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EuR – Heft 1 – 2007 3 Der Kontrapunkt im Dienste eines europäischen Verfassungspluralismus Von Miguel Poiares Maduro, Lissabon* I. Einleitung Worin liegen die Besonderheiten der Rechtsnatur der europäischen Rechtsord- nung, ihrer Legitimation und ihrer Beziehung zu den nationalen Rechtsordnun- gen? Und welche Konsequenzen ergeben sich daraus sowohl für unser Verständ- nis von Recht und Souveränität im Allgemeinen – als auch für eine mögliche Weichenstellung für die verfassungsrechtliche Zukunft der Europäischen Union? Diese Fragen sind Gegenstand der vorliegenden Abhandlung. Auch wenn heute wiederholt betont wird, dass die unterschiedlichen nationalen und europäischen Vorstellungen in Bezug auf die höchste Geltungskraft in Europa eine pluralisti- sche Verfassungskonzeption der Beziehung zwischen dem europäischen und dem nationalen Konstitutionalismus verlangen, so werden andererseits daraus selten Rückschlüsse für die allgemeine Interpretation und Anwendung des EU-Rechts 1 gezogen, ebenso wenig wie für die Auseinandersetzung mit verfassungsrechtli- chen Aspekten. Die Diskussion hierzu scheint sich vielmehr auf die Frage der Kompetenz-Kompetenz sowie auf mögliche Konflikte zwischen EU-Recht und nationalen Verfassungen zu konzentrieren. Dies lässt sich unter anderem damit erklären, dass solche Konflikte oft mit der Frage der Souveränität in Zusammen- hang gebracht werden: Was ist die Quelle der höchsten und letztverbindlichen Entscheidungsmacht in der politischen und rechtlichen Organisation der Gesell- schaft? In streng juristischem Sinn entspricht dies der Festsetzung einer Grund- norm, von der sich alle anderen Rechtsnormen – als auch die normativen Befug- nisse in einem gegebenen Rechtssystem ableiten. Nach wie vor ist jedoch die Frage der höchsten Geltungskraft nicht nur eine Frage der höchsten Instanz für den Fall, dass es zu Konflikten zwischen den beiden Rechtsordnungen kommen sollte. Ich möchte in diesem Kapitel darlegen, dass diese Frage auch im Hinblick auf mindestens zwei weitere Aspekte der Souverä- nität von immenser Bedeutung ist, die man unter den Begriff der politischen Sou- veränität subsumieren kann: Erstens die Autonomie einer politischen Gemein- * Der Autor ist Generalanwalt am EuGH und Professor an der Universidade Nova, Lissabon – Portugal. Der vorliegende Aufsatz ist eine Übersetzung seines „Contrapunctual Law: Europe’s Constitutional Pluralism in Action“. Der Autor dankt Frau Marie-Louise Gächter-Alge, wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für Völker- und Europarecht an der Universität St. Gallen, Schweiz, für die Übersetzung ins Deutsche. 1 In der vorliegenden Abhandlung wird der Begriff „EU-Recht“ als das Recht der Verträge der Europäi- schen Union, einschließlich des Rechts der Europäischen Gemeinschaften verstanden. Auch wenn in einzelnen Beispielen genau genommen von „EG-Recht“ gesprochen werden müsste, verwende ich der Einfachheit halber den Begriff „EU-Recht“ im gesamten Text. Ebenso ist unter dem Begriff „europäi- sche Rechtsordnung“ die Rechtsordnung der Europäischen Union zu verstehen.

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EuR – Heft 1 – 2007 3

Der Kontrapunkt im Dienste eines europäischen Verfassungspluralismus

Von Miguel Poiares Maduro, Lissabon*

I. Einleitung

Worin liegen die Besonderheiten der Rechtsnatur der europäischen Rechtsord-nung, ihrer Legitimation und ihrer Beziehung zu den nationalen Rechtsordnun-gen? Und welche Konsequenzen ergeben sich daraus sowohl für unser Verständ-nis von Recht und Souveränität im Allgemeinen – als auch für eine mögliche Weichenstellung für die verfassungsrechtliche Zukunft der Europäischen Union? Diese Fragen sind Gegenstand der vorliegenden Abhandlung. Auch wenn heute wiederholt betont wird, dass die unterschiedlichen nationalen und europäischen Vorstellungen in Bezug auf die höchste Geltungskraft in Europa eine pluralisti-sche Verfassungskonzeption der Beziehung zwischen dem europäischen und dem nationalen Konstitutionalismus verlangen, so werden andererseits daraus selten Rückschlüsse für die allgemeine Interpretation und Anwendung des EU-Rechts1 gezogen, ebenso wenig wie für die Auseinandersetzung mit verfassungsrechtli-chen Aspekten. Die Diskussion hierzu scheint sich vielmehr auf die Frage der Kompetenz-Kompetenz sowie auf mögliche Konflikte zwischen EU-Recht und nationalen Verfassungen zu konzentrieren. Dies lässt sich unter anderem damit erklären, dass solche Konflikte oft mit der Frage der Souveränität in Zusammen-hang gebracht werden: Was ist die Quelle der höchsten und letztverbindlichen Entscheidungsmacht in der politischen und rechtlichen Organisation der Gesell-schaft? In streng juristischem Sinn entspricht dies der Festsetzung einer Grund-norm, von der sich alle anderen Rechtsnormen – als auch die normativen Befug-nisse in einem gegebenen Rechtssystem ableiten. Nach wie vor ist jedoch die Frage der höchsten Geltungskraft nicht nur eine Frage der höchsten Instanz für den Fall, dass es zu Konflikten zwischen den beiden Rechtsordnungen kommen sollte. Ich möchte in diesem Kapitel darlegen, dass diese Frage auch im Hinblick auf mindestens zwei weitere Aspekte der Souverä-nität von immenser Bedeutung ist, die man unter den Begriff der politischen Sou-veränität subsumieren kann: Erstens die Autonomie einer politischen Gemein-

* Der Autor ist Generalanwalt am EuGH und Professor an der Universidade Nova, Lissabon – Portugal.

Der vorliegende Aufsatz ist eine Übersetzung seines „Contrapunctual Law: Europe’s Constitutional Pluralism in Action“. Der Autor dankt Frau Marie-Louise Gächter-Alge, wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für Völker- und Europarecht an der Universität St. Gallen, Schweiz, für die Übersetzung ins Deutsche.

1 In der vorliegenden Abhandlung wird der Begriff „EU-Recht“ als das Recht der Verträge der Europäi-schen Union, einschließlich des Rechts der Europäischen Gemeinschaften verstanden. Auch wenn in einzelnen Beispielen genau genommen von „EG-Recht“ gesprochen werden müsste, verwende ich der Einfachheit halber den Begriff „EU-Recht“ im gesamten Text. Ebenso ist unter dem Begriff „europäi-sche Rechtsordnung“ die Rechtsordnung der Europäischen Union zu verstehen.

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4 EuR – Heft 1 – 2007 Maduro, Der Kontrapunkt im Dienste eines europäischen Verfassungspluralismus

schaft in der Bestimmung ihrer Politiken (Selbstregierung), d.h. die unabhängige Ausübung der klassischen Governance-Funktionen und zweitens die Möglichkeit der autonomen Organisation und Regelung der Mitsprache und Vertretung in dieser politischen Gemeinschaft, die Teilhabe der einzelnen unterschiedlichen Mitglieder und Gruppen an der Ausgestaltung ihrer Politiken. Die Frage der höchsten Geltungskraft wird meist als Frage der rechtlichen Souveränität verstan-den und dabei wird übersehen, dass sie ebenso Aspekte der politischen Souveräni-tät tangiert. Die Art der Auseinandersetzung mit dieser Frage im europäischen Recht beeinflusst auch die Konzeption des EU-Rechts, seine Legitimation sowie die mit dem Begriff der politischen Souveränität verbundenen Formen der Poli-tikgestaltung, Mitsprache und Vertretung. Am Beginn der vorliegenden Abhandlung möchte ich die beiden unterschiedli-chen Ansätze in der Frage der höchsten Geltungskraft vorstellen, wie sie vom Europäischen Gerichtshof sowie den nationalen Verfassungsgerichten entwickelt wurden. Im Folgenden soll dann die Konstruktion einer europäischen Rechtsord-nung und deren Beziehung zu den nationalen Rechtsordnungen untersucht wer-den. Ich möchte diesen Prozess nachzeichnen, indem ich den „Top-down“-Charakter des klassischen Ansatzes der „Bottom-up“-Legitimation gegenüberstel-le, die für die Gestaltung und Entwicklung der europäischen Rechtsordnung ver-antwortlich zeichnet, und damit aufzeigen, inwieweit die unterschiedlichen An-sprüche auf die höchste Geltungskraft seitens des EU-Rechts sowie der nationalen Verfassungen auf den Inhalt des EU-Rechts und seine Beziehung zur politischen Souveränität der Staaten Einfluss nehmen. In einem nächsten Punkt werde ich mich einer vorwiegend theoretischen Analyse zuwenden, in der ich auf den pluralistischen Charakter des europäischen Konsti-tutionalismus eingehen werde, der uns dazu auffordert, ein neues Rechtsverständ-nis anzunehmen. Dieses neue Verständnis werde ich als „Contrapunctual Law“ bzw. „kontrapunktisches Rechtsverständnis“ bezeichnen. Des Weiteren werde ich mich mit jenen Rahmenprinzipien befassen, mit deren Hilfe der Verfassungsplu-ralismus in Europa gewahrt und weiterentwickelt werden kann. Abschließend erfolgt eine Auseinandersetzung mit der Frage, inwieweit diese Konzeption Aus-wirkungen auf einige der im Moment aktuellen verfassungsrechtlichen Fragen innerhalb der Europäischen Union zeigt.

II. Die Frage der höchsten und originären Geltungskraft: zwei Erklärungsansätze

Nehmen wir das Unmögliche an, dass ein Außerirdischer auf der Erde landen sollte und sich für die Beziehung des europäischen Rechts zum nationalen Recht interessieren würde. Seine Beobachtungen würden erheblich variieren, abhängig davon, ob er im Europäischen Gerichtshof oder in einem der nationalen Verfas-sungsgerichte landen würde. Wenn man sich ausschließlich mit den Äußerungen

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des Europäischen Gerichtshofs zur Frage der Beziehung des europäischen Rechts zum nationalen Recht beschäftigt, erkennt man, dass dieser keinerlei Zweifel am uneingeschränkten Vorrang des europäischen Rechts hegt. Wenn unser Außerirdischer nun leidenschaftlicher Wissenschaftler wäre, könnte er in zahlreichen Europarechtslehrbüchern unter dem Stichwort der Übernahme europäischen Rechts in die nationalen Rechtsordnungen eine eindeutige Bestäti-gung dieses Vorrangs finden: Das EU-Recht genießt Vorrang vor nationalem Recht und ist in diesem Sinne von den nationalen Gerichten anzuwenden. Die Beachtung höherrangigen EU-Rechts durch die nationale Judikative ist die Regel, Ausnahmen sind selten und lassen keinen Rückschluss darauf zu, dass die Legi-timation des Gemeinschaftsrechts nach wie vor vom nationalen Recht abhängig wäre. Freilich wäre es auch möglich, den Vorrang und die einheitliche Anwendung des EU-Rechts zu erklären, ohne die traditionelle Konzeption der Souveränität und ihren Stellenwert im Staat in Frage zu stellen. Wie Bruno de Witte eindrucksvoll demonstriert hat, wäre es sogar möglich, die als Eckpfeiler der Konstitutionalisie-rung des Gemeinschaftsrechts eingestuften Prinzipien des Vorrangs und der un-mittelbaren Anwendbarkeit weiter zu entwickeln und allgemein anzuwenden, ohne dabei den völkerrechtlichen Charakter der Verträge und der Gemeinschafts-bestimmungen substantiell zu verändern.2 Schließlich finden sich auch andere Beispiele, wo völkerrechtliche Bestimmungen direkte Wirkung und Vorrangstel-lung genießen, ohne dadurch notwendigerweise die höchste Geltungskraft der nationalen Verfassungen in Frage zu stellen. Im Gegenteil, oft sind es gerade die Verfassungen, die den völkerrechtlichen Bestimmungen diese Stellung einräu-men. Selbst wenn der Anspruch auf höchste Geltungskraft seitens der völker-rechtlichen Normen auf monistischen Theorien des Vorrangs des Völkerrechts beruht, ist dieser Vorrang nicht als Infragestellung nationaler Verfassungssouve-ränität zu werten, nachdem dieser mit einer vorangehenden Selbstverpflichtung der Staaten entsprechend dem Grundsatz pacta sunt servanda verbunden ist. In diesem Fall stellen die völkerrechtlichen Beispiele einer geteilten, gepoolten oder sogar begrenzten staatlichen Souveränität ebendiese nicht wirklich in Frage, weil die Ausübung von Souveränität von den Staaten delegiert wurde und zudem klar und strikt durch das Mandat der Delegation begrenzt wird. Allerdings wird dieser Ansatz vom Europäischen Gerichtshof nicht anerkannt und erscheint auch nicht kompatibel mit der Rechtsnatur und dem Umfang des Autoritätsanspruches sei-tens des EU-Rechts und der europäischen politischen Gemeinschaft. Der Ge-richtshof sieht die Grundlage der direkten Wirkung und des Vorrangs des Ge-meinschaftsrechts in einer unmittelbaren Beziehung zwischen dem Gemein-schaftsrecht und den Völkern Europas. Die grundlegende Entscheidung des Ge-richtshofes in der Rechtsache Van Gend en Loos ist die Erklärung der Unabhän-

2 B. de Witte, Direct Effect, Supremacy and the Nature of the Legal Order, in: Craig and de Burca (Hrsg.), The

Evolution of EU Law, Oxford University Press, 1999, S. 181 sowie 209.

