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220 © Ernst & Sohn Verlag für Architektur und technische Wissenschaften GmbH & Co. KG, Berlin · Bautechnik 87 (2010), Heft 4 1 Einleitung Im Oktober 2009 ist eines der bau- geschichtlich wichtigsten Bauwerke Berlins, die Montagehalle für Turbi- nen der AEG (Bild 1), berühmt ge- worden als „die AEG-Turbinenhalle“, 100 Jahre alt geworden. Die Halle an der Huttenstraße gehört heute zur Siemens AG und dient zur Herstel- lung von Gasturbinen. Somit wird dieses Bauwerk auch nach 100 Jahren gemäß seiner ursprünglichen Bestim- mung genutzt. Ihr Miterbauer Karl Bernhard (Bild 2) war einer der pro- minentesten Bauingenieure in Berlin in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahr- hunderts. 2009 hat sich sein Geburts- tag zum 150. Mal gejährt. Er war In- genieur, Entwerfer, Lehrer und Publi- zist, hat sich insbesondere für die Selbständigkeit der Ingenieure beim Entwurf von Industrie- und Ingenieur- bauten eingesetzt. Bernhard geriet je- doch, wie viele seiner Kollegen, weit- gehend in Vergessenheit. Insbesondere sein Wirken bei der Turbinenhalle wird in der Baugeschichtsschreibung gerne unterschlagen, das Werk gänz- lich dem Architekten Peter Behrens zugeschrieben. Dieses Phänomen ist weder neu noch ein Einzelfall. Seine Ursprünge gehen eben bis zum An- fang des 20. Jahrhunderts zurück, wo die Arbeitsteilung, aber auch die dar- aus resultierenden Probleme und In- teressenkonflikte zwischen Architek- ten und Bauingenieuren sich vielfältig manifestiert haben. 2 Stahlbau in Deutschland am Anfang des 20. Jahrhunderts Die Gründung des Ecole des Ponts et Chausseés in Paris im Jahre 1747 gilt als die Entstehungsstunde des Berufs Cengiz Dicleli Der Bauingenieur Karl Bernhard Erbauer der AEG-Turbinenhalle Die AEG-Turbinenhalle wurde 1909 fertiggestellt. Sie gilt allgemein als Werk des berühm- ten Architekten Peter Behrens, der 1907 bis 1914 Chef-Designer und -Architekt der welt- weit operierenden Firma AEG war. Anlässlich dieses Jahrestages wird der Ingenieur und Miterbauer der Halle, der Bauingenieur Karl Bernhard vorgestellt, der bei Konzeption und Errichtung des Bauwerkes konstruktiv und gestalterisch eine ganz entscheidende Rolle gespielt hat. Auch anhand von z. T. noch nicht veröffentlichten Untersuchungser- gebnissen wird dargelegt, dass der Anteil von Karl Bernhard qualitativ und quantitativ viel größer ist, als es ihm seitens der Bau- und Kunstgeschichte bisher zugebilligt wird. Dabei geht es in erster Linie darum, dieses Phänomen als ein Ergebnis der unterschied- lichen Interessen von Architekten und Bauingenieuren, aber auch von Bau- und Kunst- historikern zu verstehen. Karl Bernhard – engineer and builder of the AEG-Turbine Hall. The AEG-Turbine Hall was realized in 1909. Generally the hall is considered to be the doing of the renowned architect Peter Behrens, who was the head designer and architect of the world wide operating company AEG. On the occasion of this anniversary the engineer and co-buil- der will be presented, who relating to the construction and the design, played a very im- portant part in developing the concept and realizing the building. Also, based on partly unreleased results of scientific studies the fact will be pointed out, that Bernard’s share of work was qualitatively and quantitatively much larger than conceded to him on part of art and building history. The point is to put across the fact, that this phenomena, is the result of different interests of architects and engineers and of building and art historians. Fachthemen DOI: 10.1002/bate.201010018 Bild 1. AEG-Turbinenhalle Fig. 1. AEG-Turbine Hall

Der Bauingenieur Karl Bernhard : Erbauer der AEG-Turbinenhalle

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Page 1: Der Bauingenieur Karl Bernhard : Erbauer der AEG-Turbinenhalle

220 © Ernst & Sohn Verlag für Architektur und technische Wissenschaften GmbH & Co. KG, Berlin · Bautechnik 87 (2010), Heft 4

1 Einleitung

Im Oktober 2009 ist eines der bau -geschichtlich wichtigsten BauwerkeBerlins, die Montagehalle für Turbi-nen der AEG (Bild 1), berühmt ge-worden als „die AEG-Turbinenhalle“,100 Jahre alt geworden. Die Halle ander Huttenstraße gehört heute zurSiemens AG und dient zur Herstel-lung von Gasturbinen. Somit wirddieses Bauwerk auch nach 100 Jahrengemäß seiner ursprünglichen Bestim-mung genutzt. Ihr Miterbauer KarlBernhard (Bild 2) war einer der pro-minentesten Bauingenieure in Berlinin den ersten Jahrzehnten des 20. Jahr-hunderts. 2009 hat sich sein Geburts-tag zum 150. Mal gejährt. Er war In-genieur, Entwerfer, Lehrer und Publi-zist, hat sich insbesondere für dieSelbständigkeit der Ingenieure beimEntwurf von Industrie- und Ingenieur-bauten eingesetzt. Bernhard geriet je-doch, wie viele seiner Kollegen, weit-gehend in Vergessenheit. Insbesonderesein Wirken bei der Turbinenhallewird in der Baugeschichtsschreibunggerne unterschlagen, das Werk gänz-lich dem Architekten Peter Behrenszugeschrieben. Dieses Phänomen istweder neu noch ein Einzelfall. SeineUrsprünge gehen eben bis zum An-fang des 20. Jahrhunderts zurück, wodie Arbeitsteilung, aber auch die dar-aus resultierenden Probleme und In-teressenkonflikte zwischen Architek-ten und Bauingenieuren sich vielfältigmanifestiert haben.

