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Der Begriff der Reflexion bei Kant von MAXLIEDTKE (Wedel) Im Begriff der Reflexion machen sich bei Kant vermutlich wenig- stens zwei Traditionsströme bemerkbar: das Lockesche Gegensatz- paar reflexion—Sensation 1 und der Begriff von Reflexion, den die Wolf fische Schule ausgebildet hatte. Da Kant bei M. Knutzen von 1740 bis 47 die Wolf fische Philosophie gehört hatte und er zudem seinen eigenen Vorlesungen über Metaphysik, Anthropologie, Logik 2 usw. Compendien von Baumgarten und Meier, die beide zur Wolffi- schen Schule gezählt werden, zugrunde gelegt hatte, hat er sich besonders mit dem Begriff Reflexion in der Deutung der Wolf fischen Schule auseinandergesetzt. Dabei war allerdings nicht einmal die Terminologie innerhalb dieser Schule einheitlich. Bei Wolff bedeutet Reflexion, seine Aufmerksamkeit, die aus einer zusammengesetzten Vorstellung eine Teilvorstellung zu größe- rer Klarheit herauszuheben vermag 3 , sukzessiv auf das zu richten, was in einer Vorstellung enthalten ist 4 . Die sukzessive Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf das Mannig- faltige der Vorstellung führt erstens dazu, daß bestimmte Teile des Vorgestellten klarer apperzipiert werden als seine übrigen Teile. Damit ist es als unterschieden vom übrigen Inhalt der Vorstellung erkannt 5 . Weil das Vermögen der Aufmerksamkeit aber überhaupt den Bestimmungen unseres Willens unterliegt, sind wir zweitens in der Lage, unsere Aufmerksamkeit zugleich auf zwei Teilvorstel- lungen zu richten, die durch die erste Funktion der Reflexion schon 1 Mit Locke hat Kant sich zwischen 1762 und 1766 beschäftigt. 2 Die „Metaphysik" und die „Anthropologie" las Kant nach A. G. BAUMGARTEN, Metaphysica, Halle 1739, die „Logik" nach G. FR. MEIER, Auszug aus der Ver- nunfilehre, Halle 1752. 3 CHR. WOLFF, Psychologia empirica, Verona 1736, § 237. Facultas efficiendi, ut in perceptione composita partialis una maiorem claritatem ceteris habeat, dicitur Attentio. Attentio wird von Baumgarten durch Aufmerksamkeit übersetzt. Meta- physica, Halle 1739, zitiert nach Auflage 4, Halle 1760, § 625. 4 a. a. 0. § 257: Attentionis süccessiva directio ad ea, quae in re percepta insunt, dicitur Reflexio. * Psych. emp. § 258. Si super re percepta reflectimus; eorum, quae eidem insunt diversa, .. nobis conscii sumus .. Efficimus itaque ut id, ad quod attentionem nostram dirigimus, clarius percipiamus ceteris, quae simul insunt ... Brought to you by | University of Saskatchewan (University of Saskatchewan) Authenticated | 172.16.1.226 Download Date | 5/25/12 8:16 PM

Der Begriff der Reflexion bei Kant

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Page 1: Der Begriff der Reflexion bei Kant

Der Begriff der Reflexion bei Kantvon MAX LIEDTKE (Wedel)

Im Begriff der Reflexion machen sich bei Kant vermutlich wenig-stens zwei Traditionsströme bemerkbar: das Lockesche Gegensatz-paar reflexion—Sensation1 und der Begriff von Reflexion, den dieWolf fische Schule ausgebildet hatte. Da Kant bei M. Knutzen von1740 bis 47 die Wolf fische Philosophie gehört hatte und er zudemseinen eigenen Vorlesungen über Metaphysik, Anthropologie, Logik2

usw. Compendien von Baumgarten und Meier, die beide zur Wolffi-schen Schule gezählt werden, zugrunde gelegt hatte, hat er sichbesonders mit dem Begriff Reflexion in der Deutung der Wolf fischenSchule auseinandergesetzt. Dabei war allerdings nicht einmal dieTerminologie innerhalb dieser Schule einheitlich.

