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1 | 6 Grö sstmöglic he Sich erhei t ist gef ragt : Poliz ei vor dem Stad e de Fra nce in Sain t- Denis. Bild: AFP (6 Bilder)  ! " Mit Gilles Kepel sprach Daniel Binswanger 07:18 Stichworte EM 2016 Terrorismus Jihad Islamischer Staat Hohe Bilder G Giilllle es s K Ke ep pe ell.. Der Ori en ta li st (6 0) le hr t i n Pa ri s am Institut d’études politiques und an der École normale supérieure. Er forscht seit 30 Jahren zur Bedeutung des Islam in Frankreich. Artikel zum Thema Brauchts für die Euro 2016 den Ausnahmezustand? Der Ausnahmezustand seit den Terroranschlägen wird in Frankreich bis Ende Mai verlängert. Und wenige Tage später beginnt die Fussball-EM. Mehr... Vincenzo Capodici. 09.02.2016 «Der IS wird diesen Fehler eher nicht  wiederholen»  Wie gefährdet ist die EM in Frankreich? Schlägt de r Terror zu? Nein, sagt der französische Islamismus-Experte Gilles Kepel. Und er sagt auch, warum. Die Fussball-Europameisters chaft in Frankreich steht vor der Tür. Wie hoch schätzen Sie die Gefahr eines Attentats ein? Die Gefahr wird von den Sicherheitskräften sehr ernst genommen – umso mehr, als die Attentate vom letzten November mit einem Angriff gegen das Stade de France anfingen. Allerdings sollte man bedenken, dass ein A ttentat gegen ein Stadion den islamistischen Terrorismus mit seinem Grunddilemma konfrontiert: Viele der Zuschauer sind Muslime, ganz besonders in der Vorstadt von Paris. Ist das ein Problem für den IS? Ich führe regelmässig Interviews mit muslimischen Strafgefangenen, die das Profil  von jungen Männern haben, welche die Jihadisten für sich gew innen wollen. Nach dem Anschlag auf das Stade de France sagten d ie meisten, diese Terroristen spinnen: Mein Bruder, mein Cousin, meine Freunde waren vor Ort. Ein gelungenes Attentat gegen ein Stadion wäre zwar eine eindrückliche Machtdemonstration, aber es würde die Sympathisanten, die der IS an sich binden will, weiter von ihm entfremden. Aus diesem Grund glaube ich, dass die November-Attentate ein strategischer Fehler  waren – und dass der IS diesen eher nicht wieder holen wird. Video – viel Polizei bei der Ankunft der Schweizer Nationalmannschaft in Montpellier: (Sebastian Rieder)  War es nicht gerade Absicht, auch Muslime zu treffen , nicht nur im Stade de France, sondern auch im 10. und 11. Arrondissement, wo viele Migranten leben? Es scheint wahrscheinlicher, dass das keine durchdachte Entscheidung war. Hier liegt ein Grundproblem des Jihadismus der dritten Generation. Der aus Syrien stammende Aktivist Musab al-Suri hat bereits in dem im Jahr 2005 publizierten «De r IS wird di ese n Fehl er ehe r nicht wied erh ole n» - Kult ur: Di ve... htt p:/ /www.ta ges anz eiger .ch/ku ltur/di ver ses/ Der -IS-wi rd-d iese n-F ... 1 von 4 07.06.16, 19:43

«Der is Wird Diesen Fehler Eher Nicht Wiederholen» - Kultur: Diverses - Tagesanzeiger.ch

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07:18
Stichworte
Islamischer Staat
Hohe Bilder
GGiilllleess KKeeppeell.. Der Orientalist (60) lehrt in Paris am Institut d’études politiques und an der École normale supérieure. Er forscht seit 30 Jahren zur Bedeutung des Islam in Frankreich.
Artikel zum Thema
Brauchts für die Euro 2016 den Ausnahmezustand?
Der Ausnahmezustand seit den Terroranschlägen wird in Frankreich bis Ende Mai verlängert. Und wenige Tage später beginnt die Fussball-EM. Mehr... Vincenzo Capodici. 09.02.2016
«Der IS wird diesen Fehler eher nicht  wiederholen»  Wie gefährdet ist die EM in Frankreich? Schlägt der Terror zu? Nein, sagt der französische Islamismus-Experte Gilles Kepel. Und er sagt auch, warum.
