Der Eigene : 1899-04-05

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    DER EIGENE f f t - | P : s t r eb t e inen ge i s t igen Tummelp la t z Kuns t und E igena r t s chä tzende n Men schen zu b i e t en . Sch önh e i t und L iebe , Wissensch a f t ,F re ih e i t und Va te r l and s ind d i e Gü te r, um d ie e r käm pf t . '—Ein Ba hnb rec he r „n euhe l l en i sche r " K u l tu r- Ideen , w ill e r d i eLeb ensa uffa s s ung de r Gedan ken los igke i t mi t i h re r E lends - undMi t l e id smora l , s amt den K nech t s - Ido len ih re r G le i chhe i t s fl ege le i,

    _ du rc h e ine se lbs tbew uss t e , zukun f t she r r l i ch e v e rd räng en he l f en ,in de r d as o ff iz ie ll Gea ich t e , das Herd enm äss ige , den e insam enEig enc ha ra k te r n i ch t e rd rück t . — Er fo rde r t d i e f r e ie , du rchke in e Au t o r i t ä t geh em mte Be th ä t igu ng des Ind iv iduums , we il s i ed ie s i che r s t e Garan t i e fü r den soz ia l en For t sch r i t t b i e t e t , fü r d i een twicke lungsmäss ige , gewa l t lo se Neuordnung de r D inge , d i e

    j e de n in den S t and se t z t , au f s e ine e igene Weise g lück li ch zuse in . Se in Z ie l i s t so : d i e g röss tmög l i ch s t e Wohl fa h r t A l l e rl

    * * * * * J a h r e s - A b o n n e m e n t s * * * * *f ü r 4 , 5 0 M k . n e h m e n au s se r A d o l f B r a n d ' s V e r l a g , ß er l i n-Ne urah nsdo rf , a l le Buch handlun gen d es In- und Auslandes an,eben so al le Zei tu ngshä ndler — auf die Sonder -Au sgab e zu 10 Mk.au ch al le Pos tansta l ten. Postzei tun gsl is te J12 2242. 4 . 4 4 . 4 4.Es kom men j äh r l i ch 24 Num mern he raus . Zwang loses Er sche inend er H ef t e vo rbeh a l ten . 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4

    * * * * * * A u f W u n s c h * * * * * * ,_ erfolgt br ief l iche Zustel lun g und beson dere Ku vert i erun g fcei ent

    s pr ec h en d er P or to - E rh öh un g. 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4

    * * * * * * P r o b e n u m m e r n * * * * * *s t ehen j ede rze i t zu r We rbun g neue r Abonnen ten g ra t i s zu r Verfügu ng. Um solche direkt an Interessen ten versend en zu können,is t jed och au ch die An gab e neuer Adre ssen s te ts erwünscht .

    -*- - - - - - - Un se re F re un de -*- -*- - - -*-werd en d r ingend geb e ten , übe ra l l , wo .s ich Ge legenhe i t dazubietet , für die Verbrei tung des Blat tes besorgt zu sein und inRes t au ra n t s , Ca fes, Kond i to re i en , Buchhand lungen und be i denZe i tungshänd le rn immer wiede r den E igenen zu ve r l angen . 4 4

    J O : i K A C f l V f c r C S L A H O C H

    I.I m m e r w i e d e r, i m m e r w i e d e r,Schmeichelnd weiche Sommerl icder,Immer wiederHeimlich Rauschen aus vn D lmenbäumen .Süsser Klingkla ng und ver l iebtes Trä um en —I le isse Näc hte , weisse F raue nbrü ste ,Die die Lippen küssend kosen,Dass im Hexensabbat wilder LüsteHirn und Herzen toll und toller tosen. —Immer wiederNeuer Reiz für die entnervten Glieder,Dass sie nimmer eine Ruhe finden,Dass d i e Träume neue Träume j agen ,Dass die Freuden ( l iehen, wie die Klagen:Neue kommen und die a l ten schwinden.Immer wiederI le isser lüum cn duft ig Smn merkü ssen,Rosen, Nelken und Jasmin und Fl ieder,Leichtes Neigen und vers tecktes Grüssen,Immer wiede r

    Per Eigene. — 1"J — |. a. 2. S' | i leinlv;rh clt 1839.

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    Am Abend, Kät ie , wir schauten vers tecktWohl über die Bailustrade,Die Loge war dunkel , — so rauchten wirUnd fut ter ten Schokolade.

    Und sind wir im Bett — und Brust an BrustSchmiegt s ich — und Wade an Wade —Wir lachen und rauchen und futtern dazuBonbons und Schokolade

    V .A M M O R G E N .

    „G näd 'ges Fräule in " — ruf t das Stubenmäd elSelma — und sie klopft an deine Thüre, —„G näd iges Fräule in , auf Uas Bad is t fer t ig "„Ja , ich komm sch on " ruft die gold 'ne K ätie ,Aber fester schlingt sie ihre ArmeUm mich, z ieht mich zu s ich: „W ieder T ag " — -— Und nach fünf Minuten kommt schon SelmaW ied er, k lopf t: „Ac h, gnäd 'ges Fräule in , s icherN un ist 's Zeit , das Bad w ird wirklich kalt "„Ja , ich komm sc hon " ruft d ie gold 'ne Kä t ie —Einmal noch drückt ihre weiche LippeLei cht d ie meine: „So, nun musst du geh en "

    — Und ich geh' in meine kalte Stube,In mein kaltes Bett, dieweil sich KätieNebenan noch ihre SiebensachenSucht — so Schwa mm und Tuc h, L avendelwasser —— Huscht dann übern Flur ins Badezimmer.

    Zwei Minuten s ind wohl kaum entschwunden,Doch mir ist , als hätt ' ich meine KätieNicht gesehen in Jahrhunder tenUn d ich muss s ie se i len — We r wird 's merken ?Schu h ' und Strümpfe an Den Man tel überS o , nun eil ' ich raschen Schritt 's hinüberÜbern Flur ins k le ine Badezimmer,W o die gold 'ne Kä t ie lus tig plä tscher t

    Der Eigene — 118 — 1 u 2 Septembcr helt 1U99

    O, wir plätschern beide, und wir spielenWie zwei Kinder, spritzen uns und lachen —— A ber nun muss ich die .Schöne küssen,Muss die Linien ihres lieben LeibesLeise kosen mit verliebtem Finger.— Wie ich diese kleinen Brüstchen liebeLottchen nenn' ich eins, das andre: Lieschen,Und ich küsse Lottchen, küsse Lieschen,Dass s ie schauern unter meiner Zunge

    Schmeichelnd duftet rings das weiche Wasser,Kosend spielt es rings um meine Glieder,Leis ' umfängt es meine gold'ne Kätie.

    Süsser Traum der f rühen Morgenstunde,Wie du kurz bist — Wie du mir entflatterst .Wie du, l ieber Traum, mir rasch entschwindest,Süsser Traum von meiner gold 'nen Kät ie

    VI.I H R E I 1 E M D C H E N .

    Zwölf se idene I lemdchen hat meine goldene Kät ie .Gelb ist eines,Ein anderes rot,Eines gar violett;Das vier te schwarzUnd das fünfte mauve,Aber das sechste ist himmelblau.Creme ist ein andres,Ein andres olive,Rosa das neunte wohl,Das zehnte ist grün wie der Nixen Kleid;Orangen leuchtet das elfte mir,Aber das zwölfte ist weiss.Zwölf l iebe Hemdchen hat meine goldene Kät ie .Und ein anderes trägt sie in jeder Nacht,Und jede Nacht

    Der Eigene US — 1 u 2 Septemberheft ltüiü

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    Schimmert die weisse, glänzende HautIn neuen z i t te rnden Tönen.— Und die Kät ie spr icht :„Nun sag ' mir, Freund,Ist 's das rote wohl,Uns du leiden magst?Is t ' s das Nixenhemd,Is t ' s das schwarze gar?"— Doch ich weiss es nicht —Und ich lach' und Sprech':„ 's ist das gelbe heut ' ,Das ich leiden mag,Und das weisse baldUnd das schwarze baldUnd das rosa die andere Nacht.— Doch am schönsten glänzt deine weisse Haut,Wenn der Haare g le issendes ZaubergoldAuf die Schulter fällt,Auf die Brust dir fällt,Wenn der Rücken sich hüllt ,Und die Hüfte sich hülltIn goldene SeidenlockenO, all ' deine Hemdchen mag ich wohl,Doch das schönste, das wunderbar schönste istDein goldenes Locken hemd ehen "

    VII.Eh' ich diesen Morgen mich von KätieTrennte, sprach sie: „Höre, willst du haben,

    Dass ich heute meine Thüre öiThe,Wenn du klopfst und ,Kätie, Kätie ' rufst ,Dass ich heute deine Lippen küsse,Dass ich heute Nacht an deiner SeiteSchlafe und um deinen Hals die ArmeSchlinge, Hans, — — musst du am MorgenAn dem Schreibtisch sitzen, auch den Mittag,Auch den Abend — und musst Lieder dichten,Hübsche Lieder für d ie gold 'ne Kät ie

    Uer Eigene — 114 — 1 u 2 Septem berheft 1899

    Gold'ne Kätie, ich wollt ' , du wärst meine Mutter.In dem Künstlerhause am lieben, falschen RheinSteht auf schwerem Teppich ein alter Sessel,G ' rad ' am Kamine —.Und in dem Sessel sitzt du;Vor dir kniee ich — —Was sollen diese grundlosen Thränen?Ab er in die Däm meru ng leuch tet dein müdes Au ge —Und versteht meine Thränen.— Die füessen langsam über die blauen AdernDeiner Hände,Wie ein Sehnen nach unendlichem Frieden:Meine Thränen — —

    O gold'ne Kätie, ich wollte, du wärst meine Mutter

    Gold'ne Kätie, ich wollte, du wärest mein Kind.W o aus dem blauen Lcma n die blaue Rho ne raus cht,Auf der kleinen Insel, wo Rousseau träumte,Wo uralte Ulmen des Himmels strahlendes Blau ver-Und die lachende Nachmit tagsson ne, [deckenHalt ich mein Kind auf dem Schoss.Und mein kleines Mädchen horcht auf das RauschenUnd das Rauschen der Ulmenblä t ter [der Rh oneUnd auf meine schmeichelnde Stimme,Die rauschende Märchen erzählt — —

    O goldene Kätie, ich wollte, du wärest mein Kind

    Gold'ne Kätie, ich wollte, du wärest mein Weib.

    Übe r Ravello Hegt der Mon d, der allmächtige M on d:Da leuchtet die Saracenenstadt.Und die Wolken leuchtenUnd die BergeUnd das tiefe, italische Meer.Wir treten heraus aus unserm PalastAuf den hohen BalkonUnd wir schau'n all ' die gewaltigeGeheimnisvolle Pracht

    Der Eigene — 115 — 1 u 2 Septemberheft 1899

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    aber immerhin noch deut l ichen Abzug deines süssen Kindergesichts entgegenleuchtete .

    Da s tandst du, mit verschränkten Armen, den Rücken gegenden Kachelofen gelehnt, dir so in schlauer Weise einen hellenHinte rgrund hers te l lend Daneben das pr imit ive Wasc ht ischchenmit dem vom Nag el herunter hängende n Handtuch. Da sah ich deinkleines Pensio nsstübc hen so recht lebend ig vor mir. Mir wa r's, alsob dein Ode m mir von dem Bildchen entge gen duftete, und wennich mich nicht vor der a l ten Dame genier t hät te — wer weiss ,ob ich nicht meine Lippen auf dein Konterfe i ged rückt ? —

    Ich erfuhr deine Adre sse un d schrieb an dic h mit einera lbe rnen Aus rede . Da auch i ch Am ateu r-P ho tog ra ph , f r ag t eich an, ob dein kleines Bild, welches ich zufällig gesehen, beiTa ges - oder bei Bl i tz l icht aufgenommen sei? W as ich bezwec kte ,erre icht e ich. Du antwo rtetest freundlich, lieb und kindlich undgabst mir Gelegenhei t , d i r wieder und immer wieder zu schreiben.Wi r tauschten selbstgefer t ig te Photogra phieen mite inander aus .Bald besass ich auch dein Ofen-Bildchen mit deiner eigenenUnter schrift. Wie ein ] leiligtum ba rg ich es in meiner Brust-tasche und verstohlen betrachtete ich oft deine lieben Züge.Brieflich wur den wir Fre und e, brieflich wuchs m eine Lie be zudir, aus dessen Zeilen mir etwas seelisch Verwandtes vollsehne nder Leidenschaf t zu sprechen schien. Län gst schon verband uns das t raul iche „du", a ls ich die schüchterne Frage an

    •. dich ric htet e, ob du nicht Lust hät test , mich, den alten, närrisch enFre und , nun einmal von Angesicht zu Angesicht zu sehen? Wieger n wol lte ich dich bes uchen, die kleine Rei se zu dir unternehm en — Deine Antwort über t raf meine kühnsten Erw artung enDu kä ms t selbst, schriebst du mir. Mit deiner Mutter solltestdu an e inem Sonntage bei h ies igen Verwand ten zusammentreffen;

    wen n es m ir rech t sei, würd est du abe r schon heimlich am Sonnabend nachmit tags hier e int reffen und bis zum anderen Tagemein Gas t se in . — Ob es mir recht war ? — Aufjauchzen hät teich mögen ob des unermessl ichen Glückes

    Klopfenden Herzens erwart e te ich das Eintreffen deinesZuges , in banger Sorge, mein Anbl ick könne dich ent täuschen.Ach, ich bin mir wohl noch niemals so häss l ich vorgekommen,wie in jenem Augenbl ick — W ie thör ieht war meine Besorgnis

    Der Eigene. — HD — I. u. 2. Septemberheft 1899.

