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DAYLIGHT & ARCHITECTURE ARCHITEKTURMAGAZIN VON VELUX FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05 TEXTUR & LICHT 10 EURO FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05 FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05 TEXTUR & LICHT TEXTUR & LICHT 10 EURO 10 EURO DAYLIGHT & ARCHITECTURE ARCHITEKTUR- MAGAZIN VON VELUX

DAYLIGHT & FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05 ......ARTHUR ZAJONC Arthur Zajonc ist Professor der Physik am Amherst College in Amherst, Massachusetts, USA, wo er seit 1978 lehrt. Seine Forschungsschwerpunkte

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DAYLIGHT &ARCHITECTUREARCHITEKTUR-MAGAZIN VON

VELUX

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DAYLIGHT & ARCHITECTUREARCHITEKTURMAGAZINVON VELUXFRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05

HerausgeberMichael K. Rasmussen

VELUX-RedaktionsteamChristine BjørnagerNicola EndeLone FeiferLotte KragelundTorben Thyregod

Redaktionsteam Gesellschaft für Knowhow-TransferThomas GeuderAnnika DammannJakob Schoof

Korrektorat englischTony Wedgwood

Korrektorat deutschGisela Faller

BildredaktionTorben EskerodAdam Mørk

Art Direction und LayoutStockholm Design Lab ®Sharon Hwang Kent Nybergwww.stockholmdesignlab.se

UmschlagbildHands, 1997 Foto: Gary Schneider

Umschlagbild innenOrion-Nebel, aufgenommen vom Hubble Space TelescopeFoto: NASA

Websitewww.velux.de/Architektur

Aufl age90,000 Stück

ISSN 1901-0982

Dieses Werk und seine Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Jede Wiedergabe, auch auszugsweise, bedarf der Zustimmung der VELUX Gruppe.

Die Beiträge in Daylight&Architecture geben die Meinung der Autoren wieder. Sie entsprechen nicht notwendiger-weise den Ansichten von VELUX.

© 2007 VELUX Group. ® VELUX und das VELUX Logo sind eingetragene Warenzeichen mit Lizenz der VELUX Gruppe.

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Die Berührung des Lichts verändert alles. Was im Dunkeln verbor-gen lag, wird enthüllt, und versteckte Orte werden unter dem Tanz des Lichtes sichtbar. Obgleich Licht selbst unsichtbar ist, sehen wir durch seine selbstlose Aktivität. In der Physik wird die Fein-heit der Lichtberührung anhand seiner Wellenlänge gemessen. Die fast unmessbare innere Bewegung des sichtbaren Lichts garantiert, dass selbst das winzigste Detail, die subtilste Textur sichtbar bleibt. Die raue Oberfl äche des Metalls und die faserar-tigen Fäden des Spinnennetzes würden in der Unsichtbarkeit ver-schwinden, wenn Licht ‚größer‘, seine Wellenlänge länger wäre. Einstein hat uns auf die einzigartige Funktion der Licht-geschwindigkeit hingewiesen, die ein universelles Absolutes in einem relativen Universum ist, eine ultimative Begrenzung in einem grenzenlosen Universum. Er und Max Planck haben entdeckt, dass Licht, obwohl es keine Masse besitzt, sein kleinstes Teil hat – das Quant oder Photon. Und doch entzieht sich dieses Quant, wie das Licht selbst, unserem konzeptuellen Verständnis, indem es seine subtile Mehrdeutigkeit und Ganzheit bei allen Versuchen, es einzugrenzen und zu defi nieren, beibehält. Endlose Jahre reist das Sternenlicht durch die weitesten Weiten des Raums und vom Beginn der Zeit, um unsere Augen zu erreichen. Durch das Wun-der der Gegenseitigkeit sind unsere Augen so perfekt an das Licht angepasst, dass nur ein paar wenige Quanten zum Sehen benötigt werden. Was in unseren Augen eine Reise des Lichts von zehn Mil-liarden Jahren durch den Kosmos bedeutet, ist für das Photon nur ein kleiner Augenblick – das sind die Mysterien der Relativität. Durch die Beherrschung des Feuers haben wir das Licht vom Himmel in unsere Häuser gebracht. Im Licht der Kerze denken wir nach, lesen, zeichnen oder beten. Seine zeitlose Helligkeit breitet sich aus, um mit einer kleinen Flamme einen ganzen Raum zu erhellen, doch dann strömt es über uns hinweg in den Nacht-himmel, den Sternen entgegen: unser Licht von Angesicht zu Angesicht mit dem Sternenlicht. Wenn Licht unsere Körper streift, erwärmen und öff nen wir uns, wie dunkle Heiligtümer sich der Leuchtkraft der Sonne und des Himmels öff nen. Es ist nicht verwunderlich, dass Kathedralen-bauer im Dienste der Theologie die Geometrie mit dem Licht verknüpft haben; und es ist ebenso wenig verwunderlich, dass die Evolution im Dienste des Lebens Verwendung für die stillen Kräfte des Sonnenlichts hat. Licht ist der Architekt der organischen Welt, und im Gegensatz dazu ist in der Architektur „die Struktur der Spender des Lichts“, wie Louis Kahn einmal schrieb.

DISKURS VON ARTHUR ZAJONC

Arthur Zajonc ist Professor der Physik am Amherst College in Amherst, Massachusetts, USA, wo er seit 1978 lehrt. Seine Forschungsschwerpunkte sind die experimentellen Grundsätze der Quantenphysik und die Beziehung zwischen den Natur- und Geisteswis-senschaften. Sein Buch „Catching the Light“ über die Geschichte des Lichts in der menschlichen Kultur erschien 1993. 1997 und 2002 war Arthur Zajonc wissenschaftlicher Koordinator für die „Mind and Life“-Dialoge mit dem Dalai Lama. Zudem war er Präsident der Anthroposophischen Gesellschaft in Amerika.

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Form und Fläche verleihen jeder Struktur ihre end-gültige materielle Gestalt. Die Struktur wiederum ist greifbare oberste Schicht aller Dinge und Sub-stanzen. Diese Zusammenhänge erfassen wir durch das Auge.

Seit Anbeginn der Menschheit vertrauen wir auf unser Urteilsvermögen, das maßgeblich von unserer optischen Wahrnehmung abhängt. Manchmal aber entspricht das, was wir sehen, nicht unseren Erwartungen – vor allem dann, wenn wir uns auf den Tastsinn verlassen und Materialien durch Hautkontakt ‚erspüren’. Unsere Wahrneh-mung und unser Verständnis von Flächen und Ge-genständen passen wir dementsprechend an.

Die aktuelle Ausgabe von Daylight & Archi-tecture kratzt an der Oberfl äche, um herauszu-fi nden, was sich hinter dem Sichtbaren verbirgt. Begeben wir uns auf die Suche nach Wundern oder treff en wir möglicherweise auf ein dunkles Nichts? Wir möchten das Äußere nach innen und das Innere nach außen kehren. „Das habe ich mit eigenen Augen gesehen“ – wird diese gern verwen-dete Phrase in Zukunft noch Bedeutung haben? Wir befragten 13 Experten aus verschiedenen

Bereichen der Kunst und Wissenschaft zu ihrer Auff assung von Oberfl ächen in Wechselwirkung mit natürlichem Licht. Ihre Antworten geben Auf-schluss über das, was dem bloßen Auge verborgen bleibt, und liefern interessante Denkansätze, unser Lebensgefüge neu zu refl ektieren.

Fassade und Dach eines Gebäudes ähneln der menschlichen Haut. Sie reagieren auf wechselnde Umwelteinfl üsse und dienen nicht nur als Schutz, sondern schaff en auch notwendige Bedingungen für Gesundheit und Wohlbefi nden. Ohne Tages-licht gibt es kein Leben: Das Licht bestimmt unsere räumliche Wahrnehmung und beeinfl usst unseren Gemütszustand. VELUX möchte neue Standards für Raumkomfort und effi ziente Energienutzung setzen, um heutige Lebensqualität und moderne Arbeitsbedingungen noch zu verbessern. Das Kon-zepthaus Atika von VELUX, das wir ebenfalls in dieser Ausgabe vorstellen, lässt diese Vision im Maßstab 1:1 Wirklichkeit werden.

Viel Vergnügen beim Lesen der 5. Ausgabe von Daylight&Architecture.

VELUX

VELUX EDITORIAL‚ZUGREIFEN!’

JETZT

MENSCH UND ARCHITEKTURTENDENZEN DES LICHTS

Le Corbusiers wohl letztes Meisterwerk ist im französischen Firminy eingeweiht worden. Das Haus der Kunst in München lädt zur Andreas-Gursky-Retrospektive. Ein Apartmenthaus in Mexiko City schmückt sich mit mundgeblasenen Glaskugeln, eines in München mit siebgedruckten Kastanienblättern. Außerdem: das neue Konzert-haus in Badajoz von José Selgas und Lucia Cano.

Ideologien, aber auch regional unterschiedliche Lichtverhältnisse und Bautraditionen haben den Umgang der modernen Architektur mit Licht und Oberfl ächen geprägt. Wie sich Architekten im Spannungsfeld zwischen konstruktiver Ehrlich-keit und geschickter Verkleidung bewegten und wie sie mit Licht und Schatten, Refl exionen und Transluzenz arbeiteten, erläutert Richard Weston in seinem Beitrag.

Diskurs von Arthur ZajoncVELUX EditorialInhaltJetztMensch und ArchitekturTendenzen des LichtsTageslichtUnter die HautLicht EuropasOstanatolien, TürkeiRefl ektionenAbbild und RealitätTageslicht im DetailVirtuelles Licht und digitale SchattenVELUX EinblickeHinter schweren MauernMuseum in Brie-Comte-RobertVELUX PanoramaÜber den Dächern EuropasKonzepthaus ATIKACabrio aus LärchenholzHaus Klimczyk in Rieden VELUX im DialogLight of Tomorrow Interview mit Louise GrønlundInterview mit Gonzalo PardoInterview mit Anastasia KarandinouBücherRezensionenEmpfehlungenVorschau

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INHALT

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REFLEKTIONENABBILD UND REALITÄT

TAGESLICHT

VELUX EINBLICKEHINTER SCHWEREN MAUERN

VELUX PANORAMA

Was geschieht, wenn Licht auf Oberfl ächen triff t? Wie tief reicht seine Wirkung? Und wie hat sich unsere Wahrnehmung von Texturen und Licht im Laufe der Jahrhunderte verändert? Ein Essay und 13 Interviews mit Künstlern, Architekten und Naturwissenschaftlern geben Auskunft.

Das archäologische Museum in der Burg von Brie-Comte-Robert ist nicht für die Ewigkeit gebaut. Leicht konstruiert und im Bedarfsfall schnell wieder zu entfernen, besitzt es doch all die Qualitäten eines vollwertigen Museums – allen voran ein angenehmes Innenraumklima und Säle voller Tageslicht.

Nach dem Prinzip eines Cabriolets konstruier-ten Becker Architekten das Haus Klimczyk in Rieden: Die Lärchenholzverkleidung der großen Loggien lässt sich komplett zur Seite falten. Auch das mobile Konzepthaus Atika besticht durch seine ausdiff erenzierte, dem Lauf der Sonne ange-passte Architektur. Es beweist, dass Leichtbau auch in südlichen Breiten sinnvoll sein kann.

Zweidimensionale Bilder werden auch künftig unsere Architekturwahrnehmung bestimmen, prognostiziert Ivan Redi. Denn sie helfen uns, ge-dachte Realitäten zu überprüfen. In seinem Beitrag beschreibt Redi den Weg, den die Architekturdar-stellung in den vergangenen 250 Jahren genommen hat, von Piranesis ‚Carceri‘ bis zu den heutigen foto-realistischen Lichtsimulationen.

UNTER DIE HAUT

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Was Architektur bewegt: Veranstaltungen, Wettbewerbe und ausgewählte Neuentwicklungen aus der Welt des Tageslichts.

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Es behaupte noch jemand, Hand-arbeit spiele in der modernen Archi-tektur keine Rolle mehr: In der Colonie Polanco in Mexico City haben Alejandro Vilareal und sein Architek-tur- und Designbüro Hierve Diseñería unlängst das Apartmenthaus ‚Hesi-odo‘ fertig gestellt, dessen schroff e Betonfassaden von insgesamt 7723 mundgeblasenen Glaskugeln wie von einem überdimensionalen Perlenvorhang umspielt werden. Die Inspiration zu diesem ungewöhn-lichen Fassadenschmuck erhielt Ale-jandro Vilareal auf den Straßen seiner Heimatstadt: „Die Idee stammt von den Märkten in Mexico City und der Art, wie das Obst und Gemüse dort gestapelt werden; vom Anblick der Kinder, die auf einem öff entlichen Platz mit Seifenblasen spielen, aus der Notwendigkeit, Magie und Unschuld

in unser Alltagsleben zu bringen, und hauptsächlich aus der Erinnerung, dass Schönheit in unserem Alltag eine Rolle spielen kann, wenn wir ihr eine Chance geben.“

Das Haus steht in einer kleinen Straße in einer Wohngegend von Mexico City, unweit eines belebten Einkaufsgebiets. Seine beiden Ge-bäudeteile – ein viergeschossiges Vorderhaus im Norden und ein fünf-geschossiges Hinterhaus im Süden – bieten Platz für 13 Wohnungen und eine Tiefgarage. Eine zentral gele-gene Erschließungszone mit Lobby, Treppen und Aufzügen verbindet die beiden Gebäudeteile miteinander. Auf der nördlichen, niedrigeren Gebäude-hälfte wurde eine Dachterrasse an-gelegt, die allen Hausbewohnern für Feste und Veranstaltungen zur Ver-fügung steht. Die zerbrechlichen ‚Vor-

hänge‘ aus Glaskugeln schützen die Nord- und Südfassaden des Hauses sowie die Dachterrasse vor allzu di-rekten Einblicken. Von innen gesehen, legen sie sich wie ein weicher, grüner Schleier vor das mitunter chaotisch anmutende Stadtpanorama von Me-xico City. Die Kugeln wurden in einer Glasbläser-Werkstatt in Guadalajara hergestellt und anschließend mit han-delsüblichen Muttern und einer Zwi-schenlage aus EPDM-Gummi an Drahtseilen befestigt. Jedes der vor die Fassaden gespannten Seile trägt maximal 27 Kugeln. Der Witterung hat die ungewöhnliche Fassadenkon-struktion nach Aussage von Alejandro Vilareal bislang bestens standgehal-ten; lediglich die Reinigung gestal-tet sich etwas aufwändig: Sie nimmt rund doppelt so viel Zeit in Anspruch wie bei einer ‚normalen‘ Fassade.

FASSADENKUNST, MUNDGEBLASEN

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Seine Fotografi en monumentaler Architekturen, gigantischer Menschenmengen und grel-ler Konsumwelten, meist aus der Vogelperspektive aufgenommen und im Großformat reproduziert, haben Andreas Gursky zum – gemessen am Verkaufspreis seiner Bilder – erfolg-reichsten lebenden Fotografen ge-macht. Noch bis zum 13. Mai 2007 zeigt das Münchner Haus der Kunst nun eine Werkschau mit fünfzig Auf-nahmen des 1955 geborenen Künst-lers. „Noch größer“ lautet einer der Leitsätze für die neue Gursky-Ausstellung: Nicht nur die Aus-stellungsfl äche ist opulente 1800 Quadratmeter groß, auch viele Foto-grafi en wurden mittels der heute zur Verfügung stehenden Möglichkeiten neu überarbeitet und größer repro-duziert. Die größten unter ihnen mes-sen nun 188 x 508 Zentimeter.

Andreas Gursky studierte An-fang der 80er-Jahre an der Staatli-chen Kunstakademie in Düsseldorf unter Bernd und Hilla Becher. Schon bald löste sich Gursky jedoch von deren minimalistischer, streng do-kumentarischer Fotografi e und be-gann, die Warenkultur, Architektur und Kulturlandschaft des Menschen in sorgfältig komponierten Monu-mentalbildern festzuhalten, die er digital nachbearbeitete, um die Bild-aussage zu schärfen. Der Einzelne wird in Gurskys Bildern zum Mit-spieler in einer scheinbar maßstabs-losen Maschinerie, die als ravende Menschenmasse ebenso in Erschei-nung treten kann wie in Form überdi-mensionierter Hotelfoyers oder eines voll besetzten Börsenparketts.

Als weitere Stationen der Münch-ner Andreas-Gursky-Ausstellung sind derzeit das Istanbul Modern, das Sharjah Art Museum, das House of Photography in Moskau und die National Gallery of Victoria in Mel-bourne vorgesehen.

ANDREAS GURSKY IM HAUS DER KUNST

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Badajoz, die spanisch-portugie-sische Grenzstadt am Ufer des Gu-adiana, hat sich auch in Zeiten der europäischen Einigung noch ihr wehrhaftes Äußeres erhalten. Eine weitläufi ge, im portugiesischen Un-abhängigkeitskrieg 1640 – 1668 nach dem Vorbild des französischen Ingenieurs Vauban errichtete Fe-stungsmauer umgibt den Stadtkern. Sie diente in den folgenden Jahrhun-derten nicht immer nur kriegerischen Zwecken: Schon im 18. Jahrhundert erhielt eine der weit ausgreifenden Bastionen eine kreisrunde Vertie-fung, die als Stierkampf-Arena oder Freilufttheater genutzt werden konnte. Oder als Kongresszentrum: So sahen es die Vorgaben für den Ar-chitektenwettbewerb 1999 vor, den das Büro selgascano von José Selgas und Lucia Cano gewann. „Alles, was wir suchten, war immer schon vor-handen – direkt vor unseren Augen“, sagen die Architekten heute. Fol-gerichtig gab das kreisrunde ‚Loch‘ nicht nur die Form des Neubaus vor, es diente auch dazu, dessen 17 500 Quadratmeter Nutzfl äche und das bis zu 25 Meter hohe Bühnenhaus des Auditoriums fast vollständig im Inneren der Bastion verschwinden zu lassen. Lediglich durch zwei trans-

luzente Kunststoff zylinder gibt sich das Gebäude von außen überhaupt zu erkennen. Der äußere Zylinder, ei-gentlich nur Sichtblende und Schat-tenspender, besteht aus schlanken, glasfaserverstärkten Polyesterstä-ben auf einer Stahl-Unterkonstruk-tion. Der zweite, innere Zylinder wirkt wie eine räumliche Verdich-tung des ersten; er besteht aus trans-luzentem Polyacrylat, das tagsüber zu einer gigantischen Projektionsfl ä-che für die von außen aufgestrahl-ten Lichter und Schatten wird und nachts, künstlich hinterleuchtet, sei-nerseits nach draußen strahlt. Mit äußerster Kunstfertigkeit lenkten selgascano das Tageslicht auch in die tief in der alten Bastion gelegenen Räume, zumal in das große, 1000 Zuschauer fassende Auditorium un-terhalb des Plexiglaszylinders. Durch ein rundes Dachoberlicht fällt das Ta-geslicht auf eine wellenförmig ge-schwungene Lamellendecke, die das Licht gleichförmig im Raum verteilt. Die Projektion des runden ‚Sonnen-fl ecks‘ bleibt dabei von innen jeder-zeit sichtbar und lässt die Zuschauer den Weg der Sonne um das Gebäude nachvollziehen.

LEUCHTKRANZ AUF DER MAUERKRONE

Die Gabelsbergerstraße im Münch-ner Stadtteil Maxvorstadt hat sich in den Nachkriegsjahrzehnten zu einer „Rennstrecke“ für den Durch-gangsverkehr entwickelt. Tausende Fahrzeuge nutzen die Einbahnstraße täglich, um in die Innenstadt zu gelan-gen. Nicht ein Baum belebt den trost-losen Straßenraum, der von wenig attraktiven Nachkriegsbauten fl an-kiert wird. Zu ihnen gehörte lange Zeit auch das Haus Gabelsberger Straße 30: Seine Fassade war in den 70er-Jahren durch ein Rautenmuster in Ocker und Braun ‚verziert‘ worden und wirkte doch trist und kahl.

2004 erhielt der junge Münch-ner Architekt Jakob Bader den Auf-trag, das fünfgeschossige Wohnhaus umzubauen und aufzuwerten. Zum Ausgangspunkt seines Entwurfs machte Bader den eklatanten Man-gel an Straßengrün. Bäume, eine Allee, so sein erster Gedanke, wür-den Schatten spenden, den Verkehrs-lärm mindern und dem gesamten Straßenraum ein attraktiveres Ge-präge geben. Da es nicht möglich war, einfach einige Bäume auf dem Geh-steig zu pfl anzen, beauftragte Bader die Foto-Künstlerin Kathrin Schäfer mit Aufnahmen von Kastanienlaub. Die in München sehr populären Allee-

und Biergartenbäume sollten, auf Glasscheiben gedruckt, die Hausbe-wohnern zumindest dem Gefühl nach ‚im Grünen‘ wohnen lassen. Maler strichen das Haus in frischer grüner Farbe; ein Schlosser montierte rund 120 laufende Meter Stahlschienen wie Eisenbahnschienen vor die Fas-sade. In ihnen laufen insgesamt 56 Schiebeläden aus bedrucktem Glas: eine bewegliche Allee, saftig leuch-tend und wildromantische Blätter-schatten nach drinnen werfend, die vom ‚Original‘ auf den ersten Blick nicht zu unterscheiden sind.

STRASSENGRÜN ALS KUNSTOBJEKT

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Auf den Mühlbachäckern im Süden der Universitätsstadt Tübingen ist in den vergangenen Monaten ein Gewerbegebiet der besonderen Art entstanden. Nicht nur Privatunter-nehmen, sondern auch das Tübinger Landratsamt ließen sich hier, zentral gelegen und doch von einem Park um-geben, nieder. Das größte Gebäude im Quartier, die neue Hauptverwal-tung der Tübinger Stadtsparkasse, wurde von den Stuttgarter Archi-tekten Auer+Weber+Assoziierte ge-plant und fällt äußerlich nicht eben durch Extravaganz ins Auge. Den im Grundriss quadratischen, sechs-geschossigen Kubus umgibt ein frei stehendes Stahlgerüst, das die Son-nenschutz-Jalousien aufnimmt und ungewöhnlich stark an die Spät-werke Mies van der Rohes aus den USA erinnert. Und auch in punkto Off enheit durchweht den Neubau der Mies’sche Geist: Sofern der Son-nenschutz gerade nicht die Sicht verdeckt, genießen die Büroange-stellten durch raumhohe Dreifach-verglasung den ungehinderten Blick nach draußen. Die Innenräume wur-den für deutsche Verhältnisse au-ßerordentlich weitläufi g angelegt; abgetrennte Einzelbüros erhielten lediglich die leitenden Angestellten.

LICHT-TONLEITER

Das lichterfüllte Herz des so genann-ten ‚Sparkassen Carrés‘ ist das glas-überdeckte Forum im Innenhof, das 500 Personen fasst und für Veran-staltungen genutzt wird. Mit Leben erfüllen diesen Raum indes nicht nur die Nutzer: Die in das Glasdach in-tegrierte Glasskulptur ‚chromatic scale‘ des Künstlers Bernhard Huber fi ltert und färbt das einfallende Ta-geslicht in einem sonnigen Gelbton. Der englische Begriff ‚Scale‘ steht für ‚Skala‘ oder ‚Tonleiter‘, und als solche möchte auch Huber sein Kunstwerk verstanden wissen. Er unterteilte das Glasdach in einzelne, parallele Streifen, innerhalb derer sich klare, weiße und gelbe Glasfl ächen in un-regelmäßigen Rhythmen abwech-seln. „Wie bei einer Melodie gibt es mehrschichtige Überlagerungen im Duktus der verschiedenen räum-lichen Glasträgeranordnungen“, so Huber. In ihrer Gesamtheit erinnert die ‚chromatic scale‘ damit an die ab-strakte Notation eines Musikstücks oder an die Dezibelskala eines elek-tronischen Verstärkers – in jedem Fall aber erweist der Künstler damit dem Bauwerk, in dem sich letztlich alles um Zahlen und Skalen dreht, seine Reverenz.

Fast drei Jahrzehnte stand die von Le Corbusier 1962-64 geplante Kir-che Saint-Pierre als halbfertige Ruine in dem Arbeiterstädtchen Fir-miny am Ostrand des französischen Massif Central. Es hätte den Schluss-stein bilden sollen für ‚Firminy-Vert‘, einer in den 50er-Jahren begon-nenen Stadterweiterung im Geiste der Charta von Athen, zu der auch Le Corbusier ein Stadion, ein Kulturzen-trum und eine ‚Unité d’habitation‘ beisteuerte.

Die rund 7,6 Millionen teure Fer-tigstellung des Bauwerks ist nicht zuletzt staatlichen Fördergeldern verdanken. Da diese im streng lai-zistischen Frankreich jedoch nicht für Sakralbauten aufgewendet wer-den dürfen, gilt Saint-Pierre offi zi-ell als Museum. Im Sockel, der einst für die Gemeinderäume vorgesehen war, wurden eine Zweigstelle des Musée d’art moderne in Saint-Eti-enne und ein Le-Corbusier-Museum untergebracht. Die Kirche selbst ist geweiht, doch es ist fraglich, ob hier jemals ein Gottesdienst stattfi nden wird. Unter ihrem hoch aufragenden, schräg gestutzten Kegeldach öff -net sich ein höhlenartiger Raum aus Sichtbeton, der tagsüber nur durch wenige Tageslichtöff nungen erhellt

wird. Schmale, in Kopfhöhe umlau-fende Fensterschlitze lösen das Dach optisch von seinem Unterbau. Über den rauen Sichtbeton des Gewölbes streicht das Licht aus vier weit oben angebrachten ‚Lichtkanonen‘ – Be-tonröhren unterschiedlichen Quer-schnitts, die innen rot, gelb, blau und grün gestrichen wurden. Ergänzt wird die Lichtszenerie in Saint-Pi-erre durch einen ‚Sternenhimmel‘ in der Ostwand, über dem Altar: Mit kleinen, runden Öff nungen in der Be-tonhülle wurden hier die Sternbilder Orion und Zwillinge nachgebildet, die in dieser Richtung am Nachthimmel zu sehen sind.

Die Oberleitung über den Bau der Kirche hatte José Oubrerie, ein ehe-maliger Mitarbeiter Le Corbusiers. Die Fondation Le Corbusier, Gralshü-terin des Erbes des Architekten, hat ihr ‚Plazet‘ für den Bau bereits gege-ben. Trotz einiger „persönliche Er-gänzungen und Korrekturen durch Oubrerie“, schreibt der Architektur-historiker Gilles Ragot, der von der Stiftung mit einem Gutachten be-auftragt wurde, sei „die Kirche selbst [...] von einer Qualität und räumlichen Originalität, die in den größten Wer-ken von Le Corbusier und im moder-nen Kulturgut zu fi nden sind.“

SPÄTVOLLENDETES MEISTERWERK

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MENSCHUND ARCHITEKTUR

Der Mensch als Mittelpunkt der Architektur:Innenansichten einer wechselvollen Beziehung.

TENDENZEN DES LICHTS

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Von Richard Weston.

Drei Jahre dauerte es, bis Jørn Utzon die passenden Fliesen für die majestätischen Kuppelschalen seiner Oper in Sydney entwickelt hatte – Fliesen, die exakt die von ihm gewünschte Wirkung unter wechselnden Lichtver-hältnissen erzielten. Utzons Oper ist nur ein Beispiel von vielen für die Sensibilität, die die Architekten des 20. Jahrhunderts bei ihrem Spiel mit Strukturen und Licht an den Tag legten.

Carl Petersen, der Architekt des viel beachteten Fåborg Muse-ums, diskutierte bereits 1919 in seinen Lehrvorträgen zur Struktur an der Königlich Dänischen Kunstakademie die „unerfreulichen Auswirkungen unbeständiger Strukturen“, wenn zum Beispiel eine polierte Granitfl äche aufgrund der ungleichmäßigen Trans-parenz einzelner Steinelemente uneben wirkt. „Ziel sollte sein“, so erklärte er, „eine Solidität der Materialoberfl äche zu erreichen.“ Eine klare Form erfordere somit eindeutige Oberfl ächen, die durch Licht und Schatten zusammen mit eventuellen Farb- und Struk-turwechseln modelliert werden und nicht auf „vage oder zufäl-lige Eff ekte“ abzielen.

Im selben Jahr entwarf Mies van der Rohe ein gläsernes Hoch-haus für die Berliner Friedrichstraße. Dabei nutzte er exakt die von Petersen abgelehnten Eff ekte als Basis einer völlig neuen Architek-tur. Durch das unregelmäßige, facettenreiche Profi l des Gebäu-des wurde ein ‚Wandteppich’ ständig wechselnder Refl exionen geschaff en. Er zielt vermutlich darauf ab, die Gezeiten von Ebbe und Flut im Stadtleben darzustellen – ein seit Baudelaire popu-läres Th ema des Modernismus.

Wenngleich in nördlichen Gefi lden kundgetan, gründete Petersens Aufruf zur Solidität auf den Vorzügen des konstan-ten Lichts im Süden. Dort schaff en Licht und Schatten beein-druckende Modellierungen, die durch Struktur und Farbeff ekte allein unerreichbar sind. Diese Meinung vertrat auch Alberti in seinen ‚Zehn Büchern über die Baukunst’. Sein Plädoyer für das Reine und Weiße als Ausdruck höchster Architekturkunst wurde zum Bekenntnis der Neoklassizisten. Mies van der Rohe hinge-gen orientierte sich bei seinen Glaskonstruktionen an den fl üch-tigen Eigenschaften des nördlichen Lichts, die er zehn Jahre später unter südlicher Sonne im Barcelona-Pavillon aufl eben ließ. Dort erzeugte das komplexe und beeindruckende Spiel des Lichts, das durch farbiges Glas fällt und von polierten, ornamentalen Steino-berfl ächen und Wasserbecken refl ektiert wird, einen der atmosphä-risch dichtesten Räume in der Architektur des 20. Jahrhunderts.

regionale lichtunterschiede und ihr einfluss auf die architektur

Gehen wir einmal davon aus, dass der Norden und der Süden in ihrer Gegensätzlichkeit von Dematerialisation unter atmo-sphärischem Licht und den von Sonnenlicht und Schatten klar

modellierten Formen die Pole des (europäischen) Architekturver-ständnisses manifestieren. Dann lassen sich die Architekturströ-mungen des 20. Jahrhunderts nicht nur nach den traditionellen räumlichen und konstruktiven Kriterien, sondern auch nach ihrem Umgang mit Licht und Material einteilen: Die einen Architekten nutzen das ausdrucksstarke Potenzial von Materialien und Struk-turen, die anderen unterdrücken dieses Vermögen radikal und erzielen bestimmte Eff ekte allein durch natürliches Licht.

Letzterer Ansatz hat die Architektur im Norden und im Süden gleichermaßen beeinfl usst. So hat beispielsweise Juha Leiviskä in Finnland eine ‚De Stijl’-ähnliche Formensprache aus scheinbar schwerelosen, durch Licht belebten Ebenen entwickelt: In der Kir-che von Myyrmäki sind alle Flächen weiß und eben deshalb so faszinierend. Nach seiner eigenen Aussage wollte Leiviskä einen immateriellen ‚Lichtschleier’ erzeugen; als Vorbild diente ihm die Doppelschalenkonstruktion von Rokoko-Kirchen. Bei einem spä-teren Projekt in Kuopio gestaltete er die versteckten Seitenfl ächen rund um den Altar farbig und tauchte die Umgebung in sanft schimmernde Farben. Denselben Eff ekt erzielte Steven Holl spä-ter in der St. Ignatius-Kapelle in Seattle.

Unter der hoch stehenden und intensiven Sonne im Süden Spaniens interpretierte Campo Baeza das Haus Gaspar in Zahora als befestigten Paradiesgarten. Aber statt auf die Farbenpracht üppiger Pfl anzen und Blumen setzte er voll und ganz auf die Wir-kung natürlichen Lichts und Wassers, die in diesem Projekt die Natur verkörpern. Die Böden drinnen und draußen sind mit Kalk-stein ausgelegt; das Innere, nahtlos umrahmt von weiß getünchten Wänden, wird lediglich durch vier große Fensteröff nungen mit, wie Baeza es nennt, ‚horizontalem’ Licht erfüllt. Durch die Ver-meidung von Schatten verlieren sämtliche Formen ihre Dimen-sionen, und unsere Sinne für subtilste Variationen der Lichtfarbe werden geschärft.

Das von Campo Baeza 1991 fertiggestellte Haus kann teilweise als Reaktion auf die nachhaltig dogmatische Betonung der Mate-rialqualitäten verstanden werden, wie sie diverse Architekturschu-len der Nachkriegszeit kennzeichnete. Als deren Vorreiter gilt Le Corbusier mit seinem béton brut der Unité d’habitation von Mar-seille und dem ‚bäuerlichen’ Ziegelmauerwerk der Maisons Jaoul in Neuilly. Ihren überzeugendsten Ausdruck gewann diese Beto-nung des Materials dort, wo sie durch die Anpassung an regionale Gegebenheiten einen verstärkten Ortsbezug entstehen ließ.

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Für das Rathaus von Säynätsalo gab Alvar Aalto die Anwei-sung, alle Ziegel in leichtem Winkel zu versetzen, was dem Mau-erwerk im sanften Sommerlicht eine strukturierte Oberfl äche und außergewöhnliche Wirkung verleiht. Später, beim Rathaus von Seinäjoki, sind die Flächen noch deutlicher auf das nördliche Licht abgestimmt. Der hohe, keilförmige Bau ist mit dunkelblau gla-sierten Fliesen verkleidet. Aufgrund der Gebäudeform, im Quer-schnitt ein gestauchter Halbkreis, wurden die Fliesen vertikal in einer Art Streifenmuster verlegt, das die tief stehende Sonne ein-fängt und durch seinen refl ektierenden Charakter an Cordstoff erinnert. Wenn das Sonnenlicht schräg auf seine Oberfl ächen triff t, schimmert das solide und imposante Gebäude ganz in Preu-ßischblau, während bei direkter Sonneneinstrahlung die schma-len, hellen Rauputzstreifen zwischen den Fliesen dominieren und die blaue Farbe verwaschen. Bei den oft bestaunten ‚experimentel-len Wänden’ seines Sommerhauses in Muuratsalo ließ Aalto sei-nen persönlichen Ideen freien Lauf, indem er verschiedene Ziegel, glatte und glasierte Fliesen und unterschiedliche Fugentechniken miteinander kombinierte und so Flächen schuf, deren Aussehen sich mit dem Lauf der Sonne ständig verändert. Man kann das Ganze schlicht als eine abstrakte Komposition von Struktur und Farbe betrachten, aber gleichzeitig wird ein intensiver Ortsbe-zug heraufbeschworen – allerdings nicht zu Finnland, sondern zum verwitterten Flickwerk der Mauern in Aaltos geliebtem Ita-lien. Warum sonst braucht das Rechteck azurblauer Fliesen einen exponierten Sturz, wenn nicht dazu, den Eindruck eines Fensters unter südlichem Himmel zu vermitteln?

licht und genius loci: carlo scarpas innenräume

Carlo Scarpa orientiert seine Bauwerke an den Bautraditionen Venedigs, wo – um John Ruskin zu zitieren – „die Verblendung von Ziegeln mit wertvolleren Materialien“ einerseits auf die weite Entfernung der Stadt zu Steinbrüchen zurückzuführen ist und andererseits als Stilmittel eingesetzt wird, um eine durchdringende und überall spürbare Lichtüberfl utung zu evozieren: Die mit einem Rautenmuster verkleideten Mauern des Dogenpalastes wirken im Tageslicht wie gespannter Stoff , die vielfarbigen Cosmati-Böden sehen aus wie eine Versteinerung gebrochener Wasserrefl exionen, und die von Scarpa besonders geliebten, typisch venezianischen Terrazzo-Böden (pavimenti alla veneziana) scheinen von einem

dünnen Regenfi lm überzogen zu sein. In dem Geschäft, das er für Olivetti an der Piazza San Marco entwarf, kombinierte Scarpa Terrazzo- und Mosaikböden, indem er kleine unregelmäßige Vier-eckmosaike aus refl ektierenden Glassteinchen in parallelen Bah-nen in ein Bett aus hellem Zementmörtel einarbeitete. Die Bahnen wirken in einer Richtung wie ein markanter ‚Kettfaden’, wäh-rend die Mosaiksteine wegen ihrer Unregelmäßigkeit und großen Abstände eine Art ‚Schussfaden’ bilden, der auf subtile Weise an eine gekräuselte Wasseroberfl äche erinnert.

Für die Decken in der Galerie der Fondazione Querini Stampa-lia erweckte Scarpa eine andere lokale Tradition zum Leben – den stucco alla veneziana. Bei der als marmorino bekannten Variante wird Marmorstaub in den Deckanstrich gemischt und vermit-telt den Eindruck steinähnlicher Härte, der durch einen mittels Heißbearbeitung erzeugten refl ektierenden Schimmer noch ver-stärkt wird. Im Ergebnis hat diese Technik nicht nur praktische Vorzüge, da sie große Mengen an Wasser aus der feuchten Luft aufnehmen kann, sie ist auch äußerst lichtwirksam.

Das Bestreben, Materialien den gegebenen Ortsverhält nissen anzupassen, lässt sich auch in den späten Kirchen von Sigurd Lewerentz erkennen, wo das Mauerwerk in einer Mörtelschicht zu fl ießen scheint und unterschwellig an die unregelmäßige Muste-rung von Birkenrinde erinnert. In Klippan wird das trockene und raue Ziegelwerk kontrastiert durch ungerahmte Doppelvergla-sungen, die nicht in, sondern vielmehr vor den Fensteröff nungen liegen. Der grünliche Glanz des Glases verschmilzt mit Refl exi-onen von Gras, Bäumen und Himmel und verwandelt die ele-mentaren Fenster in ‚Teiche’ fl üssigen Lichts.

Beim Bau der Oper in Sydney lässt sich Ähnliches erkennen – allerdings in gänzlich anderen Dimensionen. Die rekonstruierte Verkleidung der großen Plattform aus rotem Sandstein, der hier überall zu fi nden ist, bildet einen sichtbaren Kontrast zu den refl ek-tierenden Fliesenfl ächen der Schalen. Jørn Utzon ließ sich sowohl von der Architektur als auch von der Natur inspirieren; etwa von den gefl iesten Kuppeln, die wie ätherisch über den Ziegelbauten orientalischer Städte zu schweben scheinen, oder schneebedeckten Bergen, auf denen frisch gefallener Schnee vom Wind verweht wird und die gefrorene Schicht darunter off enlegt. Utzon verwandte drei Jahre auf den Entwurf dieser Verkleidung. Das Ergebnis ist eine Kombination glatter und glasierter Fliesen, wobei Erstere sich der konischen Geometrie der darunter liegenden Rippen anpas-

1. Alberto Campo Baeza: Casa Gaspar in Cadiz (1992)Glatte Flächen, perfekte Sym-metrie und perfektes Weiß bil-den in Campo Baezas Wohnhaus den Rahmen für eine aufs Äußer-ste reduzierte Essenz der Natur ringsum.

„Das Licht in diesem Haus ist horizontal und kontinuierlich, was sich in der Ost-West-Ausrichtung der Hofeinfassung widerspiegelt. Das horizontale Licht spannt hier ganz einfach einen horizon-talen, kontinuierlichen Raum auf.“

Alberto Campo Baeza

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bungs- und Lichtrefl exionen das Licht eher auszuströmen denn zu absorbieren scheint. Ähnliche, wenngleich weniger frappieren de Eff ekte werden im Liner Museum in Appenzell erzielt, wo sowohl die Wände als auch das Sheddach mit viereckigen Edelstahlplat-ten verkleidet sind. Für das Kunstmuseum in Bregenz kreierte Peter Zumthor eine vorgehängte Außenfassade aus stockwerk-hohen, satinierten Glasscheiben, hinter denen schemenhaft der Aufbau der Geschossebenen erkennbar ist. Die Fassaden reagie-ren subtil auf Lichtveränderungen, vor allem nachts, wenn sie von innen beleuchtet werden.

In Anlehnung an diese Schweizer Modelle platzierte Steven Holl am Bloch Building im Nelson-Atkins Museum of Art in Kansas City fünf rechtwinklige Glaskonstruktionen in der Land-schaft, die als Dachoberlichter für ein weitestgehend unterirdisches Gebäude dienen. Durch die Nutzung von eisenfreiem Glas wurde die in Winterthur so off ensichtlich hervortretende grüne Farbe eliminiert, und dies mit erstaunlichem Ergebnis: Während das Gebäude von Gigon/Guyer optisch mit seiner Umgebung intera-giert, steht Holls Bauwerk in kristallinem Kontrast zur Landschaft. Diese kristalline Qualität von Holls ‚Linsen’, wie er sie nennt, wird noch dadurch verstärkt, dass die Glasscheiben off ensichtlicher Teil einer konstruierten Ordnung sind. Nachdem fast zwei Jahr-zehnte lang verführerische Vorhangfassaden aus nahezu jedem erdenklichen Material angefertigt wurden, angefangen von den extremen Formen der ‚Schweizer Boxen’ bis hin zu Frank Gehrys barocken Draperien, könnten sich nun ‚handfeste’ Konstrukti-onen wied er gegen leichtes Design behaupten. Wenn ich an das Vergnügen denke, zwischen Tadao Andos Betonwänden im exqui-siten Koshino-Haus oder unter den weiß getünchten Betongewöl-ben in Jørn Utzons Kirche in Bagsværd zu stehen, kann ich mich nicht des Eindrucks erwehren, dass derart harte Formen in gewisser Weise anmutiger sind: Beide Bauwerke zeichnen sich durch ihre Strukturierung und die off engelegten Details wie Schraubenlöcher und Bretter aus, und beide erscheinen in bestimmten Lichtsituati-onen wie verwandelt. Nirgendwo vielleicht kann man die Trans-formationskraft des Lichts deutlicher spüren als auf der Veranda von Louis Kahns Kimbell Art Museum, wenn die sichelförmigen Lichtfl ecken über den Beton und die Travertinfl ächen wandern. Von Kahn stammt der berühmte Spruch: „Die Sonne wusste nie, wie groß sie ist, bis ihr Licht auf die Seite eines Hauses fi el.“ In Kimbell versteht man, was er meint.

sen und Letztere, diagonal verlegt, eine viereckige Füllung bilden, in die klein gemahlene Stückchen gebrannten Tons eingestreut sind und die Oberfl äche aufrauen. Perfekt auf den Kugelfl ächen der Schalen arrangiert, erzielen die Fliesen einen wunderbaren kumulativen Eff ekt, greifen auf nahezu unheimliche Weise die Farben des Himmels und das Zusammenspiel von Schatten und refl ektiertem Licht zwischen den Schalen auf.

autonomie des materials: architektur seit den er-jahren

Trotz aller Aufmerksamkeit, die Aalto, Lewerentz und Utzon den Qualitäten von Material und Licht widmeten, standen diese tradi-tionell zweitrangigen architektonischen Elemente in ihren Werken im Dienst einer größeren Idee; in der Architektur von Scarpa wurde diese ‚Idee’ häufi g durch den Rahmen eines bestehenden Gebäu-des bestimmt. Für eine Generation von Architekten, die sich in den 80er-Jahren bildete, wurde jedoch die Ausdrucksstärke der Mate-rialien zur zentralen Idee. Als Schlüsselinspiration diente die Kunst des Minimalismus, vor allem die Werke von Donald Judd. Indem er die Trennung von Materialoberfl äche und formaler Struktur aufhob, wollte Judd eine ästhetische Wirkung seiner Arbeiten erzeu-gen, die direkt aus visuellen ‚Fakten’ entsteht, die vom Betrachter unmittelbar wahrgenommen werden.