Die Fussball-Europameisterschaft in Frankreich steht vor der Tür. Wie
hoch schätzen Sie die Gefahr eines Attentats ein?
Die Gefahr wird von den Sicherheitskräften sehr ernst genommen – umso mehr, als
die Attentate vom letzten November mit einem Angriff gegen das Stade de France
anfingen. Allerdings sollte man bedenken, dass ein Attentat gegen ein Stadion den
islamistischen Terrorismus mit seinem Grunddilemma konfrontiert: Viele der
Zuschauer sind Muslime, ganz besonders in der Vorstadt von Paris.
Ist das ein Problem für den IS?
Ich führe regelmässig Interviews mit muslimischen Strafgefangenen, die das Profil
 von jungen Männern haben, welche die Jihadisten für sich gewinnen wollen. Nach
dem Anschlag auf das Stade de France sagten die meisten, diese Terroristen spinnen:
Mein Bruder, mein Cousin, meine Freunde waren vor Ort. Ein gelungenes Attentat
gegen ein Stadion wäre zwar eine eindrückliche Machtdemonstration, aber es würde
die Sympathisanten, die der IS an sich binden will, weiter von ihm entfremden. Aus
diesem Grund glaube ich, dass die November-Attentate ein strategischer Fehler
 waren – und dass der IS diesen eher nicht wiederholen wird.
Video – viel Polizei bei der Ankunft der Schweizer Nationalmannschaft 
in Montpellier:
(Sebastian Rieder)
 War es nicht gerade Absicht, auch Muslime zu treffen, nicht nur im Stade
de France, sondern auch im 10. und 11. Arrondissement, wo viele
Migranten leben?
Es scheint wahrscheinlicher, dass das keine durchdachte Entscheidung war. Hier
liegt ein Grundproblem des Jihadismus der dritten Generation. Der aus Syrien
stammende Aktivist Musab al-Suri hat bereits in dem im Jahr 2005 publizierten
«Der IS wird diesen Fehler eher nicht wiederholen» - Kultur: Dive... http://www.tagesanzeiger.ch/kultur/diverses/Der-IS-wird-diesen-F...
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«Der Jihadismus will Europa in einen Bürgerkrieg stürzen» Interview  Der französische Islamexperte Gilles Kepel ist überzeugt, dass sich der Islamische Staat mit den Paris-Attentaten selber schadete. Mehr... Mit Gilles Kepel sprach Sandro Benini. 08.02.2016
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Tra tat «Au ru zum g o a en s am sc en W erstan » as Konzept er
Terrorstrategie des IS entwickelt. Er betrachtet Europa als den «weichen Bauch» des
Okzidents und will für den Jihad rekrutierte europäische Muslime zu Soldaten des
Kalifats machen. Das stellt einen Bruch dar mit der Strategie Bin Ladens, der
saudische Attentäter losschickte, um das World Trade Center und das Pentagon
anzugreifen. Die Al-Qaida-Terroristen waren bestens ausgebildet, wurden straff 
geführt und zogen die Anschläge mit nachrichtendienstlicher Perfektion durch. Suri
hingegen gibt die Devise aus: «ein System, keine Organisation». Er setzt auf 
dezentrale Strukturen und gewährt den einzelnen Zellen sehr viel Autonomie.
Das heisst, die Entscheidung, das Stade de France anzugreifen, fiel auf 
einer unteren Kommandoebene?
 Wir wissen es noch nicht sicher, aber es sieht danach aus. Abdelhamid Abaaoud, der
Kopf der November-Attentate, ist eine traurige Figur: keine höhere Bildung, eine
Karriere als Kleinkrimineller, Auftritte in Gräuelvideos, wo er Kehlen aufschlitzt und
Leichen verstümmelt. Ein Täter mit diesem Profil kann ein Blutbad anrichten, ist
aber kaum zu einer strategischen Analyse fähig.
Die November-Attentäter waren also Amateure?