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6 EuR – Heft 1 – 2007 Maduro, Der Kontrapunkt im Dienste eines europäischen Verfassungspluralismus

gigkeit des EU-Rechts von der Autorität der Mitgliedstaaten. Die Verträge sind wesentlich mehr als nur Übereinkommen zwischen Staaten; sie sind als Überein-kommen zwischen den Völkern Europas einzustufen und etablieren so eine un-mittelbare Beziehung zwischen dem EU-Recht und diesen Völkern.3 Dies ent-spricht dem Anspruch auf unabhängige politische und rechtliche Geltungskraft, was bedeutet, dass die Europäischen Gemeinschaften – in den Worten des Ge-richtshofes – mit souveränen Rechten ausgestattet sind.4 Freilich ist dieser Souve-ränitätsanspruch nicht ohne weiteres kompatibel mit einer gleichzeitigen Achtung staatlicher Souveränität und einer Beibehaltung des tradierten Souveränitätsver-ständnisses, denn dieses basiert auf der Unteilbarkeit der Souveränität, die zwar in ihrem Umfang eingeschränkt werden kann, deren Charakter als höchste Gel-tungskraft bzw. als einzige Quelle der Herrschaftsmacht (traditionell der Staat) aber nicht in Zweifel gezogen werden darf. In diesem Zusammenhang erscheint es klar, dass immer wieder Stimmen gegen die Autonomie des europäischen Rechts erhoben werden. Selbst wenn die EU die staatliche Souveränität in Folge der Übertragung souveräner Rechte seitens der Staaten einzuschränken vermag, so erscheint es doch abwegig, dass sie Anspruch auf eine eigene unabhängige Souveränität als Gegenpol zur staatlichen Souveränität erheben könnte. Aber die Realität zeigte bald, dass die europäische Rechtsordnung sehr wohl Anspruch auf eine unabhängige politische und rechtliche Souveränität erhob, was in der Folge zur Annahme von unionsrechtlichen Befugnissen führte, die über die ausdrücklich von den Staaten übertragenen Befugnisse hinausgingen. Dieser konkurrierende Anspruch machte in Folge eine Neugestaltung des Souveränitätsverständnisses erforderlich, welches über die bereits vorgestellten Modelle einer geteilten, ge-poolten oder begrenzten Souveränität hinausgeht und im Folgenden unter dem Begriff der konkurrierenden Souveränitäten vorgestellt werden soll. Kehren wir nun an den Ausgangspunkt meines Gedankenganges zurück und nehmen an, dass unser Außerirdischer in einem nationalen Verfassungsgericht landet. Er oder sie würde nach wie vor keine Zweifel an der Existenz einer höchs-ten Geltungskraft hegen, aber in diesem Fall läge diese in den Händen der natio-nalen Verfassungen. Aus dieser Perspektive beruht die Anwendung des EU-Rechts durch die nationalen Gerichte nach dem Vorrangsprinzip auf der Gel-tungskraft, die diesem von den nationalen Verfassungen oder anderen nationalen Rechtsakten ähnlicher Autorität zugesprochen wird. Dem EU-Recht kann hier-nach selbst eine Vorrangstellung vor nationalen Verfassungsbestimmungen einge-räumt werden, soweit die vom nationalen Verfassungsrecht vorgesehenen Bedin-gungen erfüllt werden. Die Beurteilung, ob diese Übereinstimmung gegeben ist oder sich das EU-Recht dem nationalen Verfassungsrecht beugen muss, obliegt den nationalen Verfassungsgerichten. Diese sind demnach die höchste gerichtli-che Instanz in der Entscheidung von Konflikten zwischen der europäischen und

3 EuGH, Rs. 26/62, Van Gend & Loos/Niederländische Finanzverwaltung, Slg. 1963, 3. 4 Ibid.

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den nationalen Rechtsordnungen. Damit obliegt den nationalen Verfassungen einerseits die Aufgabe, den Vorrang des EU-Rechts gegenüber dem allgemeinen nationalen Recht sicherzustellen, andererseits legen sie aber auch die Vorausset-zungen für diesen Vorrang fest und nehmen für sich die letztverbindliche Ent-scheidungsmacht in Anspruch. Nach Ansicht zahlreicher staatsorientierter Verfassungsjuristen kann es zu gar keinem Konflikt in der Frage der verfassungsrechtlichen Geltungskraft kommen, da das EU-Recht keine verfassungsgebende Gewalt kennt. Selbst wenn dieses über einzelne Governance-Formen verfügt, so bedeutet dies keineswegs die Zuer-kennung verfassungsgebender Gewalt, die der nationalen verfassungsgebenden Gewalt entgegengesetzt werden könnte. Der Grund dafür liegt darin, dass es bis-lang auf Unionsebene zu keiner Ausübung einer originären verfassungsgebenden Gewalt (pouvoir constituant) gekommen ist, nachdem der europäische Konstituti-onalismus nicht die dafür notwendigen Voraussetzungen erfüllt, beispielsweise über keinen Demos verfügt, welcher eine solche Ausübung eines pouvoir consti-tuant auf Unionsebene ermöglichen würde.5 Zudem ist strittig, ob es eine konkur-rierende Ausübung eines pouvoir constituant sowohl durch die Europäische Uni-on als auch die Nationalstaaten geben kann, nachdem diese Möglichkeit die Idee einer höchsten Geltungskraft und deren Grundlage im traditionellen Souveräni-tätsverständnis in Frage stellen würde. Die Reaktion des nationalen Konstitutionalismus auf den Anspruch des europäi-schen Konstitutionalismus auf die höchste Geltungskraft ist bereits Gegenstand zahlreicher Untersuchungen.6 Es finden sich auf nationaler Ebene zwei unter-schiedliche Formen der Auseinandersetzung mit diesem Anspruch.

1. Verfassungsgemäße Ratifizierung durch die Mitgliedstaaten

Sämtliche nationale Rechtsordnungen verlangen eine Ratifizierung von völker-rechtlichen Verträgen. In denjenigen nationalen Rechtssystemen, die eine Präven-tivkontrolle von völkerrechtlichen Verträgen kennen, kann jede Ratifizierung eines EU-Vertrages einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle unterzogen werden, um dessen Vereinbarkeit mit der nationalen Verfassung zu überprüfen. Doch auch in jenen Systemen, die diese Art der Kontrolle nicht kennen, ist es üblich, im Zuge des Ratifizierungsprozesses die EU-Verträge im Rahmen der politischen

5 Vgl. dazu die Ausführungen im Schlussteil dieses Kapitels. 6 Insbesondere sind dabei die Untersuchungen mit einem allgemeinen oder vergleichenden Ansatz zu erwäh-

nen: A.M. Slaughter, A. Stone and J.H.H. Weiler, The European Courts and National Courts – Doctrine and Jurisprudence, Oxford Hart Publishing, 1998; M. Volcansek, Judicial Politics in Europe, New York, Peter Lang, 1986; B. de Witte, Direct Effect, Supremacy and the Nature of the Legal Order (Fn. 2); C. Grewe und H. Ruiz Fabri, Droits Constitutionnels européens, Paris, PUF, 1995; ders., Establishing the Supremacy of European Law: The Making of an International Rule of Law in Europe, Oxford, Oxford University Press, 2001.

Siehe auch die Fallsammlung bei A. Oppenheimer (Hrsg.), The Relationship Between European Community Law and National Law: the Cases, Cambridge, CUP, 1994.

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8 EuR – Heft 1 – 2007 Maduro, Der Kontrapunkt im Dienste eines europäischen Verfassungspluralismus

Debatte auf ihre Kompatibilität mit der nationalen Verfassung zu überprüfen, oder wie es im Fall des Beitritts Großbritanniens zu den Europäischen Gemein-schaften gehandhabt wurde, einen eigenen nationalen Rechtsakt zu erlassen, der als Instrument der verfassungsrechtlichen Validität und Inkorporation diente. An Hand dieser Beispiele zeigt sich, dass die Übertragung von nationalstaatlichen Souveränitätsrechten auf die EU lediglich unter der Voraussetzung zulässig ist, dass die Grenzen der übertragenen Rechte klar definiert sind und die Übertragung insbesondere auch mit den verfahrensrechtlichen Prinzipien und materiellen Wer-ten der nationalen Verfassung kompatibel ist. Die Voraussetzungen einer solchen Kompatibilität können entweder explizit im Verfassungstext geregelt sein oder sich aus der Verpflichtung ergeben, jede verfassungsrechtliche Änderung der EU im Sinne einer Vertragsrevision einer verfassungsgemäßen Ratifizierung zu un-terziehen.7 Selbst wo spezielle Verfassungsbestimmungen die Übertragung von Souveränitätsrechten ermöglichen, ist dies nicht automatisch als Derogation zu verstehen. Mit Ausnahme des Falles, dass die nationale Verfassung den Unions-bestimmungen im Stufenbau der Rechtsordnung einen über dem nationalen Ver-fassungsrecht stehenden Rang zuschreibt,8 muss die Übertragung von Souveräni-tätsrechten stets in Übereinstimmung mit den jeweiligen prozeduralen und mate-riellen Bedingungen hinsichtlich Inhalt und Art der Übertragung9 sowie anderen verfassungsrechtlichen Werten und Normen erfolgen.10 Aus dem Erfordernis der nationalen verfassungsgemäßen Ratifizierung ergibt sich, dass der Geltungsanspruch des EU-Rechts aus Sicht des nationalen Konsti-tutionalismus lediglich insoweit gerechtfertigt erscheint, als er mit der nationalen Verfassungsidentität vereinbar ist. Jeder neue und weitergehende unionsrechtliche Geltungsanspruch muss erneut von den nationalen Verfassungen gebilligt werden, womit klar zum Ausdruck kommt, dass der Geltungsanspruch des EU-Rechts letztlich von den nationalen Verfassungen abhängt.11 Dieser Anspruch auf höchs-te Geltungskraft seitens der nationalen Verfassungen erscheint jedoch auch mit einem System kompatibel, das den Vorrang (selbst in Hinblick auf Verfassungs-recht) des EU-Rechts insoweit anerkennt, als sich dieses aus einem Vertrag ablei-tet, der zuvor die Prüfung des nationalen verfassungsgemäßen Ratifizierungsver-

7 Beispiele entsprechender Verfassungsbestimmungen: Italien (Art. 11 und dessen Auslegung durch den Ita-

lienischen Verfassungsgerichtshof in: Frontini, Entscheidung 183 vom 27.Dezember 1973); Spanien (Art. 93 ff); Belgien (Art. 34); Deutschland (Art. 23); Dänemark (Art. 20); Portugal (Art. 7); Niederlande (Art. 92).

8 Dies ist der Fall in den Niederlanden. Zu einer umfassenden Untersuchung dieser Rechtslage und möglichen Problemen vgl. Claes und de Witte, Report on the Netherlands, in: Slaughter, Stone and Weiler (Fn. 6).

9 In einigen Staaten ist es Voraussetzung, dass die Übertragung klar begrenzt und bestimmbar ist. So etwa in Dänemark (Art. 20); Schweden (Art. 5); Österreich (Art. 92); Belgien (Art. 25).

10 Vgl. die französischen, deutschen und spanischen Maastricht Entscheidungen: Entscheidung vom 2. Septem-ber 1992 des Conseil Constitutionnel; Entscheidung vom 12. Oktober 1993 des Bundesverfassungsgerichtes; Entscheidung 1236 vom 1. Juli 1992 des Tribunal Constitucional.

11 In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob es tatsächlich das EU-Recht ist, welches von den nationa-len Verfassungsänderungen abhängt oder ob es nicht vielmehr die nationalen Verfassungen sind, die geändert werden müssen, um dem EU-Recht zu entsprechen? Vgl. dazu F. Pires, Competência das Competências: Competente mas sem Competências?, in: Revista da Legislação e Jurisprudência, (1998) n˚ 3885, S. 356.

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fahrens bestanden hat. In diesem Sinne ließe sich sogar eine Einordnung des EU-Rechts über dem nationalen Verfassungsrecht rechtfertigen, solange auf nationa-ler Ebene die Notwendigkeit der Ratifizierung aufrecht bleibt.12 Daneben gibt es freilich auch Verfassungen, die die höchste Geltungskraft des Unionsrechts noch wesentlich stärker in Frage stellen, indem sie etwa eine Nor-menkontrolle für EU-Rechtsakte generell für rechtmäßig erklären.