Bei Wolff bedeutet Reflexion, seine Aufmerksamkeit, die auseiner zusammengesetzten Vorstellung eine Teilvorstellung zu größe-rer Klarheit herauszuheben vermag3, sukzessiv auf das zu richten,was in einer Vorstellung enthalten ist4.

Die sukzessive Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf das Mannig-faltige der Vorstellung führt erstens dazu, daß bestimmte Teile desVorgestellten klarer apperzipiert werden als seine übrigen Teile.

Damit ist es als unterschieden vom übrigen Inhalt der Vorstellungerkannt5. Weil das Vermögen der Aufmerksamkeit aber überhauptden Bestimmungen unseres Willens unterliegt, sind wir zweitens inder Lage, unsere Aufmerksamkeit zugleich auf zwei Teilvorstel-lungen zu richten, die durch die erste Funktion der Reflexion schon

1 Mit Locke hat Kant sich zwischen 1762 und 1766 beschäftigt.2 Die „Metaphysik" und die „Anthropologie" las Kant nach A. G. BAUMGARTEN,

Metaphysica, Halle 1739, die „Logik" nach G. FR. MEIER, Auszug aus der Ver-nunfilehre, Halle 1752.

3 CHR. WOLFF, Psychologia empirica, Verona 1736, § 237. Facultas efficiendi,ut in perceptione composita partialis una maiorem claritatem ceteris habeat, diciturAttentio. Attentio wird von Baumgarten durch Aufmerksamkeit übersetzt. Meta-physica, Halle 1739, zitiert nach Auflage 4, Halle 1760, § 625.

4 a. a. 0. § 257: Attentionis süccessiva directio ad ea, quae in re percepta insunt,dicitur Reflexio.

* Psych. emp. § 258. Si super re percepta reflectimus; eorum, quae eidem insuntdiversa, .. nobis conscii sumus .. Efficimus itaque ut id, ad quod attentionemnostram dirigimus, clarius percipiamus ceteris, quae simul insunt ...

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als unterschieden erkannt waren. Durch die zweite Funktion derReflexion, sofern sie die Aufmerksamkeit zugleich auf zwei Teil-vorstellungen richtet, werden diese unterschiedenen Vorstellungenmiteinander verglichen. Die vergleichende Reflexion ermöglicht dieErkenntnis der Merkmale, die den Vorstellungen gemeinsam zu-kommen6, d. h. die Erkenntnis der Übereinstimmungen bzw. derÄhnlichkeiten und Identitäten.

A. G. Baumgarten und G. Fr. Meier, der sich terminologisch seinemLehrer Baumgarten im wesentlichen anschließt—seine Metaphysikist z. B. eine Übersetzung der Metaphysica Baumgartens —, weicheninsofern von Wolff ab, als sie mit Reflexion nur die erste Funktiondes Wolf fischen Reflexionsvermögens bezeichnen: „Attentio in toti-us perceptionis partes successive directa est reflexio"7. Bei Baum-garten heißt reflexio ,,die Überlegung"8, bei Meier „das Nach-denken"9. Die zweite Funktion der Wolf fischen Reflexion nennensie comparatio. „Attentio ad totam perceptionem post reflexionemest comparatio"10.

Baumgarten übersetzt comparatio mit „Vergleichung, das Zu-sammenhalten"11, Meier mit „Überdenken oder Zusammenfassen"12.

