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10 DER SPIEGEL / DAVID SEYMOUR / MAGNUM PHOTOS / AGENTUR FOCUS Adenauer mit seinem Hausschaf in Rhöndorf 1949 „Der Bürger ist entsetzlich dumm“ Zeitgeschichte 50 Jahre nach dem Tod Konrad Adenauers muss das Bild des Gründungskanzlers korrigiert werden. Geheimakten zeigen einen autoritären Politiker, der seinen SPD-Konkurrenten Willy Brandt bespitzeln ließ und sein Volk verachtete. Von Klaus Wiegrefe

„Der Bürger ist entsetzlich dumm“

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Page 1: „Der Bürger ist entsetzlich dumm“

10 DER SPIEGEL 15 / 2017

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Adenauer mit seinem Hausschaf in Rhöndorf 1949

„Der Bürger ist entsetzlich dumm“Zeitgeschichte 50 Jahre nach dem Tod Konrad Adenauers muss das Bild des Gründungskanzlerskorrigiert werden. Geheimakten zeigen einen autoritären Politiker, der seinen SPD-Konkurrenten Willy Brandt bespitzeln ließ und sein Volk verachtete. Von Klaus Wiegrefe

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Titel

Vom Verteidigungsministerium aufder Bonner Hardthöhe bis zumKanzleramt im Palais Schaumburg

sind es rund 10 Kilometer. Mit dem Autofährt Lothar Weirauch etwa 30 Minuten.In den Straßen sind noch Schäden desBombenkriegs zu sehen, viele Menschensprechen die Dialekte der Vertriebenenaus den Ostgebieten.

Weirauch ist ein umtriebiger Beamter,er leitet stellvertretend die Abteilung „Un-terbringung und Liegenschaftswesen“ imVerteidigungsministerium. Nach 1945 hattesich der Jurist aus Schlesien der FDP an-geschlossen und war schnell zum Bundes-geschäftsführer der Liberalen aufgestiegen.

Das Amt ist er schon wieder los, aberder Exnazi bleibt gut vernetzt in der FDP.Deshalb wird er auch regelmäßig in der ehe-maligen weißen Fabrikantenvilla empfan-gen, in der Kanzler Konrad Adenauer resi-diert. Weirauch soll Bericht erstatten: Erbespitzelt seine Parteifreunde – im AuftragAdenauers, des CDU-Vorsitzenden und ers-ten Bundeskanzlers der Bundesrepublik,heute weltweit geehrt als der Mann, der dieDemokratie in Deutschland verankerte.

Weirauch diktiert die „neuesten Ereig-nisse in der FDP-Bundesleitung“ meist derSekretärin Gretel B. in die Schreibmaschine,wie der Bundesnachrichtendienst (BND) ineinem bislang unbekannten Bericht festhält.Der BND interessiert sich für Gretel B., weilsie mit einem angeblichen Ostagenten an-gebändelt hat und Pullach der Frage nach-geht, was sie hat ausplaudern können. Dazugehört: Weirauchs Spitzeldienst.

Der FDP-Mann erhält vom Kanzleramtlaut BND „ein monatliches Fixum von min-destens 2000 DM“, was etwa einem halbenMinistergehalt entspricht. Seine Vermer-ke – ohne Briefkopf und Unterschrift – ge-hen sofort an Adenauer und Kanzleramts-chef Hans Globke, die mit dem Insiderwis-sen die FDP austricksen.

Etwa nach der Wahl 1961, die der inzwi-schen 85-jährige Adenauer gewinnt. Es istder vierte Sieg in Folge für den knorrigenKölner, doch zum Regieren benötigt er dieFDP. Die Liberalen sähen allerdings lieberWirtschaftsminister Ludwig Erhard imKanzleramt.

Adenauer pokert scheinbar hoch unddroht mit einer Großen Koalition. Schließ-lich fällt die FDP um und stimmt einer letz-ten begrenzten Amtszeit zu. Das weißAdenauer allerdings schon vorher, dennihm liegt ein Vermerk über die Verhand-lungsstrategie der Liberalen vor, der aufinternen Informationen aus der FDP-Spitzeberuht. Das Dokument trägt weder Kopfnoch Unterschrift, nur eine handschriftlicheNotiz Globkes, und bislang war unklar, vonwem es stammt. Der Rhöndorfer HistorikerHolger Löttel hat es veröffentlicht*. Wei-rauch ist als Quelle anzusehen, falls es nichteinen zweiten Spitzel gab.

Sollte die Rolle Weirauchs öffentlichwerden, notiert ein alarmierter BND-Mit-arbeiter 1961 besorgt, könne das „eine Ka-binettskrise hervorrufen“.

Es war viel mehr als das: Mit der Spitze-lei verstieß der Jurist Adenauer gegen ele-mentare Grundsätze der parlamentari-schen Demokratie. Ein Rechtsbruch, derihn vermutlich das Amt gekostet hätte,wäre er an die Öffentlichkeit gekommen.

Ausgerechnet Adenauer, der Gründerder Republik, den Deutsche in Ost undWest verehren wie kaum einen anderenPolitiker des 20. Jahrhunderts. Bei Mei-nungsumfragen nach dem bedeutendstenDeutschen landet er seit Jahrzehnten vorn.„Konrad Adenauer gab uns den Kompassund legte die Gleise für demokratischePrinzipien, die bis heute in der RegierungBestand haben“, schwärmte erst vor Kur-zem Kanzleramtsminister Peter Altmaier(CDU).

Adenauer steht für die Abkehr von je-nem historischen Irrweg, der in Nazidik-tatur und Holocaust endete. Er überzeugtedie obrigkeitsgläubigen Deutschen davon,dass Stabilität und Wohlstand in einer De-mokratie möglich sind. Er setzte die West-bindung durch und schuf mit der CDUeine überkonfessionelle Partei, diedas rechte Spektrum band. Er be-förderte das Wirtschaftswunderund betrieb die Versöhnung mitFrankreich und Israel. Der Mannsei ein „Mythos“, schwärmte Joa-chim Gauck, als er noch Bundes-präsident war.