    Flücht igen Fusses entsp rangst du dem Kou pee und ei l tes t mitschelmischem Lächeln und ausgestreckten Armen mir f reudigentgegen, a ls ob du mich schon ja hrelan g geka nnt hät te s t Fas tver legen drück te ich deine Hä nde und bl ickte di r — einige Be-grüssungsp hrasen s tamme lnd — in die t iefblauen Märc henau gen.Da s tand er ja vor mir, der l iebe Jun ge, schöner und herr l icher,als ich ihn mir im Geiste vorgestellt

    Bewu ndernd klang es von meinen Lippen: „Ant inous " —Du hat tes t das mehr geda chte , a ls gesproche ne Wor t dennochvernommen, und vers tändnisvol l neckend hiessest du mich:„De inen Hadr i an . " —

    Als ich an deiner Sei te im offenen Wagen sass , wunderteich mich nur darüber, dass s ich die Vorüb ergehe nden nicht vor

    deiner Schönhei t beugten. — In meiner Wohnung angelangt ,wag te ich, d i r zum Wil lkom men nur die St i rn zu küssen. Duaber bots t mir keck die ros igen, le icht gewölbten Lipp en undzogst mich ungestüm an deine Brust . Da überma nnte auch michdie so lang ' zurückgedämmte Leidenschaf t , und lange und heisspress te s ich Mund an Mund und lechzende Lippen fanden s ich7.11 glü hen dem Ku ss e. —

    Golden s t rahl te die Sonne ins Gema ch, dein blondes H au ptgle ichsam mit e inem Hei l igenschein umgebend, und verklär tenAntlitzes hob ich endlich m einen Blick zum Him mel e mp or, demHöchsten, der mich so unendl ich beglückt , durch e in s t i l les Gelübde aus tiefster Seele innig zu danken.

    Hoch hal ten wol l te ich dich bis ans End e meines Leb ens,heilig solltest du mir sein als ein, mir vom Himmel gesandter,gut er En gel Fü r dich nur allein wollte ich fortan leben undstrebe n. Meine Erfo lge sollten die deinen sein, jed er Besitz gehören "dir, meiner Muse, meinem Ideal , meinem Alles — — —

    Wie schnel l verrannen uns die Stunden —Um dein liebes Bild recht fest zu halten, photographierte ich

    dich in a ller Has t g le ich vierm al ; zweimal im Freien und zw eimalim Zimme r, en face, Profil — von allen Seiten Ge duld ig hieltestdu still , lächelnd über den Eifer des wütende n Am ateu rs.

    Den Abend verbra chten wir im Thea ter. Man gab e inekindische Oper et te vol l to ller Liebesträum erei — das P assen dstefür unsere St imm ung W ähre nd die s innlichen Melodieen s ich

    Der Eigene. — 119 — 1 u. t Septcmberheft 1899.

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    uns ins Oh r schmeichel ten, fanden s ich unsere Hä nd e zu vers t ändn isvo l l em Druck . Wi e gu t , da s s de r Zusch aue r r aum ve rdunkel t wa r — Weil ich dich für e in kle ines Nas chkä tzch enhiel t , hat te ich dir a l lerhand Zuc kerz eug z ugeste ckt , und obwohlich selbst sonst kein Fre und von derar t igen Sf lss igkei ten, berei te tees mir doch ein himmlisches Ve rgnü gen , mich von dir dam it imDun keln in ver l iebter We ise füt tern zu lassen. Jed es Pral ineebrach te mir ja Grüss e von deinen Lip pen . — Späte r, nach demSouper, var i ier ten wir das ver l iebte Spiel : wir rauchten unsgege nsei t ig die Ciga ret ten an und sandten uns so „ indirekteKüsse" , wie du mir f lüs ternd — damit es die übr igen Gästenicht bemerken sol l ten — erklär tes t . '

    Ach, ich glaube, d ie Gäste haben nur zu vie l bemerkt —Spä t kamen wir nach Hause . De r ro t en Amp e l m a t t e r Sch immerer leuch tete das Schlafgem ach. Aufg edec kt , mit f r ischem Linnenüberzogen, s tand mein Bet t für dich berei t — — —

    Fü r mich hat te ich — heuchler ische r We ise — ein anderesLa ge r herr ichte n lassen. Unge nier t , nach echter Bubenar t , entkle idetes t du dich und bots t mir so e inen Anbl ick, der mir dasBlut schnel ler puls ieren, mein He rz höher klopfen mach te . Ach ,wie schön wars t du nun, wo die neidische Hül le von dir gefal lenDiese r s ch l anke Jüng l ingskö rpe r mi t s e inen we ichen Fo rm en , unddennoch — w e lches Ebenma ss de r he r rl i chen Gl i ede r — Bewu nde rnd sank ich vor di r n ieder, überwäl t igt von der Majestä txle iner Schönhei t , beugte ich vor di r mein Knie .

    Errötend ob der Huldigung, zogst du mich mit l iebenW ort en zu dir empor, s t re ichel tes t mir die erhi tz ten Wa ngen ,die f ieberglühende St i rn , und fragtes t dann scherzend, ob ichdich nicht auch noch so, wie du je tz t vor mir s tändest , photo-

    g raph ie r en m öch te? Das war e ine Idee E rns tha f t nahm i ch s i eau f. De in s che inba re r Wide r s t and war le i ch t geb rochen . We n igeMinu ten später bl i tz te das Mag nesium -Pulver auf , meinen Ant inousfür e ine Sekunde tageshel l beleuchtend. — Um den Dampf derBl i tz la mpe hinauszulas sen, öffnete ich e in Fe nst er ; du w ars tschnel l ins Bet t geschlüpf t und hat te s t d ie Dec ken fes t übe r dichzusamm engezogen . A l s i ch mich de inem Lag e r nähe r t e , um d i re inen Guten acht kuss auf die Lipp en zu drücken , zogst du michzu dir auf den Bet t rand nieder. So le ichten Kaufe s — m eintes t

    De r Eigene. — 120 — 1. u. 2 Septemhcrheft 1889.

    du lachend — käme ich nicht davon; du wärs t begier ig zu erfahren, o b die Aufnahm en auch gut ausgefal len und ich einta lentvol ler P hot ogra ph sei? — Wa s bl ieb mir wei ter übr ig , alsdeinen W uns ch zu erfül len? Ein kle ines Tisch chen rückte ichvor dein Bet t , s te l l te die Dun kelkam merla mpe und die Schalenmit den Chemikal ien darauf setz te mich nieder zu dir und began n nun — m it ten in der Na ch t — die Pla t ten zu entwickeln— Du hat te s t d ich e in wenig aufger ichtet , deinen entblöss tenA rm um meinen Na cke n ges chlunge n und sahst e i fr ig meinerArb ei t zu. Sobald die ers te Pla t te zu deiner Zufr iedenhei t ausdem Fixierb ade kam, erhie l t ich von dir „zur Beloh nung" —wie du sa gtes t — einen Kus s . Ach , wie beei l te ich mich mitden übr igen P lat t en — Endl ic h war auch die le tz te , d ie Bl i tzl icht-Aufnahme an der Rei he. Lan gsam kamen im Entwicklerdeine vol len Forme n zum Vorschein, und als s ie nach und nachimm er deut l icher w urden , wandte s t du verschäm t dein holdesHa up t zur Sei te ; ich aber be ugte mich, in se l iger Vorah nungkommenden Glückes , über dich und forder te ungestüm die ver-he i s sene Be lohnung . —

    Die photo graphi schen Arbei ten waren beende t . Ich machteMie ne, mein improvis ier tes Lag er aufzusuchen. Ungläubiglächeln d sahst du mich an. Da wa r es vorbei mit meiner Komöd ie . Schnel l warf ich die Kle ider von mir, schlüpf te zu dirins Bet t und hie l t d ich umschlung en in höchster Wonn e, in göt tl i chs t e r Lus t — — — — — —

    - Lä ngs t war die Am pel er loschen, und durch die Fenstervo rhänge s t ah l s i ch neug ie r ig das L ich t de s j ungen Tages .

    Leise erhob ich mich, den schönen Schläfer an meinerSei te nicht zu s tören. Ein glückl iches Läche ln umspiel te deineLip pen W as du wohl t räum test? — Schnel l vol lendeteich meine Toi le t te , sch ob die Gardin e zu rück und Hess das vol leTag esl i cht ins Zimm er f luten. W ie e ine Gnad enson ne s t rahl te esauf mich hernieder und bestärkte mich in dem Glauben, der Himmelfreue s ich meines Glück es und ha be endl ich mein jahre lang vergebl iche s heisses Flehe n in überreich em M asse erhör t . — Da w ars tdu erwa cht und nanntes t meinen Na me n. — Wi e schön mein Nam edoch kla ng Frü her hat te er mir nie so gefallen wol len. —

    De r Eigene. - 121 - 1. »• ». Septemberheft 1899

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    N un gab es e r s t e inen „Gu te nmorgenk uss" und die neckischenLiebeständeleien begannen aufs neue, aber endl ich verschlössestdu doch ganz energisch deinen Mund, press tes t die H a n d aufdie lachenden Lippen und began nst , d ich aus e inem entzücke nden,spl i t terfasernackten Ant inous wieder in e inen modern en Gy mna-sias ten umzuwandeln.

    Jetz t schlug die Tr e n n u n g s s t u n d e . Es war ja Sonn tagvormi t t ags , und de ine ges t r engen Verwand ten e rwar t e t en d i ch ,w ä h n e n d , du käms t d i r ek t von der Bahn zu ihnen. — Im Wa g e nge le i t e t e ich d ich bis in die Näh e ih r e r W ohnung .

    Denks t du noch der S c h w ü r e , die wir getaus cht? MeinenRing ha t t e ich dir auf den F inge r ges t eck t und gelob t : ohneE n d e , wie der R i n g , ist me ine L iebe zu dir — Leuch tenden

    Auges ge lob t e s t du da s se lbe . N och ein e inziger, langer, heisserK u s s und ich fuhr w ieder a l le in meinem Hause zu. —

    Den ganzen Sonn tag ve rb rach t e ich e insam in stiller Be-schaul ichkei t . Nicht entweihen wol l te ich die E r inne rung andie vorang egang enen unvergessl ich schönen Stunde n. An dichdenkend , dir g l aubend und ve r t r auend , s ch lummer t e ich — imG e b e t für dich — spä t abends ein. —

    Oh, dass dem S c h l u m m e r ein E rwac hen fo lg t e — Dera n d e r e Ta g b r ach t e mir ein Sch re iben von dir. Du sandtes tmir meinen Ring zurück, da deine El tern dir n icht er laubten,„ G e s c h e n k e " von „F rem den " anzunehme n. Dan n folgten noch

    1 e inige ande re Sätze — — — Wa s sie enthie l ten, ich weiss es.n ich t Es k l ang mir alles, wie in e iner f remden, mir unve r s t änd -l ichen Sprache. Nur das Eine begr i ff ich: me in ku rze r Traumvon L iebe und G lück war dahin, für immer dah in —

    Man hat te meine hei l igs ten Gefühle dir g e g e n ü b e r als ver-brecher ische Triebe hingeste l l t , und du — a rmes K ind — nochganz un t e r dem Einfluss der mod ernen Ba rbaren, hast ihneng e g l a u b t und den F r eund ve r r a t en .