Kant benutzt den Begriff Reflexion auch in seiner kritischen Zeitmit wechselnden Bedeutungen. Er kennt einen logischen und einentranszendentalen Gebrauch dieses Terminus13, darüber hinaus be-zeichnet Reflexion aber auch die Tätigkeit des Verstandes über-haupt. In der Reflexion14 425 (zwischen 1776 und 1780 notiert)schreibt Kant: „Verstand ist das Vermögen, (das) allgemeine zu

6 Psych. emp. § 260: Quoniam itaque directio attentionis ab arbitrio nostropendet; ad bina quoque simul eandem dirigere valeamus, ad quae eandem sigillatimdirexeramus. Quare cum res perceptas inter se conferamus, dum attentionemnostram primum in eas se conferamus dum attentionem nostram primum in eassigillatim, deinde in eadem simul dirigimus, eam continuo ab una ad alteram quasiretrahentes; dum super rebus perceptis reflectimus, eas inter se conferimus.

7 Metaph. § 626.8 ebda.9 MEIER, A. G. Baumgartens Metaphysik, Halle 1766, § 387.10 Metaph. § 626.11 Metaph. § 626.12 MEIER, Metaph. § 387. Meier weicht in der Wortwahl also von seinem Lehrer

ab. Da aber reflexio und comparatio durch eine Funktion der attentio definiert sind,ist Meiers Terminologie „Nachdenken — Überdenken" treffender.

13 Kritik der reinen Vernunft, B 317 f.14 Kants Notizen „Reflexionen" zu nennen, kann eigentlich nicht dem Kanti-

schen Wortgebrauch entsprechen, vollendet aber sicher die Verwirrung gegenüberdiesem Begriff.

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erkennen, d. i. das Vermögender Regeln. Vermögen zu reflektieren".Daß die Zufügung „Vermögen zu reflektieren" den Verstand de-finieren soll, geht aus einer Anmerkung in den Prolegomena hervor:„Alle unsere Anschauung geschieht aber nur vermittelst der Sinne;der Verstand schaut nichts an, sondern reflektiert nur15". In dieserweiten Bedeutung von Reflexion, — Reflexion scheint doch alleVerstandesfunktionen zu umfassen —, zeigt sich vermutlich derEinfluß Lockes, zumal Reflexion der Anschauung gegenübergestelltwird16.

Baumgartens und Meiers Einfluß zeigt sich in der Reflexion 2878.Diese Notiz, die zusammen mit der Reflexion 2876 Grundlage un-serer begriffsgeschichtlichen Betrachtung sein soll, bezieht sich aufden Paragraphen 259 des Auszugs aus Meiers Vernunftlehre. Ver-mutlich ist sie zwischen 1776 und 1780 niedergeschrieben worden.

Die Notiz gibt eine Definition von Reflexion und Komparation,die sich deutlich an Meier (und damit auch an Baumgarten) an-schließt: „reflectieren heißt: sich nach und nach der Vorstellungenbewust werden, d.i. sie mit einem Bewustsein zusammen halten.Comparieren: sie unter einander vergleichen, d. i. mit der Einheitdes Bewustseyns zusammen halten." Kant wiederholt hier in derSprache der kritischen Zeit Definitionen Meiers. „Sich nach undnach der Vorstellungen bewust werden", heißt bei Meier „reflec-tieren", d. h. unterscheiden. „Sie unter einander vergleichen", be-deutet bei Meier „compariren" d. h. vergleichen.

Für Kants Verständnis von Reflexion ist es nun aufschlußreich,R 2878 mit R 287617, die nach Adickes Datierung aus etwa demgleichen Zeitraum wie R 2878 stammen müßte, zu vergleichen. Auchdiese Reflexion bezieht sich auf den § 259 des Auszugs aus MeiersVernunftlehre.

Es ist nun auffällig, daß Meier in dem von Kant kommentierten§ 259 zwar von der logischen Absonderung (Abstraction), nichtjedoch von der Reflexion und der Komparation spricht. Diese Be-griffe hatte Meier schon in seinem ästhetischen Hauptwerk sehrausführlich behandelt18. Er hatte dort die Reflexion und Kompara-

16 Proleg. 288, Anmerkg. II.16 vgl. auch R 280 (Datierung unbestimmt): „Man muß nicht etwas leicht vor

Empfindung halten, was eine Wirkung der reflexion ist". Und R 215 (Datierungebenfalls unbestimmt) „... Der Verstand kommt entweder zur Sinnlichkeit alsreflexion oder die Sinnlichkeit zum Verstande als Erhellung".