Auch im Ausland genießt die-ser schlagfertige Kölner bis heutehohe Anerkennung, er steht imRuf, die Deutschen gezähmt zuhaben, und verspottete sogar dieMilitärs („Haben Sie schon ein-mal einen General mit einemklugen Gesicht gesehen?“). EinZivilist durch und durch, unge-dient, als Student tritt er einerVerbindung bei, in der mansich nicht schlägt, ein gläubigerKatholik. Zu seiner Beerdi-gungsfeier 1967 – einem Staats-

* Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus (Hrsg.): „Adenauer und die FDP“.Bearbeitet von Holger Löttel. FerdinandSchöningh; 1090 Seiten; 135 Euro.

akt mit Millionen TV-Zuschauern – kamenzwei Dutzend Staats- und Regierungschef,darunter die Präsidenten der USA undFrankreichs. Die wohl größte Trauerfeierin der Geschichte der Republik.

Angela Merkel hat ein Adenauer-Porträtvon Oskar Kokoschka hinter ihremSchreibtisch im Kanzleramt hängen. Zuseinem 50. Todestag am 19. April will sieihren Amtsvorgänger in einer bedeuten-den Rede würdigen.

Allerdings vereinte der gewiefte Adenau -er mit Härte und Cleverness eine Macht-fülle auf sich, die bereits Zeitgenossen voneiner Kanzlerdemokratie sprechen ließ undmanchen Beobachter sogar an eine Allein-herrschaft erinnerte. Im Laufe der Jahrewurde das Urteil dann immer milder. In-zwischen hat sich die Sicht des konserva -tiven Adenauer-Biografen Hans-PeterSchwarz durchgesetzt. Adenauer habezwar „Nachtseiten“ gehabt, doch „zu kei-nem Zeitpunkt“ habe er die grundlegendenSpielregeln der Demokratie angetastet.

Die Affäre Weirauch lässt an dieser Be-wertung zweifeln. Und es ist bei Weitemnicht der einzige Fall von Machtmissbrauch.Seit die Bundesregierung und der BNDihre verschlossenen Akten aus den Nach-kriegsjahrzehnten freigeben, kommen dieletzten Geheimnisse der alten Bundesre-publik zutage – die Erkenntnisse rückenKonrad Adenauer in ein neues Licht.

Der SPIEGEL hat die Dokumente aus-gewertet: Es sind Vermerke über die Ge-spräche von BND-Chef Reinhard Gehlenim Kanzleramt, Protokolle des Bundesver-teidigungsrates, Briefe an und von Ade -nauer, Mitschriften seiner Äußerungen imKreis von Parteifreunden. Die Regierungs-praxis des Gründungskanzlers der Repu-

Akte zu BND-Besprechung mit Globke„Wer war die erste Ehefrau von Brandt?“

Die letzten Geheimnisseder alten Bundesrepublikkommen zutage –und rücken Adenauerin ein neues Licht.

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blik glich danach dem Vorgehen autokra-tisch gesinnter Machthaber wie heute etwaeinem Viktor Orbán in Ungarn oder Ja-rosław Kaczyński in Warschau.

Die Quellen offenbaren einen Kanzler,der misstrauisch die Opposition bespitzelnließ, nicht nur die FDP, sondern auch dieSPD, die bedeutendste Oppositionsparteiin der jungen Bundesrepublik. Der überalldie rote Gefahr aus dem Osten witterteund deshalb sogar die Verfassung brachund hinter dem Rücken des ParlamentsSzenarien für den Ernstfall entwerfen ließ.Der den gemeinen Bürger als unwissendenDummkopf verachtete und die Pressefrei-heit beschneiden wollte.

Die Adenauer-Kritik erreicht damit eineneue Qualität. Die meisten Deutschen be-trachten die Gründung der Bundesrepublikzu Recht als Erfolgsgeschichte. Aber der Wegaus der politischen, moralischen und militä-rischen Katastrophe von 1945 zur Vorzeige-demokratie im Jahre 2017 war mitnichtengeradlinig. Die jetzt offenliegenden Ade -nauer-Papiere belegen das eindrucksvoll.

Und doch ging es am Ende gut aus, dieInstitutionen hielten stand. Trotz Adenauerentwickelte sich eine wache Zivilgesell-schaft, eine selbstbewusste Justiz, eine kri-tische Presse. Und nach seinem Rücktrittkonnte sich kein westdeutscher Regierungs-chef mehr erlauben, was sich der Patriarchaus Köln einst herausgenommen hatte.

Mitschriften von zwei Besprechungen imKabinettssaal des Kanzleramts im Juli 1960belegen das Ausspionieren der SPD, dasAdenauer vor engen Parteifreunden nochnicht einmal verbarg. Anwesend sind je-weils ein gutes Dutzend Männer: die Mi-nisterpräsidenten von CDU/CSU oder Ver-treter, einige Bundesminister, die Fraktions-spitze, ausgewählte Bundestagsabgeordneteund Staatssekretäre sowie hohe Beamte.

Adenauer ist verärgert über die Bericht-erstattung der ARD. Er will einen zweitenSender etablieren, auf den er dann unmit-telbar Einfluss nehmen kann. Doch Rund-funk ist Ländersache, es droht eine Klageder SPD-regierten Bundesländer vor demBundesverfassungsgericht.

Um den Parteifreunden diese Sorge zunehmen, zitiert Adenauer aus einer Sit-zung des SPD-Parteivorstands und erklärt,er sei „im Besitz einer Niederschrift derVerhandlungen über diese ganze Sache im

Vorstand der SPD“. Es gebe nämlich einen„Parteigeheimdienst“ der CDU, der ihn in-formiert habe: „Wir haben jemanden, deruns von ihrem Parteivorstand berichtet,das ist ja ganz klar.“ Angeblich mache dieSPD das umgekehrt genauso.

