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Der Meisterträumer

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Nr. 408

Der Meisterträumer

Die Revolte der Versklavten beginnt

von Peter Terrid

Als Atlantis-Pthor, der durch die Dimensionen fliegende Kontinent, die Peripherie der Schwarzen Galaxis erreicht – also den Ausgangsort all der Schrecken, die der Dimensionsfahrstuhl in unbekanntem Auftrag über viele Sternenvölker gebracht hat –, ergreift Atlan, der neue Herrscher von Atlantis, die Flucht nach vorn.

Nicht gewillt, untätig auf die Dinge zu warten, die nun zwangsläufig auf Pthor zu­kommen werden, fliegt er zusammen mit Thalia, der Odinstochter, und einer Gruppe von ausgesuchten Dellos die Randbezirke der Schwarzen Galaxis an.

Nach gefährlichen Abenteuern auf Enderleins Tiegel, dem Schrottplaneten, auf Xu­don, dem Marktplaneten, und bei den Insektoiden von Gooderspall wirkt sich die Be­gegnung mit dem Spezialkurier beinahe tödlich für den Arkoniden und seine Gefähr­ten aus.

Jedenfalls werden Atlan und die Mitglieder seiner Gruppe zu Gejagten – und das planetarische Ziel, das Sicherheit vor den Verfolgern verspricht, erweist sich als teuf­lisch schlaue Falle der Scuddamoren.

Atlan und Thalia geraten in die Gewalt der Kämpfer der Schwarzen Galaxis. Sie werden einem Mann übergeben, der sie zu Verhörzwecken in eine Scheinwelt ver­setzt, die er nach Belieben manipulieren kann. Dieser Mann ist DER MEISTER­TRÄUMER …

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Die Hautpersonen des Romans:Atlan und Thalia - Der Arkonide und seine Gefährtin befreien sich aus der Traumwelt.Päär und Banjar - Sklaven des Meisterträumers.Länerth und Keschmal Schado - Der Meisterträumer und eine Figur seines Szenariums.Yärling - Kommandant des Mittleren Forts von Breisterkäh-lFehr.

1.

Atlan war ich, Kristallprinz des Großen Imperiums, Erbe und Nachfolger Gonozals VII. Aber was besagte das schon? Ich wuß­te, daß die Information stimmte. Ich hieß At­lan, ich war Prinz – und was ein Prinz war, wußte ich auch.

Aber schon mit dem Ausdruck Kristall­prinz vermochte ich nichts mehr anzufan­gen. Und was war unter einem Imperium zu verstehen, einem Großen Imperium noch da­zu? Was war das für ein Erbe, das ich ange­treten hatte oder noch antreten mußte? Und wer war Gonozal VII.?

Ich sah in das Gesicht des Mannes, der sich Keschmal Schado nannte, Superinten­dent von Äleas. Die fettglänzenden Lippen des Mannes waren zu einem bösartigen Lä­cheln verzogen, das eine stark gelichtete Reihe schwärzlicher Zähne erkennen ließ.

»Erfreut, Erhabener«, hatte der Mann ge­rade gesagt. »Ich bin beglückt, Eure Be­kanntschaft zu machen.«

Beglückt, sagte jemand, der in mir zu wohnen schien. Er hat beglückt gesagt.

Und wenn schon. Und wie war ich dazu gekommen, mir einen solchen Titel zuzule­gen – wenn die Bezeichnung Kristallprinz überhaupt ein Titel war. War ich von Sin­nen?

Neben mir stand eine junge, schöne Frau. Sie hieß Thalia, und ich kannte sie. Dabei hatte ich sie vor einigen Tagen zum ersten­mal gesehen. Und doch war mir diese Frau vertraut. Ich fühlte, daß ich sie kannte, sehr gut sogar. Aber ich hatte nichts, womit ich dieses Gefühl hätte begründen können. Die Konsequenzen aus diesem Sachverhalt wa­ren grauenvoll. Ich war vernünftig genug, mir klarmachen zu können, daß ich den Ver­

stand verloren hatte. Mit klarem Kopf dia­gnostizierte ich, daß ich nicht klar im Kopf war. Die Vernunft sagte mir, daß ich mich unvernünftig betrug. Die Logik bewies mir, daß ich irre war.

»Setzt Euch, Kristallprinz«, sagte Ke­schmal Schado.

Er deutete auf einen Platz zu seinen Fü­ßen. War das eine Auszeichnung oder eine Demütigung? Mit bleichen Gesichtszügen saß Thalia auf einem Thronsessel zur Linken des Superintendenten. Sie war, ich hatte es aus ihrem Mund erfahren, die Urenkelin des Dirigenten Habos Matera – gleichzeitig wußte ich, daß diese Information falsch war. Thalia war eine Odinstochter, das stand fest.

In mir wüteten Schmerzen, wie ich sie nie zuvor erlebt hatte. Es war keine körperliche Qual, die man überstehen konnte, wenn man sich zusammennahm und die Zähne aufein­anderpreßte. Dieser Schmerz ließ sich auch nicht mit Medikamenten besänftigen. Es war das schreckliche Gefühl, der eigenen Person nicht mehr sicher sein zu können.

Ich dachte. Ich existierte, war vorhanden – aber ich wußte nicht, wer da dachte. Ich wußte, daß da jemand war, und dieser Je­mand war ich – aber wer war ich?

Und weiter: wo war ich, wann, warum? Fragen, die an die Existenz gingen, auf

die ich nicht einmal eine konventionelle Lü­ge als Antwort vorweisen konnte.

Ich wußte nichts, mußte aber handeln, auf Reize und Personen reagieren. Ich kam mir vor, als sei ich in ein surrealistisches Thea­terstück geraten, ohne zu wissen, was ge­spielt wird und welche Rolle mir zugefallen war.

Ich machte die zwei Schritte und setzte mich. Was hätte ich anderes tun sollen? Ich hätte nicht einmal einen Grund angeben können, mich dieser freundlichverschlage­

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nen Einladung zu widersetzen. Daß der Fett­wanst auf dem Thron mein Feind war, er­schien mir absolut klar und einleuchtend.

Einzig die Frau, Thalia … Ich liebte sie. Aber: Wer war ich? Wer war sie? »Ein schönes Land, aus dem Ihr stammt?« Der Herrscher von Äleas sprach freund­

lich, man konnte es nicht anders nennen. Hatte ich Grund, ihm zu mißtrauen – nur weil er häßlich war, abgrundtief häßlich.

»Schön«, antwortete ich automatisch. »Wunderschön.«

Ich schloß die Augen. Mir fiel etwas ein. Endlich kamen die Informationen, tief aus meinem Innern …

»Arkon«, sagte ich leise. »Das große, mächtige Arkon, dessen Macht und Herr­lichkeit ewig währt. Nichts kommt ihm gleich.«

»Gebietet Ihr über viele Krieger?« Ein Bild tauchte vor meinen Augen auf,

schemenhaft, verschwommen. Ein strahlen-des Etwas in der Mitte, in weitem Abstand tanzten goldene Bälle um dieses Etwas, drei Bälle, zählte ich.

Das Bild verschwand, es wurde beiseite gerückt. Wenig später tauchte eine neue Er­innerung auf, diesmal nicht verschwommen. Klar und deutlich sah ich sie, die ragende Burg auf dem steilen Felsen, Symbol der Wehrhaftigkeit. In der Ebene sammelten sich die Heerscharen, über die ich gebot – Tausende, Reiter und Fußsoldaten, jeder ge­wappnet bis an die Zähne.

»Es sind viele«, antwortete ich, ohne die Augen zu öffnen. »Und sie sind die Blüte der Tapferkeit.«

»Das Reich, über das ihr gebietet, wie heißt es?«

»Arkon«, sagte ich sofort. »Ich bin Erbe des Großen Imperiums der Arkoniden.«

»Seltsam«, sagte Keschmal Schado. »Ich habe noch nie von diesem Imperium ge­hört.«

Es war seltsam still geworden in der großen Festhalle, die einigen tausend Gästen

Peter Terrid

Platz bot. Ich öffnete die Augen. Das gesam­te Publikum starrte nach vorn, auf Keschmal Schado und seine Braut. Thalia war auserse­hen, die achtunddreißigste Frau des Superin­tendenten zu werden, ein keineswegs benei­denswertes Schicksal.

»Es liegt weit entfernt von hier«, sagte ich lächelnd. »Sehr weit entfernt, Herr.«

Ein Bediensteter reichte mir einen gefüll­ten Pokal. Der Wein war dunkel und duftete würzig. Ich tat dem Herrscher von Äleas Be­scheid.

Thalia an seiner Seite wirkte wie verstei­nert, fast geistesabwesend.

Der Wein war stark, ich mußte mich in acht nehmen. Schon lagen die ersten Gäste des Festes unter den Tischen.

Oben, auf der Plattform des Wärterbun­kers, stand der Zug, der Keschmal Schado nach Henner-Theel gebracht hatte. Ich war mir sicher, daß er praktisch nur Soldaten enthielt. Eine Gruppe davon hatte sich an den Wänden und den Türen der Festhalle aufgebaut. Die Leute waren bewaffnet, und sie nahmen an dem Gelage nicht teil – den Rest konnte sich jedermann denken. Die Menschen in diesem Saal waren nicht Gäste, sie waren Gefangene von Keschmal Schado. Gefangen war auch ich, darüber machte ich mir keine Illusionen.

Ich fragte mich, wie lange dieser Zustand andauern sollte. Was konnte ich tun? Ich konnte versuchen zu fliehen. Das sagte sich einfach, war aber schwierig durchzuführen. Ich befand mich, während ich an meinem Wein nippte, im Innern des Wärterbunkers Henner-Theel. Das war einer von insgesamt mindestens siebzehn Bunkern, auf denen die sogenannte Kontinentalbrücke ruhte. Sie überspannte den Ozean Puer und führte von Schbura – dorther kam Thalia – nach Äleas, dessen Herrscher mir in diesem Augenblick buchstäblich im Nacken saß.

Zwischen Henner-Theel und Äleas lagen noch sechs Bunker, jeder davon war vom anderen jeweils einhundert Kilometer weit entfernt. Dieser Tatbestand erfüllte mich mit etwas Ruhe.

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Auf der Brücke regierte keiner der beiden mir bekannten Herrscher, weder Habos Ma­tera noch Keschmal Schado. Die Brücken­leute waren autark, sie regierten sich selbst – so hieß es jedenfalls.

Wenn ich meine Flucht unter diesem Ge­sichtspunkt betrachtete, waren meine Aus­sichten gar nicht einmal schlecht. Ich konnte mich davonschleichen, sobald ich wieder an die Oberfläche kam.

Dann allerdings stand ich vor dem Pro­blem, mich bis zum nächsten Wärterbunker durchzuschlagen, ohne Hilfsmittel – und vor allem, ohne Plan und Ziel. Was hätte ich im nächsten Bunker anfangen sollen?

Ich wußte ja nicht einmal, wie ich über­haupt auf diese Brücke gekommen war. Banjar und Päär, zwei junge Männer aus Henner-Theel, hatten mich in einem verun­glückten Zug bewußtlos gefunden – und erst vom Zeitpunkt meines Erwachens an konnte ich mich erinnern. Alles, was sich vorher ab­gespielt hatte, war mir unbekannt.

Im Hintergrund des Saales begannen die Musiker wieder zu spielen. Was sie produ­zierten, war ein infernalischer Lärm, aber den Bewohnern von Henner-Theel schien es zu gefallen. Das war ein Hinweis mehr, daß ich nicht zu diesem Volk gehörte. Ich war kein Brückenmann, ich war Arkonide – was immer sich hinter diesem Namen auch ver­bergen mochte.

Aber was war mit mir geschehen, wie war ich auf diese seltsame Welt mit ihren noch befremdlicheren Bewohnern gekommen?

Ein Gedanke durchzuckte mich. Was hat­te ich mich da eben gefragt? Wie ich auf diese Welt gekommen war? Gab es denn auch andere Welten?

Mein Zustand war entsetzlich. Jeder ande­re Schmerz hätte sich bekämpfen lassen, aber diese Quälerei schien unwiderstehlich. Sie nahm kein Ende, schien sich in alle Ewigkeit fortsetzen zu wollen.

Wenn ich nur einen Anhaltspunkt gehabt hätte, einen einzigen brauchbaren Hinweis, von dem aus man logisch hätte weiterarbei­ten können. Nichts dergleichen stand mir zur

Verfügung. »Erhabener«, sagte Keschmal Schado

freundlich. »Werdet Ihr unsere Reise beglei­ten? Ich möchte Euch bei den Hochzeitsfei­erlichkeiten unter den Gästen wissen. Und …«

Er beugte sich vertraulich vor und flüster­te mir ins Ohr.

»Unter uns gesagt«, raunte er. »Vielleicht könnten wir ein Abkommen schließen. Ich hätte für militärische Hilfe durchaus Ver­wendung, und wahrhaftig, ich bin kein Knicker.«

War ich betrunken, oder warum kam mir dies alles so entsetzlich unwirklich, ja alp­traumhaft vor?

Dieser feiste Tyrann bot mir ein Bündnis an, mir, der ich nicht einmal genau wußte, wer ich war. Keschmal Schado schien da keine Schwierigkeiten zu haben. Er glaubte mir einfach.

Unvorstellbar, aber witzig. »Du kannst eine von meinen Töchtern ha­

ben«, murmelte Schado. Er hatte einen Mundgeruch, daß einen das Grausen ankam, und er blies mir diesen Atem mitten ins Ge­sicht. »Ich habe eine ganze Menge Töchter, eine hübscher als die andere. Hehehe, mein Blut.«

Die Vorstellung, meine Nächte mit einer Frauensperson verbringen zu müssen, die Keschmal Schado ähnlich sah, erregte Ent­setzen. Ich machte dennoch ein möglichst freundliches Gesicht. Ich warf einen Blick auf Thalia. Was hatte ich mit der Frau zu tun? Sie war im Saal weitaus die schönste Frau, und das nicht nur nach meinem Maß­stab. Aber das allein konnte mich nicht mit ihr verbinden. Da war mehr im Spiel. Merk­würdig genug – wir kannten uns. Die selbst­verständliche Vertrautheit, die ich bereits bei der ersten Nennung ihres Namens verspürt hatte, hatte auch Thalias Verhalten mir ge­genüber geprägt. Auf geheimnisvolle Weise waren wir vom ersten Kontakt an miteinan­der befreundet gewesen – wenn nicht gar mehr. Im Augenblick konnte uns diese Be­ziehung leicht zum Verhängnis werden. Ke­

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schmal Schado sah nicht so aus, als würde er mir Thalia freiwillig abtreten.

»Nun, was meint Ihr?« »Es wird sich zeigen«, sagte ich und lä­

chelte dazu. »Ich finde, dieser Abend ist zu schön, um ihn so komplizierten Dingen wie hoher Politik zu widmen.«

»Da habt Ihr recht, Atlan – ich darf Euch doch so nennen?«

Ich neigte den Kopf zum Zeichen des Ein­verständnisses.

»Heda, Schankknechte. Beeilt euch, die Gläser sind leer. Du da, fülle meinem Freund den Pokal!«

Ein Mundschank näherte sich unterwür­fig. Er füllte mir den Pokal nach. Dabei konnte ich die Narben im Gesicht des noch jungen Mannes erkennen. Ein sehr umgäng­licher Herr und Gebieter war Keschmal Schado nicht.

Immerhin hatte ich das zweifelhafte, wahrscheinlich sogar lebensgefährliche Ver­gnügen, von diesem Mann Freund genannt zu werden.

Keschmal Schado setzte den Humpen an die Lippen, dann stürzte er mit atemberau­bender Geschwindigkeit einen Liter starken Wein die Gurgel hinunter – ohne abzuset­zen.

Ich trank vorsichtig, ich war mir sicher, daß ich meinen Kopf noch brauchen würde – vielleicht sogar noch in dieser Nacht.

Wieder sah ich über die Schulter hinweg nach Thalia. Keschmal Schado rülpste unge­niert und wandte sich zur Seite, um nach ei­nem Stück Braten zu greifen. Einen Augen­blick lang brauchte sich Thalia nicht zu ver­stellen, und in dieser Zeitspanne zeigte ihr Gesicht einen Ausdruck des Ekels und des Hasses. Sie hatte sich aber einen Herzschlag später wieder in der Gewalt.

»Herr?« Erst beim zweiten Anruf entdeckte ich,

daß ich selbst mit dieser Anrede gemeint war. Päär und Banjar näherten sich mir, bei­de mit Gesichtern, die einen kleinen Schwips und eine große Portion Verlegen­heit zeigten.

Peter Terrid

»Wir wollten um Entschuldigung bitten«, sagte Banjar, der ältere der beiden Brücken­leute. Sie waren hier in Henner-Theel zu Hause.

»Wofür entschuldigen?« »Wir wußten nicht, daß du … daß Ihr …« Ich stieß mit Banjar an. »Ich wußte es selbst nicht mehr«, sagte

ich lächelnd. »Vergeßt die Angelegenheit.« »Danke, viele Dank …« Die beiden waren geradezu überschweng­

lich. Offenbar hatten sie gnadenlose Bestra­fung erwartet für ihr Betragen.

Keschmal Schado war dem kurzen Wort­wechsel aufmerksam gefolgt, sein Blick war unablässig zwischen Banjar und mir hin und her gependelt. Seine Miene drückte Erstau­nen aus.

Ich lächelte zurückhaltend. Keschmal Schado lächelte zurück. Was hatte ich nun wieder falsch gemacht?

»Ich habe eine Bitte«, wandte ich mich an den Herrscher von Äleas. Er neigte den Kopf. »Um mir und Eurer Braut zu helfen, haben diese beiden ihre Wanderung unter­brechen müssen, ja sie mußten sogar in ihren heimatlichen Bunker zurückkehren. Kann man ihnen nicht trotzdem ein Diplom aus­stellen?«

Banjar und Päär standen erstarrt. Ke­schmal Schado sah mich entgeistert an. Erst nach einer halben Minute war er in der Lage zu sprechen.

»Ich werde sehen«, stotterte er. »Es wird sich machen lassen, obwohl mein Einfluß auf die Brückenleute nicht sehr groß ist. Aber ich werde sehen, was sich in diesem besonderen Fall tun läßt.«

Ich lächelte dankbar, obwohl mir ganz an­ders zumute war.

Ich hatte wieder etwas falsch gemacht, das war offenkundig. Aber was?

2.

Der Meisterträumer konnte mit sich zu­frieden sein – er war es aber nicht.

Die Gedanken, die Länerth beschäftigten,

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waren von Angst und Erschrecken gezeich­net, trotz des sichtbaren Erfolges.

Zunächst hatte sich die Sache gut angelas­sen. Er wußte nun endlich, wer dieser Atlan war. Der Gefangene bekleidete eine hohe Erbfolgestellung in einer Hierarchie, die er Arkon oder das Große Imperium nannte. Diese Information war bedeutungsvoll, auch wenn sich erst herausstellen mußte, ob es sich bei diesem Großen Imperium nicht um irgendein Duodezfürstentum bei kosmischen Vagabunden handelte. In der Regel waren die schäbigsten Besitztümer mit den üppig­sten Titeln verziert.

Wichtig aber war die Information, daß At­lan es wagte, dem Superintendenten Ke­schmal Schado zu trotzen. Länerth hatte die­se Person liebevoll und sorgsam konstruiert und in das Szenarium eingefügt.

Am Rang Keschmal Schados im Szenari­um konnte jedenfalls nicht der geringste Zweifel bestehen. Wenn Atlan es also wag­te, diesem Tyrannen mit Worten zu trotzen, dann nur, weil er sich zumindest ebenbürtig fühlte.

So weit war Länerth gekommen. Er hätte mit diesen vorläufigen Ergebnissen zufrie­den sein können.

Was ihn aber in echte Alarmstimmung versetzt hatte, war der Umstand, wie Atlan dem Superintendenten zu trotzen wagte – und was für Motive er dabei an den Tag leg­te.

Von Yärling wußte Länerth, daß es sich bei den Gefangenen um Verbrecher handel­te. Was der Kommandant aber verschwiegen hatte, war die Tatsache, daß dieser Atlan nicht nur ein gewöhnlicher Krimineller war – er zeigte auch erste Ansätze eines revolu­tionären Philosophierens. Sein ganzes Betra­gen war eine einzige Herausforderung.