17 Diese Reflexion hat JÄSCHE vermutlich in der von ihm edierten KantischenLogik (§ 6) benutzt.

18 Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften, Halle 1748/49, § 283 ff.14 Arch. Gesch. Philosophie Bd. 48

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tion als Unterarten der Aufmerksamkeit (Attentio) bezeichnet19.„Die erste Art der Aufmerksamkeit ist die Reflexion, oder wie mansie nennen kann das Nachdenken, das Durchdenken einer Sache.Wir denken einer Sache nach, wenn wir unsere Aufmerksamkeit nachund nach auf die verschiedenen Theile eines und eben desselbenGanzen richten"20. Die zweite Art der Aufmerksamkeit nannteMeier dort „die Überlegung, das Zusammenhalten der Gedanken(comparatio), wenn wir, nach der Reflexion, auf die verschiedenenentdeckten Theile des Ganzen mit einemmale Achtung geben . ."21.Kant hat in den Reflexionen 2876 und 2878 vermutlich an die voll-ständige Zahl der Verstandeshandlungen, die nach Meier einen Be-griff erzeugen, erinnern wollen. Obwohl nun die Reflexion 2876 sichMeiers Einteilung anschließt, indem sie wie Meier „attention" (Auf-merksamkeit) offenbar als Oberbegriff zu „reflexion" und „compa-ration" angibt, weicht sie von Meier ab, indem sie die „comparation"vor die „reflexion" setzt. Meier hatte gesagt, daß die Reflexion(Nachdenken) der Überlegung (comparatio) vorausgehe22. Im § 309der Anfangsgründe betont er nochmals: „Die Überlegung ist eineAufmerksamkeit, und setzt jederzeit das Nachdenken voraus ...".

Noch auffälliger aber ist, daß Kant die Definition, die er ur-sprünglich bei der „reflexion" notierte, durch eine nachträglicheKorrektur der „comparation" zuschreibt.

Die Reflexion 2876 behandelt den logischen Ursprung der Be-griffe. Die Begriffe entspringen: 1. durch „comparation", 2. durch„reflexion", 3. durch „abstraction". Zum Begriff „comparation"hatte Kant nun zunächst fragmentarisch notiert: „Wie sich in einemBewußtseyn ..". Zum Begriff „reflexion": „wie sie sich gegenein-ander in einem Bewußtseyn verhalten als identisch oder nicht".Beide Bemerkungen wurden später gestrichen. Statt dessen wird zur„comparation" geschrieben: „wie sie sich zu einander in einem Be-wußtseyn verhalten". Zur „reflexion": „wie verschiedene in einemBewußtseyn begriffen seyn können".

Offensichtlich deckt sich die später der „comparation" beigege-bene Erläuterung mit der früheren der „reflexion". Wenigstens aberlassen beide Erläuterungen keinen deutlichen Unterschied zwischen„reflexion" und „comparation" erkennen.

19 „Wir werden aus dem folgenden gewahr, daß alle übrige untere Erkenntnis-vermögen, außer der Abstraction, nichts anders sind, als besondere Arten der Auf-merksamkeit". § 283.

20 Anfangsgründe § 301.21 Anfangsgründe § 308. ebda.

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Warum ändert Kant die Reihenfolge der einzelnen Verstandes-handlungen und warum korrigiert er die Definitionen ?

Diese Fragen lassen sich nicht völlig auflösen. Ein Vergleich mitden ebenfalls diese Begriffe betreffenden übrigen Reflexionen führtauch nicht wesentlich weiter, zumal man Gefahr läuft, Notizen, diemöglicherweise nur der Erinnerung an Lehren der Tradition dienensollen, mit kritischen zu vermengen23.

Vermutlich hat Kant in der Reflexion 2876 logische und tran-szendentale Aspekte nicht genügend deutlich voneinander geschie-den.