Niemand hakt nach oder kritisiert gardas Spitzeln. Viele Christdemokraten be-trachten die Bundesrepublik als einenStaat, der ihnen sozusagen gehört, dessenRegierung ihnen zusteht. Dank des offen-bar konstanten Informationsflusses refe-riert der Kanzler öfter aus SPD-Sitzungen.Die Quelle nennt er aber nicht.

Sicher ist, dass der BND und dessen Vor-läufer, die Organisation Gehlen, ihm bei derNachrichtengewinnung helfen. Der Geheim-dienst unterhält ein eindrucksvolles Netzvon Informanten in den Ministerien, denParteien, Medien. Und im SPD-Apparat.

Erstmals lässt sich nun zeigen, dass Pul-lach ausdrücklich auf Anweisung vonAdenauer und dessen Adlatus Globke sam-melte. Gegen Recht und Gesetz miss-brauchte der Kanzler den BND als seinenPrivatgeheimdienst – mit Gehlen als allzuwilligem Vollstrecker. Ausspioniert werdeneine Reihe von SPD-Spitzenpolitikern: derbiedere SPD-Chef Erich Ollenhauer, des-sen knorriger Stellvertreter Herbert Weh-ner oder der spätere Bundespräsident Gus-tav Heinemann, der 1950 aus Protest gegendie Wiederbewaffnung sein Amt als Innen-minister niedergelegt und bald auch dieCDU verlassen hatte. „Das war typischAdenauer“, erzählt einer der letzten Zeit-zeugen, die damit zu tun hatten, der nichtgenannt werden möchte.

Gehlen berichtet über politische Pläneder Genossen und ihre Gespräche mit aus-ländischen Politikern. Als sich etwa Ollen-

hauer 1959 mit dem französischen Sozia-listenchef Guy Mollet trifft, ist das Kanz-leramt bald im Bilde – der Dolmetscherzählt zu Pullachs Informanten.

Schon wer nur den Eindruck erweckt, mitder SPD zu tun zu haben, läuft Gefahr, indas Netz von Adenauer, Globke und Gehlenzu geraten. Vor der Bundestagswahl 1953glaubt Pullach, der CSU-MitbegründerFranz Josef Strauß, später Verteidigungsmi-nister und bayerischer Ministerpräsident,verhandle mit der SPD über „Koalitionsmög-lichkeiten“. Prompt landet ein Bericht(„Streng vertraulich“) in einer Mappe mit„Meldungen an Bundeskanzleramt“.

Der ehemalige Wehrmachtoffizier Geh-len, ein Opportunist mit dem Hang zu Ver-schwörungstheorien, wittert überall eineGefahr von links. Es ist die Hochphase desKalten Krieges. Bis 1953 regiert im Kremlder Massenmörder Josef Stalin, später derunberechenbare Nikita Chruschtschow. Re-gelmäßig reist Gehlen mit dem Nachtzugam Montagabend nach Bonn, um Globkeoder Adenauer direkt über Wichtiges zuinformieren und Aufträge entgegenzuneh-men. Der SPIEGEL konnte Unterlagen fürdiese Besuche sowie Meldungen des BNDans Kanzleramt einsehen.

Besonders interessiert sich Adenauer da-nach für den SPD-Kanzlerkandidaten undRegierenden Bürgermeister Berlins, WillyBrandt. Manche Dokumente dazu könntenaus einem Polizeistaat stammen. Sogar imPrivatleben des SPD-Mannes soll herum-geschnüffelt werden. So notiert Gehlennach einer Besprechung am 5. September1960 im Kanzleramt als Arbeitsauftrag:„Wer war die erste Ehefrau von Brandt?“

Beauftragt hat ihn diesmal Globke – aus-gerechnet er. Einst hoher Beamter in Hit-lers Innenministerium und an der Ausgren-zung der Juden beteiligt. Der von ihm mit-verfasste offizielle Kommentar zu denNürnberger Rassegesetzen bewirkte, dassim „Dritten Reich“ alle sexuellen Bezie-hungen zu Juden als Rassenschande be-straft wurden.

Der gelernte Journalist Brandt hingegenwar von Skandinavien aus im linken Wi-derstand gegen Hitler aktiv, was ihm vieleDeutsche nachtragen, die sich mit dem„Führer“ gemeingemacht hatten. Ade -nauer will die emigrantenfeindliche Stim-mung nutzen, mehrfach bekommt Gehlenden Auftrag, nach Belastendem ausBrandts Exilzeit zu suchen – etwa, als derSozialdemokrat 1937 als Berichterstatterder Sozialisten im Spanischen Bürgerkriegwar. Vielleicht sei er da auch für Hinrich-tungen verantwortlich gewesen?

Oder hat der Rivale für eine fremdeMacht spioniert? Gehlen notiert nach ei-nem Treffen mit Adenauer: „Frage nachdem Werde- und Entwicklungsgang vonBürgermeister Brandt. Ist er nachrichten-dienstlich tätig geworden?“

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Gehlen-Notiznach Besuch im

KanzleramtSpitzelauftrag

an den Geheim-dienst

Gehlen berichtet überpolitische Pläneder Genossen und ihreGespräche mit aus-ländischen Politikern.

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Titel

Was Gehlen herausfindet, ist noch un-bekannt. Wie aus den jetzt vorliegendenUnterlagen hervorgeht, verbreitet Adenau -er sogar Falschmeldungen, um Ressenti-ments gegenüber dem Emigranten Brandtzu schüren. Dieser habe in seinem Leben„überhaupt nie gearbeitet“ und sei nachKriegsende „in einer Zeit, in der es denBerlinern entsetzlich ging, herumspaziert“und habe „in einem schönen Hotel ge-wohnt“, lästert er 1960 vor Parteifreunden.