2 Stahlbau in Deutschland am Anfangdes 20. Jahrhunderts

Die Gründung des Ecole des Ponts etChausseés in Paris im Jahre 1747 giltals die Entstehungsstunde des Berufs

Cengiz Dicleli

Der Bauingenieur Karl Bernhard Erbauer der AEG-Turbinenhalle

Die AEG-Turbinenhalle wurde 1909 fertiggestellt. Sie gilt allgemein als Werk des berühm-ten Architekten Peter Behrens, der 1907 bis 1914 Chef-Designer und -Architekt der welt-weit operierenden Firma AEG war. Anlässlich dieses Jahrestages wird der Ingenieur undMiterbauer der Halle, der Bauingenieur Karl Bernhard vorgestellt, der bei Konzeptionund Errichtung des Bauwerkes konstruktiv und gestalterisch eine ganz entscheidendeRolle gespielt hat. Auch anhand von z. T. noch nicht veröffentlichten Untersuchungser-gebnissen wird dargelegt, dass der Anteil von Karl Bernhard qualitativ und quantitativviel größer ist, als es ihm seitens der Bau- und Kunstgeschichte bisher zugebilligt wird.Dabei geht es in erster Linie darum, dieses Phänomen als ein Ergebnis der unterschied -lichen Interessen von Architekten und Bauingenieuren, aber auch von Bau- und Kunst -historikern zu verstehen.

Karl Bernhard – engineer and builder of the AEG-Turbine Hall. The AEG-Turbine Hallwas realized in 1909. Generally the hall is considered to be the doing of the renowned architect Peter Behrens, who was the head designer and architect of the world wideoperating company AEG. On the occasion of this anniversary the engineer and co-buil-der will be presented, who relating to the construction and the design, played a very im-portant part in developing the concept and realizing the building. Also, based on partlyunreleased results of scientific studies the fact will be pointed out, that Bernard’s shareof work was qualitatively and quantitatively much larger than conceded to him on part ofart and building history. The point is to put across the fact, that this phenomena, is theresult of different interests of architects and engineers and of building and art historians.

Fachthemen

DOI: 10.1002/bate.201010018

Bild 1. AEG-Turbinenhalle Fig. 1. AEG-Turbine Hall

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des Bauingenieurs. Während sich dieArchitekten im Ecole des Beaux Artsnoch mit Abzeichnen von antikenVorbildern beschäftigen, versucht manin der neuen Ingenieurschule Fach-leute auszubilden, die Kanäle, Straßenund Brücken bauen können. Die ein-setzende Industrialisierung in der ers -ten Hälfte des 18. Jahrhunderts ver-langt nach Baufachleuten mit neuenFähigkeiten. So entstehen überall inEuropa neue technische Lehranstal-ten zur Ausbildung von Hoch- undTiefbauingenieuren.

Bis zum Ende des 19. Jahrhun-derts etablieren sich die Bauingenieureals Experten, die Straßen, Kanäle undEisenbahnen, aber auch Brücken undIndustriebauten ohne Beteiligung vonArchitekten bauen können. In derFachwelt, insbesondere bei Architek-ten, wird zu Recht kritisiert, dass dieseBauten gestalterisch meist unbefriedi-gend sind. Dies ist keineswegs ver-wunderlich, weil gestalterische undentwerferische Fächer kein Gegen-stand der Bauingenieurausbildungsind. Die Konstruktionen des Inge -nieurs werden von der Kunst- und Ar-chitekturkritik zwar als die neue undwahre Kunst gefeiert, doch sind dieseThesen wohl auch als Hinweise ge-dacht, die die Architekten darauf auf-merksam machen sollen, wo neueBetätigungsfelder im Entstehen sind.

Auf dem Gebiet des Brücken-baus führt diese Kritik zunächst zu einer eher additiven Lösung des Ge-staltproblems. Zu den „nackten“ und„nur technischen“ Konstruktionen desIngenieurs werden architektonischeGebilde einfach dazugestellt.

Dazu Hermann Muthesius, da-mals einer der wichtigsten zeitgenös-sischen Architekten in Deutschland

[1]: „Er (der Architekt) setzte vor eiserne Brücken mittelalterliche Bur-gentore, vor Ausstellungshallen dieWände romanischer Kaiserpfalzen,vor Bahnhofsdächer italienische Pa-lastfassaden.“ Dies gilt auch für Orna-mente und Verzierungen, womit dieKonstruktionen aufgehübscht werden.Es gibt auch Versuche, mit verschie-denen Farbanstrichen die nüchternenKonstruktionen aufzuwerten.