Die Änderung der Reihenfolge der Verstandeshandlungen bei derBehandlung des logischen Ursprungs der Begriffe beruht wohl aufeiner transzendentalen Fragestellung.

Das deutet sich schon in den Reflexionen 460L an24. Diese Re-flexionen sind Anmerkungen zu dem § 572 der Metaphysik Baum-gartens. Der § 572 behandelt das Vermögen, Ähnlichkeiten und Ver-schiedenheiten zu bemerken, und beginnt: „Identitates diversita-tesque rerum percipio", Kant sagt dazu in der Reflexion 461: ,,Dieeinerleyheit und Verschiedenheit nehmen wir eigentlich nicht wahr,sondern bemerken sie bei der Vergleichung". Daraus ist zu ent-nehmen, daß eine Vergleichung (wenn auch nicht zeitlich) voraus-gegangen sein muß, wenn „Einerleyheit und Verschiedenheit" be-merkt werden soll. Reflexion 460 sagt: „.. In der Vergleichunggehen wir erst auf die Einerleyheit, denn die Unterschiede ..".Hieraus ist ablesbar, daß die Vergleichung, die dem Bemerken von„Einerleyheit und Verschiedenheit" vorausgeht, zunächst auf die„Einerleyheit" und dann erst auf die „Unterschiede" geht. DieSchule Wolffs (so auch Baumgarten und Meier) hatte gelehrt, daßdie Aufmerksamkeit uns zunächst auf die Verschiedenheiten25 bringt,dann auf die Ähnlichkeiten26. Kant kann sich dieser Lehre nichtanschließen, weil wir nach seiner Meinung in den schematisiertenKategorien a priori schon über allgemeine Begriffe verfügen27, die

23 Jäsche ist dieser Gefahr bekanntlich nicht ganz entgangen, z. B. bei der Be-handlung der Arten der Vernunftschlüsse. Aber auch im Abschnitt über den lo-gischen Ursprung der Begriffe führt die unbedenkliche Verwertung kantischer. Re-flexionen wenigstens zu Unstimmigkeiten.

24 Die Datierung beider Reflexionen ist unbestimmt.25 In R 460 nennt Kant die Unterschiede auch Verschiedenheiten.26 z. B. Psych. emp. § 258 und 260.27 So nennt Kant denn auch in R 2536 (zwischen 1776 und 1778 aufgezeichnet)

die Überlegung eine „Vergleichung mit den Regeln des Verstandes".

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die Erkenntnis von Verschiedenheit nur so ermöglichen können,daß man vorher etwas Gleichartiges (der Grund von Identität undEinerleiheit) unter sie hat subsumieren können.

Obwohl nun Kant aus transzendentalen Gründen die Kompara-tion vor die Reflexion gezogen hat, fließen gleichzeitig logische Be-trachtungen ein. Denn es wäre jetzt zu erwarten, daß „reflexion"deutlich als Unterscheidungshandlung definiert würde. Das ge-schieht aber nicht. Vielmehr wird die Notiz zur „comparation"unterbrochen und dann der „reflexion" zugesprochen, was Baum-garten und Meier bei der „comparation" aufgeführt hätten. Auseiner Bemerkung in der Kritik der reinen Vernunft könnte hervor-gehen, daß Kant in dieser Reflexion den Begriff „reflexion" zu-nächst bloß unter logischem Aspekt betrachtete, als er ihn nämlichmit der „comparation" identifizierte. In der Kritik der reinen Ver-nunft unterscheidet Kant zwischen einer comparatio, die bloß ver-gleicht, und einer reflexio, die bei der Vergleichung zunächst aufdas Erkenntnisvermögen sieht, zu dem die Vorstellungen (in weitemSinn: sowohl als Anschauung als auch als Begriff) gehören, ob „zumreinen Verstande oder zur sinnlichen Anschauung"28. Dann sagt er:„Man könnte also zwar sagen: daß die logische Reflexion eine bloßeKomparation sei, denn bei ihr wird von der Erkenntniskraft, wozudie gegebenen Vorstellungen gehören, gänzlich abstrahiert .. ,"29.Es ist nicht ausgeschlossen, daß Kant aus Überlegungen, wie dengerade angeführten, der „reflexion" die Definition der „compara-tion" beigibt. Unter dieser Voraussetzung erübrigt es sich auch, die„comparation" ausdrücklich zu definieren. Kants Entscheidungaber, „reflexion" begrifflich einen größeren Umfang zu geben alsdem Begriff „comparation", könnte hypothetisch nur so begründetwerden, daß Kant dem Wolffischen Verständnis von „reflexion",wonach „reflexion" sowohl auf Verschiedenheiten als auch auf Ähn-lichkeiten geht, doch näherstand als der Fassung dieses Begriffesbei Baumgarten und Meier.

