandtschaft mit der Imago und der Zentralität dieses Begriffs bei Lezama Lima wird er in dieser Studie im Original verwendet.

7 „(…) a la causalidad sucesiva de la metáfora sucede el cuerpo de la causalidad asociativa o contra-puntística de la imagen“ (JLL: „La Dignidad de la poesía“, in: Tratados en La Habana, Univ. Cen-tral de las Villas, Dep. De Relaciones Culturales, La Habana 1958, S. 406).

14 EINFÜHRUNG

überschreitendes Verhältnis, eine causalidad simultánea.8 Das paradoxe Verhältnis zwischen dem Nächsten (cercano) und dem Entferntesten (lejano), dem Sichtbaren (visible) und dem Unsichtbaren (invisible), dem Sternhaften (estelar) und dem Tellu-rischen (telúrico) bildet stets eine absurde Totalität (absurda totalidad).9 Dabei han-delt es sich nicht um ein statisches Verhältnis, das eine Struktur bildet, sondern vielmehr um eine dynamische Umwandlung,10 welche die Entstehung von Poesie und Roman darstellt.11 Dieser Grundmodus entspricht nun der grundsätzlichen kabbalistischen, kosmologischen Spekulation. Die (Sprach-)Schöpfungstheorie der Kabbala dreht sich stets um das paradoxe, philosophisch kaum oder gar nicht be-schreibbare Verhältnis zwischen Endlichem und Unendlichem, Begrenztem und Unbegrenztem.12 Sie geht nicht von (einem) Gott als Schöpfer aus, sondern ver-sucht die aus der biblischen Schöpfungsgeschichte entstandene und infolge der Philosophie des Maimonides überspitzte, absolute Kluft zwischen Gott und Welt zu überwinden. Dabei gelangt sie vergleichbar mit manchen Geschichtsphiloso-phien bzw. Geschichtstheologien zu der Gleichsetzung von Gott und Weltprozess. Trotz dieser Gleichsetzung bleibt das Verhältnis von Oberen (Elyonim) und Unteren (Tachtonim), Begrenztem und Unbegrenztem ihr Kardinalpunkt. Das Obere ist aber seinerseits eine paradoxe Größe. Denn für dieses ist die noch kühnere In-eins-Setzung, oder wie Heidegger sie nennen würde, Gleichursprünglichkeit von Gott und Nichts sowie von dem Unendlichen (En-Sof) und Nichts (Ein) maßgebend. Auch hier bildet dies Paradoxon weniger eine Architektur oder Struktur sondern vielmehr eine Dynamik. Dieser Komplex ist eine Geschichte. Er antwortet weniger auf die Frage nach dem Was als auf die Frage nach dem Wie. Der Grundgedanke der coincidentia oppositorum gilt nicht als statische Struktur, sondern als Grundmo-dus der Bewegung, als zeitliches Geschehen und entfaltet sich als Geschichte und als Mythos. Daher sind Mythos, Geschichte und Sprache stets doppelspurig, dop-peldialektisch. Der Übergang vom Sein ins Nichts ist stets die Kehrseite des Über-gangs vom Nichts ins Sein. Konkretisierung und Abstrahierung, Hervorbringung

8 JLL: „Preludio a las eras imaginarias“, in: La cantidad hechizada, Contemporáneos Unión, La Ha-bana 1970, S. 7-21.

9 Ebenda, S. 406. 10 Diese wird weniger im Sinne einer Transformation, als vielmehr im Sinne einer Transmutation

oder Transfiguration verstanden. 11 „Ambos, lo cercano y lo lejano, coinciden en un absoluto (…) en lo más inmediato y en la bús-

queda de lo absoluto, toda vida tiende hacia su transfiguración, hacia la penetración en la médula de la vida“. Brief an Elizabeth Boiffard vom Oktober 1971, Cartas a Eloísa y otra correspondencia, Editorial Verbum, Madrid 1998, S. 411f. „…poiesis, como decían los griegos, la creación del mundo respirante, de la creación del mundo respirante, afanosos de transformar lo inorgánico en orgánico, lo más lejano en cercano y todo pletórico de un mundo que se agita y que aspira a vivir; en esa reproducción de lo circunstancial cotidiano y de lo más lejano fue surgiendo mi novela“. „Interrogando a Lezama Lima“, in: Recopilación de textos sobre José Lezama Lima, Selección y notas Pedro Simon, Casa de las américas, La Habana 1970, S. 21.

12 „[L]a imagen como proporción y nueva causalidad entre el hombre y lo desconocido.“ JLL: „La Dignidad de la poesía“, S. 408.

15EINFÜHRUNG

des Bildes (Hamchasha) und seiner Vernichtung in der Hervorbringung des Be-griffs (Hafshata)13 vollziehen sich andauernd.14 Daraus ergibt sich eine Sprache mit Janusgesicht, eine Sprache der Entdeckung als Verdeckung. Sie entsteht als Resultat des Bezugs zu Gott, der zugleich auch Nichts ist. Es ist ein Gott, der sein Anderes, seine eigene Negation in sich enthält, ein unendlicher Prozess von Entstehen und Vergehen.

Selbstverständlich sorgt solch ein widersprüchlicher Ursprung sowohl für eine überaus fragmentierte Sprache und Geschichte sowie einen fragmentierten Text als auch für ihre Vielheit. Die Imagen Lezama Limas bezeichnet die paradoxe Kommunikation,15 die Annäherung und die assimilatorische Vereinigung mit dem, was prinzipiell nicht kommunizierbar, nicht annäherbar ist, mit dem Unsichtbaren, dem desconocido, dem Nichts. Jene Einheit, die zwangsläufig Zweiheit ist, jene Des-Identität der Gottheit mit sich selbst, ist für die Vielheit der Figurationen und der Fragmente verantwortlich. In der Kabbala entstehen daraus paradigmatisch die Buchstaben und die Zahlen oder das System der Sefirot.16 Lezama Lima spricht von dem primären Impuls des Weltgeschehens, der Schöpfung der „evaporación de la imagen“, der Verdunstung des Bildes.17

Aus jenem Absoluten, Gott, der zum einen mit der Welt (als Überwindung der im Prinzip niemals unüberbrückbaren Kluft) zum anderen mit dem Nichts als die zwangsläufig paradoxe Existenz des Unbegrenzten gleichgesetzt wird, entsteht nun notwendigerweise jene janusgesichtige Sprache, welche sowohl als schwärmerische transzendente als auch als ironische Sprache wirkt. Lezama Lima redet genauso oft von Gott wie vom Nichts oder der Leere (vacío), als wären diese gänzlich austausch-bar. Aufgrund dieser ludischen Austauschbarkeit von Gott und Nichts sowie von Gott und Welt sind Transzendenz und Immanenz, Ironie und Ernst zugleich am Werk, denn für jenes Andere sowie für den sprachlichen Bezug darauf gilt stets die entscheidende coincidentia oppositorum. Um existieren zu können, muss jedes Ding Grenzen haben; mit anderen Worten, es muss potenziell zugleich nicht-existierend

13 Auch Lezama Lima sah das Definieren als Vernichtung, als Übergang ins Nichts, als eine Asch-Werdung: „Toda definición es un conjuro negativo. Definir es cenizar.“ „Interrogando a Lezama Lima“, S. 29. Abstraktion ist eben nicht ein Reduzieren des Wortes auf einen Sinn, kein Übergang ins Sein, sondern gerade ins Nichts.