Die Planung war offensichtlich schlecht. Abaaoud weiss zum Beispiel nicht, wo er
hinsoll nach den Attentaten. Er wirft seinen Sprengstoffgürtel weg, kehrt zum
Bataclan zurück und mischt sich unter die Schaulustigen. Hätte er den
Sprengstoffgürtel anbehalten, hätte er wohl die Möglichkeit gehabt, François
Hollande oder Manuel Valls zu töten, da sie schon kurz nach dem Anschlag am
Tatort eintrafen, noch bevor die Polizei einen Sicherheitskordon geschaffen hatte.
Danach will er die Nacht auf einer Böschung am Rand der Pariser Stadtringautobahn
 verbringen, gerät aber in eine Schlägerei mit einer Gruppe Zigeuner, die ihn
 vertreiben. Schliesslich findet et Unterschlupf in einem besetzten Haus bei seiner
drogensüchtigen Cousine, wo ihn die Polizei dann stellt und erschiesst.
Professionalismus sieht anders aus.
 Wenn die Planung so schlecht war, warum gab es bei den Anschlägen
dann trotzdem so viele Opfer?
Es ist eine traurige Tatsache, aber nichts ist heute einfacher, als Menschen
umzubringen. Man braucht dazu nicht viel mehr als eine Kalaschnikow, die man sich
in Frankreich für ein paar Hundert Euro problemlos beschaffen kann. Auch wenn
Polizisten mit kugelsicheren Westen ausgerüstet sind, können sie sich einem
Maschinengewehrfeuer nicht in den Weg stellen. Es besteht eine klaffende Lücke
zwischen den offensiven Möglichkeiten der Terroristen und den defensiven
Möglichkeiten der Sicherheitskräfte. Diese Lücke können Terroristen ausnützen,
auch wenn sie keine durchdachte Strategie haben.
Bildstrecke – die Anschläge von Paris im November 2015:
«Der IS wird diesen Fehler eher nicht wiederholen» - Kultur: Dive... http://www.tagesanzeiger.ch/kultur/diverses/Der-IS-wird-diesen-F...
2 von 4 07.06.16, 19:43
 
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scheitern?
 Alles deutet darauf hin. Der IS hat dasselbe Problem wie die Groupes Islamiques
 Armés (GIA) in den Neunzigerjahren in Algerien. Die GIA verfolgten eine Strategie
der Hypergewalttätigkeit, zu deren Opfer die lokale Bevölkerung wurde. Statt die
Menschen auf ihre Seite zu ziehen, machten sie sich immer verhasster und verloren
den Bürgerkrieg. Längerfristig dürfte der IS unter europäischen Muslimen alle
Sympathien vollständig verspielen. Aber es ist schwierig abzuschätzen, wie lange
«längerfristig» ist.
Sie sagen, dass man den Terror nicht nur als Gewaltphänomen verstehen
kann, sondern auch seine religiösen Wurzeln berücksichtigen muss.
Ich führe eine Kontroverse mit Olivier Roy und seinen Anhängern, die von der These
ausgehen, dass es vom Terrorismus der Roten-Armee-Fraktion zum IS eine Art
Kontinuum gibt. Aus ihrer Sicht war gestern der Terrorismus rot, davor vielleicht
 braun, und heute ist er eben grün. Jedes Mal soll es sich letztlich um eine
Manifestation desselben Nihilismus, um einen gewaltsamen Generationenkonflikt
handeln. Ich bestreite nicht, dass soziale und psychologische Faktoren entscheidend
sind. Der Terrorismus kann nur unter bestimmten Bedingungen Anhänger
rekrutieren. Wenn es nicht die Diskriminierung maghrebinischer Einwanderer der
zweiten und dritten Generation gäbe, wenn die Massenarbeitslosigkeit nicht
existieren würde, könnte sich der radikale Islam nicht ausbreiten. Trotzdem muss
man die spezifische Natur der salafistischen Glaubenslehre begreifen, um den
Terrorismus verstehen zu können. Die «Salafisierung» der Köpfe ist eine
 Vorbedingung. Sie führt zu einem totalen Bruch mit der europäischen Gesellschaft,
mit der Aufklärung, mit der säkularisierten Zivilisation. Der Salafismus weist
Grundwerte wie Demokratie, Freiheit und Gleichheit der Geschlechter vollkommen
zurück.
Er findet aber nur bei einer sehr kleinen Minderheit Anklang.