Die Reflexion 2876 gibt aber noch eine weitere Frage auf: Warumkorrigiert Kant die ursprünglichen Notizen ? Auch diese Frage läßtsich nicht auflösen. Dennoch hilft ein anfänglicher Versuch der Auf-lösung dieser Frage, das Kantische Verständnis von „reflexion" zubeleuchten.

Die Korrektur in der Definition von „reflexion" geht vermutlichwiederum auf transzendentale Fragestellungen zurück. Das geht aus

28 B 317. 29 B 318.

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dem Wortlaut der Korrektur hervor. Zur „reflexion" schreibt Kantjetzt: „durch reflexion mit demselben Bewustseyn: wie verschiedenein einem Bewustseyn begriffen seyn können". Das „wie ... können"läßt auf die transzendentale Fragestellung schließen30. Unterstütztwird dieser Schluß durch eine weitere Anmerkung, die Adickes unterdie Erläuterung zu „reflexion" gesetzt hat. Kant legt sich dort dieFrage vor: „ob man einen Begrif ohne Vergleichung mit ändern undnoch vor ihr doch als repraesentationem communem haben könne ?"Diese Frage ist eine Spezifizierung dessen, was die Korrektur zu„reflexion" schon ausgedrückt hatte. Wenn nämlich die indirekteFrage „wie verschiedene in einem Bewustseyn begriffen seynkönnen" anders als durch den allgemeinen Hinweis auf ein Re-flexionsvermögen beantwortet werden sollte, dann ließen sich meh-rere Antworten, von denen aber nur zwei aufgeführt werden sollen,geben: Die schon durch ihre räumliche Anordnung numerisch ver-schiedenen Vorstellungen können deshalb in einem Bewußtsein be-griffen sein, weil unser diskursives Verstandesvermögen in der Lageist, von den durch das Anschauungsvermögen bedingten Verschie-denheiten, abzusehen.

Die zweite Antwort: Wir haben schon vor aller Vergleichung re-praesentationes communes (die Kategorien); denn nur sie .könnenuns überhaupt befähigen, Vergleichungen vorzunehmen. Damit sindsie aber auch die höchsten Bedingungen dafür, daß „verschiedenein einem Bewustseyn begriffen seyn können".

Das sind Antworten, zu welchen uns ein transzendental ver-standenes Reflektieren führt. Die zunächst bloß unter logischenAspekten ausgeführte Definition von „reflexion" konnte diese Aus-kunft nicht geben.

Warum aber hat Kant auch in der unter transzendentalen Rück-sichten korrigierten Reflexion 2876 die „comparation" in der Reihen-folge der Verstandeshandlungen, die er nach der Vermutung vonAdickes zudem erst bei der Überarbeitung numeriert hat, vor die„reflexion" gesetzt? Weil die transzendental verstandene „re-flexion" zwar nach den Bedingungen aller möglichen Vergleichungfragt, diese Bedingungen aber doch wesentlich in dem Vermögen

30 Eine Antwort auf das „wie .. können" gibt die Fußnote zu § 16 der Kritikder reinen Vernunft: „Eine Vorstellung, die als verschiedenen gemein gedachtwerden soll, wird als zu solchen gehörig angesehen, die außer ihr noch etwas Ver-schiedenes an sich haben, folglich muß sie in synthetischer Einheit mit anderen ..vorher gedacht werden, ehe ich die analytische Einheit des Bewußtseins, welche siezum conceptus communis macht, an ihr denken kann".

