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Das Konzept des suchtähnlichen Essverhaltens ist keineswegs eine Errungenschaft des 21. Jahrhun- derts, sondern wird bereits seit vie- len Jahrzehnten kontrovers disku- tiert. Tatsächlich zeigen sich viele Parallelen zwischen Suchtverhalten und übermäßigem Konsum hoch- kalorischer Nahrungsmittel. Obwohl in den letzten Jahren vermehrte tier- experimentelle Untersuchungen zu diesem Thema durchgeführt werden und erste Versuche unternommen wurden, suchtartiges Essverhalten beim Menschen standardisiert zu erfassen, ist man von einem einheit- lichen Konsens über die Validität des Suchtansatzes sowie dessen prakti- sche Implikationen weit entfernt. Auch bezüglich der Effekte von kalorienfreien Süßstoffen auf Ess- verhalten, Körpergewicht und Ge- sundheit gehen die Meinungen stark auseinander. Metaanalytische Be- funde aus Humanstudien zeigen je- doch, dass durch die Verwendung von Süßstoffen als Zuckerersatz eine erhebliche Reduktion der Kalorien- aufnahme erreicht und somit ein Gewichtsverlust bei übergewichti- gen Menschen unterstützt werden kann. Daher scheint ein suchtähn- licher Konsum von Süßstoffen oder eine durch Süßstoffkonsum indu- zierte Steigerung von Verlangen nach Zucker eher unwahrscheinlich. Die Annahme, dass man süchtig nach bestimmten Nahrungsmitteln sein kann, ist in der Allgemeinbe- völkerung weit verbreitet. So haben Studien aus Großbritannien gezeigt, dass über 90 Prozent der befragten Personen angaben, der Meinung zu sein, dass manche Menschen süchtig nach Essen sind. Etwa ein Viertel der Befragten gab an, sich selbst als süch- tig nach Essen wahrzunehmen. Dabei scheint diese Selbstwahrnehmung leicht durch Medienberichte beein- flussbar zu sein: Wenn die Forscher den Probanden einen angeblichen Zeitungsartikel zu lesen gaben, in dem behauptet wurde, dass manche Nahrungsmittel definitiv süchtig ma- chen können, verdoppelte sich be- reits die Zahl – nun gab etwa die Hälf- te der Befragten an, sich selbst als süchtig nach Essen wahrzunehmen. Aufgrund der leichten Verfügbar- keit verarbeiteter, hochkalorischer Nahrungsmittel und den hohen Prävalenzraten krankhaften Über- gewichts gehen viele Menschen – darunter auch Wissenschaftler – da- von aus, dass es sich bei diesem Suchtkonzept übermäßigen Essens um ein Phänomen des 21. Jahrhun- derts handelt. Tatsächlich lassen sich aber die ersten wissenschaftlichen Arbeiten zum Thema Essen unter dem Suchtaspekt sogar bis auf das Ende des 19. und den Anfang des 20. Jahrhunderts datieren. Nichts- destotrotz erfährt die wissenschaft- liche Beschäftigung und die mediale Aufmerksamkeit um das Thema ins- besondere in den letzten Jahren ver- mehrtes Interesse. Die Gründe, warum man sich bereits früher wie auch heute immer noch mit diesem Thema beschäftigt, lassen sich auf mehrere augen- scheinliche Parallelen zwischen Substanz- und Nahrungsmittelkon- sum zurückführen. Beispielsweise geht Substanzgebrauch häufig ein starkes Verlangen voraus, die Subs- tanz zu konsumieren („craving“). Dieses „craving“ kann sich sowohl auf missbräuchliche Substanzen (z. B. Alkohol, Tabak, Koffein, illegale Drogen) als auch auf Nahrungs- mittel beziehen (inklusive nichtalko- holischer Getränke), wobei sich die verhaltensbezogenen und kogniti- ven Aspekte sowie neurale Mecha- nismen über verschiedene Substan- zen hinweg sehr ähnlich sind. Wei- tere Parallelen zwischen