2. Überprüfung von EU-Recht an nationalem Verfassungsrecht

Hier ist vorweg zu unterscheiden zwischen Staaten, die Mechanismen zur verfas-sungsgerichtlichen Überprüfung kennen und solchen, denen diese Mechanismen unbekannt sind. In letzterem Fall können Konflikte zwischen nationalen Verfas-sungen (im formellen oder auch materiellen Sinn) und dem europäischen Konsti-tutionalismus nur im Zusammenhang mit der Ratifizierung der Verträge zu Tage treten. Die politischen und rechtlichen Prozesse der nationalen Vertragsratifizie-rung sind in diesem Fall die einzigen Mechanismen einer Verfassungskontrolle, wodurch sich die Wahrscheinlichkeit eines Konfliktes wesentlich verringert. In jenen Staaten, die zwar über Mechanismen der verfassungsgerichtlichen Kontrol-le verfügen, diese Verfahren aber keinem einheitlichen Muster folgen, stellt sich die Situation bereits komplexer dar. In anderen Fällen werden potentielle Kollisi-onen dadurch vermieden, dass den EU-Bestimmungen ein Vorrang vor dem nati-onalen Verfassungsrecht zugesprochen wird.13 In anderen Fällen wiederum hängt die Wahrscheinlichkeit einer Kollision von der Art der Kontrollmechanismen ab (ex-ante, ex-post, generell oder einzelfallbezogen), die für die Prüfung der Ver-fassungsmäßigkeit von Rechtsnormen (einschließlich EU-Bestimmungen) zur Verfügung stehen. Wo keine Möglichkeit einer verfassungsgerichtlichen Über-prüfung ex-post besteht, ist die Wahrscheinlichkeit einer Kollision zwischen EU-

12 Dies ist insbesondere in den Niederlanden der Fall, wo den EU-Bestimmungen (ebenso wie jeder völkerrecht-

lichen Norm mit self-executing Charakter) generell ein Stellenwert über den nationalen Verfassungsbestim-mungen eingeräumt wird. Zudem ist die Übertragung von Souveränitätsrechten auf die EU ausdrücklich vor-gesehen. Die Einhaltung bestimmter Verfahren, die in der niederländischen Verfassung festgelegt sind, bleibt jedoch stets Voraussetzung, wodurch die höchste verfassungsrechtliche Geltungskraft nach wie vor in den Händen der niederländischen Verfassung verbleibt und letztere weiterhin in der Lage ist, die Spielregeln für die Beziehung zum europäischen Recht zu ändern.

13 Dies ist der Fall in den Niederlanden (Artikel 60 bis 67), sowie in Irland (Art. 29 Abs. 3 und European Com-munities Act 1972), seit der Entscheidung des Irish Supreme Court in der Rechtssache Grogan (Society for the Protection of the Unborn Child versus Grogan [1997] IESC 4; [1989] IR 753 (6. März 1997). Auch in Groß-britannien scheint dies de facto in Hinblick auf dessen materielle Verfassung zuzutreffen. Lange Zeit wurde versucht, einen Ausgleich zwischen dem Vorrang des europäischen Rechts und der Souveränität des Parla-ments mit Hilfe einer Fiktion herzustellen, indem sämtliche Rechtsakte des Parlaments dergestalt ausgelegt wurden, dass sie dem EU-Recht entsprachen und das Parlament selbst diese Entscheidung traf. Allerdings wird es von Tag zu Tag schwieriger, diese Fiktion aufrechtzuerhalten. Der Rechtsfall Factortame (R versus Secretary of State for Transport, ex parte Factortame Ltd. [1991] 1 AC 603) ist ein aussagekräftiges Beispiel dafür, dass die britische Justiz den Vorrang des EU-Rechts selbst hinsichtlich der materiellen britischen Ver-fassung anerkennt. Dennoch wird nach wie vor auf die Möglichkeit verwiesen, dass das britische Parlament das EU-Recht verwerfen und einem parlamentarischen Rechtsakt Vorrang zusprechen kann. Dadurch wäre seine letztverbindliche Entscheidungsmacht wiederhergestellt.

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Rechtsakten (außerhalb der Verträge) und den nationalen Verfassungen als relativ gering einzuschätzen.14 Wo die Systeme verfassungsgerichtlicher Kontrolle besser ausgebildet sind, be-steht die Schlüsselfrage in der Bereitschaft der nationalen Verfassungsgerichte zur Überprüfung der Verfassungskonformität der EU-Rechtsakte. Trotz einzelner „Drohungen“ scheint diese Bereitschaft relativ schwach ausgeprägt zu sein. Eines der ersten und aktivsten Verfassungsgerichte in dieser Hinsicht war bzw. ist das deutsche Bundesverfassungsgericht. Dieses hat eine Theorie entwickelt, die zwar eine Verfassungskontrolle vorsieht, gleichzeitig aber auch Kollisionen zu verhin-dern versucht, indem in der Praxis im Allgemeinen keine einzelnen Unionsrechts-akte überprüft werden. Damit beugt sich diese Kontrollmöglichkeit in der Regel dem Anspruch des EU-Rechts auf höchste Geltungskraft. Darin besteht meiner Meinung nach der besondere Verdienst der „Solange-Doktrin“, welche ursprüng-lich vom deutschen Bundesverfassungsgericht entwickelt wurde, um sich mit potentiellen Kollisionen zwischen Gemeinschaftsbestimmungen und dem deut-schen Grundgesetz auseinanderzusetzen. In seiner ersten Entscheidung stellte das deutsche Bundesverfassungsgericht fest, dass es angesichts eines fehlenden Grundrechtsschutzes in den Europäischen Gemeinschaften die Gemeinschafts-rechtsakte auf deren Vereinbarkeit mit dem deutschen Grundgesetz überprüfen werde.15 Nach der Feststellung des Europäischen Gerichtshofs, dass die Grund-rechte Bestandteil der allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts sind, anhand derer er die Gültigkeit der Gemeinschaftsrechtsakte überprüfte, än-derte das deutsche Bundesverfassungsgericht seine Haltung in der „Solange-II-Entscheidung“. Darin stellte es fest, dass es seine Gerichtsbarkeit solange ausset-zen würde, als der Europäische Gerichtshof einen wirksamen Schutz der Grund-rechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften gewährleistet.16 Das Hauptaugenmerk in dieser Aussage liegt auf dem Begriff „aussetzen“, denn das deutsche Bundesverfassungsgericht hält nach wie vor an seiner grundsätzlichen Zuständigkeit zur Überprüfung fest, bemüht sich aber gleichzeitig, Kollisionen zu verhindern, indem es sich in der Ausübung seiner Jurisdiktion zurücknimmt, so-lange das EU-Recht mit den Grundsätzen des deutschen Grundgesetzes konform geht. Die „Maastricht-Entscheidung“ des deutschen Gerichts weckte erneut Ängs-te, dass dieses seine Jurisdiktion über EU-Rechtsakte wieder aufnehmen könnte, obgleich neuere Entscheidungen die „Solange-Doktrin“ weiterhin als die vorran-

14 Aber selbst in diesem Falle bietet sich die Möglichkeit, wie etwa in Frankreich, dass Vorschläge für EU-

Rechtsakte von der nationalen Regierung erst dem nationalen Parlament vorgelegt werden müssen und dabei möglicherweise einer verfassungsrechtlichen Kontrolle unterzogen werden können. Vgl. J. Plotner, Report on France, in: Slaughter, Stone und Weiler (Fn. 6), S. 53.

15 BVerfGE 37, 271 ff. 16 BVerfGE 73, 339 ff.

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gige Theorie des deutschen Bundesverfassungsgerichts in seiner Beziehung zum EU-Recht zu werten scheinen.17 Damit kann eine solche Doktrin zu einer einheitlichen Anwendung des EU-Rechts beitragen und gleichzeitig die nationale verfassungsgerichtliche Kontrolle über diesen Rechtsbereich sicherstellen.18 Was würde aber passieren, wenn ein nationales Verfassungsgericht zum Schluss käme, dass die Rechtsordnung der EU den Grundprinzipien seiner eigenen nationalen Verfassung nicht mehr entspricht? Es gäbe zwei mögliche Ansätze: Das nationale Verfassungsgericht könnte erneut die einzelnen EU-Rechtsakte auf deren Übereinstimmung mit der nationalen Ver-fassung überprüfen, was der praktischen Ausübung der Jurisdiktion gleichkäme, die bislang nur in der Theorie beansprucht wurde; oder aber das nationale Verfas-sungsgericht könnte eine Bedrohung der nationalen Verfassungsidentität feststel-len und folglich entweder eine Verfassungsrevision verlangen oder den Rückzug des Staates aus der Europäischen Union anstreben. Die favorisierte Position hängt wesentlich von den jeweiligen nationalen Verfassungsbestimmungen ab, die diese Fragen regeln. Die Position des deutschen Bundesverfassungsgerichts scheint erstere zu sein: Im Falle einer solchen Verfassungskollision würde es erneut die Ausübung der Jurisdiktion in Anspruch nehmen. Andere Verfassungsgerichte haben sich für ein härteres Vorgehen entschieden.19 Sie sehen nach wie vor die Möglichkeit einer Fall zu Fall Überprüfung von Uni-onsrechtsakten vor, so etwa der italienische Verfassungsgerichtshof20 und mit aktuelleren Entscheidungen der Belgische Cour d’arbitrage.21 Nichtsdestotrotz respektieren die nationalen Gerichte grundsätzlich auch in diesen Fällen das EU-Recht und akzeptieren – zumindest teilweise – seinen Geltungsanspruch gegen-über nationalem Verfassungsrecht. Sie überprüfen EU-Rechtsakte nur im Falle einer Kollision mit den Grundprinzipien der Verfassung und nicht mit jeder sons-tigen Verfassungsbestimmung. Die Haltung dieser nationalen Gerichte weist inso-fern Ähnlichkeiten mit dem deutschen Bundesverfassungsgericht auf, als auch ihr Ziel im Schutz des Kernbereiches der nationalen Verfassung besteht und nicht in der Überprüfung sämtlicher EU-Rechtsakte.

17 BVerfGE 89, 155 ff.: Eine neuere Entscheidung im Sinne der „Solange-II-Entscheidung“ ist die Entscheidung

des Bundesverfassungsgerichtes vom 7. Juni 2000 in der Frage, ob die Verordnung des Rates zur gemeinsa-men Marktorganisation für Bananen mit dem deutschen Grundgesetz vereinbar ist – BVerfGE, 2 BvL 1/97.

18 Selbst die britische Doktrin kann in diesem Sinne verstanden werden: selbst wenn diese nach wie vor die Möglichkeit des Parlaments vorsieht, dem EU Recht widersprechende Rechtsakte zu erlassen, so könnte dies dahingehend verstanden werden, dass das Parlament nur dann davon Gebrauch machen würde, wenn die ver-fassungsrechtliche Identität Großbritanniens geschützt werden muss.

19 Andere wieder setzen sich mit der Frage einer etwaigen nationalen verfassungsgerichtlichen Überprüfung von EU-Rechtsakten gar nicht auseinander.

20 Entscheidung 170, Granital vom 8. Juni 1984 sowie weitere Entscheidungen, insbesondere Entscheidung 232/89, Spa Fragd v. Amministrazione delle Finanze vom 21. April 1989.

21 Entscheidung 12/94, Ecoles Européenes vom 3. Februar 1994 (Moniteur Belge 1994) para B. 4-5. Siehe auch die Entscheidung des dänischen Obersten Gerichtshofes zum Maastricht-Vertrag (Entscheidung vom 6. April 1998 in der Rechtssache I 361/1997.

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12 EuR – Heft 1 – 2007 Maduro, Der Kontrapunkt im Dienste eines europäischen Verfassungspluralismus

In diesem Licht erscheint die Möglichkeit der nationalen verfassungsgerichtlichen Kontrolle des EU-Rechts vornehmlich als Weiterentwicklung und Ausbau der Idee, die dem Erfordernis nationaler verfassungsgemäßer Ratifizierung zu Grunde liegt: Dem Schutz der nationalen Verfassungsidentität. Der nächste Abschnitt widmet sich einer Untersuchung der „Vetomacht“, die das nationale Recht nach wie vor gegenüber dem EU-Recht aufrecht erhält22 bzw. der Frage nach der Funktionsweise des europäischen Verfassungspluralismus in der Praxis und seinen Auswirkungen auf den Charakter des unionseuropäischen Ver-fassungsrechts.