14 Siehe Rachel Elior: „Die verschiedenen Gesichter der Freiheit. Überlegungen zu jüdischer Mys-tik“, in: 2000 16 (1994), S. 76-94.

15 „La imagen es la realidad del mundo invisible (…) la realidad está allí, es lo otro, y de la única ma-nera que podemos establecer un puente entre ella y nosotros es por la imagen. Creo que la imagen es una forma de diálogo, una forma de comunicación.“ Cartas a Eloísa y otra correspondencia, S. 218.

16 Dies gilt spätestens ab dem Buch der Schöpfung im 3.-4. Jahrhundert. Die zehn Zahlen heißen dort Sefirot, die eigentlich Zählungen und nicht Zahlen bedeuten. Diese werden im Laufe der Ge-schichte der Kabbala allmählich zu Stufen oder zu einer Art Zehnfaltigkeit und gleichzeitig zu Al-legorien. Dies geschieht im 13. Jahrhundert in Shaarey Ora von Josef Jikatila. So verwandelt sich die Sefirot allmählich von Zählungen in Er-zählungen.

17 JLL: „La dignidad de la poesía“, S. 406.

16 EINFÜHRUNG

sein können. Das Existierende enthält also notwendig in sich selbst sein Nicht-mehr-existieren. Dies gilt aber nicht für das absolut Existierende (actus purus) dessen Negation ein contradictio in terminis sein müsste.18

Dies ist das pochende Herz von Paradiso, das dafür sorgt, dass in ihm sowie in seiner Rezeption nicht clare et distincte zwischen Religion und reiner Ästhetik unter-schieden werden kann, da das ser del existir und das existir del ser19 stets gleichzeitig im Spiel sind, als claroscuros irónicos.20

Es ist schließlich auch genau diese Lezama Lima und den Kabbalisten gemeinsa-me Dynamik, die sie einerseits von derjenigen einer unähnlichen Ähnlichkeit der negativen Theologie, andererseits von der unio mystica unterscheidet. Weder geht es ausschließlich um eine statische Struktur, eine Sprache der Signifiants ohne Sig-nifiés, eine referenzlose magische Sprache,21 woraus ein notwendiges Scheitern ent-steht, das seinerseits im Angesicht des Unaussprechbaren oder dem Nichts konst-ruktiv wird. Noch geht es ausschließlich um eine zwar transformatorische, doch einspurige Auflösung des Begrenzten in das Unbegrenzte, einen einspurigen, ein-seitigen Übergang in das Nichts als Auflösung des Subjekts. Es geht vielmehr um eine Konzeption des Weltgeschehens und der Geschichte als „inexistenter und bi-polarer horizontaler Regen“ („inexistente y bipolar lluvia horizontal“),22 um eine doppelgesichtige Transformation im paradoxen Modus der gegenseitigen Bedingt-heit der Gegensätze, eine Destruktion, die stets eine Konstruktion ist.

Nun hat diese Konzeption des Weltgeschehens unmittelbar mit dem theo-poeti-schen Status von Paradiso zu tun, der sich als eine Sonderform des Problems der Säkularisierung deuten lässt. Die Frage, die hier im Zentrum stehen soll, ist die nach der Natur einer Rhetorisierung und Ästhetisierung von Begriffen religiösen Ur-sprungs vor allem katholischer Provenienz in Paradiso und in einer Reihe der poe-tologischen Essays. Sind die Konzepte von imagen, acto, potens, súbito und resurrec-ción, die die Mechanismen der Entstehung von Poesie beschreiben, als transzendent zu verstehen, auf ihre ursprünglichen theologischen – genauer katholischen – Sub-strate zurückzuführen und erlauben sie damit den Autor als katholischen, ja sogar als eine Art geistigen Lehrer, als „maestro“, zu designieren oder werden diese Be-griffe als bloße Metaphern verwendet, ohne dass sie den theologischen (vertikalen inhaltlichen oder horizontalen kontextuellen) Wert mit sich schmuggeln, um mit Paul de Man zu sprechen? Handelt es sich in Paradiso um Religion als Metapher

18 Die wichtigste Quelle für Lezama Limas coincidentia oppositorum war ohne Zweifel Nikolaus von Kues’ De Docta ignorantia, die er mehrfach neben Pascal und Vico als eine seiner wichtigste Quel-len erwähnte. Siehe Fußnote 93.

19 JLL: „Introducción a un sistema poético“, S. 9 20 Ebenda. 21 Damit schließen wir auch die Kette der Signifikanten, als horizontaler, nachträglich als Effekt

entstehender Sinn, wie Derrida sie konzipiert. 22 JLL: „Las imagenes Posibles“, in: Analecta del reloj, Orígenes, La Habana 1953, S. 166.

17EINFÜHRUNG

oder etwa um die Religion der Metapher,23 um Poetik der Religion oder Religion der Poetik?

In seiner ganzen Schärfe wird dieses Problem in der Rezeptionsgeschichte wider-gespiegelt. Das Spektrum der Deutungen des Systems Lezama Limas weist bezüg-lich dieser Frage eine maximale Öffnung des Kompasses24 auf. Sein Werk wird ei-nerseits als transzendentale katholische Kosmologie oder eine Art tropische Version eines hermetischen Mystizismus verstanden,25 andererseits als horizontale postmo-derne Form von Dissemination.26 Es ist also nicht verwunderlich, dass gerade diese Spannung selbst einen Schwerpunkt der Forschung bildet.27 Auch die Rezeption

23 Lezama Lima reagierte sehr sensibel auf die metaphorische Sprache von Philosophen und Theore-tikern. In der folgenden Textstelle weist er darauf hin, dass gerade Verfechter des Atheismus von Metaphern religiöser Natur abhängig bleiben: „Todos sabemos que Valéry hizo siempre profesión de ateísmo. Ahora bien cuando definió a la poesía, lo hizo diciendo que era el paraíso del lenguaje. Ya ve usted el caso de un ateo usando la palabra ‚paraíso‘ con toda la resonancia de un católico.“ Armando Álvarez Bravo: „Órbita de Lezama Lima“, S. 65.