    Verziehen habe ich dir von ganzem H erzen , denn du weisstn i ch t , was du mir gethan , aber hei len wird nimm er die Wu n d e ,di e du mir ge sch l agen , und b luten w ird sie stets aufs neue, wen nmeine thränenfeuchten Bl icke s ich senken auf jenes Bi ld , a nge-fer t ig t in der se l igs ten Na cht meines L eben s.

    P a u l f{ U e h n h a r d .

    Der Eigene. 18B — 1. o 2 Septomberhelt 1899

    Wa l d f r e i

    Ebereschenbeeren leuchten,Lachen wie Kora l l en rot,U nd ich n ippe Deine Lippen,Küss t rotz Strafe und Ve rbo t

    Er l enhecken uns umdachen ,Plätschernd spr ingt der Bach vorbei ,Murmel t neckend was von L i ebe —U nd ich küss Dich: e ins , zwei , drei

    Du mein grosser, wi lder Junge,Bis t mein Sonnenglanz und Ruhm,Holder Stern in meinen N ächten,Wegz ie l dem Z igeune r tum '

    dolf Brand

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    REIGEN DER TOTENTÄNZEI I .

    Von Holbeins To ten tan z wei terzu spüren zu einem, der gleichfal ls e ineT h a t bedeu t e t , m uss unse r Ge i s t du rc h d r e i J a h r h u n d e r t e w ande r n , u m b e ieinem Man ne Hal t zu mac hen , dessen scharfe Auffassungskraf t und g edru ngen eG es t a l t ungsgab e i hm e rmög l i ch t en , e i nen Tanz zu en twe r f en , de r m i t unh e imlicher Schärfe das vor Au gen füh rt , was die Herzen vieler l lunde rt tau send eram g ew a l t i g s t en du rchw üh l t e : d ie Sc h r ecke n de r Mär z t a g e von A ch t u ndv i e r z i g— A l f r e d R e t h e l .

    Auf Ha us Diepen bend bei Aachen am 15. Mai 1816 geb oren , kam erd r e i ze hn j äh r ig au f d i e Düsse ldo r f e r K u n s t akade m ie . S t u d i e r t e da n n i n F r a n kfurt a . M. bei Ph i l ipp Vei t w ei ter die Malerei und ging gegen 1844 nach Rom.Das Jahr 48 t r ieb ihn nach Dresd en, wo er s ich ein schönes Mädc hen, MarieGrah l , zur Krau nahm. Ab er e inen kurzen Win ter durf te er nur sein Kheglückgeme ssen. Dn er losch sein loderl l iumncndes Genie und eine düstere , graue,s ch we re Na rh t zog hernuf — Arn' ' I . Dezember 1859 s tand m an in Düsseldorfin e iner Hei lanstal t an der Bahre eines geis t ig verfal lenen Leibes , e iner wesenlosen Hülle . . . Die Seele Rethels hat te lange ihren Frieden in der mit tag s-beg l än z t en Ruhmesha l l e de r Ewigke i t ge f u nde n .

    Vor ku rzem la s ich in den Mon atshef ten von Velhagen und Klasin gN o t i z en übe r den Anfang de r Bekann t s cha l t Re the l s m i t s e i n em spä t e r en j ung e n

    , We ibe . Sie selbst , d ie je tz t e ine betag te Frau is t , hat die Zei len niedergesc hrieb en. Zum ers ten mal erfuhr s ie den Nam en Rethel , a ls der Vater nachHau se kam , auf dem Salonflügel sechs Blät ter ausbre i te te , die soeben im Buchha nd e l e rs ch i enen wa ren und ung eh eu re s Auf sehe n e r r eg t ha t t e n : „ Au ch e inTo ten ta nz ; erfunden und gezeic hnet von Alfred Rethe l ." Da heiss t es an derbetreffende n Ta geb uch stel le : „ . . . rief uns al le zusamme n (der Vater) , zeigte

    und erk lär te d as We rk, und so unvergessl ich is t mir dieser Eindru ck g ebl ieben,dass ich ihn heute nach vierzig Jahren noch immer lebendig im Herzen t rage.Ich hö rte den Name n Rethel zum ers ten Mal , aber es kam w ie eine Offen barungübe r m ich , a l s i ch d ie se Ges t a l t en und Vorgä n g e so 'wa h r, so g ro s s u n d do c hvol l vom w irkl ichen Leb en erbl ickte . . . "

    I n s e inen s echs B la tt To t en t anz h a t Re the l a l le Trag i k de s Vo lks k r aw a l l sa usg es chöp f t . E in Wrehschrei entr in gt s ich den Zeichn ungen , der das Herzz usa n im enkrampfen mach t . A l s m an d en Tanz ans t a r r t e , da ka m e r s t ma n che rzu r Be s innu ng , we l ch ze r s t ö r end en Tr i u m ph z u g de r Tod übe r Ga s sen u ndS t r a s s en geh a l t en ha t t e . Vie l e wa ren d i es em ka l k enen Kö n ig z um O p f e r gefal len, vielen, die mit klaffenden Wunden zwischen Barr ik aden trüm mern u nge hörtnach R et tu ng sch rieen, sass seine eiskal te Knoche nhand an der Gurge l . . .

    Der Eigene. — 12* — 1. u. 2. Seiitemberh ert 188».

    Da s er s te Blat t zeigt uns, wie der Tod einem al ten Grabe e nts te igt ,dessen Kreuz zerspl i t ter t zur Sei te geworfen is t . Die Gerec ht igkei t is t gekneb el t ; d ie Lis t hat ihr das Schw ert , d ie Lüge die Waag e gestohlen . Wie zurBrau tfahrt de r Bräut iga m, wird zum Siegeszuge der Sense nman n gerüstet . DieTol lhei t fü hrt ihm ein schnaub endes Schlach tross zu. Frau Blutgier schlepptihm die Waffe — eine Sense — heran. Jungfer Ei te lke i t s tülpt ihm den Hutauf den Schäd el . Nun hinein in das Men schen land Die blutende Morg enson ne eines werden den reifen Ern tetages s te igt übe r die Erde . . . H ufgetrappeld röhn t üb e r k i e skn i rs chende W ege . — Immer nähe r — immer nähe r . . . D i eLeu te auf dem Felde ergreif t e ine ban ge Unr uhe; s ie Hieben in die Stadt .Sieg esge wiss s i tz t E r im Sat te l und s teuer t seinem Ziele zu; so zeigt ihn unsd a s z w e i t e B il d. B ei m d r i t t e n s e he n w i r d e n To d v o r d e r T h o r s c h en k einm it ten wü ster Saufgesel ien. In der Hand die Wa ag e; auf der l inken Schaleeine Kro ne, auf der rechten einen al ten Pfeifenst ie l . Beides gi l t g le ich. DassEr fr e i li ch d i e Wage n i ch t be im R i ng , sonde rn am Zü ng le in f a ss t , me rkendie Trun ken en nich t . Nur e ine al te Blinde schleicht for t : s ie fühl t , dass s ichUnhe imliche s vorberei te t . . . Die Revolut ion is t im Gan ge. Auf dem Marktp l at z s t a u t s ic h d a s Vo lk . „ F r e i h e i t — G l e i c h h e i t l — H o c h d i eR e p u b l i k — Z u m R a t h a u s t — " t o s t u n d b r a u s t e s d u r c h ei n a n de r. Vo neiner Tribün e, die schnel l zusamm engezim mert is t , schleud ert Er aufreizendeWo rte in die Men ge. Sein Sch wert rc iss t er aus dem Gürtel — dasse lbeSc hw ert , w elches die Lis t der Gerech t igkei t en twend et hat — und reicht es indie toben de Masse . Das Volk : „ l>u Volk dies Schw ert is t dein " — sol l s ichzum blut igen Richte r machen. Im Rücken des Tode s marschieren S oldatenauf — der näch ste Augenbl ick m uss eine entscheidende Wen dung br ingen. Wasdas v i e r t e B i ld andeu t e t , z e ig t da s f ü n f t e B i ld i n f u r ch tba r e r Gegens t ändl ichkei t . De r Kamp f wütet , Kartätsch en f l iegen und Stein e sausen. Mit wah nsinnige m Mu te kämpft jeder an seinem Platze, aber die schreckl ich e W ahrh ei twird al len von Minu te zu Minu te klarer : ihr Füh rer, der lüstern auf denBar r i kaden d i e F r e ihe it s f ahne s chwenk t , i s t — de r T od . He rzze r r e is s end i s tde r Anb l i ck , den da s l e t z t e B l a t t b i e t e t : au sgeb rann t e Häuse r ru inen , r auchendeThü ren - und Tonnen t rümmer, z e r r is s ene und en t s t e l lt e Menschen l e ibe r. Hochzu Ros s häl t der Sieger, der Tod , L 'mzug durch die weinende Stadt . Fl i t terund Tan d hat er von s ich geworfen. Er is t nur Tod — de r To d.

    Dieses Totenta nzdra ma, welches Rethel geschaffen hat , i s t in der knappenForm der Darstel lun g, in der gedrunge nen Entwic kelung und der kons equentenDur chfü hrun g und vor a l lem in ästhet isch er Hinsicht e in Meis terwer k. Auchin techn ische r Beziehung. Geschn i t ten wurden die Zeich nunge n im akademische nAtel ie r für Holzschn eidekunst zu Dresden unter Lei tung von Pro fessor H. Bürkner.Der int imste Freund Rethels , Robert Reinick (Maler und Dichter) , hat die Bi ldermit „er lä uternd en" Versen versehen, bei derem Abfassen er wohl hauptsä chl ichdas „Popu l ä rwe rden " de r B l ä t t e r im Auge ha t t e . Manchm a l e r i nne rn d i e Re imezu lebh aft an Honigkuc henlyr ik . — Vor kurzem hat die Verlag sanstal t B. El ischerNachflg. (Bruno Winckler) in Leipzig die zwölf te Auflage hera usge brach t . Eswär e entsch ieden ratsa m gew esen, dass man den gereimten Tex t for tgelassenhä t t e . Heu t e nach fün fzig J ah ren können w i r da s Kuns twe rk o h n e „Er-

    Der Eigene. — 125 - 1. u. 2. Septemberheft 1899.

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    l äu terungen geniessen . — Noch zwei wei te re das Totenthem a berührendeBilder hat Rethel auf den Holzstock gezeich net: „Der Tod als Freund , „D erTo d als Erw ürge r . Beide Blätter haben keine Verbr eitung gefunden. — —

    Etw a um 1861 Hess die E. A. Fleischmannsc.be Buchhandlung in Münchene in e n „ T o t e n t a n z i n B i l d e r n u n d S p r ü c h e n v o m G ra fe n F r a n z v o nP o c c i erscheinen, der eigentlich meh r als ein zahmes Tänzch en bezeichnetwerde n muss . Denn den meisten seiner zwölf Darstellungen haftet ein spiess-bürge rlicher Zug an — von den Versen zu schw eigen, die in unverdaulicherPhilistrosität getreulich berichten, was die Bilder dem Beschauer längst gesagthabe n sollten, ehe sich derselbe an die Lektü re des Tex tes begieb t. In derStrich gebu ng der Zeichnun gen bew eist Pocci keine überzeuge nde Grös se; erbringt meistens das Landschaftliche, in welch es er die Acteure der einzelnenTafeln hineinverse tzt, treffender zum Ausd ruck als diese s elbst; so z. B. imletzten Blatt , in welchem die sonnige Ruhe des Kirchho fgartens hü bsch zumAusd ruck gebrach t ist , während die Gestalt des Schauflers verfehlt erscheint.

    Eine Ausn ahme verdienen zwei Darstellungen, deren wegen ich auf diesenTa nz eingegan gen bin. Die eine zeigt Kraft und Treffsicherheit in der Koniposition, die andere besitzt Geist. Beide seien skizziert:

    I . Über dem Schlachtfelde brütet der schwere Dunst, welcher den ausgetob ten Kampf anzeigt. Leichen über Leichen. Im Hintergrun de brennendeBurgen . Das Ganze beherrs cht als Mittelp unkt der Landsk necht Tod, welcherverw egen sein Siegesbannc r durch die blutrünstige Luft reisst .— Eine llolbein-art ohn e Nachahm erbeigesc hmac k tr it t uns aus diesem Milde entgegen. —

    II . Ein Leichen wagen . Vorn drauf als Kutsc her — der Tod. Heuhinteren Teil des Gefährtes hält ein zur Feierlichkeit des Momentes starkkontras tierende r Gesell bese tzt: ein Schellenn arr, der lustig die Bestimm ungender Menschen studiert , nach denen ein Begräb nis mit ä usserem Glanz und daranzu schliessendem Leich enmah l zu begehen sei. — —

    Vier Blätter, die gegen 1868 entstande n sind, glaube ich nicht übergehenzu kö nnen, weil doch auch in ihnen der Name ihres Schöpfers respektiert w erdenm u s s : W. v. K a u l b a c h .