Nach den Gegebenheiten des Szenariums mußte Atlan wissen, daß er in Keschmal Schado einen Feind hatte – und trotzdem wagte es der Gefangene, für seine beiden völlig unbedeutenden Gefährten zu bitten. Eine Ungeheuerlichkeit, die seinesgleichen suchte.

Dieser Atlan tat gerade so, als gäbe es keine naturgegebenen Unterschiede zwi­schen Lebewesen, als gäbe es nicht Völker, die zum Herrschen, und andere Völker, die zum Gehorsam geschaffen waren.

Länerth begriff langsam, daß er es mit ei­nem Feind zu tun hatte, dessen Denksche­mata ihm fremd war und wahrscheinlich la­gen in diesen umstürzlerischen Gedanken die Schwierigkeiten begründet, die Länerth bislang mit den beiden neuen Personen im Puer-Szenarium gehabt hatte.

Länerth wußte nun, daß er vor einer be­sonders schwierigen und kniffligen Aufgabe stand. Noch einmal überprüfte der Meister­träumer seine Strategie, ging er mit sich zu Rate, ob er Yärling über seine Entdeckung unterrichten sollte. Länerth sagte sich aber, daß sein Triumph wesentlich glorioser aus­fallen mußte, wenn er nicht nur die ge­wünschten Informationen beschaffte, son­dern auch die Namen und Daten einer revo­lutionären Verschwörung, zu der die beiden Gefangenen offenbar gehörten.

Noch hatte der Meisterträumer sein Sze­narium fest im Griff, wie konnte es anders sein? Warum sollte er dann nicht versuchen, diese ganze Problematik auf eigene Faust zu lösen? Wahrscheinlich … Länerth wagte den Gedanken kaum zu Ende zu denken … vielleicht berief ihn der Neffe des Dunklen Oheims in seine Dienste.

Meisterträumer nicht nur von Breister­kähl-Fehr zu sein, nein, Meisterträumer für das ganze Marantroner-Revier … der Ge­danke war schwindelerregend.

Aber er war nicht verwegen, er war der Wirklichkeit verhaftet. Länerth träumte nicht ins Blaue. Er überlegte nur.

Zwischen ihm und einer atemberaubenden Karriere stand nur ein Gefangener.

Hatte er dieses Problem gelöst, dann stan­den dem Meisterträumer des Mittleren Forts alle Türen offen.

Länerth machte sich an die Arbeit.

*

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An diesem Morgen dürfte ich der einzige Bewohner des Wärterbunkers Henner-Theel gewesen sein, der nicht mit einem Brumm­schädel herumlief – Thalia nicht ausgenom­men. Sie hatte so oft mit ihrem zukünftigen Gemahl anstoßen müssen, daß sie um einen handfesten Rausch beim besten Willen nicht herumgekommen war. Immerhin hatte sie den Weg in ihre Gemächer noch auf den ei­genen Beinen zurücklegen können. Ke­schmal Schado hatte man schleppen müssen. Ich war einer der Glücklichen gewesen, die man mit der Aufgabe betraut hatte, den voll­trunkenen Fettwanst in sein Bett zu schlep­pen. Einen Augenblick lang hatte ich tat­sächlich mit dem Gedanken geliebäugelt, Keschmal Schado die Kehle durchzuschnei­den. Die Gelegenheit war günstig gewesen.

Von den vier Trägern waren zwei meine Freunde Banjar und Päär gewesen. Der An­schlag wäre zweifellos erfolgreich gewesen.

Irgend etwas hatte mich zurückgehalten, ich wußte selbst nicht was. Eine Anwand­lung, mehr nicht. Aber diese Anwandlung hatte zur Folge, daß mein Kopf nach wie vor in großer Gefahr schwebte, und nicht nur der meine.

In Keschmal Schados Bett hatte eine jun­ge Frau gelegen und geschlafen, eine von Schados zahlreichen Weibern oder Sklavin­nen. Unser Eintreten war so geräuschvoll gewesen, daß das Mädchen erwacht war.

Beim Anblick des schnapsgefüllten, schnarchenden Keschmal Schado hatte ihr Gesicht einen Ausdruck von Ekel und Ver­zweiflung gezeigt, den ich lange nicht würde vergessen können. Noch einmal hatte ich an den Dolch in meinem Gürtel gedacht. Ein rascher Stich, und Keschmal Schados Schicksal wäre besiegelt gewesen.

War es Feigheit gewesen, was mich zu­rückgehalten hatte, auch in dieser Sekunde?

Ich wußte es nicht, weil ich überhaupt viel zuwenig wußte. Ich hatte nur einer Einge­bung gehorcht, einem Drängen, das aus mir selbst zu kommen schien. Mir war, als leb­ten zwei völlig verschiedene Personen in meinem Körper, von denen die eine tief im

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Innern vergraben lag. Mir war allerdings klar, daß jeder neutrale

Beobachter aus dieser Erklärung, hätte ich sie laut ausgesprochen, akuten Irrsinn dia­gnostiziert hätte.

Als es Morgen wurde – die Sirenen ver­kündeten den Beginn der Arbeitszeit –, war ich stundenlang in verlassenen Gängen und Fluren herumgelaufen, auf der Suche nach dem eigenen Ich.

Die Wanderung hätte ich mir sparen kön­nen. Ich war keinen Schritt weitergekom­men. Ich hieß Atlan, das zumindest schien festzustehen. Ich stammte aus Arkon, jeden­falls hatte ich das Keschmal Schado gegen­über behauptet, und ich hatte dabei das Ge­fühl gehabt, die Wahrheit ausgesprochen zu haben.

Allein in diesem Punkt wurde schon er­schreckend deutlich, wie zerstört mein Geist sein mußte. Ich hatte geglaubt, die Wahrheit gesagt zu haben!

Bei allen Dingen, die heilig waren – wer, wenn nicht ich, hätte sagen sollen, was die Wahrheit war? Eingefallen war mir bei die­ser nächtlichen Wanderung, daß ich Banjar und Päär gegenüber behauptet hatte, von Thäär-Rha zu kommen. Thää-rRha war, das hatten die beiden jedenfalls behauptet, der erste Wärterbunker auf der Schbura-Seite der Kontinentalbrücke.

Gleichgültig, wen ich angelogen hatte, ob Keschmal Schado oder die Freunde, eine von beiden Informationen mußte falsch sein. Entweder kam ich von Thäär-Rha, oder ich kam von Arkon. Beides zusammen ging nicht.

Immerhin hatte mir Banjars Antwort ver­raten, daß es Thäär-Rha gab. Ich hatte also wenigstens eine Information von mir gege­ben, die man nachprüfen konnte – und diese Information war offenbar zutreffend. Es gab Thäär-Rha.

Daraus ergab sich eine naheliegende Kon­sequenz. Ich mußte nach Thäär-Rha zurück. Nur dort konnte ich hoffen, Menschen zu finden, die mich kannten und die in der Lage waren, die Lücken zu schließen, die in mei­

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nem Gedächtnis klafften. Ich hörte die Sirenen heulen, sah die Be­

wohner in die Gänge hasten – und ich sah die Posten Keschmal Schados an den Kno­tenpunkten der Wege stehen. Ich schritt wie abwesend durch die Menge.

Ich sollte nach Thäär-Rha, das sagte mir mein Verstand.

Aber das Etwas, jener grauenvolle Dämon in meinem Innern, widersetzte sich diesem Gedanken. Mit aller Macht arbeitete dieses Gefühl gegen den logischen Verstand an. Wenn ich auch nur an Thäär-Rha dachte, überfielen mich Trauer und Schmerz, und das ohne jeden ersichtlichen Grund. Denn ich verband mit diesem Namen nicht die Spur einer Erinnerung.

»Sperrgebiet!« sagte der Posten und hielt mir seine Pike entgegen.

Ich hob die Hände, deutete eine Entschul­digung an und kehrte um. Ich suchte das Quartier auf, das mir zugewiesen worden war. Es war nicht mehr als eine Kammer mit drei Strohsäcken darin, auf denen Päär, Ban­jar und ich schlafen sollten. Die jungen Brückenleute lagen noch in tiefem Schlaf, als ich den Raum betrat. Nachdenklich be­trachtete ich die Schläfer.

Sie sahen aus wie ich. Sie hatten einen Rumpf, der wie bei mir mit kurzen schwar­zen Haaren bedeckt war. Sie hatten zwei Beine mit Füßen daran, sie hatten zwei Ar­me mit gelenkigen Händen an den Enden. Bei ihnen wie bei mir saßen Schwimmhäute zwischen den Fingern, bis hart an die gelbli­chen Nägel.

Sie trugen wie ich einen breiten Haar­kamm von einer Höröffnung zur anderen. Nicht einmal in der Haarfarbe unterschieden wir uns – wie alle, denen ich begegnet war, trugen sie blaues Haar.

Und wenn ich mich umwandte und in den Spiegel blickte, dann sahen mich die glei­chen …

Ich stutzte. Jeder, dem ich bisher begegnet war, hatte

gelblich schimmernde Augen, die leicht ins Grünliche spielten.

Meine Augen aber … Ich beugte mich vor, faßte mein Spiegel­

bild schärfer ins Auge. Tatsächlich, meine Augen schimmerten

rötlich. Der Farbton war nicht zu verkennen. »Ein Rätsel mehr«, murmelte ich bitter. Ich setzte mich in einen Winkel des klei­

nen Zimmers auf den Boden, verschränkte die Hände über den angezogenen Knien und barg den Kopf darin. Mir war nach Weinen zumute, ein Gefühl der Hilflosigkeit hatte mich im Griff, gegen das ich mich nicht zur Wehr setzen konnte.

»Sorgen, Freund?« Ich sah auf. Banjar war erwacht und lä­

chelte mich an. Ich lächelte matt zurück. »Ich finde mein Gedächtnis nicht wie­

der«, sagte ich. »Ich kann machen, was ich will – ich kann mich an nichts erinnern.«

»Manch einer wäre froh deswegen«, mur­melte Banjar. Er rieb sich den Schädel. »Was kümmert es dich – du bist ein Prinz, alles weitere wird sich finden.«

Der Trost war billig, aber er tat wohl. »Was werden wir heute unternehmen?«

fragte Banjar. Er wusch sich kurz. »Wahrscheinlich wird Keschmal Schado

nach Äleas zurückkehren wollen«, mutmaß­te ich. »Und ich nehme an, daß er uns mit­nehmen wird.«

»Mitnehmen«, murmelte Banjar. Im Hin­tergrund räkelte sich Päär. »So kann man das natürlich auch nennen. Ich würde es eher als Verschleppen bezeichnen.«

»Hüte dein Maul«, knurrte Päär. »Es ist ein Freund des Superintendenten, denk dar­an.«

Päär grinste breit. Es tat gut, diese beiden zu Freunden zu haben. Wenn ich wirklich Prinz war, wollte ich mich für diese Hilfe er­kenntlich zeigen.

Es klopfte. Dann trat einer der Leibgardi­sten Keschmal Schados ein. Er deutete eine Höflichkeitsgeste an, die sich allerdings nur auf mich bezog.

»Keschmal Schado wünscht Euch zu se­hen«, erklärte er knapp, verbeugte sich aber­mals und zog sich wieder zurück.

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»Maulfauler Geselle«, knurrte Banjar. »Beeile dich, Päär, sonst kommen wir noch zu spät.«

Gepäck besaß ich nicht, ich war also so­fort reisefertig. Es stand zudem zu erwarten, daß es im Innern von Keschmal Schados Zug Vorräte aller Art gab, deren ich mich bedienen konnte.

Die beiden Brückenleute waren bald fer­tig. Wir verließen das Quartier und stiegen langsam die vielen Treppen zur Oberfläche hinauf.

An uns vorbei hastete ein langer Zug schwerbepackter Männer. Es war leicht zu erraten, was sie schleppten. Die Gesichter meiner beiden Begleiter verfinsterten sich, als sie die Beute sahen, die Schados Männer fortschleppten.

»Hoffentlich versuchen sie nicht, Sklaven zu machen«, murmelte Banjar bleich. »Unsere Eltern leben hier und unsere Freun­de.«

Ich versuchte die beiden zu beruhigen. Sklaven besaß Keschmal Schado wahr­scheinlich genug, obendrein waren die Brückenleute wichtige Menschen – sie muß­ten die gigantische Brücke zwischen Äleas und Schbura in gutem Zustand halten, eine Aufgabe, zu der man Tausende in immer­währendem Einsatz brauchte. Wer die Brückenleute fortzuschleppen trachtete, schnitt sich ins eigene Fleisch.

Überraschenderweise war das Wetter gut, als wir die Oberfläche des Wärterbunkers er­reichten. Eine fahlgelbe Sonne schien auf uns herab. In ihrem Licht stand der Zug auf der Plattform. Es war ein gigantisches Ge­bilde. In der Nacht hatten wir die wahren Ausmaße dieses Giganten gar nicht erken­nen können. Geformt im Querschnitt wie ei­ne riesige Raupe war der Zug zumindest zwei Kilometer lang. In der Höhe maß er an­nähernd sieben Meter, das bot Platz genug für zwei Stockwerke. Untergliedert war das Gefährt in Segmente von je fünfzig Meter Länge, jedes einzelne gepanzert und mit Soldaten besetzt.

»Darin kann man ein Heer unterbringen«,

Peter Terrid

sagte Banjar beeindruckt. »Darin ist ein Heer untergebracht, junger

Mann!« Infam grinsend stand Keschmal Schado

hinter uns. Von dem Gelage schien er sich gut erholt zu haben. Hinter ihm waren zwei Frauen zu erkennen. Die eine hatte ich in der Nacht gesehen – sie hatte ein geschwollenes Auge. Neben ihr stand, bleich und mit zu­sammengepreßten Lippen, Thalia. Sie sah kurz zu mir hinüber, lächelte rasch und ließ ihr Gesicht dann wieder versteinern.

»Wollt Ihr die Brücke plündern?« Keschmal Schado beantwortete meine

Frage mit einem weiteren Ausbruch seines Gelächters, das einem handfestes Alp­drücken bescheren konnte.

»Ich wollte mir holen, was man mir frei­willig kaum gegeben hätte«, erklärte er. »Tribute, Ihr versteht, Freund?«

»Ihr solltet den Leuten genug lassen, da­mit sie den nächsten Tribut zustande brin­gen«, warf ich ein; meine Stimme sollte ge­lassen, gleichgültig klingen. Ich konnte nur hoffen, daß von meiner fürchterlichen Wut nichts darin zu hören war. »Verhungerte sind selten zahlungskräftig.«

»Gut beobachtet, aber nicht meine Sor­ge«, sagte Schado und machte eine wegwer­fende Handbewegung. »Soll das Gesindel doch dahinsterben – es wird sich Nachschub finden.«

Ich hielt die Luft an und knirschte leise mit den Zähnen. Oh, wenn doch meine Freunde zur Stelle gewesen wären, ich hätte mit diesem Lumpen aufgeräumt …

Freunde? Ich hatte Freunde? Ein hageres Gesicht, grauäugig, tauchte

auf, eine kleine Narbe auf dem rechten Na­senflügel … und dann war das Bild wieder verschwunden.

»Steigt ein«, forderte mich Keschmal Schado auf. Ich lächelte mit zusammenge­bissenen Zähnen und schritt an ihm vorbei in das Innere des Zuges.

*

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Keschmal Schado hatte mich in sein pri­vates Abteil eingeladen, ein mit barbari­schem Prunk überladenes Segment des Zu­ges. Es enthielt Lebensmittel und Schnaps­vorräte, beherbergte einen kleinen Harem und war sogar mit einer kleinen Folterkam­mer ausgestattet. Es fehlte an nichts, was ei­nem Keschmal Schado die Stunden des Transports versüßen konnte. Einstweilen er­mangelte es Schado noch an Kandidaten für Streckbett und Daumenschrauben, aber wenn ich mir die Blicke ansah, mit denen er mich und meine beiden Freunde maß, dann wußte ich, daß er um Kandidaten nicht ver­legen war.

Thalia zog sich, kaum daß sie den Zug be­treten hatte, in den Harem zurück. Keschmal Schado hatte insgesamt acht Frauen auf sei­nen Raubzug mitgenommen.

Als Thalia verschwand, lauerte mich Schado von der Seite her an, aber ich zuckte mit keiner Miene. Hatte der Grausame etwas bemerkt? Wenn ja, dann war nicht nur ich in höchstem Maß gefährdet – dann war auch Thalias Leben keinen lumpigen Skalito mehr wert.

»Nun, wohin soll die Reise gehen?« frag­te Schado boshaft.

Ein leises Rumpeln hatte ihm und uns an­gezeigt, daß die Türen des Zuges sich ge­schlossen hatten. Auf diese Frage konnte es nur eine Antwort geben. Weiterzufahren nach Schbura hätte bedeutet, diesem uner­sättlichen Räuber noch weitere Opfer seiner Gier und Grausamkeit zuzutreiben.

»Ihr habt, was Ihr wolltet«, sagte ich. »Kehrt also um, Richtung Äleas.«

Keschmal Schado klatschte in die Hände. Der Zug setzte sich in Bewegung.

3.

Länerth, der Meisterträumer, konnte dem bisher gesammelten einige weitere Informa­tionen zufügen. Beispielsweise wußte er nun, daß es im Land des Gefangenen eine Währung gab, deren Einheit ein Skalito war. Das waren zwar nicht gerade sensationelle

Erkenntnisse, aber viele kleine Einsichten erweisen sich mitunter als ebenso wichtig wie eine große Information.

In jedem Fall zeigte dies alles, daß der Meisterträumer auf dem richtigen Weg war. Es kam nun darauf an, diesen Weg konse­quent weiterzugehen.

Die Vorbereitungen dafür waren längst getroffen. Der Meisterträumer hatte nichts außer acht gelassen. Sein Plan, der eines Meisterträumers würdig war, konnte nicht fehlschlagen.

*

Für die Begriffe dieser Welt war der Zug außerordentlich schnell. In einer Stunde leg­ten wir knapp siebzehn Kilometer zurück.

Ich stellte diese Überlegung während der Fahrt an, und mir entging nicht, welch selt­same Gedanken in diese Überlegung einge­arbeitet waren. Beispielsweise die Vorstel­lung, daß ich mich auf einer Welt bewegte – auf einer, wohlgemerkt. Der Gedanke schloß die Vorstellung anderer Welten mit ein. Niemand hatte mit mir über dieses The­ma gesprochen, aber trotzdem wußte ich plötzlich, daß es mehr als eine Welt gab. Ich wußte, und das war das Beklemmende dar­an, daß diese Information meines seltsamen Gedächtnisses stimmte. Ich konnte mich auf diese Information verlassen.

Die Fahrt verlief in den ersten Stunden ru­hig und gleichmäßig. Zwar fegte ein Nord­oststurm über die Brücke, aber an der glatten Wandung des Zuges glitten die Kräfte des Windes ab. Unbeirrbar schob sich das mon­ströse Gebilde vorwärts.

»Wie wird dieses Ding eigentlich ange­trieben?« fragte ich Keschmal Schado, der die Mußestunden dazu nutzte, seine Geträn­kevorräte einer eingehenden Musterung zu unterziehen.

»Seht es Euch an, wenn Ihr wollt«, sagte Schado ohne aufzublicken. »Der Zug steht Euch zur Verfügung – ausgenommen natür­lich diese Räume.«

Er deutete dabei auf sein Schlafzimmer

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und den daran angrenzenden Aufenthalts­raum der Frauen. Ich erwiderte sein Geläch­ter mit einem freundlichen Grinsen, dann winkte ich Päär und Banjar.

Zusammen gingen wir den Zug entlang. Ich wollte nicht nur wissen, wie dieser Zug voranbewegt wurde, ich wollte auch die Be­satzung näher betrachten.

Was ich bereits vermutet hatte, bestätigte sich. Der ganze Zug enthielt praktisch nichts anderes als Soldaten und Beutegut. Ich schätzte, daß Keschmal Schado mindestens zehntausend Bewaffnete mitgenommen hat­te, wahrscheinlich sogar erheblich mehr. Die Wärterbunker waren zwar dicht besiedelt, aber gegen eine solche Streitmacht waren sie, vor allem, wenn sie einzeln nacheinan­der angegriffen wurden, völlig hilflos.