III. Der Einfluss des Verfassungspluralismus auf die Rechtsnatur der europäischen Rechtsordnung

„Tucked away in the fairyland Duchy of Luxemburg and blessed, until re-cently, with benign neglect by the powers that be and the mass media, the Court of Justice of the European Communities has fashioned a constitutional framework for a federal-type structure in Europe”.23

So liest sich einer der berühmtesten Sätze in der europäischen Rechtsliteratur, der beschreibt, wie der Europäische Gerichtshof das Gemeinschaftsrecht in eine ei-genständige Rechtsordnung24 umformte und diese an die Spitze der neu definier-ten Normenhierarchie vor die nationalen Rechtsordnungen setzte. Eric Steins gelungene Beschreibung der Rolle des Gerichtshofes beinhaltet viel Wahres, gleichzeitig läuft sie aber auch Gefahr, ein falsches Bild davon zu vermitteln, wie die Herausbildung einer neuen, Vorrang beanspruchenden Rechtsordnung in Eu-ropa möglich war. Obwohl der Europäische Gerichtshof zweifellos von seinem „Exil“ in Luxemburg, abseits von den Zentren der Macht und der Massenmedien, profitierte, erweckt das Zitat Steins den Eindruck, dass der Gerichtshof diese neue Rechtsordnung in völliger Eigenständigkeit und Isolation entwickelt hat, was jedoch keineswegs der Fall war. Tatsächlich erfolgte die Entwicklung der europä-ischen Rechtsordnung in Kooperation mit zahlreichen Akteuren, was man als Formierung einer europäischen Rechtsgemeinschaft bezeichnen könnte. Es war diese Gemeinschaft, die den Gerichtshof ermächtigte und die Schaffung einer neuen supranationalen oder föderalen Rechtsordnung legitimierte. Aber gleichzei-tig nahm sie auch massiven Einfluss auf den Inhalt der Rechtsordnung und kon-trollierte bzw. begrenzte zum Teil auch deren Vorrangstellung. Meist wird in diesem Zusammenhang von der Entwicklung einer autonomen Rechtsordnung gesprochen, welche über eine Vorrangstellung und direkte Wir-

22 D. Chalmers, Judicial Preferences and the Community Legal Order, in: Modern Law Review, 60, 1997,

S. 164 ff, 180. 23 E. Stein, Lawyers, Judges and the Making of a Transnational Constitution, in: American Journal of Interna-

tional Law, 75, 1981, S. 1. 24 EuGH, Rs. 6/64, Costa/Enel, Slg. 1964, 1251 ff.; des weiteren EuGH, Rs. 26/62, Van Gend & Loos/

Niederländische Finanzverwaltung, Slg. 1963, 1 ff. sowie EuGH, Rs. 14/68 (Walt Wilhelm), Slg. 1969, 1 ff.

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kung gegenüber den nationalen Rechtsordnungen verfügt. Die Betonung liegt dabei auf der Konstitutionalisierung dieser Rechtsordnung (im Sinne einer autar-ken Rechtsnatur) sowie ihrer föderalen Architektur in Bezug auf die nationalen Rechtsordnungen. Dieses System ist eingebettet in ein rechtliches Rahmenwerk, das auf folgenden Grundprinzipien beruht: Vorrangstellung, direkte Wirkung, Grundrechte, Rechtsschutzsystem sowie vertikale und horizontale Gewaltentei-lung.25 Der Europäische Gerichtshof selbst hat mehrfach auf diese „Top-down“-Konzeption des EU-Rechts und seine Beziehung zu den nationalen Rechtsord-nungen hingewiesen und folgte damit großteils der Notwendigkeit, seine Ent-scheidungsmacht und die Geltungskraft des EU-Rechts in Übereinstimmung mit dem klassischen Rechtsverständnis zu etablieren. Innerhalb der allgemein aner-kannten Normenhierarchie findet sich von jeher eine „Grundnorm“, eine „Rule of recognition“ oder positiviertes Naturrecht, welches als das „höhere Recht“ inner-halb eines Rechtssystems verstanden wird: Es bildet den Maßstab für alle anderen Rechtsnormen. Daher war es ein Anliegen des Gerichtshofes, die unionseuropäi-sche Rechtsordnung diesem Modell entsprechend auszugestalten. Das Primärrecht der EU wird als das „höhere“ Recht der Union angesehen,26 von dem sich die sekundärrechtlichen Bestimmungen und Entscheidungen ebenso wie alle nationa-len Bestimmungen und Entscheidungen, welche innerhalb des Anwendungsberei-ches des EU-Rechts getroffen werden, ableiten. Zudem fungiert der Europäische Gerichtshof als das oberste Gericht in diesem Rechtssystem und verfügt dement-sprechend auch über das Monopol zur Auslegung der Rechtsnormen. Ausschlaggebend für den Erfolg dieser europäischen Rechtsordnung war aller-dings die Kooperation zwischen dem Gerichtshof und den zahlreichen Akteuren auf nationaler Ebene, insbesondere den nationalen Gerichten. Dadurch förderte der Gerichtshof nicht zuletzt auch eine gewisse „Subjektivierung“ der Verträge, indem diese nicht mehr lediglich als Abkommen zwischen Staaten verstanden wurden, sondern als Übereinkommen für die „Völker Europas“: Das Gemein-schaftsrecht richtet sich an die Individuen und versteht sich als neue Rechtsquelle, auf die sich die Prozessparteien berufen können. Man könnte in Übereinstimmung mit Anne-Marie Burley und Walter Mattli sagen: „The Court created a pro-Com-munity constituency of private individuals by giving them a direct stake in prom-ulgation and implementation of Community Law“.27

25 Für eine detailliertere Untersuchung vgl. beispielsweise K. Lenaerts, Constitutionalism and the Many Faces of

Federalism, in: American Journal of Comparative Law, 38 (1990), S. 205-263; G.F. Mancini, The Making of a Constitution for Europe, in: Common Market Law Review, 26 (1989), S. 595-614; E. Stein, Giuristi, Giudici e la creazione di una Costituzione Transnationale, in: Un nuovo diritto per l’Europa, Milano, Giuffre, 1991 oder derselbe Autor in englischer Fassung: Lawyers, Judges and the Making of a Transnational Constitution, in: American Journal of International Law, (1981), S. 1 ff.

26 Man könnte sogar noch weitergehen und auch innerhalb des Primärrechts eine Hierarchie einführen; aller-dings möchte ich auf diese Diskussion in der vorliegenden Arbeit nicht näher eingehen.

27 A. Burley and W. Mattli, Europe Before the Court: A Political Theory of Legal Integration, in: International Organization, 47 (1993), S. 41 ff., 521.

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Der Gerichtshof zeigt sich auch sehr aufgeschlossen gegenüber Fragen nationaler Gerichte und berief sich im Rahmen seiner innovativen Interpretation der Ge-meinschaftsbestimmungen wiederholt auf deren Entscheidungen. Im Zuge des Vorabentscheidungsverfahrens, in dem die nationalen Gerichte dem EuGH entscheidungserhebliche Vorfragen vorlegen und seine Entscheidungen dann umsetzen,28 wurde den Entscheidungen des EuGH dieselbe Geltungskraft zuer-kannt wie nationalen Gerichtsentscheidungen. Dadurch wurde eine Dynamik geschaffen, die Mary Volcansek charakterisierte als „a pattern of positive reinfor-cement for national courts seeking preliminary rulings“.29 Diese Dynamik förder-te die Kooperation und den judiziellen Dialog mit den nationalen Gerichten und trug zur Etablierung der Autonomie und Geltungskraft des Gemeinschaftsrechts bei. Die nationalen Gerichte sind für die effektive Umsetzung des EU-Rechts in den nationalen Rechtsordnungen verantwortlich, woraus sich eine bestimmte Abhängigkeit des EU-Rechts von den nationalen Gerichten und Prozessparteien ergibt. Das Bewusstsein dieser Macht ermöglicht diesen Akteuren wiederum einen wesentlichen Einfluss auf das EU-Recht selbst. Das Verhältnis zwischen den nationalen Gerichten und den Individuen auf der einen Seite und dem Euro-päischen Gerichtshof auf der anderen Seite entwickelte sich in Folge eher zu einer Diskussion als zu einem Diktat. Im Mittelpunkt des juristischen Diskurses steht die gegenseitige Beziehung zwischen einem Gerichtshof und anderen Akteuren mit eigenem Zuständigkeitsbereich und ähnlicher oder konkurrierender Interpre-tation des Rechts. Grundsätzlich kann dieser Diskurs einer letztinstanzlichen Ent-scheidungsmacht unterworfen sein. Inwieweit die europäische Rechtsordnung eine solche Hierarchie innerhalb des juristischen Diskurses kennt, ist hingegen fraglich. Dieser neu definierten Rechtsgemeinschaft können auch Akteure angehören, de-ren Vorstellungen von richterlicher Tätigkeit anders gewichtet sind als die der Gerichte. Die abschließende Zuteilung richterlicher und rechtlicher Ressourcen wird wie alles im Markt von einem Hauptfaktor bestimmt: Von der Nachfrage nach richterlicher Tätigkeit seitens der unterschiedlichen Akteure und dem Ange-bot derselben durch die Gerichte.30 Als anschauliches Beispiel für die Mitwirkung zahlreicher Akteure dieser breit gefächerten Gemeinschaft an der Ausgestaltung des EU-Rechts lässt sich die

28 Worin die Gründe für diese Bereitschaft der nationalen Gerichte liegen, ist freilich eine andere Frage. Vgl.

dazu J. Weiler, Journey to an Unknown Destination: A Retrospective and Prospective of the European Court of Justice in the Arena of Political Integration, in: Journal of Common Market Studies, 31 (1993), S. 417 ff., 423 ff.; Burley and Mattli, Europe Before the Court: A Politcal Theory of Legal Integration, in: International Organization 47 (1993), S. 60. J. Weiler, A Quiet Revolution: The European Court of Justice and Its Inter-locutors, in: Comparative Political Studies, 1994, S. 510 ff. und die Kapitel von K. Alter, Mattli und Slaughter und Alec Stone, in: Slaughter, Stone and Weiler (Fn. 6).

29 „The Court of Justice accepted all conceivable requests from national courts and invited wide participation“, M. Volcansek, Judicial Politics in Europe, New York, Lang, 1986, S. 265.

30 N. Komesar, Law’s Limits–The Rule of Law and the Supply and Demand of Rights, Cambridge and New York, CUP, 2001.

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„Sunday Trading Saga“ heranziehen. In dieser Angelegenheit baten britische Gerichte im Zuge des Vorabentscheidungsverfahrens den Europäischen Gerichts-hof um seine Beurteilung der Vereinbarkeit britischer Bestimmungen zum Verbot des Sonntagsverkaufs mit den Artikeln 30 und 36 (heute Artikel 28 und 30) EG-Vertrag. In diesen Fällen nutzten die nationalen Wirtschaftsakteure die Bestim-mungen zum freien Warenverkehr dazu, jene innerstaatlichen Rechtsnormen in Frage zu stellen, welche ihre Wirtschaftsfreiheit durch das Verbot des Sonntags-verkaufs einschränkten. Die Möglichkeit zu dieser Infragestellung ergab sich aus der traditionell sehr weiten Auslegung, die der Gerichtshof im Bereich einer Maßnahme gleicher Wirkung wie mengenmäßige Beschränkungen anzuwenden pflegte. In Folge nutzten die Wirtschaftsakteure diesen vom Gerichtshof vorgege-benen weiten Anwendungsbereich dazu, jede nationale Regelung des Marktes der Beurteilung hinsichtlich Erfordernis und Angemessenheit zu unterwerfen und gaben damit Anlass zu einer neuerlichen Abwägung von Argumenten im Rahmen von innerstaatlichen Politiken auf europäischer Ebene, selbst in Bereichen, wo der Freihandel zwischen den Staaten nicht unmittelbar betroffen war. Im Falle des „Sunday Trading“ überließ der Gerichtshof zunächst die Beurteilung der Not-wendigkeit und Angemessenheit den nationalen Gerichten, was im Endergebnis zu widersprüchlichen Entscheidungen führte. Eine differenziertere Untersuchung der Rechtsprechung des Gerichtshofs zum freien Warenverkehr,31 einschließlich der folgenden Entscheidung in „Keck und Mithouard“32 stellt klar, dass der vom Gerichtshof traditionell weit gefasste Anwendungsbereich des Artikel 28 nicht darauf abzielte, die Überprüfung jeglicher Marktregulierung zuzulassen. Das Ziel war nicht eine richterliche Konstruktion des Artikel 28 im Sinne einer „Due Pro-cess“-Klausel, mit deren Hilfe die staatliche Intervention im Markt kontrolliert werden sollte.33 Dennoch nutzten die Wirtschaftsakteure den breiten Anwen-dungsbereich des freien Warenverkehrs dazu, um praktisch jede Marktregulierung in Frage zu stellen. Die Fälle des „Sunday Trading“ sind demnach ein besonders anschauliches Beispiel für den Dialog zwischen dem Europäischen Gerichtshof und den nationalen Gerichten, in dem der Europäische Gerichtshof anfangs die Beurteilung der Notwendigkeit und Angemessenheit der nationalen Verbote des Sonntagsverkaufs den nationalen Gerichten überließ, woraufhin die erstinstanz-lichen britischen Gerichte aufgrund ihrer unterschiedlichen Beurteilung der Not-wendigkeit und Angemessenheit einander widersprechende Entscheidungen fäll-ten. Schließlich kam die Frage vor das House of Lords (zu dem Zeitpunkt gab es

31 Ders., Kapitel 3. 32 EuGH, verb. Rs. C-267/91 und Rs. C-268/91 (Keck und Mithouard), Slg. 1993, I-6097 ff. In dieser Entschei-

dung schränkte der Gerichtshof den Anwendungsbereich des Artikels 30 ein. Aber selbst diese Entscheidung hielt die Wirtschaftsteilnehmer nicht davon ab, neue Interpretationsmöglichkeiten zu suchen, die es ihnen er-möglichten, nationale, ihre Wirtschaftsfreiheit einschränkende Rechtsnormen auch dann in Frage zu stellen, wenn diese Maßnahmen keine Diskriminierung gegenüber ausländischen Produkten beinhalteten.

33 Vgl. M. Maduro, We The Court, The European Court of Justice and The European Economic Constitution, Oxford, Hart Publishing 1998, Kapitel 3.