24 Hier verwenden wir eine beliebte Metapher von Lezama Lima, die er von der geometrischen Be-weisführung Nikolaus von Kues’ für das Prinzip der coincidentia oppositorum übernommen hat. Diese Metapher wird in einigen Kardinalstellen von Paradiso eingesetzt, wie im letzten Fragment von Kapitel XII.

25 Das Ernstnehmen der Religiosität von Paradiso bzw. von Lezama Limas Denken ist vor allem la-teinamerikanischer Provenienz, z. B. bei Cristina Peri Rossi: „[Lezama Lima] sustituye el concep-to griego de metamorfosis (…) por el concepto católico de transfiguración. Así, para Lezama alma, espíritu, y su forma más aprehensible, imagen, se vuelven sinónimos de poesía. La poesía, en él, es la forma de la espiritualidad y de la religiosidad, porque la poesía es lo maravilloso, lo so-brenatural, lo mágico. De ahí que se relacionen estrechamente, en su sistema, misterio y poesía. Lo que provoca esta fórmula ‚La poesía como misterio clarísimo o, si usted quiere, como claridad misteriosa‘.“ Peri Rossi verbindet das Katholische mit dem Mysteriösen, wogegen nichts einzu-wenden wäre, zumindest nicht bezüglich Lezama Limas Katholizismus. Doch sie bemerkt nicht, dass die letzte Formel das Mysterium gerade nicht mit der Poesie verbindet, sondern eben mit dem, was ganz und gar nicht mysteriös ist, mit mysteriöser Klarheit oder klarem Mysterium. Siehe Cristina Peri Rossi: „Solamente para superdesarrollados“, in: Recopilación de textos sobre José Leza-ma Lima, S. 274. Vergleiche auch Cesia Ziona Hirshbein: Las eras imaginarias de Lezama Lima, Biblioteca de la academia nacional de la historia, Caracas 1984 und Juan Carlos Ghiano: „Intro-ducción a Paradiso de Lezama Lima“, in: Recopilación de textos sobre José Lezama Lima, S. 251-266.

26 Zu dieser Forschungsader gehören Irlemar Chiampi Cortez: „La proliferación barroca en Paradi-so“, in: Justo C. Ulloa (Hg.): José Lezama Lima: textos críticos, Ediciones Universal, Miami 1979, S. 82-90 und Enrico Mario Santí: „Párridiso“, in: MLN 2 (1979), S. 343-363 und unlängst die geschlechtstheoretisch angelegte Studie Jörg Köbkes „El deseo que se hace Coral“, Geschlechtsidenti-tät und Begehren in José Lezama Limas Romanen Paradiso und Oppiano Licario, Walter Frey, Berlin 2007.

27 Der erste, der versucht, die zwei Lezama Limas, den orthodoxen Katholiken und den radikalen Postmodernisten, in Einklang zu bringen, ist Gustavo Pellón. Dieser Versuch der Synthese endet jedoch mit einer Zurückholung des verlorenen Sohns in den Schoß der humanistischen Tradition. Siehe Gustavo Pellón: José Lezama Lima’s Joyful Vision. A Study of Paradiso and Other Prose Works, University of Texas Press, Austin 1989. Auch Brett Levinson setzt genau dort an und glaubt diese Spannung als den Kern dieser Poetik selbst erkannt zu haben. Dieser doppelte Umstand ist „one

18 EINFÜHRUNG

der Kabbala lässt sich als ein dauerhaftes Zusammenspiel ihrer Ablehnung und Ver-dammung als heterodoxe und mythische Herabwürdigung des Monotheismus, die Hand in Hand mit deren restriktiven Erlernen geht28 einerseits und ihrer Würdi-gung als integralem Bestandteil der jüdischen Religion andererseits verstehen. Dies gilt auch für die exogene Kabbala: Ihre Rezeption kann, wie bei Andreas Kilcher, als eine dauerhafte Ästhetisierung und Rhetorisierung verstanden werden, oder aber auch als eine Sakralisierung der Kunst, als das stete Eindringen einer Theologie in die Poetik und in die ästhetische Theorie.

Des Pudels Kern ist, dass sowohl in der Kabbala als auch bei Lezama Lima die Spannung und die Dialektik zwischen Oberen und Unteren, Sichtbaren und Un-sichtbaren zugleich diejenige von Säkularisierung und Sakralisierung, Profanisie-rung und Heiligung ist. Diese in der Rezeption widergespiegelte Spannung ist dem Denken und Werk sowohl der Kabbalisten als auch Lezama Limas immanent und bildet den eigentlichen Kern ihrer jeweiligen Systeme. Der Vater ist zwar definitiv tot, seine schauderhafte und vakuumartige Abwesenheit aber heiligt durch Frag-mentierung und Dezentrierung.29 Der Bezug zum radikal Anderen ist also auch der Bezug zum Vergangenen, eine Erinnerung (memoria). Die Abwesenheit (ausencia), der tote Vater, die Ruine der Religion, das verlorene Paradies, die Sünde, die Wüste (desierto), all dies sind Gestaltungen der Spur. Das Verhältnis zum Anderen ist das

of the oddest aspects of Lezama Lima. I can think of no other Latin American writer who is con-sidered to be, on the one hand, a bourgeois, humanist Catholic, lamenting the loss of old values, desperately longing for the day when language was pure; and on the other hand, a radical postmo-dernist, an artist who ‚deconstructs‘ language and thought in the same way in which Lacan or Derrida ‚deconstruct‘ language and thought.“ Secondary Moderns. Mimesis, History, and Revoluti-on in Lezama Lima’s American Expression, Bucknell University Press, London 1996, S. 20. Levin-son kritisiert dabei Pellón und unterstellt ihm eine new critical ideology, die, ähnlich der Psycho-analyse und der Moderne, den Verlust Gottes, den Verlust der Einheit, des Vaters, des a-priori, des Zentrums, des Phallus und des Sinns als ihre neue Bestätigung verstehen. Humanismus selbst hat im Sinne Vattimos das Ich, das humane Subjekt als a-priori, als Zentrum und Quelle. Bei Lez-ama Lima verhält es sich anders. „Lezama claims, then that the American God is not a source, ori-gin, fixed presence, ground or ‚transcendental subject‘- Lezama even suggests that this God is not theocentric! (…) in Lezama’s strange theology ‚God‘ cannot simply be reduced to the Christian/Cartesian God, In fact, ‚God‘ for Lezama is a concept that seems directly to oppose that supreme being. A non theocentric God!“ (S. 106). Salgado erarbeitetet die Affinität zwischen Lezama Lima und James Joyce unter diesem Aspekt. Seine Studie forscht „(…) how Lezama Lima’s princi-pal works ponder and reformulate in a new light some central Joycean themes-the interplay bet-ween the Homeric and the Orphic, orthodoxy and Heterodoxy, death and resurrection.“ César Augusto Salgado: From Modernism to Neobaroque. Joyce and Lezama Lima, Bucknell University Press, Lewisburg 2001, S. 10.