Adenauers Kölscher Singsang klingt im-mer so freundlich, dabei hetzt er bitter böse.Er erklärt, Brandt habe „gegen die Deut-schen gekämpft, soweit da von Kampf dieRede gewesen ist, ist gefangen genommenworden, die Deutschen haben ihn freigelas-sen“. Alles Fake News. Nur Rechtsradikaleund andere Desinformanten haben sonst be-hauptet, Brandt habe das Leben deutscherSoldaten auf dem Gewissen oder sei vonden Nazis gefasst und umgedreht worden.

Die SPD ist damals noch überwiegendsozialistisch, die Sozialdemokraten lehnenMarktwirtschaft und Westbindung in derForm ab, wie Adenauer sie betreibt. Dererste SPD-Chef nach 1945 – Kurt Schuma-cher – beschimpft Adenauer als „Kanzlerder Alliierten“. Die CDU revanchiert sichund klebt das berühmte Wahlkampfplakatmit der diffamierenden Zeile „Alle Wegedes Marxismus führen nach Moskau!“.

Experten sehen die Polarisierung zwi-schen CDU und SPD im Rückblick grund-sätzlich als Vorteil. Adenauer schwächt denlinken Flügel der CDU, der mit Vorstellun-gen der SPD sympathisierte. So wird derWeg frei für Erhard und die soziale Markt-wirtschaft. Zudem stabilisiert sich das Par-teiensystem, denn aufgrund der Blockbil-dung gehen nach und nach die bürgerlichenSplitterparteien in der Union auf.

Gelegentlich wird vermutet, Adenauerhabe sich nur taktisch geäußert und selbernicht geglaubt, was er über die SPD ver-breitete. Doch ihn treiben wirklich drama-tische Ängste um, wie sein Sohn Paul ineinem Tagebuch notiert, das vor einigenWochen erschien (SPIEGEL 7/2017).

Nachts träumt Adenauer, die Bundesre-publik sei dem sowjetischen Machtbereichanheimgefallen. Seine erwachsenen Söhnewarnt er immer wieder: Wenn die SPD re-giere, „dann seid Ihr und (Euere) Kinderverloren“. Dann drohe bald ein „Sklaven“-Dasein, es gehe mittelbar um „Leben undTod“. Schwer vorstellbar, dass ein Mannmit einer solchen Überzeugung einen Re-gierungswechsel zur SPD hingenommenhätte.

Dass die vom Kanzler geschürte Anti-SPD-Hysterie auch den konservativen Re-gierungsapparat erfasst, verwundert nicht.Obwohl Adenauer und seine Anhänger dieRepublik dominieren, fühlen sie sich be-droht. Im März 1956 schlägt Gehlen anläss-lich einer geplanten USA-Reise den Ame-

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HEINZ ENGELS

FDP-Politiker auf dem Weg zu Koalitionsverhandlungen 1961: Adenauer weiß alles schon vorher

ULLSTE

IN BILD

Berlins Regierender Bürgermeister Brandt 1959: Suche nach Belastendem aus der Exilzeit

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19201900 19101880 19201900 19101880 1890

Republikgründer Adenauer

Adenauer bei der Grundstein-legung für das Ford-Werk in Köln-Niehl 1930

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AKG

5. Januar 1876Geburt in Köln als drittes von fünf Kindern.

18. September 1917 Wahl zum Oberbürger-meister. Während seiner Amtszeit werden 1919 die Universität, 1924 die Messe, 1925 die Musik-hochschule sowie 1926 die Kölner Werkschulen neu oder wieder eröffnet.

13. März 1933Entlassung durch die National-sozialisten.

4. Mai 1945Wiedereinsetzung als Oberbürgermeister von Köln durch die US-Militärregierung.Am 6. Oktober Entlassung durch die Briten wegen mangelnden Erfolgs.

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22. Juli 1909Wahl zum Ersten Beigeordneten und damit ersten Stellvertreter des Oberbürgermeis-ters von Köln.

7. Mai 1921Wahl zum Präsiden-ten des Preußischen Staatsrates (im Freistaat Preußen zweite Kammer neben dem Preußischen Landtag).

30. Juni 1934Nach dem Röhm-Putsch wird Adenauer von der Gestapo festgenommen und sitzt zwei Tage lang in Haft.

23. August 1944Hausdurchsuchung und Verhaftung durch die Gestapo im Rahmen der Ak-tion „Gewitter“ nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944.

26. November 1944Nach zwischenzeit-licher Flucht und erneuter Verhaftung Entlassung aus der Strafanstalt in Brauweiler.

2. Oktober 1946Wahl zum CDU-Fraktionsvorsitzen-den des Landtags von Nordrhein-Westfalen.

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26. Januar 1904Heirat mit Emma Weyer (sie stirbt am 6. Oktober 1916).

25. September 1919Heirat mit Auguste (genannt Gussie) Zinsser (sie stirbt am 3. März 1948).

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Titel

rikanern vor, gemeinsam einen Plan fürden Fall auszuarbeiten, dass in Bonn eineRegierung aus Sozialdemokraten und„Anti-Adenauer Elementen der Rechten“zustande kommt. Den entsprechenden CIA-Vermerk haben die Amerikaner vor Jahrenfreigegeben.

Eine solche Regierung sei laut Gehlen „an-fällig für politische Zersetzung und schließ-lich Kontrolle durch den Osten“. Der Ge-heimdienstler sieht sich laut CIA „dann mo-ralisch berechtigt, alle möglichen Schritte zuunternehmen, einschließlich der Etablierungeines illegalen Apparats in der Bundesrepu-blik, um alle Elemente zu bekämpfen, dieeine pro-sowjetische Politik befürworten“.

Im Klartext: Gehlen will eine Unter-grundoperation etablieren, um gegen eineBundesregierung vorzugehen, die ihm nichtgenehm ist. Das klingt nach Hochverrat,und die Frage steht im Raum, was Ade -nauer von solchen Überlegungen wusste.