Substanz- und Nahrungsmittelkonsum umfas- sen einen Kontrollverlust über den Konsum sowie erfolglose Versuche, den Konsum einzuschränken. Dies sind allerdings nicht die einzigen Symptome von Suchtverhalten. Da- her ist die Beschäftigung mit der wissenschaftlichen Definition von Sucht, die über ein Laienverständnis hinausgeht, unabdingbar. Definitionen von Suchtverhalten Nach der American Society of Ad- diction Medicine ist Sucht definiert als eine primäre, chronische Krank- heit, die dysregulierte Schaltkreise im Gehirn bezogen auf Belohnung, Motivation und Gedächtnis bein- haltet. Diese Dysfunktionen führen zu charakteristischen biologischen, psychologischen und sozialen Mani- festationen. Dies zeigt sich darin, dass eine Person in pathologischer Art und Weise nach Belohnung oder Erleichterung durch Substanzge- brauch oder andere Verhaltenswei- sen strebt. Sucht ist charakterisiert durch eine Unfähigkeit, dauerhaft absti- nent zu bleiben, beeinträchtige Ver- haltenskontrolle, „craving“, vermin- dertes Erkennen erheblicher Pro- bleme mit dem eigenen Verhalten und mit zwischenmenschlichen Be- ziehungen und dysfunktionalen, emotionalen Reaktionen. Wie an- dere chronische Krankheiten um- fasst Sucht meist wechselnde Perio- den von Remission und Rückfall (http://bit.ly/2sE9u75). Ähnlich dieser Definition werden im Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen (DSM-5) elf Symptome einer Subs- tanzkonsumstörung spezifiziert: Die Substanz wird häufig in größe- ren Mengen oder länger als beab- sichtigt konsumiert. Anhaltender Wunsch oder erfolglo- se Versuche, den Substanzkonsum zu verringern oder zu kontrollieren Hoher Zeitaufwand, um die Subs- tanz zu beschaffen, zu konsumie- ren oder sich von ihren Wirkungen zu erholen „Craving“ Versagen bei der Erfüllung wich- tiger Verpflichtungen Fortgesetzter Substanzkonsum trotz sozialer oder zwischen- menschlicher Probleme Einschränkung wichtiger sozialer, beruflicher und Freizeitaktivitäten Wiederholter Substanzkonsum in Situationen, in denen der Konsum zu einer körperlichen Gefährdung führen kann Fortgesetzter Substanzkonsum trotz Kenntnis eines körperlichen oder psychischen Problems Toleranzentwicklung Entzugssymptome Schließlich sei noch erwähnt, dass im aktuellen DSM-5 nun auch eine nicht substanzgebundene (also Ver- haltens-)Sucht inkludiert ist, die Stö- rung durch Glücksspielen. Entspre- chend finden sich auch Vorschläge, dass bei der Betrachtung der Sucht- aspekte übermäßigen Essens die Konzeptualisierung als Esssucht (im Sinn einer Verhaltenssucht) ange- messener sein könnte als die Kon- zeptualisierung als Nahrungsmittel- abhängigkeit (im Sinn einer subs- tanzbezogenen Störung). Suchtähnliches Essverhalten erfassen Tiermodelle. Die Vorgehensweisen und Ergebnisse zu suchtähnlichem Essverhalten in Tiermodellen gestal- ten sich höchst unübersichtlich. Ein häufig angewandtes Paradigma be- steht darin, Ratten intermittierenden Zugang zu schmackhafter Nahrung zu geben. In Studien von Avena und Kollegen erhalten Ratten etwa zwölf Stunden lang freien Zugang zu einer Zuckerlösung und normalem Futter, gefolgt von zwölf Stunden komplet- ter Nahrungsdeprivation. Nach meh- reren Wochen dieses intermittieren- den Zugangs zeigen die Ratten sucht- ähnliche Konsummuster der Zucker- lösung sowie neurochemische Verän- derungen. Während relative Einigkeit darüber besteht, dass solche Paradig- men des intermittierenden