In der recht heftig geführtenAuseinandersetzung, wer der bessereGestalter für Industriebauten ist, gehtes letzten Endes auch um Marktan-teile für die beiden Berufsgruppen aufdem expandierenden Gebiet des Brü -cken- und Industriebaus. Es werdenneben liberalen Ansätzen, die auf part-nerschaftliche Zusammenarbeit bei-der Fachleute abzielen, auch radi -kalere Lösungen vorgeschlagen. Diemeisten Architekten und Bau- undKunstkritiker favorisieren verständ -licherweise den Architekten als dieführende Kraft, die sich des Bauinge-nieurs als bloßer „Rechner“ bedient.Einige Bauingenieure setzen sich eherfür die Selbständigkeit der Ingenieureein, die ihre Konstruktionen nichtnach „wesensfremden“ Gesichtspunk-ten gestalten. Zu denen gehört auchKarl Bernhard in Berlin. Alle spürenaber, dass die gestalterischen Qualitä-ten auf die Dauer entscheiden werden,wer im Industriebau die führende Kraftsein wird.

Somit ist gut nachvollziehbar,dass die Fertigstellung der Turbinen-

halle im Jahr 1909 unter den Archi-tekten und Kunsthistorikern – wie z. B.Franz Mannheimer und Adolf Behne –großes Aufsehen erregt. An diesemBauwerk kristallisiert sich letzten En-des die Auseinandersetzung zwischenArchitekten und Bauingenieuren umdie Vorherrschaft bei der Planung vonIndustriebauten.

3 Karl Bernhard3.1 Sein Werdegang

Karl Bernhard wird in Goldberg,Mecklenburg, am 04. 11. 1859 gebo-ren. An der Technischen HochschuleHannover studiert er bei Lehrern wieBarkhausen, bekannt durch seinenach ihm benannten Behälter, undHeinrich Müller-Breslau, der Begrün-der der Berliner Schule der Baustatik,der damals noch in Hannover lehrt.Danach geht er zunächst nach Frank-furt a. M., arbeitet dort von 1885 bis1887 bei der Eisenbahndirektion undkann beim Bau des Hauptbahnhofsmitwirken [2].

1888 besteht er seine Prüfungzum Regierungsbaumeister mit Aus-zeichnung und gewinnt ein Reise -stipendium. Damit kann er eine Stu-dienreise durch England, Schottland,Belgien, Frankreich und Italien unter -nehmen.

1889 wird er nach Berlin an dieBauverwaltung in das technische Bürodes Stadtbaurates James Hobrecht be -rufen, wo er bei wichtigen Brücken-bauten als Bauleiter mitwirkt. Darun-

Bild 3. Lutherbrücke Berlin Fig. 3. Luther Bridge Berlin

Bild 2. Karl Bernhard (1856–1930)Fig. 2. Karl Bernhard (1856–1930)

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ter befinden sich auch Bogenbrückenaus Stahlbeton wie die Lutherbrücke(1892), die Moabiter Brücke (1894)und die Oberbaumbrücke (1894–96)(Bilder 3 und 4).

Anschließend bietet ihm Müller-Breslau, der 1888 als Nachfolger vonEmil Winkler dem Ruf an die THCharlottenburg gefolgt ist, eine Lehr-tätigkeit als Privatdozent für Eisen-und Brückenbau an, die Bernhard bis1930 wahrnimmt. Gerade hier setzter sich, z. T. gegen den Widerstandseiner Kollegen, für eine künstlerischeAusbildung des Bauingenieurs ein.1914 hält er darüber Vorträge in Lon-don und Buenos Aires. 1920 veröffent-licht er ein detailliertes Programm zurAusbildung der Bauingenieure [3].

Schon 1898 trennt sich Bernhardvom Staatsdienst und gründet, demBeispiel von Müller-Breslau folgend,ein „Konstruktionsbüro für Statik und

Bauingenieurwesen“ [4], wo er zeit-weilig bis zu 30 Mitarbeiter beschäf-tigt. Als beratender Ingenieur schaffter eine kaum noch übersehbare An-zahl z. T. bedeutender Bauwerke imIn- und Ausland, darunter auch inMittel- und Südamerika.

Er arbeitet mit wichtigen Archi-tekten seiner Zeit zusammen wie Pe-ter Behrens, Max Taut, Ludwig Hoff-mann und Hermann Muthesius. Beiseinen eigenen Bauten verantworteter nicht nur die Statik und die kon-struktive Durchführung, sondern oftden ganzen Entwurf und die Koordi-nation von Folgegewerken. Insbeson -dere auf dem Gebiete der beweglichenBrücken wird er ein international an-erkannter Experte. Sein Lehrbuch„Eiserne Brücken“ [5] (1910) ist einesder umfassendsten Werke über denStahlbrückenbau einschließlich allergestalterischen Fragen (Bild 5). In un-zähligen Veröffentlichungen schilderter nicht nur seine eigenen Bauten,sondern schreibt auch über andereStahlbauten aller Art in verschiede-nen Fachzeitschriften. Darüber hinauswirkt er an Büchern mit, wie „Berlinund seine Bauten“ oder „Handbuchder Ingenieurwissenschaften“. In denamtlichen Katalogen der Weltausstel-lungen in Paris 1900 und St. Louis1904 werden ihm die Kapitel über dasIngenieurwesen überlassen. Die Listeseiner Artikel füllt dicht beschriebenefünf DIN A4-Seiten.