28 Für das Lernen der Kabbala gelten bis heute streng restriktive Regeln. In orthodoxen Kreisen gilt beispielsweise das Alter 40 und die vorherige geprüfte Beherrschung des Talmuds als Vorausset-zung. Für Frauen genügt allerdings das Alter von 12 Jahren.

29 Das Moderne ist in jener Abwesenheit der wichtigste Bezugspunkt. Doch anders als bei der mo-dernen Nekromantie wird der Vater nicht durch seine ebenso zentrale wie autoritative Abwesen-heit ersetzt.

19EINFÜHRUNG

Verhältnis zur Geschichte30, das heißt zur Erzählung. Und so wie in der Kabbala, existiert auch bei Lezama Lima dieses Verhältnis als Geschichte und Mythos. Das Resultat der Unmöglichkeit der Identität Gottes mit sich selbst ist Geschichte, ge-nauer: die perpetuierende Entstehung einer Pluralität von Geschichten.

Die Antwort auf jene in der Forschung so umstrittene und irritierende Frage nach dem religiösen Gehalt der Poetologie Lezamas Limas liegt also jenseits der Opposition von religio und ihrem Anderen, Theismus und Atheismus, Theismus und Pantheismus, jenseits des Paradigmas der Aufklärung mit ihren entscheiden-den Leitmetaphern von Licht und Dunkelheit. Das Verhältnis zwischen dem Sak-ralen und Säkularen ist nicht nur ein Attribut der Rezeptionsgeschichte des Wer-kes, sondern eines des Werkes selbst: Sein System schließt bereits die Dialektik von Sakralisierung und Säkularisierung mit ein. Die in der Rezeptionsgeschichte mani-festierte doppelte Bewegung zwischen dem Absoluten-Transzendentalen-Religiö-sen einerseits und dem Säkularen-rein Ästhetischen-Rhetorischen andererseits zeugt nicht von der Vielheit der Interpretationen, sondern von dem generierenden Grundgedanken eines Werkes, das sich nicht mit dem Modell einer Ästhetisierung im Sinne von Säkularisierung begnügt.31 Bei Lezama Lima ist das System des Para-dieses der kreative Verlust des Paradieses. Der Fall und der Verfall der Religion keh-ren als ihre neue Begründung zurück, als eine Übernatur (sobrenaturaleza) und als neue Mythen (nuevos mitos). Die Identifizierung der Sünde mit ihrem Bild und mit ihrer Geschichte ist der Schlüssel zum Verständnis des Systems des kubanischen Schriftstellers, in dem das Verhältnis zum Bruch, zum Verfall, zum Tod Gottes, zur Vertreibung (destierro) und zur Sünde eine neue Schöpfung ist.

Ähnlich der Dekonstruktion werden bei Lezama Lima und in der Kabbala Zer-störung als Konstruktion und Konstruktion als Zerstörung gehandhabt. Sie verber-gen ein System, jedoch ein solches, das das Unsystematische und Unsystematisier-bare in sich einzuschließen behauptet. Verstanden als diese Dialektik der Konstruk-tion und Destruktion kann nun schon deshalb weder die Kabbala noch das System Lezama Limas das Objekt einer Säkularisierung im Sinne einer Ästhetisierung sein, da beide selbst bereits Säkularisierungen sind. Ein System, eine Theorie oder eine Theologie, welche die Säkularisierung in ihrer Dialektik mit einschließt, ist gegen jegliche Säkularisierung immun und kann jeglichen Versuch, sie zu säkularisieren

30 Dieses Verhältnis zum Vergangenen ist nicht nur rekuperierend sondern negativ, ja selbstzerstöre-risch. Dazu Levinson: „… relation between the subjekt and history (…) Indeed history, for Leza-ma, is the endless and impossible translation of something irrecoverable; yet it is also the generati-on and regeneration of those very irrecoverable ‚beings‘ or moments. To translate history is not only to retrieve it, but to erase it, to erase the translator, and to hide the erasures- to lose, to lose yourself, and to lose the losses; to forget, to forget yourself, and to forget the forgetting.“ Brett Le-vinson: Secondary Moderns, S. 24.

31 Selbst dieser Begriff weist über seine ganze Begriffsgeschichte hinweg eine ambivalente Bestim-mung auf. In dem retrospektivischen Essay „Confluencias“ fragt sich Lezama Lima: „¿Convertir una experiencia decisiva y terrible en simple juego verbal, en literatura?“ JLL: „Confluencias“, in: La cantidad hechizada, Contemporáneos Unión, La Habana 1970, S. 256.

20 EINFÜHRUNG

sofort wieder verschlingen. Gerade die ganz radikale und absolute Ironie kann den Ernst niemals loswerden, da er immer schon ihre eigene Kehrseite ist.

Das Werk Lezama Limas ist also sowohl in seiner textimmanenten Verfassung als auch in seiner Widerspiegelung in der Rezeption keine Oszillation zwischen Theismus und Pantheismus, transzendentem und mythischem Gehalt, vertikaler und horizontaler, religiöser und poststrukturalistischer, transzendentaler und rein ästheti-scher Auffassung von Sprache und Literatur, sondern vielmehr die paradoxe Koexis-tenz all dieser Dichotomien. Es ist genau dieses paradoxe Verhältnis, das sein System beansprucht. Der bekannte große Appetit Lezama Limas und sein bekanntes Stre-ben nach dem Absoluten stehen in großer Affinität zum Streben der Kabbalisten, wobei ihre kühne Ineinssetzung von Gott und Welt sowie vom Unendlichen (En-Sof) und Nichts (Ein), hierfür maßgebend bleibt. Es ist diese Gleichursprünglich-keit, welche die für das Verständnis seines Werkes so elementare Abhängigkeit von Ironie und Ernst abbildet.