Zugangs zu schmackhafter Nahrung sucht- artige Verhaltensweisen hervorrufen, werden die Ähnlichkeiten von neuro- chemischen Veränderungen zu de- nen bei Substanzabhängigkeit jedoch stark angezweifelt. Weiterhin stellt sich die Frage, inwiefern diese Tier- modelle auf den Menschen übertrag- bar sind. Beispielsweise geht das suchtähnliche Essverhalten der Rat- ten oftmals nicht mit einer Erhöhung des Körpergewichts einher, was die Relevanz für Übergewicht als Folge möglichen süchtigen Essverhaltens beim Menschen einschränkt. Humanstudien. Wie bereits erwähnt, kann eine einfache Selbsteinschät- zung (z. B. „Denkst Du, dass Du süchtig nach Essen bist?“) aufgrund fehlenden Wissens über die Defini- tion von Suchtverhalten und der Beeinflussbarkeit solch einer Selbst- einschätzung (z. B. durch Medien- berichte) zu keinen validen Resulta- ten führen. Daher wird in der For- schung meist ein standardisierter Fragebogen – die Yale Food Addic- tion Scale (YFAS) – zur Feststellung des Vorliegens eines suchtähnlichen Nahrungsmittelkonsums verwendet. Dieser orientiert sich an den Diag- nosekriterien für Substanzkonsum- störung im DSM-5, wobei die jewei- ligen Symptome auf Nahrung und Essverhalten übersetzt werden. Es zeigte sich, dass sich Personen, die eine YFAS-Diagnose erhalten, hinsichtlich verschiedenster Variab- len von denjenigen ohne Diagnose differenzieren lassen, beispielsweise hinsichtlich der Häufigkeit des Kon- sums energiedichter Nahrungsmittel bzw. bestimmter Nährstoffe, neuro- kognitiver bzw. behavioraler Reak- tionen auf diese Nahrungsmittel so- wie weiterer Merkmale (gestörtes Ess- verhalten wie z. B. „binge eating“, ge- nerelle Psychopathologie, Impulsivi- tät u. a.). Diese Unterschiede finden sich auch unabhängig des Körper- gewichts, beispielsweise bei adipösen Menschen mit versus ohne YFAS- Diagnose, die sich nicht in der Kör- permasse unterscheiden. Entspre- chend erhalten auch fast alle Men- schen mit Bulimie eine YFAS-Diag- nose, obwohl diese meist normal- gewichtig sind. Und obwohl unter übergewichtigen Menschen YFAS- Diagnosen häufiger vorkommen als bei normalgewichtigen, scheint das suchtartige Essverhalten also eher sekundär mit dem Körpergewicht zu- sammenzuhängen und überschnei- det sich primär eher mit Essverhalten, das durch Essanfälle (das heißt „binge eating“) geprägt ist. Trotz dieser ersten Versuche, ein suchtähnliches Essverhalten einheit- Von Adrian Meule Dem Zucker verfallen Expertenbericht. Die Diskussion, ob Zucker süchtig macht oder Süß- stoffe zu einem erhöhten Konsum von hochkalori- schen Nahrungsmitteln verführen, wird kontrovers geführt. Tatsächlich sind viele Parallelen zwischen Suchtverhalten und übermäßiger Kalorien- aufnahme zu erkennen. Studien zeigen jedoch, dass Süßstoffe viele Kalorien einsparen und dadurch eine Gewichtsreduktion besser möglich ist. Lesen Sie bitte weiter auf Seite 25 Möglichst viel und hochkalorisch: Bei einem suchtartigen Essverhalten sind immer auch psychische Komponenten zu berücksichtigen. © iulianvalentin / Getty Images / iStock Spezial.Diabetes mit EASD 2017 24 Ärzte Woche Nr. 43, Freitag, 27. Oktober 2017 31. Jahrgang Liraglutid Injektion Nützen Sie die Vorteile des meistverschriebenen GLP-1 RA für Ihre Patienten 11 BEI TYP-2-DIABETES Victoza ® – Der einzige GLP-1 RA, der nachweislich kardiovaskuläre Ereignisse verhindert 1,2,3 AT/LR/0817/0067 Fachkurzinformation siehe Seite 37