»Bei allen Sturmhexen«, murmelte Ban­jar. »Wie kommen wir jemals wieder hier heraus?«

»Wahrscheinlich tot«, antwortete Päär trocken.

Angesichts der Machtfülle, die hier zu­sammengedrängt war, konnte es einem die Sprache verschlagen.

Wir waren zu dritt – vier, wenn wir Thalia mitrechneten – und hatten es mit einer per­fekt ausgerüsteten, gnadenlos gedrillten und erbarmungslos geführten Armee zu tun. An­gesichts dieser Verhältnisse an Widerstand zu denken, war blanker Wahnsinn.

Nun, in dergleichen Dingen hatte ich ja Erfahrung – es waren die einzigen konkreten Erfahrungen, die ich überhaupt hatte.

Langsam bewegten wir uns den Zug ent­lang, auf die Spitze des riesenhaften Gebil­des zu. Mir war ein Rätsel, wie diese unge­heure Masse fortbewegt werden konnte. Erst als wir die Spitze des Zuges erreicht hatten, erkannte ich des Rätsels Lösung. Zweihun­dert Meter Länge nahm der Antrieb in An­spruch, einhundert Meter wurden als Lager­platz für Treibstoff benötigt. Der Treibstoff war eine grünliche Paste, die infam stank und in großen Tanks gluckerte und schwappte.

Der Antrieb, das waren lebende Wesen.

Peter Terrid

Jetzt begriff ich, warum die Züge die äußere Form einer riesigen Raupe hatten. Es waren Raupen, die diese Kolosse von der Stelle be­wegten. Keschmal Schados Zug wurde von vier dieser Tiere bewegt, von vier jeweils knapp fünfzig Meter langen Raupen, die in der engen Hülle des Zuges rhythmisch zuck­ten und sich krümmten. Über komplizierte Hebelsysteme, Hydrauliken und Gestänge wurden die Bewegungen der Tiere auf Räder und Panzerketten übertragen.

»Was sind das für Tiere?« fragte ich einen Mann, der damit beschäftigt war, einer der Raupen Fressen in einen großen Trog zu schaufeln.

»Zugtiere«, sagte der Mann verständnis­los. »Ganz einfach Zugtiere. Sie haben kei­nen Namen.«

»Sie werden an Bord der Züge geboren und großgezogen«, wußte Banjar zu berich­ten. »Wenn sie groß genug sind, wird das ganze Segment abgetrennt und vor einen leeren Zug gespannt. Das ist alles.«

Ich sah die Zugtiere an. Wellenförmig lie­fen Bewegungen über die langgestreckten Körper der Tiere. Zuckten sie, weil sie sich immer so bewegten? Oder waren diese Be­wegungen vom Schmerz erzeugt? Ich wußte es nicht, aber mir ahnte, daß ich es hier mit Sklaven zu tun hatte. Den bedauernswerten Geschöpfen hatte man nicht einmal mehr die Bewegungsfreiheit der Körper gelassen.

»Und dieses Zeug?« Ich deutete auf den grünlichen Brei, den

der Mann in den Trog schaufelte. Das Klat­schen rief in Verbindung mit dem Geruch ein unerträgliches Ekelgefühl hervor.

»Nährbrei«, sagte der Mann mit der Schaufel. Seine Kleidung war von dem Brei beschmutzt worden, er achtete nicht darauf. »Irgendein Algenzeug, und natürlich ein Be­ruhigungsmittel – Sconder-Samen.«

Ich konnte mit dem Begriff nichts anfan­gen.

Banjar klärte mich auf. »Wenn du davon ein Körnchen nimmst,

bist du stundenlang ohne Besinnung. Du kannst dich zwar bewegen, aber du merkst

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13 Der Meisterträumer

es gar nicht.« Also doch – die Raupen waren betäubt

und wurden in diesem Zustand gereizt, ent­weder mechanisch oder mit elektrischem Strom. Ihre unwillkürlichen Muskelbewe­gungen waren wahrscheinlich kräftiger und gleichmäßiger als ihre Bewegungen in wa­chem Zustand. Sie wurden von der Maschi­nerie, die ich gesehen hatte, zum Antrieb des Zuges ausgenutzt.

(Was war eigentlich der elektrische Strom, an den ich gerade gedacht hatte?) »Was passiert eigentlich, wenn man dem Futter keinen Sconder-Samen beimischt?«

Der Wärter sah mich mit hervorquellen­den Augen an.

»Herr«, stammelte er. »Der Gedanke al­lein ist Frevel. Wie könnt Ihr nur so etwas fragen? Es gäbe eine Katastrophe. Ich kann es mir gar nicht vorstellen, so schlimm wür­de das sein.«

Ich lächelte den entsetzten Mann freund­lich an. Er hatte mir einen wichtigen Hin­weis gegeben.

In meiner augenblicklichen Seelenverfas­sung war es mir ziemlich gleichgültig, was für Katastrophen ich auslöste – sofern ich damit nur Keschmal Schado schaden und mir selbst nutzen konnte.

»Gehen wir«, sagte ich. Der Anblick der Zugtiere drehte mir den Magen um.

Wir verließen die Antriebssektionen des Zuges. Auf dem Gang lehnte ich mich erst einmal gegen eine Wand und holte tief Luft. Dann sah ich meine Begleiter an.

Durfte ich auf Banjars und Päärs Hilfe rechnen, wenn ich einen Aufstand gegen Schado versuchte?

Konnte ich den beiden so weitgehend ver­trauen? Ich wußte viel zuwenig, um das be­urteilen zu können.

»Hört zu, Freunde«, sagte ich leise. Ich hatte mich umgesehen, keiner von Schados Leuten war in der Nähe. »Ich habe vor, die­sem fetten Scheusal den Hals umzudrehen und mit Thalia zu verschwinden. Was haltet ihr davon?«

Banjar machte eine Geste, die ich nicht

verstand. Päär sah mich entgeistert an. »Gefährlich«, sagte der Jüngere knapp.

»Überaus gefährlich. Wir sind von einer ganzen Armee umzingelt und wollen dem Befehlshaber an die Gurgel … ob das gut­geht?«

Ich lächelte ihn an, dann wandte ich mich an Banjar.

»Und du?« Der Ältere wiegte den Kopf. Er hatte Be­

denken. »Wenn die Sache danebengeht, und ich

bin mir sicher, daß sie danebengehen wird … Keschmal Schado wird kein freundlicher Gewinner in diesem Spiel um Köpfe sein.«

*

Keschmal Schado leckte sich die Lippen und grinste vor Vergnügen. Endlich hatte er Atlan in der Falle. Das kleine Mikrophon hatte den geflüsterten Wortwechsel deutlich aufgenommen und übertragen. Das hatte nichts mit Zufall zu tun, Keschmal Schado pflegte Dinge, die mit seinem Hals zu tun haben, niemals dem Zufall zu überlassen.

Es gab in jedem Abteil des Zuges mehrere Mikrophone. Die Verschwörung konnte also gar nicht geheim bleiben.

Keschmal Schado lehnte sich in den Kis­sen zurück. Er wollte nachdenken.

Es klopfte, dann trat eine der Sklavinnen ein.

»Jetzt nicht«, sagte Schado und lächelte freundlich. »Du kannst dich zurückziehen.«

Die Frau starrte Schado entgeistert an, dann zog sie sich hastig zurück.

Schado ärgerte sich. Er war aus der Rolle gefallen, aber er vergaß den Auftritt bald wieder. Er hatte Wichtigeres zu bedenken.

Da war beispielsweise die Frage, ob er Banjar und Päär aus dem Verkehr ziehen sollte. Daß die beiden Brückenleute von Henner-Theel mit Atlan gemeinsame Sache machen würden, hatte schon vorher festge­standen. Schados Plan hatte diese Variante enthalten, noch bevor Atlan ein Wort gesagt hatte.

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Daß Keschmal Schado die ganze Angele­genheit in der Hand hielt, verstand sich von selbst. Die Frage war, wie er künftig taktie­ren wollte.

Einstweilen hatte er Zeit. Atlan würde nichts unternehmen, solange er nicht aus dem fahrenden Zug herauskam. Bis zur An­kunft am nächsten Wärterbunker waren ihm die Hände gebunden.

Versprach es einen Fortschritt, Banjar und Päär zu eliminieren? Keschmal Schado kam zu dem Ergebnis, daß es seinen Absichten eher schaden würde.

Das ganze Spiel lief schließlich darauf hinaus. Atlan kunstvoll in eine Situation zu locken, wo er von sich aus all das sagen oder zumindest denken würde, was Keschmal Schado in Erfahrung zu bringen wünschte.

Das oft erprobte und immer wieder be­währte Verfahren in solchen Fällen bestand darin, den Kandidaten mit sanfter, aber si­cherer Hand bis hart an die Grenze des Tri­umphes zu führen, in schwindelnde Höhen – um ihn dann in rasendem Flug in tiefste Ver­zweiflung absacken zu lassen.

In Atlans Fall hieß das: Keschmal Schado mußte Banjar und Päär als Gehilfen Atlans weiter agieren lassen, ja sogar die Ver­schwörung gegen sein Leben fördern, indem er dafür eine günstige Gelegenheit schuf.

Danach war der Rest einfach. Schado würde Atlan und seine Helfer

festnehmen lassen – und das schloß Thalia ein, die Frau, an der Atlan so interessiert war und die ihm zum Verhängnis werden sollte.

Als erstes wollte Keschmal Schado die beiden Gehilfen foltern und hinrichten las­sen – natürlich im Beisein des Hauptver­schworenen. Reichte das noch nicht aus, die seltsame Gedächtnissperre zu beseitigen, mit der sich Atlan herumschlug, dann war als nächstes Thalias Folterung und Tod geplant. Keschmal Schado konnte sich nicht vorstel­len, daß Atlans Hirn auch dies noch klaglos ertrug.

Denn eines war Keschmal Schado unter­dessen klargeworden – daß er keine Infor­mationen aus dem seltsamen Mann heraus-

Peter Terrid

zuholen vermochte, lag nicht daran, daß At­lan nicht reden wollte – er konnte nicht, et­was hinderte ihn daran, zu seinen eigenen Erinnerungen vorzustoßen. Keschmal Scha­do war gewillt, diese Barriere zu sprengen. Und Keschmal Schado konnte sich nicht er­innern, daß er seinen Willen jemals nicht hätte durchsetzen können.

*

»Wir machen mit«, sagte Banjar zögernd. »Ehrlich gesagt, ich glaube nicht, daß wir Erfolg haben werden.«

»Warum willst du dann mitmachen?« fragte ich erstaunt. »Wenn du keine Aus­sichten siehst …?«

Banjar spähte durch eines der zahlreichen Bullaugen ins Freie. Es gab nicht viel zu se­hen, nur den Stahl der Brücke und das wo­gende Graugrün des Ozeans.

Leise sagte Banjar: »Ich glaube nicht an einen Erfolg. Aber

ich wünsche mir den Fehlschlag. Mir ist, als würde uns nur eine Katastrophe helfen.«

»Helfen? Wozu? Oder wogegen?« Nach Päärs hastig hervorgestoßener Frage

entstand eine Pause. Banjar sah noch immer auf das Meer hinaus. Er zuckte mit den Schultern.

»Ich fühle Schmerz«, sagte er. »Namenlosen, nicht enden wollenden Schmerz, und ich habe das Gefühl, daß nur der Tod diesen Schmerz enden kann.«

»Was fehlt dir?« fragte Päär mit hörbarer Besorgnis. »Keschmal Schado hat Ärzte an Bord, vielleicht können die …«

Banjar winkte ab. »Laß nur«, sagte er ruhig. »Es sind nur

Ahnungen, mehr nicht. Also, Atlan, ich hel­fe dir.«

»Und ich auch«, sagte Päär begeistert. »Es wird mir ein Vergnügen sein, Schado den feisten Leib aufzuschlitzen.«

»Wenn es überhaupt dazu kommt«, wehr­te ich hastig ab. »Ich will versuchen, die Sa­che ohne Blutvergießen durchzuführen. Ich hasse Grausamkeiten.«

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15 Der Meisterträumer

(Woher wußte ich nun das schon wieder? Die Unsicherheit hörte nie auf, mit jedem Wort das ich sprach, tauchte eine neue, quä­lende Frage auf.) »Atlan!«

Banjars Stimme riß mich in die Wirklich­keit zurück. Diese Anfälle kamen immer öf­ter, quälten mich mit blitzartig auftauchen­den, qualvollen Gedanken, in denen kein Sinn enthalten schien. Der Dämon in mir wurde lauter und lebendiger, und mich pei­nigte die Angst vor dem Augenblick, in dem dieser böse Geist die letzten Hemmnisse sprengen und völlig von mir Besitz ergreifen würde.

»Du mußt krank sein«, sagte Banjar be­sorgt. »Können wir etwas für dich tun? Du siehst entsetzlich aus. Deine Augen sind ganz rot!«

Ich zuckte unwillkürlich zusammen. Also doch, ich hatte mich bezüglich mei­

ner Augen nicht getäuscht. Sie hatten einen rötlichen Schimmer, und dieser Schimmer blieb, selbst wenn ich mich kerngesund fühl­te. Besaß ich vielleicht von Natur aus rötli­che Augen? Steckte ich in einer fremden Haut?

Ich kehrte zu unserem Plan zurück. »Keine voreiligen Handlungen«, sagte ich beschwörend. »Wir brauchen Keschmal Schado in jedem Fall lebend – sobald er tot ist, werden seine Leute nicht mehr die ge­ringste Rücksicht nehmen. Habt ihr das be­griffen?«

Beide nickten. »Dann los«, sagte ich. »Wir warten, bis

wir den nächsten Wärterbunker erreicht ha­ben. Dann versuchen wir, uns Keschmal Schado zu schnappen. Er wird seinen Solda­ten Befehl geben müssen, den Zug zu räu­men.«

»… und wir verschwinden mit dem Zug und Schado als Geisel«, setzte Banjar mei­nen Gedankengang fort. Er hatte augen­scheinlich begriffen, was für einen Plan ich geschmiedet hatte.

»Genau so werden wir es machen«, sagte ich.

Unwillkürlich sah ich auf mein linkes

Handgelenk. Dort war natürlich nicht das geringste zu erkennen, außer einem ganz ge­wöhnlichen Handgelenk selbstverständlich.

Banjar machte ein fragendes Gesicht, ich zuckte mit den Schultern. Hätte ich ihm er­klären sollen, daß mich plötzlich der ver­rückte Gedanke überfallen hatte, ich könnte dort ablesen, wieviel Zeit noch bis zur An­kunft am nächsten Bunker verstreichen wür­de?

Ich mußte höllisch aufpassen. Ich mußte nicht nur darauf achten, in meinem Kampf gegen Keschmal Schado keinen Fehler zu machen. Ich mußte auch darauf achten, mei­nen beiden Verbündeten gegenüber keine Fehler zu begehen. Einen Mann, der alle Anzeichen beginnenden Wahnsinns aufwies, unterstützte niemand gern in einem Kampf, dessen Ausgang lebensgefährlich war. Wenn ich ganz ehrlich war, dann hätte ich mir am liebsten selbst nicht geholfen, so verrückt kam ich mir vor. Der einzige Gedanke, der mich immer wieder unablässig vorantrieb, war der Wunsch, endlich Klarheit zu schaf­fen – so oder so.

4.

Das Verfahren, das sich Atlan ausgedacht hatte, war nicht übel. Es versprach Aussicht auf Erfolg, vorausgesetzt, das Opfer merkte nichts von dem Anschlag. Keschmal Schado aber war über alles, was im Innern des Zu­ges vor sich ging, bestens informiert. Er war überhaupt recht gut informiert. Schado be­rechnete die Zeit, die noch verstreichen mußte, bis der nächste Wärterbunker er­reicht war. Er kam zu dem Ergebnis, daß er ziemlich genau drei Stunden Zeit hatte, sei­ne Gegenmaßnahmen zu treffen.

Das war mehr als genug, um Atlans ver­wegenen Plan scheitern zu lassen.

*

Ein heftiger Ruck verriet mir, daß die Zeit gekommen war.

Der Zug hatte angehalten, der Wärterbun­

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ker war erreicht. Rhen-Phi hieß dieser Bun­ker, seine Bewohner galten unter den Brückenleuten als besonders lebenslustig und sinnenfroh.

Ich sah meine beiden Freunde an. Sie zeigten keinerlei Anzeichen von Nervosität oder Aufregung. Ich hätte mir keine besse­ren Gefährten wünschen können.

Einer unserer potentiellen Gegner tauchte auf, einer von Schados Leibgardisten.

»Der Superintendent wünscht Euch zu sprechen«, sagte er.

Wir machten uns auf den Weg zu Schados Räumen. Ich war einigermaßen gespannt, was Keschmal Schado mit diesem Wärter­bunker vorhatte. Wahrscheinlich würde es nur einen kurzen Aufenthalt geben. Die Be­wohner des Bunkers waren vermutlich froh darüber, daß dieser Gast rasch wieder ver­schwand.

Schado wartete auf uns. Er hatte sich krie­gerisch aufgeputzt, trug ein langes Schwert mit breiter Klinge am Gürtel, einen Dolch mit einer herrlichen Ziselierung – (war das nicht eine Sternenkonstellation auf dem Griffstück? Aber woher wußte ich, was eine Sternenkonstellation war?) – und in der Hand ein unförmiges Etwas, eine Art Griff mit einer metallenen Röhre daran. Ich wußte sofort, daß es sich dabei um eine Waffe han­delte, und aus meinem Innern schickte der Dämon das Gefühl in mein Bewußtsein, daß diese Waffe ganz besonders gefährlich war.

»Ich wollte Euch eine Freude machen, Prinz Atlan«, sagte Schado mit der ihm eige­nen freundlichen Widerwärtigkeit. »Habt Ihr schon einmal einen Überfall auf einen Wär­terbunker erlebt?«

Ich schüttelte den Kopf. »Aber …«, stotterte ich. »Habt Ihr nicht

schon … auf dem Hinweg?« Keschmal Schado lachte breit. »Nicht doch«, sagte er amüsiert. »Ich

werde die Beute doch nicht erst nach Hen­ner-Theel schleppen und dann wieder zu­rück. Mitnichten, junger Freund, ich habe mir diese … nun, sagen wir Tributforderun­gen … für den Rückweg aufgehoben.«

Peter Terrid

Ich hatte die Hand am Gürtel, spürte den Griff meines Dolches. Auszurichten war hier nichts. Zwischen mir und Schado standen zwei Wachen. Bis ich auch nur die Haut des Tyrannen geritzt hatte, kollerte mein Schä­del bereits über den kostbaren Teppich. Ich mußte warten, zähneknirschend und ohn­mächtig.

»Ruft Thalia«, bestimmte Schado. »Ich will ihr das Schauspiel nicht vorenthalten.«

Wieder meldete sich mein böser Geist. Dieses grauenvolle Wesen, das da in mir zu hausen schien. Es meldete sich nur ab und zu, aber in einer Stärke, die es mir unmög­lich machte, mich gegen diese Gefühle zur Wehr zu setzen.

In diesem Fall bestand das Gefühl in einer Warnung, in dem dringenden Impuls auf der Hut zu sein, keinen Fehler zu machen. In diesem besonderen Fall dachte der Dämon ähnlich wie ich, nur schwang in dem Impuls, den ich in schmerzhafter Stärke in mir auf­steigen spürte, eine Komponente mit, die mir sagte, daß der Dämon nicht nur eine Ah­nung hatte – seine Warnung stützte sich auf Wissen, nicht Vermutungen. Ich wußte nicht, was ich gegen dieses Gefühl tun soll­te, das sehr rasch wieder abklang. Dieser Dämon, ich fand beim besten Willen keine andere Bezeichnung dafür … meinte er es gut mit mir? Oder war dies eine List, ein mir unbegreifliches Spiel?

»Kommt«, sagte Schado; seine Blicke hatten etwas Lauerndes bekommen.

Der Mann wartete auf etwas, und dieses Etwas hatte mit mir zu tun. Mich durchzuck­te der aberwitzige Gedanke, daß dies alles nur ein Spiel war, das um meinetwillen ge­spielt wurde. Thalia erschien. Sie wirkte mü­de und erschöpft. Ab und zu griff sie sich an den Kopf. Keschmal Schado gab Befehl, die Türen des Zuges zu öffnen.