Durch die Reduktion von Gebäuden auf einfache oder tra-dierte Formen und durch ihre Verkleidung mit nur einem ein-zigen Material konnte sich das architektonische Interesse nahezu ausschließlich auf die Eigenschaften von Flächen und das Spiel des Lichts konzentrieren. Mit vertikalen oder horizontalen Holz-latten verkleidete Konstruktionen – wie Peter Zumthors Einfrie-dung römischer Funde in Chur oder der Anbau von Burkhalter und Sumi an das Zürichberg-Hotel – können am Tag verschlos-sen wirken, bei Nacht aber mysteriös schimmern. Auf ähnliche Weise erweisen sich in Herzog & de Meurons Weinkellerei im Napa Valley massive und scheinbar undurchsichtige Korbwände völlig unerwartet als lichtdurchlässig.

Mit der Verlagerung des Interesses von undurchsichtigen und matten zu refl ektierenden, transparenten oder lichtdurchlässigen Materialien ergaben sich auch neue Ausdrucksformen. Durch die Verwendung von Strukturglasscheiben als Wetterhaut an ihrem Anbau an die Kunstgalerie in Winterthur schufen Gigon/Guyer eine stark geriefelte Hülle aus feinen Schichten, die durch Umge-

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licht und energie: materialentwicklung im zeichen der ökologie

Neben diesen Experimenten mit der visuellen Wechselwirkung zwischen Material und Licht eröff nen die Entwicklungen in der Materialwissenschaft ein neues, kaum erforschtes Gebiet. Auf den ersten Blick könnte man das Seniorenwohnheim von Dietrich Schwarz in Domat/Ems für einen konventionellen Vertreter der Schweizer Moderne halten. Tatsächlich aber reihen sich an der höher gelegenen Südseite des Gebäudes Fenster mit Dreifachverglasung aneinander, die ein Salzhydrat enthalten, das in fl üssigem Zustand Solarenergie speichern kann. Bei einem Temperaturabfall kristal-lisiert die Lösung und ist nicht mehr transparent, sondern wird undurchsichtig und setzt bei diesem Prozess Wärme frei. Solche phasenveränderlichen Materialien sind nur ein Beispiel für zahl-reiche Erfi ndungen, die neue Wege für Gebäudefassaden eröff -nen, um mit natürlichem Licht zu interagieren. Einige sind teuer und exotisch, zum Beispiel holografi sch- optische Elemente (HOE), deren Farbe je nach Blickwinkel und Sonnenstand variiert und die der Architektur so den Charakter einer Chamäleonhaut ver-leihen. Andere hingegen, wie die in Großbritannien von Digital Glass entwickelten Druckfolien, sind sehr kosteneff ektiv. Sie könn-ten bestehende Sonnenschutzsysteme ersetzen und gleichzeitig neue gestalterische Möglichkeiten schaff en – angefangen von der Verwandlung von Glasfassaden in riesige Bilder bis hin zu blick-dichten, aber lichtdurchlässigen Trennwänden.

Für moderne, selbstreinigende Materialien – seit jeher ein ‚Hei-liger Gral’ der Glasproduzenten – wird vermehrt das Tageslicht genutzt, um eine hydrophile Oberfl äche zu schaff en, welche die Reinigung der Gebäudefassade vereinfacht. Die erfolgreichsten dieser Materialien basieren bislang auf Titandioxid. Sie bieten den zusätzlichen Vorteil, Sauerstoff zu erzeugen und Schadstoff -gase zu eliminieren; hierdurch ließe sich die Luftqualität in den Städten wesentlich verbessern.

Angesichts dieser Extreme – einerseits minimalistische Ver-suche in Weiß, andererseits die faszinierenden visuellen Eigen-schaften einer Vielzahl von Materialien – könnte man meinen, die Architektur habe die Grenzen der Interaktion zwischen Material und Licht ausgelotet. Da aber neue Generationen ‚intelligenter’ Materialien nunmehr erschwinglich sind, eröff nen sich für Bau-technik und Architektur bislang ungeahnte Möglichkeiten.

Richard Weston ist Professor für Architektur an der Cardiff University und Herausgeber der Zeitschrift Architectural Research Quarterly, die von der Cambridge University Press veröff entlicht wird. Zu seinen Büchern gehören eine mit dem Sir-Banister–Fletcher-Preis ausgezeichnete Studie zu Alvar Aalto und das Buch ‚Utzon. Inspiration, Vision, Architecture‘. Seine neueren Publikationen beschäftigen sich mit der Erforschung natürlicher Materialien als Quelle für verschiedene digitale Herstellungstechniken; diese werden in seinem jüngsten Buch ‚Formations: images from rocks‘ und unter www.naturallyexclusive.com diskutiert.

2–3. Steven Holl Architects: St. Ignatius Chapel in Seattle (1997)Streifl icht, das durch Wand-schlitze und schmale Fenster in den Kirchenraum fällt, macht die unregelmäßige Struktur der Putzoberfl ächen an den Wänden und Deckengewölben sichtbar.

4. Alvar Aalto: Versuchshaus in Muuratsalo (1953)Die Ziegelwand in seinem Som-merhaus auf der Insel Muurat-salo diente Alvar Aalto als Experimentierfl äche für unter-schiedliche Ziegelverbände und deren Wechselwirkung mit dem Licht.

Kirche in Klippan (1966) Einheitlich aus dunklem Back-stein gemauerte Wände, Böden und Deckengewölbe verleihen dem Kircheninnenraum einen höhlenartigen Ausdruck.

6. Jørn Utzon: Oper in Sydney (1973) Die im Tagesverlauf ständig wechselnde Licht- und Farbwir-kung der Oper beruht maßgeb-lich auf der Fliesenverkleidung, auf deren Entwicklung Utzon drei Jahre verwandte.

7–8. Gigon/Guyer: Liner Museum in Appenzell (1998)Die Schuppenhaut aus Chrom-stahlblechen konterkariert die industriell anmutende Sheddach-form des Museums und lässt sie als eine in der Sonne glänzende Schatulle erscheinen.

9. Peter Zumthor: Kunsthaus in Bregenz (1997)Mit den Phänomenen der Schich-tung und Transluzenz spielt Peter Zumthor bei seinem Kunsthaus-Kubus. Die Hülle lässt die innere Struktur des Gebäudes nur erahnen.

10. Steven Holl Architects: Bloch Building, Kansas City (2007)Maßstabslos und immateriell durch seine Fassade aus Struk-turglastafeln, bricht Steven Holls Museumserweiterung bewusst mit dem gewohnten Repräsentationsbedürfnissen dieses Bautypus. 11–12. Tadao Ando: Koshino House in Ashiya (1981)Noch nicht ganz die samtige Glätter seiner späteren Bauten erreichen die Betonoberfl ächen in Tadao Andos frühem Wohn-haus. Ihre Struktur tritt im Streifl icht deutlich zutage. .

13. GLASSX AG, Dietrich Schwarz: Seniorenwohnungen in Domat/Ems (2004)Für die transluzenten Fassaden-fl ächen dieser Wohnanlage ver-wendete Dietrich Schwarz ein Salzhydrat als Wärmespeicher. Es ändert unter Wärmeeinwir-kung seinen Aggregatzustand und kann so Wärme aufnehmen, ohne sich aufzuheizen.

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5. Sigurd Lewerentz:

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Unter die Haut Von Jakob Schoof.

Sie gelten als Inbegriff für schönen Schein, mangelnden Tiefgang und fl üchtige Eindrücke. Dennoch bilden sie die Grundlage unseres Weltbildes: Eine Reise zu den Oberfl ächen der Erde – und darunter.

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Die Oberfl ächen der Dinge bestimmen unser Weltbild: Ihre Wechselwirkung mit Licht bildet die Grundlage unseres Sehens. Sie bilden die Schnittstelle für den Austausch von Materie und Information – und damit für die Prozesse des Lebens. Der Stoff wechsel jeder lebenden Kreatur vollzieht sich durch deren Haut oder Hülle – sei es durch Verdunstung, Speicherung von Sonnenenergie, Nahrungsaufnahme oder Wärmeaustausch. Tageslicht, das auf die Oberfl ächen leben-der Organismen fällt, liefert uns lebenswichtige Energie.

Doch längst sind die Oberfl ächen unserer Welt nicht mehr naturgesetzlich vorherbestimmt: In einem wechselseitigen Geben und Nehmen lernt der Mensch von den Oberfl ächen der Natur und formt sie nach seinen Vorstellungen. Haifi sch-Schuppen sind Vorbild für Schwimmanzüge, Lotosblätter für schmutzabweisende Fassadenanstriche und Straußeneier für antimikrobielle Frischhaltefolien. Gleichzeitig ist kaum ein Qua-dratkilometer Erdoberfl äche noch nicht vom Menschen über-formt – selbst die Weltmeere verwandeln sich in den Visionen einiger Wissenschaftler schon in riesige Algenfarmen. Fast jede gewünschte Oberfl äche kann heute mit künstlichen Mit-teln erzeugt werden – auch solche, von denen niemand weiß, ob und wie sie sich der Mensch einmal zunutze machen wird. Und doch ist unsere Fähigkeit, Oberfl ächen richtig zu deuten, mit entscheidend für das Überleben auf unserem Planeten. Es lohnt also, einen Blick unter die Oberfl ächen der Welt zu werfen.

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Vorangehende DoppelseiteDavid Maisel: The Lake Project 9816-11, 2002Die Erde blutet: Jahrzehnte diente der kalifornische Owens Lake als Trinkwasserreservoir für Los Angeles. Heute bildet das größtenteils trockengefallene, hochgradig verseuchte See-bett ein irritierendes Bild aus schwarzen Venen, Blasen und durch Bakterien rot gefärbten Wassertümpeln.

GegenüberAntennae Galaxis. Aufnahme des Hubble Space Telescope

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Galileo Galilei reichte eine kleine Appara-tur, um das Weltbild der Menschheit zu verändern. Im Jahr 1609 richtete der itali-enische Mathematiker und Astronom eines seiner ersten selbstgebauten ‚Perspektiv-gläser’ (heute würden wir ‚Teleskop’ dazu sagen) auf den Mond und erkannte, dass der Begleitstern der Erde keinesfalls die glatte, makellose Kugel war, die Aristoteles fast zwei Jahrtausende zuvor in seinen Theorien beschrieben hatte. In seiner Schrift ‚Über den Himmel‘ hatte der griechische Philosoph ein Weltbild entworfen, das bis ins 16. Jahrhun-dert Gültigkeit behalten sollte: Die Erde als unbewegliches Zentrum des Universums war demzufolge von konzentrischen Schichten umgeben – zunächst von den vier Elementen (Erde, Wasser, Luft und Feuer), dann von den Bahnen der sieben kugelförmigen Planeten Mond, Venus, Merkur, Sonne, Mars, Jupiter und Saturn. Jenseits des Mondes bestand das Universum aus einer ätherischen, unzer-störbaren ‚Quintessenz’ (wörtlich: dem ‚fünften Element‘), die sich nur in perfekten Kreisen bewegen konnte. Da alle Himmels-körper aus dieser Quintessenz bestünden, müssten sie naturgemäß eine perfekte und makellose Kugelform besitzen.1

Die Erkenntnisse Galileis stürzten nicht nur die katholische Kirche in ihre bis dato größte Krise, sondern markierten auch den Übergang von der transzendentalen, mystischen Auff assung des Lichts im Mit-telalter zum wissenschaftlichen Lichtbegriff des modernen Zeitalters. Von der Inquisi-tion verfolgt, musste Galilei seinen ketze-rischen Lehren im Jahr 1633 abschwören. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass seine Schriften mehr als zwei Jahrhunderte auf dem Index verbotener Bücher des Vatikans standen und Galilei erst 1992 von Papst

Johannes Paul II. offi ziell rehabilitiert wurde. Hier zeigt sich die Bedeutung, die die Kirche der Interpretation des Lichts beimaß: Wenn das Licht nicht mehr göttlichen Ursprungs, sondern vielmehr eine profane Naturer-scheinung und der Himmel nicht länger eine von der Erde losgelöste Sphäre wäre, wo sollte sich dann das Reich Gottes befi n-den? Abgesehen von der off ensichtlichen Befürchtung, seine Deutungshoheit über Himmel und Erde einzubüßen, off enbarte sich in der Reaktion des Klerus auch ein all-gemeines Problem menschlicher Wahrneh-mung: Das Sehen allein reicht zum Erkennen nicht aus. Erkennen bedeutet, ein visuelles Bild mit einer dinglichen Vorstellung zu ver-gleichen, die im menschlichen Gehirn ange-legt ist. Diese Erkenntnis ist keinesfalls neu. Schon die Philosophie von Aristoteles‘ Leh-rer Plato gründete auf dieser Dualität von Phänomenen (die durch unsere Sinne wahr-nehmbar sind) und Vorstellungen oder Ideen (denen allein durch den menschlichen Ver-stand Gestalt verliehen wird). Nach der Lehre Platos gehen die allgemeinen Ideen den Dingen voraus und sind von diesen unab-hängig. Wo allgemeine Ideen fehlen, ist auch kein Verstehen bislang unbekannter Phä-nomene möglich, wie die Reaktionen zahl-reicher Zeitgenossen Galileos beweisen: Sie schenkten weder seinen Erkenntnis-sen, geschweige denn seinen Schlussfol-gerungen Glauben, nicht nur, weil sie diese als möglicherweise gefährlich betrachte-ten, sondern weil ihnen die Fähigkeit fehlte, diese Erkenntnisse mit ihrer Weltsicht zu vereinbaren. Die moderne Forschung belegt, dass sowohl Vorstellungskraft als auch tat-sächliche Phänomene für die menschliche Wahrnehmung unabdingbar sind. So haben von Geburt an blinde Menschen, die nach

jahrelangem Leben in Dunkelheit durch eine Operation Sehkraft erlangen, oft Schwie-rigkeiten, diesen neu gewonnenen Sinn zu nutzen. Sie erkennen zwar Bilder, Formen und Farben, können deren ‚Bedeutung’ aber kaum interpretieren, bevor sie diese nicht durch andere Sinne (hauptsächlich durch den Tastsinn) verifi ziert haben.

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s. Arthur Zajonc: Catching the Light. Oxford University Press 1993, S. 73–76.

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Gegenüber:David Maisel: Terminal Mirage 980-1, 2003Seit 2003 fotografi ert David Maisel die Landschaft des Großen Salzsees im US-Bundesstaat Utah. Kaum etwas lässt dabei den genauen Maßstab, den Ort oder die Zweck-bestimmung des aufgenommenen Objekts erahnen. Vielmehr sind die Bilder Chiff ren für den ständig wach-senden Einfl uss des Menschen auf seine natürliche Umwelt.

VERÄNDERTE WELTSICHTEN

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350 Jahre nach Entdeckung der Mondkrater markierten die ersten Weltraumfl üge einen nicht minder wichtigen historischen Wen-depunkt: Erstmals konnte der Mensch sei-nen Planeten als Ganzes betrachten – nicht nur anhand von Karten, Globen und anderen Modellen, sondern mit bloßem Auge. Seit-dem wurden per Satellit immense Daten-mengen über die Beschaff enheit der Erde gesammelt – angefangen von der Vegeta-tion bis hin zur Luftverschmutzung oder zur Bewegung des grönländischen Inlandeises. Websites wie Google Earth ermöglichen es heutzutage, per Computer zu jedem noch so entlegenen Punkt auf der Erde zu ‚reisen‘ und diesen detailliert zu betrachten. Doch trotz der rapide wachsenden Zahl an wissenschaft-lichen Beweisen, Modellen und Bildern fällt es uns schwer, eine konkrete Vorstellung von der Erdoberfl äche und den gewaltigen, heute oft künstlich erzeugten Kräften zu entwickeln, die sie verändern. Dies zeigt sich an Bildern von Fotografen wie David Maisel. Seine Black Maps von hoch verseuchten Gebieten wie dem Great Salt Lake in Utah oder dem Owens Lake in Kalifornien zeigen zerklüf-tete, blasige Strukturen in Rot, Schwarz und Weiß, die nur schwer zu interpretieren sind, obgleich sie größtenteils durch Menschen-hand entstanden. Was auf den ersten Blick schön erscheint, löst bei genauerem Hinsehen Entsetzen aus, wenn der Betrachter erfährt, was er auf den Bildern eigentlich sieht. „Die Erde blutet. Ein roter Fluss windet sich wie eine Schneise durch ein ausgebleichtes Tal zu einem See, der nicht mehr existiert. Aus der Luftperspektive wirken der Fluss und sein trockener Endpunkt wie Erscheinungen aus dem Jenseits“, schrieb Diana Gaston über Maisels Bilderserie Lake Project in der Zeit-schrift ‚Aperture‘2. Maisel selbst beschreibt

seine Werke an der Grenze zwischen Schön-heit und Zerstörung so: „Mein Interesse gilt Bildern, die einerseits grausam oder absto-ßend wirken, andererseits aber eine gewisse Formschönheit und emotionale Resonanz in sich tragen. Die Fotografi en der Black Maps betrachte ich als Elegien verwüsteter Land-schaften [....]. Aus der Luftperspektive kön-nen die kümmerlichen Überreste des Sees unterschiedlichste Gestalt annehmen: ein blutiger Strom, ein Mikrochip, eine durch-trennte Vene oder eine galaktische Karte. Wenn der Tod die Mutter der Schönheit ist, wie Wallace Stevens sagte, kann man das Lake Project als Autopsie des Sees verste-hen – eine moderne Version der Erhabenheit, die ich höchst beeindruckend fi nde.”3

Während David Maisel die (zerstörte) Erdoberfl äche durch ‚scheinbar schöne‘ Luft-aufnahmen dokumentiert, dient sie dem bri-tischen Bildhauer Andy Goldsworthy als Ausgangspunkt für seine zumeist vergäng-lichen Kunstwerke auf einer ganz anderen Maßstabsebene. Natürliche Materialien, die Goldsworthy meist ohne mechanische Hilfs-mittel bearbeitet und sorgfältig neu arran-giert, zeugen in diesen Werken nicht von ökologischen Katastrophen, sondern erzäh-len von den leisen, langfristigen und oftmals subkutanen Veränderungen in unserer Kul-turlandschaft. Laut Goldsworthy „ist die Natur von immenser Schönheit, gleichzei-tig aber äußerst enervierend und manchmal durchaus erschreckend. Wer jemals in einem vom Sturm verwüsteten Wald stand oder Naturgewalten hautnah miterlebte, weiß, wovon ich rede. In der Natur triff t man aller-orts auf Vernichtung, Absterben und Verfall, aber auch auf Wachstum und Leben. Manch-mal fällt es schwer, mit dieser unglaublichen Lebenskraft und Energie umzugehen. Ich

möchte die Natur keinesfalls romantisie-ren, sicher aber spüre ich deren Schönheit – eine Schönheit allerdings, die unterschwellig extreme Gefühle auslöst.“4

Sowohl Maisels als auch Goldsworthys Werke sind so ausdrucksstark, dass sie eine nachhaltige Veränderung unserer Wahrneh-mung der Umwelt bewirken und vermutlich auch unsere Einstellung zur Natur beeinfl us-sen. Interessanterweise behauptet aber kei-ner der beiden Künstler, diesen Eff ekt auf den Betrachter bewusst erzielen zu wollen. „Auch wenn ich dies mit meinen Arbeiten nicht beab-sichtige, richten sie doch das Augenmerk auf die Belange der Umwelt“, sagt Goldsworthy.

„Ich weiß nicht, wie oder warum sie das tun, aber ich bin froh, dass es so ist. Doch wenn diese Wirkung auf den Betrachter zur Inten-tion meiner Arbeit würde, würde das die Bedeutung der Werke als solche mindern.“5

Ebenso schreibt Anne Wilkes Tucker über David Maisel: „Obgleich [er] die Misshand-lung der Umwelt durch den Menschen ver-urteilt, gelten seine vorwiegenden Interessen ästhetischen und philosophischen Aspekten. Bestens vertraut mit den Ideen und Kunst-werken von Robert Smithson, stellt Maisel genau wie dieser den Prozess von Wahrneh-mung und Erkenntnis in Frage.” 6

TERRA INCOGNITA: DER UNBEKANNTE PLANET

Gegenüber: Vulkan Sakura-Jima, Kyushu, JapanAn den Plattenrändern und Rissen der Erdkruste treten die gewaltigen Energiemengen zutage, die im Inneren unseres Planeten schlummern. Die Satel-liten-Radaraufnahme zeigt den relativ jungen Vulkan Sakura-Jima, der auf einer Halbinsel in der Bucht von Kagoshima entstanden ist und seit 1955 ohne Unterbrechung aktiv war.

http://www.davidmaisel.com/fi ne_bl_lake_info.asphttp://www.davidmaisel.com/infopages/inf_his.htmlZitiert in einem Artikel von Oliver Lowenstein; siehe http://www.resurgence.org/resur-gence/issues/lowenstein207.htmLowenstein, s.o.http://www.davidmaisel.com/fi ne_bl_term_info.asp

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In ihrem Buch ‚Skin. Surface, Substance + Design‘ schreibt Ellen Lupton: „Die Haut ist ein vielschichtiges und multifunktio-nales Organ, das unseren gesamten Körper bedeckt, sei sie dick oder dünn, fest oder lose, feucht oder trocken. Dank ihrer ‚Lernfähig-keit’ reagiert die Haut auf Wärme und Kälte, leichte Berührung und Schmerz. Grenzenlos bekleidet sie unsere gesamte äußere Körper-hülle und erstreckt sich bis in unsere inneren Organe. Sie ist sowohl lebendig als auch tot – ein selbstheilendes, selbsterneuerndes Mate-rial, dessen Außenhülle gefühllos und inert ist, dessen innere Schichten aber von Nerven, Drüsen und Kapillaren durchzogen sind.” 7

Flächenmäßig gesehen ist die Haut unser größtes Körperorgan. Sie ist nicht nur ver-antwortlich für unseren Tastsinn, sondern dient auch anderweitig der Kommunikation mit der Umwelt: „Haut kann erröten oder ver-blassen, sich sträuben und schwitzen, blau vor Kälte oder rot vor Ärger und im metapho-rischen Sinne grün vor Neid werden. Die Haut kommuniziert durch Hormonsignale – so genannte Pheromone –, die vermutlich durch spezielle Geruchszellen aufgenommen wer-den.”8 Die Haut schützt den menschlichen Körper gerade deshalb, weil ihre äußeren Schichten aus toten, komprimierten Zellen bestehen, durch Lipide zu einer wasserab-weisenden Oberfl äche zusammengefügt. Die vermutlich faszinierendste Eigenschaft der Haut ist ihre Fähigkeit der Selbstheilung: An Wundstellen bildet sich heilender Schorf, aktive Hautzellen wandern von den Rändern der Wunde zur Mitte und tragen zu deren Heilung bei.

Auf Sonnenlicht reagiert die Haut unter-schiedlich – durch Bräune und durch Rötung –, und diese Zwiespältigkeit refl ektiert die Ein-stellung des Menschen zur Sonne, die seit

jeher von einer Mixtur aus Anbetung und Furcht geprägt war. Die Hautfarbe (also ihr ‚Dunkelungsgrad’) ist abhängig von Stärke und Art der hautimmanenten Melaninpig-mente, die nicht nur genetisch bedingt sind, sondern auch von dem Maß der UV-Strah-lung abhängen, der wir uns aussetzen. Die Anthropologen Nina Jablonski und George Chaplin fanden sogar heraus, dass sich die Hautfarbe von Urvölkern trotz ihrer vorhan-denen genetischen Veranlagung in weni-ger als 1000 Jahren dauerhaft veränderte, wenn sie ihr Siedlungsgebiet in andere Brei-tengrade verlagerten. 9

Melanin bestimmt nicht nur unsere Haut-farbe, sondern hat noch eine zweite Funk-tion: Es schützt die tieferen Hautschichten vor übermäßiger UV-Strahlung, die zu vor-zeitiger Hautalterung führt und die Vita-min-B-Synthese spaltet. Andererseits ist ultraviolettes Licht notwendig für die Pro-duktion von Vitamin D in unserem Körper, das seinerseits dafür sorgt, dass wir Calcium aus unserer Nahrung in unser Verdauungssystem aufnehmen können.

Haut ist aber auch die ‚Leinwand‘, auf die jede Kultur ihren eigenen Begriff von Schönheit und sexueller Attraktivität pro-jiziert. Diese Vorstellungen ändern sich mit der Zeit und variieren auch zwischen ver-schiedenen Gruppen innerhalb einer Gesell-schaft. In den meisten westlichen Kulturen wird eine ‚gesunde’ Sonnenbräune als so attraktiv angesehen, dass hiervon ein ganzer Industriezweig – die Sonnenstudios – lebt. Im mittelalterlichen Europa und China hingegen war gebräunte Haut das Merkmal der Bauern und anderer Arbeiter unter freiem Himmel; der Adel legte daher Wert auf blasse Haut als Indikator für Wohlstand und griff hierfür sogar auf Blei und andere giftige Substanzen

in Kosmetika zurück, „um den erlauchten wei-ßen Teint zu erlangen, der für viele im sech-zehnten Jahrhundert und später entstandene Porträts charakteristisch ist.“ 10

Jugendliche, makellose Haut ist bereits seit der Antike ein gesellschaftliches Schön-heitsideal. Ohne Unterlass wird sie von der Kosmetikindustrie propagiert; in der Werbe-fotografi e werden Falten, Flecken, Härchen und Poren peinlich genau wegretuschiert. Andererseits sind Künstler seit den Zeiten Leonardo da Vincis und Dürers (die als ersten Maler gelten, die ältere Personen auf realis-tische Weise porträtierten) der Faszination darüber erlegen, was mit der Haut geschieht, wenn sie altert, beschädigt oder künstlich verändert wird.

Neuerdings ermöglicht uns die Schön-heitschirurgie sogar, den von Jablonski und Chaplin beschriebenen Adaptionsprozess zu beschleunigen: Innerhalb weniger Jahre kön-nen durch den Einsatz rein künstlicher Mit-tel ‚schwarze’ Menschen zu Weißen werden, wie ein prominenter Vertreter aus der Welt des Pop beweist. Das ‚Tissue Engineering‘, ein Fachgebiet zur „Entwicklung biologischer Ersatzstoff e, die die Gewebefunktion wie-derherstellen, erhalten, verbessern oder gar ganze Organe ersetzen“ 11, ist einer der fl orie-rendsten Bereiche im medizinischen Sektor.

MATERIE UND METAPHER: DIE MENSCHLICHE HAUT

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Gegenüber:Gary Schneider: John In Sixteen Parts, 1995Wie in vielen seiner Porträts dekonstruiert Gary Schnei-der auch hier das menschliche Antlitz. Obwohl keine der Auf-nahmen das Gesicht als Ganzes zeigt, ergänzen sich die Einzel-ansichten im Unterbewusstsein des Betrachters doch zu einem Gesamtbild.

Ellen Lupton (Hrsg.): Skin. Surface, Substance + Design. Smithsonian Institution / Princeton Architectural Press 2002, S. 23Jennifer Tobias in: Ellen Lupton (Hrsg.): Skin. Surface, Substance + Design, p. 44www.bgsu.edu/departments/chem/faculty/leontis/chem447/PDF_fi les/Jablonski_skin_color_2000.pdfhttp://en.wikipedia.org/wiki/Semiotics_of_Ideal_BeautyLanger, R & Vacanti JP, Tissue engineering. Science 260, 920-6; 1993

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Unten:Corpo Nove / Grado Zero Espace / Mauro Taliani: Oricalco, 2001Für dieses Hemd wurde ein Gewebe aus Titanlegierung entwickelt, das bei Tempera-turveränderungen in eine vor-programmierte Form übergeht. Das Hemd kann dadurch so ein-gestellt werden, dass es zum Beispiel bei Wärmeeinfl uss automatisch die Ärmel ‚hoch-krempelt‘.

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Der Einfl uss menschlicher Haut und anderer natürlicher Hüllen auf Technologie, Design und Architektur ist vielfältig; er reicht von ihrer erotischen Anziehungskraft, Flexibilität und Weichheit bis zu ihren Fähigkeiten, sich der Temperatur und Lichteinwirkung anzu-passen. Ellen Lupton schreibt: „Moderne Designer betrachten die Oberfl ächen von Produkten und Gebäuden als ähnlich komplex und multifunktional [wie die Haut]. Künstlich hergestellte ‚Hüllen’ sind hoch reaktionsfä-hige Substanzen, die die Bedeutung, Funktion und Dimension von Objekten modulieren.”12 Bis zu einem gewissen Grad fi nden sogar die selbstheilenden Eigenschaften der Haut Anwendung in der modernen Technik; so kön-nen beispielsweise Autolacke dank ihrer vis-kosen, zähfl üssigen Konsistenz kleine Kratzer ‚ausbügeln’. Anderes Beispiel sind ‚selbsthei-lende‘ Hüllen für pneumatische Strukturen, auf deren Innenfl äche eine dünne Schicht aus Polyurethanschaum aufgetragen wird. Bei Durchbohrung der Membran wird der PU-Schaum durch den Überdruck in der Kam-mer in das Loch gepresst und verschließt die undichte Stelle.

Kleidung und Gebäude werden oft als zweite und dritte ‚ Häute’ des Menschen bezeichnet, die die Aufgabe haben, den menschlichen Körper zu schützen. Im Idealfall sollten sie daher ähnlich anpassbar sein wie unsere Haut. Entsprechende Möglichkeiten bietet die Entwicklung ‚intelligenter’ Materi-alien, die ihre Eigenschaften dem jeweiligen Umfeld anpassen, sobald sie wechselnden Einfl üssen wie Wärme, Licht, Druck, elek-trischen oder magnetischen Feldern aus-gesetzt sind. Italienische Textiltechniker haben einen Stoff aus einer Form-Gedächt-nis-Legierung (Shape Memory Alloy) entwi-ckelt, der dafür sorgt, dass sich Hemdärmel bei einer bestimmten Temperatur automa-tisch hochziehen. In andere Kleidungsstücke werden Peltier-Elemente eingearbeitet, die unter Stromeinwirkung für aktive Kühlung sorgen. Die amerikanische ‚No Contact-Jacke’ hält auf Knopfdruck mögliche Angreifer durch Erzeugung einer elektrischen Span-

nung auf ihrer Oberfl äche ab.13 Kluge Tech-nik hat aber durchaus auch poetische Seiten: Die von dem italienischen Unternehmen Cute Circuit entwickelten ‚F+R Hugs’-T-Shirts werden im Doppelpack geliefert und kom-munizieren mittels Bluetooth-Technologie miteinander. Wird ‚sein‘ oder ‚ihr‘ T-Shirt an einer bestimmten Stelle berührt, sorgen inte-grierte Stromleitungen im Shirt des Partners für eine ähnliche ‚Streichelbewegung’ an ent-sprechender Stelle.

In einem Buch über den Ingenieur Werner Sobek vergleicht Werner Blaser den Bewoh-ner eines traditionellen Hauses mit einem Ein-siedlerkrebs, der seine Behausung immer dann wechselt, wenn sie zu klein oder zu groß wird oder ansonsten unangemessen ist. Blaser fragt dann: „Doch ist es richtig, in dieser ver-änderten und sich stets verändernden Welt ‚konstant’ zu bauen? [...] Die physikalischen Eigenschaften unserer Gebäude sind kon-stant, obwohl die Innen- wie die Außenwelt permanent veränderlich auf sie einwirken.”14 Blasers Buch wurde 1999 veröff entlicht, und die Bautechnik hat seither viele Neue-rungen erlebt. Dennoch ist das von Sobek in den 90er-Jahren entwickelte Konzept einer idealen Gebäudehülle auch heute noch aktu-ell. Anstatt die Hülle eines Gebäudes als mul-tifunktionalen ‚Allrounder’ zu betrachten, plädierte Werner Sobek dafür, sie ähnlich wie die menschliche Haut aus hochspezia-lisierten monofunktionalen ‚Zellen’ zusam-menzusetzen, die jeweils unterschiedliche Aufgaben wie Lichtübertragung, Energie-aufnahme oder Belüftung erfüllen. Abhän-gig von Budget und Verfügbarkeit könnten diese Zellen auf unterschiedlichem tech-nischen Niveau produziert werden, angefan-gen von mechanisch oder elektromechanisch betriebenen Elementen bis hin zu solchen, die auf chemischer oder mikrobiologischer Basis arbeiten. Werner Sobek schreibt: „Adap-tive Systeme und Mechanismen werden in wenigen Jahren ein fester Bestandteil des täglichen Lebens sein. Automatische, selbst-lernende Abstandsregelungen bei Automo-bilen sind bereits heute verfügbar. Adaptive

Herzschrittmacher, die nicht mit einer kon-stanten Frequenz arbeiten, sondern auf äußere physiologische Randbedingungen wie Bewegungen reagieren, sind genauso in der Entwicklung wie aktive Prothesen und Implantate mit sensorischen Funktionen [...] Adaptive Systeme zur Geräuschreduktion und Gläser mit variabler Lichttransmission werden im Bauwesen genauso selbstver-ständlich werden wie die aktive Beeinfl us-sung von Kraftzuständen, Verformungen und Schwingungen, insbesondere bei den Trag-werken des Leichtbaus.”

2004 konstruierten Werner Sobek und sein Assistent Markus Holzbach am ILEK-Institut der Universität Stuttgart den expe-rimentellen Pavillon ‚Paul’, um das Potenzial adaptiver Materialien im Bauwesen zu demonstrieren. ‚Paul’ ist eine kokonartige Leichtbaustruktur, deren Hülle aus mehreren Membranschichten besteht. Diese übertra-gen nicht nur Tageslicht und strahlen künst-liches LED-Licht aus, sondern sorgen auch für eine adäquate Wärmeisolierung durch einen neuartigen, keramischen Werkstoff und spei-chern die Sonnenwärme in einem PCM-Mate-rial. (Bei solchen Speicherstoff en handelt es sich um mikroverkapselte Paraffi ne, die bei Wärmeeinwirkung von festem in fl üssigen Zustand übergehen und somit die Wärme-energie speichern können, ohne ihre Tem-peratur zu verändern.) Pauls Außenhaut ist zwar nur 1,4 Zentimeter dick, ihre thermische Masse entspricht jedoch einer 15 Zentimeter starken Massivwand. Technisch gesehen ist die Konstruktion des Pavillons äußerst sim-pel; die einzelnen Segmente sind nur durch Klettverschlüsse verbunden und können problemlos manuell montiert und demon-tiert werden. 15

KÜNSTLICHE HÜLLEN UND ‚INTELLIGENTE’ MATERIALIEN

Ellen Lupton (Hrsg.): Skin. Surface, Substance + Design, S. 23Axel Ritter: Smart Materials. Birkhäuser Ver-lag 2007, S. 16-19Werner Blaser: Werner Sobek. Ingenieurkunst. Birkhäuser Verlag 1999, S. 50http://www.tec21.ch/pdf/tec21_4120052942.pdf

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Den meisten Architekten dürfte Adolf Loos’ Verachtung für Verzierungen bekannt sein, die er in seinem Essay ‚Ornament und Ver-brechen‘ von 1908 als Zeichen für Degenera-tion und Verderbtheit bewertet. Eines seiner Lieblingsbeispiele sind die auff älligen Täto-wierungen indigener Völker, die nach Loos’ Ansicht nicht denselben Grad an Moral und Zivilisation erreicht haben wie der moderne Mensch. Loos schrieb: „Der moderne Mensch, der sich tätowiert, ist entweder kriminell oder entartet.” Ähnliche Attribute gelten Loos zufolge für jede stark ornamentierte Architektur. 99 Jahre nach Ornament und Verbrechen hat sich diese Einstellung ganz off ensichtlich geändert: „Heutzutage sind Tattoos hip und zieren den Körper etlicher Promis wie Angelina Jolie, Gwyneth Paltrow und Supermodel Linda Evangelista“, schreibt Pernilla Holmes 2001 in einem Bericht über eine Tätowierungsmesse16 und fährt fort:

„Außerdem sind und bleiben Tattoos provo-kanter Ausdruck von Individualität, um sich von der Masse abzuheben.” Gleiches gilt für die moderne Architektur, in die das Orna-ment mit Macht zurückgekehrt ist. Hierfür gibt es vor allem zwei Gründe: Zum einen wurden neue Herstellungsprozesse entwi-ckelt, die eine wirtschaftliche Produktion ornamentierter Flächen in Einzelanferti-gung ermöglichen (ein unbedingtes Muss, wenn Oberfl ächen ein ‚provokanter Aus-druck von Individualität’ sein sollen), zum anderen hat der Trend zum Ornament viel mit den durchlässig gewordenen Grenzen zwischen Architektur und anderen Kunst-gattungen zu tun.

Als Alternative zum Ornament setzte Adolf Loos auf die Ästhetik edler Materialien wie warmem Holz und Naturstein oder auch den Glanz von Metall, der im Laufe der Zeit

von einer edlen Patinaschicht überzogen wird. Eine ähnliche, in vielerlei Hinsicht auch heute noch aktuelle Bewegung entstand in den späten 80er-Jahren, als Architekten begannen, sich von den semantischen Extre-men des Dekonstruktivismus und Postmo-dernismus abzuwenden. Im Gegensatz zu deren Formbesessenheit befasste sich eine neue, vor allem in der Schweiz beheimatete Architektengeneration mit Materialien und deren Beziehung zum Ort eines Gebäudes und dessen spezifi schen Lichtverhältnis-sen. Andreas Ruby hat darauf hingewiesen, dass dieser neue Materialismus, der spä-ter als ‚minimalistisch’ bezeichnet wurde, fest in der kalvinistischen Tradition der Schweiz verankert ist: Er diente nicht der ostentativen Zurschaustellung von Wohl-stand, sondern investierte Arbeit und Geld in das demonstrative ‚Nicht-Zeigen’ von Verzierungen und Details. Interessanter-weise prägt eine entschieden puristische, sinnliche Variante des Minimalismus seit Mitte der Neunziger das kreative Selbst-verständnis vieler Luxus-Modedesigner wie Armani und Prada. Für diese Entwick-lung gibt es zwei Gründe: Erstens bauen die Modehäuser auf Understatement und bevorzugen eine museumsähnliche Atmo-sphäre zur Präsentation ihrer Kreationen; zweitens legte die Modeindustrie (die schon damals zu einer ‚Schönheitsindustrie’ mit Kosmetika und Accessoires mutiert war) eine wahre Besessenheit mit der Reinheit ihrer Oberfl ächen, inklusive der architekto-nischen, an den Tag. In seinem Essay Alaba-sterhaut von 1993 sinnierte Wiel Arets über dieses Verhältnis zwischen Purismus und Realität, wobei er Vergleiche zog zur Dua-lität zwischen architektonischen Ideen und der Realität des gebauten Objekts: „Archi-

tektur könnte als ein Wunsch nach Rein-heit betrachtet werden, als Streben nach Vollendung. Die Hauptfarbe Weiß markiert einen Prozess, in dem das Unentscheidbare respektiert wird; es geht nicht um bedeu-tungsvoll oder bedeutungslos. Das Weiß des frisch gefallenen Schnees im Morgen-licht, das Weiß einer makellosen Haut, das Weiß von Papier, auf dem der Entwurf skizziert wird – Weiß ist überall und kann als Farbe des Ursprungs und des Anfangs betrachtet werden. [...] Architektur ist unbefl eckt. Ihre ganze Logik wagt etwas, das nur von kurzer Dauer ist. Sie erscheint nur, um wieder zu verschwinden. [...] Sie beschenkt uns kurze Zeit mit Frische und Reinheit, aber nur, um diese Eigenschaften gerade dadurch wieder zu verlieren, indem sie uns diese anbietet. Architektur ist des-halb ein Dazwischen, eine Membran, eine Alabaster-Haut, undurchsichtig und durch-sichtig zugleich, bedeutungsvoll und bedeu-tungslos, wirklich und unwirklich. Um sie selbst zu werden, muss Architektur ihre Unschuld verlieren; sie muss eine gewalt-same Verletzung akzeptieren. Sie kann nur Teil der Wirklichkeit werden, indem sie mit ihrer Umgebung eine Verbindung eingeht.“

PURISMUS UND ORNAMENTIK IN DER MENSCHLICHEN ZIVILISATION

Gegenüber:SANAA: Dior Omotesando, Tokio, 2003Mit dem Dior-Flagshipstore schufen SANAA eine Ikone des sinnlichen Minimalismus, mit dem sich viele Mode- und Kosmetik-hersteller seit den 90er-Jahren umgeben. Die milchig schim-mernde Fassade besteht aus einer äußeren, glatten Glashülle und einer inneren Fassadenschicht aus Acryl, die wie die Falten eines Gewandes gewellt wurde.

http://www.artnet.com/magazine/reviews/holmes/holmes7-23-01.asp

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Als die Gebrüder Lumière im Jahr 1895 in Paris einen der ersten Stummfi lme der Welt vorführten – einen in einen Bahnhof einfah-renden Postzug – reagierten die Zuschauer auf diese neue Erfahrung ähnlich wie im wirk-lichen Leben: Sie wichen vor dem scheinbar sich nähernden Zug zurück, manche fl üch-teten sogar aus dem Raum. Heute wäre es schwierig, wenn nicht gar unmöglich, durch einen Film ähnliche Reaktionen beim Publi-kum auszulösen. Ebenso wie mit jedem ande-ren Medium hat der Mensch auch mit dem Medium Film ‚umzugehen‘ gelernt.

Dennoch hat die Erfi ndung beweglicher Bilder die visuelle Wahrnehmung im 20. Jahr-hundert geprägt. Der französische Philosoph Paul Virilio behauptet, dass sich sogar die menschliche Auff assung von Transparenz wandelte17: von der Darstellung dessen, was sich hinter der Oberfl äche verbirgt, zur Dar-stellung dessen, was uns der Filmregisseur und sein Kameramann (oder der Grafi kde-signer) sehen lassen möchten. Ein Fernseh-bild verdeutlicht dies: Jedem Betrachter ist bewusst, dass er nichts als rote, grüne und blaue Lichtpunkte auf einer Glasscheibe sieht. Dennoch rückt dieses Faktum beim Fernsehen in den Hintergrund, ebenso wie die Tatsache, dass wir überhaupt auf einen Bildschirm schauen.

In seinen Büchern ‚Lost Dimension‘ und ‚Die Sehmaschine‘ aus den frühen 90er-Jah-ren beklagt Paul Virilio, dass die Menschheit ihr ursprünglich unmittelbares Sehbewusst-sein verloren habe, mit anderen Worten, dass sich unsere Wahrnehmung der materiellen Objektwirklichkeit zu einer mittelbaren Rea-lität ähnlich wie im Film verschoben habe. Laut Virilio gibt es kein ‚Sehen’ mehr, sondern nur noch ein ‚Wieder-Sehen’: Wir nehmen nur das wahr, was das ‚Auge’ der Kamera zuvor

gesehen oder was der Animationskünstler entworfen hat. Bei modernen ‚Sehmaschi-nen’ wurde der natürliche Lichtfl uss durch Elektrodenstrahlen ersetzt, und in der Com-putergrafi k wird sogar die Sichtrichtung umgekehrt: Durch Raytracing erzeugte Bil-der basieren nicht auf den von Lichtquellen ausgesandten Strahlen, sondern vielmehr auf (virtuellen) Sehstrahlen’, die vom Auge aus-gehen und durch unterschiedliche Oberfl ä-chen refl ektiert, gebrochen oder absorbiert werden. Bereits vor mehr als zweitausend Jahren versuchte Aristoteles, das mensch-liche Sehvermögen mit einem ähnlichen (spä-ter aber verworfenen) Modell zu erklären, demgemäß das Auge winzige Lichtstrahlen ausstoße, die unsere Umgebung erhellen und diese somit für uns sichtbar machen.