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einer auf Komparation beruhenden logischen Einheitsfunktion un-seres diskursiven Verstandes bestehen. Eben diese Bedingungengehen aber der transzendentalen „reflexion" voraus. Sie werden vonihr nur benannt. Die begriffsbüdenden logischen Funktionen kom-men allein der „comparation" zu.

Dieser Interpretation würde auch die Definition von „Überle-gung" (reflexio) in der Kritik der reinen Vernunft entsprechen: „DieÜberlegung (reflexio) hat es nicht mit den Gegenständen selbst zutun, um geradezu von ihnen Begriffe zu bekommen^ sondern ist derZustand des Gemüts, in welchem wir uns zuerst dazu anschicken,um die subjektiven Bedingungen ausfindig zu machen, unter denenwir zu Begriffen gelangen können"31. Aus dem Kontext der aufge-führten Stelle üeße sich dann weiter noch entnehmen, warum dieReflexion, die hier eine transzendentale ist32, zwischen „compara-tion" und „abstraction" geschoben wird: „Die erste Frage vor allerweiteren Behandlung unserer Vorstellung33 ist die: in welchem Er-kenntnisvermögen gehören sie zusammen ? Ist es der Verstand odersind es die Sinne, vor denen sie verknüpft, oder verglichen werden ?"Nur nach vorhergehender transzendentaler Überlegung kann vonden Verschiedenheiten (etwa der Anschauungen) abstrahiertwerden. — Die Deutung, die Jäsche in seiner Logik der Reflexion2876 gibt, erscheint mir völlig abwegig (§6). Die logischen Ver-standeshandlungen, wodurch Begriffe ihrer Form nach erzeugtwerden, sind nach Jäsches Darstellung:„1. Comparation: d.i. Vergleichung der Vorstellungen unter ein-

ander im Verhältnis zur Einheit des Bewußtseins.2. Reflexion: d. i. die Überlegung, wie verschiedene Vorstellungen

in einem Bewußtsein begriffen sein können; und endlich3. Abstraction oder Absonderung alles übrigen, worin die gege-

benen Vorstellungen sich unterscheiden."Die Fehldeutung Jäsches zeigt sich dann in dem Beispiel, womit

er diese logischen Verstandeshandlungen erläutern möchte. Wennman eine Fichte, eine Weide und eine Linde sieht, dann werden siein der Komparation untereinander verglichen. Das Ergebnis derVergleichung: sie sind verschieden nach Stamm, BJatt usw. DieReflexion überlegt: was haben sie gemein? Das Ergebnis: Stamm,

31 B 316.«2 B 317.83 Vorstellung kann anschaulich, aber auch bloß begrifflich sein. Immer aber ist

an ihr schon Komparation beteiligt.

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Blatt usw. Die Abstraktion sieht ab von der Größe, Figur usw., undman erhält den Begriff Baum.

Jäsche erschwert schon dadurch dem Leser das Verständnis, daßer in § 5 zunächst sagt, daß der Ursprung der Begriffe der bloßenForm nach auf Reflexion und Abstraktion beruhe (was sich philo-logisch bei Kant auch belegen läßt, z. B. R 2851). Im § 6 nennt eran erster Stelle aber die Komparation. Durch das Beispiel (Weideusw.) wird das Mißverständnis offenbar. Die Komparation sieht dieVerschiedenheiten, die Reflexion sieht die Ähnlichkeiten, die Ab-straktion sieht von den Verschiedenheiten ab. Er gibt damit genauMeiers Lehre von den Verstandeshandlungen wieder. Nur daß Kom-paration und Reflexion willkürlich vertauscht sind. Bei Kant wardie Vertauschung von Komparation und Reflexion noch systema-tisch zu erklären, weil der Unterscheidung eine Vergleichung vor-ausgehen mußte.