Wie viele seiner Generation, die in derMonarchie groß wurden, tut sich der 1876geborene Kanzler mit den Grundregelnder Demokratie schwer. Als das Kaiser-reich 1918 untergeht, ist Adenauer 42 Jahrealt und hat unter Wilhelm II. eine respek-table Karriere hingelegt. Er ist Kölns Stadt-oberhaupt und damit jüngster Oberbürger-meister einer preußischen Großstadt.

Zwar verachtet er die Hohenzollern-Mo-narchie, weil die Klassenunterschiede großsind, Katholiken diskriminiert werden under den Kaiser für einen „Jecken“ hält. Zu-gleich bleibt er privat wie politisch in vie-lem ein Mann seiner Zeit.

Seinen sieben Kindern aus zwei Ehen –beide Ehefrauen sterben früh – begegneter mit wilhelminischer Härte. Er glaubt anden starken Staat und die Überlegenheitder Regierung gegenüber dem Parlament.Mit der Idee einer mündigen Zivilgesell-schaft kann er wenig anfangen, später wirder behaupten, es sei seine Aufgabe, dieDeutschen zu erziehen.

Konrad Adenauer findet es selbstver-ständlich, dass Deutschland – zunächstWeimar, dann die Bundesrepublik – An-spruch auf einen Status als „Großmacht“erhebt. Er schließt sich der nationalisti-schen Deutschen Kolonialgesellschaft an,die für ein Kolonialreich trommelt. 1931wird er zum Vizepräsidenten gewählt. ImLaufe der Jahre sind von ihm auch gele-gentlich rassistische und sogar antisemiti-sche Töne zu hören.

Und noch etwas prägt ihn: der KölnerKlüngel, eine freundliche Umschreibungfür Vetternwirtschaft und Amtsmissbrauch.Sein Vater ist ein preußischer Berufssoldat,der nach einer schweren Verwundung indie Verwaltung wechselte. Den drei Söh-nen trichtert er Aufstiegswillen ein. Bio-grafen bescheinigen dem jungen KonradFleiß, Tüchtigkeit, Durchsetzungsvermö-gen. Doch erst die Ehe mit Emma aus dervermögenden und einflussreichen FamilieWeyer ebnet den Weg nach ganz oben. EinOnkel seiner Frau ist sein Vorgänger imRathaus und protegiert ihn.

Schnell erweist sich Adenauer als Meisterdes politischen Spiels, schwarze Kasse undKorruption inklusive. Er scheint zu glauben,dass manche Regeln und Gesetze vor allemfür die anderen gelten. 1928 ist Bürgermeis-ter Adenauer Millionär. Da bekommt er ei-nen vermeintlich sicheren Insidertipp, aberder geht daneben. Er häuft Millionenschul-den bei der Deutschen Bank an, in derenAufsichtsrat er sitzt und mit der er als Ober-bürgermeister über Kredite für seine Stadtverhandelt. Schließlich übernimmt dieBank einen Großteil seiner Aktien und er-lässt ihm die Schulden – aus heutiger Sichtein Fall für die Staatsanwaltschaft.

Weil Adenauer Köln mit prestigeträch-tigen Projekten zu einer modernen Groß-stadt umbaut, gilt der Zentrumspolitikerzeitweise als denkbarer Kanzlerkandidat.1929 berichtet ein britischer Diplomat, erhabe das Gerücht gehört, sollte der Parla-

mentarismus in Deutschland versagen,„würde man Adenauer rufen, damit er eineArt fascismo einführte“.

Nach einem Besuch im Kölner Rathausnotiert der Brite: „Als ich hinkam, herrsch-te um sein Zimmer einiger Wirbel. Sekre-täre flitzten umher, Leute öffneten die Tür,schielten hinein und machten sie rasch wie-der zu. Man bat mich, Platz zu nehmen,während es klingelte, Leute hereinstürzten,miteinander flüsterten und dann wieder hi-nauseilten. Ich weiß noch jetzt nicht, waslos war; aber der Kontrast zwischen demHasten und Flüstern draußen und der jähenStille seines großen Arbeitszimmers warhöchst eindrucksvoll. Der seltsame Mon-gole mit seinen schlauen Augen im gelbenGesicht saß mit dem Rücken zum Fenster,sprach sehr langsam und sanft, drückte sehrlangsam auf Klingelknöpfe – ,würden SieDr. Pietri bitten herzukommen?‘ – und fuhrmit eisiger Höflichkeit den verschrecktenDr. Pietri an, als er dann erschien: ganzund gar die Art eines Diktators.“

Doch mit den Nazis macht sich Ade -nauer nie gemein. Sie entlassen ihn 1933,mehrmals wird er während des „DrittenReichs“ sogar inhaftiert, seine zweite Frauvon der Gestapo gequält. Da er sich vomWiderstand fernhält, kommt er wieder frei.Er führt, gezwungenermaßen, das Lebeneines Pensionärs.

Zur Wahrheit gehört allerdings auch,dass er 1932 dafür plädiert hat, die NSDAPin die Regierung zu holen. Wie viele an-dere Konservative hofft er, die Nazis wür-den sich in der Regierungsverantwortungmäßigen. Und noch im Juni 1933, als Hit-lers Anhänger bereits Hunderte Regime-gegner umgebracht haben, glaubt er, eineBerufung des NSDAP-Chefs zum „Reichs-präsidenten auf Lebenszeit“ könne diebraune Bewegung in ruhige Wasser lenken.

Insofern steht Adenauer für das alte, kai-serliche – und zugleich ein neues Deutsch-land.

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1930 1940 1950 19601940 1950 19601

Unterzeichnung des Grundgesetzes 1949

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1. September 1948Wahl zum Präsidenten des Parlamentarischen Rates, der eine Verfassung aus-arbeitet: das Grundgesetz. Die Militärgouverneure der drei Westmächte geneh-migen den Text.

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23. Mai 1949Adenauer verkündet das Grundgesetz, welches tags darauf in Kraft tritt.

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15. März 1951Adenauer übernimmt auch das neugegründete Aus-wärtige Amt (bis 1955).