Diese zwei Textkorpora verbindet nicht zuletzt ihre Hermetik, die schwierige, unverständliche, vor allem denjenigen Leser irreführende Textur, der auf dem wört-lichen Sinn beharrt. Dies liegt darin begründet, dass die Bedeutung in Paradiso nicht etwa das Signifié ist oder im Verhältnis zwischen ihm und dem Signifiant liegt, sondern im steten Hervorbringen und Zerstören der Sprache und der My-then und in all dem, was zum Zeichen zu erstarren droht. Genau dieses Werk der Desidentität, der mimesis ohne eidos,32 ist bei Lezama Lima das Werk der Imagen, die über „poderosa fuerza negativa“33 verfügt. Solange sie am Werk ist, ist kein Ver-ständnis möglich und zwar nicht einfach aus dem Grund, dass Signifié oder Sinn nicht existierten, sondern weil der Mensch (der Leser) selbst zum Zeichen wird.34 Die Sprache spricht uns. Dies impliziert die spezifische Kenntnis des Eintretens in den Garten und dies gilt sowohl für das Verhältnis des Poeten zur Welt im Moment der Generierung eines Textes als auch für den Leser. Auch in der Kabbala wird we-niger mit existierenden, konventionalisierten Zeichen operiert, sondern gerade mit ihrem Auseinander bauen und ihrem erneuten Hervorbringen. Dies gilt für die Form und Ordnung der Buchstaben, sowie für den angemessenen Kontext ihrer Verwendung. Der Kabbalist ist ein Idiosynkratist, jemand, der Sprache ex nihilo schöpft, der nicht aus der Quelle der menschlichen Konvention, sondern aus der göttlichen, nicht kommunikativen Quelle Wörter im Grundmodus der Entde-ckung als Verdeckung hervorbringt.35

32 Vergleiche Brett Levinson: Secondary Moderns, S. 32-35. 33 Armando Álvarez Bravo: „Órbita de Lezama Lima“, S. 56. 34 Die Hermetik ist vom Verständnis des lateinamerikanischen Barock bei Lezama Lima untrenn-

bar: „Cronistas de Indias (…) al encontrarse aquellos hombres con un nuevo paisaje cuando ellos hablan de nuestras frutas, de nuestros árboles, ya ahí empieza un barroquismo americano. Porque era un hombre cansado de Europa, cansado de erudición, de formación humanística, que por pri-mera vez se encontraba con un nuevo paisaje. Ahí hay elementos barrocos“. „La imagen para mí es la vida“, Interview mit Gabriel Jimenez Eman, S. 46.

35 Vergleiche Rachel Elior: „Die verschiedenen Gesichter der Freiheit. Überlegungen zur jüdischen Mystik“, in: 2000 16 (1994), S. 79f. sowie Chaim Nachman Bialik: „Entdeckung und Verde-

21EINFÜHRUNG

Es ist also nicht überraschend, dass auch ähnliche Texturen entstehen, die dem Leser schwer zugänglich sind, Texturen, die einen Riss zwischen Esoterik und Exo-terik eröffnen, der wiederum auch die Leserschaft, wie Ortega y Gasset es bezüglich der modernen Kunst im allgemeinen beschrieben hat, unterteilt. Schließlich ent-steht wie bei den Kabbalisten so auch bei Lezama Lima aus diesem grundsätzlichen systematischen Paradoxon eine der Vernunft entzogene Sprache, denn diese ist gar keine Sprache, sondern ein immer währendes Spiel der Nicht-mehr-Sprache und Noch-keine-Sprache, genauer: eine stete Dialektik der Ein-sprachung und Ver-spra-chung. Und trotzdem behalten diese Unsprachen ihre eigene Vernunft: „Lo impo-sible, lo absurdo, crean su posible, su razón“.36 Es sind Texte, die sehr wohl sich selbst verstehen, sie sind selbstgenerierende Texte, in denen idiosynkratische Be-griffe und neue Mythen, Sinnzusammenhänge durch textimmanente Widerspiege-lungen entstehen.37 So ähneln sie einem geschlossenen Garten, dessen Schlüssel al-lerdings im Garten liegt. Die Schwierigkeit ist ähnlich dem hermeneutischen Zir-kel nur diejenige des Eintretens. Der Dichter selbst oder der Mystiker beschreiten souverän und vertrauensvoll diese Gärten, da sie sich sowohl als Subjekte als auch als Objekte von deren Schöpfung empfinden. Hier und dort hypostasiert sich eine Art geschlossener Garten des Textes und eine der Konvention entgegengesetzte, idiosynkratisch-singuläre und daher schwer zugängliche Sprache, die den Leser, der den Garten betritt, beinahe zwangsläufig selbst in einen Sprachschöpfer, das heißt in Zeichen verwandelt. Aus der radikalen Auffassung der Sprache als Zerstörung ergibt sich der hermetisch-hermeneutische Umstand dieser zwei Texte als Texturen, die den vernünftigen Leser zwingen, entweder die Gefahr des Betretens auf sich zu nehmen, oder ganz draußen zu bleiben, zwar in Sicherheit, doch fruchtlos.

Nun betrifft dies unmittelbar das Problem der Metasprache und der wissen-schaftlichen Annäherung. Die Auseinandersetzung mit einem hermetisch geschlos-senen, vermeintlich unverständlichen Text bringt uns zwangsläufig auch auf das

ckung in der Sprache“, in: Gesammelte Schriften, Dvir, Tel Aviv 1938 (Hebräisch), S. 191-193 und Elliot R. Wolfson: Sprache, Eros, Dasein. Kabbalistische Hermeneutik und poetische Einbildungs-kraft, Philo, Berlin/Wien 2002.

36 JLL: „La imagen histórica“, in: La cantidad hechizada, S. 331. Weiter vorne sagt Lezama Lima: „‚Lo máximo se entiende imcomprensiblemente‘. Es la línea trágica, inalcanzable, desesperada, que va desde San Anselmo a Nicolás de Cusa, que pretende hipostasiar el mundo óntico, el ser, en un cuerpo, en el mundo fenoménico. El ser máximo es, lo que es tiene que ofrecer una realidad, si no tendríamos que aceptar que la posibilidad real no es.“ Ebenda, S. 330.

37 Auch wenn die meisten Elemente des heterogenen Textkonglomerats sich als intertextuelle Bezüge bestimmen lassen, kann eine Studie, die auf solche intertextuellen Bezüge verweist, immer nur als eine Hilfsmethode fungieren, da diese in dem neuen Kontext durch Juxtaposition immer neue Bedeutung gewinnen. Sie werden dort weiter zerstört und gebildet. Sein Text nimmt nichts von vergangenen Texten, sondern lässt die Welt als Text neu entstehen. Die Fragmentierung und die Isolierung der Elemente sowohl von ihrem vertikalen als auch von ihrem horizontalen Kontext machen ihren Sinn unerschließbar.

22 EINFÜHRUNG

Problem des wissenschaftlichen und kritischen Lesens38 und fordert auf solche Weise das Problem der Metasprache heraus: Das Sprechen über den Text befindet sich quasi selbst bereits im Mystischen.39 Auch der Erforscher mystischer Texte, wie der wissenschaftliche Leser schwieriger literarischer Texte, steht stets vor der Gefahr, sich dem Mystiker-Mythiker anzunähern, da er die grundsätzlich paradoxe Aufga-be der „Mitteilung eines Nicht-Mitteilbaren“40 bewältigen soll. Hat er das jenseits der Vernunft Liegende verstanden, so bleibt seine vernünftige Vermittlung, seine Er-Klärung ausgeschlossen. Ähnlich dem Dichter und dem Mystiker ist derjenige, der es verstehen und erklären will, selbst gezwungen, nicht zu schweigen wovon man nicht sprechen kann, aber er darf noch weniger als jenes jenseits der Vernunft Liegende im Garten verschwinden. Selbstverständlich entsteht daraus eine Spra-che, die versucht, eine Unsprache in Sprache zu übersetzen, wobei diese Aufgabe der Wissenschaftler sich zwangsläufig als eine umgekehrte Widerspiegelung der Aufgabe des Übersetzers erweist.