    Die erste Komposition zeigt den Papst, an dessen Thü r der Tod alsNa rr und ein zweiter als Priester verkleidet poch en; in der zweiten drückt erim Kirchenkleid Napoleons I. Sohn die römische Krone aufs Haupt; die drit teTafel zeigt eine beschw ingte Todesgesta lt , die je einen Vertre ter der protestan

    tischen und katholischen Religion mit den Schädeln hart gegeneinander prallt :in der letzten endlich nimmt Er Hum boldt den Kosm os vom Rücken und deutetauf die letzte Ruhestätte.

    Ich will mir nicht versagen, das Urteil eines Zeitgenossen K aulbachs,J . E . W es se ly , h ie rherzuse tzen , wei l es mir nach Ar t der F assung n ichtunbeeinflusst zu sein scheint:

    „Alle vier Kom positionen sind gänzlich verfehlt; sie hasche n in ihreräusseren Fo rm nach klassischer Vollendu ng und bieten in ihrem Inhalt nichtsals unversta ndene, un motivierte Karrika tur. Einen Witz (das sollen wohl dievier Blä tter sein?) kann m an füglich n icht lo gisch zergliedern und so wollenwir l ieber mit Stil lschweigen darüber hinweggehen.

    Der Eigene. — 128 — 1. u. 2. Septemberh elt 18»9.

    Wir jedoch wollen bei einem fün fte n Blatte noch kurze Zeit ver weilen ,da es ursprünglich als erstes entworfen w ar, der Öffentlichkeit aber nichtübergeben worde n ist . In einer „Garten laube vom Jahr e 1868 fand ich dasInterview eines Mitarbeiters dieser Zeitschrift mit K aulbach :

    Der Berichterstatter beschreibt die Stimm ung draussen auf den Ga ssenals trübe und stürmisch. Im Atelier des Akade miedirek tors ist 's nicht besser.Soeben hat Kaulbach die Nach richt vom Tode seines Meisters Cornelius erhalten. Er selbst fühlt sich alt und matt. In bitterer We hm ut ko mm en ihmdie Wor te auf die Lipp en: „Es will Abend w erden . . . mem ento m ori . . .Und da verfällt der Meister auf den Gedanken, seinem Besu che Entw ürfe zueinem neuen Totentanze zu zeigen. — Er stellt den ersten Karton auf dieStaffelei:

    Napoleon sitzt vor einer Erdkugel — vor seiner Erdkug el — vor d erWelt. Sie gehört ihm ganz. Das Spiel erscheint ihm abgeschm ackt. Nun istsie sein, die er so lange ersehnt, für die er alles — alles alles dra n

    gese tz t : d ie M ac h t , d ie W el t . Er ha t s ie — is t ihr Herr. Notw endig musssich etwas ändern. Stil lstand kann dieser Mann keinen Auge nblick dulde n. Erist auf der letzten Höh e des Lebens angelangt. Ein Vo rd rin ge n ist un mö glichDa krallt sich eine grässliche Phanta smago rie um seine Ged ank en: der Glob usverwandelt sich in einen Sc hä de l. Und wie ein Blitzlicht flammt's gre ll vordes Kaisers Augen auf: das muss der Schluss sein — m u s s es sein . . .

    Diese knappe Charak teristik eines Kaulbachsch en Entwurfe s mag ge nüg en,um zu zeigen, d ass der Geist, der diesen Blättern überhaup t innewo hnt, keinso unerquicklicher und fader ist , wie Herr Wessely seinen Les ern glaub enmachen wollte. Haben die Zeichnungen auch einen Stich ins Polemischeihrer innerlichen Tiefe schadet das keineswegs.

    Wir durcheilten wieder mit kurzen flüchtigen Unterbrechungen eine Fluchtvon Jahren seit Rethel, in der nichts für uns vorzüglich Nennen swerte s zu Ta gegefördert wurde. — Wohl erschienen h ie und da Bücher ohne li t terarisch enWert, die von den Verfassern als „moderne Tote ntänze bezeichn et w erde n.Es handel t s ich jedoch n icht um ge m a l t e ; man läss t Romane, Novel lenSkizzen unter diesen Titeln umgehen.

    Da bricht aus dem Dunkel des Stil lstandes eine Sonne hervo r, derenGarbenfülle von goldenen Strahlen unserm Boden neue Säfte zuführt, so dasssich eine Vege tation entwickelt , wie sie herrlicher keines Menschen Au ge je

    zuvor geschaut hatte . . .Am 18. Februa r 1857 wurde in Leipzig einem begüter ten Fabr ikbes itzer

    ein Kindchen geboren, das sich in nichts von anderen Neug eborenen unters chiedals dadurch , dass es M ax K l i ng er ge tauf t wurde . Gemach wurde aus demSäugling ein Knab e, und de r trieb unter Leitung seines kunstsinnigen Va ters,der selbst unter schw eren inneren Opfern auf den Kün^tlerberuf verzic htethatte, die ersten Zeichenv ersuche. Dieselben wurden eifrig gefördert, un dendlich war der angehende Maler so weit, als siebzehnjähriger Jünger seinemheissesten Herzensw unsche G enüge thun zu dürfen — zu Gusso w nach „Karlsruhe zu gehen. Zwei Jahre blieb er dort und versuchte, sich den Naturalism usdes Meisters zu eigen zu m achen, und kam n ach dieser Zeit nach Berlin.

    Der Eigene. _ 127 _ 1. u. 2. Septeraberheft 1898.

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    Mäh lich entstand en gegen vierzig Hand zeichn ungen , unt er dene n für uns dieB l ät te r : D e r To d b e i d e m G e f a n g e n e n , D e r To d a l s P f l a s t e r e r —letzteres wu rde später radiert — s. w. u. — von besond erem Interesse sind.End e der siebziger Jahre schuf er sein erstes geschlossenes Werk „ D ier a d i e r t e n S k i z z e n * (O p us I ), i n w e lc h em e r i m s t e r b e n d e n Wa n d e r e rdas Mo tiv vom ew igen unergründlich en Tode anklinge n lässt. In einer felsigenEinö de en tsinkt jenem der Spee r; wirr taumelt der Kopf zurück, und schonlauert ein Geier auf Heute. —

    De s Jüng lings Kraft wuc hs — sein inneres Auge schärfte sich — undin steigende r Linie verfeinerte sich die Ausd rucksfä higkeit seines Griffels.We rke folgten Wer ken. Imm er umfassend er gesta ltete sich die Schöpferkraftdieses Men schen . Ins Titane ske hat sie sich bis heutigen Tages gesteigert.Eas t allen Dic htun gen, so müs sen w ir seine Cyklen bezeichnen, hat er d asMonum enta lproblem des Todes e ingewoben. Aber nur mi t denen, in welchender To d als persönliche Gewa lt versinnbildlicht wu rde, können wir in MüchtigeVe rbind ung treten, um> nicht unsern Rah men der „Reig en" zu überschreiten .Ausschliesslich in ureigenen neuen Gewändern, in denen der Zeitenschnitt desbeginnenden zwanzigsten Jahrhunderts festgehalten wurde, hat er seine gigantischen Ge danke n übe r das finstere min ierende Wühle n des Todes an derMenschheit jetzigen Geschlechtern vor die Seele geführt und wird sie kommendenals ein Riesendenkmal unseres Seins hinterlassen.

    A m o r , To d u n d J e n s e i t s h e is s t d a s S c h l us s b la t t d e r „ I n t e r m e z z i " ,welch e 1879 entwo rfen und im Jahr e 1880 als Opus IV radiert wurden. Keinealler Klingerschen Gaben hat bei (Segnern und Freunden so viel Kopfschfittelnherv orger ufen, als gerade dies Watt. Freilich, nicht einem seiner anderenMus enk inde r hat der Leipziger Meister ein so unv erständlich es Kleid an gezoge n.als dieser Rad ierun g. Da ist ein Tei ch; an ihm entla ng eine schlängelndePapp elallee. In die unfreundliche Landsc haft galop piert lustig Am or auf einemwun derlic hen Gefährt hinein. Vorn hockt er auf einem velocipedartigen Kade,dessen Schweif ein Sarg bildet, der auf vier hölzernen Füssen über Stock undStein stolpe rt. Im Rücken Am ors, unb eme rkt von ihm, sitzt ein abgema gerterbärtiger Greis — der Tod und schwingt, mit heulendem Schrei sein bretternc-sRos s anspo rnend , die Hippe. — Diesem seltsamen Zug rast ein seltsamererh in terdre in . Man schaut e inen Stierkopf über dem die fast zernebelte Gestalteines Reiters kaum sichtbar ist , dessen zerschlissene Mante lenden in allerlei

    Hä nd e und verzerrte Gesichte auslaufen. Den Kopf dieses befremdenden Reitersmann es um schwir ren — Gänsekie le . Man h a t über den Gedankeninhal t desWa ttes hin - und hergerechte lt . Festzusteh en scheint, dass der Künstler dieNeben buhlerschaf t Amo rs und des Todes im Sieges lauf um die Erde zu sym bol isieren versuch t hat. Im „Jenseits" die Gänsek iele dahin auslegen zu wollen,dass über den Gegenstand schon masslos viel Tinte verspritzt worden sei, erschein t mir gewagt —??

    D e r To d a l s P f l a s t e r e r i st im C y kl us „ E v a u n d die Z u k u n f t "(Op us III), welcher 1880 geschaffen wurd e, das sechste Watt. In einem Berg-pass u nter hoc haufrage ndem Kreuze ist der Tod bei der Arbeit , an einem endlosen Bre t te rzaun, über dem e ine Hand gebie ter i sch ausges t reckt i s t , J lenschen-

    Der Eigen«. — 128 — 1. u 2. Septemberheft 1899.

    Schädel mit seiner Ram me in den Erdbo den zu stampfen. Er thut nur seinePllicht und achtet n icht der flehenden Rufe und bittenden Ar mbe weg unge nSo geht es Srhr i t t für Schr i t t vorwär ts — immer immer vorwär tsmit ewiger, selbst die Zeit überda uernd er Kraft . . .

    188/ wurde der Radiercyklus „E in e L ie b e " (Opus X) vol lendet . Esist das hohe Lied der fromm en — freien Liebe. Ein tragischer Leb enssangauf das liebende Weib. Wie unendlich fein hat es Klinger verstanden, in dasglutenheisse Gefühlsvcrlangcn des Menschen den Eisestropfen des Tod es zumischen. Nirgend ist ein Werk zarter k omp oniert , ein Intermezzo treffendere ingefügt worden, wie das Wat t A da m u nd Ev a un d Tod u nd Teu fe l in„Eine Liebe*. — — Na chde m das Liebe spaar in reiner, hoher, keuscher Weihenacht am Kelch des Überglücke s nippen durfte, steigt das Gespen st der — Sün daus seinem finstern Schlund her vor . . . Da liegen die nack ten leuchtend enJJenschenkörper Adams und Evas auf der Erde, und grinsend deutet der Toddieser lederne Greis, auf das Weib. Sie — sie muss das Martyr ium des kurzenRausches e ines Höhenglückes auf s ich laden . „Tr ium ph — Tr iumph . . ."gellt der Teufel und schw ingt die Urkun de der verlorenen Seelen. „Sie gehö rt

    mir — mir ganz allein nach dir " Doch der Mensch ist nurMensch . — Er wälzt hässliche Geda nken von sich. — Geh t von neuem hineinin das Traumland. — Berauscht sich an den Blüten des Frühlings — schlürftden betäubend en Duft schw üler Som merh aine in sich auf. — Es wirdHerbst — und die Blätter fallen — und die Früch te — reifen . . . Die Träu meerstarren im Gepo lter realer Wirklichk eit . — A usges treckt l iegt der w elligeKörper des Weibes auf der Bah re, und ein Marm orantlitz fühlt d er ver störteMann an seiner Wange . . . An der Leiche aber steht die Wochen frau: To dmit dem Kindlein im Arm und dröh nt dem Verw irrten zu : „Mach 's kurz "Noch träg t der Abg esang jed er wurze l- und erdenechten Liebe die Kapitelüberschrift:

    T o d . . .Wir sahen, in meh reren früheren Werken drängte sich Klinger das Them a

    vom Tod e auf. Abe r immer gew altsam eindäm mend, lässt er es nicht zuschrankenloser Entfaltung kom men . Der nicht ausgelö ste Ideengehalt häuftsich in ihm an, wie die Elektrizität in der Sanim etbatterie, die dann, w enn ihrder Entlader zu nahe komm t, alle kom primierte Kraft auf einmal abgiebt. Sotrit t das Leben — das krasse Leben von draussen — auf der Strasse — mit

    seinen Kontrasten — dem Putz , dem Schm utz, an sein gähren des Men srhcn herzDie Folge d ieser Berührung i s t d ie Blä t te r re ihe „V om T o d e 1" , welche 18S9des Künstlers Atelier verlässt. — Nicht d er friedliche, ruh ige, natürlich e, sanfteist es, der ihn reizt — am gew altsam en, b rutalen, tragisc hen w ill er die Spitzeseiner Nadel prüfen. Keine Vorstellung ist ihm zu phanta siegew altig, keineerhaben treffend genu g, um seinem Zwe cke dienstbar zu sein. In kurzen Umrissen sei versucht, den Hauptinhalt der einzelnen Stiche zu bestimmen:

    Tiefe Na c h t (1). Ein herrlicher Park , in den ein zittriges falbes Mon dlicht hineinfliinmert. Friedlos sitzt der Kün stler selbst zwischen den Büschenund starrt auf eine silbrige schlanke Lilie, die traum verloren im Halbdun kelden feinnervigen Blütenkö rper dehnt. Da ist es ihm, als zögen bunte Bilder

    Der Eigene. — 129 — 1. u. 2. Septemberheft 1899.