Jäsches Deutung widerspricht aber der Absicht Kants auch darin,daß „reflexion" zwar transzendental definiert, im Beispiel aber alsbloße Komparation der Tradition genommen wird. Wenn Jäschemeint, die Komparation gehe auf Distinktion, trifft das zwar u. a.zu. Aber nach R 460 geht die Vergleichung zuerst auf die Einerlei-heit, dann auf die Unterschiede. Die Funktionen, die Jäsche aufKomparation und Reflexion verteilt, gehören allein der Kompara-tion an.

Entgegen der Darstellung des Begriffes Reflexion nach den hand-schriftlichen Notizen 2876 und 2878 Kants muß aber vermutetwerden, daß Kant gemeinhin Reflexion in der Bedeutung nimmt,wie die Reflexion 425 und das oben angeführte Zitat aus den Pro-legomena sie beschreiben. Reflektieren ist demnach die Funktion desVerstandes, das Allgemeine zu erkennen, d. h. Begriffe zu bilden.(In diesem Sinne ließe sich das Kantische Reflektieren doch viel-leicht mit dem Komparieren Meiers vertauschen.)

Im ersten Buch der transzendentalen Dialektik „Von den Be-griffen der reinen Vernunft" setzt Kant die Verstandesbegriffe vonden Vernunftbegriffen ab und sagt: „Verstandesbegriffe werdenauch a priori vor der Erfahrung und zum Behuf derselben gedacht;aber sie enthalten nichts weiter, als die Einheit der Reflexion überdie Erscheinungen .. "34. Diese Definition entspricht der Reflexion425 und dem Prolegomena-Zit&t. Begriffe, sofern sie nicht aus Ver-standesbegriffen geschlossene Vernunftbegriffe sind, sind immer re-

« B 366f.

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flektierte Begriffe, auch die Verstandesbegriffe selbst36. Reflektierengibt demnach die eigentliche Beschäftigung des Verstandes als desVermögens der Begriffe wieder.

Diese Bedeutung muß man auch vor Augen haben, wenn Kantden Begriff Reflexion attributiv benutzt wie etwa in dem Terminus„reflektierende Urteilskraft". Durch dieses Attribut wird der Ur-teilskraft eine Aufgabe zugeschrieben, die im eigentlichen Sinne nurdem Verstand zukommt, nämlich Begriffe zu bilden. Diese Aufgabekann aber von der ästhetischen Urteilskraft, die ja auch eine reflek-tierende ist, schon deshalb nicht gelöst werden, weil sie es gar nichtmit Begriffen zu tun hat. Aber nach dem Beispiel des reflektierendenVerstandes ist sie bemüht, Einheit zu stiften, wenn diese Einheitauch nur eine vorbegriffliche Übereinstimmung von Einbildungs-kraft und Verstand, bzw. Vernunft ist. Wenn Kant die Urteilskrafteine reflektierende nennt, dann ist wahrscheinlich damit zunächstnur gemeint, daß die Urteilskraft nach dem Beispiel des Verstandesdarauf aus ist, Einheit in das Gegebene zu bringen, ohne aber durchdie Einheit des Verstandes an die Grenzen der Kategorien gebundenzu sein. Die reflektierte Einheit der Urteilskraft kann bis zur Einheitder Vernunft führen, die eigentlich (im Gegensatz zur Verstandes-einheit) nur eine geschlossene Einheit heißen darf36.

» B 366188 Vgl. B 366. Zur weiteren Erläuterung des Begriffes „reflektierende Urteils-

kraft" vergleiche die Dissertation des Verfassers, „Der Begriff der reflektierendenUrteilskraft in Kants Kritik der reinen Vernunft", Hamburg 1964.

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