Die Auseinandersetzung mit einem Text, der so verschlüsselt ist, dass der Schlüs-sel selbst in ihm verschlüsselt ist, ähnelt jenem Eintritt in das Paradies, zu dem Paulus in seiner kurz nach seiner Bekehrung erfolgten Ekstase hinauf stieg, und welcher ein ebensolcher Raum der Hermetik war: „(…) [D]er ward entzückt in das Paradies und hörte unaussprechliche Worte, welche kein Mensch sagen kann.“41

38 „Lezama y sus exégetas nos hacen retornar a la lectura. Paradiso no es de las que entregan fácil-mente sus enunciados. La difícil pero grata tarea, algo iterativa, de reactualizar recepciones, poten-cia al texto, como aquellos inmensos públicos que presenciaban las representaciones sacramenta-les potenciaban los mensajes bíblicos.“ José Prats Sariol: „Paradiso: Recepciones“, in: JLL: Paradi-so, S. 569.

39 Bei William James stellt das negative paradoxe Verhältnis zur Sprache das erste Kriterium (von vier) für die mystische Art religiöser Erfahrung dar. Nicht das Mystische ist also unaussprechbar bzw. jenseits der Sprachgrenze, sondern all das, was unaussprechbar ist, ist Mystik. Siehe William James: The Varieties of Religious Experience, The Modern Library, N.Y. 1936, S. 371.

40 1) Die vollständige Textstelle lautet: „Der Mystiker entdeckt an der Sprache eine Würde, eine ihr immanente Dimension oder, wie man heute sagen würde: etwas an ihrer Struktur, was nicht auf Mitteilung eines Mitteilbaren ausgerichtet ist, sondern vielmehr – und in diesem Paradox grün-det ja alle Symbolik – auf Mitteilung eines Nicht-Mitteilbaren, das ausdruckslos in ihr lebt, und selbst wenn es Ausdruck hätte, so jedenfalls keine Bedeutung; keinen mitteilbaren ‚Sinn‘.“ Gershom Scholem: „Der Name Gottes und die Sprachtheorie der Kabbala“, in: Judaica. Studien zur jüdischen Mystik, Bd. III, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1987, S. 8f. In dieser Feststellung wird die Affinität zum Poststrukturalismus mit der Dementierung des Sinn offensichtlich. Es ist auch genau diese Formulierung Scholems, die als Substrat zu Benjamins früher Sprachtheorie an-genommen wurde (Vergleiche insbesondere Benjamins Essay „Über die Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen“, in: Gesammelte Schriften, herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schneppenhäuser, Bd. II/2, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1991, S. 140-157; dazu Richard Wollin: Aesthetik of Redemption, Columbia University Press, New York 1982).

2) Dass Scholem hier die kabbalistische Sprachtheorie als die symbolische Sprache im goethe-schen Sinne versteht, entlarvt ihn als Romantiker, eine in der Revision der Historiographie Scho-lems sehr prominente Kritik.

41 Korintherbrief II, 12/4 (Luther)

23EINFÜHRUNG

Origenes42 berichtet, dass die gnostische Sekte der Ophiten diese Metapher für den Baum der Erkenntnis benutzt. Beide Stellen waren Lezama Lima bekannt. Der Pardes43 ist aber nun ein in der Geschichte der Kabbala durchgehendes Sinnbild des Textes und Sinnbild für die Kabbala selbst. In einer bekannten midraschischen Geschichte wird von den vier Tananäern erzählt, die den Pardes betreten, von de-nen nur der letzte, Rabbi Akiva, der später zur Hauptfigur des Zohars wird, in Frie-den hineingetreten und in Frieden herausgetreten ist.44 Im Zohar wird das Modell des vierfachen Schriftsinns mit der Geschichte der vier Weisen verschmolzen. Der Gar-ten wird als Text konzipiert, und die Thananäer werden zu Interpreten, mit denen auch vier Schicksale verbunden sind. So wurde der Pardes bis zum heutigen Tag zum gültigen Sinnbild des jüdischen Modells eines mehrfachen Schriftsinns und somit einer kabbalistischen Hermeneutik. Dieser mehrfache Schriftsinn findet im Akronym für Pschat, Remes, Drasch und Sod seinen Ausdruck.45 Womöglich wohnt der Bezug zu diesem bekannten jüdischen Sinnbild der Hermeneutik dem Titel von Paradiso inne? Liegen womöglich das kabbalistische Akronym und der orientalische Ursprung Lezama Limas Entscheidung zugrunde, auf die spanische Bezeichnung, die nicht alle vier Buchstaben konserviert, zu verzichten?46 In einer Carta abierta a José Lezama Lima brachte José Angel Valente genau diesen Verdacht

42 Contra Celsum VI 33. Angabe nach Gershom Scholem: Die jüdische Mystik, S. 395. 43 Das Wort ist ursprünglich medischer Herkunft und bedeutet ummauerter Grund oder ummauer-

ter Obstgarten. In dieser Bedeutung, als Übersetzung für den Garten Eden, hebräisch gan eden kam es durch die griechische Übersetzung der hebräischen Bibel, die Septuaginta, in ,(גן עדן)die christliche Bibelüberlieferung (u. a. auch ins Hohelied 4/13).

44 Babylonischer Talmud, Bd. XII: Traktat Chagiga 2, 14/b, Das israelische Institut für talmudische Veröffentlichungen, Jerusalem, 1983-4 (תשמ’ד).

45 Der Buchstabe Peshat (wörtlich: einfach, buchstäblicher Sinn), Remes – (wörtlich: Hinweis, allego-risch). Derasch (Wurzel d.r.s = fordern. Wie im Midrasch: talmudische Auslegung) und Sod (Ge-heim, der verborgene, mystische Sinn). Über das Verhältnis dieses Modells zum Modell des Ori-genes vergleiche A. van der Heide: „Pardes: Methodological reflections on the theory of the Four Senses“, in: Journal of jewish Studies 34 (1983), S. 147-159.