6. September 1953Sieg bei der Bundestags-wahl.

1. April 1956Gründung der Bundeswehr.

15. September 1957Adenauer erringt bei der Bundestags-wahl die absolute Mehrheit.

1. Januar 1958Die Römischen Ver-träge treten in Kraft. Die Bundesrepublik wird Mitglied der Europäischen Wirtschafts-gemeinschaft.

5. Mai 1955Die Bundesrepublik wird weitgehend souverän. Sie tritt am 6. Mai der Nato bei.

15. Oktober 1963Rücktritt vom Amt des Bundeskanzlers.Zweieinhalb Jahre später gibt er auch den CDU-Vorsitz ab.

15. September 1949Wahl und Ernennung zum ersten Bundeskanzler. Adenauer regiert mit ei-ner Mitte-rechts-Koalition.

13. August 1961Die DDR beginnt mit dem Bau der Berliner Mauer.

17. September 1961Sieg bei der Bundestagswahl.

19. April 1967Tod Adenauers in seinem Wohn-haus in Rhöndorf bei Köln.

Da er 1945 zu den wenigenkonservativen Politikern Wei-mars zählt, die den Naziterrorüberlebt haben und sich nichtvon Hitler korrumpieren ließen,gehört der bald 70-Jährige wie-der zur Führungsreserve desLandes. Er mobilisiert seine al-ten Netzwerke, knüpft Kontaktezu anderen Christdemokraten inder britischen Zone, reüssiert alsFraktionsvorsitzender im Land-tag in Nordrhein-Westfalen.

Adenauer setzt früh auf dieAmerikaner, was sich als gold-richtig erweist. Er präsentiertsich als Übergangskandidat, denniemand langfristig zu fürchtenbraucht. Als die Unionsspitzenach einem knappen Sieg in denersten Bundestagswahlen 1949berät, wer denn nun Regierungs-chef werden soll, erklärt er, seinArzt habe gesagt, er könne dasAmt „für zwei Jahre“ ausüben.

Die Amerikaner wissen umseine Schwächen und attestie-ren ihm intern eine „autokrati-sche Gesinnung“. In der soge-nannten Wertegemeinschaft desWestens stört das damals nurwenige. In manchen Teilen derUSA dürfen Afroamerikanernicht dieselben Schulen, Restau-rants, Toiletten wie Weiße be-suchen. Das rechtsautoritäre Regime inPortugal wird selbstverständlich Nato-Mit-glied. Briten und Franzosen führen Kolo-nialkriege, in denen Menschenrechtsver-letzungen an der Tagesordnung sind.

Um in der Weltgemeinschaft Stimmunggegen die DDR und für die Bundesrepu-blik zu machen, diskutieren Adenauer undseine Vertrauten die „Einflussnahme aufdie öffentliche Meinung“ in anderen Län-dern. Das Auswärtige Amt verfügt über

einen „geheimen Dispositionsfonds“, umdas Wohlwollen von Politikern oder Di-plomaten zu erlangen. 1959 schlägt derCDU-Bundestagsabgeordnete Rudolf Vo-gel in einem bislang unbekannten Briefdem Kanzler vor, den Fonds mindestenszu verdoppeln. Vogel hat das Propaganda-Handwerk schon im „Dritten Reich“ aus-geübt. Er will die Vollversammlung derUno manipulieren, womit Bonn offenbarbereits angefangen hat. Er schreibt an

Adenauer: „Welcher Aufwanderforderlich ist, um sich gegebe-nenfalls eine Mehrheit in einerPlenarsitzung der Vereinten Na-tionen zu sichern, dürfte Ihnennicht unbekannt sein.“ Ade -nauer stimmt einer Erhöhungdes Fonds zu. Der CDU-Chefist Anhänger der illiberalenAbendland-Ideologie, die eingeeintes Europa der besonderenArt anstrebt: ultrakonservativ,katholisch dominiert und gegendie individualistische Modernegerichtet. „Demokratie spielt indieser Welt keine Rolle“, urteiltder Historiker Axel Schildt.

1954 notiert ein hoher US-Be-amter, die Bundesrepublik seiauf dem Weg zu einem „gemä-ßigten autoritären Regime“.Eine kleine Gruppe um Adenau -er regiere das Land, das Parla-ment sei schwach, die Verwal-tung sei dominant und verachtedie Öffentlichkeit. Ein Zerrbild?

Die starken obrigkeitsstaatli-chen Traditionen sind jedenfallsunübersehbar. Im Frühjahr 1959kündigt der Kanzler an, für dasBundespräsidentenamt zu kan-didieren. Ihn reizt die Vorstel-lung, eine ähnlich starke Rollezu spielen wie Charles de Gaulleim Präsidialsystem Frankreichs.

Allerdings sieht das Grundgesetz eine sol-che Machtverschiebung nicht vor. Da kom-men ein hoher Beamter des Kanzleramtsund BND-Chef Gehlen auf die Idee, Ade -nauer könne als Bundespräsident die Repu-blik mit Pullachs Hilfe steuern. Der BND,so sind sich die Herren einig, verfüge ja über„eine besonders gute Möglichkeit der Ein-flussnahme auf die Gestaltung der Politik“.Zu diesem Zweck will Gehlen künftig anSitzungen des Kabinetts und des Bundes-

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PICTU

RE-ALLIANCE / DPA

Verlobte Emma Weyer, Adenauer 1902: Mit wilhelminischer Härte

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verteidigungsrats teilnehmen, dem Vorläu-fer des Bundessicherheitsrats. Adenauer solldas einrichten, solange er Kanzler ist.

Aus diesen Verfassungsverrats-Fantasienwird am Ende nichts, weil Adenauer diePräsidentschaftskandidatur wieder fallenlässt. Allerdings zeigen die Überlegungen,wie schwach das Fundament der freiheit-lich-demokratischen Grundordnung ist.