Fast geräuschlos bewegte sich der Panzer­stahl in den gutgeschmierten Angeln. Der Anblick, der sich uns bot, war vertraut. Der Zug stand auf einer riesigen Plattform aus Stahl.

Banjar stieß einen leisen Pfiff aus.

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»Die Leute von Rhen-Phi haben offenbar besser gearbeitet als unsere«, sagte er aner­kennend. »Unsere Plattform sieht nicht so sauber aus.«

In geringer Entfernung war eine Öffnung in dem Stahl zu erkennen. Dort ging es hin­ab in das Innere des Bauwerks, das bis tief hinab in den Meeresgrund reichte. Die Kon­tinentalbrücke war eine Konstruktion von unerhörter Kühnheit, gepaart mit barbari­scher Wucht.

(Woher ich das nun wieder wußte, blieb ein Rätsel.) »Seltsam«, sagte Keschmal Schado. »Kommt keiner, uns zu grüßen?«

»Hm«, machte Banjar. »Vielleicht hatte sich der Besuch von Henner-Theel herumge­sprochen.«

»Und wie?« fuhr Keschmal Schado ihn an. »Es gibt nichts Schnelleres als diesen Zug.«

Mir kam der Gedanke, daß es für die Be­wohner des Bunkers wahrscheinlich besser war, nicht zu existieren. Dann blieb ihnen manches erspart.

»Ausschwärmen«, befahl Keschmal Scha­do und begleitete die Anordnung mit einer herrischen Geste. »Versucht, einen Bewoh­ner lebend zu fangen.«

Ich winkte Banjar und Päär zu mir heran. »Sollen wir vordringen?« fragte ich Scha­

do. Ich war gespannt, was er dazu sagen würde. »Es würde mich reizen, in den Bun­ker einzudringen.«

Keschmal Schado zwinkerte. Er schien verwirrt zu sein. Die Tatsache, daß keiner der Bunkerbewohner sich zeigte, schien ihn über die Maßen zu verwundern.

»Meinetwegen«, sagte er hastig. »Gebt acht, daß Euch nichts zustößt.« Er wandte sich ab und ging auf einen Offizier seiner Leibgarde zu. Thalia nutzte die Gelegenheit und schob sich an meine Seite.

»Ich begleite euch«, sagte sie entschlos­sen.

Ich zögerte nicht lange. Keschmal Schado redete auf den Offizier ein und gestikulierte dabei wild. Seine Erregung war mir unbe­greiflich.

Während die Soldaten den Zug verließen und über die Plattform ausschwärmten, ha­steten wir auf die Einstiegsöffnung zu. Die Treppenstufen waren regennaß. Zu sehen war niemand.

»Wahrscheinlich haben sie sich in die Tiefe des Bunkers verkrochen«, überlegte Banjar halblaut. »Vielleicht haben sie den Braten gerochen, ihre Wertsachen in Sicher­heit gebracht und sich in den unteren Etagen verschanzt.«

»Dann wird Schado einen hohen Preis für die Eroberung zahlen müssen«, erklärte Päär.

Ich winkte ab. »Überlegungen dieser Art können wir

später anstellen«, sagte ich. Ich stieg die er­sten Stufen hinab.

Wie auch bei den anderen Bunkern waren in den Wänden metallene Halter zu erken­nen, in denen Fackeln steckten. Sie konnten erst vor kurzer Zeit erneuert worden sein, denn sie brannten hell und gaben uns genü­gend Licht.

»Seltsam«, murmelte Banjar. Langsam stiegen wir hinab in die Tiefe

des Wärterbunkers. Eine Zeitlang hörten wir über unseren Köpfen noch das Geschrei von Schados Soldaten, dann wurde es beängsti­gend ruhig. Kein Laut war zu hören, vom leisen Knistern der Fackeln abgesehen, und von den Geräuschen, die wir selbst machten. Thalia faßte mich an der Schulter. Sie schwankte leicht.

»Ich habe Träume«, sagte sie unvermit­telt. »Ich träume tagsüber, mit offenen Au­gen, und ich kann nichts dagegen tun.«

Sie schien an mir vorbei oder durch mich hindurch zu sehen. Sie atmete hastiger. Der Druck auf meine Schulter verstärkte sich.

»Odin«, flüsterte Thalia. Ihre Mundwin­kel waren verzogen, die Lippen zitterten.

Unser Vormarsch geriet ins Stocken. Ich hielt Thalia fest, die zusammenzubrechen drohte. Ihre Lage kam mir bekannt vor, un­geheuer vertraut.

»Diese Träume«, stöhnte die Frau leise. »Diese fürchterlichen Träume. Wenn ich

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doch nur wach werden könnte.« »Es ist ein Gefühl, als würde man immer­

zu nur träumen, nicht wahr?« Thalia nickte mit leerem Blick. »Ein häßlicher Traum, der niemals en­

det!« stieß sie hervor. »Atlan, wir sind in Gefahr. Hörst du, wir sind in größter Ge­fahr.«

»Ich weiß«, sagte ich ratlos. »Aber ich kann nichts dagegen tun.«

Die Frau fing sich wieder. Ihre Gestalt straffte sich, und ihre Stimme klang energi­scher.

»Wir müssen nach dem Schlüssel su­chen«, stieß sie heftig hervor. »Es gibt eine Erklärung für dies alles, eine logische Erklä­rung. Und wir werden aus diesem Traum erst entlassen, wenn wir den Schlüssel ge­funden haben.«

Ich zuckte mit den Schultern. Was sollte ich dazu sagen? Ich konnte ja selbst Wirk­lichkeit und Spuk nicht voneinander trennen.

»Langsam bekomme ich es mit der Angst zu tun«, sagte Banjar, der an der Spitze ging, das Schwert in der Faust. »Hier scheint überhaupt niemand mehr zu leben.«

»Seht nur!« rief Päär. Wie in den Wärterbunkern üblich, waren

in den Etagen, die unmittelbar unter der Plattform lagen, Waren gestapelt. Wir waren an gefüllten Lagern vorbeigekommen, und ich hatte dies als Zeichen gewertet, daß es so schlecht um den Bunker nicht bestellt sein konnte.

Päär deutete mit dem Finger auf einen Winkel der großen Lagerhalle. Ich sah Käfi­ge, in denen verschiedene Tiere ruhig lagen. Oder waren sie …?

»Kinnther«, stieß Päär hervor. »Und sie sind tot. Seht nur, sie sind ganz gelb ange­laufen.«

Wir gingen zu den Käfigen hinüber, und der erste Eindruck fand sich grausam bestä­tigt.

Es gab Dutzende von Käfigen in dieser Abteilung der Halle. Sie hatten Vögel ent­halten, Singvögel und Beiztiere; ich erkann­te kleine Pelztiere und buntschillernde

Peter Terrid

Schlangen. Kein einziges Tier war mehr am Leben. Ich schluckte. »Was mag hier geschehen sein?« flüsterte

Banjar erregt. »Die Käfige sind versiegelt, und die Tiere zeigen keinerlei Verletzun­gen.«

»Gas«, murmelte ich. »Giftgas.« Zu riechen war nichts. Auch das verwun­

derte nicht. Die meisten hochgiftigen Gase waren geruchlos – Kohlenmonoxyd bei­spielsweise. Ich sah nach den Nasenlöchern der verendeten Tiere, fand aber keine Ver­färbung, keinen feinblasigen Schaum an den Nasenlöchern. Es roch auch nicht nach Amygdalin.

Wie üblich – ich hatte mich fast schon daran gewöhnt – verdankte ich diese Ein­sichten dem Dämon in meinem Innern. Mit dem Begriff Amygdalin konnte ich nicht das geringste anfangen.

»Weiter?« Banjar sah mich fragend an. Ich nickte.

Was hätten wir anderes tun sollen? Durch Warten und Herumstehen war das Geheim­nis dieses Wärterbunkers nicht zu lösen.

Treppe um Treppe stiegen wir hinab in die Tiefe. Ich wußte inzwischen, daß unmit­telbar unter der Plattform die Lagerdecks zu finden waren. Wir bewegten uns noch in dieser Zone.

Es schloß sich, je weiter man abwärts stieg, die Verwaltungszone an, dann folgten die Decks mit den öffentlichen Einrichtun­gen – Bädern, Festhallen und dergleichen. Darunter wiederum lagen die Wohndecks, in denen die Familien der Brückenleute wohn­ten. Und noch darunter lagen die Versor­gungseinrichtungen, der Maschinenpark, die Belüftungsanlagen, die riesigen Apparate zur Gewinnung von Trinkwasser aus dem Meer und vieles mehr. Ganz unten, tief unter der Wasserlinie, waren die Gärten und Treibhäuser zu finden, die Algenkulturen, die Fleischfabriken. Alles war sorgsam ge­ordnet, wie es Art der Brückenleute war.

Wir erreichten die Verwaltungszone und fanden niemanden. Die Angelegenheit wur­

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de nachgerade beängstigend. Verlassene Warenlager, verlassene Amtsstuben … hatte es eine Katastrophe gegeben? Vielleicht eine Seuche? Banjar sprach den Gedanken laut aus.

Päär schüttelte sofort den Kopf. »Dann müßten wir Leichen finden«, sagte

er energisch. »Ich schätze, daß sich die gan­zen Einwohner in die tiefsten Decks verzo­gen haben, als sie Schados Raubkarawane ankommen sahen.«

»Ohne die kostbaren Waren in Sicherheit zu bringen?« fragte ich. »Und wer oder was hat die Tiere getötet, ohne auch nur die ge­ringste Spur zu hinterlassen?«

»Fragen haben wir selber«, fauchte Ban­jar. »Was wir brauchen, sind Antworten.«

»Es gibt nur einen Weg, die Wahrheit her­auszufinden«, stellte Thalia fest. »Wir müs­sen weiter hinabsteigen.«

»Dabei entfernen wir uns von Keschmal Schado«, sagte ich warnend.

»Und wenn schon«, warf Banjar ein. »Vielleicht fährt er ohne uns ab.«

Das wäre natürlich eine Lösung gewesen. Wir vier hätten uns nach Henner-Theel durchschlagen können. Dort hätten wir friedlich und glücklich leben können, sicher vor Keschmal Schados Nachstellungen – wenigstens vorläufig.

Wir konnten auch, fiel mir ein, in diesem Bunker bleiben. Wenn er, wie zu befürchten stand, verwaist war, hatten wir einen ganzen Bunker für uns allein. Auch das waren er­mutigende Aussichten – vorausgesetzt natür­lich, Keschmal Schado ließ seine Braut im Stich und zog ab.

Nicht nur, daß mir das unwahrscheinlich vorkam – ich hatte auch gar nicht den Wunsch, Schados Rückzug erleben zu kön­nen.

Unter den gegebenen Umständen war es ein klarer Beweis für meine Geisteskrank­heit.

Ich hatte nicht die geringste Lust, an die­sem Ort, ja überhaupt auf dieser Brücke zu bleiben. Im Gegenteil: ich hatte das sichere Gefühl, gar nicht hierhin zu gehören.

Es gab zwar nichts anderes als diese Wirklichkeit, aber dennoch – ich wollte weg von hier, zu einem Irgendwo, das es gar nicht geben konnte.

Ich hütete mich, auch nur das kleinste Zeichen zu geben, das meinen Gefährten verraten hätte, daß ich gerade wieder unter einem akuten Wahnsinnsanfall zu leiden hatte. Es war mein Glück, daß ich keine Zeit zu der selbstquälerischen Frage fand, ob je­mand wahnsinnig sein konnte, wenn er ge­nügend Verstandeskräfte und klare Einsicht besaß, seinen eigenen Irrsinn einwandfrei zu diagnostizieren.

»Ob er abfährt oder nicht«, sagte Päär. »In jedem Fall werden wir klären müssen, was hier vorgefallen ist.«

Wir setzten unseren Vormarsch fort. Wir fanden nichts. Alles sah völlig nor­

mal aus. Kein Anzeichen für einen Kampf, keine Hinweise auf eine Katastrophe. Keine Brandspuren, keine Blutflecken, nicht ein­mal Unordnung.

Was aber immer stärker wurde, war die Atmosphäre, das Gefühl, das in immer stär­kerem Maß von uns Besitz ergriff. Eine Wolke der Beängstigung lag in der Luft. Ei­ne unwirkliche Bedrohung war spürbar und wurde stärker, die Ahnung einer Katastro­phe, die sich zur festen Überzeugung zu ver­dichten begann, je tiefer wir in den Bunker hinabstiegen.

Hatten wir anfänglich befürchtet, auf Tote zu stoßen, so wurde es jetzt beängstigend, keine zu finden. Was konnte in diesen Räu­men geschehen sein, daß es nicht einmal mehr Spuren der Bewohner gab?

Wir erreichten die Wohnbezirke – und fanden niemand.

Wir durchstöberten die Wohnungen – leer.

Wir suchten auf den Gängen, in den klein­sten Räumen – vergeblich. Die Möbel stan­den in den Zimmern, alles war aufgeräumt. In den Schränken und Spinden lagen Klei­dung und Wäsche, die Vorratskammern wa­ren mit Lebensmitteln gefüllt – aber wir fan­den nicht einmal ein Insekt, geschweige

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denn höheres Leben. Nach einer weiteren Stunde hatten wir

den Wohnbereich durchquert. Im Maschi­nenpark fehlte ebenfalls jede Spur. Tiefer hinab, zu den Parks und Gartenanlagen. Eine künstliche Sonne hing an der Decke. Ich achtete nicht darauf, daß es einen seltsamen Widerspruch gab – Kienfackeln am Ein­gang, hochwertige elektrische Lampen in der Tiefe. Die Pflanzen lagen am Boden, als hätten sie kein Wasser oder keine Luft be­kommen. In den Algentanks begann eine bräunliche Brühe langsam zu verfaulen. Auf den künstlichen Weiden lag Vieh. Tot, steif und starr. Es gab kein Leben mehr in Rhen-Phi.

Ich blieb auf einer der Weiden stehen, während Banjar und Päär noch weiter hinab­stiegen. Sie wollten auch die letzten Zweifel beseitigen, obwohl es dessen nicht mehr be­durfte. Auf den wenigen Quadratmetern Flä­che, die noch zu untersuchen waren, konnte man die nach Tausenden zählende Bevölke­rung des Bunkers niemals unterbringen. Wir waren allein in Rhen-Phi.

Es war, als hätte die gesamte Bewohner­schaft zu existieren aufgehört.

5.

Der Kommandant des Mittleren Forts sah auf die Uhr.

Es war viel Zeit verstrichen, seit er die beiden Gefangenen dem Meisterträumer übergeben hatte – zuviel Zeit, wie Yärling urteilte.

Er ließ die Arbeit liegen, mit der er sich in den letzten Stunden beschäftigt hatte. Es ging um Sicherungsmaßnahmen für die Kar­tei Gär, deren Schutz beständig verbessert werden mußte. Die politische und militäri­sche Bedeutung der gesamten Scuddamoren-Macht hing nicht zuletzt von der einwand­freien Funktion dieser Kartei Gär ab. Sie enthielt alle verfügbaren Daten der Planeten und Völker des gesamten Marantroner-Re­viers – und die Scuddamoren verstanden die Kunst, Daten zu sammeln.

Peter Terrid

Das Problem, mit dem sich Yärling her­umgeschlagen hätte, war nicht ohne Kniff­ligkeit. Zum einen mußte gewährleistet sein, daß jeder Scuddamoren-Offizier sich des Datenmaterials jederzeit bedienen konnte, um seine Aufgaben erfüllen zu können. Zum anderen mußte aber auch gewährleistet sein, daß Hochstapler und Betrüger oder Saboteu­re keinen Zugang zu den Daten fanden. Ne­ben den Organschiffen war die Kartei Gär eine der Säulen der Scuddamoren-Macht.

Yärling entschloß sich, diese Arbeit zu­rückzustellen. Er wollte erst einmal feststel­len, was der Meisterträumer aus den Gefan­genen herausgeholt hatte.

Yärling war gespannt auf die Daten. Der Diebstahl der Ärgetzos hatte – unter der Hand einstweilen – Aufsehen erregt. Der Scuddamore, dem es gelang, dieses Verbre­chen lückenlos aufzuklären, hatte, was seine Zukunft betraf, ausgesorgt. Yärling war ge­willt, dieser Scuddamore zu sein.

Was ihn aber noch mehr beschäftigte, war die Tatsache, daß er sich über die Volkszu­gehörigkeit der beiden Häftlinge nicht im klaren war. Sie gehörten, wie Sprache, Klei­dung, Gestik und Verhalten bewies, zu kei­nem der vielen Völker des Marantroner-Re­viers.

Das war eine Tatsache, die Nachdenken und Vorsicht herausforderte.

Die beiden Gefangenen hatten eine Drei­stigkeit des Verhaltens an den Tag gelegt, eine Unverfrorenheit und Selbstsicherheit, die allein ausgereicht hätte, ihnen den Tod zu sichern.

Die Vorstellung, daß womöglich ein gan­zes, bislang unbekanntes Volk solcher Lebe­wesen existierte, hatte etwas Schaudererre­gendes an sich. Den Neffen des Dunklen Oheims frühzeitig vor dieser Gefahr gewarnt zu haben, war verdienstvoll und wahrschein­lich auch lohnend – und der Erfolg für Yär­ling würde noch größer sein, wenn er mel­den konnte, daß er bereits Vorbereitung zur endgültigen Lösung dieses Problems getrof­fen hatte.

Alles aber hing davon ab, was bei der Be­

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21 Der Meisterträumer

fragung der beiden Gefangenen herauskam. Yärling suchte den Meisterträumer auf, um sich über den letzten Stand der Dinge zu in­formieren.

Er war sicher, daß Länerth inzwischen gu­te Arbeit geleistet hatte. Länerth trug nicht ohne Grund Titel und Rang eines Meister­träumers. Er verstand von der Technik der Szenarien wahrscheinlich mehr als jeder an­dere auf BreisterkählFehr.

Um so erstaunter aber war der Komman­dant des Mittleren Forts, als er Länerths Zentrale betrat.

Der Meisterträumer ignorierte den eintre­tenden Yärling. Der Kommandant des Mitt­leren Forts wertete dies als ein Zeichen der Konzentration. Tatsächlich saß Länerth auch über den Schaltungen des Szenariums. Auf den Bildschirmen liefen Geschehnisse ab, die Yärling nicht erklären konnte, da es ihm an Kenntnissen fehlte. Er sah allerdings, daß auf den Schirmen eine gigantische Brücke zu sehen war, über die sich ein riesenhafter Transporter wälzte. Anhand dieser wenigen Informationen kam Yärling zu dem Schluß, daß der Meisterträumer sich nach wie vor mit dem Puer-Szenarium beschäftigte. Er hatte sich augenscheinlich ganz in seine Ar­beit vertieft.

Yärling gab ein leises Geräusch von sich, um Länerth auf sein Eintreten aufmerksam zu machen. Sich mit mehr Lautstärke zu äu­ßern, schien ihm nicht ratsam, er wollte die Konzentration des Meisterträumers nicht ab­rupt stören – das Szenarium hätte darunter gelitten.

Länerth reagierte nicht auf diesen diskre­ten Hinweis. Er rührte sich auch nicht, als Yärling sich nun geräuschvoller meldete. Und es kam auch kein Leben in die Gestalt, als Yärling den Meisterträumer anfaßte und wachzurütteln versuchte.

Der Meisterträumer erwachte nicht. Yär­ling probierte es mit Schlägen, aber nicht einmal das half.

Der Fall war klar. Länerth hatte sich selbst in das Szenarium integriert – und ganz offensichtlich kam er einstweilen aus diesem

Szenarium nicht mehr heraus. Der Kommandant des Mittleren Forts lös­

te den Alarm aus.

*

»Nichts«, sagte Banjar. »Kein Hinweis, kein Zeichen – nichts. Als hätten sie nie exi­stiert.«

Wir stiegen langsam wieder die Treppen hinauf, die wir vor kurzer Zeit erst hinabge­stiegen waren. Daß der Aufstieg langsamer vonstatten ging, lag nicht nur daran, daß das Hinaufsteigen anstrengender war. Wir waren langsam geworden, weil wir nicht mehr wußten, was wir tun sollten. Das alptraum­hafte Gefühl, das auf der untersten Sohle über uns hereingebrochen war, hatte nichts an Intensität verloren. Im Gegenteil, die ge­spenstische Atmosphäre hatte sich noch ver­dichtet. Die Beklemmung war stärker ge­worden.