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    der Vergangenhei t an ihm vorüber . . . vom Vater — dem Mutterchen — derG e l i e b t e n . . . e r s c h r e c k t h ä l t e r i n n e d a k o m m t d e r E i n e a u f i h n z u— der Eine — der Eine — — der Keiner is t . . .

    In e iner fürchter l ichen L age bef inden s ich die S ee le ut e (2) auf e inemiff denn nur mit Mühe geret te t , har r t ihrer h ier e in schreckl iches Loos —

    eine Riesens chi ldkröte mach t Jagd auf s ie . Verzwei fe l t spr ing en s ie von e inemFels zum andern; doch Ret tun g wird ihnen das nicht br ingen. Eine Leis teunte rhalb dieses St iches zeigt den Geda nkeng ang, der im Hirn jener G eängst igtenvor s ich gehen mag. Da is t e in Affenmensch, dem aus a l len Poren grel leFlam men lodern, in die Mei s ter Hein se ine Opfer h ineinführ t .

    D a s s c h l i c h t e s t e B l a t t , a b e r d o c h v o n e r s c h ü t t e r n d e r Wi r k u n g , i s t d a sM e e r ( 3 ) , i n w e l c h e s e i n S c hi f f e r b a r m u n g s l o s h i n a b g e z e r r t w i r d . D e r M a g n e t ,w e l c h e r d i e s F u r c h t b a r e b e w i r k t , i s t i n d e r U m r a h m u n g d a rg e s t e l l t — d e rM e e r e s g r u n d .

    Fr iedl ich ging die a l te Botenfrau schon sei t Jahr zehn ten, ihre Gäng e ima n d e r n D o r f z u v e r r i c h t e n , d ie C h a u s s e e ( 4 ) h i n u n t e r. D a s We t t e r w a r g u t— das We tte r war schlecht — imm er, immer fand s ie ihre Strass e . An einemGew it te r tag e ere i l te s ie ihr Verhä ngnis in Gesta l t e ines Bl i tzs t rah les . Im Flugehat te der Unübe rwindl ich e mit se inem spi tzen Fingerk nöchel ihre St i rn getroffen.

    Eine grabst i l le Kirchhofs ruhe is t über das näc hste Blat t (5) gebre i te t .Auf e iner Bank is t d ie Mu tter e ingeschlafen. Leise hat t e s ie den regelmässigenPulss chlag des nahen Was sers , das auf dem Kies zerran n, gehö rt — dannentfernt — — entfernter — — —> schl iess l ich n ichts meh r . . . Als o b dieN a t u r e i n e P a u s e m a c h t e , w a r s . . . D a k a m e i n n i m m e r m ü d e r Wa n d e r e r.Ihm gef iel das ros ige Kinderges ichtche n, das aus dem Wa gen hervor l ugte , sosehr, dass er das Kleine mit s ich nahm . . .

    Am Fus se se ines Thr ones l iegt mit verglas ten Augen der durch pol i t i sch enVe r r a t v e rg i f t e t e H e r o d e s ( 6 ) . D a s S p i t z b ü b is c h e de s K ö n i g s m o r d e s i s t m i tu n e r b i t t l i c h e r Wa h r h e i t z u m A u s d r u c k g e b r a c h t w o r d e n i n d e n F e i g l i n g en ,w e l c h e i m H i n t e rg r u n d e d i e Wi r k u n g d e s G i f t e s b e o b a c h t e n .

    I n e in e r F e l s en l a n d s c h af t l i e g t e in G e r i p p e a u f d e n S c h i e n e n ( 7 ) , d a sden heransaus enden Ei lzug zum Entgle isen br ingen wird. Die Einfassung fül lenEisensc hienenspl i t ter aus , um welche s ich e ine Schlang e r ingel t , und Galgen-gesic hte , v ie l le icht derer, d ie das zu erwarte nde Unglück angest i f te t haben.*)

    F e r d n a n d^M a x K u r t h.

    *) Im nächsten H eft folgt e ine wei ter e Veröffent l ichung.D H

    Der Eigene. — 130 — 1. u. 2. Septemberheft 1899.

    O T T O S E I T Z

    Ü B E R S C H W E M M U N G

    ZU FERD. MAX KURTH: REIGEN DER TOTENTANZE.

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    P Q U I T S TO D

    v o n J o a q u i n M i l l e r — v e r de u t s ch t v on P e t e r H i l l e .

    Joai juin — oder e igent l ich vom bürger l ich f re i empfindenden Vater„ C i n c i n n a t u s " u n d v o n d e r d e u t s c h e n , H e i n e v e r e h r e n d e n M u t t e r „ H e i n e "genannt — also Cincinnatus Heine Mil ler geht nun an die Sechzig.

    M i t v i e r z e h n - J a h r e n w a r d d a s M a z e d o n i e n d e r vä t e r l ic h e n F a r mdiesem neuengl ischen Alexander zu eng und er abenteuer te hinaus wie

    v o r i h m s o m a n c h e r R i t t e r d e r S a g e n u n d Vo r w e l t . E r w i r d G o l d g r ä b e r ;dann von seinem fünfzehnten Jahr e an lebte er längere Zei t unter denunzivi l is ier ten, wi l l sagen unverdorbe nen Mad oc-In dianer n, deren weisserb l o n d e r H ä u p t l i n g e r w a r.

    Heim heimlichen Beschaffen von Was ser, von der Vigi lanz uf-

    gegri ffen, ward er verhaf te t , ind es durch e in Indianerm ädchen l 'aq ui taund e inen jungen Krieg er befre i t . Später war er auf gut amerikanischal ler le i , so Kommi ssionär für d ie Goldgräber, R ichter in den Minen, m ite inem Kod ex, e inem Web ster und zwei Revolvern, dann sogar Oberr ic hteri n N e w - Yo r k .

    B e r ü h m t g e w o r d e n d u r c h m e h r e r e n u n w i e d e r v erg e s se n e G e d i c h tsam mlu ngen und Prosadars te l lungen, Hess er s ich in London einen Winterhind urch a ls Löw en fe iern .

    Nun sol l er wieder Goldgräber in Alaska sein .Von seinen Sachen s teht am lebensunmit te lbars ten e inzig da:

    „ A m o n y t h e M o d o r s " . D i e S p r a c h e d a r i n is t w i e d ie w e i t e n m ä c h t i g e ,unbe grenz t grossar t ig e Nat ur se iner Heim at Kal i fornien. Und so is tauch sein Leben und seine Ar t : wi ldschön, vol l grosse r Beweg ung.

    E n d l i c h

    W ie auss er mir falle ich auf den Boden nieder und küssedie Erde, der ich wiedergegeben; dann berühren meine LippenPaqui ta , ihre Hände, ihr Gewand, nurniehr ihre Gegenwart , kaumihre Gesta l t . Und nun werfe ich dem blauen Himmel , demleuchtenden Monde Kusshände zu, b is Paqui ta den Freihei tst runkenen mahnend ansieht .

    So schwach bin ich, auf das Pferd muss man mich heben.Nun geht ' s von dannen.W ir r i t ten wie die Fur ien.

    Der Eigen e. — 133 — 1. u. 2. Seplemb erheft 1899.

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    Blut floss ihr vom Munde, und sie konnte nicht sprechen.Ihre blossen Ar me ware n au sgestreck t, und ihre Hä nd e

    hielten sich am grasigen Ufer, aber sie hatten nicht die Stärke,ihren Leib aus dem Wasser zu z iehen.

    Ich schlang meine Arm e um sie, zog sie mit jäher, ausserordentlicher Kraft heraus und lehnte sie an einen warmentrockenen Felsen.

    Da sass ich, das sterbende Mädchen in meinen Armen.Sie blutete au s meh reren Wun de n. Scho n da ich sie aus demWasser zog, war s ie über und über mi t J3Ii.it bedeckt . Mut verzweigte sich mit Wasser über einem warmen Leib in Bächenund Säumen.

    Paqu i t a?Ke ine An twor tDie Verlassen heit , die Einsam keit steigerte sich zum Un

    er t rägl ichen. In f remdem W iderhal l k am m eine St imme von denBas altwä nde n zurü ck; das war alle Antw ort, die ich jemals hatt e.-... Da s India nerm ädch en lag tot in meinen Ann en.

    Blut an meinen Hän den , Blut an meinen Kleidern , Blut anGras und Ste in

    Die einsame Julin acht w ar weich und wärmlich. De r gross eweisse Mond ging auf und rollte den Himmel entlang und rieseltedur ch die Aste, die da dro ben von den Klippe n aufstiegen undsich in die Tiefe n eigten über die Abgrü nde , und sein Scheinfiel in Streifen u nd Sp an gen über d as Antlitz und die Gestaltme ine r To ten .

    P a q u i t a. Auf einmal so allein in der furchtbaren Gegenwart des

    To de s , wand el te mich Furc ht an . Herz und Seele spannten s ich

    mir zum Uner t rägl ichen.Ich hät te wohl aufspringen m ögen und ll iehen. Ab er wohin

    denn hätte ich ll iehen sollen, war' ich auch bei Kräften gewesen?Ich b eugte mein Ha upt und suchte mein Ant l itz zu bergen.Paqui ta to tWi r hat ten zusamm en gehun ger t und hat ten beisammen

    gestanden an tönenden Wasserfä l len und hat ten Fors ten durchmes sen und waren die Ufer der Flüsse entlang gestreift , vonKindhei t an waren wir zusammen aufgewachsen.

    Der Eigen e. 136 — 1. u. 2. Septemberlieft 1899.

    Nun aber war s ie h ingegangen, hat te ihn a l le in gekreuzt ,den dunkeln Flus s d es Geheimn isses, und mich verlassen, denRest meiner Reise mit Fremden freundlos zu vollenden.

    Paqu i t aWi r hat ten d ie grosse Sonne komm en sehen, wenn das

    Lich t wie Sch aum üb er dem Osten hera ufbrach , landen wie einen'mächt igen SchiHahrer vom glühenden Gipfe l des Shoste ; Handin Hand hat ten wir gelauscht , wie des Tag es m ächt iger Fürs tkam mit gehob enem Sch wert und Schild, um Besitz zu ergreifenvom Reiche der Fins ternis .

    Dann h at ten wir ihn beobach te t in der Däm merung , wieer seine Scha ren aufstell te für den letzten grossen Kam pf mit

    den Schat ten , d ie wie k le ine böse Geis ter durch die Wälderkroch en, und hatten d er grossen Sch lacht mit angewoh nt, dieer wie der rote Mann kämpfte, um seines alten Besitzes willen.

    Dan n w ar er gefallen, und die gan ze Schn eespitze w ar rotgeworden von seinem Blute.

    Nun nie wieder.Paqui ta , das Kind der Natur, der Sonnenst rahl des Wald es ,

    der Stern, der so weni g des Lichtes geseh en, war nun in Finsternisgehüllt . Paq uita lag kalt und lebenslos in meinen Arme n.

    Diese Nach t w ard m ein Lebe n weit und weiter, bis es berührte und in sich aufnahm die Gestade des Todes.

    Zärtlich legte ich sie nieder und ging vo dannen. Froh,nur etw as zu thun zu finden, sammelte ich zermürbt es Holz, gefallene Äste, trockenes, totes Schilf und errichtete davon einenBrandstoss .