In modernen Städten hat unser Auge heut-zutage kaum mehr Gelegenheit zum kontem-plativen Sehen. Stattdessen wird es ständig und überall von wechselnden Bildern, grel-len Farben und schnellen Bewegungen gefan-gen genommen. Symptome dieses Wettlaufs um Aufmerksamkeit sind die Entwicklung der Medienfassade und die infl ationäre Verbrei-tung von Bildschirmen aller Art in unserer gebauten Umwelt. Gemäß dem Prinzip ‚viel Bild, wenig Worte, großer Eff ekt‘18 appellie-ren solche Flächen an unseren angeborenen Orientierungsrefl ex – eine Art Überlebens-mechanismus, der unsere Aufmerksamkeit sofort auf jedes große, auff ällige und beweg-liche Objekt in unserem Umfeld lenkt. Videole-inwände und Medienfassaden sind die bislang letzte Stufe in der zunehmenden Entfrem-dung von Gebäudeoberfl ächen und -inhalten, die in den letzten Jahren zu beobachten war. Dynamische Lichteff ekte und bewegte Bilder haben unseren Gebäuden eine neue Bedeu-tungsebene verliehen und den Architekten

und Gebäudebetreibern neue Mittel an die Hand gegeben, um Atmosphären zu schaff en und einen sinnvollen Dialog mit dem Nutzer zu etablieren – aber auch, um den bereits all-gegenwärtigen ‚Informationsüberfl uss’ noch zu steigern.

Lars Spuybroeks illuminierter ‚D-Tower’ in der niederländischen Stadt Doetinchem, dessen Farbe entsprechend den Stimmungen und Emotionen der Stadtbewohner wechselt (die ihrerseits per Website ermittelt werden), ist nur ein Beispiel für einen bewusst spie-lerischen Dialog zwischen Gebäuden und öff entlichem Leben. Im Gegensatz zu her-kömmlichen Medienfassaden senden dieser Turm und ähnliche Installationen keine vor-gefertigten ‚Botschaften‘ an ein anonymes Publikum; vielmehr ist (zumindest potenzi-ell) jeder Betrachter zugleich ein Absender. Letztlich sind diese Installationen Experi-mentieranordnungen, mit denen erforscht werden kann, wie neue Kommunikations-wege in der Öff entlichkeit aufgenommen werden. In den meisten Fällen ist die Wahr-nehmung eines neuartigen Mediums nämlich nur so lange besonders attraktiv, wie es neu ist. Langfristig werden die inhaltliche Quali-tät, die Gestaltung sowie das Potenzial eines bestimmten Mediums, unsere Lebensqua-lität zu steigern, entscheidend. Inhaltliche Qualität hat hierbei wenig mit ‚Hoch’- oder ‚Populär’-Kultur zu tun: Sie muss vor allem vereinbar sein mit den Erwartungen des Anwenders und den Möglichkeiten, die das Medium bietet.

SEHEN UND ERKENNEN: EINIGE REFLEKTIONEN ÜBER PROJEKTIONEN

Gegenüber:NOX / Q.S. Serafi jn: D-tower, Doetinchem, 2004Diese Großskulptur ändert ihre Farbe entsprechend den Emo-tionen der Einwohner, die über eine Internet-Umfrage erfasst werden. Sein Entwerfer Lars Spuybroek bezeichnet den Turm als „Umkehr des Wegs zur Abstraktion“: ein konkretes Objekt, das eine kaum zu grei-fende öff entliche Sphäre reprä-sentiert.

Paul Virilio: Sehen, ohne zu sehen. Benteli Verlag Bern 1991Wolfgang Lanzenberger: Medien zwischen-Himmel und Erde; see http://regisseur.wolfgang-lanzenberger.de/fi lmografi e/pub_mediafassade.html

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Die bislang angeführten Beispiele lehren uns zweierlei: Erstens lassen sich von Oberfl ä-chen nicht mehr zwangsläufi g Rückschlüsse auf die darunter liegenden Strukturen oder die physikalischen Eigenschaften eines Objekts ziehen. Aus der Ferne betrach-tet kann selbst Umweltverschmutzung ästhetisch wirken, schwarze Haut kann in weiße verwandelt werden, hart ausseh-ende Gegenstände erweisen sich als weich, und augenscheinlich solides Mauerwerk ist in Wirklichkeit nur eine wenige Zenti-meter dünne Verkleidung. Zweitens haben uns Wissenschaft und Technik in die Lage versetzt, die Erdoberfl äche radikal zu ver-ändern und nach unseren Vorstellungen zu gestalten, anstatt umgekehrt unsere Vor-stellungen – ähnlich wie es die Zeitgenos-sen Galileis noch mussten – an scheinbar unverrückbare Realitäten anzupassen. Die Verantwortung, die dies mit sich bringt, ist off ensichtlich. Nur ein kritisches Bewusst-sein erlaubt uns, wirkliche Innovationen von kosmetischen Veränderungen zu unterschei-den und diese Neuerungen auch sinnvoll ein-zusetzen. Falsche Mythen und Trugbilder sind in unserer Welt (auch in der Architek-tur) allgegenwärtig. Schon Hans Christian Andersen erkannte dies, als er ‚Des Kaisers neue Kleider‘ schrieb. Der Schlüsselinhalt dieser Geschichte ist nicht die Tatsache, dass zwei Betrüger verkünden, dem Kaiser die schönsten und feinsten Kleider weben zu können, sondern dass sie behaupten, diese seien nur für denjenigen sichtbar, der hier-für intelligent genug sei. Am Ende spricht ein Kind, dem derlei Eitelkeit gewiss fremd sein muss, die Wahrheit aus: „Aber der Kai-ser hat ja gar nichts an!“

Es ist gelegentlich hilfreich, sich mit der-selben kindlichen Skepsis eine Reihe simp-

ler Frage zu stellen: Wie viel Energie wollen wir darauf verwenden, unsere (ersten, zwei-ten und dritten) ‚Häute’ attraktiv und anpas-sungsfähig zu machen, wenn die gleiche Wirkung womöglich mit viel einfacheren Mitteln zu erreichen ist? Wem nutzen gut gestaltete Autos und Fassaden, wenn die darunter liegende Maschinerie zu viele oder die falschen Ressourcen verbraucht? Und was geschieht mit diesen ‚Häuten‘, wenn sie einmal abgeworfen sind? Enden sie auf Schutthalden oder werden sie einem Recy-cling- und Wiederverwertungssystem zuge-führt, in dem nichts verloren geht?

Auf diese Fragen werden wir in unserer hochkomplexen Welt meist keine eindeu-tigen Antworten bekommen. Die Fragen können uns aber dabei unterstützen, Neues ebenso wie scheinbar Selbstverständliches auf Herz und Nieren zu prüfen. Der amerika-nische Architekt James Wines schrieb an der Schwelle zum neuen Jahrtausend: „Das einundzwanzigste Jahrhundert als ökolo-gisches Zeitalter ist eine Zeit des Übergangs. Für das Selbstverständnis einiger Archi-tekten mag dies wie eine Plage erscheinen, die ihre gefestigten Vorstellungen, stili-stischen Präferenzen und gewohnheits-mäßigen Arbeitsmethoden ins Wanken bringt. Für andere hat es sich als Gelegen-heit zur Entwicklung neuer revolutionärer und ressourcenschonender Technologien erwiesen. Wieder andere, zum Nachdenken fähige Architekten sehen hierin die Chance, ein tieferes Bewusstsein für den Zustand unserer Erde zu erlangen und die Grundprin-zipien der Architektur durch Einbindung von Kunst, Philosophie, Technologie und natür-lichen Systemen zu überdenken. Diese dritte, vermutlich einfl ussreichste Gruppe hat aber immer wieder mit immensen Herausforde-

rungen zu kämpfen, die ein ständiges Abwä-gen und Infragestellen erfordern. Sie vertritt letztendlich vielleicht Konzepte, die dem herkömmlichen Verständnis von Religion, Wirtschaft und Politik zuwiderlaufen und viele Aspekte der Baukunst in Frage stellen, die sich seit dem Aufkommen der industri-ellen Revolution bewährt haben.”19

Die Chancen, die dies mit sich bringt, lie-gen auf der Hand. Doch James Wines erkennt auch die Fallstricke der ‚schönen grünen Welt’:

„… die Attribute ‚grün’ und ‚nachhaltig’ wer-den mittlerweile so übergreifend und allge-mein angewandt, dass sie ungeachtet ihrer einstigen Aussagekraft und Legitimität [...] im Sinne der Schriftstellerin Cathy Ho nur noch als ‚green washing’ oder ‚Grünfärberei‘ zu verstehen sind. Off enbar macht sich jeder ein grünes Mantra zu eigen, um sein soziales Bewusstsein und seine politische Korrekt-heit zu beweisen. […] Das ‚Grünsein’ wurde zum neuen Gütesiegel jedes guten Haus-halts – angefangen von Baustoff en bis hin zu Müsli, Toilettenpapier und Kondomverpa-ckungen.“20 James Wines’ Aufruf zu neuer Skepsis in der Umweltfrage mag ketzerisch klingen, triff t aber den Kern der Dinge. Nur die fortwährende kritische Beurteilung des-sen, was sich unter der ‚Haut’ unserer mate-riellen Welt abspielt, wird uns in die Lage versetzen, unsere Zukunft selbst in die Hand zu nehmen.

VERFÜGBARKEIT UND VERANTWORTUNG

James Wines: Green Architecture. Taschen Verlag, 2000James Wines in: [ark] 1-2007, März 2007

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INTERVIEWS

Roberto Casati

A.S. Raghavendra

Nina Jablonski

David Maisel

Gary Schneider

Ellen Lupton

Michael Bleyenberg

Steven Scott

Ulrike Brandi

Kengo Kuma

Dietmar Eberle

Aziz + Cucher

TheaBjerg

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Herr Casati, was haben die Kultur, in der Sie auf-gewachsen sind, und Ihre Ausbildung Ihnen über Licht vermittelt?

Welche Eigenschaften des Lichts haben Sie selbst entdeckt, die Sie faszinieren?

In Italien, wo ich geboren und aufgewachsen bin, müssen sich die Menschen oft eher vor dem Licht schützen, als es zu suchen. Meistens sind die in dicke Hausmauern eingelassenen Fenster recht klein, und fast immer sind sie mit Rollläden oder Vorhängen versehen. Hier wird das Licht weniger als Ressource, sondern vielmehr als Problem betrachtet. In den Ländern nördlich der Alpen gilt das Gegenteil. In Paris wohne ich in einem Gebäude, dessen Wahrzeichen Licht und Helligkeit sind: Le gratte ciel n° 1, der erste von Edouard Albert in Frankreich errichtete Wolkenkratzer, zeichnet sich durch große Glasfronten, leichte Mauerstrukturen und nach außen aufgehende Fenster aus. Trotzdem wohne ich – was einerseits widersprüchlich erscheinen mag, andererseits sei-nen Ursprung in meinem cis- und transalpinen ‚Doppelleben‘ hat – unten im zweiten Stock nach Nordwesten, und einer meiner Wohnräume hat überhaupt kein Fenster (da der Wolkenkratzer in der Talmulde der Bièvre liegt, sind die rückwärtigen Untergeschosse fensterlos).

Diese nicht nur geografi sche, sondern auch kulturelle Wasserscheide spiegelt sich meines Erachtens auch in der Umweltpolitik und unterschied-lichen Bauplanung im Norden und Süden Europas wider. Zu einem der interes-santesten Forschungsprojekte der Zukunft gehört für Architekten sicherlich die Aufwertung des Lichts in südlichen Breiten zum Zweck seiner künstle-rischen und ökonomischen Nutzung – kurz gesagt, das Licht als Ressource und nicht als Problem anzusehen.

Ein wichtiger Aspekt meiner Forschung sind die informativen Eigenschaften des Lichts. Im Gegensatz zu bestimmten Grundmerkmalen, die sich aus der Interaktion zwischen Licht und Materie ergeben, handelt es sich hierbei um höherrangige Eigenschaften. Sie sind vom Vorhandensein diverser Objekte in der Umgebung sowie davon abhängig, wie diese das Licht refl ektieren und da-durch unterschiedliche, facettenreiche Muster schaff en. Bei meiner jüngsten Studie spielt der Schatten innerhalb dieser informativen Strukturen eine wich-tige Rolle. Die Kontraste zwischen Licht und Schatten sind eine sehr einfache Art der Information (on/off ) und ermöglichen uns die visuelle Wahrnehmung eines dreidimensionalen Raums und der Anordnung der darin befi ndlichen Objekte.

Zur Rekonstruktion der wahrgenommenen Welt nutzt unser Sehvermö-gen in erster Linie die Informationen, die an den Grenzen zwischen einzelnen Oberfl ächen zu Tage treten. Dies hat einen entscheidenden Vorteil: Da sich das Licht in einer Umgebung niemals völlig gleichmäßig verteilt, sondern fast immer graduell abgestuft ist, würden wir, wenn sich unsere Sehkraft auf das Licht fernab der Flächengrenzen konzentrierte, Informationen erhalten, die weniger die Oberfl ächen, sondern vor allem das Umgebungslicht beträfen. Ein Beispiel: Die Mitte eines weißen Papiers in größerer Entfernung von einer Lichtquelle könnte weniger Licht refl ektieren als die Mitte eines schwarzen Papiers in Lichtnähe. An der Grenze zwischen dem weißen und dem schwar-zen Papier hingegen verteilt sich das Umgebungslicht recht gleichmäßig und erlaubt einen zuverlässigen (nicht absoluten, sondern relativen) Vergleich zwi-schen den Flächen.

In der Darstellung von Adelson (gegenüber) refl ektieren die Felder a und b exakt die gleiche Lichtmenge. Unser Sehsystem aber ist in der Lage, die Intensi-tät des vom Zylinder geworfenen Schattens mit einzuberechnen und die Farbe der Felder a und b dem Rest des Schachbrettmusters anzugleichen.

Roberto Casati, Forschungsleiter des Staatlichen Instituts für For-schung und Entwicklung (CNRS) in Paris, lehrt an der Universität IUAV in Venedig. 1985 schloss er sein Di-plomstudium der Sprachphilosophie an der Universität Mailand ab, zu-sammen mit Andrea Bonomi, unter dessen Leitung er 1991 im Fachbe-reich Philosophieforschung promo-vierte. Im selben Jahr erhielt er an der

Universität Genf ein Forschungsdok-torat; hier arbeitete er mit Kevin Mul-ligan zusammen und beschäftigte sich mit Farb- und Lautlehre. Sein Buch ‚Die Entdeckung des Schattens‘ wurde in sieben Sprachen übersetzt und mit diversen Literaturpreisen ausgezeichnet (Premio Fiesole, Pre-mio Castiglioncello und Prix de La Science Se Livre). www.shadowes.org

Roberto Casati

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Schatten komplizieren unsere Wahrnehmung, da unser Sichtfeld lernen muss, zwischen einer lichtbedingten Grenze (eines Schattens) und einer lichtunab-hängigen Grenze (zwischen einem weißen und einem schwarzen Papier) zu unterscheiden. Wäre dies nicht möglich, würden wir Schatten als permanente Objekteigenschaften wahrnehmen. Seltener Gegenbeweis ergibt sich, wenn die Lichtgrenze mit einer lichtunabhängigen Grenzlinie übereinstimmt. In die-sem Falle ist unser Wahrnehmungssystem gestört. Daher riet Leonardo ande-ren Malern davon ab, eine Linie um Schatten zu ziehen.

Die Erforschung von Wahrnehmungsillusionen (wie oben von Adelson demons-triert) ist wichtiger Bestandteil der Studien psychologischer Wahrnehmung. Eine Rangfolge der Sinne kann man meines Erachtens nicht festlegen. Zwar haben Philosophen lange Zeit die Meinung vertreten, dass der Tastsinn der si-cherste Sinn sei, aber ebenso wie visuelle Illusionen gibt es auch solche taktiler Art. Neuerdings wird auch die Klassifi zierung der Sinne in Zweifel gezogen. Für die exakte Defi nition eines ‚Sinnes‘ gibt es keine stabilen Kriterien. Wir wissen nicht, ob Fledermäuse ‚die Formen fühlen‘ oder ‚mit den Ohren sehen‘. Die Unter-scheidung zwischen den Sinnen basiert auf unserem Menschenverstand, kann aber sicherlich keine wissenschaftlich fundierte Diff erenzierung sein.

Heutige Erkenntnisse zum Objektbegriff verdanken wir vor allem der Psy-chologin Elizabeth Spelke in Harvard, die eine einfallsreiche Methodik entwi-ckelte, um zu verstehen, wie Kinder die materielle Welt sehen und wahrnehmen (und altersbedingt nicht verbalisieren können). Mit bestimmten Situationen konfrontiert, zeigen sich Kinder überrascht, und diese Überraschung wird als Indiz dafür interpretiert, dass jedes Kind präzise Erwartungen hegt. Die Wahrnehmung von Schatten stellt einen interessanten Fall dar, da Schatten (zum Beispiel im Gegensatz zu Träumen) physische Wirklichkeit besitzen, nichtsdestotrotz aber immateriell sind (sie bestehen aus ‚nichts‘). Warum es trotz gewisser Wahrnehmungssensibilität keine angeborene Vorstellung eines Schattens gibt, liegt eventuell daran, dass die Menge angeborener Vor-stellungen recht beschränkt ist und die Auff assung von Schatten in gewisser Weise von der Objektvorstellung abgeleitet wird. Tatsächlich behandeln Klein-kinder (unter zwölf Monaten) Schatten wie Objekte und können diese nicht als Projektionen oder lichttechnische Phänomene erkennen. Im Gegensatz zu Erwachsenen sind sie beispielsweise überrascht, dass sich ein Schatten be-wegt, wenn das schattenwerfende Objekt verschoben wird.

Die meisten Mythen sind fest in Bildern und Symbolen des allgemeinen mensch-lichen Denkens verankert. Daher wird ihnen, mögen sie auch vorübergehender Natur sein und von Kultur zu Kultur leicht abweichen, stets große Bedeutung beigemessen. Schatten sind häufi g metaphorische Quelle für die Mythen in Bezug auf die Seele: Ähnlich der Seele ist der Schatten körperabhängig (wenn-gleich nicht absolut, denn schließlich können wir uns selbst nicht von unserem Schatten lösen), er ist immateriell und gleicht der Person, die ihn erzeugt, und so weiter und so fort. Solange dies unsere Fantasie anregt, wird es immer möglich sein, Mythen um die Schatten zu schaff en oder solche aus anderen Kulturen zu übernehmen.

Sie haben einen großen Teil Ihrer Forschung den Fehleinschätzungen und Täuschungen gewidmet, denen unsere Sinne unterliegen. Sind nach Ihrer Er-fahrung einige Sinne leichter zu täuschen als an-dere?

In Ihrem Buch ‚Die Entdeckung des Schattens’ be-richten Sie von der Hypothese, dass Kinder eine angeborene Vorstellung davon haben, was ein Ob-jekt ist, aber nicht davon, was ein Schatten oder eine Projektion sind. Was, so glauben Sie, sind die Gründe für diesen Unterschied?

Der Mensch hat lange gebraucht, um die Eigenart von Schatten zu verstehen, und lange Zeit waren Schatten mit Mythen und Glaubensinhalten ver-bunden. Was bleibt heute noch von diesen My-then?

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Herr Maisel, was haben Sie die Kultur, in der Sie aufgewachsen sind, und Ihre Ausbildung über die Erde und ihre Oberfl ächen gelehrt?

Was hat Sie Ihre eigene Erfahrung über die Erd-oberfl äche gelehrt? Haben Sie neue Erkenntnisse über die Erde gewonnen – vielleicht etwas ent-deckt, was Sie zuvor noch nicht kannten oder ge-sehen haben?

Als Student an der Princeton University begleitete ich 1983 meinen Professor für Fotografi e Emmet Gowin auf einer Fotoexpedition zum Vulkan Mount Saint Helens. Die Eruption des St. Helens war der schlimmste und verheerendste Vul-kanausbruch in der Geschichte der Vereinigten Staaten, der, gemessen an der Atombombendetonation über Hiroshima, eine 27.000fache Energie freisetzte. Ich war nicht nur von der natürlichen Zerstörungskraft des Vulkans fasziniert, sondern auch verblüff t angesichts der gewaltigen kataklystischen Energie, wel-che die Holzfällerindustrie beim Kahlschlag dieses Gebiets an den Tag legte. Als Kind der Ostküste, aufgewachsen in einem Vorort New Yorks, empfand ich die Zerstörung biblischen Ausmaßes durch den Menschen – vor allem aus der Luft betrachtet - ebenso beeindruckend wie beängstigend. Dieses apokalyptische Empfi nden war richtungsweisend für meine zukünftige Arbeit.

Seither habe ich mich einem fortlaufenden Projekt von Luftaufnahmen zerrütteter Landschaften gewidmet. Ich gab dieser Bilderserie den Titel Black Maps. Ihr Hauptgegenstand ist das verheerende Wirken des Menschen in der Landschaft, das Kultur und Natur in einem schwindelerregenden Verfall mit ungewissem Ausgang miteinander verschmelzen lässt. Aus der Luftperspek-tive betrachtet, muten die zerstörten Gebiete, in denen die natürliche Ordnung durch den Eingriff des Menschen auf den Kopf gestellt wird, ebenso schön wie erschreckend an. Mit meinen Bildern möchte ich dies weder verdammen noch glorifi zieren, sondern vielmehr unser Augenmerk auf die Bedeutung der Land-schaft bzw. der Landschaftsdarstellung in unserem postnatürlichen Zeital-ter richten.

Die Erforschung umweltbelasteter Gebiete veranlasste mich, das ‚Mining Pro-ject‘ zu starten, meine Luftaufnahmenserie von Tagebaugruben, die in den USA überall zu fi nden sind. Die Betrachtung der Gruben aus der Luft eröff nete mir eine neue Sichtweise, die meine Faszination von der Zerstörung der Land-schaft noch verstärkte, sowohl im Sinne formaler Schönheit als auch unter um-weltpolitischen Aspekten. Erst aus der Luft wurde ich der Verunstaltung und Transformation der Erdoberfl äche gewahr. Ich begann, solche unnatürlichen Landschaften wie Tagebaugebiete, Cyanid-Laugereifelder und Absetzanla-gen als Kontemplationsgärten unserer heutigen Zeit anzusehen; für mich ver-mitteln sie ein Gefühl unterirdischer Traumwelten, die nur darauf warten, ans Tageslicht zu treten. Fortan betrachtete ich meine Bilder nicht nur als simple Dokumentationen zerstörter Gebiete, sondern vielmehr als poetische Inter-pretationen und Refl exionen des menschlichen Geistes, dessen Wirken sich hier deutlich abzeichnet.

Die Luftfotografi e als solche interessiert mich weniger im methodischen Sinne als vielmehr als Möglichkeit, etwas zu sehen, was ansonsten unsichtbar und unvorstellbar ist, und Weg, Zeit und Raum miteinander zu verbinden. Als Fotograf aus der Luft befi nde ich mich nie zweimal an exakt demselben Ort – kein Bild kann also wiederholt werden. Ebenso verändern sich die Lichtverhält-nisse ständig: Beim Rundfl ug über eine Landschaft wechselt meine Position je nach Sonnenstand. Somit variieren auch Farben und Formen von Aufnahme zu Aufnahme. In einer solchen Situation wird dem Fotografen erhöhte Aufmerk-samkeit abverlangt: Die Erscheinungen wie Formen, Farben und Strukturen sind ständig ‚im Fluss‘, und er muss spontan darauf reagieren. Das Erleben eines solchen Stroms von Bildern und möglichen Einstellungen ähnelt dem mensch-lichen Bewusstseinsstrom. Durch die Fotografi e aus der Luft wird die Bewe-gung zergliedert und neu gestaltet.

David Maisel, 1961 in New York City geboren, graduierte als BA an der Princeton University und als MFA am California College of the Arts und studierte zudem an der Graduate School of Design der Harvard Uni-versity. Maisels Werke sind Teil der Daueraustellungen im Metropoli-tan Museum of Art, im Los Angeles County Museum of Art, im Brooklyn

Museum of Art und in anderen Mu-seen. Seine Monographie ‚The Lake Project‘ (Nazraeli Press, 2004), wurde 2004 von dem Kritiker Vince Aletti in die Top 25 der Fotobände gewählt. Seine zweite Monographie ‚Oblivion‘ wurde 2006 von Nazraeli Press veröff entlicht.www.davidmaisel.com

David Maisel

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In unserem Zeitalter erfuhr die Bildtechnik viele radikale Veränderungen. Die Mondbilder und die Aufnahmen der NASA von der Mars-Oberfl äche, einst spek-takulär und mysteriös, sind mittlerweile auf jeden Heimcomputer herunterzu-laden. In Nullkommanichts lassen sich Satellitenaufnahmen unseres Planeten auf jeden Bildschirm projizieren, angefangen von Bildern des Irak-Kriegs bis hin zu Aufnahmen unseres eigenen Hauses per Google Earth. Luftbilder sind zum Bestandteil unserer visuellen Kommunikation geworden. Satellitenbilder und Luftaufnahmen sind Beispiele für fotografi sche Kartierung und Oberfl ä-chendarstellung, können aber gleichzeitig zur selektiven Überwachung genutzt werden. Für mich waren Satellitenbilder und topographische Karten stets eine Quelle der Inspiration, wenngleich die Kartendarstellung notwendigerweise immer vom kartierten Gegenstand abweicht: Sie ist eine parallele Realität. Der Fotograf Garry Winogrand sagte einmal: „Die Fotografi e ist nicht das fo-tografi erte Objekt – vielmehr ein anderes, neues Faktum.“ Die Fotografi e er-fasst nicht die Realität, sondern das Wesen – sie wird zum Schöpfungsmythos und Versuch, der Welt Sinn abzugewinnen.

Themen wie Verführung und Täuschung haben mein Denken und meine Arbei-ten nachhaltig beeinfl usst, vor allem beim Lake Project. Alltäglich sehen wir uns mit neuen und verlockenden Konsumangeboten konfrontiert – sei es der jahrelang begehrte Neuwagen, der iPod oder der Flachbildschirm. Meiner Mei-nung nach lassen wir uns von diesen Wünschen und begehrten Objekten trügen, da sie uns nicht wirklich befriedigen, sondern unser Verlangen nur noch weiter schüren. So betrügen wir schließlich auch die Natur, indem wir sie ausbeuten und ausnutzen – in dem vergeblichen Bemühen, unser maßloses und unstillbares Verlangen zu erfüllen. Dieser Prozess spiegelt sich in meinen Bildern wider: Sie sind eindrucksvoll und anregend, von fesselnder Schönheit. Dringt man jedoch unter die augenscheinliche Schönheit der Bilder, erkennt man den Bildgegen-stand als einen vergifteten, gewissermaßen aufgegebenen Ort der Verwüstung, so dass auch hier eine Art Betrug vorliegt. Wir als Gesellschaft aber sind Kom-plizen bei der Umweltzerstörung – die Verlockung führt zum Betrug.

Auch hier werden also Verlockung und Trug miteinander verfl ochten: Der Betrachter lässt sich möglicherweise von den Farben und Formen der Bilder verführen, fühlt sich dann aber auf eine gewisse Weise betrogen, sobald der Bildgegenstand deutlich wird. Wir fordern der Umwelt ständig Tribute ab; die Parallelen zu der Art und Weise, wie wir uns von der Konsumgier verführen und schließlich betrügen lassen, sind off ensichtlich. Ja, ich will einen Gelän-dewagen, einen Flachbildschirm, und … hoppla! Weg ist die Ozonschicht, das stelle man sich mal vor!

Ein wenig zum Hintergrund: Owens Lake, Gegenstand des Lake Project, ist ein Gebiet an der Ostseite der Sierra Mountains, an dem sich einst ein See über 150 Quadratmeilen erstreckte. 1913 wurde der Owens River zum Aquädukt im Owens Valley umgeleitet, um die fl orierende Wüstenstadt Los Angeles mit Wasser zu versorgen. 1926 war der See vollkommen trockengelegt und hin-terließ riesige Ablagerungen von Mineralien und Salzschichten. Nach der Aus-trocknung des Sees wirbelten starke Winde im Tal mikroskopische Partikel aus dem trockenen Seebett auf und formierten sich zu Stürmen aus krebser-regendem Staub. Das Seebett entwickelte sich zum größten Verursacher von Feinstaubverschmutzung in den USA – hier werden jährlich 300.000 Tonnen Arsen, Kadmium, Chrom, Chlorgas, Schwefel und andere Materialien ausge-stoßen. Die Mineralkonzentration in dem kläglichen Wasserrestbestand des Owens Lake ist so unnatürlich hoch, dass hier überall Bakterien und andere Or-ganismen gedeihen, die das verbleibende Wasser tief blutrot färben.

Während meiner Arbeit an diesem Projekt im Jahr 2001 ergriff en das Um-weltamt und die Behörde für Wasser- und Stromversorgung der Stadt Los An-geles auf Grund eines neuen Gesetzes neue Maßnahmen, um das Gebiet erneut umzustrukturieren. Zur Vermeidung toxischer Staubstürme wurde ein Großteil des Seebetts in eine riesige Flutungszone umgewandelt, die sich wie die versun-kene Stadt Atlantis aus dem Seebett erhebt. Nach der Fertigstellung meines Luftprojekts besichtigte ich die Oberfl äche des Seebetts auch aus der Erdper-spektive und besuchte das Kontrollzentrum, in dem der Salzgehalt und die rela-tive Feuchtigkeit in der Be- und Entwässerungsanlage überprüft und gemessen werden, die sich kreuz und quer über 60.000 Meilen durch die Flutungszone zieht. Auf den Computerbildschirmen traten die bekannten Formen der Flu-tungszone zu Tage, aufgenommen durch Luftfotografi e und Satellitenbilder.

Meine Aufnahmen haben eine Vermittlungsfunktion. So richten die Foto-grafi en im ‚Lake Project‘ das Augenmerk zwar auf einen speziellen Ort – den Owens Lake -, sind aber ebenso mehrdeutig als neue geografi sche Psycho-

Ihre Fotografi en in den ‚Black Maps‘ und dem ‚Lake Project‘ off enbaren eine verstörende, trügerische Ästhetik. Was auf den ersten Blick anmutend ist, erweist sich bei genauerer Betrachtung als grauen-voll und gefährlich. Sehen Sie hier Analogien zu un-serem täglichen Leben und Konsumverhalten?

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Wie reagieren wir Menschen Ihrer Erfahrung nach auf Zerstörung und Verschmutzung der Umwelt? Nehmen die meisten von uns den Blickwinkel des Luftfotografen ein, um sich von diesem ‚wunden Punkt‘ zu distanzieren und aus der Ferne nur das Positive wahrzunehmen?

gramme zu interpretieren, als ursprüngliche Szenarien von Gewalt und Zer-störung, die sich in diesen Orten der Verwüstung off enbaren. Es liegt mir fern, den Bildern eine bestimmte Bedeutung zuzuschreiben; sie sind vielmehr als Metaphern für den entropischen Verfall von Raum und Zeit in der postmoder-nen Kultur zu verstehen.

Bei der Bilderserie ‚Terminal Mirage‘ ließ ich mich durch Robert Smithsons Schriften über den Great Salt Lake inspirieren und konzentrierte mich auf die rasterförmig angelegten Gebiete rund um den See – riesige Verdunstungsbe-cken inmitten des Militärgebiets des Tooele-Waff enlagers, wo abgelaufene chemische Waff en gelagert und verbrannt werden. Diese Aufnahmen sind nicht maßstabsbezogen, die fotografi erten ‚Fakten‘ sind vielmehr eine Reihe verwirrender Wendungen. Terminal Mirage beschäftigt sich ebenfalls mit den Grenzen rationaler Kartographie. Die rasterförmig angelegten Verdunstungs-becken off enbaren eine Art transgressiver Architektur, ein endloses Labyrinth über der Oberfl äche des Sees und an dessen Ufern. Seinen Namen verdankt das Projekt Terminal Mirage der Tatsache, dass der Great Salt Lake wirklich ein abgeschlossener See ohne natürliche Zu- und Abfl üsse ist. Dieser klaustro-phobische, ausweglose, existenzialistische Aspekt weckte meine Neugier. Mit dem Wort ‚mirage‘ soll zum Einen der nachhaltig halluzinatorische Charakter der Ausdehnung des Great Salt Lake beschrieben werden – das beständige Licht, das auf ihn strahlt und von seiner Oberfl äche refl ektiert wird -, zum An-deren soll betont werden, wie diese Bilderserie unsere Sichtweise und Wahr-nehmung grundsätzlich in Frage stellt.

Konfrontiert mit der Zerstörung unserer Erde durch unser eigenes Wirken, die Zivilisation und den industriellen Fortschritt, fühlen sich die meisten Menschen beim Betrachten meiner Bilder verwirrt, entsetzt und alarmiert. Ob sie meine Bilder als Aufruf zum Handeln verstehen, weiß ich nicht. Ich bin mir auch nicht sicher, ob meine Bilder eine derart direkte Wirkung zeigen sollen. Meine Moti-vation ist, Orte zu entdecken, die anderenfalls unbekannt oder unbeachtet blie-ben– seien es Kahlschlaggebiete, Tagebaue, Cyanid-Laugereifelder oder andere. Meine Aufnahmen sollen innere psychische Landschaften refl ektieren, sind aber gleichermaßen als Dokumentationen spezieller Gebiete anzusehen. Ich selbst verstehe mich in erster Linie als visuellen Künstler, im Gegensatz vielleicht zu Fotojournalisten und Dokumentarfi lmern. Mein Hauptinteresse gilt der Auf-nahme von Bildern, die in visuellem Sinne unter die Haut gehen und eine ge-wisse poetische oder metaphorische Wirkung erzielen.

Kunst kann durchaus politische Züge haben, und auch ich verfolge mit mei-nen Bildern eine politische Botschaft (ich glaube nicht, dass irgendjemand jahr-zehntelang Fotoaufnahmen von mehr oder minder zerstörten Naturgebieten machen kann, ohne hierbei ein politisches Bewusstsein zu entwickeln!). Trotz-dem möchte ich mit meinen Werken niemanden anklagen oder verurteilen – ich denke, diese Aufgabe haben wir gemeinsam als Gesellschaft zu erfüllen. So ein-fach liegen die Dinge nicht, als dass man mit erhobenem Zeigefi nger auf dieses oder jenes Industrieunternehmen zeigen könnte. Meine Arbeiten sind keines-falls dokumentarisch, dazu fehlt ihnen die nötige Objektivität. Sie haben theore-tischen, nicht kartographischen Charakter und dienen vielmehr der Erforschung des Unbewussten denn der objektiven Darstellung. Allesamt tragen sie meinen persönlichen Stempel und verkörpern eine Form der Meditation.

Vorwiegend interessieren mich die ineinandergreifenden Welten von Ethik und Ästhetik. Im Grunde geht es, denke ich, um eine Art von ‚ästhetischem‘ oder ‚unterbewusstem‘ Aktivismus, womit ich direkt zu Ihrer Frage nach dem schönen Schein komme. Schönheit off enbart sich für mich nicht darin, ein-fach ‚nur schön‘ zu sein. In den visuellen Künsten wird Schönheit allgemein mit Skepsis betrachtet, da wir auf sie als seriöses Darstellungsmittel nicht län-ger vertrauen. Doch sie kann durchaus eines sein: Schönheit prägt sich dem künstlerischen Raum strukturartig auf, um etwas darzustellen, das uns bis-lang noch unbekannt oder unbegreifl ich ist. Ein schönes Objekt oder Bild muss nicht zwangsläufi g oberfl ächlich sein, sondern kann durchaus eine Bedeutung oder eine beunruhigende, subversive Wirkung haben, die uns zusammenzu-cken lässt. Mein Interesse gilt vorwiegend einer Form von Schönheit, die ein gewisses Entsetzen und Erschrecken in sich birgt – Schönheit nicht als Bal-sam für die Seele, sondern als eine Art Waff e, sozusagen als moderne Fort-führung der Auff assung von Erhabenheit im neunzehnten Jahrhundert, was uns einigen Aufschluss über unseren heutigen Entwicklungsstand in der Ge-schichte liefern sollte. In seinem Essay ‚Notes on Beauty‘ schreibt der Kritiker Peter Schjeldahl: „Die Schönheit, als solche gegenstandslos, kann mentales Heilmittel sein, das andere Elemente aufl öst und überstrahlt.“

Vorhergehende Doppelseite:David Maisel: The Lake Project 9823-4, 2002David Maisel: Terminal Mirage 206-7, 2003

Gegenüber:David Maisel: The Lake Project 9802-1, 2002Die verführerische, aber trüge-rische Schönheit seiner Luft-aufnahmen ist für David Maisel eine Metapher für die Haltung des Menschen gegenüber der Natur: „Unsere heutige Gesell-schaft wird zu dem Glauben ver-führt, dass es unwichtig sei, wie wir leben.“

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Ich meine, dass Licht immer stimuliert und Kraft und Begeisterung vermittelt. An Sonnentagen ist der Mensch aktiv, munter und selbstbewusst. Obwohl es keine wissenschaftliche Erklärung dafür gibt, kann man sagen, dass das Mor-genlicht die Aufmerksamkeit und rezeptive Funktion des Gehirns steigert. Das Auge empfi ndet das Licht beim Aufgang und Untergang der Sonne als ange-nehm. Die positive Wirkung des Lichts – vor allem während der frühen Morgen-stunden – wird nicht nur beim Menschen, sondern auch bei Pfl anzen festgestellt. Einige photomorphogenetische und biochemische Mechanismen bei Pfl anzen werden unmittelbar vor Sonnenaufgang ausgelöst.

Als Kind war mir nur bewusst, dass Tageslicht aufmunternd wirkt. Später, als ich mich mit der Photosynthese beschäftigte, entdeckte ich die Wirkung des Son-nenlichts auf die Funktion von Pfl anzen. Das Licht aus dem sichtbaren Bereich liegt größtenteils im Feld von 400 bis 700 nm. Daneben enthält das Sonnen-licht jedoch auch einen beträchtlichen Anteil an ultravioletten (<400 nm) und Infrarot-Anteilen (>700 nm). Pfl anzen ‚sehen‘ – beziehungsweise empfangen – Licht hauptsächlich dank zweier wichtiger Pigmente. Das erste ist Chlorophyll, das den meisten von uns bekannt sein dürfte. Das zweite ist Phytochrom, das der Mensch ohne Hilfsmittel nicht wahrnehmen kann. Es ist aber für die mei-sten photomorphogenetischen Eff ekte verantwortlich, wie Phototropismus, Blühen und Keimen von Saatgut. Das Studium der Mechanismen, wie Pfl anzen Licht aufnehmen und das Signal weiterleiten, ist faszinierend. Ich selbst war an der Entwicklung eines Konzepts beteiligt, das erklärt, wie die Aufnahme des Lichtsignals und seine Übertragung tief in das Gewebe hinein vonstatten geht. Dieses Phänomen der Weiterleitung (Transduktion) von Lichtsignalen ist inte-ressant, da auch Bereiche der Pfl anze, die das Licht nicht wahrnehmen, reagie-ren können. Außerdem können sich Pfl anzen durch Veränderung der Menge und der Verteilung des Chlorophylls an das verfügbare Licht anpassen. So haben beispielsweise Pfl anzen, die unter direktem Sonnenlicht wachsen, in der Regel dünne, kleine und hellgrüne Blätter, während die Blätter bei Gewächsen, die im Schatten aufwachsen, dick, groß und dunkelgrün sind.

Die Sonne ist schon immer die vielversprechendste Energiequelle für die Erde gewesen. Ihr Licht kann jedoch nicht nur für die Lebensmittelproduktion ver-wendet werden, sondern auch für viele andere Zwecke. Die effi ziente Nutzung der Solarenergie ist daher von essenzieller Bedeutung. In der Suche nach neuen, erneuerbaren Ressourcen liegt der Schlüssel für viele Anwendungen. Gleich-zeitig muss der Verbrauch von Brenn- und Kraftstoff en auf Erdölbasis auf ein Minimum reduziert werden, um die weltweite Erwärmung zu verringern. Die Entwicklung von Leben auf der Erde ist in erster Linie auf die Solarenergie zu-rückzuführen, die vom Menschen über das Auge und von Grünpfl anzen über ihre Blätter aufgenommen wird. Es ist möglich, dass die grüne Farbe des Chlo-rophylls von Pfl anzen als Reaktion auf das Spektrum des Sonnenlichts entstan-den ist. Eine andere starke Lichtquelle als die Sonne hätte möglicherweise dazu geführt, dass sich ein anders farbiges Pigment durchgesetzt hätte.

Die Photosynthese führt zu einer Bindung von anorganischem Kohlenstoff , unter anderem in Kohlenhydraten, Lipiden und Proteinen. Zur Photosynthese sind nicht nur Sonnenlicht, sondern auch CO² und Sauerstoff erforderlich. Eine der wichtigsten Anwendungsmöglichkeiten der Photosynthese bei Pfl anzen ist of-fensichtlich deren Fähigkeit zur Bindung von CO² aus der Atmosphäre. Dennoch

Professor Raghavendra, was haben Ihnen die Kultur, in dem Sie aufgewachsen sind, und Ihre Er-ziehung und Ausbildung bezüglich des Lichts ver-mittelt?

Welche für Sie faszinierenden Eigenschaften des Lichts haben Sie selbst entdeckt?

Was sind für Sie als Forscher auf dem Gebiet der Photosynthese die vielversprechendsten Lösungen für die künftige Energieversorgung der Erde? In-wieweit sind diese mit der Sonne als Quelle ver-bunden?

Die Photosynthese verfügt über die seltene Eigen-schaft, nicht nur Sonnenlicht in nutzbare Energie umwandeln, sondern auch CO² aus der Erdatmo-sphäre abbauen zu können. Sehen Sie hierin ein Vorbild für künftige technische Entwicklungen?

Professor Agepati S. Raghavendrapromovierte 1975 an der Sri Ven-kateswara University, Tirupati, In-dien. Danach arbeitete er ab 1985 als Associate Professor am Depart-ment of Plant Sciences, University of Hyderabad, wurde 1996 zum Profes-sor ernannt und ist seit 2004 Dekan

der School of Life Sciences an der University of Hyderabad. Prof. Rag-havendra ist Vizepräsident der A. P. Akademi of Sciences und Heraus-geber des ‚Journal of Plant Biology‘. Sein Buch ‚Photosynthesis: A Com-prehensive Treatise‘ ist bei The Cam-bridge University Press erschienen.

A.S. Raghavendra

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ist die photosynthetische Assimilationsfähigkeit der Flora nicht in der Lage, mit den vom Menschen verursachten CO²-Emissionen Schritt zu halten. Eine Er-höhung der photosynthetischen Kohlenstoff -Assimilation ist unbedingt erfor-derlich, um die Erhöhung der CO²-Werte und die daraus entstehende globale Erwärmung zu verhindern. Es sind nicht die Wälder und Bäume auf dem Land, die ein Maximum an CO² aufnehmen – wie man vielleicht denken könnte – son-dern die Meere und Ozeane mit dem darin enthaltenen Phytoplankton. Diese Lebensräume auf den Oberfl ächen der Meere, aber auch die Wälder, müssen erhalten bleiben. Außerdem sollten die Bemühungen um die Entdeckung und Verwertung neuer pfl anzlicher Energieträger intensiviert werden.