Dem Zucker verfallen - WordPress.com · 2017. 10. 20. · Dem Zucker verfallen Expertenbericht. Die Diskussion, ob Zucker süchtig macht oder Süß-stoffe zu einem erhöhten Konsum

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  • Das Konzept des suchtähnlichenEssverhaltens ist keineswegs eineErrungenschaft des 21. Jahrhun-derts, sondern wird bereits seit vie-len Jahrzehnten kontrovers disku-tiert. Tatsächlich zeigen sich vieleParallelen zwischen Suchtverhaltenund übermäßigem Konsum hoch-kalorischer Nahrungsmittel. Obwohlin den letzten Jahren vermehrte tier-experimentelle Untersuchungen zudiesem Thema durchgeführt werdenund erste Versuche unternommenwurden, suchtartiges Essverhaltenbeim Menschen standardisiert zuerfassen, ist man von einem einheit-lichen Konsens über die Validität desSuchtansatzes sowie dessen prakti-sche Implikationen weit entfernt.

    Auch bezüglich der Effekte vonkalorienfreien Süßstoffen auf Ess-verhalten, Körpergewicht und Ge-sundheit gehen die Meinungen starkauseinander. Metaanalytische Be-funde aus Humanstudien zeigen je-doch, dass durch die Verwendungvon Süßstoffen als Zuckerersatz eineerhebliche Reduktion der Kalorien-aufnahme erreicht und somit einGewichtsverlust bei übergewichti-gen Menschen unterstützt werdenkann. Daher scheint ein suchtähn-licher Konsum von Süßstoffen odereine durch Süßstoffkonsum indu-zierte Steigerung von Verlangennach Zucker eher unwahrscheinlich.

    Die Annahme, dass man süchtignach bestimmten Nahrungsmitteln

    sein kann, ist in der Allgemeinbe-völkerung weit verbreitet. So habenStudien aus Großbritannien gezeigt,dass über 90 Prozent der befragtenPersonen angaben, der Meinung zusein, dass manche Menschen süchtignach Essen sind. Etwa ein Viertel derBefragten gab an, sich selbst als süch-tig nach Essen wahrzunehmen. Dabeischeint diese Selbstwahrnehmungleicht durch Medienberichte beein-flussbar zu sein: Wenn die Forscherden Probanden einen angeblichenZeitungsartikel zu lesen gaben, indem behauptet wurde, dass mancheNahrungsmittel definitiv süchtig ma-chen können, verdoppelte sich be-reits die Zahl – nun gab etwa die Hälf-te der Befragten an, sich selbst alssüchtig nach Essen wahrzunehmen.

    Aufgrund der leichten Verfügbar-keit verarbeiteter, hochkalorischerNahrungsmittel und den hohenPrävalenzraten krankhaften Über-gewichts gehen viele Menschen –darunter auch Wissenschaftler – da-von aus, dass es sich bei diesemSuchtkonzept übermäßigen Essensum ein Phänomen des 21. Jahrhun-derts handelt. Tatsächlich lassen sichaber die ersten wissenschaftlichenArbeiten zum Thema Essen unterdem Suchtaspekt sogar bis auf dasEnde des 19. und den Anfang des20. Jahrhunderts datieren. Nichts-destotrotz erfährt die wissenschaft-liche Beschäftigung und die medialeAufmerksamkeit um das Thema ins-besondere in den letzten Jahren ver-mehrtes Interesse.

    Die Gründe, warum man sichbereits früher wie auch heute immernoch mit diesem Thema beschäftigt,lassen sich auf mehrere augen-scheinliche Parallelen zwischenSubstanz- und Nahrungsmittelkon-sum zurückführen. Beispielsweisegeht Substanzgebrauch häufig einstarkes Verlangen voraus, die Subs-tanz zu konsumieren („craving“).Dieses „craving“ kann sich sowohlauf missbräuchliche Substanzen(z. B. Alkohol, Tabak, Koffein, illegaleDrogen) als auch auf Nahrungs-mittel beziehen (inklusive nichtalko-holischer Getränke), wobei sich dieverhaltensbezogenen und kogniti-ven Aspekte sowie neurale Mecha-nismen über verschiedene Substan-zen hinweg sehr ähnlich sind. Wei-tere Parallelen zwischen Substanz-und Nahrungsmittelkonsum umfas-sen einen Kontrollverlust über denKonsum sowie erfolglose Versuche,den Konsum einzuschränken. Diessind allerdings nicht die einzigen

    Symptome von Suchtverhalten. Da-her ist die Beschäftigung mit derwissenschaftlichen Definition vonSucht, die über ein Laienverständnishinausgeht, unabdingbar.