»Was wird Keschmal Schado dazu sa­gen«, fragte Päär.

Wir alle hatten unsere Waffen wegge­steckt. Es gab nichts, was man hätte be­kämpfen müssen.

»Hast du keine größeren Sorgen?« fragte Banjar scharf.

»Was heute Rhen-Phi entvölkert hat«, sagte Thalia langsam, »kann morgen über Henner-Theel herfallen.«

Irgendwoher kannte ich dieses Phänomen, irgendwoher … (Es war natürlich wieder der Dämon, der mir diese Information zuspielte. In letzter Zeit wurden die Impulse dieser Be­sessenheit deutlicher. Wenn meine Krank­heit fortschritt, würde ich in absehbarer Zeit Stimmen hören, die zu mir redeten – das war dann wahrscheinlich der Zeitpunkt, an dem ich mich besser entleibte.) Ein zweites Mal durchstiegen wir den Wohnbereich, ohne auf Leben zu stoßen. Ich schwankte leicht. Der Dämon setzte mir zu. Die Impulse kamen mit schmerzhafter Stärke. Obendrein fühlte ich einen immer stärker werdenden Juckreiz – albern, aber unerträglich. Mitten in den Wohnbezirken stießen wir auf Keschmal

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22

Schados Soldaten. Die Männer waren bis an die Zähne bewaffnet und hatten deutlich er­kennbar Angst.

»Wo kommt ihr her?« schrie mich ein Of­fizier an. Der Mann war am Ende seiner Fassungskraft.

Banjar beantwortete die Frage. Er deutete auf den Boden.

»Von unten«, sagte er dumpf. »Dort lebt niemand. Auch die Pflanzen und Tiere sind tot.«

Der Soldat lief grün an vor Schreck. Seine Männer wichen einige Schritte zurück, als trüge unser Atem den Tod in sich. Angst breitete sich aus.

»Was denn«, stammelte er. »Nichts? Gar nichts mehr?«

»Nicht ein Grashalm«, sagte Päär. »Ihr braucht nicht zu suchen, wir haben alles un­tersucht. Wo ist Schado?«

Der Offizier deutete zur Decke. Seine Hände zitterten heftig. Er strengte sich sicht­bar an, das Zittern zu unterbinden, und brach dann schluchzend zusammen. Seine Solda­ten sahen sich schweigend an und sammel­ten sich dann hinter uns. Lächerlich, als ob wir ihnen hätten helfen können – wir konn­ten uns nicht einmal selbst helfen.

Wir stiegen weiter in die Höhe. Unsere Prozession vergrößerte sich. Andere Solda­ten, die auf Gängen Wache standen oder Wohnräume zu plündern versuchten, sahen unseren Zug – und schlossen sich uns an. Angst breitete sich aus, ergriff Besitz von den Soldaten und entließ sie nicht mehr.

Hätte unsere kleine Gruppe nicht das Tempo bestimmt, die Truppe des Keschmal Schado wäre in Panik geraten.

Und je größer und länger unser Zug wur­de, um so schneller und williger schlossen sich die Soldaten dem Zug an, sobald sie ihn zu Gesicht bekamen. Es wurde kein Wort gesprochen dabei, unser Marsch verlief schweigend. Ihre Beute ließen die Soldaten achtlos liegen. Ihnen saß die Angst im Nacken, die Furcht vor einem lautlosen, un­erbittlichen Gegner.

Irgendeine Macht hatte die Bewohner von

Peter Terrid

Rhen-Phi verschwinden lassen, und das praktisch ohne Spuren – vor allem aber ohne jede Ausnahme, das war das Bestürzende an diesem Vorgang. Niemand hatte sich vor der Katastrophe verstecken können.

Was war das für ein Gegner, mit welchen Mitteln hatte er angegriffen – und vor allen Dingen, wem galt dieser Angriff? Den Be­wohnern des Bunkers? Oder war die Truppe des Superintendenten gemeint?

Keschmal Schado wartete bereits auf uns. Er hatte sich nicht sehr tief in das Bunkerin­nere hinabgewagt. Er hielt sich im Wohnbe­reich auf, in jenem Trakt, der dem Brücken­meister vorbehalten war, dem Ranghöchsten in der Hierarchie eines Wärterbunkers.

Keschmal Schado wirkte nervös. Die Er­regung, die ihn beim Betreten des Bunkers befallen hatte, war noch stärker geworden.

»Nun?« fragte er, sich mühsam zu einem Lächeln zwingend. »Wo sind sie, die Be­wohner …«

Seine Stimme wurde leiser und schließ­lich unhörbar. Hinter mir und Banjar hatten die Soldaten den Raum betreten. Sie wagten nicht, näher als ich an Schado heranzugehen, aber hinter mir drängten sie sich.

»Was, bei allen Geistern …?« Keschmal Schados Hände begannen zu

zittern, seine Augen quollen hervor. »Es gibt keine Bewohner von Rhen-Phi«,

sagte ich hart. »Oder es gibt sie nicht mehr. Wir haben jedenfalls niemanden gefunden.«

Schado bot ein Bild nackten Entsetzens. Er war noch stärker von Furcht gepackt als wir.

»Das kann nicht sein«, stotterte Schado. Er stand auf und starrte mich an.

Fast glaubte ich, in seinem Gesicht Ver­zweiflung erkennen zu können. Was war in Schado gefahren? Er fuhr mit einem ganzen Heer spazieren, einer schier unüberwindli­chen Streitmacht, noch dazu in einem schwergepanzerten Zug, dessen Geschwin­digkeit unerreicht war.

Wovor hatte Keschmal Schado Angst? »Unmöglich«, rief Keschmal Schado. Er

zitterte nun am ganzen Leib. »Völlig ausge­

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23 Der Meisterträumer

schlossen, das kann einfach nicht sein!« »Woher wollt Ihr das wissen?« Es war Banjar, der die Frage ausgespro­

chen hatte. Keschmal Schado machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Unsinn«, sagte er. Er schien uns plötz­lich nicht mehr wahrzunehmen. »Einfach unmöglich. Ich habe doch keinen Fehler ge­macht, doch nicht ich.«

Ich verstand nicht, was er sagte. Schado schien auf geheimnisvolle Weise entrückt zu sein, sein Blick wanderte durch den Raum, fand aber nirgendwo Halt. Nur bei mir ver­weilte er sekundenlang, aber sein Blick schi­en förmlich durch mich hindurchzugehen.

»Herr, Herr!« Von hinten drängte sich ein Offizier aus Schados Garde durch die Rei­hen der Wartenden. »Wir werden angegrif­fen«, rief der Mann. »Auf der Plattform to­ben Kämpfe.«

Schado zwinkerte verwirrt. »Kämpfe? Wer kämpft gegen wen?« »Meeresungeheuer, Herr«, sagte der Sol­

dat. Er war völlig außer Atem. »Eine große Zahl dieser Bestien greift den Bunker an. Wir haben Verluste, Herr.«

»Meeresungeheuer, sagst du?« Schado schien noch immer weit entfernt zu sein.

Tatsächlich, er lächelte. »Entsetzliche Bestien«, rief der Offizier.

»Wir brauchen jeden Mann, der ein Schwert führen kann.«

Keschmal Schados Lächeln wurde breiter. »Wir werden sehen«, versprach er freund­

lich. »Und es sind wirklich Meeresungeheu­er, die euch angreifen …?«

*

Es waren Ungeheuer. Vergessen waren die Feindschaften frühe­

rer Zeit. Nach dem ersten Kontakt mit die­sem neuen Gegner wußte ich, daß uns nur Gemeinsamkeit retten konnte. Nur wenn wir gegen diesen Gegner gemeinsam antreten und ihn mit vereinten Kräften bekämpften, hatten wir eine Chance.

Das erste, was ich von den Angreifern zu

sehen bekam, war das Endstück eines Tenta­kels. Zwei Meter Länge, einen halben Meter Durchmesser und Saugnäpfe von dreißig Zentimetern Größe bewiesen jedem zur Ge­nüge, daß wir es mit ernstzunehmenden Gegnern zu tun hatten. Gegen einen solchen Feind durfte man sich keine Fehler erlauben, oder man war verloren.

Ich warf aus den Augenwinkeln heraus einen Blick auf Keschmal Schado, und was ich sah, stimmte mich nachdenklich.

Keschmal Schado schien in diesem be­sonderen Fall keine Angst zu kennen. Den Resten eines Monstrums schenkte er keine Beachtung – und doch war er vor kurzem erst beinahe zusammengebrochen angesichts einer weit weniger handfesten Bedrohung. Keschmal Schado war mir ein Rätsel.

Einstweilen aber hatte ich keine Zeit, mich mit solchen Gedanken zu beschäftigen. Der Feind, der den Wärterbunker angriff, er­forderte unsere Aufmerksamkeit zur Gänze.

Ich hatte mein Schwert bereits in der Hand. Ich brauchte daher nur noch zuzu­schlagen, als mir ein kopfgroßes, wolliges Etwas entgegengekollert kam. Das Etwas fiel auseinander und entpuppte sich als ein zuckendes Bündel von Nesselfäden, die mindestens so gefährlich waren wie die Ten­takel, gegen die Schados Soldaten sich nach Kräften zur Wehr setzten. Der Mann, der von einem solchen harmlos erscheinenden Geschoß getroffen wurde, war unrettbar ver­loren. Wenn ihn nicht das Nesselgift nach kurzer Zeit qualvoll tötete, dann war das Op­fer in jedem Fall so abgelenkt, daß es ande­ren Angreifern zur leichten Beute wurde.

»Banjar, Päär – an meine Seite.« Die beiden gehorchten sofort. Auch sie

hatten ihre Schwerter in der Hand. Neben­einander stiegen wir die Treppe hinauf, dem Feind entgegen. Jeden Schritt mußten wir uns erkämpfen, und je höher wir stiegen, de­sto härter wurde dieser Kampf. In den Win­keln und Ecken fanden wir die Spuren, die das erbitterte Gemetzel hinterlassen hatte – schmerzgepeinigte Soldaten, daneben die zuckenden Überreste angreifender Seeunge­

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heuer. Ein Schädel tauchte in meinem Blickfeld

auf, ein riesenhafter Schädel mit einem wei­taufgerissenen, stinkenden Maul, das Platz genug bot, uns drei mit einem Bissen zu ver­schlingen.

Ich spürte etwas in meiner Brust pulsie­ren, trotz der Hektik und der Anstrengung des Kampfes, aber ich unterdrückte die Empfindung. Mit aller Kraft hauend und ste­chend drang ich auf den Schädel ein. Banjar und Päär standen neben mir.

Wir trieben das Ungeheuer zurück. Hiebe auf den langen, biegsamen Hals erzielten die größte Wirkung. Zwar konnten wir die Be­stie, zu der sicherlich nicht nur dieser eine Hals gehörte, nicht sofort töten, aber sie ver­lor viel grünliches Blut, und das ließ uns vorsichtig werden.

Unsere Rettung war, daß die Bestien ziemlich langsam waren in ihren Bewegun­gen. Das gab uns genügend Freiheit, diesen Angriffen auszuweichen, uns unter Pranken­hieben wegzuducken, die in der Lage waren, daumenstarkes Metall zu zerknicken.

Wir mußten aufpassen. Der Boden war schlüpfrig geworden vom Blut. Wer ausglitt, fand so schnell keinen Halt mehr. Unabläs­sig schwang ich mein Schwert, ließ es auf grünlich schillernde Schuppen herabsausen, hackte und stach nach gierig gereckten Pran­ken.

Ohrenbetäubendes Gebrüll tönte durch die Räume. Die Angreifer schrien vor Wut, Gier und Schmerz, es schrien auch die Verwun­deten in unseren Reihen. Stahl klirrte gegen­einander, und über allem lag das ferne Tosen des Sturmes.

Ich wußte nicht, was für Kreaturen uns da angriffen, woher sie kamen. Ich wußte nur, daß wir uns unserer Haut zu wehren hatten, wenn wir überleben wollten.

Wir brauchten mittlere Ewigkeiten, bis wir uns den Weg freigekämpft hatten. Ke­schmal Schados Männer griffen mit erheb­lich gesteigertem Mut an, als sie uns sahen, aber sie sorgten dafür, daß Päär, Banjar und ich stets an der vordersten Front standen.

Peter Terrid

Dennoch halfen sie uns, den Weg nach oben freizukämpfen. Zwar mußten wir uns immer wieder ducken, damit wir nicht selbst in die Schußlinie gerieten, aber wir erreich­ten damit, daß die Armbrustschützen ihre Bolzen gezielt verschießen konnten. Sie zielten vornehmlich auf die Augen der Seeungeheuer, und dort erwiesen sich die Geschosse als besonders wirkungsvoll.

Endlich erreichten wir die letzte Treppe. Wenn es gelang, diesen Zugang zu sper­

ren, waren wir leidlich in Sicherheit. Zwar hatten wir dann immer noch das Problem zu klären, wie wir aus dem Bunker herauska­men und was mit Keschmal Schados Zug unterdessen geschehen war, aber vorläufig hatten wir mehr als genug mit den nahelie­genden Sorgen zu tun.

»Armbrustschützen her!« schrie Banjar, als im Eingang zum Bunker ein Drachen­kopf erschien, der uns aus einem Dutzend gelblicher Augen gierig anfunkelte.

Wie immer zielten die Armbrustschützen auf die Augen, und wie immer trafen sie gut. Einige der Bolzen prallten an den rasch her­abgeklappten Lidern des Drachen ab, aber der Rest saß im Ziel.

Das Tier brüllte schmerzerfüllt auf. Eine Pranke, groß genug, um einen Mann voll­ständig darin verschwinden zu lassen, wischte über den Treppenabsatz. Wir konn­ten uns knapp darunter hinwegducken. Ich spürte den Luftzug dieses Hiebes meine Haare durcheinanderwirbeln.

Ich überlegte keine Sekunde. Ich sprang auf und stürmte die Treppe hinauf. Die Brust des Drachen war zu sehen, wenn ich ihn er­reichte, ihm das Schwert zwischen die Rip­pen trieb – der riesenhafte Körper verdeckte den halben Eingang und bot uns in gewisser Weise Schutz vor weiteren Angreifern.

Ich nahm zwei Treppen auf einmal. Noch einmal mußte ich mich flach auf

den Boden werfen, wieder fegte die mörde­rische Tatze über mich hinweg. Ich kam wieder auf die Füße, hetzte hinauf, das Schwert in der Faust.

Ich sah, wie der Drachen zuckte, wie sich

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25 Der Meisterträumer

sein gigantischer Körper aufbäumte. Ein markerschütternder Schrei entfuhr dem Maul des Seeungeheuers, dann prallte don­nernd der riesige Schädel auf den Boden.

Ich hielt ein. Die Bestie war tot, aber ich war nicht der Mann, der dieses kleine Wun­der bewerkstelligt hatte.

Unversehens überfiel mich rasender Kopfschmerz. Ich taumelte mehr, als daß ich die Stufen hinaufging.

Neben dem Schädel des Drachen tauchte eine Gestalt auf, schlank und hochgewach­sen, mit weißen Haaren und rötlich schim­mernden Augen.

»Willkommen, Erhabener«, sagte die Ge­stalt und hob die Hand zum Gruß.

»Woher …?« ächzte ich. Die Welt begann vor meinen Augen zu flimmern, der Kopf­schmerz wurde unerträglich.

»Von Arkon kommen wir«, sagte die Ge­stalt. »Wir grüßen den Prinzen des Großen Imperiums.«

Hinter mir schrie Keschmal Schado gel­lend auf.

6.

Panik überfiel den Meisterträumer. Nack­tes Entsetzen hatte ihn im Griff, würgte ihn und versetzte Länerth in einen Zustand, wie ihn der Meisterträumer noch nie erlebt hatte. Länerth fühlte die Erde unter sich beben, er glaubte das Sonnenlicht flackern sehen zu können. Was geschah, war unmöglich, wi­dersprach allen Gesetzen der Natur und der Scuddamoren. Was sich abspielte, durfte nicht sein. Der Plan war perfekt gewesen, wie jeder Plan, den der Meisterträumer sich erdacht hatte. Nun aber waren Störungen aufgetreten, Widersprüche, die in Länerths meisterlichem Plan nicht enthalten waren – ja, die es gar nicht geben durfte.

Da war der unglaublich hartnäckige Wi­derstand von Atlan und Thalia. Da war das unbegreifliche Phänomen, daß die Bewoh­nerschaft von Rhen-Phi einfach verschwun­den war. Welche Kraft hatte dies bewirkt?

Es gab keinen anderen Einflußfaktor auf

das Puer-Szenarium als den Willen des Mei­sterträumers. Er allein – niemand sonst – be­stimmte Zusammensetzung und Verlauf des Szenariums. Und er hatte den Befehl gewiß­lich nicht gegeben, der das Verschwinden der Rhen-Phi-Bevölkerung bewirkt hatte.

Was also hatte das rätselhafte Verschwin­den bewirkt?

Hatte Yärling in das Szenarium eingegrif­fen, oder ein anderer Scuddamore?

Eher war Länerth bereit, an Wunder zu glauben, als an diese Möglichkeit. Yärling verstand von der ganzen komplizierten Ma­terie nicht genug, und ein anderer Meister­träumer hätte niemals in ein laufendes Sze­narium eingegriffen.

Länerth war tief erschüttert gewesen, als er diese Fakten hatte verarbeiten müssen.

Dann aber war programmgemäß der Stressor aufgetreten, den Länerth für diesen Teil des Szenariums ausgewählt hatte – die Seeungeheuer waren pünktlich erschienen. Daß sich Atlan und die Frau nicht hatten be­eindrucken lassen, war schade, aber nicht weiter von Belang.

Daß die von Atlan geführten Truppen die Bestien erfolgreich bekämpft hatten, war ebenfalls nicht ganz Länerths Plan gewesen, aber er war durchaus in der Lage, solche kleinen Abweichungen zu korrigieren, wie sie immer wieder einmal auftraten. Jedes Szenarium hatte kleinere Eigengesetzmäßig­keiten, die auszusteuern Aufgabe eines Mei­sterträumers war.

Dann aber … Keschmal Schado lehnte sich fassungslos

gegen die Wand. Sein Körper wurde von un­kontrollierbaren Angstgefühlen geschüttelt. Woher kamen diese Wesen? Brückenleute mit weißen Haaren und rötlichen Augen ge­hörten nicht zum Szenarium, es gab sie nicht. Und doch standen sie da und entboten ihrem Herren den Gruß.

Wie betäubt wankte Länerth die wenigen Stufen zur Plattform hinauf. Keschmal Scha­do zitterte am ganzen Leib, Länerth bekam seine Gliedmaßen nicht unter Kontrolle.

Er sah den toten Drachen, den sein Geist

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erschaffen hatte. Länerth sah den reglosen Körper. Keschmal Schado sah den riesigen Zug, dahinter erkannte der Meisterträumer die Arkoniden.

Es waren Tausende, und sie standen auf der Plattform, sturmumtobt, kerzengerade, mit harten, unerbittlichen Gesichtern. Sie präsentierten die blitzenden Waffen, ihr Gruß hallte über die Plattform, übertönte das Brüllen des Sturmes.

Schado/Länerth wußte, daß er verloren war. Längst hatte ein anderer die Leitung des Szenariums übernommen.

Länerth sah zu, daß er sich zurückzog. Notfalls mußte er, um wieder Ordnung in

die Dinge zu bringen, das gesamte Puer-Szenarium opfern.

Dann aber entdeckte Schado, daß er nicht länger über den Dingen stand.

In grauenvoller Deutlichkeit spürte er, daß er nicht nur die Kontrolle über das Szenari­um verloren hatte …

… er kam aus dem selbsterschaffenen Szenarium nicht mehr heraus.

Der Meisterträumer war gefangen, gebun­den an die selbsterzeugte Wirklichkeit.

Ein anderer hatte die Macht übernommen. Länerth schrie …

*

Gellend klang Keschmal Schados Schrei­en über die Plattform, auf der meine Trup­pen standen und salutierten. Arkoniden, vom alten Schlag, Männer, die Welten bezwun­gen hatten, Frauen, denen nichts glich, was sich sonst im Universum bewegen mochte. Meine Männer, meine Frauen – Arkoniden. Wo kamen sie her, die mich grüßten? Wer hatte sie gerufen? Immer undurchschaubarer wurde dies alles.