Die Mehrheit der europäischen Muslime ist integriert und hat keine Schwierigkeiten,
die Grundwerte der europäischen Gesellschaften mit ihrer religiösen Identität zu
 verbinden. Deshalb ist der Kampf gegen häretische Glaubensbrüder auch die oberste
Priorität der Salafisten. Es findet ein eigentlicher Kulturkampf innerhalb des Islam
statt. Die Salafisten müssen die gemässigten Häretiker auf ihre Seite ziehen, nur so
können sie von einer kleinen Avantgarde zur Massenbewegung werden.
Sie stellen in Ihren Büchern dar, dass die Terroristen zwar extrem
gewaltbereit, aber häufig kaum religiös zu sein scheinen.
Das würde ich so nicht sagen. Es wird häufig als Argument gegen die Rolle der
Religion ins Feld geführt, dass viele Jihadisten Alkohol trinken und mit Drogen
dealen. Das ist aber kein Widerspruch. Mit Drogenhandel kann man den Feind
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3 von 4 07.06.16, 19:43
 
sc wäc en. Tr n en un rauc en ann man, um en Fe n zu täusc en. Der J a
hebt alle Glaubensgebote auf. Im Jihad muss man auch den Ramadan nicht
einhalten, weil man Kräfte braucht für den Kampf.
 Viele Terroristen scheinen aber nur einen ganz oberflächlichen Bezug
zum islamischen Glauben zu haben.
Das ist in der Tat auffällig. Auch bei den zahlreichen Konvertiten lässt es sich
 beobachten. Kürzlich war ich in Sevran in der Banlieue von Paris und besuchte eine
Familie, die intakt und sympathisch wirkte. Der Sohn konvertierte vor drei Jahren
zum Islam und wurde vor kurzem als IS-Kämpfer in Syrien getötet. Sein Zimmer war
 voller salafistischer Ratgeber, die ihm offenbar ein Prediger zu lesen gab. Alle Bücher
 waren wie neu, unberührt. Er hatte kein Einziges davon je geöffnet.
Sie sprechen ein anderes Phänomen an: den hohen Anteil von
Konvertiten unter den Jihadisten.
Ihre Zahl ist verblüffend hoch. Es dürfte sich auch daraus erklären, dass in vielen
Banlieue-Vierteln und in den französischen Gefängnissen die Mehrheit heute
muslimisch ist und dass das Leben und Überleben für einen Muslim dort wesentlich einfacher sein kann als für einen Ungläubigen.
Es gibt aber auch prominente Fälle von jungen Franzosen vom Land, die
ebenfalls konvertieren.
Zum Beispiel Maxime Hauchard, der sich als erster IS-Kämpfer dabei filmen liess,
 wie er einem Opfer die Kehle aufschlitzt. Ich bin in die Normandie nach Bosc-Roger-
en-Roumois gefahren, wo er herkommt. Es ist eine traurige Agglo-Gemeinde aus
Reihenhäuschen, wo nichts geschieht und man nichts machen kann, solange man
keinen Führerschein besitzt. Hauchard war Mofa-Reparateur, und das Einzige, was
 bei meinem Besuch gelegentlich die Stille unterbrach, war das ferne Knattern eines
Mofas. Die Herkunftsorte der Terroristen vom Land sehen in der Regel so aus. In
dieser Öde scheinen der Absolutheitsanspruch des Salafismus und das starke
Zugehörigkeitsgefühl, das er auslöst, für desorientierte junge Männer ein attraktives
 Angebot zu sein.
Gibt es nicht auch eine quietistische Spielart des Salafismus, die ihre
 Anhänger nicht politisieren will?
Die gibt es: Der Salafismus wurde im 18. Jahrhundert von den Herrschern des
Hauses Saud erfunden, die damit ihre Eroberungen legitimieren wollten. Nach dem
Sieg der Saud über die anderen Stämme der Arabischen Halbinsel wurde er
gewissermassen staatstragend. Allerdings haben die Saudis in den Achtzigerjahren –
mithilfe der Amerikaner – einen aggressiven Salafismus reaktiviert, um in
 Afghanistan den Widerstand gegen die Sowjets zu befeuern. Damit öffnete man die
Büchse der Pandora. Heute führt der IS auch Krieg gegen Saudiarabien.
(Tages-Anzeiger)
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