    Definitionen von Suchtverhalten

    Nach der American Society of Ad-diction Medicine ist Sucht definiert

    als eine primäre, chronische Krank-heit, die dysregulierte Schaltkreiseim Gehirn bezogen auf Belohnung,Motivation und Gedächtnis bein-haltet. Diese Dysfunktionen führenzu charakteristischen biologischen,psychologischen und sozialen Mani-festationen. Dies zeigt sich darin,dass eine Person in pathologischerArt und Weise nach Belohnung oderErleichterung durch Substanzge-brauch oder andere Verhaltenswei-sen strebt.

    Sucht ist charakterisiert durcheine Unfähigkeit, dauerhaft absti-nent zu bleiben, beeinträchtige Ver-haltenskontrolle, „craving“, vermin-dertes Erkennen erheblicher Pro-bleme mit dem eigenen Verhaltenund mit zwischenmenschlichen Be-ziehungen und dysfunktionalen,emotionalen Reaktionen. Wie an-dere chronische Krankheiten um-

    fasst Sucht meist wechselnde Perio-den von Remission und Rückfall(http://bit.ly/2sE9u75).

    Ähnlich dieser Definition werdenim Diagnostischen und StatistischenManual Psychischer Störungen(DSM-5) elf Symptome einer Subs-tanzkonsumstörung spezifiziert:Die Substanz wird häufig in größe-

    ren Mengen oder länger als beab-sichtigt konsumiert.Anhaltender Wunsch oder erfolglo-se Versuche, den Substanzkonsumzu verringern oder zu kontrollierenHoher Zeitaufwand, um die Subs-tanz zu beschaffen, zu konsumie-ren oder sich von ihren Wirkungenzu erholen„Craving“Versagen bei der Erfüllung wich-tiger VerpflichtungenFortgesetzter Substanzkonsumtrotz sozialer oder zwischen-menschlicher ProblemeEinschränkung wichtiger sozialer,beruflicher und FreizeitaktivitätenWiederholter Substanzkonsum inSituationen, in denen der Konsumzu einer körperlichen Gefährdungführen kannFortgesetzter Substanzkonsumtrotz Kenntnis eines körperlichenoder psychischen ProblemsToleranzentwicklungEntzugssymptome

    Schließlich sei noch erwähnt, dassim aktuellen DSM-5 nun auch einenicht substanzgebundene (also Ver-haltens-)Sucht inkludiert ist, die Stö-rung durch Glücksspielen. Entspre-chend finden sich auch Vorschläge,dass bei der Betrachtung der Sucht-aspekte übermäßigen Essens dieKonzeptualisierung als Esssucht (imSinn einer Verhaltenssucht) ange-messener sein könnte als die Kon-zeptualisierung als Nahrungsmittel-abhängigkeit (im Sinn einer subs-tanzbezogenen Störung).

    Suchtähnliches Essverhalten erfassen

    Tiermodelle. Die Vorgehensweisenund Ergebnisse zu suchtähnlichemEssverhalten in Tiermodellen gestal-

    ten sich höchst unübersichtlich. Einhäufig angewandtes Paradigma be-steht darin, Ratten intermittierendenZugang zu schmackhafter Nahrungzu geben. In Studien von Avena undKollegen erhalten Ratten etwa zwölfStunden lang freien Zugang zu einerZuckerlösung und normalem Futter,gefolgt von zwölf Stunden komplet-ter Nahrungsdeprivation. Nach meh-reren Wochen dieses intermittieren-den Zugangs zeigen die Ratten sucht-ähnliche Konsummuster der Zucker-lösung sowie neurochemische Verän-derungen. Während relative Einigkeitdarüber besteht, dass solche Paradig-men des intermittierenden Zugangszu schmackhafter Nahrung sucht-artige Verhaltensweisen hervorrufen,werden die Ähnlichkeiten von neuro-chemischen Veränderungen zu de-nen bei Substanzabhängigkeit jedochstark angezweifelt. Weiterhin stelltsich die Frage, inwiefern diese Tier-modelle auf den Menschen übertrag-bar sind. Beispielsweise geht dassuchtähnliche Essverhalten der Rat-ten oftmals nicht mit einer Erhöhungdes Körpergewichts einher, was dieRelevanz für Übergewicht als Folgemöglichen süchtigen Essverhaltensbeim Menschen einschränkt.