Eine bis jetzt unbekannte Mitschrift einerDiskussion unter führenden Christdemo-kraten 1960 belegt, wie wenig Ade nauerauch von der demokratischen Öffentlichkeithielt. Die SPD hat inzwischen die Westbin-dung akzeptiert, und Ade nauer warnt seineParteifreunde, die Wirkung dieser Wendezu unterschätzen. O-Ton: „Der dumme Bür-ger, meine Herren – und der Bürger inDeutschland, ich weiß nicht, wie er anders-wo ist, ist strohdumm! –, glaubt das.“

Adenauer zitiert aus einer Meinungsum-frage, der zufolge Brandt populärer sei alser: „Nun stellen Sie sich mal eine solcheDummheit der Befragten vor, die ist ein-fach grenzenlos … Ich möchte Ihnen dasnur anführen, meine Herren – über Brandtwird sicher noch manches gesagt werden,damit wollen wir uns hier die Zeit nicht tö-ten –, um Ihnen zu zeigen, wie dumm dieBevölkerung ist, sie ist entsetzlich dumm.“

Der Gedanke liegt nahe, in dieser Ge-ringschätzung des Souveräns die Hauptur-sache für das autoritäre Staatsverständnisdes Kanzlers zu suchen. Wer seine Wählerfür derart beschränkt hält, wird sich für dieIdee des mündigen Bürgers, für Zivilgesell-schaft und Pressefreiheit kaum begeistern.

Immer wieder müssen Journalisten inder Adenauerkratie um ihre Rechte fürch-ten. Kritische Berichterstatter überziehtder Kanzler mit Beleidigungsklagen, wieder SPIEGEL kürzlich enthüllt hat (SPIE-GEL 23/2016). Er beauftragt den Geheim-dienst, die Medien zu manipulieren undauszuforschen. Und manches neue Doku-ment erinnert an türkische Verhältnisse.

Da verlangt das Kanzleramt etwa Infor-mationen über den jungen Hans UlrichKempski von der „Süddeutschen Zeitung“,später eine Reporterlegende. Der BND lie-fert daraufhin ein Psychogramm mit an-geblichen Stärken („scharfe Beobachtungs-gabe“) und Schwächen („besonders ausge-prägte Eitelkeit“) Kempskis.

Auf den unbotmäßigen SPIEGEL hat esder Kanzler besonders abgesehen, und spä-testens seit der SPIEGEL-Affäre von 1962weiß die Republik, dass der Kanzler kein lu-penreiner Demokrat ist. Adenauer wirft demverhafteten SPIEGEL-Herausgeber RudolfAugstein einen „Abgrund von Landesverrat“vor und sucht das Blatt durch Aufruf zumAnzeigenboykott in den Ruin zu treiben.

Aber auch schon zuvor sind seine Me-thoden die eines Autokraten. Auf Wunschdes Kanzleramtes habe er „Einwirkungenauf nachrichtendienstlichen Wegen“ bei

dem Hamburger Magazin vornehmen las-sen, wird Gehlen nach Adenau ers Rück-tritt einräumen. Es soll seit 1953 drei „kon-spirative Linien“ des BND in den SPIEGELgegeben haben. Bis heute tobt ein Rechts-streit zwischen dem BND und dem Verlag,weil sich der Geheimdienst weigert, dieNamen seiner damaligen Spitzel heraus-zugeben (SPIEGEL 38/2012).

Adenauer lässt 1959 auch die Idee prü-fen, einen „Anti-SPIEGEL“ zu gründen,wie die Geheimdokumente jetzt belegen.Der konservative Journalist Winfried Mar-tini ist als Leiter des neuen Magazins vor-gesehen; er träumt davon, die Bundesre-publik zu einem „autoritären Staat“ nachportugiesischem Vorbild zu formen.

Das Geld soll die Industrie beisteuern.Laut Globke scheitert das Projekt daran,dass die Bosse fürchten, der SPIEGEL kön-ne bei Bekanntwerden der Pläne „die geld-gebenden Wirtschaftskreise unter Benut-zung aller vorhandenen ,schmutzigen Wä-sche‘ angreifen“.

Und es gibt eine weitere Idee: den SPIE-GEL einfach zu kaufen. Als Gerüchte um-gehen, Rudolf Augstein wolle seine Anteileveräußern, erwägt Adenauer, das Magazinvom CDU-Bundestagsabgeordneten und„Zeit“-Verleger Gerd Bucerius erwerbenzu lassen. Die SPIEGEL-Leute sollen dannnur so tun, als wären sie unabhängig. Mankönne das Blatt „ruhig weiter als Opposi-tionsblatt laufen lassen, jedoch gewisseDinge verhindern“, hofft Adenauers Ad-latus Globke. Aber Augstein will nicht ver-kaufen. Es bleibt bei Planspielen.

So ist es oft bei Adenauer, und seine Be-wunderer argumentieren gern, Adenauersei ein Mann, der laut denke und sich offenaustausche. Da dürfe man nicht jedes Wortauf die Goldwaage legen.

Die Überlegungen des wichtigsten Poli-tikers des Landes nicht ernst nehmen? Seine Pläne für den Fall, dass es zwischenOst und West, zwischen USA und Sowjet-union, zwischen Bundesrepublik undDDR zum Äußersten kommt, einemKrieg?

Aus Sicht Adenauers steht 1959 der Ernst-fall bevor. Die Sowjets und Ostberlin ma-chen Druck, um die Kontrolle über West-berlin zu gewinnen, der Westen wehrt sich.Bei Verhandlungen in Genf kommen dievier Siegermächte des Weltkriegs nicht vo-ran, und Adenauer schließt nicht mehr aus,dass es ab Spätsommer zu „kriegerischenVerwicklungen“ kommt.

Die Bundesrepublik ist auf diesen Fallnicht vorbereitet. Es gibt keine Notstands-verfassung, die etwa eine Dienstpflicht fürkriegsnotwendige Arbeitskräfte oder eineumfassende Einschränkung der Freizügig-keit ermöglicht. Eine Änderung des Grund-gesetzes wäre nötig, aber SPD und die Uni-on können sich nicht einigen.