Sie wäre ohne Photosynthese kaum vorstellbar, da die Sonne die Hauptener-giequelle der Erde ist. Pfl anzen absorbieren das Sonnenlicht und werden von Tieren verzehrt. Damit ist die heutige Nahrungskette fast vollständig von der Photosynthese abhängig. Alternativen zu photosynthetischen Verfahren sind Mikroorganismen wie chemotrophische Bakterien, die auch unter schwierigen Bedingungen ohne Sonnenlicht und sogar ohne Sauerstoff gedeihen können. Formen des organischen Lebens auf der Erde enthalten in der Regel Kohlenstoff , Wasserstoff und Sauerstoff . Es ist möglich, dass auf anderen Planeten des Uni-versums, die nicht von Licht bestrahlt werden, Organismen bestehen, die kein Chlorophyll haben, die keine Photosynthese ausführen und dann aus anderen Elementen als Kohlen-, Wasser- und Sauerstoff bestehen.

Die Zunahme der Weltbevölkerung ist ein ernstes Problem. Für die nächste Generation sehe ich keine wesentlichen Einschränkungen bezüglich der Le-bensmittelversorgung. Ich bin mir aber nicht sicher, ob den danach folgenden Generationen ausreichend Lebensmittel natürlicher Herkunft zur Verfügung stehen werden. Es sind mehrere Schritte erforderlich, um die Versorgung mit diesen Lebensmitteln sicherzustellen. Unkonventionelle und neue Technologien, darunter auch die Gentechnik, können eine gewisse Abhilfe schaff en. Aber der Erhalt und die optimierte Verwertung der vorhandenen natürlichen Ressour-cen sind unabdingbar.

Dass Licht nicht nur oberfl ächlich wirkt, gilt nicht allein für unsere Haut, son-dern auch für die Oberfl ächen von Pfl anzen und Mikroorganismen. Pfl anzliches Gewebe ist bekanntlich nicht nur zu einer vertikalen, sondern auch zu einer late-ralen Lichtübertragung in der Lage. Licht ist nicht nur Energiequelle: es ist auch ein Signal, das viele Prozesse in Pfl anzen und Tieren auslöst. Man nimmt an, dass die am Tage auftretenden Leistungs- und Stimmungsschwankungen beim Men-schen mit der Länge der Tageszeit verbunden sind. Wegen dieser direkten und indirekten Auswirkungen des Lichts ist die Übertragung des Lichtsignals ein Schwerpunktgebiet der biologischen Forschung. Photosensitive Moleküle wie Chlorophylle, Carotenoide und Rhodopsin (das Pigment im menschlichen Auge) nehmen das Licht direkt auf und reagieren mit einer internen Neugruppierung und Erregung ihrer Reaktionszentren. Das Lichtsignal, das auf der Oberfl äche des Menschen oder einer Pfl anze auftritt, wird wahrgenommen, umgewandelt und dann an andere Teile der Pfl anze oder des Tiers in Form von Sekundär-Bo-tenstoff en oder Signalkomponenten weitergegeben. Dazu zählen zum Beispiel der pH-Wert, das Membranpotenzial, der elektrochemische Gradient und Kat-ionenwerte wie zum Beispiel Natrium und Kalzium.

Wie würde die globale Nahrungskette ohne Pho-tosynthese aussehen?

Werden wir uns bei einer Weltbevölkerung, die in der nächsten Generation 10 bis 11 Milliarden erreicht, immer noch mit Lebensmitteln aus na-türlichem Anbau ernähren können? Welche Ände-rungen an der Landwirtschaft in der gegenwärtig betriebenen Form halten Sie für notwendig?

Wenn das Licht auf die menschliche Haut triff t, er-zeugt es auf den ersten Blick eine intensive, aber oberfl ächliche Wirkung. Die Auswirkungen des Lichts gehen jedoch weit tiefer, und gerade diese nicht-oberfl ächliche Wirkung ist oft von essen-zieller Bedeutung für das Leben. Gibt es hierzu Parallelen in Ihrer eigenen Forschung?

Ohne den grünen Farbstoff Chlo-rophyll sähen nicht nur unsere Wälder, sondern auch unsere Nahrungskette anders aus. Dennoch trägt die Vegetation der Landoberfl ächen, verglichen mit Meeresorganismen, nur einen kleinen Teil zur Photosyn-theseleistung der Erde bei.

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Mrs. Jablonski, was haben Ihnen die Kultur, in der Sie aufgewachsen sind, und Ihre Ausbildung über die menschliche Haut vermittelt?

Welche Entdeckungen über Haut haben Sie selbst gemacht, die Sie fasziniert haben?

Konnten Sie bei Ihren Forschungen etwas darüber herausfi nden, wie sich Schönheitsideale bezüg-lich der Haut in verschiedenen Kulturen unter-scheiden?

Die meisten Menschen, einschließlich mir, haben in ihrer Jugend nur nebenbei von diesem Thema erfahren, ohne dass es zum Beispiel in der Schule eine Rolle gespielt hätte. Dennoch interessiere mich schon seit vielen Jahren dafür und habe einige Forschungen darüber betrieben.

Wir sehen unsere Haut als selbstverständlich an, obwohl sie biologisch und kulturell sehr wichtig für uns ist. Wenn Sie innehalten und Ihr eigenes Leben und Verhalten, aber auch die Verhaltensweisen Ihrer Mitmenschen betrachten, be-ginnen Sie zu verstehen, was die Haut für uns tut. Die Haut sagt über uns eine Menge aus. Wenn wir jemanden anschauen, können wir allein an der Haut das Alter oder den Gesundheitszustand erkennen. Die Hautfarbe lässt zudem erah-nen, woher eine Person oder ihre Vorfahren stammen könnten. Die wichtigsten zwischenmenschlichen Beziehungen werden über unsere Haut vermittelt. Als Tastorgan ist sie eine der wichtigsten Schnittstellen, über die wir miteinander kommunizieren und durch die wir Informationen aus der Welt erhalten. Obwohl wir als Primaten sehr visuell orientierte Tiere sind, ist der Tastsinn für unsere Entwicklung und unser Wohlbefi nden unerlässlich.

Meine eigene Forschung hat sich hauptsächlich auf die Evolution der Haut-farbe konzentriert. Die Pigmentanzahl in unserer Haut steht im Verhältnis zur ultravioletten Strahlung des Sonnenlichts, dem unsere Vorfahren ausgesetzt waren. Diejenigen von uns, deren Vorfahren in der Nähe des Äquators lebten, haben dunkel pigmentierte Haut entwickelt, die sie vor Schäden durch hohe UV-Strahlung schützt. Diejenigen, deren Vorfahren außerhalb der Tropen lebten, entwickelten einen helleren Hauttyp, der die Produktion von Vitamin D in der Haut durch UV-Strahlung begünstigt. Das Faszinierende dabei ist für mich die Tatsache, dass sich die Menschen heute viel schneller bewegen als früher. Wir können Tausende von Kilometern in ein paar Stunden zurücklegen und uns in sonnenreiche Gebiete begeben, die sich deutlich von den Lebensräumen unserer Vorfahren unterscheiden. Als Menschen gehen wir davon aus, dass dabei schon alles gut geht. Manchmal ist das allerdings nicht der Fall. Menschen mit hellerer Hautfarbe leiden an schwerwiegenden biologischen Problemen, wenn sie ihre Körper für längere Zeit intensivem Sonnenlicht aussetzen. Ähnlich leiden dun-kelhäutige Menschen an anderen biologischen Problemen, wenn sie sich länger außerhalb der Tropen aufhalten, weil ihre Körper in dem dort relativ schwachen Sonnenlicht nicht genug Vitamin D aus UV-Strahlung erzeugen können. Die Lehre hieraus ist, dass wir unserer Biologie nicht entfl iehen können!

Schönheitsideale unterscheiden sich dramatisch von einer zur anderen Kul-tur. Ein wundervolles Beispiel dafür sind Augenbrauen. In den meisten ame-rikanischen und europäischen Kulturen achten Frauen darauf, dass ihre Augenbrauen deutlich getrennt und genau defi niert sind. Unter den Uiguren in Westchina ist es dagegen üblich, dass die Augenbrauen bei Frauen voll und zusammengewachsen sind, so dass ein ausdrucksstarker Akzent über der Au-genpartie entsteht. Sie gehen sogar so weit, sich eine spezielle Creme zwischen die Augen zu reiben, um den Haarwuchs zu verstärken.

Auch in Zusammenhang mit der Hautfarbe gibt es in ästhetischer Hinsicht große Unterschiede. In Japan zum Beispiel werden Frauen mit sehr blasser Haut als attraktiv und begehrenswert angesehen, da die helle Haut deutlich zeigt, dass die Frau nicht im Freien arbeiten muss und daher wahrscheinlich einen hohen Status besitzt. Im Gegensatz dazu gelten in vielen amerikanischen und europäischen Ländern braungebrannte Frauen als attraktiver, da ihre Haut auf

Nina Jablonski ist vergleichende Anthropologin und Paläontologin. Sie studierte 30 Jahre lang die Fos-silfunde von Primaten und Menschen. In den letzten 15 Jahren haben sich ihre Interessen auf diejenigen Fragen der menschlichen Evolution verlagert, die durch die Fossilfunde nicht voll-ständig beantwortet werden kön-

nen. Dazu gehören unter anderem die Evolution der menschlichen Haut und der Hautfarbe. Nina Jablonski lebt und arbeitet zur Zeit in Pennsyl-vania im Osten der USA, nachdem sie ihre Feldforschungen unter anderem nach China, Kenia und Nepal geführt haben. www.anthro.psu.edu/faculty_staff /jablonski.shtml

Nina Jablonski

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Gesundheit und viel Zeit für Freizeitaktivitäten im Freien hinweist. In beiden Beispielen ist das Ideal das gleiche – eine Frau mit hohem Status und viel Frei-zeit –, aber das ‚ideale‘ Aussehen ist aufgrund der unterschiedlichen Geschichte der beiden Regionen sehr verschieden. Heute beginnen sich Schönheitsideale bezüglich der Haut jedoch aneinander anzugleichen, da die Globalisierung der Bilder und der Werbung die ästhetische Wahrnehmung der Menschen beein-fl usst. In manchen Fällen übernehmen Frauen dadurch Schönheitsideale, die sowohl unrealistisch als auch ungesund sind.

Das Aussehen der menschlichen Haut spielt eine wichtige Rolle in der Kommu-nikation, da sie uns viel über eine Person erzählt. Wie ich bereits erwähnt habe, übermittelt die Haut Informationen über das Alter und die Gesundheit anderer Menschen. Sie sagt zudem viel über ihren physischen Zustand aus. Schwitzen sie? Sind ihre Gesichter gerötet oder sehr blass? Diese Dinge können uns viel über den emotionalen Zustand einer Person sagen. Darüber hinaus ist es wich-tig zu beachten, wie Menschen vorsätzlich das Aussehen ihrer Haut verändern, um gewisse Botschaften auszusenden. Benutzt eine Person Kosmetika, die zum Beispiel ihre Augen größer erscheinen oder die Haut stärker glänzen lassen? Ist sie tätowiert oder hat sie andere Arten von permanentem Hautschmuck? Kos-metika und permanenter Hautschmuck sind unterschiedliche Formen der Selbst-darstellung, die uns viel über unsere Ziele und unsere Identität erzählen.

Meistens wurde das Sonnenlicht in der Geschichte der Menschheit als positiver Einfl uss betrachtet, da es Wärme brachte und weil in den sonnigen Jahreszeiten die Ernte gedieh und die Menschen genug zu essen hatten. Da Sonnenlicht die Produktion von Vitamin D in der Haut fördert, wird es für seine positiven Auswir-kungen auf das menschliche Gemüt geschätzt. Die Ambivalenz des Sonnenlichts für die menschlichen Haut ist ein relativ neues Phänomen, das in den letzten 5000 Jahren nur in einigen landwirtschaftlich geprägten Gesellschaften vor-kam, nämlich hauptsächlich dort, wo die Jahreszeiten sich stark unterschieden, mit enorm hoher Sonnenstrahlung im Sommer und wenig Sonnenlicht im Winter. Dort wurde Sonnenlicht mit der Arbeit im Freien und körperlicher Anstrengung verbunden und ein Leben außerhalb der Sonne galt als besser, überlegen und privilegiert. Hellhäutigere Menschen wurden daher in diesen landwirtschaft-lich geprägten Gesellschaften fast immer als begehrenswerter angesehen, da sie nicht hart in der Sonne arbeiten mussten, um zu überleben. ‚Braun‘ zu sein oder nicht war ein sichtbares Merkmal für die Klassenzugehörigkeit.

Der ‚Wohlfühl‘-Eff ekt des Sonnenlichts basiert teilweise auf dessen physio-logischen Wirkungen auf der Haut. Die UV-Strahlen in starkem Sonnenlicht fördern die Produktion von Vitamin D, und dies erzeugt ein vorübergehendes Gefühl der Entspannung und des Wohlbefi ndens. Sonne kann die Haut bräunen, was viele Menschen bei sich und anderen als attraktiv empfi nden. Diese bei-den Faktoren sind nur zwei Gründe dafür, warum zum Beispiel viele Menschen ihre Winterferien in tropischen Gebieten verbringen. Selbst in einem Gebäude, in dem das Fensterglas die meisten UV-Strahlen abblockt, erzeugt das durch das Fenster einfallende Sonnenlicht körperliche Wärme und Helligkeit, die oft als anregend empfunden werden. In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu beachten, dass der Mensch die meiste Zeit seiner sechsmillionenjährigen Exi-stenz in den Tropen verbracht hat. Von einem evolutionären Standpunkt aus betrachtet, sind wir Kreaturen der Sonne.

Inwiefern spielt die Haut, als Oberfl äche und Be-grenzung des menschlichen Körpers, eine Rolle in der Kommunikation neben dem Tastsinn?

Seit der Entdeckung des Ozonlochs spielen die Sonne und ihr Licht eine ambivalente Rolle be-züglich der menschlichen Haut: Sie sind gewis-sermaßen sowohl Freund als auch Feind. Gibt es Parallelen hierzu in der Menschheitsgeschichte, und inwiefern hängt diese Ambivalenz von geogra-fi schen und kulturellen Hintergründen ab?

Wenn Licht die menschliche Haut berührt, erzeugt es auf den ersten Blick einen intensiven, aber ober-fl ächlichen ästhetischen Eff ekt. Doch die Auswir-kungen dieser ‚Berührung’ gehen weit tiefer. In der Biologie und Medizin ist gerade diese nicht-visu-elle und nicht-oberfl ächliche Wirkung essenziell für das Leben. Inwieweit ist diese Tatsache für Ihre ei-gene Forschung relevant?

Durchschnittliche UV-Strah-lungseinwirkung pro Jahr auf der Erdoberfl äche (gemessen vom NASA-Satelliten TOMS-7). Helle Rosa- und starke Blaufär-bungen zeigen hohe UV-Strah-lungen, die sich auf Bereiche am Äquator sowie auf andere trockene oder hochgelegene Gebiete konzentrieren.

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Mr. Schneider, was haben Ihnen die Kultur, in der Sie aufgewachsen sind, und Ihre Ausbildung über die menschliche Haut vermittelt?

Inwiefern hat diese Wahrnehmung der Haut Ihren Karriereweg verändert?

Auf den meisten Ihrer Portraits nähern Sie sich der Haut einer Person sehr oder schauen sogar buch-stäblich darunter – wie zum Beispiel in Ihrer Serie ‚Genetic Self-Portrait‘. Denken Sie, dass Sie eine Person – oder sich selbst in diesem Fall – dadurch besser kennenlernen?

Ihre Serien ‚Genetic Portraits‘ und ‚Nudes‘ haben nichts mit den landläufi gen Assoziationen eines Portraits gemein wie etwa ‚Schönheit‘ oder ‚Charakterausdruck‘. Sie sind eher eine wissen-schaftliche und methodische Untersuchung des menschlichen Körpers. Entsprechen sie damit dem Bild, das wir in der Zukunft von uns selbst haben werden, nach der Erfi ndung von DNA-Tests und bi-ometrischen Ausweisen?

Wenn Licht die menschliche Haut berührt, erzeugt es auf den ersten Blick einen intensiven, aber ober-fl ächlichen ästhetischen Eff ekt. Doch die Aus-wirkungen dieser ‚Berührung’ gehen weit tiefer. Inwieweit ist gerade diese nicht-visuelle und nicht-oberfl ächliche Wirkung für Ihre Arbeit relevant?

Meine Jugend in Südafrika hat mich gelehrt, misstrauisch gegenüber rassi-stischen Vorurteilen zu sein. Ich habe früh erkannt, dass Bedeutung nicht auf der Oberfl äche liegt.

Seit 1975 habe ich mich sehr genau mit der Oberfl äche der Haut und ande-ren Themen aus der Biologie befasst. Ich habe entdeckt, dass das Studium der Oberfl äche mich zur Meditation führt. Meditation oder ritualisiertes Verhal-ten erlaubt meinem Motiv, sich zu off enbaren. Die Haut ist unwichtig. Sie ist le-diglich, was wir sehen, und nicht, was wir fühlen. Ich habe gelernt, dass Licht dazu benutzt werden kann, die Oberfl äche zu transformieren, so dass sie nicht länger im Vordergrund steht.

Meine Arbeiten sind so strukturiert, dass meine Motive und ich sich während des Prozesses gegenseitig kennenlernen können. Wir lernen durch den Aus-tausch bei der Erstellung des Portraits. Ich interpretiere diese Informationen für Sie, den Betrachter. Beim ‚Genetic Self-Portrait‘ habe ich mit Wissenschaft-lern und bei den Portraitfotografi en, die ich mit meiner eigenen Kamera auf-genommen habe, mit Freunden und Verwandten zusammengearbeitet. Meine Erfahrung des Portraits unterscheidet sich von den Erfahrungen, die der Por-traitierte oder der Betrachter damit machen. Meine Portraits sind Meditati-onen über Privatsphäre und Sterblichkeit.

Identität ist der Hauptfokus meiner Portraits. Das fotografi sche Portrait ver-bindet häufi g Schönheit und Glamour. Schönheit motiviert mich, aber meine Arbeiten sind niemals glamourös. Jede Arbeit entspricht einer reduktiven und rigorosen Methodik, so dass ein Vergleich zwischen den Portraits möglich ist. Ich versuche stets eine Situation herzustellen, in der ich voll kontrollieren kann, wie ich die Informationen sammle, und in der das Motiv nicht kontrollieren kann, was es preisgibt. Davon abgesehen, unterscheiden sich die Werkgruppen funda-mental voneinander. Die genetischen Portraits sind ein Archiv der Geschichte der forensischen Wissenschaften. Die ‚Nudes‘ und die ‚Heads‘, die ich 1989 be-gann, wurden dagegen alle im Dunkeln fotografi ert, mit einer kleinen Lichtquelle, mit der ich die Details jeder Person nachzeichnete. Die Sequenz der Bilder ist für jede Serie die gleiche. Alle Bilder werden auf Film über einen Zeitraum von ein bis zwei Stunden aufgenommen.

Licht ist mein Zeichenmaterial. In den Kameraportraits erzählt es mir die Geschichte meiner Beziehung zum Motiv. In den Abdruckportraits, wie zum Beispiel bei den Handabdrücken oder Masken, ist das Licht ausschließlich me-taphorisch, da die Lichtbereiche aus Schweiß und Hitze entstehen, wenn die Haut die Filmemulsion berührt. Sie sehen wie Licht aus. Licht erzählt mir immer die Geschichte. Licht hat mir ermöglicht, so nah an die Wahrheit heranzukom-men wie möglich.

Gary Schneider wurde 1954 in Süd-afrika geboren. Er wuchs in Kapstadt auf und zog 1977 nach New York. Seine Erfahrungen im Bereich Male-rei, Theater und Film führten ihn zur Fotografi e. Gary Schneiders Instal-lation Genetic Self-Portrait wurde 1998 im Musee de l’Elysee in Laus-anne sowie im Santa Barbara Mu-seum in Kalifornien ausgestellt und in einem Buch von LightWork ver-

öff entlicht. Eine Retrospektive sei-ner Portraits wurde 2004 im Sackler Museum in Harvard, Boston ausge-stellt und in einem Katalog der Yale Press veröff entlicht. 2005 wurde das Buch Nudes veröff entlicht und die darin enthaltenen Fotografi en von Aperture in New York ausgestellt. http://museum.icp.org/museum/exhibitions/schneider/

Links: Gary Schneider: Genetic Self-Portrait Mask, 1999‚Kontaktabzüge‘ des menschlichen Körpers stellt Gary Schneider mit seinen ‚Imprints‘ her. Was aussieht wie ein geheimnisvolles Licht, sind in Wirklichkeit Schweiß und Körperwärme, die auf die Film-Emulsion einwirken .

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Mrs. Lupton, was hat Ihnen die Kultur, in der Sie aufgewachsen sind, über die ‚Haut‘ von Menschen und Gegenständen vermittelt, und wie hat sich diese Vorstellung im Laufe der Jahre gewandelt?

War dieser Wandel der Oberfl ächen zum Bild- und Informationsträger auf neue digitale Bild- und Pro-duktionstechniken zurückzuführen, oder war dies einfach eine Gegenbewegung zu den überwiegend schlichten, unverzierten Oberfl ächen der Dinge während der Moderne?

Neue, künstlich hergestellte Hüllen laufen oft den Sehgewohnheiten zuwider: Harte Gegenstände wirken weich und umgekehrt, raue Flächen wirken glatt ... Wird unser Sehvermögen zunehmend unzu-verlässig bei der Wahrnehmung von Oberfl ächen?

Produktdesign und Architektur orientieren sich zu-nehmend an den Eigenschaften menschlicher Haut und natürlicher Oberfl ächen. Welche Aspekte sind Ihrer Meinung nach für Designer hier besonders interessant?

Wenn Licht die menschliche Haut berührt, erzeugt es auf den ersten Blick einen intensiven, aber ober-fl ächlichen ästhetischen Eff ekt. Doch die Auswir-kungen dieser ‚Berührung‘ gehen tiefer, unter die Oberfl äche. Inwieweit ist diese unsichtbare Tiefen-wirkung des Lichts für Ihre Arbeit relevant?

Ich wurde 1963 geboren und habe somit die 70er-Jahre als Teenager und junge Frau erlebt. In dieser Zeit sexueller Freiheit und Experimentierfreude bekam man Haut überall zu sehen. Mit dem Aufkommen von AIDS Anfang der 80er haben die Menschen dann begonnen, die menschliche Haut mit an-deren Augen zu betrachten. Heute verbinden wir den Begriff ‚Haut‘ eher mit technischen Begriff en wie Schutz, Reparatur und Ausbesserung. Die natür-liche Haut und direkter Körperkontakt haben an Bedeutung verloren. Statt dessen wird viel Gewicht auf künstliche Hüllen und Oberfl ächen gelegt. Die Idee von Oberfl ächen mit aufgeprägten Bildern und Informationen gewinnt zunehmend an Bedeutung.

Teilweise ist dieser Wandel sicher technisch bedingt, da digitale Technologien den Planungs- und Produktionsprozess nachhaltig verändert haben und es heute ermöglichen, Sensoren, LEDs und andere ‚intelligente’ Bauteile in die Oberfl äche von Gegenständen zu integrieren. Andererseits dürften die Verän-derungen auch auf die wachsende Bedeutung der Kommunikation in allen Le-bensbereichen zurückzuführen sein. Heute muss alles und jeder sprechen und eine Botschaft vermitteln. Der französische Philosoph Jean Baudrillard hat diese globale Entwicklung bereits Ende der sechziger Jahre in seinen Schriften zur ‚Herrschaft der Zeichen’ thematisiert. Etwa zur selben Zeit begannen ex-perimentelle Designer, die gängigen Vorstellungen von Design, das aus der Struktur eines Objekts entsteht, zu kritisieren und ihre Tätigkeit stattdessen als eine Art von Publizität anzusehen.

Seit dem Aufkommen der Digitaltechnik können wir uns bei der Einschätzung der Wahrheit nicht mehr allein auf unsere visuelle Wahrnehmung verlassen. Sichtbare Flächen können uns täuschen, sie können uns aber auch konkrete Re-alitäten vermitteln. Wir haben uns an anpassbare und veränderliche digitale Oberfl ächen gewöhnt; sie sind ein Teil unseres Alltags geworden.

Die Konzeption von Materialien, die Licht sowohl absorbieren als auch aus-strahlen, ist sehr überzeugend. Heutzutage sind Materialien nicht mehr Ne-bensache, sondern Träger von Informationen und Strukturen. Oberfl ächen erhalten damit eine wesentliche, nicht mehr nur sekundäre Bedeutung.

Wie schon erläutert, gehört die Fähigkeit einzelner Materialien, Licht aufzu-nehmen und auszustrahlen, für mich zu den wichtigsten Errungenschaften mo-derner Materialtechnologie und ist somit essentiell für das Design der Zukunft: Solarmaterialien werden die entscheidende Energiequelle für unseren Lebens-raum sein, sei es durch Licht oder andere Formen nutzbarer Energie.

Ellen Lupton ist Autorin, Kurato-rin und Grafi kdesignerin. Zu ihren jüngsten Veröff entlichungen gehö-ren ‚D.I.Y: Design It Yourself‘ (2006) und ‚Thinking with Type‘ (2004). Sie ist Leiterin des MFA-Programms in Grafi kdesign am Maryland Institute College of Art (MICA) in Baltimore. Zudem arbeitet Ellen Lupton als Ku-

ratorin für modernes Design am Cooper-Hewitt National Design Mu-seum in New York, wo sie zahlreiche Ausstellungen organisierte und Ka-taloge veröff entlichte, so auch das Buch ‚Skin: Surface, Substance + De-sign‘ (2002).www.designwritingresearch.org

Ellen Lupton

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Mr. Aziz, Mr. Cucher, was hat Ihnen die Kultur, in der Sie aufgewachsen sind, über Haut vermittelt, und wie hat sich diese Vorstellung im Laufe der Jahre gewandelt?

Ihre ‚Hautlandschaften‘ lassen sich als Reaktion auf zwei wichtige Phänomene moderner Design- und Technikentwicklung interpretieren: die Prothetik, also die Erweiterung oder der Ersatz menschlicher Körperteile durch technologische Mittel, und die Bi-onik, also die Nachbildung natürlicher Strukturen in künstlich hergestellten Objekten. Welche Hoff -nungen und Befürchtungen verbinden Sie damit?

Beim Betrachten Ihrer Serien ‚Chimera‘ und ‚Interi-ors‘ habe ich mich gefragt: Wie würden sich diese Skulpturen und Gebilde, wären sie echt, anfühlen? Wären sie hart oder weich, trocken oder feucht, glatt oder rau, warm oder kalt?

Wenn Sie einen architektonischen Raum entwer-fen müssten, welche Aufgabe würde dann seinen Oberfl ächen zukommen?

Mit unserem kulturellen Hintergrund und unserer Erziehung verbinden wir keine spezielle begriffl iche Vorstellung von Haut. Erst nachdem wir persön-lich und künstlerisch mit der AIDS-Krise konfrontiert wurden, hat die Haut nicht nur für unsere Arbeit, sondern auch für uns persönlich eine wichtige Bedeutung gewonnen, obgleich wir AIDS niemals zum direkten Gegenstand unserer Werke machten. AIDS hat uns nicht nur die Fragilität des mensch-lichen Körpers vor Augen geführt, sondern auch die von unserer Spezies ent-wickelten raffi nierten Immunitäts- und Abwehrmechanismen. Natürlich ist Haut die wichtigste physische Barriere zwischen unserem Körperinneren und der Außenwelt. Den vielen mit dieser Dualität von Begrenzung und Abtren-nung verbundenen Metaphern widmen wir uns seitdem mit zunehmendem In-teresse, weniger im biologischen und immungenetischen Sinne als eher unter einem philosophischen Blickwinkel. So versuchen wir, die Grenzen des mensch-lichen Daseins und unseres Bewusstseins auszuloten.

Die Kunst der Prothetik hat uns erstmals während unserer Arbeit an ‚ausra-dierten‘ Porträts für unsere Serie ‚Dystopia‘ fasziniert. Diese Porträts veran-lassten uns dazu, Objekte zu erfi nden, die die Welt dieser ihrer Sinnesorgane beraubten und nach innen gekehrten Wesen bevölkern könnten. Die so entstan-denen Skulpturen und Fotografi en für die Serie ‚Plasmorphica‘ wirkten extrem kalt. Sie verkörperten unsere Befürchtung, dass moderne Technologien einen katastrophalen Verlust an Menschlichkeit bedeuten könnten.

Diese negative Sichtweise haben wir in der Serie ‚Interiors‘ leicht ab-geschwächt; hier verschmolz der menschliche Körper mit seiner architek-tonischen Umgebung in lyrischer und gleichzeitig unheimlich anmutender Metamorphose. Heute stehen wir der Technik neutraler gegenüber, da wir ihr enormes Potenzial (je nach ihrer Nutzung zum Guten oder Schlechten) erkannt haben. Unsere jüngeren Arbeiten seit der Serie ‚Synaptic Bliss‘ lassen sich als Hommage an eine technische Art des Sehens interpretieren, die uns tiefere und vielfältigere Wahrnehmungsmöglichkeiten off enbart.

Ihre Fragen zielen genau auf die Art imaginativer Reaktion ab, die wir bei den Menschen beim Betrachten dieser Werke evozieren möchten. Natürlich sind wir keine Wissenschaftler und daher kaum daran interessiert, irgendeine un-serer Kreaturen ‚zum Leben zu erwecken‘. Uns genügt es vollkommen, uns im Reich von Sinnbildern und Spekulationen zu bewegen. Müssten wir ihnen aber spezifi sche Eigenschaften zuweisen, würden sich unsere Hautgebilde vermut-lich weich, warm und vielleicht ein wenig feucht anfühlen.

Die Haut zeichnet sich durch starke metaphorische Bedeutung und zahlreiche Funktionen aus – wäre es da nicht reizvoll, Gebäude zu entwerfen, deren ‚Hülle‘ nicht nur Gefäß ist, sondern zugleich Sensor und Übermittler lebenswichtiger Informationen? Porosität und Elastizität sind zwei Eigenschaften, mit denen sich in der Architektur sicherlich interessant experimentieren ließe.

Anthony Aziz und Sammy Cucher erstellen seit 1991 digitale Fotogra-fi en, Skulpturen, Videos und archi-tektonische Installationen. Sie leben und arbeiten in New York City. Als Vorreiter der digitalen Bilddarstel-

lung wurden die Werke von Aziz + Cucher weltweit in großen Museen ausgestellt. Beide sind Fakultätsmit-glieder der Parsons School of Design in New York. www.azizcucher.net

Nächste Doppelseite:Aziz + Cucher: Interior Study #3, 2000Aziz + Cucher: Interior #6, 2000Die ‚Interiors‘ der Künstler Anthony Aziz und Sammy Cucher oszillieren zwischen zwei Welten: der Architektur und dem menschlichen Körper.

Aziz + Cucher

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Frau Bjerg, was haben Ihnen die Kultur, in der Sie aufgewachsen sind, und Ihre Ausbildung über Tex-tilien und deren Verhältnis zum menschlichen Kör-per vermittelt?

Welche Eigenschaften von Textilien haben Sie im Laufe Ihrer eigenen Arbeit für sich entdeckt?

Sind Textilien für Sie ein Mittel menschlicher Kom-munikation? Können sie etwas signalisieren – zum Beispiel durch die Art und Weise, wie sie Teile des Körpers verdecken und andere enthüllen, und wie sie den Blick des Betrachters auf diese Weise len-ken?

Ich wurde in den 80er-Jahren an der Fakultät für Textildesign der Dänischen Designschule ausgebildet. Wir beschäftigten uns dort hauptsächlich mit Mu-sterdesign, also mit der Frage, wie sich ebene, eindimensionale textile Flächen mit Farben und Mustern ‚ausfüllen’ lassen. Textilien waren für mich damals noch kein besonders sinnliches und kommunikatives Material, und wir hatten während unserer Ausbildung auch nur ein sehr eingeschränktes Verhältnis zur körperlichen Dimension unserer Arbeiten. An der Fakultät gab es jedoch eine Textilingenieurin, die ein wenig als ‚Freak‘ angesehen wurde. Sie experimen-tierte im Kleinen mit besonderen Techniken und Materialien, und ich glaube, dass ich ihre Herangehensweise später verinnerlicht habe.

Seit ich die Designschule verlassen habe, habe ich meine Arbeit sehr stark auf das Experimentelle ausgerichtet. Ungefähr ab 1990 begann mich die Frage zu interessieren, wie man der textilen Fläche einen dreidimensionalen Ausdruck verleihen könnte. Meine Arbeitsweise wurde ausgesprochen forschungsorien-tiert, baute jedoch noch immer auf einer künstlerischer Grundlage auf. Ich arbeite fast ausschließlich handwerklich mit meinen Textilien, und es bedeutet für mich eine enorme Freiheit, mit Techniken zu experimentieren, zu denen ich mich selbst vorgearbeitet habe und die sich schlechterdings nicht auf eine maschinelle Her-stellung übertragen ließen. Je mehr ich Textilien dreidimensional gestalte, desto sinnlicher und kommunikativer wird dieses Material für mich. Dies hat natürlich stark mit der dabei entstehenden Räumlichkeit und den Strukturen zu tun, also mit den Licht- und Schattenwirkungen in den Stoff en. Dass sich meine Textilien ebenso wie das Licht und das Wetter draußen im Laufe des Tages verändern und dass sie auch auf diese Weise mit dem Betrachter kommunizieren, wirkt nach meiner Erfahrung faszinierend und inspirierend auf viele Menschen.

In meinem Projekt AQUATIC aus dem Jahr 2004 wird ein sehr direktes Ver-hältnis zum menschlichen Körper spürbar. Ich arbeite hier mit Falten und Plis-seetechniken, die ich im Laufe der Jahre entwickelt habe und die ich teilweise mit Druck- und Schweißverfahren kombiniere. Diese Werke nenne ich ‚Körper-skulpturen‘, weil sie dem Träger eine stoffl iche Silhouette verleihen. Sie sind zu-gleich weich und geschmeidig, sie lassen sich um den Körper herum drapieren und senden starke Signale, dass etwas Besonderes im Spiel ist, etwas Sinn-liches. Textilien sind in meinen Augen ein sehr feminines Material ...

Gleichzeitig lenkt die skulpturale Gestaltung den Blick in vorgegebene Richtungen und fordert dazu auf, in einem sinnlichen Universum auf Entde-ckungsreise zu gehen. Das geschieht nicht zuletzt, indem ich den Körper ver-decke und enthülle und dabei Licht und Schatten zur Geltung bringe. Es wäre allerdings verfehlt anzunehmen, dass ich mich mit Textilien ausschließlich im Verhältnis zum Körper beschäftige. Das Material greift in ebenso hohem Maße in den Raum ein, entweder skulptural oder als eine bearbeitete Fläche, und einige meiner künftigen Projekte werden von Textilien als Rauminstalla-tion oder Raumschmuck handeln. Das kann in Form von Tapeten, Strukturen, als Abschirmung oder als Lichtfi lter geschehen.

Für mich wäre es eine Herausforderung, zum Beispiel mit Architekten zu-sammenzuarbeiten und Visionen zu entwickeln, wie sich Textilien als inte-grierter Bestandteil eines Bauwerks und anderer räumlicher Zusammenhänge zur Geltung bringen lassen. Dies meine ich sowohl im praktischen als auch im dekorativen Sinne. In einer solchen Zusammenarbeit ließen sich einzigartige textile Konstruktionen und Raumwirkungen erzeugen.

Thea Bjerg ist eine international aner-kannte Textilkünstlerin und -designe-rin. Sie arbeitet und experimentiert seit mehr als zwei Jahrzehnten mit Licht und Schatten bei textilen Ma-terialien. Für ihre Arbeiten erhielt sie unter anderem den japanischen Na-goya Design DO Award und das große dänische Stipendium für Kunsthand-

werker aus der Kold-Christensen-Stiftung. Thea Bjergs Textilien sind unter anderem in Museen in Peking, London, Köln und Mexico City aus-gestellt. Ihre Arbeiten werden unter anderem in den MoMA Stores des Museum of Modern Art in New York verkauft. www.theabjerg.com

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Welche technischen Entwicklungen haben das Textildesign in den vergangenen Jahren beeinfl usst und werden es in der nahen Zukunft beeinfl ussen? Hat sich auch Ihre Arbeitsweise unter diesen Ein-fl üssen verändert?

Wenn Licht die menschliche Haut berührt, erzeugt es auf den ersten Blick einen intensiven, aber ober-fl ächlichen ästhetischen Eff ekt. Doch die Auswir-kungen dieser „Berührung“ gehen weit tiefer. In der Biologie und Medizin ist gerade diese nicht-vi-suelle und nicht-oberfl ächliche Wirkung essenziell für den Organismus. Sehen Sie hier Parallelen zu Ihrer eigenen Arbeit?

Ich habe in den letzten Jahren stark mit neuen Techniken wie Lasercut und Ul-traschallschweißen experimentiert; Methoden, mit denen man Textilien sehr präzise schneiden und schweißen kann. Sie haben mir zum Teil völlig neue ge-stalterische Perspektiven eröff net. Beispielsweise habe ich Muster aus Stoff en ausgeschnitten und danach plissiert, so dass eine gebrochene und gleichzei-tig strukturierte Oberfl äche entstand. Dies ist eine inspirierende und äußerst dekorative Technik, und bezogen auf die Projekte, die ich weiter oben genannt habe, wäre es höchst interessant, damit im Hinblick auf Beleuchtung, Licht-abschirmung und Raumwirkung zu experimentieren.

Die Natur ist für meine Arbeit als Textilkünstlerin eine wichtige Inspirations-quelle. Die Strukturen im Gefi eder eines Vogels, die Schichten der Blüten-blät-ter einer Blume, die Art, in der ein Stein geriff elt ist, Licht und Schatten auf der Haut eines Kriechtieres – ich beobachte diese Vorbilder nicht mit der Ab-sicht, sie zu kopieren, sondern um sie in einen textilen Ausdruck zu transfor-mieren. Im AQUATIC-Projekt zum Beispiel hat mich das Universum unter der Meeresoberfl äche mit seinen Korallen, seiner Flora und Fauna sowie seinen Farben, Muster und Formen intensiv beschäftigt. Und natürlich das Licht, wie es durch die Wasseroberfl äche gebrochen und transformiert und dadurch für die darin eingebundenen Strukturen und Formationen zu etwas essenziell Le-bensspendendem wird.

Rechts: Thea Bjerg: Opaline Sea Anemone, AQUATIC, 2004In ihrem „Aquatic“-Projekt setzt Thea Bjerg hauchdünne, plissierte Polyesterstoff e ein, die den menschlichen Körper verschleiern und seine Silhouette dennoch durchschei-nen lassen.

Unten:Thea Bjerg: White Flowers, 1995

Folgende Doppelseite: Thea Bjerg: Dark Black Scorpion Fish, AQUATIC, 2004

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Page 54: DAYLIGHT & FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05 ......ARTHUR ZAJONC Arthur Zajonc ist Professor der Physik am Amherst College in Amherst, Massachusetts, USA, wo er seit 1978 lehrt. Seine Forschungsschwerpunkte

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Herr Eberle, was haben die Kultur, in der Sie auf-gewachsen sind, und Ihre Ausbildung zum Archi-tekten Ihnen über Gebäudehüllen vermittelt?

Welche eigenen neuen Erkenntnisse haben Sie in Ihrer Arbeit als Architekt gewonnen?

Über den Technologiegehalt von Architektur – Stichwort ‚High Tech kontra Low Tech‘ – wurde und wird vor allem bei Gebäudehüllen viel diskutiert: Welche grundsätzlichen Interessen sehen Sie hier im Spiel, und wie ist Ihre Haltung in dieser Frage?

Welche Auslöser werden die Entwicklung von Ge-bäudehüllen in naher Zukunft beeinfl ussen; und welche Entwicklungen sehen Sie voraus?

Ich bin in Vorarlberg aufgewachsen, einer gebirgigen und ursprünglich struk-turschwachen Region, in der über Jahrhunderte mit Bedacht und äußerster Sparsamkeit gewirtschaftet werden musste. Das größte Interesse lag hier immer beim Nutzen, also beim Verhältnis zwischen Aufwand und Ergebnis. Traditionelle Gebäude sind hinsichtlich Konstruktion, Form und Ausgestal-tung der Fassade optimal an das regionale Klima angepasst. In ihnen steckt ein überzeugendes physikalisches Wissen, das auf jahrhundertealten Erfah-rungen aufbaut und den Weg für einen haushälterischen Umgang mit be-schränkten Ressourcen aufzeigt. Im Studium habe ich mir das erforderliche Rüstzeug erworben, um das physikalische und technisch-konstruktive Po-tenzial unterschiedlicher Materialien auszureizen. Ich habe gelernt, die Ge-bäudehülle nicht als feststehende Größe zu begreifen, sondern als eine aus mehreren Ebenen bestehende Übergangszone, die zwischen den Polen innen und außen, hell und dunkel, kalt und warm, öff entlich und privat vermittelt. Gerade Räume wie überdeckte Vorplätze, Eingangshallen, Loggien, nicht be-heizte Wintergärten oder auch Fensterlaibungen sind von großem Reiz, weil sie immer beide Optionen beinhalten.

Mir wurde klar, dass das Erscheinungsbild der Gebäudehülle eine Schlüsselpo-sition in der Nachhaltigkeitsdebatte einnimmt. Wie die Erfahrung zeigt, ist es nicht die technische Qualität, die über die Lebensdauer eines Gebäudes ent-scheidet, sondern dessen soziale und kulturelle Dimension. Gebäude werden nur alt, wenn sie in der gesellschaftlichen Akzeptanz einen besonderen Stel-lenwert besitzen – und dieser entscheidet sich in erster Linie auf der sinnlich-wahrnehmbaren Ebene. Architektur teilt sich dem Betrachter vor allem über ihre Oberfl äche mit; bei einer Gebäudebeschreibung ist die Materialisierung der Gebäudehülle das meistgenannte Merkmal. Als Architekt lege ich deshalb großen Wert auf natürliche Materialien, die in Würde altern. Außerdem habe ich erkannt, dass die gerade erwähnte Verräumlichung der Fassade eine beson-dere Qualität darstellt in der Kommunikation des Gebäudes nach außen.

Bei all diesen Diskussionen um den Technologiegehalt von Gebäuden gerät doch das eigentliche Thema gerne in Vergessenheit: die Behaglichkeit. Dabei ist sie es, um die es beim Bauen letztlich geht. Was interessiert es die Leute, ob das Gebäude ein paar Watt mehr oder weniger verbraucht; stattdessen zählen für sie in erster Linie der Komfort und die Aufenthaltsqualität in den Räumen. Ich persönlich bin der Meinung, dass alles an Technik, was dem Kom-fortbegriff nicht direkt und unbedingt zuträglich ist, weggelassen werden sollte. Gerade bewegliche Techniken, die einer konstanten mechanischen Be-anspruchung ausgesetzt sind, bedingen periodische Instandhaltungsarbeiten. Sie unterliegen meist einem schnelleren Verfallsprozess, als dies beispielsweise bei statischen Elementen der Fall ist. Im Übrigen besteht Komfort auch darin, dass so wenig Bedienung wie möglich erforderlich ist. Damit ein Gebäude nachhaltig und langfristig funktioniert, muss man die Technik nicht optimie-ren, sondern minimieren.