    Humanstudien. Wie bereits erwähnt,kann eine einfache Selbsteinschät-zung (z. B. „Denkst Du, dass Dusüchtig nach Essen bist?“) aufgrundfehlenden Wissens über die Defini-tion von Suchtverhalten und derBeeinflussbarkeit solch einer Selbst-einschätzung (z. B. durch Medien-berichte) zu keinen validen Resulta-ten führen. Daher wird in der For-schung meist ein standardisierterFragebogen – die Yale Food Addic-tion Scale (YFAS) – zur Feststellungdes Vorliegens eines suchtähnlichenNahrungsmittelkonsums verwendet.Dieser orientiert sich an den Diag-nosekriterien für Substanzkonsum-störung im DSM-5, wobei die jewei-ligen Symptome auf Nahrung undEssverhalten übersetzt werden.

    Es zeigte sich, dass sich Personen,die eine YFAS-Diagnose erhalten,hinsichtlich verschiedenster Variab-len von denjenigen ohne Diagnosedifferenzieren lassen, beispielsweisehinsichtlich der Häufigkeit des Kon-sums energiedichter Nahrungsmittelbzw. bestimmter Nährstoffe, neuro-kognitiver bzw. behavioraler Reak-tionen auf diese Nahrungsmittel so-wie weiterer Merkmale (gestörtes Ess-verhalten wie z. B. „binge eating“, ge-nerelle Psychopathologie, Impulsivi-tät u. a.). Diese Unterschiede findensich auch unabhängig des Körper-gewichts, beispielsweise bei adipösenMenschen mit versus ohne YFAS-Diagnose, die sich nicht in der Kör-permasse unterscheiden. Entspre-chend erhalten auch fast alle Men-schen mit Bulimie eine YFAS-Diag-nose, obwohl diese meist normal-gewichtig sind. Und obwohl unterübergewichtigen Menschen YFAS-Diagnosen häufiger vorkommen alsbei normalgewichtigen, scheint dassuchtartige Essverhalten also ehersekundär mit dem Körpergewicht zu-sammenzuhängen und überschnei-det sich primär eher mit Essverhalten,das durch Essanfälle (das heißt „bingeeating“) geprägt ist.

    Trotz dieser ersten Versuche, einsuchtähnliches Essverhalten einheit-

    Von Adrian Meule

    Dem Zucker verfallenExpertenbericht. Die

    Diskussion, ob Zucker

    süchtig macht oder Süß-

    stoffe zu einem erhöhten

    Konsum von hochkalori-

    schen Nahrungsmitteln

    verführen, wird kontrovers

    geführt. Tatsächlich sind

    viele Parallelen zwischen

    Suchtverhalten und

    übermäßiger Kalorien-

    aufnahme zu erkennen.

    Studien zeigen jedoch, dass

    Süßstoffe viele Kalorien

    einsparen und dadurch eine

    Gewichtsreduktion besser

    möglich ist.

    Lesen Sie bitte weiter auf Seite 25

    Möglichst viel und hochkalorisch: Bei einem suchtartigen

    Essverhalten sind immer auch psychische Komponenten zu

    berücksichtigen. © iulianvalentin / Getty Images / iStock

    Spezial.Diabetes mit EASD 2017

    24 Ärzte Woche Nr. 43, Freitag, 27. Oktober 2017

    31. Jahrgang

    Liraglutid Injektion

    Nützen Sie die Vorteile des meistverschriebenenGLP-1 RA für Ihre Patienten11

    BEI TYP-2-DIABETES

    Victoza® – Der einzigeGLP-1 RA, der nachweislichkardiovaskuläre Ereignisseverhindert1,2,3