    Ich schlug Feuers te ine gegeneinander und zündete denStape l äii , und als der Schau m d es Lich tes im Osten wiede rheraufbrach, da erhob ich sie vom Boden und legte sie zärtl ichnieder, brach te ihr Antli t z zur Ru he und fügte ihre kleinenHände kreuzweis über ihre Brus t zusammen.

    Nun zündete ich das Gras , das Gest rüpp in der Nähe an .So erhielt das Feuer einen Halt und sprang und lachte undkrachte und streckte sich, wie um zu grüssen die feierlichenÄste , d ie s ich da droben von den Kl ippen herniederbeugtenund hin- und herg ing en, als neigten sie sich und such t ein

    Der Eigene . — 137 — 1. u. 2. Septemb erheft 1899.

    http://j3ii.it/http://j3ii.it/http://j3ii.it/

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    rab Ich sammelte weisse Steine und legte e inen Kreis umdie Asche.

    W ie hoch und voll schon d as (»ras ist, das nun üb er ihrerAsch e wächst . Die Steine haben s ich gesetz t und sind t ieferund t iefer gesunken, des Mädchens aber is t n icht vergessen.

    In der Nac ht t raf ich im La ger e in . Eine a lte Frau brachtemir Wasser.

    Da sie mich allein sah, ohne die beiden Begleiter:„Uti Paqui ta ? Uti Olale? W o is t Paqui ta , wo is t das

    M ä d c h e n ? "Ich wies mit meinem Daumen zur Erde.Das Lage r war vol l Jam mers , n ichts a ls Unhei l und Ni eder

    lagen, sei t ich for tgewesen, den ganzen S ommer lan g. Und

    doch fanden s ie noch Tra uer in ihrer Seele für Paqui ta undden tapferen, jungen Krie ger , meine Befreier, und stiegen aufden Hügel unter den Fichten und erfül l ten die Wä lder mit Klage n.

    Um Mit ternacht begannen die Weiber die Totenklage.Was für e ine Klage, was für e ine NachtDa is t kein Lau t so herzbrechend und so klägl ich wie diese

    lange kummervol le Klage.Oft klingt sie wild, laut, ungestüm und heftig, und euer

    Herz s inkt , ihr gedenkt eurer e igenen Toten und beklagt mitihnen des Menschen gemeinsames Los.

    Dann wird e ure Seele wei t und ihr geht mit ihnen ansGestade des dunkeln Wassers, dort zu weilen mit den Abge--.:-schiedenen und einer der ihren zu sein im grossen geheimnisvollen Scha tten des To des , und zu fühlen, wie wenig U ntersc hiedda is t im Weh der Menschenkinder.

    Der Eigene. u. 2. Septemberhelt 1899.

    Tr a u r i g e

    H e r b s t n a c n t g e s c h i c h t eVon al len Zweigen

    Tropf t Nach t ,

    Und Schleier neigenSich sac ht . . .

    Rotblümelein färben

    Sich weiss —

    Erschauern u . s terben

    Im Eis

    Max Klinger.

    Gestern ging ich durch

    B l u m e n w i e s e nU n d m i r t r ä u m t e v o n

    P a r a d i e s e n .

    Drinnen sah ich nackteS c h ö n h e i t e n

    D u r c h s o n n e n b l e n d e n d eFelder gle i ten,

    U n d u m A l l e s s c h w a m mein Klang

    Wi e v o n w e i c h e m S i r e n e ngesang . . .

    U n d di e L a n d s c h a f t w a rmehr e in Duft —

    Aber der roch doch nachErdenluf t ,

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    Der Kampf ums Recht im Fal le Sternberg

    Wie in Frankreich die Freunde und Anhänger des Hauptmanns D r e y f u s , w ie i n Ho l land d ie Ve r f ech t e r de rSache H o g e r h u i s , so rufen auch in Deu t sch l and , s e itlangen Jahren schon, in drei Fällen eine Reihe tapferer Männernach Rech t und Gerech t igke i t : i n den Fä l len Z i e t en , B ro ze i tu n d S t e r n b e r g .

    Sel tsam, wie s ich in e inem solchen Kamp fe Männer zusamm enfinden, die auf so ga nz verschieden em Boden stellen, M änn er,d ie sonst d ie Leben sansch auun gen und W el tanschauungen ihrerW affenbrüder aufs hef t igs te bekäm pfen Da s teht C o rn el y vomroya li s ti s chen „F iga ro" und F r an c i s de P r c s en se vom konse rvat iven „T em ps " neben den revolut ionären Sozia l is ten Ja u re s ,Vi v i a n i , G e r a u l t - R i c h a r d , d a f in de t s ic h d e r u l tr a ra d i k al eG e o rg e s C l e m e n c e a u m i t d e n b e h ä b i g s t e n B o u rg e o i s , w i eM e. D e m a n g e , S c h e u r e r - K e s t n e r u nd B e r n a r d L a z a r e ,zusammen, d a kämpft d er begeis terte Anh änger der Arme e,O b e r s t P i c q u a r t , n e b e n d e re n g r ös s te n S c h m ä h er , U r b a i nG o h ie r. I n Ho l l and fi ch t f ür d i e Brüde r Hoge rhu i s D o m e l aNieuwenhu i s , de r p ro t e s t an t i s che P red ige r, de r vom Soz i a l i smuszum Anarc hismu s gelan gte , und neben ihm der Ul t ramo ntanevon schwärzes t e r Fa rb e , Dr. K u y p e r. Im Fa l l e Z i e t en abe rsahen wi r mi t dem Anarch i s t en Dr. L a n d a u e r den g ros sen

    E th ike r Obe r s t l eu tnan t v. E g i d y Hand in Hand gehen , im Fa l l eBroze it den F re i s inn igen O t t o v. M au de ro de den Kampf füh renund h i e r bei D r. Ster nbe rg f inden s ich a ls Mitkämpfer mi t d ent a r rkonse rva t iven Her r en v. O e r t z e n von de r „Kreuzze i tung"

    und v. Fo re l l de r Chr i s t l i chsoz i a l e S töcke r* und de r F re idenke rA d o l f B r a n d zusammen ; kämpfen an de r Se it e mi t konse r-

    * Stöcker ist der einzige Reichstagsabgeordnete, der sich der Sache Sternergs anna hm und sich Herrn Bra nd gegen über brieflich bereit erklärte, die

    Angelegenhei t im Reichs tage zur Sprache br ingen zu wol len .

    Der Eigene. — 140 — 1. a. 2. Septomberheft 1899.

    vativen Blättern freisinnige und demokratische, wie die „TilsiterAl lgemeine Zei tung" und die „Ber l iner Volkszei tung" .

    De r Fall Dreyfus ist aufgerollt , der französische G enerals tab w ird in Reimes die Antw ort erhal ten , d ie ihm gebühr t unddie mi t der g länzenden Fre isprechung des Märty rers von derTeufels insel in e ine Verur te i lung des schmähl ichen Treibens derGen erale auskling en wird. A. Zieten aber und die drei Brü derHoge rhuis s i tzen nach wie vor im Zuchtha us und werden dor tvorauss ichtlich ihr Leb en beschliessen, wenn n icht ein Gn aden aktdes Kaisers ode r der jungen Königin W ilhelmine ihren Leidenein En de macht. W as nutzt es, dass weitaus der grösste Teilder deutschen und nieder ländischen Nat ion von ihrer Unschuldfest überz eug t ist? Und ebenso wie dort warten auch Dr. Brozeitund Dr. Sternberg immer noch vergebens auf ihr Recht , nacheinem nun bald 10- und mehrjährigen Ka mp fe.

    Ab er so v ie l Ähnl ichkei t d ie Rechtsan gelegenh ei t desDr. Brozeit in Tilsit — der auc h weg en angeb licher Geisteskran khe it entm ünd igt worden ist , obwo hl alle W elt ihn für völliggesund und für einen bedeutenden Arzt erklärt — und die desDr. Stern berg in Char lo t tenbu rg m i te inander haben, so grundverschieden ist die letztere von dem Falle Zieten.

    Das in vollster Öffentlichkeit geführte Strafverfahren g g nAlb ert Zieten nahm einen offenbar ordnun gsm ässige n VerlaufEr war des Mord es angeklagt , bega ngen an se iner Frau. Vie lehielten ihn der Un that fähig. Da s Belastu ngsm aterial schien erschöpfend, Unregelmäss igkei ten völ l ig ausgeschlossen. Keinerder Zeugen, die dagegen Zweifel hegten, trat mit seinen wichtigenBedenken offen hervor, um se inen Beobachtungen Gel tung zuverschaffen. Nichts spracli für, alles geg en Zieten . Ein Schwur-(Volks -)gericht, d as sich sonst doc h der meisten Sympath ieen erf reu t, e rkann te auf „ s ch u ld ig " , obwoh l e r unausgese t z t ' s e ineUnschu ld beteuer te . Der gelehr te Ger ichtshof fand keinen Anlass ,dieses auf vollständig gesetzlicher Grundlage beruhende Urteil zukassieren — wa s ja sofort in seiner Mac ht ges tand en hätte. Un ddie se i t Jahren gesammel ten Ent las tung sgründe beruhen a lle mehroder minder auf Vermutung en, geis t re ichen Kombinat ionen u . s .w. ,mach en einen Justizirrtum a uch sehr wahrsch einlich, ab er nichtbeweisbar.

    Der Eigene. — 141 - 1. u. 2. Septemberheft 1899.

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    Wie ganz anders l iegt d ie Sache im Fal le SternbergKein öffentl iches Verfahren, sondern e in ge h ei m es . Kein

    Volks -Gericht, dem noch gelehrte Rich ter als Kon trolle zur Seitestehen, sondern Beschlussfassung durch einen einzelnen Richter,dessen Urteil und Willkür alles anheim gegeb en ist: Leb en undTo d als Bürg er, Eh re un d Freiheit , die Existen z des B etroffenenund seiner gan zen Fam ilie Gar einem jungen Assessor, der nurHilfsrichter war, der seine praktische Qualifikation noch zu erweisen hatte; keinem erprobten Manne, der jeder Beeinflussungunzugänglich ist .

    Kein kriminelles Ve rgeh en Dr. Sternb ergs, sondern ein persönliches Re nk on tre de sselben mit dem damaligen Justizminister vonScliell ing, dessen Einzelheiten im Jahr e 1890 wie folgt verliefen :*

    Dr. Sternberg war damals Vors tandsmitgl ied des „Män nerbund es zur Bek ämp fung d er Unsitt l ichkeit". In dieser Eigensch aftwurd en ihm von polizeilicher Seite Anzeig en üb er den Justizminister und dessen sexuelle Beziehungen gem acht. Ster nbe rg,mochte er nun diesen Anschuldigungen Glauben schenken odernicht, hielt es für das be ste, in durchaus loy aler Weis e < K I \ Jus t iz-minister von dieser Ang elege nhe it brieflich in Ken ntnis zu setzen.Er erhielt darauf v on v. Scliell ing eine Ant wort , in d er dieserihn um seinen Besuc h bat, wofür er „sehr dank bar " sein wür de.Dr. Sternberg lehnte das Ansinnen ab, legte aber im selbenBriefe dem Justizmin ister nahe, gege n die Verle umd er Strafver-

    , fahren einleiten zu lassen, un d sagte ihm zugleich die Überla ssun gdes Materials zu.

    Daraufhin wurd e der Stabsarz t Dr. Sternberg , wie schonbemerkt , von e inem jungen Assessor des Amtsger ichts Char lo t tenburg entmündigt .

    Also keine Schuldig -Erklärung auf Grund s t rafbarer H andlungen, d ie bei m angelnd er Eins icht d ie Massnahme der Entmün digu ng vielleicht gerech tfertigt hätte n; son dern im persönlichen Interesse des Justizministers v. Scliell ing eine bürgerlicheEntrech tung wegen angebl icher Geistess törung, d ie Dr. Sternb erg

    * Ich e rzäh le d ies „Renkont re" nach der Vers ion Dr. S te rnbergs , fügeaber hinzu, dass dieser Vers ion selbst von gegne rische r Seite niem als öffentlichentgegenget re te n wo rden i s t und überhaup t e ine andere Vers ion n i rgends bekannt wurde .

    Der Eigene. — 142 — 1. u. 2. Septe mber helt 1899.

    angeb li ch ve rh inde rn sol l, s e in en b ü r ge r l i c h en und e r u f -l i c h e n P f l i c h t e n i n j e d e r We i s e n a c h z u k o m m e n — e i n eF äl l i g ke i t , deren Besi tz er aber in der Th at t ro tz der ihmamtlich anerkannten Geisteskrankheit bis heute vollauf erwiesenhat, zum al sein gerichtlich bestell ter Ver treter , der Kau fma nnG. Rieb ow , xma l den Behörd en erk lärte, das s er nur ein Schein-amt bekle ide — und über deren Vorh anden - oder Nichtv orhand ensein jed er verständige Mensc h zu einem ehrlichen Urteile

    j*e aHg£n kann, wozu also nicht erst gelehrte Richter oder( Psychia ter notwendig s ind.