46 Emir Rodríguez-Monegal, der die Interpretationen von Paradiso nach dem Schema des vierfa-chen Schriftsinnes bei Dante diskutiert, zieht daraus die Schlussfolgerung, Paradiso liege eine ka-tholische Weltanschauung zu Grunde (Siehe „Paradiso in seinem Umfeld“, in: Mechtild Straus-feld (Hg.): Aspekte von José Lezama Lima ‚Paradiso‘, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1979, S. 48-58.) Die Zurückführung des nicht spanischen Titels auf Dantes Commedia und damit auf eine Engführung von Glauben und Poesie ist ein Gemeinplatz in der Kritik geworden. Ein Einblick in die Breite der Verwendung des Begriffs Pardes und die Zahl der Schriften, die damit im 12. und 13. Jahrhundert betitelt waren, lässt sogar vermuten, dass Dante selbst die zusätzlichen Verwen-dungen und Bedeutungen dieses Begriffs kannte. In diesem Fall sollte Pardes als Garten der Mys-terien der Interpretation und als Raum der textuellen-poetischen Erkenntnis nicht als gegensätz-lich zu Dantes Paradiso, sondern als ein mit ihm konvergierendes Konzept verstanden werden, als ein gesamtes Gedankengut, das bewusst oder unbewusst in das Werk Lezama eingeflossen ist. Über Dante und jüdische Mystik siehe Sandra Debenedetti Stow: Dante e la mistica ebraica, Giuntina, Firenze 2004.

24 EINFÜHRUNG

zum Ausdruck und wagte es sogar, die vier Interpreten in Paradiso wieder zu erken-nen:

Mucho he circunvalado ese libro [Paradiso] desde mi regreso, buscando también en él las mágicas fisuras que pueden conducir hasta su centro. ¿Hay en el centro de ese libro un árbol? Probablemente sí; un árbol cósmico, es decir, un árbol y su invertido doble, un árbol de la muerte y de la vida, que también ha de estar cercado o poseído por la luz y ser, para que todos los atributos concurran, de naturaleza ígnea. Ha de haber un árbol y cuatro ríos o cuatro personajes que, con destinos distintos, tienen acceso al Pardes (como en su Paradiso, Cemí, Foción, Fronesis y Licario). Yo no creo que haya usted conservado por azar o capricho en el título de su libro las cuatro consonantes sagradas de la palabra Pardes, tan coja de una de ellas en el Paraíso nuestro por leyes frívolas –bajo esta luz, se entiende de fonética histórica. Me pregunto también si con ese saber del Pardes, remotamente anudado por un cabalista español del siglo XIII, no guarda relación el ahínco con que usted persigue el Mysterium magnum de Jacobo Böhme, que es según parece, el místico cristiano más netamente vinculado al mundo de la Cábala.47

Angel Valente verbindet also ausdrücklich das System von Paradiso mit dem kabba-listischen System der Sefirot, die oft als doppelter kosmischer Baum figuriert wer-den, ein Symbol, das bei Lezama Lima fast mantrahaft in allen Kontexten der Schöpfung im Zusammenhang mit den Edomiten und mit dem hombre del Zohar erscheint.48 Angel Valente geht sogar so weit, dass er Oppiano Licario mit Rabbi Akiva, der Hauptfigur des Zohars, gleichsetzt.

Dem Anliegen dieser Studien, die Poetik eines kubanischen Schriftstellers als ei-ne fern liegende Literatur mit der Kabbala als einem eben so fern liegenden Denken in Verbindung zu bringen, liegt also ein poetologisches bzw. theo-poetisches Prob-lem zugrunde, aus dem zwangsläufig ein hermeneutisches Problem entsteht. Es sind diese zwei Aspekte, unter denen die Poetologie Lezama Limas im Folgenden betrachtet werden soll.

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Das erste Kapitel widmet sich der für das Gesamtanliegen dieser Studie unverzicht-bare Verortung von Paradiso und dem Poetischen System in der Spannung zwischen Theosophie und Theogonie. Nach einem kurzen, rezeptionsgeschichtlichen Ein-blick in die vielfältigen und sich nur scheinbar gegenseitig ausschließenden Mög-lichkeiten der Bestimmung des Werkes wird die Oszillation zwischen mythischer und transzendentaler Bestimmung weniger der Pluralität der Interpretationen als vielmehr seinem System zugeschrieben. Diese Vielheit wird auf ein dem Werk inne-wohnendes Generierungsprinzip zurückgeführt, das diese Opposition verbietet.

47 José Ángel Valente: Las palabras de la tribu, zweite. Aufl, Tusquets Editores, Barcelona 1994, S. 203f. In den zwei Briefen an Ángel Valente nimmt Lezama Lima keinen Bezug auf die Frage.

48 Siehe Fußnote 3.

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Genau diese Verknüpfung zweier Paradiso zugrunde liegender Konzeptionen des Anfangs und damit der Schöpfung, die sich in der Sekundärliteratur widerspiegeln, macht den Sondercharakter des Werks aus.

Ausgehend von dem im Essay Introducción a los vasos órficos (1961) dargelegten Orpheus-Verständnis wird der der Poetologie Lezama Limas zugrunde liegende on-tologische Standpunkt herausgearbeitet. Aus einer Gegenüberstellung des parme-nideischen Nichts mit der orphischen Nacht, die sich auch als eine zwischen Philo-sophie und Literatur inszeniert, ergibt sich eine Konzeption der Schöpfung, die gleichzeitig Schöpfung aus dem Nichts und Selbstschöpfung ist. Diese steht der kabbalistischen Ontologie nah, die sich zu der Aristotelisierung in Opposition setzte.

Die Orphik wird zum Sinnbild der literarischen Schöpfung erhoben, jedoch in einem Sinn, der selbst im Kontext der Orpheus-Renaissance im 20. Jahrhundert recht ungewöhnlich ist. In Anlehnung an Giambattista Vico wird die Orphik als eine Umkehrung der Verhältnisse von Vergangenem und Gegenwärtigem, als Konditio-nierung des Früheren durch das Spätere konzipiert. Die mythische Figur des Or-pheus entstand demnach als die Personifizierung eines Chronologisierungsproblems, und die orphischen Hymne versinnbildlichen genau dies: Die Selbstbefruchtung des Chronos stellt eine Umkehrung des Verhältnisses von Subjekt und Objekt der Schöpfung dar und lässt somit Orpheus als Schöpfer und Geschöpf zugleich er-scheinen.

Es sind nun genau diese die Hauptprinzipien der theosophischen Kabbala. Die-se Konzeption der Orphik wird der kabbalistischen Schöpfungstheorie gegenüber-gestellt, in der Schöpfung aus dem Nichts und Selbstschöpfung gleichgesetzt sind: die kühne Gleichsetzung von Gott und Nichts, En-Sof und Ein, die dort als Vor-aussetzung der Schöpfung dient und die die obsessive Beschäftigung des Zohars mit Zweigeschlechtlichkeit und Geschlechtsspielen mit sich bringt. Auch dort wird die aristotelische Kausalität zugunsten der Ineinssetzung von Innovation und Traditi-on, Vergangenem und Neuem abgelehnt. Es ist dieses Prinzip, das bei Lezama Lima als kulturphilosophisches Prinzip formuliert wird und für die radikale Innovation lateinamerikanischer Kultur als Erinnerung an die Zukunft eine Erklärung liefert.