    AT/LR/0817/0067

    Fachkurzinformation siehe Seite 37

  • lich zu definieren und zu erfassen,

    wird ein solches Vorgehen auch kri-

    tisch hinterfragt. Einige Forscher

    lehnen beispielsweise generell den

    Ansatz, die Diagnosekriterien der

    Substanzkonsumstörung auf Nah-

    rung und Essverhalten zu übertra-

    gen, konzeptuell ab. Auch die Not-

    wendigkeit des Suchtansatzes über-

    mäßigen Essens oder sogar mögliche

    negative Auswirkungen für thera-

    peutische Maßnahmen (z. B. Stig-

    matisierung von Menschen mit Adi-

    positas) und gesellschaftliche Prä-

    ventionsmaßnahmen (z. B. Regula-

    tion der Nahrungsmittelindustrie)

    werden diskutiert. Die Validität des

    Suchtansatzes übermäßigen Kon-

    sums von bestimmten Nahrungs-

    mitteln bzw. Nährstoffen (z. B. Zu-

    cker) sowie dessen therapeutische

    bzw. gesellschaftliche Implikationen

    sind daher nicht konsensuell geklärt.

    Verschiedene Effekte von Süßstoffen

    In den Medien werden häufig mög-

    liche negative Effekte von kalorien-

    freien bzw. -armen Süßstoffen in den

    Mittelpunkt gestellt. Beispielsweise

    wurden in Tierstudien metabolische

    Störungen gefunden, wobei die Gül-

    tigkeit der Befunde für den Men-

    schen auch kritisiert wird. Eine häu-

    fige Annahme ist, dass Süßstoffe

    dem Gehirn den Konsum von Zu-

    cker vorgaukeln, sodass in der Folge

    das Verlangen nach Zucker steigt.

    Tatsächlich wurde in einer Studie

    herausgefunden, dass Probanden,

    die das Limonadengetränk Sprite

    Zero getrunken hatten, sich eher

    eine Süßigkeit (statt Wasser oder

    Kaugummi) aussuchten, die sie

    dann mit nach Hause nehmen durf-

    ten, verglichen mit Probanden, die

    zuckerhaltiges Sprite oder Wasser

    getrunken hatten.

    Im Gegensatz zu diesem Befund

    zeigen allerdings Studien, die das tat-

    sächliche Essverhalten nach dem

    Konsum von Süßstoffen untersuch-

    ten, keine solchen Kompensations-

    effekte. Beispielsweise nahmen Pro-

    banden, die vor dem Mittag- bzw.

    Abendessen Süßstoffe konsumierten,

    bei den Mahlzeiten genauso viele Ka-

    lorien zu sich wie Probanden, die vor

    den Mahlzeiten Zucker konsumier-

    ten. In einer anderen Studie wurden

    Probanden aufgefordert, eine Mahl-

    zeit zu sich zu nehmen und während-

    dessen ein Getränk zu trinken (ent-

    weder Wasser, Milch, Orangensaft,

    zuckerhaltige Cola oder Cola light). Es

    zeigte sich, dass die Probanden genau

    gleich viel aßen, egal welches Getränk

    sie zum Essen tranken. Diejenigen

    Probanden, die Wasser oder Cola

    light tranken, nahmen insgesamt aber

    sehr viel weniger Kalorien zu sich, da

    sie die gleiche Essensmenge konsu-

    mierten, aber keine Kalorien durch

    die Getränke zu sich nahmen.

    Getränke mit Zucker sättigen nicht

    Insgesamt scheint es also nicht so zu

    sein, dass der süße Geschmack

    kalorienfreier Getränke zu einer kom-

    pensatorischen Nahrungsaufnahme

    führt. Ganz im Gegenteil: Zuckerhal-

    tige Getränke sättigen nicht, sodass

    bei Konsum solcher Getränke mehr

    Kalorien konsumiert werden und hier

    zuckerfreie Getränke von Vorteil sind.