    Es genüg t im gesetzlichen Sinne auch keinesweg s ein sogenanntes sachvers tändiges Urte i l , n icht d ie psychia t r i sche Begutachtung e inzelner Abweichungen von dem geis t igen Normal

    bilde de s Menschen, das nirgendw o existiert — ja, nicht ein maldTe Attestierung schwerer psychischer Störungen, wie sie dasAuftreten von „Halluzinationen" einbegreifen (der Appellationsger ichtshof in Hamb urg hat e inen darauf fussenden E ntmü ndi-gungsantrag unter g le ichzei t iger Fes ts te l lung der Ver t ragsfähigkeit de s Kran ken einfach zurüc kgewies en ), sondern es ist zueinem solchen Entmündigungsbeschlusse noch die vorangegangenpersönl iche Vernehm ung des angebl ich Geis tesges tör ten durchden zuständig en Richter gesetzlich vorge sehen , damit letz terersich selber davon überzeuge, ob bereits ein so bedenklicherpatho logisc her Zustand vorliegt, dass eine Vertrag sfähig keit indem oben angedeuteten Sinne in der That ausgeschlossen ist .

    Nu r dann ist das Einschreiten d es Staate s berechtig t, d annnur der Beschluss auf Entmündigung gesetzlich

    Der junge Richter entzog sich aber direkt der Verpflichtung,Dr. Sternb erg zu vernehmen und sich selber ein Urteil zu b ilden.Er stützte seinen Beschluss ausschliesslich auf meineidige Gutachte r, denen Rittmeister von Örtze n in öffentlicher Ge richt sverhandlung später unwidersprochen unter seinem Eide vorwerfendurfte, das s sie sich in ihren Attest en „kras ser Entstellungen derWa hrh ei t" schuldig gemacht hät ten . — Offenbar aber handel te derAsse ssor un ter dem Einflüsse von Schellings, der ihn durc h denStaats anw alt zur Beschleunigun g des Verfah rens auffordern Hess— eine Thatsache, die nicht aus der Welt geschafft werden kann,weil sie aktenmässig feststeht Hä tte er sich nicht auf diese

    Der Eigene. - 14S — 1. o. 2. Septemberheft 1B99.

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    fa lschen Gutachten s tü tzen wol len , dann hät te ihn die unterlassene persönl iche Vern ehm ung des Dr. Sternb erg ebenso raschvon der Unrichtigkeit dieser Atteste überzeugt, wie Herrn vonÖrtzen und das Preuss ische Herrenhaus , dessen Referent , Fre iherr von Durant , schon im Jahre 1892 auf Grund des damalsvor l iegenden Mater ia ls d ie Erklärung abgab, dass d ie Beur te i lungder Gu tach ter falsch sein müsse. Ja, er verb ürgt e sich sog arpersönl ich für Dr. Sternb erg , und was noch bedeutsamer i s t :das Herrenhaus ermann te s ich im Jahre 1893 zu der Überweisu ngdes gesamt en Materials an die Reg ierung , behufs sofortiger Einle i tung gesetzgeber isch er Reformen auf d iesem Gebie te .

    Die Unregelmäss igkei ten d ieses merkwürdigen Prozesses

    wurden bere i t s im Jahre 1895 von dem Rechtsanwäl te Eppste inin einer Veröffentlichung in der „Sozialreform" scharf krit isiert ,wobei a l lerdings d ieser Jur is t überwiegend d as Verhal ten derPsych ia ter aufs Ko rn nahm und dies e in unglaubl icher Weisegeisselte, ohne d er Justiz allzu nahe zu treten. Wä hren d abe rdamals Epp ste in e ines e inzigen Ausdruckes wegen ( „m or al is chve rw er f l i c he M i t t e l " ) s i ch a ls Mann seines S t andes ruh ig bestrafen liess, weil der sch äum end e See sein Opfer haben wollte,s in d d ie h o r r e n d e s t e n B e s c h u l d i g u n g e n d e r h e u t i g e n Vert e id ige r S t e rnbe rgs unve r fo lg t . geb l i eben .

    Als Zeuge herangezogen, muss te der Jus t izminis ter vonSchel l ing in dem Prozes se 1895/96 ' se lber zugeben, da ss ers i c h v o n D r. S t e r n b e rg b e l e i d i g t g e f ü h l t u n d e r a n s ta t t,zum Stra fant r age zum En tmündigungsverfahren se ine Zuf luchtgenom men ha be; Ausserd em; gab Schel l ing damals zu , demDr. Sternberg durch e inen Vermit t ler d ie Zurücknahme derAnfech tungsk l age , d i e da s ge se t z l i c he Rech tsmi tt e l gegen denfa lschen Entmündigungsbeschluss dars te l l te , dr ingend empfohlenund da fü r zu dem Wiederaufnahmeverfahren g era ten zu haben,wobei er d ie Wie derau fhebu ng der Entmü ndigung ohne Beibringung eines Gesundheitszeugnisses auf blosses polizeilichesFüh run gsa ttes t hin in sichere Aussich t gestell t hatte. — Un d wiesehr sich die Re gie run g ihrer Schuld bewusst ist , geh t schon ausder un widersproc hen gebl iebenen Äusserung der Delegier ten despreussischeu Justizministeriums zur Reform der Civilprozess-ordnu ng herv or, in der d ie Angelegenhei t Dr. Sternberg a ls d ie

    Der Eigene. — H — I. n. 2. Scptemborheft 1890.

    „p rtie honteuse preussischer Just iz" bezeichn et wird — eineMarke, die an Deutlichkeit wahrlich nichts zu wünschen übrig läs

    A b e r es k a m z um A n f e c h t u n g s p r o z e s s , f ür d e n d a s E i necharakteristisch ist , dass man dem klagenden Dr. Sternberg diQua l i tä t a ls Prozesspar te i e rs t von dem Momente an aberka nntals man sah , dass derselbe die Entste hun gsg eschic hte u nd letztGrü nde des früheren Verfahren s, also das vorhin gezeichn etpersönliche Renkontre mit dem Justizminister v. Schelling, vozur Gelt ung brin gen wollte — ein Verh alten, das m an gleichfalin der Berufungsins tanz zu üben für gu t befand . Das Reichsgeric ht kassierte zw ar auf Grun d dieses horrend en Verfah rendie Gerich tsurteile, h inderte aber nicht, d ass die Gerich te di

    neue Verh andlu ng dadu rch zu Boden schlugen, dass s ie untespitzfindigen Vor wän den die Bestellung eines neuen gesetzliczus tehenden Prozessanwal tes versagten, wo durch glückl ich eVe r sä um ni su r t e i l zu s t ände geb rach t wurde . Nur du rch d i eseers t wurde der durch meineidige Gutachten zu s tände gekommenEntmi 'mdigungs - Beschluss des Char lo t tenburg er Amtsger ichf o r m a l e s R e c h t .

    Das s dieses formale Rec ht ab er in Wirk lichkeit graus amsteUnrech t i s t, beweisen die v ie lenZeugen und G u ta c h te n , woruntn u r d a s d e s D i r e k t o r s d e r p s y c h i a t r i s c h e n K l i n i k Prof.D r. A r n d t z u G r e i f s w a l d u n d al le in d r e i G u t a c h t e n e i ne sande ren bedeu tenden Psych ia t e r s , de s P ro fe s so r Dr. Eu lenb ur g zu Be r l i n , h i e r be sonde r s e rwähn t s e i en , d i e i n sg es amz u d e m v o n k e i n e r S e i t e a n f e c h t b a r e n R e s u l t a t e k o m m e nd a s s D r . S t e r n b e r g im S i n n e d e s G e s e t z e s v o l l s t ä n d i gge i s t i g g e s un d i s t — womi t d i e Unrech tmäss igkei t de r En tmündigung auch von psychia t r i scher Sei te genügend erhär tewäre . —

    S t e r n b e r g i st n i c h t g e i s t e s k r a n k u n d w a r e s n i eg e w e s e n . D i e E n t m ü n d i g u n g i s t z u U n r e c h t e r k a n n t .

    Hierum dreht sich der Kampf der naturgemäss in seinemBeginne nur einige wenige Menschen interessierte, nach und nacaber da s Interesse weitester Kreis e auf sich gelenk t hat. Indems elben M asse wuchs die Heftigkeit des Stre ites : während iAnfange Dr. Sternberg nur sachl ich d ie von ihm haranguier teBehörden angriff greifen er und seine Freunde heute die höchsten

    Der Eigene. — 145 1. n. 2. Seplemberbeft 1889.

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    Behö rden Pre ussen s un d des Reiches . in e iner We ise öffent lichan, wie s ie b ishe r une rhör t gewese n is t . Und das Sel tsam e dabeiis t — al le d iese schl immenVorwü r f e nehmen d i e höchs t en Beam ten ,die sonst bei jeder k le ins ten Bele idigung sofor t mi t d em traf-r ichter bei de r Ha nd s ind, ohne e ine Miene zu verz iehe n, mi te iner Seele nruhe an, d ie ge radez u verblüffend is t . — W as is td e r G r u n d d a v o n ?

    — E in e r d e r E r s t en , d i e s ich de s Fa l l e s S t e rnbe rg annahmen ,w a r d e r k o n s e r v a ti v e P o l it ik e r R i t t m e i s t e r d . L . v. O e r t z e n ,de r i n de r „Kreuz ze i t un g" fü r Dr. S t e rnbe rg e in t r a t . S chonweg en e ines Art ik els in d ieser Zei tu ng vom Jah re 1891 wurd eer vom Just izminis te r v. Schel l ing unter Anklag e ges te l l t , do ch

    wu rde diese nach Ver lauf fas t e ines ' Jahres wieder fa l len gelasse n.v. O e r t ze n wa r e s , d e r i m Jah re 18 93 den Fa l l S t e r nbe rg vo rdas He rren hau s brac hte . In e inem Briefe , den er (am 16 . M ai 1893)i n d i e s er A n g e l e g e n h e i t a n d e n F r h . v. D u r a n t , d e n B e r ic h ters ta t te r der Pet i t ionskommiss ion d es Herr enha uses , schr ieb , mach te r dem Jus t i zmin i s te r v. S che l li ng ganz o l len den Vo rw ur f de rU n t e r s c h l a g u n g * u n d fü gt hi nz u , d a s s, w e n n d e r K a is e r e in m a lvon solchen Zus tänd en in der Jus t iz er fahren würde , „e r m i td e m g r ü n d l i c h e n K e h r a u s n i c ht b e i H e i n z e C o . , s o nd e r n b e i S c h e l l i n g & C o . a n f a n g e n w ü r d e " . D i e Z u s tä n d ei n d e r J u s ti z b e z e i c h n et v. O e r t z en a l s „ h i m m e l s c h r e i e n dg e f ä h r l i c h u n d d e m o r a l i s i e r e n d " , j a e r n e nn t s ol ch e E n t -

    ' münd igungsp roze du r en (w ie d i e de s Dr. S t e rnbe rg ) ge r a dezu : '„ t e u f l i s c h " I c h d e n k e , a n D e u t li c h ke i t l ä ss t s c h on d ie s e rRei teroff iz ier n ichts zu wünschen übr ig , und doch is t d iese Sprachenoch sanf t zu n ennen ge gen die jenige , d ie heute d ie Freund eSternbergs führen.

    D e r Ha up tman n a . D . v. Fo re l l und de r ge r i ch t l iche Ve rt r e t e r de s S t ab s a r z t e s , K au fma nn G . R i ebow, wa ren e s , d ie denK am pf fü r den En tmü nd ig t en fo r t s e tz t en . Zusamme n mi t d ie sem

    * Dieser Brief wur de verschiedent lich veröffent l icht , unte r anderm in demBlat te des Ober s t leutn ants v. E g i d y „Versöhnu ng" (Jul i 1897). Es is t n ichtbekann t geworden, dass v. Schel l ing gegen v. Oer tzen i rgendwi e vorgegan genwäre , er hat im Gegentei l den Vorwurf der Unterschlagung ruhig e ingesteckt . —v. Egidy br ingt übr ige ns diesen Brief mit e iner sehr bezeichn eten Einle i tung,in der er v. Oer tzen in jeder Weise sekundier t .