Weil Briten, Franzosen und Amerikanerausdrücklich erklären, sie würden auf ihreSiegerrechte bei einer „ernstlichen Störungder öffentlichen Sicherheit und Ordnung“nur dann verzichten, wenn die Westdeut-schen eigene Regeln zustande bringen, hät-te Bonn im Ausnahmezustand also wenigzu melden.

Da tritt am 24. Juni 1959 der Bundesver-teidigungsrat zusammen, ihm gehören derKanzler, hohe Beamte, die wichtigsten Mi-nister und andere Spitzenpolitiker an. Esist eine dramatische Sitzung, eine Kopiedes Protokolls liegt dem SPIEGEL vor.

Adenauer will den Bundestag überge-hen. Es habe keinen Zweck, jetzt wegender Notstandsgesetze an das Parlament he-ranzutreten, der nächste Krieg sei „sicher-lich bereits vorbei“, ehe man sich mit derSPD geeinigt habe. Der 83-Jährige schlägtvor, die Bundesregierung solle verfahrenwie „früher im Falle der Verkündung einer‚Drohenden Kriegesgefahr‘“.

Adenauer meint die Julikrise 1914, als Kai-ser Wilhelm II. den „Zustand drohender

16 DER SPIEGEL 15 / 2017

NDR

Geheimagent Gehlen um 1948Medien ausgeforscht

Auf Wunsch desKanzleramts wird aufden SPIEGEL auf „nachrichtendienstlichenWegen“ eingewirkt.

Page 8: „Der Bürger ist entsetzlich dumm“

Kriegsgefahr“ ausrief. Der Kriegszustandwurde erklärt. Die Militärbefehlshaber über-nahmen die vollziehende Gewalt, grundle-gende Rechte wurden eingeschränkt, dieStrafjustiz verschärft. Verfassungshistorikersprechen von einer Militärdiktatur.

Bei Adenauer sollen die Alliierten dieRolle des Kaisers einnehmen und gegebe-nenfalls den Notstand proklamieren. Vonseinen Ministern verlangt der Kanzler„eine Art Kriegsbuch“ mit den nötigen Ver-ordnungen.

Er drückt aufs Tempo. Man möge bitte„schnell handeln und nicht über juristischeZwirnfäden stolpern“.

Zwar widersprechen einige Minister,doch am Ende werden die Notverordnun-gen ausgearbeitet. Sie sehen im Kriegsfalldie Einführung einer Rundfunkzensur, vonSchutzhaft oder „krasse Einschnitte in dieGerichtsverfassung“ vor, wie der ErlangerJuraprofessor Christoph Safferling schreibt,Mitglied der Historikerkommission, die imAuftrag des Justizministeriums dessen Ge-schichte aufgearbeitet hat.

Safferlings Urteil ist eindeutig: „Selbstwenn in Krisen- und Kriegszeiten raschesHandeln zum Schutz der inneren und äu-ßeren Sicherheit erforderlich ist, gehört eszum demokratischen Prozess, vorher da-

rüber zu sprechen und erforderlichenfallsKompromisse auszuhandeln.“ AdenauersArgumentation mit einem übergesetzli-chen Notstand trage „diktatorische Züge“und sei „mit dem Grundgesetz nicht zuvereinbaren“.

Adenauer, ein Verfassungsfeind? Es wirdnie zu klären sein, welches Schicksal dieRepublik ereilt hätte, wenn der Ernstfall da-mals eingetreten wäre. Erst 1968 wird derBundestag Notstandsgesetze verabschieden.

Adenauer ist 87 Jahre alt, als er am 15. Oktober 1963 endlich seinen Sitz imKanzleramt räumt, selbst enge Parteifreun-de atmen auf.

Die wilden Sechzigerjahre haben längstbegonnen, mit wachsendem Unverständ-nis blickt Adenauer, inzwischen mehrfa-cher Urgroßvater, auf die Welt. Er schimpftauf den „üblen Zeitgeist“ und wittert „einezunehmende Fäulnis in unserer Gesell-schaft“.

Man könnte glauben, dass in der ÄraAdenauer eine List der Geschichte wirkte.Indem der greise Kanzler die Bundesrepu-blik fest im Westen verankert und das Wirt-schaftswunder fördert, hat er ungewolltzur Auflösung der traditionellen Ordnungbeigetragen. Keine westliche Gesellschaftkann sich der Anziehungskraft entziehen,

die von der individualistischen und libera-len Konsumgesellschaft ausgeht.

Ausgerechnet die Bundesrepublik – un-ter Adenauer immer in Gefahr, nach rechtszu driften – wird zu einem der fortschritt-lichsten Länder Europas.

Und während der Alte in Rhöndorf ver-drossen die Zeitläufte verfolgt und seineRosen pflegt, macht sein Spion WeirauchKarriere. Der ehemalige Bundesgeschäfts-führer der Liberalen steigt weiter auf. Erübernimmt eine Abteilung im damaligenGesamtdeutschen Ministerium und leitetsie bis zu seiner Pensionierung 1973.

Zu Adenauer und seinem Umfeld unter-hält Weirauch keinen Kontakt mehr, zu-mindest gibt es darauf keinen Hinweis.

Weirauch stirbt 1983, rechtzeitig vor demFall der Mauer. Denn danach öffnet sichdas Archiv der Stasi, und es stellt sich he-raus: Weirauch hat nicht nur die FDP hin-tergegangen und für Adenauer spioniert.

Er war auch ein Agent der DDR. Mitarbeit: Felix Bohr

Mail: [email protected]

17DER SPIEGEL 15 / 2017

MAX EHLERT / DER SPIEGEL

SPIEGEL-Herausgeber Augstein (r.) 1958: „Ruhig weiter als Oppositionsblatt“ laufen lassen

Video: Die Akte Adenauer

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