Bernhard arbeitet auch in Fach-vereinen und Verbänden mit, wie imBerliner Architekten- und Ingenieur-verein und im Verein Deutscher In-genieure, wo er in verschiedenen Fach-ausschüssen mitwirkt. Er setzt sich

für öffentliche Entwurfs-Wettbewerbebei größeren und wichtigen Ingenieur-bauten ein. 1919 macht er sich dafürstark, die damals aus Architekten be-stehende Baupolizei abzuschaffen undstattdessen unabhängige Ingenieurezur Bauüberwachung einzusetzen [6].So wird er Leiter des Ausschusses derPrüfingenieure für Baustatik.

Sein Lebenswerk wird 1925 durchdie Ernennung zum Ehrendoktordurch die damalige TH Stuttgart ge-ehrt. 1929 veröffentlicht die Zeitschrift„Der Bauingenieur“ eine Festschriftanlässlich seines 70. Geburtstags, beider er in höchsten Tönen gelobt wird[7]: „Selten, sehr selten hat jemandohne Staatsamt und ohne den Rück-halt eines bekannten Unternehmensals frei beruflicher Ingenieur aus eige-ner Kraft sich einen solchen Namengeschaffen, dass die große Gemeindeder Fachgenossen aufhorcht, wennvon ihm an einem Jubeltage zu be-richten ist.“

Nach seinem Ableben 1937, alsoacht Jahre später, jedoch werden seineVerdienste in den Fachzeitschriftenmit keiner Zeile mehr gewürdigt. KarlBernhard war Jude. Die Umständeseines Todes sind nicht bekannt.

3.2 Seine Bauten

Bernhard baut nicht nur in Deutsch-land und Europa wie z. B. in Polen,Russland, Schweden und Schottland,sondern auch in Übersee, in Süd- undMittelamerika.

Eine der ersten Eisenbrücken, ander Bernhard mitarbeitet, ist der Kai-sersteg über die Spree bei Oberschö-neweide, wo er von Müller-Breslau

Bild 4. Moabiter Brücke Längsschnitt Fig. 4. Moabit Bridge longitudinal section

Bild 5. Bernhards Buch „EiserneBrücken“ Fig. 5. Bernhard’s book “Iron Bridges”

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1898 hinzugezogen wird (Bild 6).Diese Brücke ist eine der letztenStahlbrücken, bei der die Konstruk-tion durch dekorativen Zierrat inForm von geschmiedeten oder gegos-senen Ornamenten „verschönert“ wird.Bernhard setzt sich dafür ein, dass beiEisenbauten „die Schönheit in derSache selbst liegen“ soll, nämlich „inden schönen Verhältnissen der Li -nienführung, der Flächenbildung, derRaumgestaltung“. Der Entwurf einermassiven Brücke ist seiner Meinung

nach – heute nicht nachvollziehbar –keine Aufgabe für einen Ingenieur [8]:„Über die schönheitliche Entwicklungder steinernen Brücken und neuer-dings auch der Eisenbetonbrücken ist(…) kein Anlass zu allgemeiner Klagevorliegend. Hier handelt es sich auchum die Steinbaukunst, die bei ihrenVertretern, den Architekten, in gutenHänden ist“.

Fünf Jahre später baut Bernhardin unmittelbarer Nähe zum Kaiser-steg eine Straßenbrücke ganz ohne

Beteiligung von Architekten (Bild 7).Er vermerkt dazu [9]: „Die von mir1903 erbaute Treskowbrücke in Ober-schöneweide hat elf Jahre gestanden,bis sie im Jahrbuch des Werkbundes1914 als neuzeitliches Kunstwerk an-erkannt worden ist, (…). Ihre zusam-menhängende Linienführung ist neuund nur durch die Wechselwirkungvon statischen und ästhetischen Ge-sichtspunkten zustande gekommen“;„(…) ich wollte, angeregt auf der Welt-ausstellung 1900 durch die neuerenPariser Straßenbrücken, eine schöneund gefällige eiserne Brücke ohne Ar-chitekten entwerfen. Nur ganz bei -läufig war an einzelnen Punkten eineBerechnung, fast könnte man sagen,eine Kopfrechnung erforderlich, umzu prüfen, ob die Höhe der Hauptträ-ger (…) nicht zu schwere und plumpaussehende Stäbe zur Folge habenwürde. (…) Da glauben viele Nicht-Bauingenieure, man rechne sich nachbestimmten Formeln so eine Eisen-konstruktion aus, und die werde leichthässlich. Nein, gerade an der künstle-rischen Seite wird ein Eisenbauwerkso gut wie jedes andere mit ausge-sprochenen künstlerischen Zweckenvon den Entwurfsverfassern ange-packt“.