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bereits weitere Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs zur Frage des Sonntagsverkaufs in Rechtsfällen, die von Gerichten anderer Mitgliedstaaten vorgelegt worden waren). Das House of Lords sah sich selbst nicht in der Lage, die widersprüchlichen Gerichtsentscheidungen mittels einer eigenen Entschei-dung über die Angemessenheit der Sonntagsverkaufsbestimmungen in Einklang zu bringen und verwies entgegen der ursprünglichen Intention des EuGH den Fall erneut an diesen.34 Das war eine klare Ansage an den Europäischen Gerichtshof – eine Verweigerung der Rolle, die dieser den britischen Gerichten zugedacht hatte. In seiner Antwort zog es der Gerichtshof der Einfachheit halber vor, die Zulässig-keit des Sonntagsverkaufsverbotes anzuerkennen35 und änderte damit seinen ur-sprünglich in dieser Frage verfolgten Ansatz. Dennoch hat der „Protest“ des Hou-se of Lords zumindest in der nachfolgenden Gerichtshofentscheidung in der Rechtssache „Keck und Mithouard“ eine Rolle gespielt,36 als dieser hier den An-wendungsbereich des freien Warenverkehrs einschränkte. Die „Sunday Trading Saga“ ist demnach ein besonders gutes Beispiel für den diskursiven Charakter des EU-Rechts und dessen starke Abhängigkeit von den Akteuren im gesellschaftlichen wie auch rechtlichen Bereich. Das Bewusstsein des zunehmenden Einflusses dieser Akteure auf die Entwicklung des EU-Rechts, die Sicherstellung seiner Legitimation sowie die sich daraus ergebenden Fragen sind unumgänglich für ein wirkliches Verständnis des EU-Rechts und seiner Funktionsweise. Dieser Einfluss lässt die genannten Akteure zu gleichwertigen Partnern des Europäischen Gerichtshofes in der Entwicklung des EU-Rechts wer-den.

IV. Sechs Auswirkungen des europäischen Verfassungspluralismus

Europas Verfassungspluralismus hat tiefgreifende praktische Folgen für die unter-schiedlichen Bereiche der europäischen Rechtsordnung und deren Auswirkung auf die politische und rechtliche Souveränität der Staaten. Für eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem europäischen Verfassungspluralismus muss man zumindest sechs Elemente in seine Überlegungen aufnehmen, die sich aus der Rechtsnatur des EU-Rechts, seiner Legitimation und Beziehung zum nationalen Recht und dem nationalen politischen Prozess ergeben.

1. Die Legitimation des EU-Rechts

Die Legitimation des EU Rechts findet sich in seiner „Bottom-up“-Struktur. Der Grund dafür liegt nicht nur in der „Vetomacht“ der nationalen Gerichte im Be-

34 Council of the City of Stoke-on-Trent and Norwich City Council v. B & Q, House of Lords, Order of 20/05/91. 35 EuGH, Rs. C-169/91 (B & Q), Slg. 1992, I-6635. 36 EuGH, verb. Rs. C-267/91 und Rs. C-268/91 (Keck und Mithouard), Slg. 1993, I-6097.

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reich der Durchführung und Effizienz des Gemeinschaftsrechts,37 sondern auch in der Mitwirkung der nationalen Gerichte und anderer Akteure an der Interpretation und Anwendung dieser Rechtsmaterie. Eine Vernachlässigung dieser Tatsache in der künftigen Entwicklung der unionseuropäischen Rechtsordnung würde eine Unterminierung der Grundlage seiner Legitimation und sozialen Akzeptanz be-deuten. Es waren die zahlreichen Akteure, insbesondere nationale Gerichte und Prozessparteien, die den Europäischen Gerichtshof dazu ermächtigt haben, das EU-Recht von seiner indirekten Legitimation durch den Staat zu „befreien“ und den Anspruch auf eine unabhängige rechtliche und politische Souveränität zu erheben.

2. Die Frage der Demokratie in der pluralistischen Legitimation des EU-Rechts

Unter der Annahme, dass sich die Legitimation des EU-Rechts auf eine Vielzahl von Akteuren, die die europäische Rechtsgemeinschaft konstituieren, gründet, muss die Frage der Mitsprache und Vertretung in dieser Gemeinschaft beantwor-tet werden. Die Judizialisierung der europäischen Integration stellt eine besondere Bürde für die Legitimation des EU-Rechts sowie die Rolle der Gerichte dar. Auch die Legitimation durch die Mechanismen der Mitsprache und Vertretung, die das Gerichtsverfahren den jeweiligen Prozessparteien gewährt, verlangt eine Analyse und Überprüfung ihrer demokratischen Struktur. Beide Bereiche müssen im Zuge der Interpretation und Anwendung des EU-Rechts ausgebaut und demokratisiert werden, um zu verhindern, dass das EU-Recht nur einem eingeschränkten Kreis gesellschaftlicher Akteure oder nationaler Gerichte zugänglich ist. Wir müssen uns auf die Zusammensetzung und Entwicklung der europäischen Rechtsgemein-schaft sowie eine mögliche Demokratisierung des juristischen und judiziellen Dialogs in der Europäischen Union konzentrieren, wenn wir die europäische Rechtsordnung ändern wollen.

3. Die Epistemologie des EU-Rechts

Eine differenzierte Auseinandersetzung mit der Rolle der nationalen Gerichte und anderer nationaler Akteure ist wesentlich für das Verständnis der Legitimation und Effizienz des Gemeinschaftsrechts sowie der Art und Weise, wie Letzteres vom Europäischen Gerichtshof weiterentwickelt wird. Aber sie ist in epistemolo-gischer Hinsicht für ein wirkliches Verständnis der Gemeinschaftsrechtsordnung ebenso unverzichtbar, denn diese ist nicht nur das Ergebnis einer Rechtsentwick-lung durch den Gerichtshof, sondern unterliegt auch dem Einfluss der nationalen Rechtsgemeinschaften. In der Einbeziehung dieser neu definierten Rechtsgemein-

37 Vgl. D. Chalmers, Judicial Preferences and the Community Legal Order, in: Modern Law Review 60, 1997,

S. 164 ff., 180.

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schaft liegt eine dritte Auswirkung des verfassungsrechtlichen Pluralismus, wes-wegen wir uns eingehender mit den nationalen europäischen Gerichten38 sowie deren Auslegung und Anwendung des EU-Rechts auseinandersetzen sollten. An-schauliche Beispiele für die Bedeutung der nationalen Gerichte sind jene Fälle, in denen diese den Schutz, den das EU-Recht im Falle einer horizontalen direkten Wirkung und Diskriminierung eines eigenen Staatsbürgers vorsieht, ausweite-ten.39

4. Kohärenz und Integrität im EU Recht

Die vierte Auswirkung ergibt sich daraus, dass das EU-Recht von einer breit ge-fächerten Rechtsgemeinschaft, die sich aus Akteuren aus den unterschiedlichen nationalen Rechtsordnungen zusammensetzt, mitgestaltet wird, wodurch die Ko-härenz und Einheitlichkeit der europäischen Rechtsordnung nur dadurch gewähr-leistet werden kann, dass ein Dialog auch zwischen den unterschiedlichen natio-nalen Gerichten stattfindet oder in einem weiteren Sinne zwischen den verschie-denen nationalen Rechtsgemeinschaften. Eine kohärente europäische Rechtsord-nung erfordert sowohl einen vertikalen judiziellen Dialog zwischen dem Europäi-schen Gerichtshof und den nationalen Gerichten, als auch einen horizontalen zwischen den einzelnen nationalen Gerichten.

5. Der Anwendungsbereich des EU-Rechts

Eine weitere Auswirkung zeigt sich darin, dass der Anwendungsbereich des EU- Rechts gleichermaßen von nationalen wie auch europäischen Fragen bestimmt wird. Für die nationalen Akteure bietet das EU-Recht – vereinfacht gesagt – eine neue Argumentationsquelle, die in jedem, ihre eigenen Interessen tangierenden Konflikt zur Anwendung gelangen kann. Am Beispiel des Sonntagsverkaufs zeig-te sich deutlich, wie es den nationalen Wirtschaftsakteuren möglich war, die in-nerstaatlichen Regelungen mittels des EU-Rechts in Frage zu stellen und diese einem alternativen Prozess der Entscheidungsfindung zu unterwerfen. Dadurch entwickelte sich das Gemeinschaftsrecht laut Richard Rawlings zu „the European

38 J. Weiler, A. Slaughter und A. Stone Sweet sprechen in: The European Courts and National Courts (Fn. 6) von

„European Courts of Justice”, um auf dieses charakteristische Merkmal des EU-Rechts hinzuweisen. 39 Beispiele zur ersten Variante wurden von nationalstaatlichen Richtern in einem Projekt zur Anwendung von

EU-Arbeitsrechtsbestimmungen durch nationale Gerichte aufgezeigt und in Buchform publiziert: S. Sciarra (Hrsg.), Labour Law in the Courts – National Judges and the ECJ, Oxford, Hart Publishing, 2000.

Beispiele für eine Anwendung von EU-Recht durch nationale Gerichte in Fällen, die der Europäische Ge-richtshof aus dem Anwendungsbereich des EU-Rechts ausgeschlossen hatte, weil er sie als rein innerstaatliche Angelegenheiten einstufte: Cour de Cassation, chambre criminelle, Comité national de défense contre l’alcoolisme C. Rossi de Montalera et autres, 16 juin 1983, wiedergegeben in: RTDE, 19, 1983: 486; Tribunal d’instance de Bressuire (greffe de Thouars), Commissaire de police de Thouars C M Cognet, Centre Leclerc, 10 avril 1987, wiedergegeben in: RTDE, 23, 1987: 553.

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defence of domestic actors against national policies“.40 Diese Art der „Benut-zung“ des Rechts für die eigenen Zwecke durch die einzelnen Akteure führte zu einer Verlagerung der Rechtsnormen auf die unterschiedlichen Diskussionsebe-nen, in deren Folge sich zwei wesentliche Fragen stellen: Welche Folgen ergeben sich aus dem „Import“ von unionsrechtlichen Argumenten in die nationalen Rechtsdebatten und umgekehrt? Und ist die Beeinflussung der nationalen juristi-schen und politischen Debatten zu rein innerstaatlichen Fragen eine legitime Rol-le für das europäische Recht?

6. Die Infragestellung der Souveränität

Die Bedeutung der nationalen Dynamik für die Anwendung des EU-Rechts zeigt, dass die nationale Souveränität nicht durch die Kompetenzübertragung von den Staaten auf die Union in Frage gestellt wird. Die Europäisierung der nationalen politischen und juristischen Debatten geht oft mit dem Bestreben einzelner natio-naler Akteure einher, das Gleichgewicht der Mitsprache und Vertretung im Ent-scheidungsprozess dieser Debatten auf nationaler Ebene zu verschieben. Dadurch ändert sich häufig das Gleichgewicht der Mitsprache und Vertretung zwischen den verschiedenen nationalen Akteuren in der Definition einer bestimmten Politik und weniger der europäische oder innerstaatliche Charakter dieser Politiken. Es handelt sich dabei nicht um eine ontologische Europäisierung, sondern um eine strategische, welche die nationalen Akteure ändert, die bestimmte Politiken do-minieren und sich damit auf eine eigene Art als Infragestellung der Souveränität darstellt. Sie bezieht sich auf die politische Souveränität des Staates im Sinne seiner Autonomie in der Festlegung des Anwendungsbereiches und der Repräsen-tations- und Partizipationsmuster in der Gestaltung innerstaatlicher Politiken.