Es ist daher nicht verwunderlich, dass diese Schnittstelle in Paradiso ihren Nie-derschlag findet, und es wird nicht zuletzt auch auf einige Elemente im ersten Kapi-tel von Paradiso, in seinem Anfang hingewiesen, denen diese kabbalistischen Anspie-lungen immanent sind. Ausschlaggebend ist hier die paradoxe Figur der Expansion des Moments des Ursprungs bzw. des Anfangs, die durch jene Selbstbefruchtung als zeitliches Geschehen hervorgerufen und erreicht wird.

Im zweiten Kapitel wird die Poetik Lezama Limas auf ihre Systematizität hinter-fragt, indem sie mit dem Anderen des Systems konfrontiert wird. Der Fehler, das Andere des Systems im System, gilt als die Herausforderung jeglicher Systematizität. Das Kapitel bietet einen Beitrag zur bisweilen lebendigen Diskussion und Interpre-tation der verschiedenartigen Fehler in Paradiso, ihrer Bedeutung und ihres Stellen-wertes innerhalb Lezama Limas Systems. Fehler, Momente des súbito, sind Sonderfi-

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guren der Hermeneutik, da sie als Lieferanten/Garanten der Unverständlichkeit auf besondere Weise das Lesen herausfordern.

In diesem zweiten Kapitel wird als erster Schritt die Rezeptionsgeschichte der Fehlerhaftigkeit, mit der Paradiso überliefert wurde, mit der Art und Weise, wie Fehler im Werk selbst thematisiert werden, konfrontiert. Als weiterer Schritt wird der Stellenwert des Fehlers bei dem mittelalterlichen Kabbalisten Abraham Abula-fia diskutiert, der Hauptfigur der ekstatischen Kabbala, die behauptete, die Lehre vom Buch der Schöpfung mit der des Rationalisten Maimonides zu verbinden. Das dortige Moment des Fehlers, in dem die Weisheit der Kabbala beginnt, wird dem Stellenwert des Fehlers bei Lezama Lima gegenübergestellt. Sie kreuzen sich, wo Hermeneutik und Poetik insofern gleichgesetzt werden, als das Schreiben als Lesen und Interpretieren, als passive Aufnahme und aktive Hervorbringung verstanden wird. Es ist ein divinatorisches Moment, eine der unio mystica ähnliche Aufhebung der Grenze von Subjekt und Objekt, die jedoch anders als diese ein intellektuelles Moment, das nicht in einem außersprachlichen Moment kulminiert, sondern ein textuelles und sprachliches bleibt.

Gelesen werden verschiedene Textstellen in Paradiso, in denen der Fehler meta-phorisch, ja allegorisch gestaltet wird. Diese machen deutlich, dass das Werk sich seiner Fehlerhaftigkeit bewusst ist, und dass diese Bewusstwerdung selbst Teil sei-nes Generierungsverfahrens ist.

In diesem Kapitel wird gezeigt, dass ein und dieselbe Figur (text-/system-)imma-nent und transzendental gedeutet werden kann, ohne dass ein ausschlaggebendes Kriterium für die Unterscheidung vorliegen müsste. Ein System wie dasjenige Leza-ma Limas verwandelt das Verhältnis zwischen beiden von einer Oszillation in eine Gleichzeitigkeit, da diese Spannung genau sein Bild ist.

Im Zentrum des dritten Kapitels stehen das Problem des Fragments und der Modus der Ironie als notwendige und schöpferische Destruktion und Konstrukti-on. Maßgebend ist hier die Metapher des Bruchs, eine katastrophale Zäsur, die zu-gleich auch Schöpfung ist, da danach die Welt neugeboren wird. Die aus Ruinen neugeborene Welt ist entwickelter aber auch fragmentierter. Der Bruch sorgt für Fragmentierung und Partikularisierung. Er gebiert eine Vielheit der Kultur.49 Diese findet sich jedoch wieder zusammen, wird wiedervereinigt in einer Einheit, die kei-ne ist. Hier siedelt sich die Schöpfung im neobarocken Sinne bei Lezama Lima an, und hier siedelt sich auch der Tikkun, die Ethik an, das heißt die menschliche Auf-gabe in der spekulativen Kosmologie Isaak Lurias. In dieser neuzeitlichen zentralen und sehr einflussreichen Lehre steht als zentrales mythisches Bild genau dieser Vor-gang der Gleichzeitigung von Bruch und Fragment und ihre neue Verschmelzung als Schöpfung . Auch jene plutonische Kraft, die Lezama Lima als die besondere Kraft des lateinamerikanischen Barocks charakterisiert, beinhaltet nicht nur Frag-mentierung sondern auch Vereinigung.

49 Dies gilt auch im biblischen Paradigma der Katastrophe: Nach der Sintflut spaltet sich die Welt-kultur in drei Urväter: Schem, Ham und Yafet.

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Der Bruch ist ebenso eine Figuration des Übergangs vom Unbegrenzten zum Begrenzten, nicht jedoch im Modus der Kontinuität und der partizipatorischen Transformation. Ähnlich dem Fehler fungiert er als Garant für Dynamik des sprachlichen Zeichens und der Geschichte (von Zeichen und Bedeutung, von Sinn und Form etc.). Doch anders als beim Fehler, handelt es sich weniger um eine Stö-rung des Ganzen, sondern vielmehr um seine unmögliche Entstehung, eine Um-wandlung, eine Art Neugeburt. Nicht ein Detail, das von Außen in das System he-reinbricht oder in seinem Inneren plötzlich heranwächst, sondern eine notwendige Katastrophe, die zugleich eine Neugeburt und Erneuerung darstellt.

Das vierte, zusätzliche Kapitel unterscheidet sich von dem Rest der Kapitel inso-fern, als es zeigt, wie die Poetologie Lezama Limas sich in der „Hausmystik“ be-wegt, sodass dort keine Rede von Kontrapunkt sein kann. Es beschäftigt sich mit Aspekten der Poetologie Lezama Limas, die durch die spanisch-christliche Mystik beleuchtet werden können und müssen. Das Kapitel konzentriert sich auf die der spanischen Mystik so typische Spannung zwischen Vita activa und Vita contempla-tiva als Grundlage einer Theorie des literarischen Textes und seiner Generierung, wie diese in einem Element des Mise en abime in Paradiso thematisiert wird. Dieses Kapitel, in dem das Verhältnis zwischen Leben und Text, Literatur und Geschicht(sschreibung) und somit eine ethisch-politische Dimension diskutiert wird, kulminiert in einer Deutung des zentralen Konzeptes Lezama Limas, der Imagen.