Ein Thema von großer gesellschaftlicher Relevanz ist die Senkung des Ener-gieverbrauchs. In den entwickelten Gesellschaften werden 50 bis 60 % des Primärenergiebedarfs allein für die Errichtung und das Betreiben von Gebäu-den aufgewendet. Wir, die wir im Bauwesen engagiert sind, können, müssen also die wesentlichen Beiträge zur Verbesserung der Ressourcenproblema-

Dietmar Eberle leitet gemeinsam mit Carlo Baumschlager das Architektur-büro Baumschlager Eberle mit Nie-derlassungen in Lochau, Vaduz, Wien, Peking und St. Gallen. Seit mehr als 20 Jahren lehrt Dietmar Eberle an inter-nationalen Hochschulen, unter ande-rem in Hannover, Wien, Linz, Syracuse

und Zürich, wo er von 2003 bis 2005 Dekan der Architekturabteilung der Eidgenössischen Technischen Hoch-schule (ETH) war. Dietmar Eberle ist Ehrenmitglied im American Institute of Architects. www.baumschlager-eberle.com

Dietmar Eberle

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Welche Lichtqualitäten suchen Sie mit den Gebäu-dehüllen, die Sie entwerfen, den Innenräumen zu verleihen?

Wenn Licht die menschliche Haut berührt, erzeugt es auf den ersten Blick einen intensiven, aber oberfl ächlichen ästhetischen Eff ekt. Doch die Auswirkungen dieser ‘Berührung’ gehen weit tiefer, unter die Oberfl äche. In der Biologie und Medizin ist gerade diese nicht-oberfl ächliche Wirkung essenziell. Sehen Sie hier Parallelen zu Ihrer ei-genen Arbeit, und welche Konsequenzen ziehen Sie daraus?

tik erbringen. Unser Ziel muss es sein, Gebäude so zu bauen, dass sie in einem höheren Maße selbstregulierend sind und sehr präzis auf die örtlichen Klima-tologien reagieren. Bemühungen zur energetischen Fassadenoptimierung machen allerdings nur dann Sinn, wenn eine Betrachtung des Gebäudes als Gesamtsystem erfolgt. Gebäudehülle und Technik stellen darin die wichtigsten Teilsysteme dar, die miteinander in Interaktion stehen. Insgesamt werden uns immer mehr hochwertige, physikalisch eff ektive Materialien zu ökono-misch sinnvollen Preisen zur Verfügung stehen. Diese Entwicklung ist beson-ders stark im Bereich der Glastechnologie zu erkennen. Hier geht es vor allem in die Richtung, dass Gläser zunehmend imstande sind, sich selbstständig an Umwelteinfl üsse wie zum Beispiel wechselnde Lichtverhältnisse anzupas-sen. Große Veränderungen sind auch in der Dämmtechnik abzusehen, wo die Reduktion der Dämmstärken mit einer gleichzeitigen Qualitätsverbesserung einhergeht. Für gemäßigtere Klimazonen bedeutet dies, dass sich bereits in naher Zukunft eine Heizung erübrigen wird. Ganz allgemein werden wesent-lich weniger haustechnische Anlagen notwendig sein.

Zuerst einmal bin ich der Meinung, dass – unabhängig davon, ob es sich um ein Wohn- oder Bürohaus oder auch um ein öff entliches Bauwerk handelt – bei allen Gebäuden dasselbe im Vordergrund steht: das Wohlergehen und die Behaglichkeit des Menschen. Bauen ist die Unterscheidung zwischen Innen und Außen. Es ist ein Akt der Ausgrenzung einer kleinen Einheit, deren funda-mentale Eigenschaften in einer Ergänzung des jeweils anderen Zustands lie-gen; also im Dunkeln, in der Geborgenheit und im Geschütztsein vor Wind und Wetter. Tageslicht bindet das Innen ans Außen. Seine vermittelnde Wirkung kann es allerdings nur ausüben, wenn zwischen dem Innen- und dem Außen-raum ein Gefälle hinsichtlich der Helligkeit besteht. Dieses Gefälle hängt ab von der Beschaff enheit der Gebäudehülle bzw. der Anzahl an lokalen Durch-brechungen. Je mehr Licht sie einlässt, umso mehr verliert das Innere von sei-ner spezifi schen Innenraumwirkung und dem damit verbundenen Gefühl der Geborgenheit. Ich halte es für einen Denkfehler, wenn man die Lichtverhält-nisse des Innenraums jenen des Außenraums anzugleichen sucht. In meinen Projekten versuche ich, technische und bauliche Strukturen schaff en, die span-nungsreiche Übergangszonen zwischen Hell und Dunkel anbieten und Mehr-deutigkeiten zulassen.

Wie in der Medizin interessiert auch in der Architektur nicht die unmittelbare physikalische Lichteinstrahlung, sondern vielmehr das, was der Lichteinfall im Zusammenspiel mit seinem Gegner, dem Schatten, in der Summe bewirkt: die Erzeugung einer bestimmten Atmosphäre. Diese erleben wir allerdings nur in der leibhaftigen Begegnung mit Bauwerken und in ihrer Begehung. Im Ar-chitekturentwurf werden indessen Licht- oftmals mit Sichtbedingungen ver-wechselt und neben dem Auge die übrigen Sinne vergessen. Man versucht, möglichst helle und ‚optimale‘ Lichtverhältnisse herzustellen, die dem Kunst-licht nahe kommen und das Sehen erleichtern sollen. Tageslicht unterliegt hin-gegen einem zeitlichen Wandel. Untersuchungen zeigen, dass es gerade diese Eigenschaft seiner Veränderlichkeit ist, die das Wohlbefi nden des Menschen im Raum positiv beeinfl usst. Es ist mir deshalb wichtig, Tageslicht nicht als statische Größe zu begreifen, sondern als einen dynamischen Parameter in den Entwurf miteinzubeziehen und damit auch Zwischentöne, Diff usionen und Verschleierungen zuzulassen.

Rechts: Baumschlager Eberle: Verwaltungsgebäude Saeco, Lustenau, 1998

Ganz rechts: Baumschlager Eberle: Wohnen am Lohbach, Innsbruck, 2000

Folgende Doppelseite: Baumschlager Eberle: BTV, Wolfurt, 1998Wohnanlage Eichgut, Winterthur, 2005

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Herr Kuma, was hat Ihnen die Kultur in der Sie aufgewachsen sind, über Licht vermittelt?

Inwieweit hat sich Ihre Auff assung von Licht im Laufe der Jahre verändert

In seinem Buch ‚Lob des Schattens‘ erläutert Ju-nichiro Tanizaki die kulturellen Unterschiede im Bezug auf Licht und seine Wechselwirkungen mit Oberfl ächen, die zwischen der traditionellen japa-nischen und modernen westlichen Kulturen be-standen. In welcher dieser Kulturen sehen Sie Ihre eigene Arbeit verankert?

Sie haben mehrfach gesagt, dass auf das 20. Jahr-hundert, das in der Architektur ein ‚Jahrhundert der Form‘ gewesen sei, nun das 21. Jahrhundert als ‚Jahrhundert des Lichts‘ folge. Was bestärkt Sie in dieser Überzeugung?

Das Haus, in dem ich geboren und aufgewachsen bin, lag in einem Vorort von Yokohama. Es war ein kleines Holzhaus aus der Zeit vor dem 2. Weltkrieg und hatte eine ganz andere Architektur als das Haus meines Freundes, das in den 60er-Jahren gebaut worden war. Es hatte ein langes Vordach, die Fensterrah-men waren aus Holz und vor den Glasfenstern waren auf der Innenseite Schie-betüren aus japanischem Papier. Es gab zwar nur ein Zimmer, das mit Tatami (Reisstrohmatten) ausgelegt war, aber es war das Zimmer, das mir am besten gefi el. Auf diesen Tatami zu sitzen und mit meinen Bauklötzen zu spielen, wäh-rend das warme Licht der Abendsonne, das durch die Schiebetüren drang, auf mich fi el, waren für mich glückliche Stunden.

Die Architektur, die man uns an der Universität lehrte, basierte auf Beton, Eisen und Glas und war damit ganz anders als die meines Zuhauses. Auch über die Handhabung von Licht habe ich an der Universität nichts gelernt. Wie wich-tig das Verhältnis von Architektur und Licht ist, wurde mir erneut 1985, als in New York wohnte, durch den Austausch mit dem Leuchtendesigner Edison Price bekräftigt. Ich hatte in meiner New Yorker Wohnung Tatami ins Wohn-zimmer gelegt und dort öfter mit Freunden Tee getrunken und dort hörte ich von ihm eine Episode aus der Zeit, als er mit Mies van der Rohe und Louis Kahn gearbeitet hatte. „Haben Mies und Kahn sich auch intensiv mit Licht auseinan-dergesetzt?“, fragte ich erstaunt und dachte, dass auch ich eine Art von Archi-tektur entwerfen möchte, die sich mit Licht beschäftigt. Damals beschloss ich, noch einmal das traditionelle japanische Licht, das mir aus meiner Kindheit ver-traut war, zu untersuchen. Jene New Yorker Tatami habe ich Edison geschenkt und ich habe gehört, dass er auf diesen Tatami gestorben ist.

Der ‚Lob des Schattens‘ von Tanizaki ist ein wunderbares Werk. Darin wird deutlich beschrieben, dass die Unterschiede zwischen zwei Kulturen mit dem unterschiedlichen Umgang mit Licht zu begründensind. So wichtig ist der Fak-tor Licht für eine Kultur! Aber leider kam nach dem 2. Weltkrieg der Beton aus dem Westen nach Japan und hat die Städte und Architektur in Japan gründ-lich zerstört. Es wurde nicht nur die Hardware ‚Stadt‘ zerstört; sondern auch die Software ‚Kultur‘ hat einen entscheidenden Schaden erlitten. Was ich versuche, ist diesen Schaden zu beheben. Daher ist es notwendig, auch in großen Gebäuden natürliche Baustoff e wie Holz zu verwenden, und wich-tig, auch dort den sensiblen Umgang mit Licht, wie er von Tanizaki gepriesen wurde, beizubehalten.

Das 20. Jahrhundert war ein Zeitalter, in dem Architektur durch die Fotogra-fi e erfahren wurde. Einfach ausgedrückt war diejenige Architektur beliebt, die man gut auf Fotos darstellen konnte. Und fotogene Architektur ist eine Ar-chitektur der charakteristischen Formen. Im 21. Jahrhundert wird jedoch die direkte Erfahrung durch einen Besuch vor Ort für die Menschen immer wich-tiger. Durch das direkte Erleben des Objekts und des Raumes erhoff en sich die Menschen einen emotionalen Input. In dieser Situation werden Licht und Ma-terial zu den wichtigsten Faktoren eines Entwurfs. Es entsteht eine direkte Kommunikation zwischen Material, Licht und dem menschlichen Körper. Wir leben in einem Zeitalter, in dem Architektur unter Berücksichtigung dieser Zu-sammenhänge neu defi niert werden muss.

Kengo Kuma wurde 1954 in der japanischen Präfektur Kanagawa geboren. 1979 schloss er sein Archi-tekturstudium an der Universität in Tokio ab. Nach einem Graduiertensti-pendium an der Columbia University gründete er 1987 das Büro Spatial

Design Studio und 1990 sein heu-tiges Büro Kengo Kuma & Associates. Von 1998 bis 1999 lehrte er an der Fa-kultät für Umweltinformationen und seit 2001 an der Fakultät für Wissen-schaft und Technologie der Keio Uni-versität in Tokio. www.kkaa.co.jp

Kengo Kuma

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Wie werden sich die Prinzipien der Materialver-wendung in der Architektur verändern?

In unserer visuell dominierten Kultur funktioniert das Erkennen eines Ortes oder Raumes in der Regel primär über dessen Elemente und ihre Form, we-niger über Materialien, Gerüche und Geräusche. Welche Rolle spielt das Licht in diesem Zusam-menhang?

Was genau verstehen Sie unter der ‚Aufl ösung‘ des Lichts, einer Strategie, die Sie häufi g in Ihren Ent-würfen verwenden, und welche Bedeutung hat sie für Sie?

Wenn Licht die menschliche Haut berührt, erzeugt es auf den ersten Blick einen intensiven, aber ober-fl ächlichen ästhetischen Eff ekt. Doch die Auswir-kungen dieser ‚Berührung‘ gehen tiefer, unter die Oberfl äche, und genau diese unsichtbare Tiefen-wirkung des Lichts ist für uns lebensnotwendig. Inwiefern ist diese Analogie für Ihre Arbeit rele-vant?

Beton und Eisen waren funktionale Materialien, die eine freie Form ermögli-cht haben. In diesem Sinne war die Form das oberste Ziel und die Materialien haben sich der Form untergeordnet. Aber im 21. Jahrhundert kommunizieren die Materialien mit dem menschlichen Körper. Der Körper erhoff t sich durch die Materialien eine Heilung. Auf der Grundlage dieser Erkenntnis muss man das Material für einen Bau auswählen. Natürliche Materialien wie Holz, Pa-pier oder Stein werden gemäß der neuen Maxime des Zusammenspiels mit dem Körper erneut die Aufmerksamkeit auf sich ziehen.

Bei dem Bewusstsein für einen Ort spielt das Licht eine große Rolle. Besonders das Licht bei Schnee oder Regen ist je nach Ort charakteristisch. Deshalb lasse ich, obwohl ich Architekturfotografi e eigentlich nicht mag, Aufnahmen meiner Gebäude gerne an Regen- oder Schneetagen machen, weil ich so dieses ein-malige ‚Zusammenkommen‘ dieses besonderen und einzigartigen Lichts mit dem Bauwerk festhalten kann.

‚Aufl ösung von Licht‘ bedeutet, dem genauen Ausdruck, den sowohl Licht als auch Schatten hervorbringen, Bedeutung beizumessen. Das traditionelle ja-panische Fenstergitter ist ein hervorragendes Detail zur Aufl ösung von Licht. Weil an der Grenze zwischen Licht und Schatten der schönste Ausdruck eines Materials sichtbar wird, widme ich dieser Grenze beim Entwerfen mein be-sonderes Augenmerk.

Ich denke in Analogie an die Haut von verschiedenen Menschen über meine Ar-chitektur nach. Wir sehen die Oberfl äche einer Haut, aber auch die Unterseite mit all den dort übereinanderliegenden Dingen wird auf die Oberfl äche proji-ziert. Durch die Betrachtung der Oberfl äche können wir nämlich alles, was da-runter liegt – Gesundheitszustand, Alter, Kraft, Energie – erspüren.

Aus diesem Grund entwerfe ich die Konstruktion auf der Unterseite ge-nauso sorgfältig wie die Oberfl äche der Haut. Zum Beispiel bilden Steine, die in einer zwei Zentimeter dicken Schicht auf Beton befestigt sind, eine deut-lich andere Haut als Steine, die vertikal aufeinandergeschichtet wurden. Ich bemühe mich um eine Detailliertheit, die den Menschen diesen Unterschied deutlich macht.

Rechts: Kengo Kuma & Associates: Büro und Showroom Z58, Shanghai, 2006

Ganz rechts und folgende Doppelseite: Kengo Kuma & Associates: Ginzan Onsen Fujiya,Obanazawa, 2006Durch die Aufl ösung des Lichts in ein dichtes Gewebe aus Licht- und Schat-tenfl ächen lässt Kengo Kuma in vielen seiner Bauten das Halbdunkel tradi-tioneller japanischer Häuser wieder erstehen, das Junichiro Tanizaki in ‚Lob des Schattens‘ beschrieben hat.

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Frau Brandi, was haben die Kultur, in der Sie auf-gewachsen sind, und Ihre Ausbildung Ihnen über Licht vermittelt?

Oft wird behauptet, Licht sei in der zeitgenös-sischen Architektur zu einem ‚Material‘ im eige-nen Sinne geworden oder werde wie ein solches verwendet. Triff t das Ihrer Meinung nach zu?

In der Lichtplanung wird heute nicht länger über die Alternative ‚Tages- oder Kunstlicht‘ diskutiert, son-dern immer häufi ger über die gegenseitige Ergän-zung von Tages- und Kunstlicht. Ist die Arbeit des Lichtplaners dadurch leichter, schwieriger oder ein-fach interessanter geworden?

Noch stärker und unmittelbarer als die Kultur hat die Landschaft, in der ich aufgewachsen bin, mein Licht-Bewusstsein beeinfl usst. In Norddeutschland gibt es Tageslicht aus einer 180°-Himmelskuppel über einer fl achen grünen Landschaft. Wohnungen mit Westfenstern erlauben den Blick auf den Son-nenuntergang, der wie Feuer aussehen kann. Bei seinem Anblick gerate ich ins Schwärmen.Gleichzeitig beeinfl ussen die großen Physiker und Astronomen wie Johannes Kepler, Isaac Newton, Galileo Galilei meinen Umgang mit Licht. Ich bewunderte ihre Entdeckungen über Eigenschaften des Lichtes und die Formulierungen von Gesetzen. Spektralanalysen erzählen von Materie in unvorstellbarer Ferne. Mit Licht messen wir Bewegungen von Himmelskörpern. Licht ist schnell – und trotzdem erlaubt es uns den Blick in die Vergangenheit des Weltalls.Was unsere Kultur angeht, fallen mir einige schöne Gedichte über das Licht ein; zum Beispiel ‚Das Fräulein stand am Meere’ von Heinrich Heine:

Das Fräulein stand am MeereUnd seufzte lang und bang,Es rührte sie so sehreDer Sonnenuntergang.

„Mein Fräulein! Sein Sie munter,Das ist ein altes Stück:Hier vorne geht sie unterUnd kehrt von hinten zurück.“

Übrigens, meine Ausbildung bezüglich des Lichts fi ndet weiter dauernd statt, insofern gibt es da keine fertigen Lehren aus einer früheren Zeit. – Als ich mich auf Lichtplanung spezialisierte, hatte ich Angst, dass dieses vermeintlich ‚ein-geschränkte‘ Thema für ein ganzes Leben nicht reichen könnte – heute weiß ich, dass ein ganzes Leben für das Thema Licht nicht ausreicht.

Nein, Licht spielt mit verschiedensten Materialien und Oberfl ächen, aber es ist kein ‚Baustein‘ von Häusern. Es ist einfach da, oder es wird geschickt zum Fenster hereingelassen, fein refl ektiert – es hat eine völlig andere Existenz als jedes Material.

Tages- und Kunstlicht alternativ zu diskutieren wäre dumm, vielleicht passiert das, wenn man einen rein ‚elektrotechnischen‘ Zugang wählt. Für mich beginnt schon immer Kunstlichtplanung mit einer Betrachtung des spezifi schen Ta-geslichts des besonderen Ortes. Steht die Sonne im Sommer hoch? Wie weit fällt das Sonnenlicht abends in den Raum hinein? Zieht sich die Dämmerung lange hin? Ist das Wetter eher klar oder wolkenreich? Ähnlich wird der Ar-chitekt denken, bevor er sich für bestimmte Materialien entscheidet und am schönsten ist es, wenn er sich mit mir darüber austauscht.

Ulrike Brandi leitet gemeinsam mit Dr. Christoph Geissmar-Brandi das Büro Ulrike Brandi Licht in Hamburg, mit dem sie Lichtplanungskonzepte unter anderem für das British Mu-seum in London, das Mercedes-Benz-Museum in Stuttgart, den Pudong Airport in Shanghai und die Elbphil-harmonie Hamburg entwickelt hat. Neben ihrer praktischen Tätigkeit in-

itiierte Ulrike Brandi zahlreiche For-schungsvorhaben, unter anderem zur Verwendung von Glas im Muse-umsbau sowie zur Entwicklung von Leuchtdioden. Sie ist Autorin meh-rerer Fachbücher zum Thema Licht, unter anderem dem ‚Lichtbuch‘ , das 2001 bei Birkhäuser erschienen ist. www.ulrike-brandi.de

Ulrike Brandi

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Derzeit werden in schneller Abfolge immer neue Materialien für die Architektur entdeckt, tauchen auf und verschwinden oftmals auch rasch wieder. Wie stellen Sie sich in Ihrer Arbeit auf deren lich-tspezifi sche Eigenschaften ein?

Wenn Licht die menschliche Haut berührt, erzeugt es auf den ersten Blick einen intensiven, aber oberfl ächlichen ästhetischen Eff ekt. Doch die Auswirkungen dieser ‚Berührung’ gehen weit tiefer, unter die Oberfl äche. Sehen Sie hier Parallelen zu Ihrer eigenen Arbeit?

Wenn wir (Architekten und Lichtplaner) gemeinsam Lichtwirkungen an neuen Materialien ausprobieren, entwickeln wir ein Gefühl dafür, was passt und was Räumen neue, auch unvermutete Qualitäten gibt. Wir erkennen auch, wo ein Material eine Erwartung nicht erfüllt und wo verblüff ende Eff ekte entstehen, die einfach lustig sind. Es macht Spaß, das alles zu wissen. Die Kunst – oder die eigene Sicherheit – ist es dann, nur die Elemente einzusetzen, die einen Raum schöner, angenehmer und stimmiger machen.

Selbstverständlich. Ich würde mir wünschen, dass unsere Lichtatmosphären den Benutzern „unter die Haut gehen“ – vor Schönheit, weil sie genau den Be-dürfnissen entsprechen, weil sie entspannend und angenehm oder aufregend sind. Tief berührt ist man ja oft erst nach einer Weile oder wenn man nach häu-fi gen Besuchen eines Ortes immer noch diese besondere Nähe spürt.

Below UN Studio: Mercedes Museum in Stuttgart, 2006Für den Neubau des Mercedes-Museums in Stuttgart konzipi-erte Ulrike Brandi ein Tages- und Kunstlichtkonzept, das die Dual-ität von stark extrovertierten ‚Kollektionsräumen‘ und innen liegenden ‚Mythenräumen‘ auf-greift und weiterführt.

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Mr. Scott, was haben die Kultur, in der Sie aufge-wachsen sind, und Ihre Ausbildung Ihnen über das Thema Licht vermittelt?

Inwieweit hat sich Ihre Vorstellung von Licht im Laufe Ihrer Karriere verändert?

Sie haben oft in Theatern gearbeitet, die hinsicht-lich der Beleuchtung eigentlich ‚black boxes‘ sind. Was war Ihre größte Herausforderung, als Sie aus dem Dunkeln heraustraten und begannen, an Orten mit Umgebungs- und Tageslicht zu arbeiten?

Farben spielen eine große Rolle in Ihren Arbeiten, und doch sind die Fähigkeiten des Menschen, Far-ben zu unterscheiden, begrenzt. Kann diese Fähig-keit geschult oder verbessert werden, wenn man oft mit farbigem Licht arbeitet?

Ich bin im Zentrum von London aufgewachsen, und meine Gedanken über das Licht waren immer mit der sich verändernden Skyline der Stadt und den Far-ben ihres Himmels verbunden. Als ich ungefähr zehn Jahre alt war, nahm mich mein Vater, der beim Theater arbeitete, mit hinter die Bühne. Ich war von der Atmosphäre fasziniert, die in dieser illusionären Welt erschaff en wurde, und ich denke, mein Gespür für die beiden Welten des Realen und des Un-Realen haben sich in dieser Zeit entwickelt.

Meine frühe Arbeit im Theater am Royal Court und in den Riverside Studios hat meine Arbeitsweise und meinen Werdegang enorm beeinfl usst. Die Lichtge-stalter jener Zeit, wie etwa Andy Phillips oder Rory Dempster, arbeiteten viel mit der Intensität von Lampentemperaturen, um Farben zu erzeugen: Niedrige Temperaturen ergaben ein warmes, hohe Temperaturen ein eher kühles Licht. Nur wenige Farbfi lter wurden dabei benutzt. Die sparsame Verwendung von Farben und die gleichzeitige Vielzahl wahrgenommener Farbtöne waren ein Auslöser für meine weiteren Experimente mit diesem Thema. Die Regisseure und Lichtgestalter im Royal Court führten seinerzeit eine Tradition fort, die von George Devine über die Motleys bis zum großen Edward Gordon Craig Anfang des 20. Jahrhunderts reichte. Obwohl ich Craigs Arbeit nur aus alten Drucken kannte, konnte ich erkennen, dass er den Raum mit Licht formte. Die Werte von Licht, Raum und Form haben mich seitdem immer begleitet.

Meinen ersten Schritt habe ich bereits im Theater gemacht, als ich bei Frei-lichtveranstaltungen arbeitete. Die meisten Vorstellungen begannen bei An-bruch der Dunkelheit, und dies wurde als massives Problem betrachtet, da die Bühne in diesem Fall keine ‚black box‘ war und die Kontrolle der Beleuchtung dementsprechend schwer fi el. Ich habe schnell erkannt, dass die untergehende Sonne einen Teil der Lichtszenerie der Vorstellung bildete. Die Langsamkeit der ersten Ausblendung (des Sonnenuntergangs) und die Art und Weise, wie sich die Augen allmählich an die Dunkelheit und das künstliche Licht gewöhnten, habe ich sehr intensiv erfahren. Diese frühen Erfahrungen im Theater haben mir bei meinen Experimenten geholfen, die in Kunstwerke für Galerien und spä-ter auch für die Architektur und Landschaftsgestaltung mündeten.

Ich bin mir nicht sicher, ob die Farbwahrnehmung eines Menschen jemals mit der eines anderen übereinstimmt, obwohl wir natürlich Tabellen und Defi nitionen von spezifi schen Farben haben. Das ist eine Wissenschaft für sich.

Als Künstler arbeite ich mit Farben im Licht, die sich konstant verändern und die zudem von der Oberfl äche und Textur beeinfl usst werden, auf die das Licht fällt. Wenn sich das Umgebungslicht also konstant verändert, wird die Art, wie wir sehen, in mehrfacher Weise komplett transformiert. Die Ober-fl äche beeinfl usst die Farbe, die Textur beeinfl usst die Farbe und das Umge-bungslicht beeinfl usst natürlich die Arbeit im Ganzen. Ich habe gelernt, dieses sich ändernde Umgebungslicht zu akzeptieren, so dass es meinen sich ständig verändernden Arbeiten eine neue Qualität verleiht. Meine Arbeiten werden nie mehrmals auf die exakt gleiche Weise wahrgenommen. In sich selbst ver-ändern sie sich nur innerhalb vorbestimmter Rahmenbedingungen, aber sie werden in einem sich stets verändernden Umfeld betrachtet. Ich gebe die Kon-trolle ab und lasse diese Veränderung Teil der Arbeit werden.

Steven Scott, Jahrgang 1955, lebt und arbeitet in Kopenhagen. Er be-gann seine Karriere als Lichtgestal-ter für Theaterbühnen in ganz Europa. Seit 1997 stellt er seine Arbeiten regelmäßig in europäischen Galer-ien aus. Steven Scott wird von der Galleri Weinberger in Kopenhagen und der Galerie König in Frankfurt

vertreten. Seine Lichtkunstwerke wurden in öff entliche Sammlungen in Österreich, Dänemark, Deutsch-land, Holland und Großbritannien aufgenommen. 2006 erschien das Buch ‘Seventy Seven’ über seine Lichtinstallation in der Deloitte-Hauptverwaltung in Kopenhagen. www.stevenscott.dk

Steven Scott

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Sind Ihnen bei der Arbeit mit Farben die Ge-fühle und Stimmungen bewusst, die sie bei Men-schen hervorrufen? Gibt es eine intersubjektive Wahrnehmung von Farben und den Stimmungen, die sie hervorrufen?

Wie sollten Tageslicht und künstliches Licht in der Architektur interagieren? Gibt es Verwendung-szwecke, für die sich nur künstliches Licht oder nur Tageslicht eignen?

Inwieweit sehen Sie die Veränderlichkeit und Pe-riodizität von natürlichem Licht als ein Vorbild für die Arbeiten von Lichtkünstlern und Lichtchore-ografen wie Ihnen an?

Gefühle und Stimmungen sind von Person zu Person sehr unterschiedlich, und ich bin mir dieser individuellen Sichtweise sehr wohl bewusst. Ich glaube je-doch, dass die meisten Menschen nach einer Ausgeglichenheit und Harmonie streben, wie sie in weißem Licht gegeben ist; also nach einer Balance der Far-ben, die sich zu weißem Licht addieren. Wenn ich eine Farbmischung in den Rot/Grün-Teil des Spektrums verschiebe, vermisse ich die Farbe Blau. Diese persönliche Erfahrung ist der Grund dafür, dass die meisten meiner Arbeiten das volle Farbspektrum einbeziehen, kombiniert mit einer unmerklichen Ver-änderung der Farben. Ich möchte, dass das Auge diese Harmonie zwischen Farbe und Veränderung wahrnimmt.

Ganz allgemein glaube ich, dass die meisten Gebäude überbeleuchtet und die meisten städtischen Räume schlecht beleuchtet sind. Ich würde eine genauere Untersuchung darüber begrüßen, wie Tageslicht und direktes Sonnenlicht in einen Raum einfallen, um Tageslichtbedingungen zu schaff en, die im Einklang mit dem im Raum installierten Kunstlicht stehen. Die ‚zwei Lichter‘ müssen miteinander in Harmonie gebracht werden.

Tageslicht ist ein primärer Bestandteil meiner Arbeiten. Dieser Grundsatz gilt meiner Ansicht nach für die meisten Künstler, die mit Licht in der Architek-tur arbeiten. Das Verständnis von der Richtung, der Tageszeit, der Jahreszeit und des Einfallswinkels der Sonne auf eine Oberfl äche sind wichtige Elemente, um eine erfolgreiche Arbeit zu erschaff en, die vom natürlichen Licht der Um-gebung und dem direkten Sonnenlicht beeinfl usst werden. Eine erfolgreiche Arbeit bezieht immer das natürliche Licht mit ein.

Diese Seite und folgende Doppelseite: Steven Scott: Seventy-Seven, 2006Steven Scotts Lichtinstallation für die Deloitte-Hauptverwaltung in Kopenhagen setzt dem Wechsel des Tageslichts und der Bewegung der Menschen im Atrium eine eigene Dynamik entgegen. Breite schwarze Streifen rhythmisieren die Untersei-ten der Treppen und Stege, auf denen unterschiedlich farbige Flächen scheinbar ‚entlangwandern‘.

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Herr Bleyenberg, was haben die Kultur, in der Sie aufgewachsen sind, und Ihre Ausbildung Ihnen über Licht vermittelt?

Welche Eigenschaften des Lichts haben Sie im Laufe Ihrer eigenen Arbeit mit diesem Medium entdeckt?

Die Holographie benutzt einen zweidimensionalen Bildträger, wird aber dreidimensional wahrgenom-men. Wie unterscheidet sich die Arbeit mit diesem Medium für den Künstler einerseits von Fotografi e und Malerei und andererseits von der Skulptur?

Als Kind hinterließen Bilder, Kopien und Drucke christlicher Kunst im Haus eines Dorfpfarrers, bei dem ich gelegentlich die Ferien verbrachte, die er-sten bleibenden Eindrücke bei mir. Meine Entscheidung für die Malerei – und nicht, nach langjähriger Ausbildung, für eine Musikerlaufbahn – ist wahr-scheinlich auch auf meine christliche Erziehung in einem katholischen Um-feld zurückzuführen.

Die Malerei beschäftigte mich während meiner Ausbildung an der Akade-mie und später weitere 10 Jahre lang ausschließlich. Mit dem Interesse für die Malerei wurde ich auch mit dem Phänomen Licht konfrontiert. Licht ist ein be-deutendes Kraftfeld der Malerei. Licht, seine Manifestation in Farbe und sein Anteil an der Generierung von Räumen war der wesentliche Gegenstand mei-ner Untersuchungen, nachdem ich mich von den Konventionen der Perspek-tive und der Figuration befreit hatte. Anfangs waren vor allem die Vertreter des europäischen Expressionismus, etwa die Fauves und die Maler der ‚Brü-cke’, später amerikanische Farbfeldmaler wie Ellsworth Kelly, Kenneth Noland und Barnett Newman meine Vorbilder.

Der vorläufi g letzte Schritt meiner malerischen Entwicklung zu einer kon-zentrierten, abstrakten Licht- und Raumbehandlung war die Abkehr von der Malerei und der Wechsel zu neuen Medien wie Holographie und deren eben-falls auf Interferenz basierten Nebenformen.

Etwa 10 Jahre lang habe ich im Licht- und Laserlabor der Kunsthochschule für Medien in Köln experimentell die ästhetischen Qualitäten von Interferenz- und Lasermedien untersucht. Gleich zu Beginn meiner Labortätigkeit war ich gefesselt von der besonderen Lichtsituation bei der Aufnahme und von der besonderen Lichtqualität im Ergebnis des Hologramms. Sowohl das Laser-licht als auch die rekonstruierten Hologramme besaßen im Gegensatz zu den mir bis dahin bekannten Lichtquellen eine außerordentliche atmosphärische und emotionale Kraft. Der Aufbau einer holographischen Kamera war nicht nur Mittel zum Zweck, sondern erschien wie ein architektonisches Lichtsze-narium in Form eines Modells. Eine ganz neue Welt tat sich auf, und ich spürte die Nähe neuer Grenzen, die es zu überschreiten galt.

Während ich Erfahrungen mit der Holographie sammelte, begann ich die Bedeutung zu erahnen, die dieses Medium einmal auf der Bühne, für die me-diale Inszenierung und für die Architektur haben könnte. Die speziellen Ei-genschaften des gebrochenen Laserlichts und sein Gestalt generierendes Potenzial haben in mir relativ früh die Vision entstehen lassen, ‚mit Licht bauen zu wollen’, was Anfang der neunziger Jahre noch utopisch schien. Vieles ist dann auch vorerst modellhaft geblieben, weil die technischen Vorausset-zungen noch nicht geschaff en waren. Erst später hat mir die (ursprünglich für das Bauwesen entwickelte) Folientechnologie Wege aufgezeigt, wie die Visi-onen vom ‚Bauen mit Licht’ Wirklichkeit werden können.

Ihre Frage zielt auf das klassische dreidimensionale Abbildungsverfahren, das allerdings in der künstlerisch-gestalterischen Produktion nur eine untergeord-nete Rolle spielt. Ich bin der Überzeugung, dass es nicht die Aufgabe der Kunst ist, abzubilden, sondern Neues zu schaff en. Die Möglichkeiten technischer Me-dien für die künstlerische Gestaltung liegen generell nicht in der Simulation des schon Bekannten, sondern in der Schaff ung potenzieller Räume.

Doch die Holographie ist nicht nur ein Raum-, sondern auch ein Lichtme-dium. Ich habe mich zum Beispiel in den letzten Jahren mehr und mehr mit

Michael Bleyenberg studierte Kunst in Düsseldorf/Münster und Braun-schweig. Nach der Meisterklasse bei Norbert Thadeusz und dem Staatse-xamen arbeitete er in Ateliers in den USA und in Mexiko, bevor er sich 1985 in Köln niederließ. Seit 1992 widmet sich Michael Bleyenberg der Arbeit mit Holographie, Lasertechnik und elektronischen Medien. 1994 er-hielt er ein Diplom für audiovisuelle

Medien an der Kunsthochschule für Medien in Köln, wo er 1994-2002 auch als künstlerisch/wissenschaft-licher Mitarbeiter tätig war. Mi-chael Bleyenberg wurde mehrfach für seine holographischen Arbeiten ausgezeichnet und ist seit 2006 Mit-glied der Internationalen Kepes Soci-ety in Ungarn. http://holonet.khm.de/eyefi re/vita.html

Michael Bleyenberg

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Sie sprachen Ihre eigenen Laborversuche an. Wie sind Sie dabei vorgegangen?

In jüngerer Zeit haben Sie zunehmend ortspe-zifi sche Installationen, etwa für Kirchenräume, geschaff en. Welche Wirkungen beobachten Sie, wenn Ihre weder ‚greifbaren‘ noch klar be-grenzten holographischen Bilder mit dem scharf umrissenen architektonischen Raum in Wechsel-beziehung treten?

den Lichtqualitäten der Lasermedien beschäftigt. Dabei habe ich versucht, die Möglichkeiten der ‚engelgleichen’, immateriellen ‚Lichtwesen ohne Bodenhaf-tung’ auszuloten. Wie viele Künstler war und bin ich fasziniert von Schwerelo-sigkeit und der Aufhebung materieller Zwänge. Dies lässt sich einzigartig mit technischen Mitteln thematisieren. Charakteristisch für meine Arbeit mit den auf Interferenz basierenden Medien ist das Schweben der Räume. Deren Ele-mente durchdringen sich gegenseitig, sie schaff en eine permanente Transpa-renz, sichtbar nur durch die Farben des spektralen Lichts, die Zuordnungen in einer vexierbildartigen Unbestimmtheit belassen. Sie hinterlassen das unbe-stimmte Gefühl, nie alles gesehen zu haben. So werden sie zu Projektionsfl ä-chen möglicher Bedeutungen.

Das Verbindende zwischen Holographie und Malerei habe ich schon er-wähnt. Holographische Artefakte sind sowohl Skulptur als auch Architektur und insofern vollkommen eigenständig, als sie nicht nur visuell, sondern auch begriffl ich schwer fassbar sind. Dieser Umstand und das Fehlen der Zugehö-rigkeit zu einem kommunikativen System innerhalb der Gesellschaft erschwert die künstlerische Rezeption. Eine konservative, geisteswissenschaftlich ge-prägte Kunstkritik ist kaum gewillt oder in der Lage, die Erweiterung künstle-rischer Potenziale durch technische Entwicklung zu akzeptieren.

Im Labor habe ich die Schnittstellen der Lasermedien zu allen konventionellen und technischen Medien untersucht. Dabei erwies es sich damals als vorteil-haft, dass die Kreativität bei der Produktion holographischer Darstellungen schon mit dem Aufbau des Apparates, der holographischen Kamera, beginnt. Eine solche Kamera hatte nichts gemein mit einer technisch kompakten Fo-tokamera. Auf einem festen Tisch wurden Laser, Linsen, optische Geräte sowie ‚kannibalisierte’ Teile von Videoprojektoren und Fotokameras so ar-rangiert und von Computern gesteuert, dass sich meine Erwartungen rea-lisierten oder neue, aus kalkulierten Zufällen entstehende Optionen sichtbar wurden. Mit der Unterstützung von Technikern habe ich nahezu alle Möglich-keiten durchgespielt und durchspielen lassen, die sich aus meiner Erfahrung mit den konventionellen Medien anboten. Ergebnisse dieser Untersuchungen sind die Weiterentwicklung multimedialer Aufnahmeverfahren wie der holo-graphischen Stereographie – das sind mehrdimensionale Bildsequenzen nach Video-, Foto- oder Filmvorlagen –, oder die Weiterentwicklung historischer Vorläufer, etwa eine Lichtkinetik, die an die kinetische Objektkunst aus der Mitte des letzten Jahrhunderts anknüpft.

Mit meiner Fokussierung auf Kunst am und im Bau sowie auf realisierbare Projekte im öff entlichen Raum bediene ich mich heute hauptsächlich indus-trieller Produkte aus den Bereichen Licht-, Bau- und Fotoindustrie. Ich stehe in engem Kontakt mit Ingenieuren und modifi ziere die Materialien, die ich verwende, gemeinsam mit ihnen nach meinen Bedürfnissen. Viele der in mei-ner früheren Experimentierphase entwickelten Visionen und Vorstellungen scheinen mir mit den fortlaufend weiterentwickelten Materialien umsetz-bar geworden zu sein.

Zunächst einmal sind meine Installationen ungeachtet der oben erwähnten christlichen Einfl üsse nicht als Beitrag zur Sakralkunst zu verstehen, sondern als Beitrag weltlicher Kunst, die mit kirchlichen Inhalten, liturgischen und archi-tektonischen Positionen in einen Dialog tritt. Andererseits ist das Licht natür-lich ein zentrales Gottessymbol, nicht nur in den christlichen Religionen. Nichts vermag die göttliche Selbstoff enbarung, die Erscheinung Gottes, besser ins Bild zu setzen als eine Darstellung, bei der Licht als wesentliches Mittel gewählt wurde, sei es in der Malerei oder in Form einer technischen Applikation.

Grundsätzlich gibt es zwei Möglichkeiten des Umgangs mit ortspezifi schen Installationen. Die (museale) ‚White Cube’- oder ‚Black Box’-Situation blendet den Umgebungsraum zugunsten des Objekts fast vollständig aus. Die Wahr-nehmung konzentriert sich auf das Objekt.

Ich bevorzuge dagegen sowohl in Räumen als auch im Außenbereich die zweite Möglichkeit, die Integration des Objekts in den Umgebungsraum. Ge-staltetes Licht braucht nicht notwendigerweise und ausschließlich Dunkelheit. In vielen meiner Arbeiten überlagert die scheinbar nicht greifbare Lichtappli-kation die materiell manifestierte Umgebung oder erscheint dieser wie hinter-legt. Konkret erfahrbarer Ort und prismatisches Lichtphänomen durchdringen sich und gehen einen dynamischen Dialog ein, der von den wechselnden Licht-verhältnissen abhängt.

Bei der ‚Black Box’-Situation beruht der Lichteff ekt auf der (statischen) Dialektik von Licht und Dunkelheit.

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Ein interessanter Aspekt an der Holographie ist, dass der materielle Bildträger und die Position des (virtuellen) Abbildes im Raum nicht identisch sind. Wie gehen Sie mit diesem Phänomen in Ihren Ar-beiten um?

Wenn Licht die menschliche Haut berührt, erzeugt es auf den ersten Blick einen intensiven, aber ober-fl ächlichen ästhetischen Eff ekt. Doch die Auswir-kungen dieser ‚Berührung’ gehen weit tiefer, unter die Oberfl äche. Sehen Sie hier Parallelen zu Ihrer eigenen Arbeit?

Neue Qualitäten des Lichts ermöglichen aber auch dynamischere Wirkungs-prozesse. Sie sind Ergebnis fortschreitender technischer Entwicklungen im Bereich der Photonik und in der Bautechnologie. Beispiele sind prismatische Folien und spezielle, auch von mir genutzte Projektionsfolien, die das Umge-bungslicht ausblenden und nur auf das künstliche Projektionslicht reagieren. Für den Einsatz meiner Arbeit mit diesen Medien in der Architektur bedeu-tet dies, dass das Licht oder die Lichtkunst mit der Architektur interferiert. Sie spielt mit den Oberfl ächen und den Strukturen, unterstützt Transparenz oder konterkariert und unterminiert Masse und Bauvolumen. Die Wahrneh-mung von Stabilität wird scheinbar, und nur optisch, in Frage gestellt, aber letztlich dadurch intensiviert.

Gerade in der Kombination mit Glasfl ächen, Fenstern und Fassaden ent-falten die von mir genutzten Folien ihre Wirkung. Daneben ermöglichen sie die gleichzeitige ästhetische Formung des einfallenden Lichts und die optisch-äs-thetische Signalwirkung nach außen. Ein Beispiel hierfür ist mein im Jahr 2000 fertig gestelltes holographisches Wandbild ‚Augenfeuer/Eyefi re’ bei der Deut-schen Forschungsgemeinschaft (DFG) in Bonn. Im lichtdurchfl uteten Sitzungs-saal des Hauptgebäudes, das in den 50er-Jahren von Sep Ruf entworfen wurde, werden weitreichende Entscheidungen für die Zukunft getroff en. Mit dem Anbau eines Ergänzungsgebäudes war der freie Blick von dort auf die Rhein-aue und das gegenüberliegende Siebengebirge von einer 13 x 5 m großen Be-tonwand zugestellt. Die Idee, diesen Ausblick virtuell mit Hilfe der Holographie wieder herzustellen, war nur mit prismatischen Folien möglich, die, auf Spiegel montiert, die Wandfl äche bedecken. Der große ‚Wandspiegel’ hat zwei Funk-tionen: einerseits die Rekonstruktion des Hologramms (durch Transmission und Spiegelung des von vorn einfallenden Rekonstruktionslichts) und anderer-seits die optische Öff nung des Raums. Das Hologramm scheint zwischen den Gebäuden zu schweben. Darüber hinaus wird es in den Fensterfronten des ge-genüberliegenden Sitzungssaales gespiegelt, wobei sich durch die veränderte Wahrnehmungsgeometrie des Betrachters Form und Farbe verändern. Das Ho-logramm und sein Spiegelbild überschreiten die Grenzen des reinen Wandbildes zu einem komplexen Lichtkorpus, der das gesamte Gebäude defi niert.