V. Die Rechtsnatur der europäischen Rechtsordnung: Von der Praxis zur Theorie

Wir haben gesehen, wie sehr das EU-Recht vom Meinungsaustausch zwischen den Akteuren einer breit gefächerten europäischen Rechtsgemeinschaft mitgestal-tet wird, wobei sich einige dieser Akteure selbst dem Willen des Gerichtshofes widersetzen. An diesem Punkt stellt sich die Frage, ob dieses diskursive Ver-ständnis als Grundlage der Legitimation der europäischen Rechtsordnung und ihrer charakteristischen Identität dienen kann bzw. inwieweit dieser Meinungs-austausch mit einem rechtlichen Pluralismus in Zusammenhang steht, auf den die europäische Rechtsordnung gegründet sein muss? Oder sollte diese Rechtsord-nung idealerweise durch eine hierarchische Organisation gekennzeichnet sein, die entweder dem Europäischen Gerichtshof oder den nationalen Verfassungsgerich-

40 R. Rawlings, The Eurolaw Game: Deductions from a Saga, in: Journal of Law and Society, 20 (1993),

S. 309 ff., 313.

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20 EuR – Heft 1 – 2007 Maduro, Der Kontrapunkt im Dienste eines europäischen Verfassungspluralismus

ten die letztinstanzliche Entscheidung von Konflikten innerhalb der europäischen Rechtsgemeinschaft überträgt? Das ist die Frage der rechtlichen Souveränität in Europa. Die meisten Kommentatoren scheinen die Frage der höchsten Geltungskraft zu Gunsten des EU-Rechts zu entscheiden, woraus sich die Notwendigkeit ergibt, das EU-Recht in die klassische hierarchische Struktur der Rechtssysteme ein-zugliedern. Aber die europäische Integration stellt sich gegen dieses hierarchische Verständnis des Rechts, denn in deren Realität beanspruchen sowohl das nationa-le als auch das europäische Verfassungsrecht innerhalb ihres jeweiligen Rechtsys-tems die Rolle des höherrangigen Rechts. Somit ergeben sich für die Frage „Wer entscheidet, wer entscheidet“ unterschiedliche Antworten in der europäischen bzw. den nationalen Rechtsordnungen.41 Wenn man die Frage von einer Perspek-tive außerhalb der nationalen bzw. der europäischen Rechtsordnung betrachtet, erfordert deren Lösung eine Rechtskonzeption, die nicht länger von einer hierar-chischen Konstruktion des Rechts und einer Konzeption der Souveränität als unteilbar ausgeht. Dieses tradierte Souveränitätsverständnis fand bereits in den Begriffen der geteilten oder gepoolten Souveränität eine Herausforderung und erfuhr im Bereich der Beziehung zwischen der EU und den nationalen Rechtsord-nungen mit dem Begriff einer konkurrierenden Souveränität eine weitere Steige-rung. Für eine solche Form des rechtlichen Pluralismus haben sich sehr überzeugend Neil MacCormick42 und in neuerer Zeit auch Neil Walker43 ausgesprochen. Je-doch hat die „Maastricht-Entscheidung“ des deutschen Bundesverfassungsge-richts und dessen Aufhebung eines Gemeinschaftsrechtsakts in seiner Entschei-dung zur Bananenverordnung44 neuerlich Ängste geschürt, dass die Konflikte zwischen den nationalen Gerichten und dem Europäischen Gerichtshof die Rechtsordnung der Europäischen Union stören und folglich auch den Prozess der europäischen Integration unterbrechen könnten. Auch wenn die allgemeine Ten-denz der nationalen Gerichte dahin geht, der (materiellen) europäischen Verfas-sung zu entsprechen, zeigt sich in einzelnen nationalen Höchstgerichten dennoch weiterhin ein gewisser Widerstand gegen die absolute Vorrangstellung des EU-Rechts. Dies wird insbesondere in der Selbstdefinition des nationalen Konstituti-onalismus, als auch in der Abhängigkeit der Wirksamkeit des EU-Rechts vom

41 R. Phelan bietet eine detaillierte Untersuchung der unterschiedlichen Gesichtspunkte in der Frage der Bezie-

hung zwischen den nationalen und der europäischen Rechtsordnung, abhängig davon, ob man diese aus der Perspektive des Gemeinschaftsrechts, des nationalen Verfassungsrechts oder auch des Völkerrechts betrach-tet. Vgl. Revolt or Revolution: The Constitutional Boundaries of the European Community, Dublin, Sweet & Maxwell, 1977.

42 N. MacCormick, Beyond the Sovereign State, in: Modern Law Review, 56 (1993), S. 1. 43 N. Walker, The Idea of Constitutional Pluralism, in: Modern Law Review, 65 (2002), no. 3, S. 317. 44 Vgl. beispielsweise M. Kumm, Who Is the Final Arbiter of Constitutionality in Europe?, Harvard Jean Monnet

Chair Working Paper 10/98, www.law.harvard.edu/Programs/JeanMonnet/papers/98/98-10-.html. Vgl. ebenso: A. Von Bogdandy, The legal case for unity: The European Union as a single organization with a single legal system, in: Common Market Law Review, 39 (1999), S. 164 ff., 180.

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nationalen Recht und den nationalen Gerichten sichtbar. Diese Tatsache be-schreibt Damian Chalmers kurz und prägnant: „National law still holds a veto power over national law.“45 Der Schatten dieses Vetos ist von großer Bedeutung, selbst wenn es in der Praxis nicht ausgeübt wird. Die europäische Rechtsordnung zeichnet sich demnach durch den von den nationalen Gerichten grundsätzlich akzeptierten Vorrang und die unmittelbare Wirkung als auch durch die Macht der stets präsenten, bislang aber von den nationalen Verfassungsgerichten nicht aus-geübten Ausnahme aus. Tatsächlich leistet die Möglichkeit dieser Ausnahme einen wichtigen Beitrag zur Anwendung und Interpretation des Unionsrechts. Daher sprechen gewichtige pragmatische und normative Gründe gegen die An-nahme einer Hierarchie der Rechtsordnungen, die eine Geltungskraft des europäi-schen Rechts und seiner Gerichtsinstitutionen im Sinne monistischer Theorien gegenüber dem nationalen Recht festschreibt, denn eine solche wäre in der Praxis nur schwer umzusetzen und könnte die Legitimationsbasis unterminieren, auf der sich das Europarecht entwickelt hat.46 Obwohl die Europarechtsexperten in der Beschreibung des Konstitutionalisierungsprozesses meist von einem „Top-down“-Ansatz ausgehen, hat sich die Legitimation des europäischen Konstitutio-nalismus in der Realität in enger Zusammenarbeit mit den nationalen Gerichten und Rechtsgemeinschaften entwickelt. Das hatte wiederum einen zunehmenden „Bottom-Up“-Effekt zur Folge.47 Trotz ihrer Ansprüche auf die höchste Gel-tungskraft und die rechtliche Souveränität zeigen sich sowohl die unionseuropäi-sche als auch die nationalen Rechtsordnungen zu mehr oder weniger expliziten Zugeständnissen an die Geltungsansprüche der jeweils anderen Rechtsordnung bereit, wodurch eine mögliche Kollision vermieden werden kann. So hat etwa das EU-Recht mit der Anerkennung der Grundrechte den Forderungen der nationalen Verfassungen entsprochen, während die nationalen Verfassungen so ausgelegt werden, dass eine Überprüfung einzelner unionsrechtlicher Rechtsakte vermieden wird. Ein weiterer Grund spricht für eine pluralistische Konzeption der europäischen Rechtsordnung. Demnach ergibt sich die Legitimation des Integrationsprozesses aus dessen Aufgabe, die verfassungsrechtlichen Grenzen der nationalen politi-schen Gemeinschaften zu korrigieren und den mit diesen in Zusammenhang ste-henden Begriff des Konstitutionalismus neu zu definieren. Dieser Begriff bezieht den Konstitutionalismus gewöhnlich auf eine einzige politische Gemeinschaft und tendiert gleichzeitig dazu, die Macht mit Hilfe seiner hierarchischen Organisati-onsstruktur in einer obersten Instanz zu konzentrieren. Allerdings widerspricht dies teilweise dem Konstitutionalismus selbst, nachdem diese Konzeption eines

45 D. Chalmers, Judicial Preferences and the Community Legal Order, in: Modern Law Review, 60 (1997),

S. 164 ff., 180. 46 In den Worten von Chalmers: „The regime is able to develop provided it does not significantly disrupt the

egalitarian relations enjoyed between national courts and the Court of Justice”, ibidem. 47 K. Mortelmans, Community Law: More than a Functional Area of Law, Less than a Legal System, in: Legal

Issues of European Integration, 23 (1996), S. 42 ff.

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seiner Elemente zur Begrenzung der Macht ausschließt, denn das Offenlassen der Frage „wer entscheidet, wer entscheidet“ sowie die fehlende Festsetzung einer höchsten Geltungskraft können im Sinne einer Machtbegrenzung durch den Kon-stitutionalismus verstanden werden. Natürlich verfügen alle Verfassungssysteme über historisch entwickelte Formen einer höchsten Geltungskraft als Möglichkeit zur Konfliktverhinderung und Garantie dafür, dass Verfassungsentscheidungen allgemeine Anerkennung finden. Aber was passiert, wenn diese offene Frage in der Europäischen Union weiterhin offen gelassen wird? Spricht nicht die Tatsa-che, dass das Fundament der europäischen Integration in den unterschiedlichen politischen Gemeinschaften liegt, sowie der sich daraus ergebende demokratische Wert und die Möglichkeit einer gegenseitigen Korrektur der jeweiligen verfas-sungsrechtlichen Schwächen, für eine Aufrechterhaltung des rechtlichen Plura-lismus? Einerseits fördert der europäische Konstitutionalismus die Einbeziehung in den nationalen Konstitutionalismus sowohl aus einer externen wie auch inter-nen Perspektive. Aus einer externen Perspektive wird gefordert, dass der nationa-le Konstitutionalismus außerstaatliche Interessen mitberücksichtigt, die von den Entscheidungen der nationalen politischen Gemeinschaften betroffen sein können, und mögliche Missbräuche eingrenzt, die sich aus der Machtkonzentration in den nationalen Gemeinschaften im Sinne der traditionellen Konzeptionen des Konsti-tutionalismus und der Souveränität ergeben.48 Aus einer internen Perspektive ermöglichen die Herausforderungen, die der europäische Konstitutionalismus der Souveränität der nationalen Entscheidungen im Sinne des nationalen Konstitutio-nalismus entgegenstellt, eine neue Form von Mitspracherecht für weniger mächti-ge Gruppen und führt er zu einer neuen Abwägung von Argumenten in Bereichen des nationalen politischen Prozesses, die bislang fest in der Hand bestimmter Interessensgruppen waren bzw. innerhalb derer die Definition des Gemeinwohls unveränderbar festgeschrieben war. Andererseits dient der nationale Konstitutio-nalismus auch als Garantie gegen mögliche Machtkonzentrationen bzw. -missbräuche des europäischen Konstitutionalismus und verlangt gleichzeitig von letzterem, seine verfassungsrechtlichen Standards im Hinblick auf die Erforder-nisse der nationalen Verfassungen zu verbessern. Solange die möglichen Gel-tungskonflikte nicht zu einer Desintegration der europäischen Rechtsordnung führen, sollte der pluralistische Charakter des europäischen Konstitutionalismus in seiner Relation zum nationalen Konstitutionalismus als willkommene Erschei-nung und nicht als Problem gesehen werden, für das eine Lösung gesucht werden muss. Um diesen Gedankengang fortzusetzen, müssen wir im Bereich des sogenannten „Contrapunctual law“ ansetzen. Die kontrapunktische Satztechnik dient in der Musik dazu, die Selbständigkeit der einzelnen Stimmen zu wahren und so unter

48 In diesem Zusammenhang spricht Weiler von „the function of European law as the principle of constitutional

tolerance“. J. Weiler, The Principle of Constitutional Tolerance, in: Snyder (Hrsg.), The Europeanisation of Law: The Legal Effects of European Integration, Oxford, Hart Publishing, 2000.

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Einhaltung der Stimmführungsregeln zu einem horizontalen Geflecht unter moti-vischer Beteiligung aller Stimmen zu gelangen. Die Entdeckung, dass die unter-schiedlichen Melodien gleichzeitig in harmonischem Einklang gehört werden können, war eine der größten Entdeckungen in der Musikgeschichte und verstärk-te die Freude und die Kunst der Musik. Auch im Recht müssen wir lernen, die unterschiedlichen Rechtsordnungen und Institutionen, die in keinem hierarchi-schen Verhältnis zueinander stehen, zu harmonisieren und die positiven Seiten zu entdecken, die sich aus der Vielfalt ergeben, ohne Konflikte zu schüren, die letzt-lich diese Rechtsordnungen und die darin enthaltenen Werte zerstören können. Um von diesem rechtlichen Pluralismus profitieren zu können, müssen wir uns mit den Möglichkeiten für den Umgang mit bzw. die Vermeidung von potentiel-len Kollisionen zwischen den Rechtsordnungen beschäftigen, indem wir die Kommunikation zwischen ihnen fördern und die Gerichte auffordern, ihre Ent-scheidungen und Interessenskonflikte im Lichte einer breiteren europäischen Rechtsordnung zu betrachten – einer Rechtsordnung, die sich aus dem Meinungs-austausch zwischen der europäischen und den nationalen Rechtsordnungen ergibt. Die europäische Rechtsordnung sollte im Sinne einer Integration der Geltungsan-sprüche sowohl des nationalen als auch europäischen Verfassungsrechts begriffen werden. Aber damit die europäische Rechtsordnung existenzfähig ist und dieses Ziel erfüllen kann, bedarf es der Erfüllung einer Reihe von Erfordernissen, die im folgenden dargestellt werden sollen.