»Atlan«, flüsterte Thalia erschrocken. »Wer sind diese Leute, wo kommen sie her?«

»Ich weiß es nicht«, sagte ich hilflos. Zwei Schritte entfernt standen Banjar und

Päär, offenkundig unschlüssig, was sie nun zu tun hatten. Die Soldaten des Keschmal

Peter Terrid

Schado standen hinter mir, die Hände an den Waffen, die Mienen aber zeigten, daß sie keine Lust auf Fortsetzung der Kämpfe hat­ten. Der Streitmacht, die sich da aufgebaut hatte und erklärt hatte, sie sei mir untertan, wären Schados Truppen schwerlich gewach­sen gewesen.

»Ich verstehe das alles nicht«, sagte ich. Von innen stieg der Schmerz in die Höhe. »Ich begreife es nicht.«

Da verschwanden lebende Wesen im Nir­gendwo …

Nirgendwann! Zum erstenmal sprach der Dämon mit

deutlicher, spöttischer Stimme, dann aber wurde der Klang undeutlich.

Druuuuuufff, hörte ich noch, dann ver­stummte der Dämon. War dies sein Name?

… und andere kamen, angeblich von Ar­kon, jenem Land, aus dem auch ich angeb­lich stammte. Sie nannten mich ihren Gebie­ter, mich, der ich nicht wußte, wer oder was ich war.

Arkon, meldete sich der Dämon. Arkon, Arkon, Arkon.

Das Wort sagte mir nichts, ich verband nichts damit. Ich starrte auf die Männer und Frauen, die in Hundertschaften angetreten waren. Die Anordnung machte es möglich, ihre Zahl zu schätzen. Dreißigtausend. Eine Armee, aufgetaucht aus dem Nichts.

Von Arkon III, wußte der Dämon spöt­tisch zu melden.

Ich versuchte die lästige Stimme zu ver­gessen, aber es gelang mir nicht. Der Schwindel, der mich gepackt hatte, wurde stärker.

»Atlan«, sagte Thalia drängend. »Atlan, wach auf!«

Ich fühlte mich, als würde ich langsam in der Mitte zerrissen. Verzweifelt wandte ich mich um.

Keschmal Schado, der mächtigste Mann unter uns, lag am Boden und wimmerte. Ich ging auf ihn zu.

»Schado«, sagte ich. »Was fehlt Euch? Kann ich Euch helfen?«

Hilf dir selbst, forderte mein böser Geist.

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27 Der Meisterträumer

»Helfen?« kreischte Schado. »Helfen? Mir? Du?«

Er schien dem Wahnsinn nahe. War dies alles ansteckend?

Ich fuhr herum. Thalia griff sich an den Kopf. Sie

schwankte. »Mir wird übel«, sagte sie. Hinter ihr sah

ich die Arkoniden stehen, als wären sie ge­froren. Keiner rührte auch nur ein Glied.

»Atlan«, stammelte die Frau. »Was ist mit uns? Alles verschwimmt vor meinen Augen. Mir ist, als würde ich zerrissen.«

Ich konnte sie verstehen, helfen konnte ich ihr nicht. Ich hatte genug mit mir zu tun. Keschmal Schado kicherte unterdrückt.

»Schwierigkeiten?« fragte er höhnisch. »Bekommt dir das Szenarium nicht?«

Ich schüttelte den Kopf. »Was redest du da?« »Du hast doch die Kontrolle übernom­

men«, kreischte Schado mit überschnappen-der Stimme. »Du hast doch jetzt die Fäden in der Hand. Gefällt dir mein Szenarium?«

»Was ist ein Szenarium?« Ahnung überfiel mich, von ferne wehten

Erinnerungsfetzen auf mich zu, Gefühle, die mich warnten – Angst, Entsetzen, Grauen: dies alles wartete auf mich, am Ende dieser Gedankenstraße.

»Woher kommst du?« fragte Schado. Er stand auf, griff nach meinem Gürtel. »Wer bist du? Du kannst es mir sagen, ich bin doch dein Gefangener. Woher kommst du?«

»Von Arkon?« riet ich. Ich wußte es selbst nicht.

»Von Pthor kommen wir, Atlan«, sagte Thalia hinter mir.

Blitzartig durchzuckte mich die Erkennt­nis. Ja, Thalia und ich kamen von Pthor.

Und beinahe ebenso schnell war der Ge­danke wieder verschwunden. Ich wandelte am Rand der Erkenntnis, die verborgen lag hinter einer seltsamen Wand, die ich nicht zu durchstoßen vermochte.

»Von Pthor also«, sagte Schado. »Heheh, sind alle dort wie du? Könnt ihr alle mein Wirken abblocken?«

Ich verstand überhaupt nichts mehr? Wo­von redete der Mann?

Wer von uns beiden war nun irre – er oder ich. Oder beide?

Mein Blick wanderte unsicher umher. War das Ungeheuer verschwunden? Wer

hatte es fortgetragen? Der Sturm hatte auf­gehört, durch das Gewölk stahlen sich erste Sonnenstrahlen.

»Wie hast du das gemacht?« kreischte Schado. »Wie hast du es geschafft, die Im­pulse abzublocken, ja selbst die Herrschaft im Szenarium zu übernehmen?«

Ich sah mich hilfesuchend um. Der An­blick der Arkoniden beruhigte mich. Sie würden mir helfen, wenn es nottat. Die Männer, die Schado begleitet hatten, konn­ten es mit meiner Armee nicht aufnehmen.

»Rede doch«, flehte Schado. Sein Gesicht zeigte alle Anzeichen des Irrsinns. »Wie hast du das gemacht. Ich muß es wissen, für mein nächstes Szenarium, weißt du? Bitte, Herr, redet. Wohin habt Ihr die Bewohner von Rhen-Phi verschwinden lassen?«

»Wir?« Drruuufff, meldete sich der Dämon und

kicherte dazu. Drruuufff! »Sie sind verschwunden, alle 72.000«,

sagte ich unwillkürlich. Wie kam ich ausgerechnet auf diese Zahl?

Was hatte sie mit – Drruuuff, meldete sich wieder der Dämon – dem Problem zu tun. »Aber ich habe nichts damit zu tun«, sagte ich und machte eine abwehrende Handbewe­gung.

Keschmal Schado, der ganz allein vor mir stand, schüttelte traurig den Kopf. Seine schwarze Kleidung schien das strahlende Sonnenlicht fast zu verschlucken.

»Du mußt«, sagte er. »Niemand sonst hät­te das gekonnt. Hat dir das Goldene Vlies dabei geholfen?«

»Wobei?« schrie ich. Langsam verlor ich die Beherrschung, das Gefühl der Zerrissen­heit wurde immer stärker, immer unerträgli­cher.

»Das Szenarium zu sprengen«, schrie Schado mit verzerrtem Gesicht. »Sieh dich

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doch um, sieh dir an, was du getan hast? Wohin sind diese nun alle verschwunden?«

Ich drehte mich um. Wir waren allein. Verschwunden die Arkoniden, dorthin zu­

rückgekehrt, woher sie unbegreiflicherweise aufgetaucht waren. Verschwunden Päär und Banjar, wie in Luft aufgelöst.

Thalia war bleich geworden. »Atlan«, flü­sterte sie. »Was tust du?«

Ich starrte sie verständnislos an. Ja, was um alles in der Welt tat ich denn?

Ein warmer Wind strich sanft über die blumenbestandene Wiese, trug die Düfte der Blumen herüber. Trotzdem fröstelte ich leicht. Nicht einmal das Licht der drei Son­nen am Himmel vermochte mich zu wär­men.

Mir wurde übel, irgend etwas saß mir in Magen und Kehle.

»Drei Sonnen?« sagte Keschmal Schado. »Kommst du aus einem System mit drei Sonnen?«

»Drei Planeten«, sagte ich automatisch, ich gab nur die Einflüsterungen des Extra­sinns weiter.

Ein Gebilde tauchte in der Luft auf, flim­mernde Konturen, von einem Schirmfeld überwölbt.

»Pthor!« stammelte Thalia. Sie wurde zu­sehends blasser.

War Keschmal Schado lichtempfindlich? Er wurde nicht bleich, er verdüsterte sich. Sein häßliches Gesicht war von der schwar­zen Kleidung kaum noch zu unterscheiden.

Das Gebilde verschwand ebenso überra­schend, wie es gekommen war. Wahrschein­lich lag es daran, daß ich mich auf nichts mehr recht konzentrieren konnte.

Ich krümmte mich. Wurde der Dämon nun auch körperlich

aktiv? Beschränkte er sich nicht länger dar­auf, meine Gedanken zum Chaos werden zu lassen? Wollte er jetzt auch meinen Körper gleichsam verknoten? »Wohin hast du sie al­le verschwinden lassen«, wimmerte Ke­schmal Schado. Meine Augen konnten ihn immer schwerer erfassen.

Peter Terrid

»Ich flehe dich an, sage mir, wie du das gemacht hast. Ich werde dich belohnen, ich werde dir jeden Wunsch erfüllen, wenn du mir verrätst, wie du sie hast verschwinden lassen. Und wahrlich, Länerth, der Meister­träumer, hält sein Wort!«

Thalia schrie auf und knickte ein. Ich machte zwei Schritte, um sie aufzufangen. Seltsam leicht fühlte sich die Odinstochter an.

»Du heißt also Länerth?« Das schwärzliche Wesen winkte undeut­

lich. »Sage nicht, du weißt es nicht mehr, wer

ich bin!« sagte Schado undeutlich. »Weißt du nicht, wen du bekämpft hast? Hahaha, er weiß nicht einmal, wen er besiegt hat, dieser Tor.«

Ich fühlte grenzenlosen Haß in mir auf­steigen. Ich machte einen Schritt auf Länerth zu, krümmte mich aber wieder, weil mir ein riesiges, glühendes Messer durch den Leib zu fahren schien.

Zurück! sagte auch der Dämon. Jetzt fiel mir auch sein Name ein. Er hieß ARK SUMMIA. Daß ich früher darauf nicht ge­kommen war …

»Noch einmal, wohin hast du sie alle ver­schwinden lassen?« wollte Länerth wissen.

ARK SUMMIA hatte eine Antwort parat, sie war zwar unsinnig, aber vielleicht genüg­te sie dem Meisterträumer.

In einem Paralleluniversum, sagte der Dä­mon durch meinen Mund. Ich spürte wie er immer mehr Besitz von mir ergriff. Dort vergeht die Zeit um den Faktor 72.000 lang­samer.

»Einfach, aber wirkungsvoll«, kicherte Länerth. »Ein guter Gedanke. Vielleicht kann ich darauf zurückkommen.«

Er begann zu wachsen, vor meinen Au­gen.

Oder wurde ich kleiner? »Nun sind wir allein«, sagte Keschmal

Schado schadenfroh. »Endlich allein. Wa­rum hast du deine Helfer nicht behalten, dummer Tropf.«

Ich verstand nicht, was er damit sagen

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29 Der Meisterträumer

wollte. Er wuchs und wuchs, ein schwärzli­ches Gebirge von einem Wesen.

Auch um mich herum wurde es finster. Die Sonnen verschwanden, der Rasen ver­schwand, auf dem ich stand.

Ich verlor den Halt unter den Füßen, schwebte frei.

Angst breitete sich in mir aus. Schwärze hüllte mich ein, endlos und undurchdring­lich. In dieser Schwärze lauerte jemand auf mich, suchte einer den Kampf.

Nur ruhig, Atlan, sagte der Extrasinn kalt. Diese – innere – Stimme war alles was ich

wahrnehmen konnte in diesem Universum der Schwärze. Ich war allein, und doch wie­derum nicht. Irgend jemand, irgend etwas versuchte, mich zu beeinflussen.

In der Ferne wurde ein Lichtschein sicht­bar, weit entfernt, mehr zu ahnen als zu se­hen.

Ich strebte dorthin. Ein Gedanke genügte, und ich hatte das Gefühl, auf den Lichtpunkt zuzufliegen.

Du wirst es schaffen, gab der Extrasinn durch. Ich verließ mich auf die beruhigende Auskunft.

Schwärzlich in der Schwärze, körperlos im leeren Raum griff mich ein Etwas an, drängte und stieß mich zurück.

Länerth. Ich widersetzte mich dem Druck, stemmte

mich dagegen. Das helle Fenster hatte sich von mir ent­

fernt, jetzt kam es wieder näher, und damit kamen peinigende Gefühle auf mich zu.

Angst, Grauen, Furcht, nacktes Entsetzen. Etwas wartete auf mich, wenn ich durch je­nes Tor aus Licht schritt, das in der Ferne auf mich wartete. Es war sicherer, in der Dunkelheit zu bleiben, sich in die wärmende Schwärze zu hüllen. Grell und kalt stand das Licht am anderen Ende des Weges, mehr Bedrohung als Verheißung.

Ich steuerte dennoch darauf zu, vorange­trieben von den Impulsen des Extrasinns, gesichert von dem Gefühl, daß man dem Goldenen Vlies nichts anhaben konnte.

Zum Greifen nahe das Fenster, zum Grei­

fen nahe die Angst. Ich zögere, das Lichtfeld zu durchstoßen.

Vorwärts, drängt der Logiksektor. Du mußt, Atlan, du hast keine andere Wahl!

Noch einen Herzschlag lang zögere ich, dann gebe ich mir den letzten Stoß. Jäh fällt das Grauen über mich her, würgende Angst. Ich sitze irgendwo in der Helligkeit fest, kann mich nicht rühren, und etwas zerrt und reißt an mir und in mir. Ich trete mit beiden Füßen um mich, spüre Widerstand, der nachgibt. Der Schmerz hört nicht auf, aber ich spüre, wie mein Körper sich bewegt, auf einer glatten Unterlage ins Rutschen gerät. Ich falle vornüber. Der Schmerz hört auf. Stahl spüre ich an den Händen, kalten Stahl.

Ich kann nicht anders, ein Schrei löst sich von meinen Lippen, dann ein tiefes Aufat­men.

Ich bin erwacht.

7.

Allein. Die Lichtkabinen um mich herum waren

besetzt. Ich war das einzige lebende, freie Wesen in diesem Bereich des Mittleren Forts.

Zwei Schritte von mir entfernt tobte je­mand in seiner Lichtkabine, und ich wußte sofort, um wen es sich handeln mußte. Ich hastete zu der Lichtkabine hinüber, mit zit­ternden Fingern löste ich die Verschlüsse, die ich an meiner Kabine mit letzter Körper­kraft gesprengt hatte.

Thalia fiel mir in die Arme, schweißgeba­det, kreideweiß im Gesicht und zuckend vor Angst und Entsetzen.

»Atlan«, stammelte sie. »Was ist mit uns geschehen?«

Ich richtete sie langsam auf. Ich sah mich um, betrachtete die Lichtkabinen …

… und erinnerte mich …

*

Yärling war die Freude anzusehen, mit der er uns den Zweck der ganzen Anlage er­

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30

läuterte. Zwar konnte ich keine Konturen er­kennen, aber die Bewegungen des Schatten­schildes schienen mir deutlich zu sein.

»Ihr wollt wissen, was der Ausdruck Mei­sterträumer bedeutet, nicht wahr? Nun, Lä­nerth hier, der beste unter den Meisterträu­mern hatte sich eine Welt erdacht. Und er hat auch Bewohner für diese Welt.«

Yärling stieß einen Laut aus, der nur als höhnisches Lachen zu bezeichnen war.

Ich begriff. Der Meisterträumer belauschte nicht die

Träume der Sklaven des Mittleren Forts. Viel schlimmer – er träumte sie!

Er schuf eine künstliche Welt, geboren aus Illusionen, undurchschaubaren Träumen, aus Vorstellungen, die dem Meisterträumer genehm waren.

Woher sollten die Sklaven dieser Welt wissen, was Wahrheit, was Blendwerk war? Für sie mußte jede Illusion perfekt sein, und widerstandslos würden sie sich dem Willen des Meisterträumers beugen.

Aus dieser Sklaverei gab es kein Entkom­men – nicht einmal in Gedanken war Wider­stand gegen dieses perfekte System der Un­terdrückung möglich.

Mich schauderte. Viel hatte ich schon erlebt und gesehen,

aber dergleichen war mir noch nie begegnet. »Die Hölle!« stieß ich hervor. »Das Infer­

no selbst kann nicht schlimmer sein.« Wieder kicherte Yärling. Ich wollte einen

Sprung machen, ihn angreifen … ein schar­fer Impuls des Extrasinns hielt mich zurück.

Welches Hirn dachte sich so etwas aus? Wahrscheinlich wurden die Wünsche der

Meisterträumer von den Komputersystemen aufgearbeitet und den Lichtkabinen zuge­führt. Das Ergebnis, die kollektive Vorstel­lung der Sklaven wurde abgezapft und auf einen oder mehrere Bildschirme projiziert.

Auf diese Weise hatte der Meisterträumer stets einen vollständigen Überblick über das gesamte Szenarium – so wurde vermutlich der Verbund genannt, in den Hunderte von Sklaven verstrickt waren, ohne sich gegen diese Pseudowirklichkeit zur Wehr setzen zu

Peter Terrid

können. Was die Sklaven des Meisterträumers zu

erleben glaubten, war eine perfekte Welt für sich, ein in sich selbst abgeschlossenes Sy­stem. Woher sollte einer der Insassen wis­sen, was mit ihm gemacht wurde – wie woll­te er die perfekte Täuschung von der Wirk­lichkeit unterscheiden.

Wenn er sich, um ein beliebtes irdisches Bild zu gebrauchen, in den Arm kniff, dann tat dies im Traum weh – es gab aus dieser Il­lusion keinen Ausgang …… es sei denn, der Meisterträumer entließ seine Sklaven, und ich war mir sicher, daß dies für den Betref­fenden den Tod bedeutete, wenn nicht eine geistige Umnachtung, die schlimmer war als der Tod.

Ich schluckte. Ich hatte schon oft in Ge­fahr geschwebt, in Todesangst – aber dies war grundsätzlich anders. Ich konnte mir das Gehirn zermartern, aber mir wollte kein Weg einfallen, diesem Leben zu entrinnen. Wer einmal in einer Lichtkabine steckte, fand daraus nie mehr zurück.

Ich sah auf die Scuddamoren. War es nicht besser, den entscheidenden Schritt jetzt zu tun, den Scuddamoren in die schußberei­ten Waffen zu laufen? War dies nicht tau­sendmal besser als das Schicksal, das vor uns Tausende bereits erlitten hatten – und noch erleiden mußten? Keine voreiligen Ent­schlüsse, warnte der Logiksektor. Ich zwei­felte am Optimismus, den der Extrasinn da­mit wohl ausdrücken wollte. Alles in mir sträubte sich dagegen, sich dieser Behand­lung zu unterwerfen, in der aberwitzigen Hoffnung, daß es ausgerechnet mir gelingen würde, aus diesem Traumgefängnis einen Fluchtweg zu finden – den Tausende vor mir nicht gefunden hatten.

»Was versprecht ihr euch davon, alle Un­tertanen in solche Käfige zu sperren?« fragte Thalia. Ihr klarer Verstand hatte sofort die Schwachstelle gefunden.

»Natürlich nicht alle«, sagte Yärling, of­fenbar amüsiert. »Das System ist viel zu kompliziert. Es steht allerdings erst am An­fang.«

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31 Der Meisterträumer

Was denn? Hatte das Grauen noch eine Steigerungsmöglichkeit? Gab es dazu noch eine Verbesserung?

»Sehr ihr die Projektoren?« fragte Yär­ling.

Jetzt erst begriff ich, was die seltsam ge­formten Metallgebilde zu bedeuten hatten, die ich schon mehrfach gesehen hatte.

»Projektoren?« »Das System ist – noch – kabelgebun­

den«, erklärte Yärling. »Aber wir arbeiten daran, es zu verbessern. Und es wird uns ge­lingen.«

Ich wagte nicht, den Gedanken zu Ende zu denken.

»Eines nicht zu fernen Tages werden die Projektoren zu arbeiten beginnen«, ver­sprach Yärling. »Dann wird es keine Rebel­lionen, keine Aufstände mehr geben. Glück wird sich ausbreiten, auf allen Welten des Marantroner-Reviers.«

Glück, dachte ich. Was für ein Wort. Natürlich würden sie glücklich sein, die

Sklaven der Scuddamoren. Die Traumpro­jektoren würden sie in eine immerwährende Illusion des Glücks versetzen. Sie würden arbeiten und schuften. Im Pseudoglück die­ser Projektoren. Man würde ihnen Entbeh­rung als Vergnügen verkaufen können, Plackerei als Sport, Menschenschinderei als Freizeitvergnügen.