    Der Eigene. — 146 — 1. n. 2. Septemberheft 1699.

    mach ten s i e E ingaben übe r E ingaben an den Re i chs t ag , an da spreuss isch e Abg eord neten haus , an de n Jus t izminis ter u . s . w. , a usden en ich nur e in ige Pro ben an führen wi l l . So heiss t es in de rPe t i t i on an den Re i chs t ag vom 20 . J anua r 1898 un t e r a nde rm :

    „ D a r n a c h h a n d e l t es s i c h u m d e n e k l a t a n t e s t e nF a l l b ü r g e r l i c h e r E n t r e c h t u n g im p e r s ö n l i c h e n I n t e re s s e d e s f r ü h e r e n J u s t i z m i n i s t e r s v . S c h e l l i n g u n d z ug u n s t e n b e l a s t e t e r J u s t i z b e a m t e n , w e l c h e s e i t J a h r e nv o n d e n S t r a f b e h ö r d e n m i t t e l s n a c h w e i s l i c h e r W a h r -h e i t s - u n d A k t e n w i d r i g k e i t e n g e d e c k t w e r d e n .

    In demse lben J ah re (1898 ) gab D r. S t e rnbe rg e ine Bro sch ü r e

    „ K l a s s e n j u s t i z u n d E n t m ü n d i g u n g s u n f u g " h er au s, d iee ine Re ihe de r Pe t i t ionen und E ingaben zum Ab druc k b r i ng t ,i n i h r em Haup t t e i le a be r Aus füh rungen de s Ve r f a s se r s en thä l t ,d ie in keiner Weise e in Bla t t vor den Mun d nehm en. Au ch aufdiese , je tz t schon in dr i t te r Aufla ge erschienen e Bros chü re ges c h a h — n i c h t s .

    Um nun den Beh ö rden d i e En t s chu ld igung zu nehme n , d a s sman j a doch gegen einen „w egen Ge i s t e sk r ankhe i t En tmü nd ig t en"s t r a fr ech t l ich n i ch t vo rgehen könne , f o rde r t e nunm ehr d e r V e rl e g e r d e r B r o s ch ü r e , S c h r i f t s t e l l e r A d o l f B r a n d , i n e i n emSchre iben vom 8 . Deze mber 1898 an da s Kg l . Am ts ge r i c h tCha r lo t t enbu rg , da s s man i hn , den He ra usgebe r, d e r j a in e i ne mVor wor t di e Angr if f e und Vorwür f e Dr. S t e rnbe rgs k r ä f t i gsekundier t habe, unter Anklage s te l le . Er hoff te so in e ineröffent lichen Ger ic htsverh andlu ng den Wa hrhe i tsbew eis für se ineund Dr. S t e rnbe rgs Behaup tung en e rb r i ngen zu können un d a u fd i e se We i se , w ie Zo l a du rch s e in be rühmtes „ J ' a ccu se" in de r

    „Auro re " , den Fa l l S t e rnbe rg i n s Ro l l en zu b r i ngen .A. Brand täuschte s ich , er wur de nicht unter An klag e ge

    s te l l t . Eben sowe nig fanden se ine und se iner Mitkä mpfe r v, Fore l lund G . R i ebow e rneu t e E ingabe n an d i e P a r l ame n te , an da sS t aa t smin is t e r ium und an d en Ka i s e r i rgendwe lche Beach tun g .— Un d doch s ind i n d i e sen E ingaben Vorw ür f e so ung e he ue rl i che r N a tu r gegen d i e Behö rden ge mac h t word en , w ie e s i nunse r em Rech t s s t a a t e e i nf ach undenk ba r e r s che in t

    Möge hier d ie le tz te Eingabe Brands wört l ich folgen:

    Der Eigene. — 147 — 1. u. 8. Septemberheft 18»

  • 8/9/2019 Der Eigene : 1899-04-05

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    An Den Deutschen Bundesra t -Ber l in .

    EINSCHREIBEN

    D E M H O H E N B U N D E S R AT E

    unterbre i te ich d ie von mir herausgege bene B roschüre „Klassen-Jus t iz und Entmün digun gs- Unfug" von Dr. med. H ermannSte rnb erg und mit Bezug auf mein darin enthalten es Vorwo rt

    fo lgende von mir wei ter ausgegangenen di rekten Anträge:I . an das Kgl . Amtsger icht Char lo t tenburg vom 8. Dezember 1898 nebst Anschlusserklärung des Herrn auf-mann G. Riebow und Ha uptma nn v. Fore l l an Amtsgerich t, Staatsanw altschaft und Justizminis ter vom13 . Dezember 1S98;

    II . an d as Kg l. Preussische Staatsministerium vom 13. Dezember 1898;

    I I I . an Se . Majes tä t den Kaiser und Kön ig vom 13. Dezember 1898;

    IV. an Se. Majestät den Kaiser und König vom 24. Januar 1899;

    V. an das Kgl . Preussisch e Staatsmin isterium vom2. Februar 1899.

    Na ch dem alle diese Schritte gleich der früheren Ü berre ichu ngder Broschü re an die massg ebend en Amtsste llen bis an SeineMajes tä t den Kaiser und König ohne jede Verwah rung, geschw eige Zurück weisu ng geblieben sind, ist die klar v orliegend eSi tuat ion fo lgende:

    1. D i e K g l . p r e u s s i s c h e R e c h t s p f l e g e t r e i b t i mK l a s s e n - u n d M a c h t - I n t e r e s s e u n t e r d e n A u g e n d e rG e s a m t - S t a a t s v e r w a l t u n g b e w u s s t e Ve r g e w a l t i g u n gu n d a l s M i t t e l zu d i e s e m Z w e c k j e d e s Ve r b r e c h e n .

    2. D e r K a i s e r u n d K ö n i g w i r d b e h u f s Ve r d e c k u n gv e r w e r f l i c h e r B e a m t e n - Z u s t ä n d e s y s t e m a t i s c h i n U n

    ser Eigene. — 148 1. u. 2. Scptemberheft 1899.

    k e n n t n i s o d e r T ä u s c h u n g g e h a l t e n u n d d a d u r c h v e rh i n d e r t , d i e i h m z u s t e h e n d e K o n t r o l l e a u s z u ü b e n u n da l s o b e r s t e r H ü t e r d e s R e c h t e s u n d d e r S i t t l i c h k e i ts e i n e s h o h e n A m t e s z u w a l t e n .

    3. D i e z u r K o n t r o l l e m i t b e r u f e n e n p a r l a m e n t a r is c h e n K ö r p e r s c h a f t e n h a b e n si c h d u r c h C l i q u e n - u n dC o u l i s s e n - U m t r i e b e i n d a s N e t z d e r R e c h t s - u n d Ve rf a s s u n g s w i d r i g k e i t h i n e i n z i e h e n u n d d i e „partiehonteuse p r e u s s i s c h e r J u s t i z " s i c h u n d d e m d e u t s c h e nVo l k e z u r S c h a n d e a u f b ü r d e n l a s s e n .

    So verbleibt vor dem letzten Appell an die Öffentlichkeitnur noch die hiermit zu erhebende Frage, ob das deutscheFürstentum in seiner verfassungsmässigen Repräsentanz solchenZuständen machtlos und gleichgültig gegenüberstehen, oder füKaiser und Reich als wahrhafte Schutz- und Notwehr dienens ol l, w ie so lc h es S e . K ö n i g l i c h e H o h e i t d e r G r o s s h e r z o gv o n B a d e n schon vor Jahre n in einem wesentlich milderenStadium des Falles als seine Sache erkannte, ohne dem sichvo l lz i ehenden T äu sc hu ng ss ys t e m e be ikommen zu können

    Mit ausgezeichneter Hochachtung

    dolf Bra?id

    Berl in-Neurahnsdorf ,

    am 14. Feb ruar 1899.

    Der Eigen e. — 149 — 1. u. 2. Septemberheft 1899.

  • 8/9/2019 Der Eigene : 1899-04-05

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    I n ähn l i c h s cha r f em To ne s i nd d i e ü b r i gen E inga ben g e

    h a l te n . D a w e r d e n d ie M i n is t er „ e h r l o s u n d f e i g e " g e n a n n t ,

    d a w i rd den i n d i e Ange l eg enhe i t S t e rnb e rg ve rw i cke l t en Ju s ti z

    o r g a ne n d e r Vo r w u r f g e m a c h t, d a s s s i e „ in b e w u s s t e r W e i s e

    s i c h d e r Ve r l e i t u n g z u m F a l s c h z e u g n i s u n d z u m Z e u g e n -

    u n d S a c h v e r s t ä n d i g e n - M e i n e i d e s c h u l d i g g e m a c h t "

    h a b e n u . s . w.

    A u f al l es d a s g e s c h a h — n i c h t s

    — Ga r n ichts? —-„ Doc h — — der Schr i f ts te l ler Ad olf

    B r an d w u r de — — v e r m e s s e n

    Diese e ig entüm liche An geleg enhe i t i st noch zu f r isch in

    al ler Gedächtnis , um noch e inmal in ihren Einzelhei ten wieder

    gegeb en z u w e rd e n . K u rz — nachdem B rand den S t r a f an t r ag

    „ge gen s ich se lbe r" , um die Affa i re Ster nbe rg aufzurol len , ge

    s t e ll t h a t t e , wu rde e r ( am 2 . J anu a r 1899) zum A mtsvo r s t ehe r

    nach K öp en i ck ge l ade n . E in Gr und wa r i n de r La du ng n i ch t

    angeg eben . Tro t zd em k am ihr B r and nach . De r Am t s vo r s t ehe r '

    n ahm nun d ie Pe r son a l i e n und da s S igna l emen t A . B rand s au f

    und forde r te ihn dann auf , s ich messen zu lassen (wa s sonst nu r

    bei schw eren Ve rbr ec her n übl ich is t ) . Bra nd we iger te sich , fügte

    s ic h d a n n a b e r d e m Z w a n g , a l s d e r A m t s v o r s t e h e r e r k l ä r t e ,dass er den Am tsdi ene r rufen wol le , um ihn fes tzuh al ten — eine

    D roh ung , d i e de r Am tsvo r s t ehe r spä t e r dadu rch abzuschw ächen

    suchte , dass er an ga b, er habe den Am tsdie ner nur rufen wol len,

    um durch e inen Vergle ich se iner Grösse mit der Brands dessen

    Grös se f e s t zus t e l l en . — Abe r d i e se Abschwächung ge schah e r s t

    spä t e r, a l s d i e Sach e k r i t i s ch w urde . Anfäng l i ch wuss t e de r He r r

    au f d i e Fe s t s t e l l un g d i e se r Drohu ng n i c h t s zu e rw ide rn .

    Der Eigane. — 150 — 1. u. . Septcmb erhert 1899.

    Brand be sch r i t t d en Beschw erd eweg , j e doch ve rwe ige r t ede r L and ra t , d e r d i r ek t e Vorg ese t z t e de s Amtsvo r s t eh e r s , j ed e sEinschr ei ten gege n diesen. Auf e ine wei tere Besc hw erde beimReg ie run gsp rä s iden t en e rh i el t B rand dann den Besch e id , da s sd e r A m t s vo r st e he r z u d e r „ M e s s u n g " a l l e r d i n g s d u r c h a u sn i c h t b e f u g t g e w e s e n s e i . — E in e m w e i t e re n A n t r a g e B r a n d sgege n den Amtsvo r s t ehe r wegen B e l e id igung , Nö t igung , F r e i he i t sbe r aub ung w urde von de r Kg l . S t aa t s anwa l t s cha f t ke in F o r tg an ggegeb en , da de r Amtsvo r s t ehe r „ i n gu t em Glaube n g e ha n de l th a b e " . — We s h a l b w u r d e B r a n d v e r m e s s e n ? — D i e Ta g e szei tungen führ ten e ine Me nge Gründ e an — sel tsam , fas t a l le

    ande r e . Fü r d i e e inen wa r B rand e in An t i s emi t ( „ Be r l i ne r Ta geb l a t t " ) , f ü r d i e ande ren e inAn a rch i s t ( „ S t aa t s bü r ge rze i t u ng"u . s .w. ) .„D e r E ig e n e " wurde von den e ine n zu e inem ana rch i s t i s chen ,von den anderen zum okkul t is t i schen Or gan e ges tem pel t , dess en„He rausgeb e r scha r f übe rwach t we rde" . Und doch hä t t e nu rein Bl ick in d ie Broschü re „Is t e in Fal l Drey fus in D euts chla ndunmög l i ch? " und i n d i e da ri n abge d ruck t en E ingaben A . B rand sgenügt , um al le d iese Hypothesen d bsurdum zu fü h ren Das te h t z . B . : „ I c h v e r t r a u e f e st u n d u n e r s c h ü t t e