VI. Die Stimmführungsregeln des „Contrapunctual law“

Diese Stimmführungsregeln, die für sämtliche Akteure der europäischen Rechts-gemeinschaft als auch die europäische Rechtsordnung an sich gelten, bedeuten zwar gewissermaßen eine Begrenzung des Pluralismus, andererseits kann dieser aber ohne deren Einhaltung nicht erreicht werden. Grundvoraussetzung für den Pluralismus im Kontext einer kohärenten Rechtsordnung ist eine gemeinsame Diskussionsbasis, bestehend aus einer Reihe von Grundsätzen, zu denen sich alle Teilnehmer bekennen und welche einerseits die konkurrierenden Machtansprüche respektieren, andererseits aber die Kohärenz und Integrität der europäischen Rechtsordnung garantieren. Bei diesen Stimmführungsregeln handelt es sich um Rahmenprinzipien, die die Beziehung zwischen den unterschiedlichen nationalen Rechtsordnungen und zwischen diesen und der europäischen Rechtsordnung re-geln. Diese unterschiedlichen Rechtsordnungen bilden die sogenannte „breitere europäische Rechtsordnung“. Mit ihrer Hilfe kann die europäische Rechtsordnung sowohl die Ziele erfüllen, die sich aus ihrer pluralistischen Konzeption ergeben, als auch die Harmonie zwischen den verschiedenen juristischen Diskursen und Formen europäischer Macht, die diese pluralistische Konzeption enthält, herstel-len. Einige dieser Grundsätze sind Erfordernisse, wie sie jede Rechtsordnung

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kennt, die jedoch meiner Meinung nach in ihrer Anwendung auf die europäische Rechtsordnung einen speziellen Charakter aufweisen. Diese Grundsätze ermöglichen es, die nationalen und europäischen Entscheidun-gen mittels verschiedener Argumente zu rechtfertigen, während ihre Anwendung zu kompatiblen Entscheidungen führt. Weiter können sie in vielen Bereichen die Mechanismen der gegenseitigen Anerkennung, des Diskurses und der Kompatibi-lität, wie sie in der Beziehung zwischen einigen nationalen Verfassungsgerichten und dem Europäischen Gerichtshof bereits vorhanden sind, weiterentwickeln und verfeinern, sowie die sogenannten „incompletely theorised agreements“ fördern und unterstützen.49 Damit eröffnet sich die Möglichkeit, im Endergebnis über bestimmte rechtliche Fragen Einigkeit zu erzielen, ohne gleichzeitig eine Über-einstimmung in den Grundwerten, die der Rechtfertigung dieser Ergebnisse die-nen, zu verlangen. Allerdings setzt die Anwendung des „Contrapunctual law“ bestimmte Regeln, die hier als Stimmführungsregeln bezeichnet werden, voraus, die von den unterschiedlichen Rechtssystemen im Rahmen des Vorbringens und der Durchsetzung ihrer unterschiedlichen Geltungsansprüche zu beachten sind. Diese Regeln erlauben es den unterschiedlichen Rechtsordnungen, sich den An-sprüchen der anderen anzupassen und verhindern so Konflikte zwischen ihnen. In der Sprache der Systemtheorie würde dies bedeuten, das Problem der Kompatibi-lität zwischen den unterschiedlichen Rechtssystemen oder Subsystemen als Koor-dinationsproblem zu verstehen, dessen Lösung darin besteht, dass die jeweiligen Systeme ihren Blick auf mögliche Kontakte und Kollisionen mit den anderen Systemen ausrichten.50 Es gibt drei Erfordernisse, die diese wechselseitige Anpassung und die Entwick-lung einer kohärenten Rechtsordnung im Kontext eines Verfassungspluralismus garantieren: 1. Die Grundsätze der Abwägung von Argumenten und der Darle-gung der Rechtfertigung, auf die die nationalen und europäischen Gerichte ihre Entscheidungen gründen, müssen universell für alle Teilnehmer gelten. 2. Jeder Grundsatz muss so konstruiert sein, dass er den konkurrierenden Grundsätzen angepasst werden kann. 3. Die Grundsätze müssen einer Übereinstimmung hin-sichtlich bestimmter Ergebnisse dienlich sein. Die Erfüllung dieser Erfordernisse sichert sowohl den Pluralismus der europäischen Rechtsordnung als auch seine Kohärenz und Einheitlichkeit im Sinne einer gleichberechtigten Teilnahme aller richterlichen Akteure und verhindert, dass die konkurrierenden Ansprüche zu einer Erosion der europäischen Rechtsordnung führen.

49 Dieser Ausdruck wurde übernommen von C. Sunstein, Legal Reasoning and Political Conflict, New York,

Oxford University Press, 1996. Die Verwendung dieses Begriffes für die vorliegende Arbeit ist allerdings nicht gleichbedeutend mit der Übernahme der „theory of judicial action and legal reasoning“, die Sunstein in diesem Werk vertritt.

50 K. Gunther, The Idea of Impartiality and the Functional Determinacy of the Law, in: Northwestern University Law Review, (1988/89), S. 151 ff., 155. In einem ähnlichen Sinn auch C. Richmond, Preserving the Identity Crisis: Autonomy, System and Sovereignty in European Law, in: Law and Philosophy, 16 (1998), S. 377 ff., 417.

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1. Pluralismus

Dieser Grundsatz besteht aus einer Grundlagendimension sowie einer teilnehmer-orientierten Dimension. Unter ersterer ist das bereits angesprochene Erfordernis zu verstehen, dass jede Rechtsordnung (nationale wie auch europäische) die ande-ren Rechtsordnungen respektieren muss, d.h. die eigene Identität darf nicht in der Art vorangestellt werden, dass dadurch entweder die Identität der anderen Rechtsordnungen oder die pluralistische Konzeption der europäischen Rechtsord-nung selbst in Frage gestellt wird. Selbst im Bewusstsein, dass Identität verloren geht, wenn sie nicht selbst be-stimmt ist, sollte eine solche Selbstbestimmung nie so weit gehen, dass sie die selbst bestimmte Identität der anderen Rechtsordnungen in Abrede stellt. Folglich muss eine Rechtsordnung eine Änderung von Rechtsbestimmungen, die auch Teil der europäischen Rechtsordnung sind, dergestalt vornehmen, dass sich die ande-ren Rechtsordnungen darauf einstellen können. Daher macht der Pluralismus die Anerkennung und die Anpassung jeder Rechtsordnung an die anderen, gleicher-maßen legitimen Geltungsansprüche notwendig. Dies hat weitgehende Konse-quenzen für die Art und Weise, wie das nationale Verfassungsrecht das EU-Recht anzuwenden und umzusetzen hat. Andererseits hat das EU-Recht gleichermaßen die Ansprüche der nationalen Verfassungen zu respektieren. Dies kann in unter-schiedlichen Formen geschehen: mittels nationaler verfassungsgemäßer Ratifizie-rung europäischer Verfassungsreformen; mittels ausdrücklicher Anerkennung eines Rechts auf Austritt; sowie mittels kontinuierlicher Bedachtnahme auf et-waige Forderungen der nationalen Verfassungen in der Reformierung bestimmter Bereiche des EU-Rechts. Die zweite Dimension des Pluralismus bezieht sich auf die Forderung einer mög-lichst breiten und zahlreichen Teilnahme an einem solchen Diskurs. Bislang liegt eines der Legitimationsdefizite der europäischen Rechtsordnung in der Tatsache, dass sie allzu stark von bestimmten, wiederholt auftretenden Prozessparteien mitbestimmt bzw. dominiert wird, was unter anderem auf die Transaktions- und Informationskosten des unionsrechtlichen Gerichtsverfahrens zurückzuführen ist. Es handelt sich dabei insbesondere um multinationale Unternehmen, die von grenzüberschreitenden Rechtsstrategien unterstützt werden, während die Beteili-gung von nationalen Gerichten an diesen Rechtsstreitigkeiten nicht von derselben grenzüberschreitenden Perspektive bzw. Koordination profitiert. Ebenso scheint sich der Dialog zwischen den einzelnen nationalen Gerichten und dem Europäi-schen Gerichtshof in unterschiedliche Richtungen zu entwickeln und gibt damit Anlass zu Vergleichen und einem Wettbewerb zwischen diesen unterschiedlichen europäischen Dialogen. Sind alle nationalen Gerichte gleichwertige Partner mit derselben Verhandlungsmacht oder entwickeln sich einzelne zu privilegierten Partnern des Europäischen Gerichtshofs?

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2. Konsistenz und vertikale und horizontale Kohärenz

Welche Garantie gibt es dafür, dass der europäische Verfassungspluralismus nicht die einheitliche und kohärente Anwendung des EU-Rechts gefährdet? Wenn-gleich eine pluralistische Konzeption als Legitimationsform des EU-Rechts in der Theorie sehr attraktiv erscheinen mag, gibt es Befürchtungen, dass sich seine Anwendung als unpraktikabel erweisen und die europäische Rechtsordnung letzt-endlich zerstören könnte. Das hier zu Grunde gelegte Kohärenzkonzept versteht sich als Einheit des Rechtssystems, in welchem jede neue rechtliche Entscheidung mit den vorangegangenen kohärent ist. Es ist diese Kohärenz des Rechtssystems, die durch die Möglichkeit der Existenz konkurrierender Determinationen des Rechts in Frage gestellt wird, insbesondere in dem Fall, dass eine solche systemi-sche Kohärenz mit einer theoretischen Kohärenz verbunden ist (d.h. dass alle Entscheidungen auf einer vereinheitlichenden Rechtstheorie basieren). Die Kohä-renz des Rechtssystems ist selbst angesichts konkurrierender Rechtsdeterminatio-nen möglich, solange alle Teilnehmer die Bindung an eine kohärente Rechtsord-nung anerkennen und ihre konkurrierenden Ansprüche mit Hilfe eines bestimm-ten Grundkonsenses anpassen. Demzufolge müssen Entscheidungen dergestalt getroffen und begründet werden, dass sie mit den vorhergehenden Entscheidun-gen der anderen Teilnehmer übereinstimmen und auf diesem Weg die Kohärenz der Rechtsordnung sicherstellen. Die nationalen Gerichte müssen Entscheidungen bezüglich der Anwendung von EU-Recht in Übereinstimmung mit den Entscheidungen des Europäischen Ge-richtshofs sowie der anderen nationalen Gerichte treffen, da eine einheitliche Auslegung und Anwendung des EU-Rechts im Alleingang durch den Europäi-schen Gerichtshof nicht ausreicht. Aufgrund der Zunahme der unionsrechtlichen Rechtsstreitigkeiten wird die Aufgabe der Auslegung und Anwendung des EU-Rechts zumindest de facto, wenn auch nicht de iure zunehmend den nationalen Gerichten übertragen. Am Beispiel des Sonntagsverkaufs zeigt sich die zuneh-mende Tendenz des Europäischen Gerichtshofs, den nationalen Gerichten die Entscheidung über Angemessenheit und Notwendigkeit nationaler Maßnahmen aufzuerlegen, die den freien Warenverkehr betreffen. Daneben gibt es auch ande-re Bereiche, wo die Delegation von Befugnissen auf nationale Gerichte den Zweck erfüllt, das EU-Recht an das nationale Verfassungsrecht anzupassen. Dies ist etwa im Bereich der Grundrechte der Fall, wo der Gerichtshof oft ein Grund-recht anerkannt hat, aber den nationalen Gerichten einen großen Ermessensspiel-raum in der Bestimmung dessen Inhalts gewährte. In anderen Bereichen des EU-Rechts teilt der Gerichtshof dem nationalen Recht die Aufgabe zu, ein bestimmtes unionseuropäisches Recht umzusetzen bzw. zu schützen, unterwirft diese Delega-tion aber gleichzeitig der Kontrolle nach bestimmten unionsrechtlichen Rechts-

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grundsätzen.51 Die Aufgabe der „Anpassung“ nationalen Rechts an diese europäi-schen Rechtsgrundsätze obliegt den nationalen Gerichten. Die Überantwortung solch weitgehender Befugnisse auf die nationalen Gerichte wird mit der Notwen-digkeit eines erleichterten Zugangs zur Gerichtsbarkeit auf europäischer Ebene als auch einer vermehrten Einbeziehung des jeweiligen nationalen Kontexts (ein-schließlich nationaler Verfassungswerte) gerechtfertigt. Die zunehmende Bedeu-tung nationaler Gerichte in der Auslegung des EU-Rechts sowie der Entwicklung seiner Rechtsgrundsätze macht aber auch eine Stärkung der Kohärenz der europä-ischen Rechtsordnung und seine einheitliche Anwendung auf horizontaler Ebene notwendig. Jedes nationale Gericht muss die Auslegung derselben europäischen Normen und Rechtsgrundsätze durch andere nationale Gerichte in seine eigenen Entscheidungen einbeziehen. Dadurch soll sowohl die vertikale als auch die hori-zontale Kohärenz der europäischen Rechtsordnung gesichert werden. Kohärenz verlangt, dass der judizielle Dialog nicht nur zwischen den nationalen Gerichten und dem Europäischen Gerichtshof Platz greift, sondern auch zwischen den einzelnen nationalen Gerichten. Bis jetzt scheint allerdings die direkte Zu-sammenarbeit und der Informationsaustausch, wie er bisweilen zwischen Anwäl-ten und Prozessparteien in unterschiedlichen Mitgliedstaaten stattfindet, zwischen den einzelnen mitgliedstaatlichen Gerichten nicht vorhanden zu sein. Tatsächlich scheinen die nationalen Gerichte ihren Dialog mit dem Europäischen Gerichtshof strikt von einem Meinungsaustausch mit anderen mitgliedstaatlichen Gerichten zu trennen. Ebenso selten scheinen nationale Gericht die Entscheidungen anderer nationaler Gerichte zu berücksichtigen.52 Dieses mangelhafte Verständnis der europäischen Rechtsordnung führt dazu, dass sich eine europäische Rechtsord-nung, wie sie vom Europäischen Gerichtshof verstanden wird, und einzelne, iso-lierte, mitgliedstaatliche Rechtsordnungen gegenüber stehen. Obwohl sich die nationalen Gerichte ihrer Mitwirkungsmöglichkeiten in der Herausbildung der Europäischen Rechtsordnung grundsätzlich bewusst sind, verstehen sie diese Rechtsordnung als ein Werk des Europäischen Gerichtshofes und nicht einer breit gefächerten Rechtsgemeinschaft, die auch die nationalen Gerichte mit umschließt. Dadurch verstärken sich einige der Risiken, die Teil des aktuellen europäischen juristischen Diskurses sind, weshalb der Ausbau bzw. die Weiterentwicklung dieser horizontalen Form des Diskurses sowie die Kohärenz als Prioritäten in der Reform des unionseuropäischen Gerichtssystems gehandelt werden sollten.