Was immer die Scuddamoren von ihren Sklaven verlangen mochten, sie würden es bekommen – die Sklaven des Grauens wür­den sich förmlich darum prügeln, den Scud­damoren gefällig sein zu dürfen.

Die Scuddamoren hatten ein perfektes Glasperlenspiel des Grauens erfunden; sie könnten ihre Untertanen ausbeuten, wie nie­mals zuvor Untertanen ausgebeutet worden waren – und niemals zuvor waren die Glas­perlen, die man den Sklaven als Ausgleich bot, zum einen billiger und zum anderen glänzender und perfekter gewesen.

Ein entsetzliches Bild machte sich in mei­nen Gedanken breit:

Irgendwo in dem riesigen Gebiet, das Ma­rantroner-Revier genannt wurde, saß Chirm­

or Flog, einer Spinne vergleichbar, die in­mitten eines unsichtbaren, absolut perfekten Netzes hockte. Von diesem Mittelpunkt aus konnte Flog über seine willfährigen Sklaven gebieten. Und nur die Ewigkeit selbst, das Ende aller Zeit, konnte dieser Herrschaft ein Ende bereiten.

Wer hätte gegen ihn rebellieren, ihn be­kämpfen können? Niemand! Diese Über­spinne in ihrem Netz konnte sicher sein, daß niemand jemals auf den Gedanken verfallen würde, einen solchen Aufstand auch nur zu wollen.

»Perfekt, nicht wahr?« Es war perfekt, Yärling hatte in seiner

perversen Freude recht. Was die Scuddamoren hier erprobten –

und zur Perfektion zu entwickeln schienen –, war nicht das Ende der Freiheit im übli­chen Sinn. Schon oft hatte es im Universum Diktaturen gegeben – aber niemals perfek­tere.

Denn dieser Diktator bestimmte nicht nur das Handeln seiner Untertanen – er gebot, mit universeller Macht, über den Willen sei­ner Opfer.

Zu mehr als Wehrlosigkeit waren die Sklaven des Mittleren Forts verdammt – sie waren verurteilt zur Willenlosigkeit.

Wir waren verurteilt zur Willenlosigkeit. »Vorwärts!« gebot Yärling. »Wir wollen

sehen, wie euch das Leben gefallen wird, wenn ein Meisterträumer sich um euch küm­mert.«

Ich vergaß Thalia, ich vergaß alles. Nur ein Wille beherrschte mich noch. Ich wollte diesem Schicksal entgehen, lieber sterben als das …

Ich schaffte es gerade noch, mich halb herumzudrehen …

Dann traf mich der harte Schlag, der mich sofort bewußtlos werden ließ.

*

Was mich letztlich gerettet hatte, ließ sich in diesem Augenblick nicht sagen. Ich konn­te darüber nur Vermutungen anstellen.

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32

Wahrscheinlich hatten mich das Goldene Vlies und der Extrasinn gerettet. Auf eine Art und Weise, die ich selbst nicht begriff, hatte ich mich offenbar von Anfang an ge­gen das Szenarium – die Pseudowelt der Kontinentalbrücke – zur Wehr gesetzt, und dies offenbar mit immer größeren Erfolg.

Zum Schluß nämlich hatte ganz offenbar der Meisterträumer die Kontrolle über sein Szenarium verloren und an mich abtreten müssen.

Unbewußt hatte ich den Spieß herumge­dreht. An Einzelheiten wurde mir das schlagartig klar.

Ich hatte Thalia als Odinstochter bezeich­net, als ich sie zum erstenmal gesehen hatte.

Ich hatte mich eine fünfhundert Meter ho­he Brücke hinab ins Wasser gestürzt – eine Handlungsweise, die nur für den selbstmör­derisch war, der nicht wußte, daß es sich um ein Traumphänomen handelte, und der vor allem die unglaublichen Defensivkräfte des Anzugs der Vernichtung nicht kannte.

Langsam kam Licht in dies alles. Daß Banjar, der Brückenmann, plötzlich

so tapfer geworden war – Länerth, der Mei­sterträumer hatte hier nachgeholfen. Unsere verblüffend einfache Befreiung aus Piraten­hand – von Länerth gesteuert.

Und dann war Länerth selbst auf den Plan getreten, mit seinem Riesenzug und seinen zahlreichen Soldaten – als Keschmal Schado hatte er sich selbst in sein eigenes Fiktiv­spiel eingebaut.

Für ihn, der die Daten des ganzen Szena­rium kontrollierte, mußte es natürlich ein Schock sein, daß die Bewohner des Wärter­bunkers RhenPhi verschwunden waren.

Ich hatte sie verschwinden lassen. Mein Unterbewußtsein – präziser gesagt, mein Ex­trasinn – hatte eine Gegenillusion geschaf­fen und die Bewohner in das Paralleluniver­sum der Druuf mit ihrer 72 000fach langsa­meren Zeit versetzt.

Der Extrasinn hatte auch die Informatio­nen herausgerückt, die ich Keschmal Schado in Brocken vor die Füße geworfen hatte – als Köder gleichsam.

Peter Terrid

Ich konnte im Nachhinein die stille Raffi­nesse des Extrasinnes nur bewundern, mit der er – vorsichtig, wie es seine Art war – nur solche Informationen freigegeben hatte, die zwar nachweislich stimmten, aber im Augenblick nicht von wesentlicher Bedeu­tung waren.

Wahrheitsgemäß hatte ich ausgesagt, von ThäärRha zu kommen – Länerth, damals noch außerhalb des Szenariums, hatte die halbe Wahrheit aufgegriffen und sofort ein­gebaut – plötzlich gab es, und niemand Wunderte sich darüber, einen Wärterbunker, der Terra hieß. Zu seinen Leidwesen hatte Länerth aber keine weiteren wichtigen Infor­mationen aus mir herausholen können.

Auch meine Behauptung, ich sei Kristall­prinz von Arkon war richtig – nur um Jahr­tausende veraltet. Kein Wunder, daß es Ke­schmal Schado alias Länerth vorgezogen hatte, die gewünschten Daten im persönli­chen Kontakt aus mir herauszuholen.

Ich vermutete, daß eigens zu diesem Zweck die Seeungeheuer erschaffen worden waren. Sie hatten uns in eine psychologische Ausnahmesituation treiben sollen, in der Lä­nerth hoffte, uns gefügiger zu finden. Das Gegenteil war eingetreten. Der Extrasinn hatte die Kontrolle über das Szenarium über­nommen. Ihm hatte ich es zu verdanken, daß urplötzlich 30.000 Arkoniden auf den Plan getreten waren, Gestalten, die niemals zu Länerths Szenarium gehört hatten. Sie waren allein meiner Erinnerung entsprungen. Ich wußte nicht, wieviel Zeit verstrichen war, wie viele Stunden Thalia und ich in den Lichtkabinen gesteckt hatten. Das Gefühl der Müdigkeit aber, das sich trotz des le­benserhaltenden Zellaktivators in mir aus­breitete, ließ darauf schließen, daß der Kampf zwischen Länerth und mir viel Zeit und vor allem viel Kraft gekostet hatte. Ich mußte mich gegen eine Wand lehnen, um nicht einzuknicken. Nach den Anstrengun­gen des lautlosen, rein geistigen Kampfes kam die Reaktion besonders stark.

Thalia atmete tief durch. Es war bewundernswert, daß sich auch

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Thalia hatte wehren können. Ich konnte mich an Äußerungen von ihr erinnern, die sie im Traum gemacht hatte und die sehr deutlich gezeigt hatten, daß sich auch die Odinstochter wacker gewehrt hatte.

»Was machen wir jetzt, Atlan?« Thalias Frage klang ruhig und bestimmt.

Der erste Anfall von Erschöpfung war vor­über. Odins Tochter fand zur Selbstbeherr­schung und Verstandeskälte zurück, die in dieser Lage dringend nötig waren.

»Vorerst sind wir in Sicherheit«, sagte ich. »Aber das wird vermutlich nicht sehr lange dauern. Irgendwann werden die Scud­damoren merken, daß ihr Meisterträumer aus seinem eigenen Traum nicht mehr her­ausfindet. Und dann wird hier die Hölle los sein …«

Es war eine dumme Formulierung, schließlich hatten wir so etwas wie die Hölle bereits hinter uns gebracht. Verglichen mit der grauenvollen Existenz als unfreiwilliger Träumer konnte der Tod in einem Kampf nur eine Verheißung sein.

Eines stand für mich fest: beim nächsten Versuch würden die Scuddamoren keine Fehler mehr machen. Sie würden mir den Anzug der Vernichtung wegnehmen.

Ob ich ohne dieses Hilfsmittel in der Lage war, den Zwang des Meisterträumers abzu­streifen …? Ich glaubte es nicht. Beim näch­sten Mal würde es kein Erwachen mehr ge­ben für Thalia und mich.

Irgendwo gellte der Klang einer Sirene. Das Geräusch kam mir erst jetzt zum Be­wußtsein.

Waren wir bereits entdeckt worden? Suchten die Scuddamoren bereits nach uns, um den Fehler wiedergutzumachen, der uns unverhofft die Handlungs- und Gedanken­freiheit wiedergegeben hatte?

»Wir müssen zunächst einmal von hier verschwinden«, sagte ich leise in Thalias Ohr. »Ich fürchte, daß die Scuddamoren bald nach uns suchen werden.«

Thalia nickte. Wohin sollten wir uns wenden? Es gab

Längs und Quergänge, jeder gerade breit ge­

nug, uns durchzulassen. In welche Richtung wir flüchten sollten, war unserer Phantasie überlassen – wir hatten nicht die leiseste Ah­nung, in welchem Winkel der stählernen Fe­stung wir steckten.

»Los, nehmen wir diesen Gang.« Ich faßte Thalia bei der Hand und zog sie in einen der Gänge.

An der nächsten Abzweigung blieb ich stehen.

Links, bestimmte der Logiksektor. Einmal mehr verließ ich mich auf den Zusatzsinn, dessen Aktivierung ich der ARK SUMMIA verdankte. Im Nachhinein kam es mir fast als Witz vor, daß ich die Informationen und Impulse des Extrasinns für einen Dämon ge­halten hatte.

Wieder links! Ich wußte nicht, ob der Extrasinn einen

Lageplan des Mittleren Forts erarbeitet hat­te. In unserer Situation blieb uns nichts an­deres, als blind und ergeben den Befehlen des Logiksektors zu folgen, von denen ich nicht wußte, auf welchen Überlegungen sie basierten.

Plötzlich verstummte das Sirenengeheul. Ich sah nach oben. Es war keine Kamera zu sehen, nichts deutete darauf hin, daß wir be­obachtet wurden. Wir mußten dennoch auf der Hut sein.

Schwer atmend blieben wir an einer Weg­kreuzung stehen.

»Ich schlage vor«, sagte ich keuchend, »daß wir den Stier bei den Hörnern fassen.«

Thalia sah mich verständnislos an. Nun, woher hätte sie die Sitten, des minoischen Kreta kennen sollen, die kultischen Tänze mit lebenden Stieren …?

»Wir sollten angreifen, anstatt zu flie­hen«, antwortete ich. »Die Scuddamoren sind von ihrer Macht überzeugt. Sie können sich wahrscheinlich gar nichts anderes vor­stellen, als daß wir fliehen, sobald wir aus den Lichtkabinen herausgekommen sind.«

»Was sollten wir denn anderes tun?« Ich versuchte ein grimmiges Lächeln auf­

zusetzen. »Wir werden den Löwen in seinem Bau

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aufsuchen. Ich möchte ein paar Worte mit Yärling und dem Meisterträumer reden.«

8.

Länerth, der Meisterträumer, sah sich um. Er sah nichts, und als er den Blick senkte,

stellte er fest, daß er nicht einmal sich selbst sehen konnte.

Länerth kicherte in sich hinein. Sieh an, der Fremde hatte noch immer die

Kontrolle über das Szenarium. Sein Ver­stand, der offenbar dem Willen Länerths mehr als gewachsen war, hatte nach und nach immer größeren Einfluß auf das Szena­rium genommen. Zuerst hatte sich Atlan der Integration in das Szenarium widersetzt, da­nach hatte er Länerths Impulse einfach igno­riert.

Und irgendwie hatte er es fertiggebracht, die Bewohner von Rhen-Phi einfach ver­schwinden zu lassen, ins Nirgendwo.

Natürlich konnte er die Brückenleute nicht tatsächlich nonexistent gemacht haben, das ging nicht – jedenfalls soweit Länerth über die Bedingungen seines Szenariums in­formiert war. Zweifel nagten an ihm, ob er tatsächlich alle Gegebenheiten des Puer-Szenariums kannte.

Und dann diese sogenannten Arkoniden – Länerth hätte nur zu gerne gewußt, woher Atlan diese Personen genommen hatte. Wirklich, es war erstaunlich, was der Frem­de aus Länerths meisterlichem Szenarium gemacht hatte.

Natürlich hatte der Meisterträumer seine Möglichkeiten noch lange nicht erschöpft. Länerth schmunzelte erheitert. Er hatte noch einiges zu bieten.

Zuvörderst aber mußte er die Welt wie­derherstellen, in deren Rahmen das Puer-Szenarium gestanden hatte. Länerth konzen­trierte sich.

Zuerst schuf er sich selbst, gab er sich sei­ne Gliedmaßen wieder. Er kicherte fröhlich, und er fühlte erfreut, daß er sein Kichern wieder hören konnte. Es gab wieder einen Himmel, der sich über weitem Land wölbte.

Peter Terrid

In rascher Folge schuf sich Länerth, was er für nötig erachtete.

Der Meisterträumer verstand sich auf sein Handwerk. Er brauchte nicht viel Zeit, sich ein neues Szenarium auszudenken. Einst­weilen brauchte er ohnehin nur die Grundda­ten, eine Welt und ihre Bewohner.

Um Bewohner war Länerth nicht verle­gen. Wieder konzentrierte er sich.

Diesmal vergebens. Niemand erschien, um Länerth in seiner

Welt Gesellschaft zu leisten. Grauen be­schlich den Meisterträumer. Das durfte nicht sein.

Hatte Atlan auch ihn verbannt? Wo steck­te dieser Mann überhaupt?

Länerth strengte sich an. Er wußte schließlich, daß die Welt, die ihn umgab nichts weiter war als ein künstlich erzeugter Traum – und er hatte dies Traumgebilde er­schaffen.

Oder saß jetzt Atlan an den Schaltern und Kontrollen der Traumzentrale?

Länerth steigerte sich in das Gefühl hin­ein, den Rückzug anzutreten. Er wollte ein­mal mehr versuchen, sich aus dem Szenari­um zu entfernen.

Triumphierend kicherte der Meisterträu­mer, als er zumindest Teil der Wirklichkeit in seiner Nähe auftauchen sah.

Da war sein Sessel, und der Sessel war leer. Also steckte dieser Atlan nicht in der Traumzentrale, wahrscheinlich war er noch in der Lichtkabine. Möglich, daß er sich ge­gen Länerths Beeinflussung wehren konnte, aber das nicht in einem Maß, daß ihm ein Entkommen aus der Lichtkabine möglich gewesen wäre.

»Nun«, murmelte der Meisterträumer. »Wenn nicht mit friedlichen Mitteln, dann mit Gewalt. Warte, Bursche, noch hast du das Spiel nicht gewonnen.«

Irgendwie flimmerte die Einrichtung der Zentrale vor den Augen des Träumers, aber Länerth schenkte dem keine Beachtung. Ihn hätte auch seltsam anmuten können, daß die­se Traumzentrale mitten auf der freien Wie­se stand und nicht von den Lichtkabinenar­

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senalen umgeben war, wie es sich gehörte. Länerth schob dies alles auf den schädlichen Einfluß des Gefangenen Atlan, und er wußte auch schon, wie er diesen Einfluß zunichte machen wollte.

»Hähähä«, meckerte Länerth fröhlich. »Dich werde ich lehren, mir die Stirn bieten zu wollen.«

Auf der Wiese erschienen die Projektoren, die noch nie im Großversuch eingesetzt wor­den waren. Länerth war entschlossen, jetzt einen Versuch zu unternehmen. Die Notlage schien diese Sondermaßnahme hinreichend zu begründen.

Kichernd und lachend hüpfte Länerth zwischen den Projektoren hin und her, schaltete hier, steckte dort Kontakte, verän­derte, prüfte und korrigierte.

Dann hockte er sich wieder auf seinen Sessel, den ehrenvollen Stuhl des Meister­träumers, der willens und fähig war, nun­mehr sein Meisterstück zu liefern.

Was hatten ihm die Gedanken des Gefan­genen zuletzt noch verraten?

Atlan hatte, wenn Länerth ihn richtig ver­standen hatte, für die Bewohner von Rhen-Phi die Zeit um den Faktor 72.000 beschleu­nigt … oder verlangsamt?

Länerth stieß einen leisen Seufzer aus. Er wußte es nicht mehr.

Nun, es kam auf den Versuch an. Länerth konzentrierte sich.

*

»Heilige Schwärze«, stieß ein Scuddamo­re hervor.

Yärling äußerte sich mit einer wütenden Verwünschung.

Was er da auf den Bildschirmen sah, war eine offenkundige Unmöglichkeit.

Eine der Lichtkabinen hatte sich verän­dert. Sie leuchtete nun heller als normal, und das ohne ersichtlichen Grund. Yärling glaubte zu halluzinieren. Obendrein bewegte sich etwas in der Kabine, und auch das durf­te nicht sein. Der Insasse strampelte mit den Füßen, bis der Deckel mit lautem Krachen

aus der Halterung flog – und einen Herz­schlag später stand, wie Yärling entgeistert feststellen mußte, der Gefangene Atlan auf dem Boden des Inneren Forts und sah sich verwirrt um.

Wenig später standen gar beide Gefange­nen in Freiheit, und das ohne die geringsten Anzeichen von Wahnsinn oder geistiger Umnachtung.

Yärling ging zu Länerth hinüber. Bevor er den Meisterträumer anschreien

oder mit Püffen und Stößen wecken konnte, kam Leben in die reglose Gestalt.

»Endlich«, rief Yärling. »Nun, Meister­träumer, was hat das zu bedeuten?«

Yärling glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Auf diese scharfe Frage antwortete Länerth mit einer Geste, die Verachtung und den Wunsch ausdrückte, in Ruhe gelassen zu werden.

Eine derartige Behandlung hatte Yärling noch nie erfahren.

Der Kommandant des Mittleren Forts be­gann zu ahnen, daß Schwerwiegendes ge­schehen war. Es war ihm schon rätselhaft, wie die beiden Gefangenen aus den Lichtka­binen herausgekommen waren; das hatte zu­vor niemand geschafft. Den letzten Beweis hätte, wenn es dessen noch bedurft hätte, das Verhalten des Meisterträumers geliefert.

Ohne sich um Yärling oder die anderen Scuddamoren zu kümmern, marschierte Lä­nerth auf die großen Projektoren zu, die un­benutzt in der Halle standen. Yärling traute seinen Sinnen kaum, als er sah, daß Länerth sich an den Projektoren zu schaffen machte.

»Laßt ihn«, rief er seinen Leuten zu. »Er wird wissen, was zu tun ist.«

Yärling warf einen Blick auf die Schirme. Der Schirm, der vor kurzem noch die beiden Flüchtigen gezeigt hatte, war nun leer. Atlan und seine Gefährtin hatten sich davonge­macht. Nun, mochten sie nur herumlaufen – heraus aus dem Fort kamen sie nicht, dessen war sich Yärling sicher.

Die anderen Schirme waren größtenteils leer, und das war eine Tatsache, die Yärling sehr nervös machte.

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Hatte Länerth, aus welchen Gründen auch immer, das Puer-Szenarium desintegriert? Der Hauptbildschirm jedenfalls zeigte nur eine große Wiese, auf der einige hundert Le­bewesen herumstanden und sich langweil­ten. Yärling erkannte in den Wartenden die gleichen Wesen wieder, die auch das Puer-Szenarium bevölkert hatten.