1907 schreibt Paul Bonatz überdie Treskowbrücke [10]: „Wie siehthier der breitliegende, kaum aus demWasser herausragende Steinsockel si-cher aus! Die ganze Brücke ist inihrem Mangel an Zutaten und ihrerschönen Linienführung eine Freudefür das Auge. Sie ist einheitlich, wirktals reiner Ingenieurbau und ist voll-kommen. Für den, der mit den Augen

Bild 7. Treskowbrücke BerlinFig. 7. Treskow Bridge Berlin

Bild 6. Kaisersteg Berlin Fig. 6. “Kaisersteg” pedestrian bridge Berlin

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diese Formen nachfühlt, ist eine der-artige Eisenbrücke Zierde und Mittel-punkt im Landschaftsbild so gut wieeine alte Kirche.“

Nur in 500 m Entfernung vonder Treskowbrücke entsteht 1908 dienach einem Teltower Landrat be-nannte Stubenrauchbrücke, ein Fach-werkbogen mit Zugband. Bei diesemProjekt entwirft Bernhard fünf unter-schiedliche Alternativen, aus denendie Bauherren die Bogenbrücke aus-wählen (Bild 8).

Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahr-hunderts steht die Weiterführung derHeerstraße an. Sie wird zunächst alseine gerade Verlängerung der AchseUnter den Linden und der Bismarck-straße geplant, die auch die Seenland-schaft im Nordwesten Berlins über-queren muss. Bei seinen Vorentwür-fen stellt Bernhard jedoch fest, dass diegerade Linienführung bei der Über -querung des Stößensees unvertretbarhohe Baukosten verursachen würde.

So entsteht der Knick in RichtungSpandau, wodurch in Weiterführungder Gradiente der Stößensee und dieHavel überbrückt werden muss [11].Für die 1909 praktisch gleichzeitigmit der Turbinenhalle gebaute Stößen-seebrücke stellt er ebenfalls mehrereEntwürfe vor, aus denen „seine Majes-tät der Kaiser“ einen auswählt (Bild 9a,b). Die Havelbrücke (Freybrücke) ent-lang der Heerstraße wird ein Jahr spä-ter um 1910 fertiggestellt.

Bernhard arbeitet außer mit Beh-rens, mit dem er mehrere Hallen fürdie AEG baut, auch mit anderen be-deutenden Architekten zusammen.1914 stellt er mit Hermann Muthesiusden Neubau der Seidenweberei Mi-chels & Cie. in Nowawes bei Pots-dam fertig (Bild 10). Über seine Zu-sammenarbeit mit Muthesius, der denIngenieuren gegenüber eine liberalereHaltung einnimmt als Behrens, äußerter sich sehr positiv: „Dem Architek-ten und dem Ingenieur war unter ge-

genseitiger harmonischer Beeinflus-sung eine dankbare Gelegenheit ge-boten, der ganzen Anlage ein durch-aus modernes Gepräge zu verleihen,ohne dass (…) einer dem andern nachirgend einer Richtung in der Raum-und Formbildung Zwang aufzunöti-gen brauchte.“

Die harmonische Zusammenar-beit ist auch das Ergebnis einer kla-ren, kompetenzgerechten Arbeitstei-lung zwischen Architekt und Inge -nieur. Muthesius widmet sich vorwie-gend der repräsentativen Eingangs-halle, während Bernhard die „inge -nieur- und fabriktechnische Lösungder Aufgabe in Entwurf und Baulei-tung“ übertragen wird.

3.3 Die Bedeutung Karl Bernhards

Karl Bernhard wirkt in einer Um-bruchphase der Architektur, wo – be-ginnend im Ingenieur- und Industrie-bau – Eisen und Stahl den Massivbau

Bild 8. Stubenrauchbrücke BerlinFig. 8. Stubenrauch Bridge Berlin

Bild 9. Stößenseebrücke Berlin, a) Ansicht, b) mittlere AuflagerFig. 9. Stößensee Bridge Berlin, a) view, b) supports

a) b)

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verdrängen. Dies führt zu umfangrei-chen Diskussionen in der Fachwelt.Während die Ingenieure aufgrund ih-rer einschlägigen Ausbildung wenigerProbleme mit dünnen schlanken Quer-schnitten haben, können viele Archi-tekten die Vorstellung schwer über-winden, dass „… Eisen zu dünn sei,um ästhetische Wirkungen herbeizu-führen“ [12]. Es wird sogar in Fragegestellt, ob Ingenieur- und Industrie-bau überhaupt der Architektur undKunst zuzuordnen seien.

Bernhard engagiert sich konse-quent für die gute Gestaltung seinerBauten. Schon vor rund 100 Jahrenverlangt er entwerferische und gestal-terische Komponenten in der Ausbil-dung der Bauingenieure, was bis heutenicht verwirklicht werden konnte. DieBauingenieure sollen ihre Brückenund Industriebauten selber entwerfenkönnen. Diese Forderung hat nichtnur mit der Gestaltung der Fassadenzu tun. Neben der Wahl des Tragsys -tems zielt sie in erster Linie auf dieFunktionserfüllung, Grundrissorga -nisation und Gebäudetechnik, d. h.,Bernhard geht es im umfassendstenSinne um das ganzheitliche Planenund Bauen. Wenn man seine Tätigkeitaus heutiger Sicht definieren wollte,so kann man ihn einen Baumeisterfür Ingenieur- und Industriebautennennen. Ein Künstler war er nicht.Wie er sich selber beschrieben hat,war er ein Ingenieur mit gutem Ge-schmack, der sich gestalterische Kom-petenzen selber erarbeiten musste.