Bildträger und Abbild zusammen sind ‚das Hologramm’. Das Abbild erscheint aber an einer anderen Stelle im Raum als der Bildträger. Dies ist sicherlich ein immer wieder spektakulärer Anblick, besonders bei einer Rekonstruktion mit Laserlicht. Dies ist auch das Phänomen, das zu vielen fantastischen, aber unre-alistischen Spekulationen über die Holographie geführt hat. Wenn es gelänge, die technischen Voraussetzungen in der Laborsituation auch für größere Pro-duktionen zu gewährleisten, wären große holographische Lichtinstallationen als Applikation in und um die Architektur denkbar, Räume, wie sie zum Beispiel Stanislaw Lem im Roman ‚Transfer‘ beschreibt oder M. C. Escher in seinen ‚un-möglichen Bildern‘ und Metamorphosen. Eigentlich ist es jetzt schon möglich, ähnliche Eff ekte aus Kombinationen mit Spiegeln, optischen Linsen und Projektionen zu verwirklichen. Aus meiner Pra-xis weiß ich aber, wie schwer es ist, Auftraggeber davon zu überzeugen. Mehr-mals sind Entwürfe abgelehnt worden mit der Begründung, man könne sich nicht vorstellen, dass mein Vorschlag realisierbar sei.

Natürlich ist für den bildenden Künstler die visuelle Wirkung konstitutiv, sie ist aber bestimmt nicht oberfl ächlich. Die Wirkung des Lichts auf die Psy-che und seine Bedeutung für die Gesundheit sind mir bewusst. All meine er-wähnten Versuche mit und über Licht beschränkten sich allerdings auf seine Wirkung auf unsere Wahrnehmung. Wir suchen die Sonne und sehnen uns da-nach, wenn wir länger darauf verzichten müssen. Wir fühlen uns wohl im Licht. Auch ich möchte die Menschen in ein „angenehmes Licht tauchen“, wobei der Wohlfühleff ekt sich nicht rein emotional einstellt, sondern auch als ein Ergeb-nis von geistiger, meditativer Auseinandersetzung.

Mein Objekt ‚Spero Lucem’ wurde vom Bildungswerk der Erzdiözese Köln in Auftrag gegeben und der Kirchengemeinde St. Agnes in Köln als Dauerleih-gabe überlassen. Als Aufl age erklärt sich die Gemeinde bereit, die Arbeit an andere Kirchen des Erzbistums auszuleihen. ‚Spero Lucem’ ist dann Anlass für zahlreiche unterschiedliche Bildungsaktivitäten, Seminare, Meditationen, Gesprächsgruppen etc., an denen ich auch gelegentlich beteiligt bin. Die mei-stens positiven bis euphorischen Reaktionen auf die Lichtskulptur erinnern mich daran, dass das eigentliche, idealistische Ziel von Bildung der Zustand von Glück ist. In meinem Fall hat das Licht, beziehungsweise die Art, wie ich es gestalte und präsentiere, möglicherweise seinen Anteil daran.

Gegenüber: Michael Bleyenberg: Spero Lucem, 2002/03Statt mit Farbe auf Leinwand ‚malte‘ Michael Bleyenberg dieses Bildnis eines Kreuzes mit Licht. Anders als klassische Altarbilder greift ‚Spero Lucem‘ – deutsch: ‚ich erhoff e Licht‘

– aktiv in den Raum ein. Wie es gese-hen wird, hängt entscheidend vom Standpunkt des Betrachters ab.

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1. Aziz + Cucher: Interior #2, 19992. Michael Bleyenberg: New Burling-ton Flare/Three Prisms, 20063. Gary Schneider: Helen, 20004. Thea Bjerg: Zig Zag Scarf, 20065. Werner Sobek Architekten + Ingenieure: Stadionüberdachung in Hamburg-Rothenbaum6. Kengo Kuma & Associates: Museum für Hiroshige Ando, Batou, 20007. Kengo Kuma & Associates: Chokkura Plaza, Takanezawa, 2005

8. David Maisel: The Lake Project 9831-2, 20029. Herzog & de Meuron: Elbphilharmonie, Hamburg, 2007– (Konzertsaal)10. Baumschlager Eberle: Ökohauptschule in Mäder, 199811. Herzog & de Meuron: Elbphilharmonie, Hamburg, 2007– (Gesamtansicht)12. Hild und K. Architekten:Fassadenrenovierung in Berlin, 1999

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13/17. ILEK/Universität Stuttgart, Markus Holzbach: Pavillion ‚paul’, Stuttgart, 200414. NOX / Q.S. Serafi jn: D-tower, Doetinchem, 200415. Herzog & de Meuron: Forumsgebäude in Barcelona, 200416. Steven Scott: Seventy-Seven, 2006

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Häuser der Zukunft Wenn neue Entwicklungen verlangt werden, könnte man sich fragen, warum.

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Jedes Foto ist der Beginn einer Geschichte, die erste Einstellung eines Films.

Wim Wenders, Regisseur.

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7575Foto: Nuri Bilge Ceylan, Regisseur und Fotografwww.nuribilgeceylan.com

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ABBILD UND REALITÄT

Erich Kettelhut: Entwurfsskizze zur Filmkulisse von ‚Metropolis‘‘In dramatischen Licht- und Schatteneff ekten zeigt diese Entwurfszeichnung die hypertro-phe Architektur von Fritz Langs Filmstadt ‚Metropolis‘.

REFLEKTIONEN Neue Perspektiven:Ideen abseits der Alltagsarchitektur

Die von einer Kommandozen-trale im ‚Neuen Turm Babel‘ aus gesteuerte Stadt kann als pessimistischer Gegenentwurf zu den fast zeitgleichen, ratio-nalen Großstadtvisionen von Le Corbusier und anderen Archi-tekten verstanden werden.

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Von Ivan Redi.

Architekturzeichnungen sind ein vielseitiges Medium: Sie können das Abbild künftiger Realitäten sein oder bloße Denkfi guren, sie können zum Radikalumbau der Welt aufrufen oder nur zum Kauf eines Eigenheims. In jedem Fall aber werden sie auch in der Architektur des 21. Jahrhunderts konkurrenzlos bleiben. Denn, so Ivan Redi, Zeichnungen helfen uns, unsere Vorstellungen bezüglich der beiden Phänomene zu überprüfen, für die Architekten künftig einzig und allein noch zuständig sein werden: des Raumes und des Lichts.

Es ist dunkel. Nichts ist zu sehen. Plötzlich geht das Licht an, ein Lichtstrahl, und wir erkennen den Schauspieler auf der Bühne

– es ist König Lear. Wenn Goethe sagt: „Ein alter Mann ist stets ein König Lear“, denke ich, dass die architektonische Zeichnung heute stets ein König Lear ist. Lears patriarchalisch e Herrschaft führt ihn zur Ungerechtigkeit gegenüber seiner jüngsten Toch-ter und letztlich in den Untergang. Cordelia sagte ihm lediglich, dass sie ihn genau so liebe, wie eine Tochter ihren Vater zu lie-ben hat – nicht mehr und nicht weniger.

Die Zeichnung herrscht, auch im 21. Jahrhundert, in der Architektur ohne Konkurrenz. Wenn wir ins Th eater gehen, las-sen wir uns auf einen Zauber ein. Wir stimmen einer Art Ver trag zu, uns auf Imaginationen einzulassen. Jedoch bleiben wir im Dunklen sitzen und nehmen die Vorstellung passiv wahr. Der konstruierte Blick der Zentralperspektive ist der einzige, der uns über diese ‚Realität‘ informiert. In der Realität ist das Eindrin-gen von Körpern in eine kontrollierte architektonische Ordnung dagegen unvermeidlich (so ist zum Beispiel der Eintritt in das Gebäude ein Akt, der die Balance präzise geordneter Architektur stört). Hier ist Architektur ein Organismus, der in ständiger Inter-aktion mit dem Nutzer steht, dessen Körper unentwegt gegen die bestehenden architektonischen Regeln rebelliert. Dieses mensch-liche Verhalten können wir in den seltensten Fällen erfassen oder voraussehen. Die Funktionsabläufe ergeben zwar einen Hand-lungsraum, aber vieles ist weder planbar noch durch die klas-sische architektonische Zeichnung auszudrücken.

Es ist absurd, ein zweidimensionales Medium zu verwenden, um die mehrdimensionale Welt inklusive vorher unbestimmbarer Ereignisse zu beschreiben und zu versuchen, darin irgendeinen Wahrheitsgehalt zu erkennen. Das Bild kann sich – um Wittgen-stein zu paraphrasieren – nicht außerhalb seiner Darstellungsform stellen. Aus dem Bild allein ist nicht zu erkennen, ob es wahr oder falsch ist. „Ein Sachverhalt ist denkbar“ heißt: Wir können uns ein Bild von ihm machen. Was denkbar ist, ist auch möglich. Wir können nichts Unlogisches denken, weil wir sonst unlogisch denken müssten. Trotzdem gibt es kein a priori wahres Bild. Das Bild ist ein Modell der Wirklichkeit, mehr nicht. Es kommu-niziert über eine Möglichkeit, es regt die Imagination an, und wir denken uns: „Ah, so könnte es aussehen.“ Genau und aus-schließlich in diesem Kontext dürfen wir uns für die Zeichnung interessieren, nicht mehr und nicht weniger.

‚carceri‘ und die folgen: piranesis langer schatten

Im theoretischen Denken von Piranesi, welches keinesfalls sta-tisch war, erkennt der Künstler die Dualität aufklärerischen Denkens, die sich aus dem Konfl ikt zwischen Rationalität und Empfi ndung ergibt, als Kriterien an, anhand derer er die Werke der Vergangenheit und der Gegenwart beurteilt und als ‚vero‘ oder ‚falso‘ (wahr oder falsch) bezeichnet.

Giovanni Battista Piranesi zählt zu den bedeutendsten Künstlern auf dem Gebiet der Radierung und der Vedute. Von seinen Werken sind vor allem die Carceri (Entwürfe von Ker-kern) und Campo Marzio (die Metapher des Universums, die sich in den Carceri bereits ankündigte) bis heute von Bedeutung. Unter anderem nahmen der Pionier des modernen Films, Ser-gej Eisenstein, der bildende Künstler Peter Weiss, die Schrift-steller Hans Magnus Enzensberger und Erich Fried, aber auch Comic-Autoren wie François Schuiten oder die zeitgenössischen Architekten Lebbeus Woods und Daniel Libeskind die phanta-stische Welt der Carceri zum Ausgangspunkt für eigene Werke. Es gibt kaum einen Architekturinteressierten, der nicht auf Piranesi gestoßen ist. Unabhängig von emotionalen Reakti-onen, die dabei entstehen können, geht es hier um die syste-matische Kritik des Raumkonzeptes mit den Instrumenten visueller Kommunikation. Eisenstein fragt in seinem Text, ob man bei Piranesi sogar chiaroscuro entdecken kann, was formal durch die Einschränkungen der Radierungstechnik nicht mög-lich sei. Möglich wird es jedoch, wenn man sich im Sinne der räumlichen Komposition, des Spiels mit Licht und Schatten und der Erzeugung einer fesselnden Atmosphäre mit Pirane-sis Werk auseinandersetzt. Seine Zeichnungen sind wie Büh-nenbilder, die eine akrobatische Performance liefern und den Betrachter in das virtuose Raumerlebnis hineinsaugen. Auf der anderen Seite brachte die seltsame Kombination von Opulenz und Strenge in Eisensteins Konzeption Bilder von ungeheurer Wirkung und bizarrer Schönheit hervor – die Spiegelung des Geschehens an Gemälden und Wandfresken verleiht seinem Film eine mythische Dimension.

Die Filmwelt war immer eine willkommene Gelegenheit für Architekten, sich phantasievoll ‚auszutoben‘ und Illusionen zu realisieren. Mit Manifesten und utopischen Zeichnungen wur-den revolutionäre neue Konzepte ausgearbeitet und präsentiert,

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die frei von wirtschaftlichen und strukturellen Beschränkungen waren, wie sie Bauherren und Baubehörden sonst auferlegen. Die ‚expressionistischen‘ Filme zum Beispiel waren meist reine Studioproduktionen mit raffi nierten Beleuchtungseff ekten und aufwändigen Filmdekorationen, die alles Zufällige ausschlos-sen und nur das psychisch Bedeutsame zuließen. Es wurde auf Tages- und Sonnenlicht verzichtet, um jede Natürlichkeit oder naturähnlichen Zustand auszuschalten. Selbst wo sie zum Teil realen Schauplätzen entstammte, hatte die Architektur mehr als bloße Kulisse zu sein. Unter der expressionistischen Gestal-tung von Licht, Bildausschnitt und Motiv zeigten sich sonst unscheinbare Funktionsbauten und lieblich-romantische Rui-nen als Orte kommenden Unheils. Sie waren ‚Stimmungsar-chitekturen‘, überspitzt durch die magische ‚sfumato‘-Lichtregie. Die Metaphorik des Dekors wurde teilweise so weit reduziert, dass die Dynamik und Lichtmodellierung der Bildkomposi-tion durchgängig auf dem Prinzip von Expansion und Kontrak-tion heller und dunkler Valeurs aufbaute und man tatsächlich von ‚abstrakter‘ Architektur sprechen kann. Der Betrachter wird durch Dekor und Licht in einen Traum ‚eingestimmt‘. Das Licht hat Vorrang, die Dinge haben keine eigenen For-men, erst das Licht gibt sie ihnen, indem es sie modelliert. Das Licht allein existiert, der Gegenstand tritt als Lichtquelle oder Spiegel desto voller in Erscheinung, je mehr er sich mit dem Licht identifi ziert.

Auch Bruno Taut war von der Auseinandersetzung mit dem Film angetan, besonders von seiner Eigenschaft als Kollektiv-kunstwerk. Er wollte seine phantastischen Pläne wenigstens auf Zelluloid ausleben, als Ersatz für ihre materielle Undurchführ-barkeit in der Realität. Das Kino bot die Möglichkeit, Alltag und Phantasie, Wirklichkeit und Utopie zusammenzuführen, wenn auch nur für kurze Zeit.

Bei der architektonischen Stadtsymphonie ‚Der Weltbau-meister‘ wurde ganz auf Handlung und Darsteller verzichtet und lediglich ‚der Wandel und das Vergehen phantastischer Archi-tekturformen als Th ema‘ ins Auge gefasst. Sein Filmszenario enthielt über dreißig Kohlezeichnungen mit breiten Graphit-zügen und drama tischen Lichteff ekten auf der schwarz-weiß kontrastierenden Leinwand. Wenn auch der epische ‚Weltbau-meister‘ unrealisiert blieb, war Tauts Engagement für den Film doch sehr stark und sein Einfl uss von nachhaltiger Wirkung.

Coop Himmelb(l)au und der Komponist Jens-Peter Ostendorf haben dieses Stück 1993 im Rahmen des Steirischen Herbsts, eines Festivals in Graz, als Oper realisiert.

Zeitgleich, aber ergebnisreicher war die fi lmische Beschäf-tigung Hans Poelzigs. Die Filmarchitektur für Wegeners Der Golem, wie er in die Welt kam war ein ‚kunstgewerblicher‘ Ausdruck mit einigen wirksamen Gruseleff ekten, der die Mas-sen mehr anzog als die esoterischen Versuche anderer. Auch deckte sich Poelzigs eruptiver mittelalterlicher Alptraum kei-nesfalls mit der eher naiven Gotik-Utopie der gralsuchenden Romantiker um Taut, die einer Kristallmanie von Licht domen, Kristall palästen und kristallenen Weltgebäuden huldigten. Poelzigs Architekturmassen, erdig und expressionistisch ver-zerrt, waren dem genau entgegengesetzt: eine Art Anti-Utopie. Er versuchte nicht nur den Habitus eines expressionistischen Bildes auf ein Bauwerk zu übertragen, sondern brachte auch das Innenleben der Architektur eines gotischen Traumes zur Darstellung.

In diesem Zusammenhang ist auch Fritz Langs ‚Metropolis‘ zu erwähnen, der auf subtilste Weise das Umkippen der Super-stadt zum Wolkenkratzergefängnis zeigt und die kapitalistische Skyline durch die Konfrontation der inneren Widersprüche als neue Unterdrückungsmaschine entlarvt. Bezeichnend dabei ist die Spaltung der architektonischen Formen in die jeweilige soziale Klassensprache, denn die Zukunftsstadt ‚oben‘ ist aus-schließlich für die Reichen gemacht. Darunter liegt die Stadt des Pöbels, und zuunterst befi ndet sich die unterirdische ‚Pro-duktionsstadt‘, die den Reichtum der ‚Oberstadt‘ garantiert. Die moderne Technik erscheint hier als Instrument zur Herr-schaft und Unterdrückung.

Die Zeichensprache ist durchaus hybrid, fast ambivalent, zum einen ist sie verwandt mit den klassizistischen Reprä-sentationsbauten, zum anderen weist sie auf die megalomane Städtebau-Utopie des italienischen Futuristen Antonio Sant Elia (Citta nuova, 1914), während die Kubenhäuser der Schlafstadt mit ihren gleichförmigen Fensteröff nungen und purifi zierten prismatischen Formen die Elemente einer ‚Neuen Sachlichkeit‘ evozieren. Es scheint, als habe Lang neben den menschlichen Figuren auch die architektonische Form einer diabolischen Dia-lektik zwischen Gut und Böse unterziehen wollen.

Gegenüber: Giovanni Battista Piranesi: Carceri d’invenzione, 1745Blatt VI: Das rauchende Feuer / Il fuoco fumantePiranesis Radierungen der

‚Carceri‘ haben bis heute Scharen von Künstlern und Architekten inspiriert. Ihre eindrucksvolle

Wirkung ist indes vermutlich Piranesis Verleger Bouchard zu verdanken: Dieser ließ die 16 ursprünglich eher hell ange-legten Platten 1761 nachbear-beiten, um ihre dramatische Wirkung durch stärkere Kontraste zu erhöhen.

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„Piranesis Zeichnungen sind wie Bühnenbilder, die eine akrobatische Performance liefern und den Betrachter in das virtuose Raumerlebnis hineinsaugen.”

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zeigen, andeuten, weglassen: der informationsgehalt von zeichnungen

Um besser zu erklären, was ich hier meine, werde ich als verglei-chendes Beispiel die Entwurfszeichnung von Gottfried Böhm für die Kirche in Neviges und den Comic ‚Silent Night‘ aus der Serie ‚Sin City‘ von Frank Miller heranziehen. Beide sind Schwarz-Weiß-Zeichnungen mit extremen Kontrasten, wobei bei Mil-ler Graustufen praktisch nicht vorhanden sind. Man erkennt lediglich die Konturen, und diese sind reduziert auf das Mini-mum. Die Bildaussage baut auf der Dichte an Information auf. Das Bild regt zur Imagination an, man kann sich die Grund-züge des Raums vorstellen, und der Rest ist Interpretation. In der Kunst oder beim Comic funktioniert diese Strategie pro-blemlos. In der Architektur wird es dagegen schwieriger, denn es handelt sich um eine persönliche Zeichnung autobiografi schen Charakters, die sich schwer beurteilen lässt, weil sie lediglich die künstlerische Absicht zeigt. Selbst die ‚räumlichen‘ plakativen Darstellungen von Archigram, die der Pop- und Comic-Kul-tur sehr nahe waren, geben keine weiteren Auskünfte über den simulierten Raum. Die 2D-Collagen, für die sich der Betrach-ter spontan oder willkürlich (es fehlen die Entscheidungspa-rameter) begeistern kann oder eben nicht, bleiben dem Papier verhaftet. Man kann diese Zeichnungen nur als Konzeptdia-gramme verstehen.

Setzt man jedoch voraus, dass man mit dem Auge auch den-ken kann, und begreift man die architektonische Zeichnung als Medium, mit dem man zukünftige Umgebungen kommunizie-ren und simulieren und auch eine Idee prüfen kann, bevor sie rea-lisiert wird, ist das zu wenig. Abgesehen von ästhetischen (Skizzen und Zeichnungen) und funktionalen Überlegungen (ein tech-nischer Plan, Grundrisse, Schnitte und Ansichten) müssen wir wissen, was unser Tun tatsächlich anstellt. Aber wird da nicht zu viel von der Zeichnung verlangt? Wieder auf den Vergleich mit König Lear zurückkommend, muss man vielleicht erkennen, dass wir dieses Medium nur so lieben können, wie ein Entwer-fer sein Werkzeug zu lieben hat – nicht mehr und nicht weni-ger –, und dass wir die Grenzen dieser Ausdrucksweise bereits erreicht haben und uns fragen müssen, welche neuen Instru-mente im 21. Jahrhundert notwendig sind, um die Welt von morgen entwerfen zu können. Dies ist eine inhaltlich konzep-Z

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Gegenüber (oben):Gottfried Böhm: Wallfahrtskirche in Neviges, 1965Flächenhaft und stark vereinfacht, aber deutlich erkennbar gibt Gott-fried Böhm hier die Ku batur des Kirchenbaus mit seinem expres-siven Faltwerkdach wieder. Starke Licht- und Schattenkontraste sind charakteristisch für die Kohlezeichnungen des Pritzker-Preisträgers von 1986.

Oben & gegenüber (unten):Frank Miller: Sin City, 1991Wie Böhm gelingt es auch Frank Miller, ausschließlich mit weißen und schwarzen Flächen Raum, Volumen und Strukturen anzu-deuten. Die mitunter düsteren Zeichnungen entsprechen dem Inhalt der Comics, die in der kriminellen Unterwelt der Groß-städte spielen.

tionelle und nicht eine stilistische Frage. Was würde ein Piranesi heute tun, wenn er die neuen technologischen Werkzeuge zur Verfügung hätte?

In der Dokumentation von Sydney Pollack über Frank Gehry spricht Gehry in einer Szene über sein eigenes Haus und die schräge Überkopfverglasung in der Küche. Das Glas refl ektiert immer etwas anderes, einmal die vorbeifahrenden Autos, dann wieder Bäume, Wolken, Sternenhimmel, abhängig von der Tages- und Jahreszeit, dem Wetter oder ganz einfach abhängig davon, ob es geputzt wurde oder nicht. Besonders spannend fi ndet Gehry es am Abend in einer hellen Nacht, wenn der Mond plötzlich an der ‚falschen‘ Stelle auftaucht. Ein wenig später ist die Mond-refl exion woanders, und so weiter, bis sich niemand mehr aus-kennt, was ‚richtig‘ oder ‚falsch‘ ist.

Die Refl exionen sind ein perfektes Beispiel für die Entortung: Dinge erscheinen in einer gebrochenen Form dort, wo sie eigent-lich nicht sein sollten. Wenn es sich um Tageslicht handelt, ist dieses Spiel noch unvorhersehbarer. Refl exionen sind Entropien, die kommen und plötzlich wieder verschwinden, unerwartet, denn sie selbst hängen von nicht-linearen schwer begreifbaren Systemen ab, wie zum Beispiel dem Wetter oder von der Struk-tur der Materialoberfl ächen und Texturen. Letztere können auf Grund der Ungenauigkeit bei der Ausführung oder später der Abnutzung praktisch nie regelmäßig sein. Selbst die Fotografi e tut sich hier schwer, denn der ‚richtige‘ Blick hängt vom richtigen Moment ab, und sobald der Auslöser gedrückt wird, wird auch das Objektiv zum Subjektiv, und die Authentizität geht verlo-ren. Wenn man zusätzlich die Möglichkeiten eines Fotolabors oder der digitalen Bildbearbeitung bedenkt, ist eine Fotografi e im Wesentlichen ein konstruierter Blick und konstruierte Schat-ten, kommuniziert durch für uns von jemand anderem genau bestimmte Ausschnitte.

licht, raum und imagination: die zeichnung als modell

Mit Licht Architektur zu erzeugen versucht der amerikanische Architekt Steven Holl, dessen Projekt für die St.-Ignatius-Kapelle in Seattle als gelungenes Beispiel für den Umgang mit Tages-licht, Materialien und Texturen sowie refl ektierenden Oberfl ä-chen gilt. Das konzeptionelle Leitbild des Bauwerks sind sieben

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Gefäße mit Licht in einer Schachtel aus Stein. Die Metapher des Lichtes wird durch unterschiedliche Volumina geformt – ausgehend vom Dach, dessen Unregelmäßigkeit unterschied-liche Lichtqualitäten erzeugt, vereint in einer gemeinsamen Zeremonie. Die Frage ist nur, ob die konzeptionelle Wasserfar-benzeichnung Holls in der Lage ist, dem komplexen Spiel zwi-schen Raum, Licht, Schatten und Refl exion tatsächlich gerecht zu werden, und ob wir auf andere (sogar messbare oder simu-lierbare) Erfahrungen vertrauen können als auf die persönliche und künstlerische.

Meiner Meinung nach werden wir Architekten in Zukunft nur noch für zwei Dinge zuständig sein: den Raum und das Licht, vor allem das Tageslicht. Darin besteht konkurrenzlos unsere ganze Kompetenz. Ich schreibe hier bewusst ein wenig polemisch, denn die genaue Erklärung würde den Rahmen dieses Textes sprengen. Dabei werden uns neue Computertechnologie und Rendering-Verfahren von Nutzen sein. Allerdings ist die Lichtsimulation nicht nur Erzeugung eines wissenschaftlichen Bildes, sondern hat auch einen künstlerischen Anspruch. Abge-sehen von den Informationen technischer Natur lässt sich mit diesem Werkzeug auch eine entwerferische Absicht überprüfen und dem Betrachter verdeutlichen. Es wäre ein Irrtum zu glau-ben, dass die Renderings nur Oberfl ächenmalerei seien. Bilder, Images und Zeichnungen bilden Wirklichkeit nicht einfach ab, sondern sind das Ergebnis eines simulierenden Prozesses. Dieses Bild ist kein Portrait, sondern ein Modell, beleuchtet mit vir-tuellen Lichtquellen, wobei Parameter durch komplexe Verfah-ren determiniert sind.

Die Bilder werden immer interpretiert und unterschiedlich gelesen, und sehr selten denkt man mit den Augen. Viel öfter sucht man nach einer Empfi ndung und Stimmung, also einer völlig subjektiven Betrachtungsweise. Das ist eine Herausforde-rung für die Bilder, die auch einen wissenschaftlichen Charak-ter haben sollen. Wissenschaftliche Bilder sind Produkte eines langwierigen und komplexen Herstellungs- und Selektionspro-zesses mit vielen Verarbeitungsschritten, Entscheidungen und Kontingenzen. So können sie sich irgendwann von ihrem Her-stellungskontext lösen und eine eigene Realität gewinnen. Der Eindruck, auf einen objektiven Zustand der realen Welt gesto-ßen zu sein, stellt sich erst dann ein, wenn die experimentell erzeugten Phänomene ‚Sinn‘ machen, das heißt, wenn es gelun-

gen ist, zwischen den theoretischen Erwartungen, den beobach-teten Ereignissen und dem Verständnis der Funktionsweise der verwendeten Rechen- und Auswertungsverfahren eine Über-einstimmung herzustellen.

Die Bilder sind Werkzeuge, mit denen gearbeitet wird. Um ihren Zweck zu erfüllen, sollten sie als Arbeitsinstrumente ver-standen werden, auch dann, wenn es nicht nur um pragmatische und objektive Qualitäten der Räume geht. Man sollte sie nicht als eine ‚Beilage‘ verstehen, die dazu dient, ein Projekt zu erklä-ren oder gar zu verschönern. Im Prozess der computerbasierten Bildgenerierung erweist sich die Interaktivität als grundlegendes Mittel, um Entwürfe besser prüfen und verbessern zu können, nicht bloß, um sie darzustellen. Der Bildergebrauch erweist sich hier als Arbeitsprozess, in den der Computer und das mensch-liche Auge integriert sind und der sich, aufgrund bildtechnolo-gischer Entwicklungen, auf einen Raum visueller Virtualität hinbewegt. Wenn die Science-fi ction-Vision ‚Virtual Light‘ von William Gibson wahr wird, steuern wir in eine Zukunft, in der die optische Sensation direkt im Auge entsteht, ohne Photonen als Lichtträger.

‚Imagining‘ (die Vorstellung) und ‚Imaging‘ (die Erzeugung von Bildern) fallen dann in eins, aber das endgültige Bild wird sich weiter entwickeln, wenn wir lernen, mit dem Auge zu ver-stehen, und wenn wir die Bilder nicht lesen, um sie zu deuten, sondern um reale oder virtuelle Umgebungen zu simulieren und sie auf ihre Qualitäten zu überprüfen. Dabei ist es gleichgültig, ob es sich um logisch greifbare oder um sensuelle Eigenschaften handelt. Das bedeutet, dass die neue Zeichnung nicht nur der exakten, technischen und fotorealistischen Darstellung der erd-achten zukünftigen Welten dient, sondern auch die künstlerisch optionale Erfassung der räumlichen Wahrnehmung voraussa-gen kann.

Ivan Redi leitet gemeinsam mit Andrea Redi das Büro ORTLOS (www.ortlos.com) für innovative Architektur und Interface-Design. Er studierte Architektur bei Günter Domenig an der Technischen Universität Graz und arbeitete danach unter anderem bei Morphosis in Santa Monica/USA. Derzeit arbeitet Ivan Redi an seiner Dissertation über neue Entwurfsme-thoden in der Architektur und lehrt architektonisches Entwerfen an der TU Graz. Daneben ist er Mitherausgeber des Buchs ‚ORTLOS: Architecture of the NetWORKS‘ (erschienen 2005 bei Hatje Cantz).

Rechts:Steven Holl: Konzeptskizze für die St. Ignatius Chapel in SeattleSieben ‚Flaschen aus Licht‘ in einem Kasten aus Stein – so beschreibt Steven Holl das Entwurfskonzept für seine Kapelle auf dem Universitäts-campus von Seattle. In diesem Aquarell gibt er ihre ungefähren Volumina wieder und deutet überdies die funktionale Gliede-rung des Bauwerks an.

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Unten: Lebbeus Woods: System Wien, 2005In seinem Projekt ‚System Wien‘ interpretiert Lebbeus Woods Architektur als „Organisation von Energie“. Mit nur wenigen ‚fl iegen-den‘ Strichen gibt Woods in dieser Zeichnung den Straßenraum, die ihn rahmenden Fassaden und sogar eine Andeutung von Licht und Schatten wieder.

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VIRTUELLES LICHT UND DIGITALE SCHATTEN

TAGESLICHTIM DETAIL

Genauer hingesehen: Wie Tageslichtin Gebäude gelangt.

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Von Eric Hanson.

Von den ersten, fl ächigen und ‚tapetenhaften‘ Licht- und Materialdarstellungen bis zur heutigen, hyper-realistischen Wiedergabe von Strukturen und Oberfl ächen hat die Computergrafi k enorme Fort-schritte erzielt. Diese Entwicklung ist vor allem höheren Rechnerleistungen und besseren Software-Algorithmen zu verdanken. Doch standardisierte Rendering-Tools machen es für die Grafi ker auch zunehmend schwierig, ihre künstlerische Freiheit bei der Darstellung von Licht und Schatten zu bewahren.

Das Licht spielt in allen Kunstformen eine wesentliche Rolle, hat aber vielleicht nirgends eine so zentrale Bedeutung wie im Film. Angefangen vom klassischen Film Noir wie Der Malte-serfalke bis zur modernen Chiaroscuro-Technik wie in Sin City trägt das Licht wesentlich zu Charakter und Inhalt jedes Films bei. Revolutionäre Digitaltechnik hat die moderne Filmproduk-tion nachhaltig verändert: Die Kunst synthetischer Lichtsimu-lation wurde zum zentralen Th ema. Während frühere digitale, zweidimensionale Filmeff ekte (das sogenannte ‚Compositing‘) an collagenartige Fotosequenzen erinnerten, gehört heute die dreidimensionale Rendering- und Animationstechnik zum Standardrepertoire jedes Films und bietet die Möglichkeit, kom-plett synthetische Welten und Charaktere zu schaff en, ohne auf die hohe Kunst des lebendigen Schauspiels zurückzugreifen. Schon 1981 formulierte der französische Sozialtheoretiker Jean Baudrillard in seiner Abhandlung Simulacra and Simulation über die Gefahren der Künstlichkeit die nihilistische Befürch-tung, dass die Wertschätzung des Überrealen die fundamentale Bedeutung des Realen ablösen werde – ein jüngst in der Matrix-Serie thematisierter Aspekt. Die Qualität digitaler Beleuchtung, allein auf die exakte Reproduktion der komplexen Nuancen echten Lichts ausgerichtet, wird stets an der Realität gemessen, kann diese aber niemals erreichen. Eine passende Analogie für künstlich erzeugtes Licht ist René Magrittes Bild Ceci n‘est Pas Une Pipe, das uns davor warnt, das Abbild höher als die Reali-tät zu bewerten. In der Praxis digitaler Beleuchtung wird dies berücksichtigt: Die synthetische Bilderzeugung ist stets an der Fülle und Komplexität der Wirklichkeit orientiert.

Technisch gesehen war dies nicht immer der Fall. Die ersten digitalen Beleuchtungsmethoden waren stark vereinfachend und in ihrer Darstellung der Lichtkomplexität äußerst begrenzt. Die vielfältigen Möglichkeiten computertechnischer Bilder-zeugung (englisch: Computer Graphics Imagery oder CGI) zeigten sich erstmals in Filmen wie Jurassic Park oder Termina-tor 2: Hier ließ sich das unglaubliche Potenzial der Computer-grafi k für das Filmgeschäft erahnen, wenngleich die durchaus geschickt eingesetzte Beleuchtung hauptsächlich der Charak-terzeichnung diente. Spätere Versuche, allumfassende fotore-alistische Welten wie in Final Fantasy zu schaff en, konnten nicht überzeugen, da die damalige Technologie gewisse Gren-zen setzte. Die ursprüngliche Form der computergrafi schen

Beleuchtung (Direct Illumination) zeichnet sich dadurch aus, reale Lichtquellen wie Spots und bewegliche Scheinwerfer in die dreidimensional dargestellte Welt einzubeziehen. Solche Lichtquellen können zwar physikalische Lichteigenschaften wie Trübung und Abschwächung oder auch Farbgebungen simu-lieren; doch die abstrakten Lichtstrahlen werden sofort unter-brochen, wenn sie auf eine Oberfl äche treff en. Die begrenzten Möglichkeiten dieser Technik off enbaren sich dadurch, dass das Licht mit den Oberfl ächen nicht interagieren kann. Da die Rechenzeit (ein stetes Problem bei der CGI-Animation) aber idealerweise auf ein Minimum beschränkt sein sollte, greifen Filmproduzenten dennoch gerne auf diese ‚primitive‘ Beleuch-tungsmethode zurück. Die direkte Illuminationstechnik eta-blierte sich nicht zuletzt durch die Einführung von RenderMan in Feature-Filmen.

RenderMan, maßgeblicher Standard für das CGI-Rendern in moderner Filmtechnik, wurde ursprünglich in den Achtzi-ger Jahren von den Pixar Animation Studios entwickelt und wird auch heute noch häufi g zur Erzeugung von Spezialeff ek-ten eingesetzt. Pixar, damals im Bereich der Computergrafi k führend, wollte ein standardisiertes Verfahren für das 3D-Ren-dering etablieren. RenderMan wurde zunächst als zukünftiger Postscript-Standard im 3D-Bereich gerühmt – wegen der auf die Programmierer beschränkten Zugriff smöglichkeiten bewahr-heitete sich dies aber allenfalls für High End-Projekte wie Fea-ture-Filme. Für diese Industrie nachhaltiger von Bedeutung hingegen war die von Pixar agressiv betriebene Patentpolitik zur Lösung zahlreicher Grundprobleme beim Rendering, so z.B. die Bewegungsverfremdung oder das Antialiasing1. Daher kön-nen bis heute nur wenige Entwickler mit der eleganten und effi -zienten Technologie von RenderMan konkurrieren. Sogar mit den ursprünglich begrenzten (mittlerweile weiterentwickelten) Möglichkeiten einfacher Direktbeleuchtung avancierte Ren-derMan zum Standard bei der Produktion von Feature-Fil-men. Für die CG-Lichtexperten bedeutete dies allerdings, sich angesichts beschränkter realer Lichtmittel zunehmend auf ihr künstlerisches Geschick verlassen zu müssen, um per Software überzeugende Spezialeff ekte zu erzeugen – ähnlich einer blan-ken Leinwand, die durch bloße Vorstellungskraft des Künstlers gefüllt werden will. In den Anfängen ließen die per CGI-Tech-nik erstellten Objekte häufi g die komplexe Wechselwirkung

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zwischen Tageslicht und künstlichen Lichtquellen vermissen und wirkten daher stark vereinfacht und synthetisch. Erstes Ziel aller Experten für Spezialeff ekte aber ist es, eine absolut fotorealistische Illusion zu erzeugen; noch bis Ende der Neun-ziger Jahre off enbarte die angewandte Technik allerdings mehr oder minder große Mängel, welche die illusionistische Wir-kung beeinträchtigten. Spezialeff ekte sind nur dann erfolgreich umgesetzt, wenn sie als solche nicht erkennbar sind und der Zuschauer seine emotionale Eingebundenheit in das Filmge-schehen nicht verliert. Viele Regisseure nutzen Spezialeff ekte aber auch in spektakulären und entscheidenden Filmszenen, wo deren Unsichtbarkeit weniger wichtig ist.

Die fortschrittliche Computergrafi k schaff t Grundlagen für neueste Techniken, die zwar mit der aktuellen Computertech-nik noch nicht angewandt werden können, sich aber zukünftig durchsetzen werden, sobald sich die Rechnerleistung gemäß dem Mooreschem Gesetz erhöht. Die Berechnung des physikalischen Lichttransports wurde in den Anfängen der Bildbearbeitung zwar in Betracht gezogen, dann allerdings wegen ihrer Kom-plexität und der daraus resultierenden Schwierigkeiten rasch wieder verworfen. Mit der Verbreitung der Direktbeleuchtung aber entwickelte sich eine spezielle Simulationsmethode, um die Mängel der direkten Beleuchtungstechnik auszugleichen: die sogenannte Radiosität (englisch radiosity). Hierbei dienen die thermischen Energiegesetze als Basis für den Lichttransport. Ein Grundprinzip der Wärmeübertragung lautet, dass Ober-fl ächen Wärme abgeben, übertragen oder refl ektieren können; diese Eigenschaften werden bei der Radiositätstechnik zur Erzie-lung eff ektiver Lichtsimulation eingesetzt. Vereinfacht gesagt heißt dies, dass die Oberfl ächen in einem Radiositätsmodell alle Lichtstrahlen im Raum aufnehmen und entsprechend reagie-ren. Die Oberfl ächen in einem Radiositätsmodell werden auf ein Rastermedium übertragen, in dem jede einzelne Masche als Kameralinse fungiert. Die Verarbeitung eines solchen Modells kann allerdings sehr viel Zeit in Anspruch nehmen und erfor-dert einen großen RAM-Speicher für die Kalkulationen. Die Radiosität gehört nach wie vor zu den präzisesten Lichtsimula-tionen, die der Wirklichkeit sehr nahe kommen. Leider ist diese Technik für wirksame Filmeff ekte grundsätzlich zu langsam; in dem Film Casino, der am Las Vegas Strip früherer Zeiten spielt, wurde sie dennoch wirkungsvoll eingesetzt.

Auch wenn sich die direkte Illumination für visuelle Eff ekte in Feature-Filmen immer mehr durchsetzte, blieben künstle-risches Geschick und Sensibilität der Spezialisten gefragt, um die inhärenten Mängel dieser Technik ‚auszubügeln’. Was nor-malerweise der Computer erledigt, musste hier künstlerisch durch Zeichnungen sanfter Schattierung und Lichtwirkung in die Szenen eingearbeitet werden. Die Radiosität erwies sich als vielversprechende Möglichkeit akkurater Lichtsimulation, war aber nach wie vor in der Filmproduktion unüblich. Einige Fea-ture-Projekte wie Final Fantasy nutzten das Radiositäts-Rende-ring schlichtweg als Schablone, um dessen Wirkung dann durch direkte Illumination nachzuzeichnen. Aber erst die Neuentde-ckung einer bereits früher entwickelten Technik – das Raytracing

– sorgte für entscheidende Impulse auf diesem Gebiet. Das Ray-tracing gehört zu den ältesten Mechanismen in der Computer-grafi k und wurde lange Zeit angewandt, um in Ergänzung zur direkten Illumination überzeugende Refl exionen und Schat-tenbilder zu schaff en. Diese Methode arbeitet mit ausgesandten Vektorstrahlen und ermöglicht im Vergleich zur direkten Illumi-nation eine komplexere Lichtwanderung, bot aber ursprünglich nicht die Möglichkeit, das Licht als eine Einheit physikalischer Teilchen zu berechnen, da sich das Licht sowohl als mikro-skopische Welle als auch in realen Partikeln off enbart. Diese Erkenntnis machte sich das sogenannte Monte Carlo Raytra-cing zunutze, gestützt auf den von Marco Fajardo in den späten Neunzigern entwickelten Rendering-Code namens Arnold. Die ersten allein durch diesen Renderer erzeugten Bilder veränderten und revolutionierten die CG-Beleuchtung so nachhaltig, dass dieses Verfahren auch noch heute in der modernen 3D-Com-putergrafi k angewandt wird.

Das Monte Carlo Raytracing verdankt seinen Namen der Tatsache, dass die Quantenphysik des Lichts niemals wirk-lich vollständig per Computer dargestellt werden kann, da das Niveau der Computerisierung auch bei einfachsten Sze-nen unvorstellbar hoch ist. Die Monte Carlo-Technik beruht auf der Kalkulation eines verschwindend geringen Teils dieser Komplexität, zunächst durch Nutzung einer Monte Carlo-Sta-tistik2, um die Wertigkeit zu reduzieren, anschließend durch einen Kammfi lter3, um eine größtmögliche Vereinfachung die-ser komplizierten Wechselwirkungen zu erreichen. Da das Licht ein natürliches Phänomen ist, nimmt der menschliche Verstand

S .84: Bei der Technik des ‚Matte Painting‘ hängt die Überzeu-gungskraft der Lichteff ekte allein vom Auge und den Fähig-keiten des Künstlers ab. Neue Methoden beziehen 3D-Modelle mit ein, aber die Künstler verlas-sen sich weitgehend noch immer auf ihre Maltechniken statt auf Renderings aus dem Rechner.

Gegenüber:Die ‚Radiosity‘-Technik war die erste globale Beleuch tungs-lösung und bietet die akkura teste Abbildung des Licht transports durch den architektonischen Raum.

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auch eine Simulation als real wahr, die ansonsten recht wenig mit Wirklichkeit zu tun hat. Wegen ihrer Komplexität führt die Monte Carlo-Technik zwar selbst modernste Prozessoren an ihre Grenzen, hat sich aber dennoch als wichtiger Durch-bruch erwiesen, um echtes Licht durch bloße Computersimu-lation innerhalb kürzester Bearbeitungszeit zu imitieren.