    Entsprechend wurde inzwischen

    auch metaanalytisch belegt, dass der

    Konsum kalorienfreier bzw. -armer

    Süßstoffe nicht zu einem höheren

    Körpergewicht führt. Obwohl es

    querschnittlich einen positiven Zu-

    sammenhang gibt (Menschen mit

    höherem Körpergewicht konsumie-

    ren häufiger süßstoffhaltige Geträn-

    ke), scheint hier keine Kausalität

    hinsichtlich „Süßstoffe machen

    dick“ vorzuliegen: Randomisierte,

    kontrollierte Studien zeigen, dass die

    Verwendung von Süßstoffen als Zu-

    ckerersatz zu einer Verminderung

    des Körpergewichts führt.

    Fazit für die Praxis

    Ob stark zuckerhaltige Nahrungs-

    mittel süchtig machen können und

    ob kalorienfreie Süßstoffe eher ge-

    sundheitsfördernde oder -schädi-

    gende Effekte haben, wird unter

    Wissenschaftlern kontrovers disku-

    tiert. Viele Menschen können sich

    mit dem Suchtansatz zur Erklärung

    übermäßigen Essens stark identifi-

    zieren und tatsächlich zeigen sich

    viele Parallelen zwischen Suchtver-

    halten und übermäßigem Konsum

    hochkalorischer Nahrungsmittel.

    Die Beantwortung der Frage nach

    einem Suchtpotenzial bestimmter

    Nahrungsmittel bzw. Nährstoffe

    hängt letztendlich jedoch wesentlich

    von der jeweiligen Definition von

    Suchtverhalten ab, sodass eine Kon-

    sensfindung nicht absehbar ist. Auch

    bezüglich der Auswirkungen von

    kalorienfreien Süßstoffen als Zucker-

    ersatz divergieren die Meinungen

    stark. Durch die Verwendung von

    Süßstoffen kann allerdings eine er-

    hebliche Reduktion der Kalorienauf-

    nahme erreicht und somit ein Ge-

    wichtsverlust bei übergewichtigen

    Menschen unterstützt werden. Da-

    her scheint ein suchtähnlicher Kon-

    sum von Süßstoffen (oder eine durch

    Süßstoffkonsum induzierte Steige-

    rung von Verlangen nach Zucker)

    eher unwahrscheinlich.

    Dr. Dipl.-Psych. Adrian Meule ist im

    Fachbereich Psychologie an der Universität

    Salzburg tätig.

    Die Originalpublikation „Verlangen nach

    Süßem: Eine Evaluation der Suchtperspektive

    auf Zucker- und Süßstoffkonsum“ inklusive

    Literaturangaben ist erschienen im

    Fachmagazin „Pädiatrie & Pädologie“ 4/2017,

    DOI 10.1007/s00608-017-0489-6

    © Springer Verlag

    90Prozent der befragten Personen

    sind laut Studien aus

    Großbritannien der Meinung,

    dass manche Menschen süchtig

    nach Essen sind. Etwa ein Viertel

    der Befragten gab an, sich selbst

    als süchtig nach Essen wahr-

    zunehmen. Es zeigte sich, dass

    diese Selbstwahrnehmung durch

    Medienberichte beeinflussbar

    ist.

    Fortsetzung von Seite 24

    Bei der Behandlung von Typ-2-Diabetes*

    DER KARDIOVASKULÄRETOD HAT EINEN NEUEN

    GEGNER

    RRR FÜRCV TOD1,2

    38%

    1) Jardiance® Fachinformation, 2) Synjardy® FachinformationRRR: relative Risikoreduktion* Erwachsene Patienten mit Typ-2-Diabetes und koronarer Herzkrankheit, peripherer arteriellerVerschlusskrankheit, vorangegangenem Myokardinfarkt oder Schlaganfall.

    † Prävention kardiovaskulärer Mortalität

    AT/EMP /0317/00124b

    NEU!ERWEITERTEZULASSUNG

    Typ-2-Diabetes Behandlung:1,2

    Blutzuckerkontrolle undkardiovaskuläre Protektion†

    Spezial.Diabetes mit EASD 2017

    Ärzte Woche Nr. 43, Freitag, 27. Oktober 2017 25

    31. Jahrgang

    Fachkurzinformation siehe Seite 37

    Ärzte Woche 43_Verlangen nach Süßem_1Ärzte Woche 43_Verlangen nach Süßem_2