4 Die Turbinenhalle (wer hat sie gebaut?)

Die Ausnahmebegabung Peter Behrenswird im Herbst 1907 als autodidak -tischer Shootingstar der Kunst- undArchitekturszene zum künstlerischenBerater der AEG berufen (Bild 11).Seine Aufgabe ist, im weitesten Sinnefür Corporate Identity der Firma zusorgen. Er gestaltet nicht nur die Pro-dukte der AEG, sondern auch sämt -liche Plakate, Schilder und Printpro-dukte der Firma. Als der Bau einerneuen Halle an der Huttenstraße an-steht, erkennt er oder die Firmenlei-tung, dass das Corporate Design vorden Neubauten der AEG nicht Haltmachen darf. So wird er beauftragt,für „die Gestaltung der Fassade nachkünstlerischen Gesichtspunkten“ zusorgen [13].

Laut den einschlägigen Bauak-ten ist es Karl Bernhard, der in „sei-

ner Funktion als Privatdozent an derKgl. Techn. Hochschule und Regie-rungsbaumeister a. D. für den Ent-wurf und Berechnung der Halle, fürdie Bauleitung und die Überwachungder staatlichen Vorschriften vorge-stellt“ wird [14].

Die Planungsarbeiten für dieneue Halle dauern vom Herbst 1908bis zum Frühling 1909. Die Herstel-lung der Fundamente nimmt drei, dieMontage des Stahlbaus weitere fünfMonate in Anspruch, so dass der ersteAbschnitt der Turbinenhalle im Okto-ber 1909 fertiggestellt ist. Der neu -artige, helle, ordentliche und saubereIndustriebau mit den ungewöhnlichenFassaden, mit Kränen, die zusammenbis zu 100 t bewegen können, und miteiner Kellerdecke, die für Lasten bis10 t/m2 ausgelegt ist, erregt großesAufsehen (Bild 12a, b).

Miron Mislin, Professor für dieGeschichte der Bautechnik an der TUBerlin, schreibt dazu [15]: „Die unge-heure Faszination, die die Turbinen-halle auf Architekten und vor allemauf Kunsthistoriker ausübte, führteschon zur Zeit der Fertigstellung inden Artikeln zur einseitigen Überbe-wertung des Anteils von Behrens ander Planung, Konstruktion und Aus-führung des Bauwerks. (…) Die Ana-lyse der Bauakten und der Baupläneweisen Bernhard als Gestalter derKonstruktion aus. (…) Gewisse for-malästhetische Elemente und diekünstlerische Linienführung der Fas-saden zeigen (aber) eindeutig, dassdie ästhetische Gestaltung nur vonBehrens stammen kann.“

Obwohl Bernhard einen ganzwesentlichen Anteil an der Gestal-tung und Konstruktion der Halle hat,wird er bei den unmittelbar nach derFertigstellung des Bauwerks erschei-nenden Veröffentlichungen selten ge-nannt. Es ist zu vermuten, dass auchdie Firmenleitung der AEG es vor-zieht, ihren erfolgreichen und in derÖffentlichkeit eher profilierten Künst -lerischen Leiter Behrens als den Er-bauer der Halle zu präsentieren. Ganzsicher spielt dabei die Mitgliedschaftvon Behrens bei dem erst im Oktober1907 gegründeten Deutschen Werk-bund eine große Rolle, weil seine Posi-tion bei der AEG sehr genau demWerkbund-Ideal entspricht [16]. Ver-ärgert, enttäuscht und ein wenig ver-bissen versucht Bernhard in zahlrei-chen Artikeln und Vorträgen die Fach-

Bild 10. Seidenweberei Michels bei PotsdamFig. 10. Silk weaving mill Michels at Potsdam

Bild 11. Peter BehrensFig. 11. Peter Behrens

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öffentlichkeit über seine Sicht derDinge zu informieren. Die Turbinen-halle wird jedenfalls zu einem meist-diskutierten Bauwerk, über das auchBernhard und Behrens, teilweise sehrkonträr, sehr viel veröffentlichen. Siewird zum Triumphzug von Architek-ten und Künstlern, die Behrens begeis-tert umjubeln, weil ihm als Künstlergelingt, den Gestaltungsanspruch derArchitekten auch auf dem bisher denIngenieuren überlassenen Gebiet desIndustriebaus durchzusetzen.

Bernhard kritisiert in erster Liniedie Giebelfassade an der Huttenstraße[17]: „Während beim Bau sonst haupt-

sächlich Eisen und Glas als Baustoffehervortreten, ist bei der Giebelwandan der Huttenstraße in ungerechtfer-tigtem Gegensatz hierzu leider auchBeton für größere Flächen als Füll-material herangezogen. Hier ist beidem Hauptgiebel die Fortsetzung derLängswand ganz in Beton hergestellt.… durch die waagerecht liegenden eisernen Riegel [ist] die Betonflächeunterbrochen, was vom Verfasser vor-geschlagen ist, um den Eisenbau nichtganz zu unterdrücken. Trotz dieserAnordnung muss zugestanden wer-den, dass bei aller Großzügigkeit derarchitektonischen Wirkung des Gie-

bels im Ganzen der beabsichtigte Ein-druck, die Eckausbildung nur als Ver-kleidung hervortreten zu lassen, nichtgeglückt ist. Jedermann sieht den Gie -bel, der aus dünner Eisenbetonhautvor der Eisenkonstruktion ausgebil-det ist, als einen wuchtigen Betonbauan; zwei Eckpfeiler mit hohem Giebel-felde. Diese von Prof. Behrens nichtbeabsichtigte Wirkung geht soweit,dass Oberbaurat Erhard in Wien ineiner Veröffentlichung die Turbinen-halle der AEG als ,Eisenbetonbau‘ be-zeichnet.“