Mit dem Aufkommen von Arnold tauchten zahlreiche Monte Carlo-Renderer auf und verwiesen die traditionelle Technik direkter Illumination in die zweite Reihe. Neuester Forschungsgegenstand beim CG-Rendering ist die zunehmend verfeinerte Global Illumination (GI). Viele Türen, dem Fotore-alismus bislang verschlossen, stehen nun weit off en, da mit der GI-Technik eine Vielzahl komplexer Lichtwirkungen und -phä-nomene dargestellt werden kann. Komplexe Eff ekte, angefan-gen von subtiler interner Lichtkonzentration durch Glas bis hin zu exakter Tageslichtschattierung und –farbe, sind mittlerweile gang und gäbe, so dass die CGI-Technik nunmehr auch im Film überzeugt. Charaktere wie der Gollum, King Kong oder Davy Jones sind mittlerweile – vor allem dank des GI-Renderings – legitimer Ersatz für echte Schauspieler. Zu den interessantesten Neuentwicklungen gehört zweifellos das ‚unabhängige’ Rende-ring, eine auf der Spektralwellenform echten Lichts basierende Technik der Lichtsimulation mit hervorragenden Ergebnissen. Wichtiger Vorreiter ist der Maxwell-Renderer, der Bilder erzeugt, die von üblichen Fotografi en nicht mehr zu unterscheiden sind. Der Maxwell-Spezialist arbeitet wie ein Fotograf und nutzt alle realen Fotobelichtungstechniken wie Flags4, Diff usoren und Gegenlichtblenden. Das Licht kann in einem Komponentfarb-spektrum gebrochen werden, exakte Farbtemperaturen aus-strahlen, die komplexe Streuung des Tageslichts wiedergeben und auf die Ablenkungen durch eine echte Glaslinse reagieren. Anhand einer gespiegelten Fotoserie kann der reale Lichtein-fall an einem spezifi schen Ort mit Hilfe einer CGI-Technik namens ‚Image-based Lighting’ vollständig und übergangslos dargestellt werden.

Wie bei jeder neu eingeführten bahnbrechenden Technolo-gie stehen auch hier die Vorteile außer Frage, wenngleich diese zu Lasten langjährig bewährter Prozesse gehen – in diesem Falle auf Kosten der künstlerisch orientierten Praktiken direkter Illu-mination. Was einst dem künstlerischen Geschick und Verstand vorbehalten war, wird nun mechanisch vom Computer erledigt.

Bevor sich die GI-Technik durchsetzte, resultierte (und variierte) die bildliche Darstellung aus der jeweils eigenen Optik und dem individuellen Verständnis jedes Lichtexperten. Diese ‚intenti-onale Beleuchtung’ ist aber nach wie vor wichtiger Bestandteil der Feature-Animation, wo Stilisierung und Formgenauigkeit gefragt sind. Zur Erzielung fotorealistischer optischer Eff ekte ist die GI-Technik mittlerweile allerdings unverzichtbar. Fotorea-lismus ist immer das Ziel, und künstlerische Variationen kön-nen zu problematischer Inkonsistenz führen. Trotzdem mag man irgendetwas vermissen – wie damals, als klassische Holly-wood-Metiers wie die Erstellung von Miniaturen oder traditio-nelle Mattzeichnungen langsam vom Bildschirm verschwanden. Letztendlich geht es wohl um den klassischen Konfl ikt des Künstlers und um die Frage, inwieweit er bei seiner Arbeit auf Werkzeuge zurückgreift. Dies erinnert an die einstigen Vorbe-halte, die Fotografi e als Kunst anzuerkennen: Wer schaff t das Bild – das Werkzeug oder der Künstler? Wie bei jeder Kunst-form ist auch hier der Künstler, geleitet und gesteuert durch seine Sensitivität und sein Geschick, Urheber des kreativen Schaf-fensprozesses, ungeachtet der eingesetzten technischen Mittel. Die grundsätzliche Frage, die sich uns bei Spezialeff ekten im Film stellt, lautet vielmehr, ob hierdurch die Handlung und der Inhalt eines Films wesentlich unterstützt und bereichert wer-den, um natürliche, ‚nichttechnische’ Emotionen hervorzu-rufen. Werden Filme hierdurch besser? Wie auch immer man diese Frage beantworten mag: Die Kraft und das Mysterium des Lichts werden immer eine zentrale Rolle im Film und in jeder zukünftigen Medienform spielen und wesentliches Ausdrucks-mittel menschlicher Gefühle und Erfahrung bleiben.

Eric Hanson ist Spezialist für visuelle Eff ekte in Feature-Filmen. Als studierter Architekt etablierte er bereits früh 3D-Visualisierungsstu-dios für große Architekturbüros wie The Callison Partnership und Gens-ler and Associates. Seit seinem Wechsel ins Filmgeschäft arbeitet er mit führenden Produzenten von Spezialeff ekten wie Digital Domain, Sony Imageworks, Dream Quest Images und Walt Disney Feature Animation zusammen. Er war an der Produktion von Filmen wie Stealth – Unter dem Radar, The Day After Tomorrow, Cast Away – Verschollen, Hollow Man – Unsichtbare Gefahr, Atlantis, Fantasia 2000 und Das fünfte Element maßgeblich beteiligt. Derzeit ist Eric Hanson Dozent für Spezialeff ekte an der University of South California School of Cinema/TV.

Antialiasing: Eine in der Computergrafi k übliche Technik zur Glättung grober Strukturen.Monte Carlo-Statistik: Eine Glockenkurve zur Darstellung von Häufi gkeiten.Kammfi lter: Mittel zur Reduzierung eines Datenkomplexes durch wiederholte Stichprobenentnahme kleiner Wertbe-reiche über eine bestimmte Länge.Flags: Ein in der Beleuchtungstechnik eingesetztes Stück Stoff , das die Lichtstreuung einfängt und zur Erzielung dra-matischer Eff ekte genutzt wird.

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Oben links & rechts:Der Maxwell-Renderer erlaubt die äußerst realistische Darstellungen von Materialien aus der ‚realen‘ Welt, von spiegelndem Glas bis zu Kohlefasern.

Unten links & rechts: Die Monte Carlo Raytracing-Methode zeichnet ein besonders ausdiff erenziertes Bild von Licht, Raum und Oberfl ächen, indem sie auf stark vereinfachte Weise die Bewegung einzelner Lichtpho-tonen nachvollzieht.

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VELUX EINBLICKE Architektur für den Menschen – Bauen mit VELUX.

HINTER SCHWEREN MAUERNMuseum in Brie-Comte-Robert

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Rund 30 Kilometer südöstlich von Paris steht inmitten der Hügellandschaft der Brie ein Baudenkmal, das nur die wenigsten Rei-seführer verzeichnen und das doch, glaubt man den Historikern, Modellcharakter besitzt für viele mittelalterliche Burgen in Frankreich. Das Château du Brie-Comte-Robert, ein quadratischer Bau mit runden Ecktürmen, liegt nur wenige Schritte vom Marktplatz entfernt im Zentrum der gleich-namigen Kleinstadt. Über einen breiten Wassergraben führen heute wie vor Jahr-hunderten zwei Brücken auf die beiden, durch quadratische Türme geschützten Burgtore zu. Diese Öff nung nach zwei Seiten und der daraus resultierende Durchgangs-charakter der Burg sind, soweit man weiß, in der Region einzigartig.

Errichtet wurde die Burg Ende des 12. Jahrhunderts von Robert I. von Dreux, dem Herrscher über die Brie und Bruder des französischen Königs Louis VII. Von seinem Bauwerk war 1982 nicht mehr viel erhalten außer einigen Resten der rund 2,30 Meter dicken Kalksteinmauern. Seither jedoch haben die Amis du Vieux Château, eine Ver-einigung ehrenamtlicher Helfer, Bemer-

kenswertes geleistet: Ein großer Teil der Burgmauer sowie ihrer insgesamt acht Türme wurde wieder aufgebaut. Ausgra-bungen im Innenhof förderten außerdem zahlreiche Mauer reste ehemaliger Wohn-trakte zutage. Unterstützt wurden die Aus-gräber dabei von einer Vielzahl privater und öff entlicher Geldgeber. Diese ermöglichten es der Vereinigung auch, 2003 ihr bislang ambitioniertestes Projekt in Angriff zu neh-men: den Bau eines kombinierten Betriebs- und Ausstellungsgebäudes oder, in der französischen Amtssprache, eines CIP (‚Cen-tre d’interprétation du patrimoine’). Darin sollten neben einem Ausstellungssaal auch Räume für die Museumspädagogik sowie Büros und ein großer Gruppenraum für die Ausgrabungshelfer Platz fi nden.

Geplant wurde der 400 Quadratmeter große, rund 725 000 Euro teure Neubau von den Architekten Semon Rapaport aus Brie-Comte-Robert und dem Museumsge-stalter Lorenzo Piqueras. Wie stets, wenn inmitten historischer Mauern Neues ent-stehen soll, hatte auch die nationale Denk-malschutzbehörde ACMH ein gewichtiges Wörtchen mitzureden. Ihr Chefarchitekt

Jacques Moulin erstellte für das Projekt ein Pfl ichtenheft, das einen Holzbau verlangte – zum einen, weil sich dieses Material deutlich von den alten Mauern unterscheiden würde und zum anderen, weil eine Holzkonstruk-tion für spätere, weitere Ausgrabungen rela-tiv leicht wieder abgebaut werden könnte. Auch aus ästhetischen Gründen gab Mou-lin dem Holz den Vorzug: „Die mittelalter-lichen Monumente, die auf uns gekommen sind, ähneln oft Muscheln, von denen nichts mehr außer der Schale übrig geblieben ist. Alle leichten Bauteile sind verschwunden. […] Es erscheint mir daher wünschenswert, diese Materialvielfalt in den Bauwerken, die wir restaurieren, wieder neu entstehen zu lassen, da sie ein charakteristischer Wesens-zug westlicher Baukonstruktionen war.“

Schließlich gab auch das geringe Gewicht den Ausschlag für eine Holz-konstruktion: Am Standort des Gebäudes, in der Nordecke der Burg, haben bislang keine Ausgrabungen stattgefunden. Um die hier möglicherweise noch verborgenen Funde zu schützen, durfte der Boden weder durch schwere Konstruktionen noch durch schweres Baugerät belastet werden. Das

Von Jakob Schoof.Fotos von Adam Mørk.

Ein Bauwerk ohne Ewigkeitsanspruch sollte das ‚Interpreta-tionszentrum für das historische Erbe’ in der Burg von Brie-Comte-Robert werden: leicht, transparent und im Zweifel schnell wieder abzubauen. Hinter seiner Lärchenholzfassade birgt das Museum Säle voller Tageslicht, in denen die alten Fundstücke, die rekonstruierten Burgmauern und die moderne Holzkonstruktion gleichwertig nebeneinander stehen.

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Museum wurde daher als reiner Skelettbau erstellt und auf fl achen Einzelfundamen-ten gegründet, die auf dem gewachsenen Boden aufl iegen. Flach ist auch das Bauwerk im Ganzen: Die Vorschriften der Denkmal-schützer forderten, dass seine Höhe unter der neu aufgerichteten Mauerkrone zu bleiben hatte. Semon Rapaport entwar-fen einen L-förmigen Bau mit Pultdach, der sich im Norden und Osten an die Burgmau-ern anzulehnen scheint und nach Süden zur Mittagssonne hin öff net. Getragen wird die Dachkonstruktion von Rundstützen aus Douglasienholz, die teils über Zugstäbe in der Burgmauer rückverankert sind. Auch die Vitrinen im Inneren des Museums sind teils in die rekonstruierte Rückwand einge-tieft. Die Holzbauweise erlaubte es, Böden, Wände, Träger und Dach in großen Teilen vorzufertigen und das Bauwerk vor Ort in nur drei Wochen zu errichten.

Der Zugang zum Museum führt eben-erdig über eine breite, dem Gebäude vor-gelagerte Holzplattform. Die Südfassaden spiegeln die Nutzungen der einzelnen Räume wider, aber auch den Wunsch der Archi-tekten nach einem Museum, das – ganz

anders als die sonst üblichen ‚black boxes’ und ‚white cubes’ – den Gang der Sonne um das Gebäude spürbar machen sollte. Der Museumssaal erhielt drei fl ache Fenster-bänder, von denen eines unmittelbar über dem Boden und das zweite unterhalb der abgehängten Decke endet. In Augenhöhe ist die Fassade weitgehend geschlossen und kann als Hängefl äche für Exponate genutzt werden. Lediglich schmale, hochrechteckige Fenster erlauben den Blick nach draußen.

Das dritte Fensterband fügten Semon Rapaport in das Dach des Museums ein, um das hintere Drittel der Ausstellungsfl äche mit Tageslicht zu versorgen. Es lässt bei Sonnenschein eine Reihe von Lichtfl ecken über die rauen Kalksteinmauern wandern, die von Zeit zu Zeit einzelne Exponate her-vorheben. Die historischen Fundstücke, das rekonstruierte Mauerwerk und der leichte Neubau werden so immer neu – und immer anders – inszeniert. Das Oberlichtband besteht aus einer langen Reihe von Dach-wohnfenstern, die eine im Museumsbau eher ungewohnte, aber preisgünstige Alter-native zu Sonderverglasungen darstellen:

„Diese Wahl hat es uns erlaubt, die Kosten

im Vergleich zu einer Aluminiumverglasung gering zu halten. Außerdem erleichtern die Dachwohnfenster die Belüftung des Raums“, erläutert Jean-Claude Semon. Mindestens ebenso wichtig sind die Fenster für die Ent-lüftung der Ausstellungssäle, da die erst vor kurzem wieder aufgebauten Burgmauern noch kontinuierlich Feuchtigkeit abgeben. Ein angenehmes Klima ohne große Tempe-raturspitzen stellt sich im Museum beinahe von allein ein: Im Sommer bilden die mas-siven Burgmauern einen idealen Wärme-puff er, der das Gebäude vor Überhitzung schützt. Für den Winter wurde eine Nieder-temperatur-Strahlungsheizung in der Decke des Saals installiert.

S. 90–91: Von außen nicht sichtbar, schmiegt sich das ‚Centre d’interprétation du patrimoine’ innen an die bis 2,3 Meter dicken Kalksteinmauern der Burg. Auch die Ausstellungssäle zeichnen sich durch große Fensterfl ächen aus.

Rechts: Die nahezu quadratische Burg mit ihren vier Ecktürmen steht mitten im Zentrum der Klein-stadt Brie-Comte-Robert. Seit 1984 haben die ‚Amis du Vieux Chateau’ große Teile der Burg-mauern wieder errichtet.

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Links:Das Ausstellungs- und Betriebs-gebäude wurde komplett aus Holz errichtet. Eine Wand-scheibe aus Sichtbeton am Eingang ist – mit Ausnahme der Fundamente – das einzige massive Bauteil.

Unten:Ein hoch- und ein tiefgelegenes Fensterband belichten den Aus-stellungssaal. Die dazwischen liegende Fassadenfl äche kann innen für Exponate genutzt werden und wird nur gelegent-lich durch Fensteröff nungen unterbrochen.

Gegenüber:Das dritte Fensterband besteht aus Dachwohnfenstern und belichtet den hinteren Teil der Ausstellungsfl ächen.

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Links oben:Detailschnitt durch das Fensterband im Dach

Links Mitte:Axonometrie des Neubaus

Links unten:Wandernde Lichtfl ecken gleiten im Tagesverlauf über die Kalksteinmauern im Ausstel-lungssaal.

Gegenüber: Das Ausstellungsmobiliar ist schlicht und hell. Gemeinsam mit dem Parkettboden, der alten Burgmauer, den Rundstützen und der Gipskartondecke ergibt sich ein Wechselspiel aus struk-turierten, natürlich gewach-senen und glatten, industriell gefertigten Oberfl ächen.

Commune de Brie-Comte-Robert SCP Semon Rapaport, Brie-Comte-RobertLorenzo PiquerasAmis du Vieux Château, Brie-Comte-Robert

FaktenBauherrArchitekten

AusstellungsgestaltungWissenschaftliches Konzept und archäologische Forschung

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VELUX PANORAMA Architektur mit VELUX aus aller Welt.

ÜBER DEN DÄCHERN EUROPASKONZEPTHAUS ATIKA Getxo (Bilbao), Spanien. Wanderausstellung

Konzepthaus (modulare Dachaufstockung)VELUX A/S, Hørsholm, DänemarkACXT/IDOM, Bilbao, Spanien2006

FaktenVorläufi ger StandortArt des GebäudesKundeArchitektenFertigstellung

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Die traditionelle Architektur Süd-europas zeichnet sich durch ihre intelligente und einfache Nutzung vorhandener Ressourcen aus: Sonne und Luft, die im Überfl uss zur Verfü-gung stehen, und Wasser – mitunter ein seltenes Gut – werden seit Jahr-hunderten zum Kühlen und Heizen verwendet, um den Bewohnern best-möglichen Komfort zu bieten.

Dicke und schwere Mauern als thermischer Puff er, weißer Kalk als refl ektierende Schicht auf den Außenwänden, Fensterläden, Schat-ten von Gebäuden und Dachüber-hängen, enge Straßen und Höfe, die Schatten spenden und zugleich die Luft zirkulieren lassen, sowie die Ver-wendung fl ießenden Wassers zum Kühlen gehören zu den traditionellen Lösungen der Architektur rund um das Mittelmeer.

Atika ist von dieser mediterranen Bautradition inspiriert. Das Projekt ist der Versuch, mit einfachen, aber wir-kungsvollen Lösungskonzepten mehr Komfort bei geringerem Energiever-brauch zu erreichen. Entworfen als Konzepthaus für warme Klimazonen, soll Atika ein gesundes Wohnumfeld mit hohem Raumkomfort und ganzjäh-rig optimalen Tageslichtbedingungen bieten. Es ist damit der Prototyp eines energiesparenden Hauses in Regionen mit viel Sonne, heißen Sommern und milden Wintern, wo Belüftungs- und Kühlsysteme traditionell viel Energie verbrauchen.

„Normalerweise werden Dächer im Mittelmeerraum nicht als Wohn-raum benutzt. Doch Atika ist ein Dachhaus und zugleich ein Haus unter dem Dach”, sagt Javier Aja Cantalejo von ACXT Arquitectos, der für den Entwurf verantwortlich zeichnete. Das Gebäude, das der Öff entlichkeit zum ersten Mal im Oktober 2006 im Hafen von Getxo bei Bilbao vor-gestellt wurde, ist in zwei Teile ge-gliedert: das Haus selbst und einen

gerüstartigen Unterbau, der ein be-stehendes Gebäude mit Flachdach symbolisiert. Javier Aja Cantalejo zufolge liegen die konzeptionellen Vorteile von Atika im schnellen Auf-bau vor Ort und der geringen Belä-stigung der Nachbarn. Zudem bietet das Haus zusätzliche Mietfl ächen und schützt die bestehende Dach-oberfl äche vor Regen.

Die Silhouette von Atika wird durch sein weißes, zickzackförmiges Dach geprägt. Als Re-Interpretation der traditionellen Mittelmeerarchi-tektur besitzt das Haus einen zen-tralen, off enen Patio, der mit einem schattenspendenden Vordach, einem Wasserbecken und Grünpfl anzen als Klimaregulator dient. Atika-Häuser sind typische Einfamilienhäuser. Ihr Grundriss mit 10 x 10 Metern Kanten-länge ist in drei Teile gegliedert. Die beiden Flügel im Westen und Osten – je 10 Meter lang und 3,5 Meter breit – enthalten die Wohn- und Schlafräume. Sie werden durch den Eingangsbe-reich und die zentrale, off ene Patio-Terrasse miteinander verbunden. Die Dächer sind nach Norden und Süden geneigt, wobei jedem Raum im Haus eine eigene Dach geometrie zuge-ordnet wurde. Die genaue Dachform von Atika variiert je nach Standort, abhängig von der geografi schen Lage, der Ausrichtung, der Art der Raum-nutzung sowie von den Ansprüchen an Tageslicht und Raumklima. Dies macht Atika zu einem fl exiblen Organismus, der sich öff nen und schließen, atmen, Sonnenenergie einfangen und diese je nach Jahreszeit umwandeln kann.

Die natürliche Belüftung und nächtliche Abkühlung werden von einer elektronischen Steuerungs-anlage optimiert, die automatisch das Raumklima überwacht. Die An-lage regelt das Raumklima durch au-tomatisches Öff nen und Schließen der Fenster sowie der Jalousien und Rollläden und durch Aktivierung des

Kühl- und Heizsystems gemäß vorein-gestellter Parameter wie Temperatur, Luftfeuchtigkeit, Tageszeit, Jahres-zeit und Einbruchschutz.

Das Konzepthaus wird über die Straße zum Aufbauort trans-portiert. Die Tragkonstruktion be-steht aus einem Stahlrahmen für die Boden- und Dachfl ächen. Stahl-stützen tragen die Wände, diagonale Streben stabilisieren sie. Der Boden besteht aus Stahlbetonplatten auf einer Wellblechschicht. Die 16 Zen-timeter dicke Wärmedämmung wird im Dach von einer weiteren Well-blechschicht und in den Außenwän-den von einem leichten, verzinkten Stahlrahmen gehalten. Dächer und Fassaden sind außen mit Hochdruck-laminat-Platten und innen mit Gips-karton verkleidet. Die Innenwände be stehen ebenfalls aus einer dop-pelten Schicht Gipskarton mit innen liegender Schalldämmung. Auf den Böden im Inneren des Hauses wur-den Keramikfl iesen, im Patio und auf den Terrassen Holz verlegt.

Das für Atika verwendete Bauka-stenprinzip sowie die Vorfertigung in der Fabrik haben große Vorteile ge-genüber konventionellen Baumetho-den: Sie reduzieren die Bauzeit um etwa ein Drittel, machen die Kon-struktion stabiler und präziser und vereinfachen die Nutzung von Spezi-alprodukten und techniken für eine bessere Wärme- und Schalldäm-mung. Zudem verbessert die Herstel-lung in der Fabrikhalle die Qualität und die Kontrolle des Bauprozesses.

Die Gebäudetechnik von Atika ist insofern innovativ, als Solar-kollektoren heißes Wasser nicht nur zum Heizen, sondern auch zum Kühlen liefern. Sie stellen rund 70 % des Warmwasserbedarfs und 30 % des Heizenergiebedarfs bereit und versorgen zugleich die Klimaanlage des Hauses. Die insgesamt rund 10 Quadratmeter großen Solarkollek-

toren wurden auf den südlichen Dach fl ächen des Hauses installiert und sind zwischen 15 und 60 Grad aus der Horizontalen geneigt. Die Kollektoren versorgen ein Heißwas-sersystem, das an ein zusätzliches Kühlwassersystem angeschlossen ist. Dieses Kühlwassersystem wird für die Luftkühlung in den heißen Jahreszeiten benutzt.

Das Heizen, als Raumheizung in Gebäuden, für die Warmwasser-gewinnung und für Industrieprozesse, macht heutzutage die Hälfte des gesamten Weltenergieverbrauchs aus. Die Nutzung erneuerbarer Ener gien – solarthermisch, geother-misch oder Biomasse – bietet eine gute Alternative zu fossilen Brenn-stoff en und Elektrizität als Wärme-quellen. In dieser Hinsicht kann Atika zur Lösung der Aufgabe beitragen, die der EU-Kommissar für Energie, Andris Piebalgs, als eine der größten künftigen Herausforderungen für die Architektur ausgemacht hat: „Durch energetische Verbesserungen in un-seren Gebäuden erreichen wir nicht nur mehr für uns selbst, sondern wir sparen auch für unsere Kinder.“

Mehr Informationen unter: atika.VELUX.com

1. Mit seiner markanten Sil-houette überragt Atika das Stadtbild. Das modulare Kon-zepthaus wurde erstmals im Oktober 2006 im Hafen von Getxo (Spanien) vorgestellt.

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2. Schnitte und Grundriss .

3. Atika überrascht mit seiner für das mediterrane Klima unge-wohnten Off enheit. Trotz der Leichtbauweise und des hohen Fensteranteils gewährleistet ein intelligentes Klima- und Lüf-tungssystem einen hohen Innen-raumkomfort.

4. Der Schlafraum liegt im höch-sten Teil des Gebäudes. Durch sechs Dachfenster genießen die Hausbewohner freien Blick in den Himmel.

5. Blick durch den Wohnraum, der im Süden in einer Art Win-tergarten voller Tageslicht endet. Beide Gebäudefl ügel sind 10 Meter lang und 3,5 Meter breit und können damit per LKW transportiert werden.

6. Der Patio zwischen dem Schlaf- und dem Wohntrakt öff net sich nach Süden zum Hafen hin. Die Fassaden des Konzepthauses sind mit HPL-Platten verkleidet; ein fl aches Wasserbecken dient als zusätz-licher Wärmepuff er.

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7. Im Norden verbindet der Ein-gangsbereich die beiden Gebäu-defl ügel zu einem u-förmigen Grundriss. Der mit Holz bedeckte Patio ist so vor der Meeresbrise und vor Einblicken geschützt.

8. Nach Norden hin ist Atika weitgehend geschlossen. Lediglich die sechs Dachfenster über dem Schlafzimmer strahlen ihr Licht in die Nacht hinaus.

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Rieden am Forggensee liegt in einer jener Gegenden in Deutschland, die im Ausland als Inbegriff für das ‚Pitto reske‘ in der deutschen Land-schaft gelten und deshalb schon früh vom internationalen Tourismus ent-deckt wurden. Burgruinen und Ba-deseen (allein sieben im Umkreis von 12 Kilometern), „lauschige Winkel und malerische Ecken“ führt die Website des Orts als Argumente an, hier seine Ferien zu ver bringen. Am gegenüberliegenden Seeufer, in Sichtweite von Rieden, erhebt sich Neu schwanstein, das Märchenschloss des exzentrischen Bayernkönigs Ludwig II. über den dichten Nadelwald.

So attraktiv jedoch die land-schaft liche Schönheit Oberbayerns auf den Touristen wirkt, so hinder-nisreich gestaltet sich oft der Ver-such, hier zeitgemäße Neubauten zu errichten. Die Architektur-Avant-garde hat es – anders als etwa in der Schweiz oder in Österreich – noch immer schwer, in der Region Fuß zu fassen. Als ungeschriebene Norm gilt der Bautypus, der im Laufe des 20. Jahrhunderts eher unrefl ek-tiert als der ‚alpenländische‘ akzep-tiert wurde: fl ach gedeckte, meist weiß verputzte Häuser mit weit auskragenden Dächern und ebenso ausladenden Holzbalkonen. Auch der Riedener Ortsteil Osterreinen folgt mit seinen meist aus den 70er-Jah-ren stammenden Häusern dieser Vorgabe. Lediglich vereinzelt fi ndet man noch die so genannten ‚Schwan-gauer Häuser‘, die die Gegend früher prägten – Holz ständerbauten mit traufseitiger, meist nach Süden ori-entierter, off ener Laube.

Ein solches, regionaltypisches Bauernhaus nahmen sich Becker Architekten zum Vorbild für den Entwurf des Hauses Klimczyk. Es handelt sich um eine Doppelhaus-hälfte in der Dorfmitte, deren Pen-dant von den Nachbarn zu einem

späteren Zeitpunkt mit einem an-deren Architekten realisiert werden sollte. Fest stand indessen bereits, dass der Nachbar ein Massivhaus wünschte, und so konzipierten die Architekten Haus Klimczyk als höl-zernen ‚Anbau‘, der sich wie der Stall- oder Wirtschaftsteil eines Hofes an seinen steinernen Widerpart an-schließen sollte. Um dieses Konzept zu unterstreichen, erhielt das Haus eine Lärchenholzverschalung mit in-tegrierten Schiebe-Faltläden, die im Laufe der Jahre silbergrau verwit-tern wird. Durch die Läden lassen sich die Loggien an der Nord- und Südseite nahezu komplett öff nen. In geschlossenem Zustand verschmel-zen Fensterläden und Fassade dage-gen zu einer einzigen, homogenen Hülle, die in der Tat etwas ‚Scheu-nenhaftes‘ ausstrahlt. In der Nut-zung erhält das Haus so eine enorme Flexibilität: Wie ein Cabriolet lässt es sich an alle denkbaren Licht- und Wettersituationen anpassen.

Das Leben im Inneren des Hauses spielt sich auf allen vier Etagen ab, wobei das Untergeschoss separat als Einliegerwohnung nutzbar ist. Sie ist winkelförmig um einen Innen-hof angelegt und wird separat von außen erschlossen. Die Innenräume gruppieren sich um einen von oben belichteten Treppenhauskern, der der Doppelhaushälfte eine überra-schende Großzügigkeit verleiht. Das Licht fällt durch Dachwohnfenster ein, unter denen neun so genannte ‚Lichtkanonen‘ – Lichtschächte aus weiß lackierten MDF-Platten – für eine blendfreie, gleichmäßige Licht-verteilung sorgen. Auch die übrigen Oberfl ächen im Haus wurden weiß gehalten und sorgen so für eine bestmögliche Lichtausbeute: In den Wohnräumen wurde weiß geöltes Parkett verlegt; die Wände beste-hen aus weiß gestrichenen Gipskar-tonplatten sowie (im Treppenhaus) weiß lackierten Hartgipsplatten.

CABRIO AUS LÄRCHENHOLZHAUS KLIMCZYK IN RIEDEN

Osterreinen, Rieden am Forggensee, DEinfamilienhaus (Doppelhaushälfte)Familie Klimczyk, Rieden, DBecker Architekten, Kempten, DFebruar 2006

FaktenStandortGebäudetypBauherrArchitektFertigstellung

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1. Wie ein Schleier verhüllen die Lärchenholzlamellen die Loggien an den Längsseiten des Hauses. Während das Gebäude bei geschlossenen Läden tags eher massiv und undurchdring-lich wirkt, wird es nachts zum allseits ausstrahlenden Licht-körper.

2. Längs- und Querschnitt

3. Das innen liegende Treppen-haus dient nicht nur als Erschlie-ßungszone. Der großzügig bemessene Raum stellt auch die visuelle Verbindung zwischen den Ebenen her.

4. Neun markante ‚Lichtkano-nen‘ unter den Dachfl ächen-fenstern spenden blendfreies Licht für das Treppenhaus.

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VELUX DIALOG Architekten im Gespräch mit VELUX.

Wettbewerbe sind seit jeher ein wich-tiges Instrument für die Architektur, insbesondere dann, wenn das ge-stellte Thema genügend Spielraum für individuelle Interpretation lässt, eine Herausforderung an die Teilneh-mer darstellt und Impulse für künftige Entwicklungen gibt. Dann steht auch nicht mehr der Wettbewerbscharak-ter im Vordergrund der Veranstaltung, sondern ihre Funktion als Forum für räumliche Diskussionen, die ein tief-eres Verständnis spezifi scher archi-tektonischer Lösungen ermöglichen. Qualifi zierte Wettbewerbe sorgen für frischen Wind und dienen den Teil-nehmern als Anregung, um Inhalte, die heute noch Zukunftsmusik sind, kurz-fristig Realität werden zu lassen. Die zeitliche Dimension spielt bei Wett-bewerben eine entscheidende Rolle, denn schließlich müssen die Ergeb-nisse innerhalb einer gesetzten Frist präsentiert werden, was großes Ta-lent und höchste Konzentration er-fordert. Vielleicht aber schöpfen die Teilnehmer ihre Inspiration bei solchen Wettbewerben, bei denen der krea-tive Schaff ensakt im Vordergrund steht, genau aus dieser Kombination aus Nervenanspannung und Hingabe.

Architektur mit sozialem Be-wusstsein ist für unsere Lebensqua-lität und unser Wohlbefi nden von entscheidender Bedeutung. Weder können wir die Architektur losge-löst von unserer Kultur betrachten, noch die Tatsache verdrängen, dass sie unseren natürlichen Lebensraum immer stärker prägt. Architektur als räumliches Gestaltungsmittel betriff t jeden von uns, denn uns allen obliegt die Verantwortung, unser bauliches Lebensumfeld zu verbessern. Archi-tekturschulen gehören zweifellos zu den wichtigsten Institutionen, mit denen wir diesem globalen Anspruch gerecht werden können.

VELUX ist klug genug, den Blick in die Zukunft zu richten und auf kom-mende Generationen zu bauen, um

neue Entwicklungen frühzeitig zu er-kennen und innovative Ideen aufzu-greifen. Das Unternehmen setzt auf junge Leute und deren Vermögen, Zu-kunftsvisionen konkrete Gestalt zu verleihen. Die junge Generation wird nicht als profi tversprechender Markt, sondern als Inspirationsquelle angese-hen. Auf einzigartige Weise engagiert sich VELUX seit vielen Jahren in der Architektenausbildung.

Der VELUX-Wettbewerb ‚Light of Tomorrow‘ bot Architekturstu-denten und -lehrern die Gelegenheit, sich mutig an räumliche Experimente zu wagen. Als die Jury (der japanische Architekt Kengo Kuma, die irische Ar-chitektin Roisin Heneghan, Dr. Omar Rabie vom Massachusetts Institute of Technology, der Präsident der AIA Douglas Steidl, der General Manager von VELUX Italien Massimo Buccilli und ich) im Sommer 2006 in Ma-drid tagte, fühlten wir uns alle sehr geehrt, an diesem Projekt teilneh-men zu dürfen. Als Hochschulleh-rer und Architekten sind wir mit den Mühen, der kreativen Energie und den Hoff nungen bestens vertraut, die in jedem Projekt stecken. Im Gegensatz zu den ausgereiften Arbeiten erfah-rener Kollegen zeichneten sich die von der kommenden Architektenge-neration vorgelegten Pläne durch fri-sche Ideen und Experimentierfreude aus und zeigten erste Zeichen und ge-lungene Interpretationen des ‚Lichts von morgen‘. Mit jeder neuen Genera-tion erfährt die Auff assung von Kon-text, Zeit und Raum einen gewissen, manchmal kaum spürbaren Wandel, der ein Indikator für zukünftige Ent-wicklungen sein kann. Daher habe ich immer großen Respekt vor Studen-tenwettbewerben. Die eingereich-ten Arbeiten sind in ihrer Gesamtheit so beeindruckend, dass die Jury allen Teilnehmern gratulieren und auch VELUX große Anerkennung dafür aussprechen möchte, sich einer sol-chen Herausforderung auf professio-

LIGHT OF TOMORROW

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nelle und großzügige Weise zu stellen und damit der jungen Generation ein Forum zur Selbstverwirklichung und zum Experimentieren zu geben. Bei der Jury löste der Ausschreibungstext zum International VELUX Award fol-gende Gedanken aus:

„Der Preis stellt das Tageslicht in den Vordergrund, soll aber gleich-zeitig dazu anregen, die Rolle des Tageslichts zu diskutieren und zu überdenken. Licht ist nicht mehr nur als dienliches Hilfsmittel in der Archi-tektur, sondern als primäres und ent-scheidendes Gestaltungsmittel zu verstehen.“

„Mit dem Preis sollen Projekte gefördert werden, die über die allei-nige Existenz des Lichts hinausge-hen – experimentelle Projekte, die sich am Unbekannten orientieren, an Grenzen gehen, wesentliche Erkennt-nisse gewinnen und nicht nur mit der menschlichen Wahrnehmung arbei-ten, sondern auch soziale und um-weltbezogene Aspekte des Lichts aufzeigen.“

„Mit diesem Preis werden nicht nur Studenten, sondern auch ihre Lehrer und Betreuer gewürdigt.“

Insgesamt wurden bei der Jury 557 Arbeiten aus aller Welt eingerei-cht, die durch eine bemerkenswerte Vielfalt von Ideen und Ansätzen beste-chen. Die Einsendungen überzeugten durch ihre facettenreiche Behand-lung des Lichts als wesentliches Ge-staltungsmittel der Architektur. Die Möglichkeiten, das Licht und seine Kapazitäten immer wieder neu zu in-terpretieren, scheinen schier unbe-grenzt.

Die aufstrebende Generation jun-ger Architekten, die sich an diesem Wettbewerb beteiligte, hat mannig-faltige Methoden und Denkansätze gezeigt, wie der architektonischen Bedeutung des Tageslichts auch in Zukunft gerecht zu werden ist. Die Transformation des räumlichen Po-tenzials von Licht wird immer wieder

Anstöße zur Umsetzung persönlicher Motivation und Interessen geben. Während einige Teilnehmer eine di-rekte räumliche Interpretation bevor-zugten, erfanden andere raffi nierte Mechanismen, um dem Licht beson-dere Identität zu verleihen. In ihrer Vielfalt verdeutlichen die Arbeiten, dass moderne Architektur weder ein allgemein gültiges Anliegen noch eine einheitliche Raumvorstellung verfolgt. Viele Projekte beschäftigten sich mit dem Thema auf allgemeiner Ebene, andere hingegen konzentrierten sich auf spezifi sche konzeptionelle Ideen. Doch trotz dieser Vielfalt ist Licht nach wie vor ein ‚gemeinsamer Nen-ner‘ und eine unentbehrliche Inspira-tionsquelle für die Architektur.

Die Jury war off en für alle unter-schiedlichen Ansätze, denn entschei-dend ist schließlich die Qualität eines Projekts und dessen Vermögen, eine themenbezogene Diskussion in der Ar-chitektur anzustoßen. Dieser Aspekt war ausschlaggebend für die letzt-endliche Auswahl. Die Jurymitglieder empfanden es als große Ehre, Teil dieses Wettbewerbs zu sein. Mitun-ter entfachte sich zwischen ihnen eine lebhafte und provokative Debatte an-gesichts der zahlreichen Beiträge mit unterschiedlichen und anspruchs-vollen Ansätzen. Die drei Siegerpro-jekte wurden von der Jury einstimmig gewählt.

1. PreisLouise Grønlund Museum der Fotografi e

2. PreisGonzalo PardoLeseplatz im Wald

3. PreisAnastasia KarandinouUnsichtbare Lichtbrücken

Per Olaf Fjeld

‚Light of tomorrow‘ lautete das Motto des International VELUX Award 2006. Seine Interpre-tation war den einzelnen Stu-denten überlassen: Konkrete Gebäudeentwürfe wurden ebenso eingereicht wie sehr konzeptionelle Arbeiten die die Grenzen der Architektur mit Skulptur, Landschaftsplanung, Energietechnik, Biologie und vielen anderen Bereichen aus-loteten.

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Vorsitzender der Jury

Page 112: DAYLIGHT & FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05 ......ARTHUR ZAJONC Arthur Zajonc ist Professor der Physik am Amherst College in Amherst, Massachusetts, USA, wo er seit 1978 lehrt. Seine Forschungsschwerpunkte

110 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05

D&A Was haben Ihnen die Kultur, in der Sie aufgewachsen sind, und Ihre Ausbildung zur Architektin über Licht vermittelt?

LG Das Licht in Dänemark und im gesamten Norden ist etwas ganz Besonderes. Es spiegelt sich in un-serer Kultur auf verschiedenen Ebe-nen wider, auch in der Art und Weise, in der wir wohnen und bauen. Ich glaube, dass alle Architekten, so-wohl Praktiker als auch Theoretiker, diesem ‚nordischen Licht’ mit seinem weichen, diff usen und etwas weniger intensiven Charakter sehr viel Auf-merksamkeit widmen. Das Beson-dere am Licht in Dänemark sind die mit den Jahreszeiten verknüpften, sehr unterschiedlichen Helligkeits-zustände. Doch auch innerhalb der einzelnen Jahreszeiten gibt es kleine, aber wichtige Unterschiede. Für Ar-chitekten im Norden ist dies eine Ge-gebenheit, mit der viele sehr bewusst umgehen, und dieses Bewusstsein vermitteln die Lehrer an den Archi-tekturschulen in Dänemark auch an ihre Studenten weiter. Über die Lichtverhältnisse kann man nachle-sen oder sich etwas erzählen lassen, aber erst durch eigene Erfahrungen wird man sich der Wirkung bewusst, die es im Raum entfaltet.

D&A Welche wichtigen Eigen-schaften des Lichts haben Sie bei Ihrer Arbeit für sich entdeckt?

LG Ich habe während der letzten Se-mester an der Architekturschule und besonders in meinem Abschlusspro-jekt ‚Museum für Fotografi e’ die Wir-kung des Lichts im Raum aus einem phänomenologischen Blickwinkel untersucht, das heißt, wie wir mit unserem Körper Raum und Licht sinnlich wahrnehmen. Insofern inte-ressieren mich eigentlich gerade die Nuancen und feinen Unterschiede des nordischen Lichts und die Frage,

wie man durch bewusstes und präzi-ses Arbeiten mit diesen Unterschie-den Gebäude entwerfen kann, die diese Wahrnehmungsweise deutlich machen. Ich will mit Architektur so arbeiten, dass sie das besondere Phä-nomen des Lichts verdeutlicht – Ar-chitektur als Lichtmaschine.

D&A In welche Richtung wird sich die Verwendung von Licht in der Archi-tektur im 21. Jahrhundert entwickeln? Wird sie eher technologiegetrieben oder von den Bedürfnissen des Men-schen geprägt sein, oder von der Not-wendigkeit, Energie zu sparen, oder von allen drei Faktoren?

LG Ich glaube, dass das Licht in der Architektur des 21. Jahrhunderts viele unterschiedliche Rollen und ‚Funktionen’ bekommen wird. Schon seit längerer Zeit ist es konstruktiv möglich, Häuser fast vollständig aus Glas zu bauen und damit sehr große Mengen an Tageslicht einzufangen, aber es wird auch wieder eine Gegen-reaktion darauf erfolgen. Sie wird teilweise von der Frage ausgehen, ob primär die Menge an Tageslicht im Mittelpunkt des Interesses stehen sollte, aber auch von der Frage der Ressourceneffi zienz. Daher meine ich, dass wir eine Architektur erle-ben werden, die viel bewusster und präziser mit dem Tageslicht arbeitet als bisher. Teils wird sie auf den Be-dürfnissen des Menschen basieren, teils auf rein architektonischen Ge-sichtspunkten.

D&A Stellen Sie mit Ihrem Projekt ‚Museum für Fotografi e’ die traditio-nelle Auff assung von Ausstellungs-räumen in Frage, die vor allem in Museen meist als ‚neutrale’ Kisten mit einer tageszeitunabhängigen, unveränderlichen Beleuchtung kon-zipiert sind?

LG Im Museum für Fotografi e habe ich versucht, optimale Vorausset-zungen für das Sehen des Betrach-ters zu schaff en, das heißt, dass er einerseits die ausgestellten Foto-grafi en sieht und andererseits auf sein eigenes Sehen aufmerksam ge-macht wird. Dass er den Raum sieht, in dem er sich befi ndet, das Licht im Raum spürt und die Ausdehnung des Raums wahrnimmt. Gerade mit die-sen unterschiedlichen Helligkeitszu-ständen oder ‚Lichtwelten’ in den einzelnen Ausstellungsräumen, und damit auch mit den Unterschieden von einem Raum zum nächsten, habe ich sehr bewusst gearbeitet.

D&A Was kann man in diesem Sinne von historischen Museen wie der Glyptothek in Kopenhagen mit ihren großen, von oben beleuchteten Räumen lernen, deren Atmosphäre sich abhängig von den Tageslicht-verhältnissen im Freien teils drama-tisch verändert?