51 Beispielsweise im Falle der Staatenverantwortlichkeit für Verletzungen des Gemeinschaftsrechts oder im

Falle der mittelbaren Wirkung von Richtlinien. 52 Beispiele einer solchen Berücksichtigung finden sich bei Slaughter, Stone and Weiler, (Fn 6); vgl. weiter die

nationalen Berichte von H. Bribosia und P. Craig. Diese Beispiele scheinen sich allerdings auf den Bereich der Anerkennung des Vorrangs und der unmittelbaren Wirkung des Gemeinschaftsrechts zu beziehen. Meines Wissens existieren keine Untersuchungen zu einem horizontalen Meinungsaustausch zwischen nationalen Ge-richten über Auslegung und Anwendung materieller Rechtsbestimmungen der EU.

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3. Universalität

Die europäische Rechtsordnung sollte als Integration der Entscheidungen nationa-ler Gerichte als auch der europäischen Gerichte verstanden werden. Daher sollte jeder gerichtliche Spruchkörper (national wie europäisch) verpflichtet sein, seine Entscheidungen im Kontext einer kohärenten und integrierten europäischen Rechtsordnung zu begründen. Um dies zu ermöglichen bzw. um die konkurrie-renden Entscheidungen zum EU-Recht auf einen Nenner zu bringen, sollte die Argumentation in den nationalen Entscheidungsprozessen zum EU-Recht mit Hilfe „universeller“ Begriffe erfolgen, wodurch die Universalität sämtlicher nati-onaler Entscheidungen zum EU-Recht erreicht werden soll. Ein nationales Ge-richt (vor allem ein nationales Verfassungsgericht) muss seine Entscheidungen dergestalt begründen, dass sie verallgemeinerungsfähig sind bzw. dass die diesen Entscheidungen zugrunde liegenden Grundsätze auch von anderen nationalen Gerichten in ähnlichen Situationen angewendet werden können. Dadurch kann vermieden werden, dass die nationalen Gerichte die Autonomie ihrer Rechtssys-teme als Form der Evasion und des Free-riding nutzen. In Folge wird der sich entwickelnde judizielle Diskurs zwischen den Gerichten eine neue Ära der Zu-sammenarbeit einleiten, in der sich die nationalen Gerichte an die Entscheidungen der anderen mitgliedstaatlichen Gerichte gebunden fühlen53 und im eigenen Ent-scheidungsprozess auch die Auswirkungen auf andere nationale Rechtsordnungen mitberücksichtigen.

4. Wahl der Institution

Angesichts der konkurrierenden Ansprüche auf die Bestimmung, was geltendes Recht ist, wird die Entscheidung für eine bestimmte Institution immer wichtiger. In einer pluralistischen Rechtsordnung mehren sich die Foren zur Konfliktlösung ebenso wie die Argumente und Institutionen, auf die man sich berufen kann, um eine Neudefinition bestimmter Interessen zu erreichen. In einer pluralistischen Rechtsgemeinschaft kann eine Abgrenzung zwischen den unterschiedlichen Rechtssystemen sowie eine entsprechende Verteilung der juristischen Ressourcen (richterliche und andere) einzig durch eine Stärkung des gegenseitigen Verständ-nisses für die jeweiligen Stärken und Schwächen erfolgen. Weiter müssen sich jede Rechtsordnung bzw. die innerhalb dieser bestehenden Institutionen bewusst sein, dass sie nicht konkurrenzlos sind, sondern neben ihnen noch diverse weitere Institutionen zur Auswahl stehen. Allerdings hat die Arbeit von Neil Komesar gezeigt, dass die Entscheidung für eine dieser Institutionen oft das Ergebnis einer

53 J. Weiler, A Quiet Revolution: The European Court of Justice and Its Interlocutors, in: Comparative Political

Studies (1994), S. 510 ff, 522.

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unzureichenden institutionellen Analyse ist.54 Für eine wohlbegründete Entschei-dung sollten sich die Gerichte und anderen Akteure einer adäquaten vergleichen-den institutionellen Analyse bedienen, wie sie beispielsweise von Komesar entwi-ckelt wurde.55

VII. Die Vermeidung von Verfassungskonflikten

Wenn man ein Modell des Verfassungspluralismus für die europäische Rechts-ordnung befürwortet, ist man unweigerlich mit der Frage möglicher Konflikte zwischen dem EU-Recht und den nationalen Verfassungen konfrontiert. Diese Frage wird von einigen der prominentesten Autoren, die sich für einen Verfas-sungspluralismus in Europa aussprechen, unterschiedlich beantwortet. Während Neil MacCormick und Walter Weiler mögliche Kollisionen in einer pluralisti-schen Rechtsordnung mit Hilfe eines „primus inter pares“ lösen wollen (entweder dem Völkerrecht oder einem speziellen Verfassungsgericht), scheint Mattias Kumm bestrebt, den Pluralismus möglichst weitgehend durchzusetzen und bietet keine wirkliche Lösung für mögliche Kollisionen. Stattdessen ermächtigt er die nationalen Verfassungsgerichte, die verfassungsrechtliche Gültigkeit der EU-Rechtsakte unter der Prämisse zu überprüfen, dass sie dabei bestimmten Grundsätzen im Sinne eines liberalen rechtlichen Pluralismus folgen, wobei das Ergebnis auf das nationale Verfassungsrecht beschränkt bleibt.56 Ich selbst vertrete einen anderen Ansatz. Erstens glaube ich, dass jede Gerichtsin-stitution (national oder europäisch) verpflichtet ist, ihre Entscheidungen im Kon-text einer kohärenten und einheitlichen EU-Rechtsordnung zu treffen und zu rechtzufertigen.57 Zweitens müssen sowohl die europäische wie auch die nationa-len Rechtsordnungen die notwendigen Mechanismen schaffen, um sich den Auto-ritätsansprüchen der jeweils anderen Rechtsordnungen anzupassen. Zum Beispiel kann der zunehmende Entscheidungsspielraum, den der Europäische Gerichtshof den nationalen Gerichten gewährt, im Falle einer Kollision mit nationalem Ver-fassungsrecht besondere Bedeutung erlangen. Tatsächlich scheint dies im Rah-men der Grundrechte auch schon der Fall zu sein. Einerseits passt sich das EU-Recht selbst den nationalen verfassungsrechtlichen Forderungen an, indem es den nationalen Gerichten einen größeren Ermessensspielraum in diesen Bereichen einräumt. Andererseits wird die einheitliche Anwendung des EU-Rechts durch das explizite oder implizite Zugeständnis der nationalen Verfassungsgerichte

54 N. Komesar, Imperfect Alternatives-Choosing Institutions in Law, Economics and Public Policy, Chicago and

London, Chicago University Press, 1994. 55 Leider kann diese These in der vorliegenden Arbeit aus Platzgründen nicht näher erörtert werden. Für eine

detaillierte Untersuchung vgl. Komesar, Law’s Limits (Fn. 30), sowie Imperfect Alternatives (Fn. 54) sowie Maduro, We The Court (Fn. 33).

56 Ibid. 57 Diese These habe ich bereits ausführlich in meiner Schrift: The Heteronyms of European Law, in: European

Law Journal, 3 (1999) dargelegt.

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sichergestellt, dass sie die Gültigkeit bestimmter EU-Rechtsakte nicht am nationa-len Verfassungsrecht überprüfen werden. Tatsächlich sollte ihr Anspruch auf die letztinstanzliche Entscheidungsmacht nur in dem Fall ausgeübt werden, dass es zu einem Konflikt zwischen der Integrität der europäischen Rechtsordnung und der Integrität der nationalen Verfassung kommen sollte. In diesem Falle sollte es den nationalen Verfassungsgerichten offen stehen, ihre Autorität entweder mittels verfassungsgemäßer Ratifizierung oder mittels Austritts zu behaupten. Letztere Möglichkeit käme lediglich dann zum Tragen, wenn der festgestellte Konflikt von solcher Bedeutung wäre, dass er die gesamte verfassungsrechtliche Beziehung zwischen der Europäischen Union und dem jeweiligen Mitgliedstaat tangiert. Nur ein solches Verständnis seitens der nationalen Verfassungsgerichte ermöglicht es, die genannten Grundsätze des "Contrapunctual law" zu respektieren. Im Gegen-zug dafür sollte der Europäische Gerichtshof den nationalen Gerichten und dem nationalen Konstitutionalismus eine gewichtigere Stellung in der Auslegung und Anwendung des EU-Rechts zuerkennen, denn gegenseitige Anpassung und Aner-kennung sind unumgänglich für das Funktionieren eines Verfassungspluralismus. Trotz des erweiterten Ermessensspielraumes wird die Einheitlichkeit durch die Verpflichtung der nationalen Gerichte sichergestellt, ihre Entscheidungen in uni-versell anwendbaren Begriffen zu verfassen und die Übereinstimmung zwischen den einzelnen nationalen Entscheidungen und der europäischen Rechtsordnung als Ganzes zu gewährleisten. Gegen diese Annahme spricht allerdings, dass sich die Integrität und Kohärenz der pluralistischen Rechtsordnung aus der Verpflich-tung jeder nationalen Rechtsordnung ergibt, ihre eigene unabhängige Konzeption des EU-Rechts so zu gestalten, dass diese mit den anderen Konzeptionen und mit einer kohärenten europäischen Rechtsordnung kompatibel ist. An dieser Stelle möchte ich abermals auf die Stimmführungsregeln des "Contrapunctual law" zurückgreifen, ebenso wie die Aufforderung wiederholen, wonach sich nationale wie europäische Akteure im juristischen Bereich an diese Spielregeln sowie die dadurch geschaffene Konzeption der europäischen Rechtsordnung halten sollten.

VIII. Der Anwendungsbereich des EU-Rechts und die Kompetenzfrage

Die diskursive Rechtsnatur des europäischen Rechts und seine Abhängigkeit von einer breit gefächerten Rechtsgemeinschaft hat unsere Aufmerksamkeit auf einen oft übersehenen Aspekt des Dialoges zwischen den nationalen Gerichten und dem Europäischen Gerichtshof gelenkt. Der Anwendungsbereich des EU-Rechts be-stimmt sich demnach nicht allein nach unionsrechtlichen, sondern ebenso nach nationalen Gesichtspunkten, d.h. die Auswirkung des EU-Rechts wird insbeson-dere in jenen Bereichen stärker sein, wo nationale Gerichte oder andere Akteure sich des EU-Rechts bedienen, um innerstaatliche Probleme zu lösen, für die nati-onale Normen oder der nationale politische Prozess unzureichend erscheinen. Die Beteiligung dieser zahlreichen Akteure neben dem Europäischen Gerichtshof

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erklärt, warum beispielsweise die nationalen Gerichte bisweilen Richtlinien eine direkte Wirkung in horizontaler Richtung zusprechen oder EU-Bestimmungen auf rein interne Situationen anwenden, die der Gerichtshof selbst als außerhalb des Anwendungsbereiches des EU-Rechts beurteilt hat.58 Daraus ergibt sich die para-doxe Situation, dass das europäische Recht in jenen Bereichen einen größeren Einfluss haben kann, in denen die europäische Dimension schwächer ist als in Bereichen, wo ein stärkeres Eingreifen der europäischen Bestimmungen in die nationalen Rechtssysteme vorgesehen ist. Diese Überlegungen zeigen eine Besonderheit des Verfassungspluralismus auf, die ich bereits angesprochen habe: Die Grenzen des politischen und rechtlichen Handelns lösen sich auf und mit ihnen die Autonomie der unterschiedlichen poli-tischen Gemeinschaften in der Definition des Gleichgewichts der Vertretung und Mitsprache in ihren traditionellen innerstaatlichen Politiken. Nationale Akteure machen Gebrauch von der Vielfalt an nationalen und supranationalen Foren, die für die Verfolgung ihrer Interessen zur Verfügung stehen. Die Entstehung einer solchen europäischen politischen Gemeinschaft als Raum für politisches und rechtliches Handeln mit Hinblick auf offene und unbestimmte soziale Ziele ist inkompatibel mit einem klar definierten und begrenzten Kompetenzkatalog. Ein solcher Katalog würde die Europäische Union auf ein geschlossenes und begrenz-tes Aufgabengebiet beschränken, das keiner weiteren Konstitutionalisierung oder Demokratisierung bedarf. Die Legitimation würde sich folglich aus der begrenz-ten staatlichen Delegation von Befugnissen ableiten und wäre auf diese Kompe-tenzen begrenzt. Dass eine solche klar definierte und begrenzte Kompetenzvertei-lung zum Scheitern verurteilt ist, folgt unter anderem aus der Dynamik des politi-schen Handelns der konkurrierenden politischen Gemeinschaften. Die Frage der Kompetenzen sollte sich daher vielmehr auf die zu ihrer Ausübung bestimmten Institutionen konzentrieren, ebenso wie auf die für die politische Verantwortlich-keit notwendige Transparenz. Damit eröffnet sich den Bürgern die Möglichkeit, zu erfahren, wer welche Kompetenz mit wessen Konsultation und Partizipation in ihrem Namen ausübt.

58 Chalmers (Fn. 22), S. 75.