Die Gelenke an der Berlichingen-straße, die geneigte Fassade, das Tym-panon und vor allem die mit Betonverkleidete Giebelwand werden in derFachpresse viel gelobt, aber vielfachauch heftig kritisiert. So z. B. auchvon Julius Posener in seinen „Vor -lesungen zur Geschichte der NeuenArchitektur“ [18]. Julius Posener undOtl Aicher haben die Turbinenhalleeine „Verbrämung der Ingenieurleis -tung Bernhards“ genannt [19]. Behrensscheint aus dieser Kritik die richtigenKonsequenzen gezogen zu haben. Die1911/12 wieder mit Karl Bernhard ge-baute Montagehalle an der Hussiten-straße versieht er mit glatten und ein-fachen Giebelflächen. Hier entstehtein modernes Bauwerk ohne „Form-probleme“, das auch heute genausogebaut werden könnte (Bild 13).

Dem Kunsthistoriker TillmannBuddensieg und seinen Mitarbeiterngebührt das große Verdienst, in den1970-er Jahren die Bauten der AEGund das Werk von Peter Behrens in einer groß angelegten Forschungsar-beit umfassend dokumentiert zu ha-ben. Leider greift er den alten Disput:„Wer ist der Erbauer der Turbinen-halle?“, zu bereitwillig zugunsten vonBehrens auf. Sicher sind die Architek-ten die besseren Gestalter. Sie habendie Konstruktionen des Ingenieurs inder ersten Hälfte des 20. Jahrhundertsveredelt und zur Architektur gemacht.Im speziellen Fall der Turbinenhallejedoch gilt der Satz von Miron Mislin,dass „Kunsthistoriker den Anteil vonBehrens an der Planung, Konstruktionund Ausführung des Bauwerks über-bewerten“ [20]. Buddensiegs unange-messen aggressive Behauptung, dassBernhard das von Behrens vorgelegteRaum- und Baukonzept „nichts wei-ter als technisch zu verwirklichen“hatte, ist nach Aktenlage schlichtfalsch [21].

Bild 12. Turbinenhalle, a) Innenansicht, b) Konstruktionszeichnung von BernhardFig. 12. AEG-Turbine Hall, a) interieur view, b) structural drawing by Bernhard

a)

b)

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Noch viel weiter geht eine Dok-torarbeit, die von Buddensieg betreutwurde, bei der die Verfasserin – eineKunsthistorikerin – über mehrere Ka-pitel hinweg die o. g. These zu bewei-sen versucht, indem sie sich, bar jederKenntnis von Statik und Konstruk-tion, in peinlichen Spekulationen ver-irrt [22].

1996 gibt die Siemensstadt-Grundstücksverwaltung anlässlicheines denkmalpflegerischen Gesamt-konzepts eine baugeschichtliche Un-tersuchung u. A. auch der Turbinen-halle in Auftrag. Unter der Koordina-tion von Professor Wolfgang Schächeuntersucht das Büro Becker und Ja-cob auch die dazu gehörigen Bau -akten und kommt zu folgendem Er-gebnis [23] (hier ein Auszug): „NachSichtung und Auswertung der Bau -akten, welche eine nahezu lückenloseChronologie der Bau- und Nutzungs-geschichte der Turbinenhalle ermög-licht, erscheint im Hinblick auf dieAutoren- bzw. Entwurfsverfasserschaftdes ersten Bauabschnitts der Halleeine Korrektur angezeigt. Die Anteilevon Peter Behrens bzw. Karl Bern-hard an der Planung des ersten Bau-abschnittes sind aufgrund der eindeu-tigen Aktenlage neu zu gewichten.“

…„Alle, für den Bauantrag einzu-

reichenden Zeichnungen sind vonK. Bernhard signiert und abgezeich-net. Lediglich die berühmte „blauePerspektive“ von 1908, welche demBauantrag als Veranschaulichung desProjektes beigegeben wurde, trägt die

Unterschrift von Peter Behrens. Aufdiesem Hintergrund liegt die Schluss -folgerung nahe, dass K. Bernhard fürdie Planung der Grundrisse, der Trag-konstruktion und in der konkretenUmsetzung auch für die Fassaden -gestaltung verantwortlich war. PeterBehrens in seiner Funktion als künst-lerischer Leiter der AEG hat demnachFassadenentwürfe seines KollegenBernhard überarbeitet und nach sei-nem architektonischen Verständnisabgeändert.“

…„Entgegen der bis dato vorherr-

schenden Auffassung, Peter Behrenshabe für den Gesamtentwurf der Tur-binenhalle verantwortlich gezeichnet,weisen die Dokumente in den Pri -märquellen vielmehr den Architektenund Ingenieur Karl Bernhard als fe-derführender Entwerfer der Hallen -architektur und der Tragkonstruktionaus.“

Die Baugeschichte muss in die-sem Punkt eigentlich umgeschriebenwerden. Jedoch dauert das Problemder wirklichen Autorenschaft von In-genieurbauten auch heute noch un-vermindert an. Der Erbauer des Via-duc de Millau ist nicht, wie man über-all lesen kann, Sir Norman Foster,sondern der berühmte französischeBrückenbauer Michel Virlogeux.