LG Gerade der Raum in der Glypto-thek ist ja interessant, da er das Licht zeigt und damit uns, den Betrachtern, den Einfl uss des Lichts auf die Art und Weise, wir wir den Raum erle-ben und sehen, vor Augen führt. Diese Erfahrung führt vielleicht dazu, dass sich der Betrachter mit der Zeit des Lichts und dessen Wirkung im Raum deutlicher bewusst wird. Aber der Raum in der Glyptothek bewirkt noch etwas anderes, weil er nämlich den Kontext und die ‚reale Welt’ draußen nicht ausschließt, sondern mit in den Raum einbezieht.

INTERVIEW MITLOUISE GRØNLUND

Louise Grønlund lebt in Kopen-hagen, wo sie seit Januar 2007 im Architekturbüro Lundgaard & Tran-berg arbeitet. Daneben hat sie eine Teilzeitstelle als Lehrkraft an der Königlichen Dänischen Kunstakade-mie in Kopenhagen.

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Unten Nicht nur in ihrem Sieger-projekt setzte sich Louise Grøn-lund mit der Fotografi e ausein-ander. Auch privat zeigt sie eine hohe Affi nität zu diesem Medium, wie diese äußerst reduzierten Aufnahmen von Räumen unter verschiedenen Lichtbedingungen zeigen.

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D&A Was haben Ihnen die Kultur, in der Sie aufgewachsen sind, und Ihre Ausbildung zum Architekten über Licht vermittelt?

GP Wenn man in einem Land wie Spanien aufwächst, erlangt man ein ‚Bewusstsein‘ für das Licht, das heißt, man nimmt wahr, wie es sich verän-dert. Im Laufe des Jahres, der Jah-reszeiten und selbst der einzelnen Tage bleibt das Licht niemals gleich. Darüber hinaus vermitteln einem die Professoren an der Hochschule das Wissen darüber, wie man mit Licht arbeitet und seine Potenziale nutzt. Das bedeutet nicht nur, das Licht bei Entwürfen zu berücksichtigen, son-dern auch, es als Einfl ussgröße zu betrachten, die ein ganzes Gebäude organisieren kann. Dies ist wirklich eine Herausforderung.

D&A Welche Eigenschaften des Lichts sind für Sie derzeit besonders von Interesse?

GP Zur Zeit interessiere ich mich dafür, mit Licht als einem Material wie Stein oder Beton zu arbeiten und seine Möglichkeiten zu erfor-schen. Ich denke, dass die Lichtei-genschaften in jedem Projekt die Wahrnehmung des Orts durch eine Vielfalt gegensätzlicher räumlicher Eigenschaften verändern sollten, das heißt durch Kontraste wie dun-kel und hell, öff entlich und privat, off en und geschlossen, innen und außen, oben und unten oder leicht und schwer.

D&A Wie werden sich die Art, wie Menschen Licht nutzen, und das Verhältnis zwischen Tageslicht und künstlichem Licht im 21. Jahrhundert verändern?

GP Ich glaube, dass künstliches Licht und Tageslicht zur Zeit gleich wichtig sind. Neue Technologien er-

lauben es, auch mit künstlichen Sy-stemen Tageslichtatmosphären zu erzeugen. Das ist wichtig, da diese Entwicklung in der Zukunft die Form von Gebäuden verändern und neue Arten von Raumprogrammen her-vorbringen kann.

D&A In Ihrem Projekt für den Inter-nationalen VELUX Award haben Sie ein architektonisches ‚Feld‘ mit un-terschiedlichen Raum- und Lichtsitu-ationen entworfen. Beobachten Sie in der Architektur derzeit eine Ten-denz zu vielfältigeren, nicht standar-disierten Lichtlösungen? Und auf welche Aspekte bezieht sich diese neue Vielfalt?

GP Mein Projekt ‚Leseplatz im Wald‘ und die Forschungen, die ich im Vor-feld angestellt habe, konzentrieren sich auf die Erzeugung von Komplexi-tät, sowohl bezüglich des Raums als auch des Lichts. Der ‚Leseplatz‘ ist ein dreidimensionales Netzwerk und kein Gebäude. Daher habe ich mich bei der Entwurfsarbeit ganz darauf kon-zentriert, dieses Netzwerk anhand verschiedener Arbeitsmodelle zu ge-stalten. In diesem Prozess waren Or-ganisationsstrukturen wichtiger als formale Aspekte. Die verschiedenen Strukturen haben durch die Arbeit mit Licht eine Vielfalt von Formen, Farben und Proportionen an einem einzigen Tag hervorgebracht. Mei-ner Meinung nach sollten lediglich Konzepte bestehen bleiben: Die An-ziehungskraft der Architektur liegt in der Fähigkeit, einer Idee, die zu-nächst mit Konzepten und nicht mit Formen verbunden ist, verschiedene formale Ausprägungen zu geben. Die Herausforderung in meinem Projekt bestand darin, etwas aus dem Mate-rial ‚Licht‘ zu erschaff en.

D&A Nicht nur Licht, sondern auch das Gleichgewicht zwischen Licht und Schatten spielt eine große Rolle

in Ihrem Projekt. Inwiefern wurzelt dies in Ihren persönlichen Erfah-rungen?

GP Ich glaube, dass das Konzept von Licht nicht nur Licht bedeutet, sondern auch mit anderen Begriff en wie Schat-ten, Texturen, Refl ektionen, kraftvoll, statisch, farbig und so weiter verbun-den ist. In meinem Wettbewerbspro-jekt habe ich viel mit dem Kontrast zwischen Licht und Schatten gearbei-tet. Das Thema Licht hat mir ermögli-cht, mir ein System von abstrakten Regeln vorzustellen, das die Entschei-dungen und Aktionen im gesamten Ge-staltungsprozess regelt. Das Ergebnis war ein Raum voll unterschiedlicher Lichter und unterschiedlicher Wahr-nehmungen: Ein Ort zum Lesen, des Lichts und der Wahrnehmung ...

D&A Kengo Kuma, ein Mitglied der Jury, hat in einem Interview gesagt:

„Material und natürliches Licht sind das Gleiche.“ Würden Sie dem zu-stimmen, und welche Konsequenzen hat diese Betrachtungsweise für Ihre eigene Arbeit?

GP Ich stimme dem vollkommen zu. In meinem Projekt habe ich mit Ma-terialien und Tageslicht gearbeitet und dabei den Raum benutzt, den ein Baum um sich herum erzeugt, sein ‚Feld‘. Ein Baum bietet, besonders als Teil einer Baumgruppe, die Privat-sphäre, die der Akt des Lesens erfor-dert. Eine enge Beziehung zwischen der Person, dem Buch und der Umge-bung entsteht. Das Ergebnis ist eine neue, kontinuierliche Landschaft vol-ler Lichtsäulen, die den Raum orga-nisieren. Diese Säulen haben einen Einfl uss auf das Spiel des ‚Sehen und nicht gesehen werden‘ und bieten da-durch Spielräume für die Individuali-tät, die das Lesen voraussetzt.

INTERVIEW MITGONZALO PARDO

Gonzalo Pardo lebt und arbeitet in Madrid, wo er an seinem Abschluss-projekt an der Escuela Tecnica Su-perior de Arquitectura de Madrid (ETSAM) arbeitet. Darüber hinaus lehrt er, fi nanziert durch ein zweijäh-riges Stipendium, an der ETSAM und arbeitet an Wettbewerben und eige-nen Projekten.

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Links Alles kann Architek-tur sein – selbst ein gefaltetes Stück Papier. Diese konzeptio-nelle Haltung formulierte Gon-zalo Pardo bereits in seinem Entwurf für einen ‚Palast der kleinen Prinzessin Leonore‘ von 2006. Sie ist auch in seinem preisgekrönten Projekt für den International VELUX Award deutlich zu spüren.

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114 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05

D&A Was haben Ihnen die Kultur, in der Sie aufgewachsen sind, und Ihr Ar-chitekturstudium Ihnen über Licht ver-mittelt?

AK Für die griechische Kultur, in der ich groß wurde, ist das Tageslicht von gro-ßer Bedeutung. Sowohl Licht als auch Schatten können hier sehr intensiv und hart sein. In Teilen Griechenlands wird die Architektur stark durch die dort herrschenden Lichtverhältnisse beeinfl usst. Das Erscheinungsbild von Objekten und Formen bei bestimmtem Lichteinfall und die Notwendigkeit, sich vor Licht und Hitze zu schützen oder das Licht zu fi ltern und zu len-ken, erzeugen eine spezifi sche Atmo-sphäre, die für die lokale Architektur kennzeichnend ist.

Während unseres Studiums an der Architekturfakultät der Natio-nalen Technischen Universität von Athen befassten wir uns mit einer Reihe von Theorie- und Entwurfspro-jekten, bei denen das Licht stets eine elementare Rolle spielte. Ich persön-lich verstehe unter ‚Licht’ das gesamte Beleuchtungsspektrum, angefangen von greller Beleuchtung natürlicher oder künstlicher Art über weiches, diff uses Licht bis zur totalen, licht-losen Finsternis. Bei Dunkelheit (als einer Form des Lichts) rückt die visu-elle Wahrnehmung in den Hintergrund, während unsere anderen Sinne deut-lich geschärft werden.

D&A Welche Eigenschaften des Lichts sind für Ihre Arbeit besonders wichtig?

AK Die von meinen Professoren in Athen, Eindhoven und Edinburgh ge-leiteten Studien und Projekte waren extrem anspruchsvoll und provokativ und regten uns dazu an, eigene Vor-stellungen von Architektur und Licht zu entwickeln. So wird in meinem Pro-jekt für Shanghai, das ich zum Interna-tional VELUX Award eingereicht habe,

das Licht zum verbindenden und zu-gleich trennenden Element zwischen den beiden Ufern des Suzhou River. Als unsichtbare, immaterielle Brü-cke verbindet und trennt das Licht die beiden Stadtteile in Anlehnung an die bewegte Geschichte der Stadt (ehe-mals fungierte der Fluss als Trennlinie zwischen den britischen und ameri-kanischen Besiedlungen). Abgesehen von bloßer ‚Dekoration’ übernimmt das Licht gleichzeitig eine sehr prä-zise und rationale Funktion: Im Open-Air-Kino wird es zur Projektion, in den Telefonzellen zur Beleuchtung genutzt und bei der unterirdischen Filmschule als dramatischer Eff ekt eingesetzt.

Durch diese Auff assung von Licht bieten sich mir zwei verschiedene In-terpretationen: Einerseits schaff t das Licht als immaterielle Brücke eine Verbindung und Trennung zwischen den beiden Stadtteilen, andererseits greift die entworfene Beleuchtung die vor Ort existierenden Lichtquellen auf, die gleichermaßen beweglich und ver-änderlich sind, wie Autoscheinwerfer, mobile Verkaufsstände und Hausbe-leuchtungen. Licht und Beleuchtung eines Ortes vermitteln uns einen Ein-druck des dort herrschenden Lebens. Eine Lichtkarte einzelner Gebiete Shanghais würde vermutlich deren jeweilige Charakteristika off enbaren und uns dazu veranlassen, bestimmte Gegenden näher zu betrachten, um he-rauszufi nden, was dort passiert.

Das Licht kann aber auch als Mal-werkzeug, als ‚Stift’ genutzt werden. Bei meiner Interpretation und Darstel-lung der Stadt Shanghai nutzte ich es auch als Planungsinstrument. Wir er-stellten mehrere Modelle der Stadt aus verschiedenen Materialien wie Plastik, Gips und Wachs, in die wir Routen, Ak-tivitäten und Informationen eingra-vierten. Diese Modelle projizierten wir mit einem Overheadprojektor auf eine Wand und zeichneten die Projek-tionen ab. Das Ergebnis waren unsere Stadtpläne.

In Shanghai trafen wir am Fluss auf einen alten Chinesen, der pausen-los mit Wasser etwas auf den Boden schrieb. Bevor er einen Satz beendete, war dessen Anfang zwar bereits wie-der verschwunden, aber schon gelesen worden – ähnlich einer Lichtfackel, die Zeichen in den Himmel ‚schreibt’.

D&A In Ihrem Projekt für den Interna-tional VELUX Award nutzen Sie das Licht, um eine Verbindung zwischen bislang voneinander getrennten Räu-men und Menschen zu schaff en. In-wieweit greifen Sie hierbei auf eigene, persönliche Erfahrungen zurück?

AK Licht kann in verschiedenster Weise als Verbindung dienen; so führt zum Beispiel ein Leuchtturm den Betrachter oder Reisenden zu einem bekannten Punkt. Es kann den Weg weisen oder auch Räume und Menschen durch gelungene Insze-nierung eines Ortes einander näher bringen. Das Licht schaff t die Vo-raussetzungen für bestimmte Akti-vitäten, und die spezielle Beleuchtung eines Ortes lässt auf die dort stattfi n-denden Aktivitäten schließen.

Auf dem Schouwburgplein in Rotterdam dienen beispielsweise die dort installierten Strahler, deren Position und Ausrichtung beliebig verändert werden kann, als Verbin-dungsglied zwischen den Besuchern und dem Ort selbst, der in diesem Falle eine Art Bühne bildet. In ande-ren Fällen verbindet das Licht –zum Beispiel Feuer – die Menschen, wenn sie sich um die Lichtquelle herum ver-sammeln. Anders herum kann auch das Nichtvorhandensein von Licht zu einer Konzentration oder Verbin-dung der Menschen führen – zum Beispiel, wenn sich an einem heißen, sonnendurchfl uteten Ort viele Leute im Schatten zusammenfi nden. Licht hat aber noch weitere verbindende Eigenschaften: Es bildet eine Syn-these zwischen anderen Elementen

oder Merkmalen eines Ortes. Die immateriellen Lichtbrücken verbin-den das Leben am Ufer des Suzhou nicht nur mit dessen Vergangenheit, sondern auch mit diff usen, weniger off ensichtlichen Fragmenten der Ge-genwart. Bei entsprechender Inter-pretation und Darstellung schaff en sie eine Verbindung zwischen einzel-nen Fragmenten der Stadt – zwischen kleinen Details und scheinbar neben-sächlichen Ereignissen.

D&A Mit Ihrem Projekt wollen Sie Licht nach Shanghai bringen, in eine Stadt, die größtenteils – gelinde ge-sagt – schon reichlich beleuchtet ist. Gleichzeitig diskutieren Lichtplaner in aller Welt das Problem der ‚Lichtver-schmutzung’. Wie vermeiden Sie es, durch Ihr Projekt einfach etwas hin-zuzufügen, das bereits im Übermaß vorhanden ist? AK Einige Teile Shanghais mögen durchaus gut oder auch überbeleuch-tet sein; die Ufergegenden des Suz-hou erscheinen hingegen in einem sehr ‚speziellen‘ Licht. Angesichts mangelnder Straßenbeleuchtung sorgen nahezu ausschließlich be-wegliche und unvermittelt ein- oder ausgeschaltete Lichtquellen wie Au-toscheinwerfer, mobile Verkaufs-stände und Hausbeleuchtungen für Helligkeit. Für die Gestaltung urba-ner Beleuchtung ist dies eine durch-aus reizvolle Herausforderung. Mein Entwurf ist eine Interpretation dieser Umstände: Licht sollte nicht als reines Beleuchtungsmittel angesehen, son-dern planungstechnisch und ergebni-sorientiert als narratives Instrument verstanden werden. Die Lichter in meinem Entwurf bewegen und ver-ändern sich abhängig von ihrer Funk-tion, ähnlich der bereits existierenden Lichtquellen. So wechselt die Hellig-keit des Open-Air-Kinos und der Tele-fonzellen je nach Tageszeit sowie in Abhängigkeit von ihrer Nutzung.

INTERVIEW MIT ANASTASIA KARANDINOU

Anastasia Karandinou stammt aus Athen, wo sie ihr Architekturdiplom an der Nationalen Technischen Uni-versität erhielt. Momentan arbeitet sie an ihrer Doktorarbeit (PhD) zum Thema „Materialität und Immateria-lität in der Architekturtheorie und im architektonischen Entwurf“ an der Universität von Edinburgh.

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Oben Auch bei der Arbeit an ihrem Projekt für Shanghai war das Licht für Anastasia Karandinou ein wichtiges Hilfsmittel. Aus Materialien wie Wachs oder Gips wurden abstrakte ‚Pläne‘ der Stadt geformt, mittels eines Overhead-projektors an eine Wand projiziert und dort in großem Maßstab abgezeichnet.

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DESIGN LIKE YOU GIVE A DAMN

Herausgeber: Architecture for HumanityMetropolis Books 2006ISBN 1–933045–25–6

Wir schreiben das Jahr 2006. Alle Welt blickt gebannt auf das Wachs-tum Shanghais, die künstlichen Inseln vor der Küste Dubais und den Wieder-aufbau des World Trade Center. Alle Welt? Nicht ganz. Eine wachsende Gemeinschaft vor allem jüngerer Ar-chitekten entzieht sich dem Wettlauf um den repräsentativsten Firmensitz, das luxuriöseste Holiday-Resort und den höchsten Wolkenkratzer der Welt und widmet sich einer noch grö-ßeren Herausforderung: für die mehr als eine Milliarde Katastrophenopfer und Bürgerkriegsfl üchtlinge, Slumbe-wohner und Obdach lose auf der Erde menschenwürdige Behausungen zu schaff en. Zu den führen den Köpfen der Bewegung gehören der amerika-nische Architekt Cameron Sinclair und seine Ehefrau, die Journalistin Kate Stohr, die mit ihrer Organisation Architecture for Humanity für ‚Design Like You Give A Damn’ verantwortlich zeichneten. Eingangs des Buchs be-

schreibt Sinclair seinen eigenen Wer-degang, der symptomatisch für den so vieler Aktivisten in der Entwick-lungs- und Katastrophenhilfe ist: Eine berufl iche Sinnkrise („Ich war dabei, Verkaufsautomaten für Lippenstifte für einen Ort zu entwerfen, an dem der durchschnittliche Wochenlohn dem Kaufpreis eines Lippenstifts ent-sprach“), ein sozial engagierter Men-tor und eine Reise in eine notleidende Region (das von HIV/AIDS heimge-suchte Südafrika) führten ihn zur Gründung seiner Organisation, die an-fangs vor allem durch Ausstellungen und Architekturwettbewerbe be-kannt wurde.

In ‚Design Like You Give A Damn’ dokumentieren Sinclair und Stohr die Entwicklung von Notunterkünf-ten und Interims-Wohnbauten der vergangenen 100 Jahre; genauer: seit dem Erdbeben von 1906 in San Francisco, sowie die Rahmenbedin-gungen, unter denen diese entstan-den sind. Vor allem jedoch zeigen sie aktuelle Lösungsansätze auf, denn noch nie folgten den Statistiken zu-folge humanitäre und Naturkatastro-phen so rasch aufeinander wie heute. Dabei ist das Medieninteresse, das eine Katastrophe hervorruft, nicht immer ein objektiver Gradmesser. Denn verheerender noch als Erdbe-ben oder Sturmfl uten sind oftmals lang anhaltende Bürgerkriege, Dür-reperioden oder die HIV/AIDS-Epide-mie in Afrika, die Hilfsorganisationen bis an die Grenzen ihrer Belastbar-keit fordert. ‚Design Like You Give A Damn’ macht deutlich, wie vielfältige Formen ‚Architektur’ für Bedürftige weltweit annehmen kann. Sie reicht von den Zeltstädten des UNHCR bis zur Schlafsack-Spendenaktion für Obdachlose in Baltimore und vom Frauenhaus im Senegal bis zu den Bauten des ‚Rural Studio’ im Süden Alabamas. In mehreren Interviews haben die Herausgeber die Protago-nisten ‚humanitärer Architektur’ zu

ihren Erfahrungen befragt. Die Ant-worten ringen Bewunderung ab und desillusionieren zugleich: Deutlich wird darin, wie viel selbst Einzelper-sonen mit beschränkten Budgets er-reichen können, aber auch, welche Hürden sich ihnen in den Weg stellen. Zu Bürokratie und Korruption gesel-len sich logistische Probleme und kul-turelle Barrieren. Vorfabrizierte, über alle Kulturgrenzen hinweg ‚gültige’ Einheitslösungen sind daher selbst im Wohnbau der niedersten Preiska-tegorie auf dem Rückzug; das Bauen mit lokalen Ressourcen – Materialien ebenso wie Arbeitskräften – scheint zur Erfolgsvoraussetzung geworden zu sein.

Man möchte ‚Design Like You Give A Damn’ einen breiten Leser-kreis wünschen; wohl wissend, dass damit allein noch nichts erreicht ist. Denn, in den Worten eines Entwick-lungshelfers, „Wir brauchen nicht eure Aufmerksamkeit, wir brauchen eure Unterstützung!“. Diese erfordert, wenn sie ernst gemeint ist, meist ein Umdenken bei den Architekten. Oft-mals wissen die Betroff enen viel bes-ser, was sie benötigen, als die selbst ernannten ‚Experten‘. Zum Beispiel sauberes Trinkwasser statt neuer Fenster oder Arbeit statt gepfl a-sterter Gehwege. Das wirft die Frage auf, inwieweit der Architekt in diesen Projekten überhaupt noch als Gestal-ter benötigt wird. Der Architekt Mau-rice D. Cox aus Charlottesville, der mit dem Bayview Rural Village an der US-amerikanischen Ostküste ein viel beachtetes humanitäres Siedlungs-projekt realisiert hat, gibt in seiner Antwort gleichsam die Quintessenz des ganzen Buchs wieder: „Wir müs-sen dort sein, wo Probleme existieren. Wenn die Entscheidungen getroff en werden, müssen wir anwesend sein, um unsere Meinung äußern zu kön-nen. Dann werden auch unsere Fä-higkeiten nachgefragt werden, und wir werden erreichen, dass auch Ge-

staltungsfragen ernst genommen werden. Entwerfer müssen sich als Führungspersonen in der Zivilgesell-schaft engagieren und zur rechten Zeit am richtigen Ort sein.“

THE EXPANDED EYE

Herausgeber: Kunsthaus Zürich, Bice CurigerHatje Cantz Verlag 2006ISBN 3–7757–814–1

,Sehen – entgrenzt und verfl üssigt‘ lautet der Untertitel dieses Katalogs und der gleichnamigen Ausstellung, die im Sommer 2006 im Kunsthaus Zürich stattfand. Wer dabei an Dro-genrausch und Technikbegeiste-rung denkt, liegt gar nicht so falsch: Die Kunst der 60er-Jahre spielt die Hauptrolle in ‚The Expanded Eye‘, namentlich die Erforschung des menschlichen Sehens und seines Wahrnehmungsapparates aus Auge und Gehirn, den die Op-Art und der Experimentalfi lm mit ihren ‚entgren-zenden‘ Vexier- und Flimmerbildern in seiner Fehlbarkeit und Manipulierbar-keit darzustellen suchten. Der viel zi-tierte und gelegentlich missbrauchte Begriff vom ‚Aufbrechen der Sehge-wohnheiten‘ entstand seinerzeit und mit ihm die Idee, das ‚Sehen sehen zu lernen‘, die bis heute zum Beispiel in der Arbeit von Olafur Eliasson fort-lebt.

Die Auswahl der mehr als 100 Kunstwerke in Ausstellung und Buch beginnt bei Marcel Duchamps frühen ‚Rotoreliefs‘ aus den 30er-Jahren – runde Scheiben mit asym-metrischen, farbigen Mustern, die bei schneller Rotation zu konzen-trischen Farbkreisen verlaufen – und reicht über die ‚Licht-Raum-Modula-toren‘ von Laszlo Moholy-Nagy und die Op-Art bis in die heutige Zeit –

BÜCHERREZENSIONENZum Weiterlesen: Aktuelle Bücher, präsentiert von D&A.

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sie je fünf Parfümeure und fünf Ar-chitekten zum Gespräch an Orte, die ungewöhnlich eng mit Düften verbun-den sind – zum Beispiel in die Kata-komben und in die ‚Atéliers Hermès‘ in Paris, in den Meatpacking District von New York, in eine holländische Wind-mühle oder in den Giardino dei Sem-plici in Florenz.

Dass ausgerechnet das Kapitel ‚Tod und Entropie‘ ganz am Anfang von ‚Invisible Architecture‘ steht, macht den Einstieg ins Buch etwas unappetitlich; allein sollte die Erwäh-nung von Kloaken und Menschenop-fern, chemischer Kriegsführung und verrottenden Nahrungsmitteln nie-mandem das Weiterlesen verleiden. ‚Invisible Architecture‘ ist eine Achter-bahnfahrt durch fünf Jahrtausende Geruchsgeschichte; die Erzählrei-henfolge wirkt mitunter verworren, doch hinter jeder Kurve lauern neue Erkenntnisse über ein Thema, das in der bisherigen Geschichtsschrei-bung eindeutig unterrepräsentiert ist. Selbst die kniffl ige Aufgabe, ihr Buch über Gerüche zu illustrieren, haben die Autoren ansprechend ge-löst. Sie verwendeten ganzseitige Fotografi en von Wohnräumen, Kult-stätten und Stadtplätzen, Orten und Un-Orten aus aller Welt, die von fei-nen, nachträglich retuschierten ‚Ge-ruchsschwaden‘ durchzogen sind. Dass ein solches Verfahren leicht ins Kitschige abgleiten kann, dürfte einleuchten, doch in ‚Invisible Archi-tecture‘ wurde es mit der gebotenen Subtilität gehandhabt und macht das Buch damit zu einem durchaus gelun-genen Gesamtkunstwerk.

seine Leser in die Welt der Gerüche zu entführen. Doch obwohl ‚Das Parfum‘ hunderttausendfach verkauft und jüngst auch verfi lmt wurde, fristet sein Thema, die olfaktorische Wahr-nehmung von Orten, Menschen und Gegenständen, in der Gegenwartsli-teratur eher ein Mauerblümchenda-sein.

Nun haben Anna Barbara und An-thony Perliss das Sujet wieder aufge-nommen. In ‚Invisible Architecture‘ unternehmen sie den Versuch, die Geschichte der menschlichen Kul-tur und mit ihr der Architektur aus dem Blickwinkel des Geruchssinns, der Düfte und des Gestanks neu zu schreiben. Glaubt man ihren Ausfüh-rungen, so waren (und sind) Gerüche von wahrhaft evolutionärer Bedeu-tung. Schon die Entwicklung des Ur-menschen vom Vier- zum Zweibeiner entfernte die menschliche Nase, rein räumlich, vom Erdboden und den Ge-rüchen, die er verströmte. Auch die spätere Menschheits- und Technik-geschichte kann, so vermittelt es das Buch, als sukzessive Ausrottung der meisten Gerüche interpretiert wer-den, die uns einst umgaben. Noch nicht einmal die meisten Baumateri-alien, die wir heute verwenden, ver-strömen – im Gegensatz etwa zu Holz, Stroh und Lehm – noch nennenswerte Gerüche. Statt dessen wird der ‚dome-stizierte Duft‘ in allen Bereichen des zwischenmenschlichen Zusammen-lebens ganz gezielt eingesetzt – vom Parfüm bei der Partnersuche bis zum ‚government standard bathroom ma-lodor‘, einem vom US-Verteidigungs-ministerium entwickelten Kampfstoff , dessen Gestank beim Feind sofortige Fluchtrefl exe auslösen soll.

Auf die chronologische Aufarbei-tung des Themas verzichteten Barbara und Perliss; statt dessen gliederten sie ihr Buch in sieben Ka-pitel wie ‚Emotionen und Riten‘, ‚Iden-tität und Gedächtnis‘oder ‚Körper und Entfernungen‘. Daneben baten

in ‚The Expanded Eye‘ durch eine An-thologie aus Textbeispielen und le-xikalischen Stichworten aus Kunst, Kulturtheorie, Psychologie und Phy-siologie. Die Auswahl reicht von Ru-dolf Arnheims ‚Kunst und Sehen‘ über Josef Albers‘ ‚Interaction of Color‘ bis zu Susan Sontags ‚Über Fotogra-fi e‘ [On Photography], streift also na-hezu alle Aspekte des menschlichen Sehens. Wem dieser Blickwinkel noch zu eng erscheint, dem sei der Beitrag des Biologen Rüdiger Wehner emp-fohlen. Dieser hat sich mehr als 30 Jahre lang mit Cataglyphis beschäf-tigt, einer Ameisenart aus der Sahara. Sie kann zwar keine Farben auseinan-derhalten, fi ndet jedoch dank ihrer Fä-higkeit, die Polarisationsmuster des Sonnenlichts zu erkennen, in der ein-tönigen Wüstenlandschaft über Hun-derte von Metern immer wieder in ihren Bau zurück. Die Natur hält, wie es scheint, auch für das ‚entgrenzte Sehen‘ das beste Paradigma bereit.

INVISIBLE ARCHITECTUREExperiencing Places through the Sense of Smell

Autoren: Anna Barbara, Anthony PerlissSkira Editore 2006ISBN 88–7624–267–8

Als Grenouille, der tragische Held in Patrick Süskinds Roman ‚Das Parfum‘, erstmals die Straßen von Paris betritt, sind es weniger die eindrucksvollen Bauten, die Farben und das Stimmen-gewirr der Stadt, die ihre Faszination auf ihn ausüben, sondern die tausend Düfte und ebenso vielen Nuancen abscheulichen Gestanks, die die Luft der französischen Metropole erfüllen. Wie kaum einem Schriftsteller zuvor gelingt es Süskind in seinem Roman,

zum Beispiel zu Olafur Eliasson, des-sen ‚The Inner Kaleidoscope‘ in Zürich gezeigt wurde. Ebenso vielfältig wie die Kunstgattungen sind die Medien, derer sich die Künstler bedienen: Ge-mälde von Salvador Dalí und Josef Al-bers, im Meskalinrausch entstandene Federzeichnungen von Henri Michaux, kinetische Skulpturen von Jean Tin-guely, Drahtreliefs von Jesús Rafael Soto, Hologramme von Bruce Nau-man, Lichtkunst von James Turrell und ‚The Exploding Plastic Inevita-ble‘, ein berauschendes Gesamtkunst-werk aus Lichtprojektionen und der Musik von Velvet Underground, mit dem Andy Warhol die Clubkultur der späteren 60er- und der 70er-Jahre prägte. Erstaunlicherweise sind die Nachfolger der damaligen Un-dergroundinszenierungen, die Mu-sikvideos heutiger Tage, im Buch überhaupt nicht vertreten. Gezeigt werden statt dessen ausschließlich Erzeugnisse der ‚hochkulturellen‘ Kunstproduktion. Die Grenzen zwi-schen Kunst und Kommerz scheinen, selbst Jahrzehnte nachdem Warhol ihre Aufl ösung predigte, zumindest im musealen Bereich noch so unpas-sierbar wie immer schon.

Wer mehr über die Wechselbezie-hung zwischen Op-Art und Populär-kultur erfahren möchte, wird auch im Textteil des Buchs kaum fündig wer-den. Lesenswert sind die sechs einlei-tenden Essays dennoch, allen voran ‚Kritik des Auges – Auge der Kritik‘ von Diedrich Diederichsen, in dem der Ber-liner Kulturwissenschaftler erläutert, warum das Auge ausgerechnet in den 60er-Jahren so nachhaltig ‚außer Rand und Band geriet‘ und warum die Op-Art lediglich für kurze Zeit ‚en vogue‘ war: Ihre Nähe zum Dekora-tiven und ihr Mangel an Inhalten jen-seits des bloß Sichtbaren ließen sie auf Dauer repetitiv und ermüdend wirken.

Ergänzt werden die sechs Auf-sätze und zahlreichen Abbildungen

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1 RAINER MAHLAMÄKI

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118 D&A FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05

EMPFIEHLT

Alvar Aalto – Designer Herausgeber: Tuukkanen, PirkkoAlvar Aalto Museum/Alvar Aalto Foundation, HelsinkiISBN 952-5371-04-2

Das Buch ist die erste umfassende Veröff entlichung über das Möbel- und Produktdesign Alvar Aaltos. Die auf 240 Seiten versammelten 300 zum Teil bisher unveröff entlichten und farbigen Fotografi en illustrieren Alvar Aaltos Schaff en als Designer. Sie werden begleitet von zahlreichen Textbeiträgen, unter anderem von Timo Keinänen, Pekka Korvenmaa und Ásdís Ólafsdóttir. Neben dem Design für Kristallgläser und Leuch-ten hat sich Aalto auf den Entwurf von Möbeln konzentriert. Diesen ist der größte Teil des Buchs gewidmet. Einen Überblick über die historische Entwicklung des Möbeldesigns und des Kunsthandwerks seit 1920 bie-tet Kaarina Mikontranta, Chefkura-torin des Alvar Aalto Museums in Helsinki.

Juha LeiviskäHerausgeber: Marja-Ritta Norri, Kristiina PaateroFinnisches Architekturmuseum, HelsinkiISBN 952-5195-09-0

Juha Leiviskä gilt als einer der wichtigsten zeitgenössischen Ar-chitekten Finnlands. Er hat sich be-sonders durch seine Sakralbauten wie die Myyrmäki-Kirche in Vantaa oder die Männistö-Kirche in Kuopio sowie durch den Einsatz des Tages-lichts in seinen Bauten einen Namen gemacht. Das 216-seitige, auf Eng-lisch und Finnisch verfasste Buch präsentiert 43 gebaute und unge-baute Projekte und ein komplettes Werkverzeichnis. Ein Textbeitrag des Architekten führt in den Kata-log ein. Des Weiteren fi nden sich au-tobiografi sche Notizen und Kenneth Framptons Artikel ‚Landform, Fa-bric and Light‘ zum Werk von Juha Leiviskä.

Donald Judd: Architektur – ArchitectureHerausgeber: Peter NoeverHatje Cantz VerlagISBN 3-7757-1132-5

Die 144 Seiten starke, erstmals zwei-sprachige Neuaufl age des 1991 zur Ausstellung im MAK – Museum für Angewandte Kunst Wien erschie-nenen Buches zeigt eine weniger be-kannte Seite des amerikanischen Minimalisten Donald Judd: den Ar-chitektur- und Möbelentwurf. Zeich-nungen, Entwurfsskizzen, Pläne, Fotografi en und Textbeiträge, unter anderem von Donald Judd selbst, veranschaulichen seinen architekto-nischen und designerischen Stand-punkt. Vorgestellt wird das von Judd 1971 zu einem Ensemble von Gegen-wartskunst ausgebaute Militärfort in Marfa, Texas. Die darin ausgestell-ten Möbelobjekte sind, dem Material und der Form verpfl ichtet, vor allem auf die Benutzbarkeit ausgelegt. Die formale Verwandtschaft zu Judds Skulpturen ist in ihnen jederzeit wie-derzuerkennen.

Louis Kahn – Essential Texts Herausgeber: Robert TwomblyW. W. Norton & Company; 2003ISBN 0-393-73113-8

Robert Twombly, Professor für Ar-chitekturgeschichte an der City Uni-versity of New York, präsentiert in seinem Buch eine einzigartige Aus-wahl teilweise bisher unveröff ent-lichter Reden, Essays und Interviews mit und von Louis Kahn. Seine archi-tektonische Entwicklung von 1940 bis zum Tod 1974, seine Grundsätze und Lehren sind hier auf 256 Seiten umfassend wiedergegeben. Eine Einführung und zahlreiche Anmer-kungen Robert Twomblys erläutern das mündliche und schriftliche Werk des großen amerikanischen Archi-tekten.

BÜCHEREMPFEHLUNGENEuropäische Architekten empfehlen ihre LIeblingsbücher in D&A.

Page 121: DAYLIGHT & FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05 ......ARTHUR ZAJONC Arthur Zajonc ist Professor der Physik am Amherst College in Amherst, Massachusetts, USA, wo er seit 1978 lehrt. Seine Forschungsschwerpunkte

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2 PAUL DIEDEREN AND BERT DIRRIX

MANUEL AND FRANCISCO AIRES MATEUS

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EMPFEHLEN

Dom Hans van der LaanAutor: Alberto FerlengaArchitectura & Natura UitgeversISBN 9076863059

Nur wenige Bauten des 20. Jahrhun-derts sind so von Einfachheit, Harmo-nie und dem Streben nach perfekter Proportion geprägt wie diejenigen des holländischen Priesters, Archi-tekten und Theoretikers Dom Hans van der Laan (1904–1991). Die Au-toren Alberto Ferlenga und Paola Verde arbeiteten beide lange Zeit im Kloster Vaals bei Aachen, in dem der größte Teil des Archivs von van der Laan lagert. In ihrem Buch ge-lingt es ihnen, die oft abstrakten und mystischen Themen, die van der Laans Theorien zu Grunde lagen, allgemein verständlich darzulegen. Darüber hinaus enthält die Mono-grafi e eine komplette, reichhaltig il-lustrierte Übersicht seiner gebauten Werke sowie einen ausführlichen Le-benslauf.

Atlas of the Dutch Urban BlockAutoren: Susanne Komossa, Max RisseladaThoth UitgeverijISBN 9068683829

In ihrem Entwurfsatlas geben Su-sanne Komossa und Max Risselada einen Überblick über die Entwick-lung des städtischen Wohnblocks in Amsterdam und Rotterdam vom 17. Jahrhundert bis zum heutigen Tag. 19 Stadtfragmente werden an-hand von Grundrissen und Schnit-ten untersucht. Die Zeichnungen werfen ein neues Licht auf die Be-ziehung zwischen öff entlichem und privatem Raum sowie zwischen ein-zelner Wohnung, Wohnblock und Stadtquartier. Zu den aktuellsten im Buch vorgestellten Projekten zählen zum Beispiel die Neustruktu-rierung des Rotterdamer Hafens und die Stadtentwicklungspläne für Java Island in Amsterdam. Zahlreiche Es-says geben darüber hinaus Einblicke in zeitgenössische Entwicklungen in Architektur und Städtebau.

The Capsular Civilization Autor: Lieven de CauterNAi PublishersISBN 9056624075

Die Anschläge des 11. September und der weltweite ‚Krieg gegen den Terrorismus‘ haben eine Entwicklung beschleunigt, die in Zeiten sozialer Ungleichheit und ökologischer Kata-strophen schon lange latent vorhan-den war: Das Leben vieler Menschen ist durch Angst bestimmt; der Ein-zelne zieht sich immer weiter in die eigenen vier Wände zurück. Lieven de Cauter hat in seinem Buch die gesellschaftlichen Veränderungen seit 9/11 dokumentiert und analy-siert. Er zeichnet das realistische und alarmierende Bild einer neuen Weltordnung, die die tägliche Arbeit von Architekten und Stadtplanern ebenso beeinfl usst wie das gesell-schaftliche Leben in den heutigen Städten.

EMPFEHLEN

Imaginar a Evidência Autor: Alvaro SizaEdições 70ISBN: 9727085210

Von seinen ersten Projekten im por-tugiesischen Matosinhos bis zu sei-nem über ganz Europa (von Berlin bis Lissabon und von Den Haag bis Bar-celona) verbreiteten Spätwerk schuf Alvaro Siza einige der wichtigsten Bauten des 20. Jahrhunderts. Viele von ihnen sind in dieser tiefgrün-dig refl ektierten und bisweilen po-etisch anmutenden Autobiografi e wiedergegeben. Der Werdegang des Buches ist reichlich komplex: ‚Ima-ginar a Evidência’ ist die Rücküber-setzung einer von dem italienischen Architekten Guido Giangregorio in seiner Muttersprache angefertig-ten Mitschrift dreier Tonbänder, die Siza in seinem Studio in Porto aufge-nommen hatte.

O Engenheiro do Tempo Perdido Autor: Pierre Cabanne Assírio & Alvim (Arte e Produção, 4)ISBN: 9723702576Englische Ausgabe: Dialogues with Marcel DuchampDa Capo PressISBN: 0306803038

Radikal wie kaum ein zweiter Künst-ler des 20. Jahrhunderts hat Marcel Duchamp den Kunstbegriff revolutio-niert: Sein Objet trouvé, das Urinal im Museum, war der Ahnherr für zahl-lose weitere Alltagsgegenstände und Müll-Objekte, die per Deklaration zum Kunstwerk wurden. 1966, zwei Jahre vor seinem Tod, gab Duchamp dem Autor Pierre Cabanne das in diesem Buch aufgezeichnete Interview, das Klarheit über den Mythos verschaff t, der ihn und seine Nicht-Kunst um-gibt. Deutlich wird bei der Lektüre, wie wenig Duchamp den Kunstbe-trieb mochte (obwohl er ihn zu sei-nem Vorteil nutzte) und wie wenig er Kunst ihrer Ästhetik wegen schätzte. ‚O Engenheiro do Tempo Perdido‘ ist ein off enes, ehrliches Buch, das keiner weiteren Interpretation durch Kunst-kritiker bedarf.

O elogio da sombra Autor: Junichiro TanizakiRelógio d’ÁguaISBN: 9727085210Deutsche Ausgabe: Lob des SchattensManesse VerlagISBN 3–7175–4029–4

‚Entwurf einer japanischen Ästhe-tik‘ lautet der Untertitel des Buches, in dem der japanische Schriftstel-ler Junichiro Tanizaki eine verglei-chende Betrachtung des westlichen und des traditionellen japanischen Begriff s der Schönheit anstellt. ‚Lob des Schattens‘ entstand 1934, also zu einer Zeit, da die traditionelle ja-panische Architektur und mit ihr der Kult des Schattenhaften und Un-vollkommenen in der japanischen Kultur gerade im Verschwinden be-griff en war. Gerade westlichen Le-sern schärft Tanizaki den Blick für die Unterschiede beider Kulturen im Umgang mit Licht, Farbe und Materialien – und selbst mit dem menschlichen, speziell dem weib-lichen Körper.

Richard Hutten: Works in Use Autorin: Brigitte FitoussiStichting KunstboekISBN 9058561763

Im Alter von nicht einmal 38 Jah-ren hat der niederländische Desi-gner Richard Hutten schon einen bleibenden Eindruck in der internati-onalen Designwelt hinterlassen. Vo-raussichtlich im Jahr 2008 wird in Seoul eine Design-Akademie eröff -net, die seinen Namen trägt. Viele seiner Designobjekte, wie beispiels-weise der Bronto-Stuhl oder die Do-moor-Tasse, verkaufen sich äußerst erfolgreich. Hutten betätigt sich auch in der Innenarchitektur, so hat er für das Central Museum in Utrecht das Restaurant, die Gartenmöbel und den Buchladen entworfen. Huttens Entwürfe, die er selbst mit „works in use“ skizziert, werden von vielen Men-schen, auch bekannten Zeitgenossen, geschätzt. Das Buch gibt erstmals einen Einblick in die Welt des Desig-ners und beschreibt, wie Prominente mit seinen Designobjekten leben.

Thinking Architecture Autor: Peter ZumthorLars Müller PublishersISBN: 3764361018

Eine Architektur, die in einer sinn-lichen Verbindung zum Leben stehen soll, erfordert ein präzises Denken, das über Form und Konstruktion weit hinausgeht. In seinen Texten bringt der Schweizer Architekt Peter Zum-thor zum Ausdruck, was ihn zu sei-nen Gebäuden motiviert, die Gefühl und Verstand des Menschen glei-chermaßen zutiefst berühren. Die deutschsprachige, 2006 erschie-nene Neuaufl age wurde nunmehr um drei Essays ergänzt: ‚Hat Schönheit eine Form?’, ‚Die Magie des Realen’ und ‚Das Licht in der Landschaft’.

Page 122: DAYLIGHT & FRÜHJAHR 2007 AUSGABE 05 ......ARTHUR ZAJONC Arthur Zajonc ist Professor der Physik am Amherst College in Amherst, Massachusetts, USA, wo er seit 1978 lehrt. Seine Forschungsschwerpunkte

DAYLIGHT & ARCHITECTUREAUSGABE 062007