5 Zusammenfassung

Die Turbinenhalle verhalf den Archi-tekten dazu, sich nunmehr auch aufdem Gebiet des Industriebaus betäti-

gen zu können. Den Baustoff Stahllegitimierten sie von da an als einMaterial, womit man Architektur ma-chen konnte und durfte. Der Groß -industrie verhalf sie dazu, sich selbstund ihre Macht nach innen und nachaußen hin zu demonstrieren. Die Tur-binenhalle der AEG war ein Versuch,die Gegensätze zwischen Ingenieurund Architekt, Industrie und Kunst,Nützlichkeit und Schönheit sowie Zi-vilisation (Ingenieur) und Kultur (Ar-chitekt) zu einer Synthese zu führen.Dabei hat sich aber auch die Proble-matik der Zusammenarbeit zwischenArchitekt und Ingenieur eindeutigmanifestiert. Dass die Turbinenhalleheute ausschließlich Peter Behrenszugeschrieben wird, ist das Ergebniseiner der ersten erfolgreichen Public-Relations-Aktionen in der Bauge-schichte, die in den 1970-er Jahrendurch die Arbeit von Tillmann Bud-densieg eine zusätzliche Beschleuni-gung erfuhr.

Literatur

[1] Muthesius, Hermann: Das Formpro-blem im Ingenieurbau. Die Kunst inIndustrie und Handel. Jahrbuch desDeutschen Werkbunds 1913.

[2] Karl Bernhard zu seinem 70. Ge-burtstag. Der Bauingenieur“, 10/1929,S. 794/795.

[3] Bernhard, Karl: Eisenbaukunst. DerBauingenieur 1920, Heft 1, S. 19.

[4] Kürschners Deutscher Gelehrten -kalender 1931. Berlin und Leipzig.

[5] Bernhard, Karl: Eiserne Brücken.Hrsg. von der Deutschen Bauzeitung,Berlin 1911.

[6] Bernhard, Karl: Neue preußische Be-stimmungen über die Beanspruchungdes Eisens im Hochbau. Zeitschrift desVDI 54, 1919, S. 1324–1325.

[7] Baer: Karl Bernhard zu seinem70. Geburtstag. Der Bauingenieur 10,1929, S. 794.

[8] Bernhard, Karl: Eisenbaukunst. DerBauingenieur 1, 1920, S. 15.

[9] Bernhard, Karl: Eiserne Brücken,Berlin 1911.

[10] Bonatz, Paul: ArchitektonischeRundschau 1907, S. 46.

[11] Brink, E.: Diplomarbeit am Lehr-stuhl für Technikgeschichte Prof. Dr.-Ing. Lorenz, Brandenburgische Techni-sche Universität, 1999. Karl Bernhard(1859–1937).

[12] Muthesius, Hermann: Das Form-problem im Ingenieurbau. In: Jahr-buch des Werkbundes für 1913, Jena1913, S. 25 f.

Bild 13. AEG-Montagehalle Fig. 13. AEG-Assembling Hall

Page 9: Der Bauingenieur Karl Bernhard : Erbauer der AEG-Turbinenhalle

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C. Dicleli · Der Bauingenieur Karl Bernhard – Erbauer der AEG-Turbinenhalle

[13] Siemens Handakte „Die Turbinen-halle auf dem ehemaligen Firmenarealder AEG in der Hutten-/Berlichingen-straße in Berlin Moabit (heute Halle 9,9a und 10 der Siemens AG-KWU),Berlin August 1996.

[14] Ebd.[15] Mislin, Miron: Geschichte der Bau-

konstruktion und Bautechnik, Düssel-dorf 1988, S. 269 ff.

[16] Windsor, Alan: Peter Behrens, Ar-chitekt und Designer, 1985, S. 95.

[17] Bernhard: „Die neue Halle für dieTurbinenfabrik der allgemeinen Elek-tricitäts-Gesellschaft in Berlin“.

[18] Posener, Julius: „Vorlesungen zurGeschichte der Neuen Architektur“(1750–1933), in: ARCH+, Okt. 1981,Heft 59, S. 50.

[19] Aicher, O., Posener, J.: Fabrizieren,Investieren, Experimentieren, Anm. 3,S. 234. Zitiert von Mechthild Heuser inPeter Behrens, „Wer will sagen, wasSchönheit sei?“

[20] Mislin, ebd.[21] Buddensieg, Tillmann: Die Nützli-

chen Künste, Berlin 1981, S. 64. „Beh-rens hatte (…) eine Situation zu schaf-fen gewusst, wo einer der großen Bau -ingenieure der Zeit, Karl Bernhard,

den Auftrag erhält, das vorliegendeRaum- und Baukonzept eines archi-tektonischen Autodidakten nichts wei-ter als technisch zu verwirklichen.“

[22] Heuser, Mechthild: Die Kunst derFuge, Dissertation Humboldt-Universi -tät zu Berlin, 1998.

[23] Siemens Handakte ebd.

Autor dieses Beitrages:Prof. Dipl.-Ing. Cengiz Dicleli, IAF Institut fürAngewandte Forschung, HTWG Konstanz,Hochschule für Technik, Wirtschaft und Gestal-tung, Brauneggerstraße 55, 78465 [email protected]