Als Yärling sich einigermaßen ratlos wie­der zu Länerth umwandte, war der Meister­träumer mit dem ersten Projektor bereits fer­tig. Was er daran verstellt und geschaltet hatte, wußte der Kommandant nicht. Es in­teressierte ihn auch nicht sehr, er verstand nichts davon. Wichtig war nur, daß Länerth überhaupt etwas unternahm, um sein Szena­rium wieder in den Griff zu bekommen. Es verstand sich von selbst, daß die Flucht der beiden Gefangenen aus dem Szenarium und den Lichtkabinen ein Nachspiel haben wür­de – aber dazu war später Zeit und Gelegen­heit günstiger. Vorläufig mußte alles daran gesetzt werden, die beiden Flüchtigen wie­der einzufangen. Erst danach konnten sich die Fachleute damit beschäftigen, die Ursa­chen dieser unglaublichen Pannen heraus­zutüfteln.

Yärling verharrte schweigend. Er sah zu, wie Länerth an den Projektoren herumarbei­tete.

Länerth arbeitete rasch und zielsicher. Nach kurzer Zeit waren die Projektoren um­geschaltet.

»Nur noch kurze Zeit«, konnte Yärling den Meisterträumer sagen hören. »Dann ha­ben wir es geschafft. Ihr werdet mir nicht entkommen, mir nicht!«

Ein wenig fühlte Yärling Erschrecken. Selbstgespräche gehörten nicht zum Nor­malverhalten eines Scuddamoren, aber die Meisterträumer waren von je her ein wenig seltsam gewesen, Länerth allen voran.

Länerth nahm wieder auf dem Sessel Platz, von dem aus er das Szenarium steuer­te. Er kicherte leise.

Mit flinken Fingern schaltete er ein neues Szenarium zusammen, auf das er sich mit al­ler Kraft konzentrierte.

Peter Terrid

Auf den Bildschirmen tauchte etwas auf, Bilder wurden sichtbar. Die ersten Umrisse erschienen. Länerths neues Szenarium be­gann Gestalt anzunehmen – eine Gestalt, die Yärling nach und nach immer bekannter er­schien.

Dann, beinahe zu spät, erkannte der Kom­mandant des Mittleren Forts, was für ein Szenarium Länerth sich ausgedacht hatte …

Auf den Schirmen entstand das Abbild des Mittleren Forts. »Länerth!« rief Yärling scharf. »Was soll das?«

Der Meisterträumer antwortete nicht. Er murmelte unverständliche Silben, schaltete und verstellte, während auf den Schirmen immer mehr Einzelheiten sichtbar wurden.

Lichtkabinen waren zu sehen, die sich öffneten und ihre Insassen freisetzten – und Yärling wußte in seiner Verwirrung nicht mehr, welche Bildschirme was zeigten, ob dieser Vorgang sich nur in Länerths absur­dem Szenarium abspielte, oder aber tatsäch­lich …

Yärling traute Länerth einen solchen Ver­rat nicht zu, aber man konnte nie wissen.

»Ergreift ihn!« rief Yärling stark erregt. »Er soll aufhören.«

Ein Wink genügte, seine Scuddamoren setzten sich in Bewegung. Sie marschierten auf Länerth zu, streckten die Gliedmaßen nach ihm aus – und blieben dann stehen, wandten sich um und gingen einfach davon.

Yärling erstarrte förmlich. Fassungslos mußte er ansehen, wie sich seine Soldaten gegen ihn auflehnten.

Ja, die Rebellen gingen gar so weit, zu den Lichtkabinen zu marschieren und sie zu öffnen.

Auf allen Schirmen war dieser Vorgang zu sehen. Wirklichkeit und Szenarium waren miteinander verschmolzen.

Yärling wußte nun, daß der Meisterträu­mer den Verstand verloren haben mußte. Die Waffe, die die Scuddamoren im Mittle­ren Fort geschmiedet hatten, sich das ganze Marantroner-Revier untertan zu machen, dieses schreckerregend wirkungsvolle In­strument wurde nun von seinem größten

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Meister gegen das eigene Volk angewandt. Yärling zögerte nicht lange, er griff nach

seiner Waffe. Aber dann hielt er, den Finger bereits am Abzug, inne.

Diese Anlage war zu kostbar, um sie durch wildes Herumschießen zu gefährden. In den Apparaturen und Programmen steckte die Arbeit von Jahrzehnten, und noch schien Yärling nicht alles verloren. Es brauchte Zeit, bis ein neues Szenarium aufgebaut war – die Spanne konnte genügen.

Yärling steckte die Waffe zurück. Er wußte nun, was zu tun war. Als erstes mußte er sich absetzen, bevor er ebenfalls in das sich langsam ausbreitende Projektorfeld ge­riet und unter seinem Einfluß selbst zum Verräter und Saboteur wurde.

Yärling wandte sich zur Flucht. Er hatte nicht weit zu laufen. Noch beschränkte sich Länerths Projektion auf wenige Quadratme­ter, nur auf seine eigene Traumzentrale. Da­gegen ließ sich etwas machen. Yärling such­te Jard auf, einen anderen Meisterträumer, nicht so genial und erfolgreich wie Länerth, aber sehr wirkungsvoll.

Jard war gerade damit beschäftigt, eine frisch eingetroffene Lieferung von Gefange­nen in sein Szenarium zu integrieren. Auf den Kontrollschirmen sah Yärling eine Eis­welt, auf der zu leben wahrlich kein Vergnü­gen war. Yärling erinnerte sich, daß gerade dieses Szenarium besonders viele Opfer ge­kostet hatte.

Jard begrüßte den Kommandanten mit al­lem gebührenden Respekt. Yärling nahm sich nicht die Zeit, den Gruß zu erwidern.

»Die Zeit drängt«, erklärte er. »Sieh zu, was Länerth versucht – er hat die Projekto­ren eingeschaltet, mitten im Fort.«

»Er ist verrückt geworden«, stieß Jard hervor. »Die Projektoren sind noch lange nicht einsatzreif.«

»Das weiß ich, und du weißt es auch«, sagte Yärling. »Aber Länerth scheint es ver­gessen zu haben. Sieh dir an, was er zuwege gebracht hat.«

Jard brauchte nur eine Handbewegung, um auf einem Separatbildschirm das Ge­

schehen in der Nähe von Länerths Traum­zentrale abzubilden.

»Entsetzlich«, stöhnte der Meisterträumer auf. »Das ist offener Verrat.«

»Länerth wird sterben«, sagte Yärling ge­lassen. »Das steht außer Frage – aber wie kommen wir an ihn heran? Selbst unsere Leute erliegen Länerths Projektion.«

Jard machte eine Geste, die seine Ratlo­sigkeit und Angst offenkundig machte.

»Man könnte versuchen«, sagte er unsi­cher, »vielleicht hilft eine Gegenprojekti­on?«

»Unternimm den Versuch«, sagte Yärling entschlossen.

»Und mein Szenarium?« Yärling hatte auch das bedacht. »Mobilisiere die Gefangenen im Sinn dei­

ner Projektion. Und dann schick sie in den Kampf gegen Länerth. Seine Projektion darf sich nicht weiter ausbreiten, das versteht sich von selbst. Alle Mittel sind einzusetzen, um diese Revolte schnellstens zu unterbin­den. Und noch etwas – achte auf zwei Ge­fangene, die sich von Länerths Projektion nicht beeindrucken lassen. Sie darfst du un­ter keinen Umständen töten.«

Jard sah seinen Vorgesetzten entgeistert an.

»Ich soll sie am Leben lassen?« Kalt erwiderte Yärling: »Nicht für lange. Sie werden mir sagen

müssen, was sie wissen und wie sie es fer­tiggebracht haben, sich dem Szenarium zu widersetzen. Dann erst werden sie sterben.«

Er verließ die Zentrale. Über die interne Kommunikation unter­

richtete Yärling die anderen Traumzentralen von den Vorfällen. Er befahl seinen Unter­gebenen, ihre Anstrengungen mit denen des Meisterträumers Jard zu koordinieren.

Als Yärling diese Serie von Gesprächen beendet hatte, war seit dem Erwachen der beiden Gefangenen etwas über eine Stunde vergangen. Ein kurzer Blick auf die Kon­trollschirme zeigte, daß sich die Projektion des rebellischen Meisterträumers weiter aus­gebreitet hatte. Sie umfaßte den gesamten

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Bereich von Länerths Traumzentrale. Hunderte von aufgeweckten Gefangenen

irrten in den Gängen umher, die niemals da­für gedacht worden waren, so vielen Lebe­wesen Platz zu bieten. Und mit jeder Minute vergrößerte sich die Zahl der Erweckten. Zum Glück waren sie hilflos, so daß sie nichts unternehmen konnten.

Was Yärling zu sehen bekam, war ein fürchterliches Durcheinander, aber einstwei­len nicht mehr. Seine Furcht, Länerth könnte einen echten Aufstand in Szene setzen wol­len, verflüchtigte sich. Allerdings erschreck­te den Kommandanten, daß auch seine Scuddamoren den widersinnigen Befehlen der Projektoren gehorchten. Sie rannten ebenso hilflos durch die Gänge wie ihre Ge­fangenen.

Und irgendwo in diesem Trubel steckten Atlan und Thalia, denen dieses Durcheinan­der zu verdanken war. Yärling hielt verge­bens nach ihnen Ausschau. In dem Chaos, das sie hervorgerufen hatten, waren sie prak­tisch nicht auszumachen. Yärling würde warten müssen, bis sich das Tohuwabohu wieder gelegt hatte. Dann aber, das schwor er sich, würde er Rache nehmen für diese unerhörte Demütigung, die ihm widerfahren war.

Yärling überließ nichts dem Zufall. Er sorgte dafür, daß ein Gleiter flugfertig be­reitstand, daß außerdem eine Brigade von Scuddamoren in Gleitfahrzeugen vor den Toren des Mittleren Forts Aufstellung nahm. Falls es wider Erwarten den Rebellen gelin­gen sollte, aus dem Fort herauszukommen … Yärling wußte, daß es ein Blutbad geben würde, aber das störte ihn nicht. Ihn irritierte aber, daß die anderen Meisterträumer noch keine Erfolgsmeldung abgegeben hatten.

Yärling hielt nach dem Gegenschlag der loyalen Träumer Ausschau. Er brauchte eini­ge Minuten, bis er begriff, daß dieser Ge­genschlag bereits im Ansatz gescheitert war.

Die Projektion des Rebellen war stärker als die der Loyalen. Selbst im Verbund reichte die Suggestionskraft der Projektoren aller anderen Meisterträumer nicht aus, die

Peter Terrid

Projektion von Länerth außer Kraft zu set­zen. Bei dem Sturmangriff war nur eines herausgekommen – in der Grenzzone zwi­schen beiden Projektionen verfielen die da­von Betroffenen in eine Phase akuten Wahn­sinns.

Sie drehten sich um sich selbst, krümmten sich unter Schmerzen und schossen sinnlos herum. Dabei zerstörten sie wertvolles Gerät und beschworen damit eine Katastrophe her­auf. Wenn es einem dieser Irren gelang, sich zu den Zentralreaktoren durchzuschlagen …

Yärling sah den Zeitpunkt gekommen, sich aus dem Mittleren Fort abzusetzen.

Er erteilte noch eine Reihe von Befehlen, obwohl er sicher war, daß keiner dieser Be­fehle befolgt werden würde. Danach sah er zu, daß er aus dem Mittleren Fort ver­schwand.

Während hinter ihm die Schlacht um die Vormacht im Mittleren Fort in aller Heftig­keit entbrannte, hastete Yärling durch die Stollen und Gänge seines ehemaligen Machtbereichs. Seltsamerweise fühlte sich Yärling erleichtert, als er das Freie erreicht hatte und sich die Tore des Mittleren Forts hinter ihm schlossen.

Auf dem Landefeld standen zwei Dutzend Organschiffe flugbereit. Notfalls, so über­legte sich Yärling, würden sie die Entschei­dung herbeiführen.

Yärling war fest entschlossen, jeden Wi­derstand gegen seine Herrschaft zu brechen – notfalls würde er das gesamte Mittlere Fort opfern, samt allen Bewohnern.

9.

Sie lagen auf dem Boden und schlugen um sich. Sie standen in Winkeln und schluchzten leise. Sie hatten sich in finstere Löcher verkrochen, von Angst und Entset­zen gepeinigt.

Wohin wir uns auch wandten, überall fan­den wir ehemalige Gefangene der Scudda­moren. Es waren Lebewesen unterschied­lichster Gestalt, sie entstammten wahr­scheinlich allen bewohnten Planeten des

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Marantroner-Reviers. Es waren Wesen dar­unter, deren äußere Gestalt schreckerregend war, wenn man in konventionellen Begriffen von Schönheit dachte. Aber diese Wesen flößten keine Furcht ein, ihr Anblick erregte nur mein Mitleid. Ob sie scheußlich aussa­hen oder nicht – nichts und niemand im Uni­versum hatte das Recht, diese Geschöpfe zu knechten und zu quälen.

Thalia und ich waren auf der Suche nach jenem Scuddamoren, dem die Qual dieser Gefangenen zuzurechnen war. Wir waren auf der Suche nach Länerth, dem Meister­träumer – und nach Yärling, der über dieses Reich der Qual und des Grauens mit kalter Berechnung gebot.

Irgendwo in diesem Trubel mußten wir auf diese beiden stoßen.

»Ich verstehe das alles nicht«, murmelte Thalia. »Wieso sind die Gefangenen frei? Und warum verhalten sie sich so merkwür­dig?«

Ich wußte darauf keine Antwort. Ich entdeckte auf einem Gang ein halbes

Dutzend Bewußtloser. Es waren Gestalten, die ich bereits kannte – es waren Brücken­leute. Der Meisterträumer hatte diese Spezi­es als Vorbild gewählt, als er das Puer-Szenarium konstruiert hatte. Ich hätte gerne gewußt, ob es eine monströse Konstruktion wie die Kontinentalbrücke auf der Heimat­welt dieser Wesen wirklich gab, aber für diese Untersuchung hatte ich keine Zeit. Ich konnte auch nicht feststellen, ob einer der Bewußtlosen mein Freund gewesen war – Päär oder Banjar. Auch Scuddamoren fan­den wir, und die waren ebenso hilflos wie die Gefangenen des Mittleren Forts. Etwas war geschehen, das auch sie völlig verwirrt hatte. Ich vermutete, daß Länerth eine neue Form des Szenariums entworfen hatte – diesmal über die Projektoren, mit denen er in einer späteren Entwicklungsform ganze Welten fernsteuern wollte. Offensichtlich war diese Entwicklung bei weitem noch nicht ausgereift. Jedenfalls waren auch die Scuddamoren gegen die Wirkung der Pro­jektionen machtlos. »Deckung!« flüsterte

Thalia. »Dort vorn wird gekämpft!« Ich sah in die Richtung, die sie mir an­

zeigte. In der Luft flimmerte es, und hinter diesen seltsamen Schlieren sah ich bewaff­nete Scuddamoren, die auf alles feuerten, was sich in ihrem Gesichtskreis sehen lie­ßen. Die Interferenzen schienen sie nicht wahrzunehmen. Die Flimmererscheinungen bewegten sich auf die Scuddamoren zu – und als sie sich erreicht hatten, hörte auch der Kampf sofort auf. Nach wenigen Sekun­den zeigten die angreifenden Scuddamoren den gleichen Zustand vollständiger geistiger Verwirrung, den alle zeigten, denen wir be­gegneten.

Wir hatten Mühe, uns durch dieses Toll­haus zu kämpfen. Die schmalen Gänge zwi­schen den Lichtkabinen waren niemals dafür gedacht gewesen, Massenverkehr zuzulas­sen. Das allgemeine Durcheinander wurde durch die bedrückende Enge noch verstärkt.

»Bleib hinter mir«, riet ich Thalia. »Ich werde versuchen, einen Weg freizumachen.«

Und tatsächlich gelang es mir erstaunlich leicht, einen Weg durch die Scharen der To­benden zu bahnen. Sie wichen vor mir zu­rück, trampelten sich gegenseitig auf die Fü­ße und schrien dazu – als hätten sie panische Angst vor mir.

Das haben sie auch, gab der Extrasinn durch.

Ich schob und drängelte mich durch, auf das Zentrum der ganzen Anlage zu. Je näher wir diesem Zentrum kamen, um so stärker wurden die Auswirkungen der Projektion.

Ich begann mich zu fragen, in welcher geistigen Verfassung Länerth war, daß er aus seiner Traumzentrale ein solches Toll­haus machte. Wenn er die Wirklichkeit, die er selbst erschaffen hatte, nicht unter Kon­trolle halten konnte, warum beendete er die Projektion dann nicht?

Die Gefangenen würden zu sich kommen, kommentierte der Extrasinn, und du darfst raten, was sie mit Länerth anfangen würden, bekämen sie ihn zu fassen!

Im inneren Bereich fanden wir nur noch Bewußtlose. Sie lagen übereinander, wie

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vom Schlag überrascht, Scuddamoren und ihre Gefangenen bunt durcheinander.

Ich blieb stehen. Länerth setzte sich offenbar selbst außer

Gefecht, und er würde dafür sicher noch ei­nige Zeit brauchen. Ich meinerseits wollte endlich herausfinden, was es mit den Schat­tenschilden auf sich hatte.

Denn auch die Bewußtlosen Scuddamoren trugen ihre Schilde, offenbar arbeiteten die Anlagen auch in diesem Zustand weiter. Ich zögerte, dann ging ich auf einen besinnungs­losen Scuddamoren zu. Ich streckte die Hän­de nach ihm aus, griff nach dem Fremden …

Meine Finger stießen auf Widerstand. Ich spürte eine stoffliche Struktur zwischen den Fingern. Da war etwas, aber mir fehlten die Worte, mit der ich das Material hätte be­schreiben können, das ich zu fassen bekam. Es war fest, und gab doch gleichzeitig nach. Er leistete dem Zugriff der Hände Wider­stand, aber ich konnte nichts festhalten. Ich konnte nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob ich zwischen meinen Fingern den Scudda­moren fühlte, oder ob ich die Struktur des seltsamen Feldes zu fassen bekommen hatte, das man Schattenschild nannte?

Ich versuchte mehr herauszubekommen, aber der Versuch mißlang kläglich. Jeder Ansatz, fest zuzugreifen, ging daneben – ich bekam, buchstäblich, den Scuddamoren nicht in den Griff.

Vielleicht war das, was ich fühlte, der Schattenschild. Vielleicht handelte es sich bei dem Gebilde um eine organische Ent­wicklung, nicht um ein technisches Gerät. Ich erinnerte mich an das seltsame Organ der Laurins, jener rätselhaften Rasse von Unsichtbaren – auch sie hatten sich hinter einem Feld versteckt, das von einem kör­pereigenen Organ der Laurins gebildet wur­de.

Ich brach das Experiment ab. Mehr konn­te ich nur herausfinden, wenn ich das Leben des betreffenden Scuddamoren aufs Spiel setzte, und der Gedanke war mir zuwider. Das Geheimnis der Schattenschilde blieb vorläufig ungelöst, aber ich ahnte zu diesem

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Zeitpunkt bereits, daß die Lösung dieses Rätsels mir noch etliches Kopfzerbrechen bereiten würde. Wie fast alles in dieser selt­samen Galaxis war auch das Problem des ScuddamorenSchattenschilds von einer Aura des Grauens umgeben. Vielleicht war es die­ses beklemmende Gefühl, das mich zurück­schrecken ließ – der Instinkt, der mir sagte, daß die Antwort auf meine Fragen in kristal­lisiertem Grauen bestand.

»Dort hinten muß Länerth stecken«, sagte Thalia. Sie hatte meinem Experiment mit den Scuddamoren mit zusammengepreßten Lippen zugesehen, und sie schien erleichtert, als ich das Experiment unvermittelt abbrach.

Ich sah eine Waffe auf dem Boden liegen, in der Nähe eine zweite. Nun, jetzt hatten wir wenigstens eine Möglichkeit, uns unse­rer Haut zu wehren, falls die Scuddamoren erneut versuchen würden, uns gefangenzu­nehmen.

Unsere Chancen waren gering, das wußte niemand besser als ich. Der Extrasinn brauchte mich nicht erst an die Abmessun­gen des Mittleren Forts zu erinnern, um mir das klarzumachen. Trotzdem war ich ge­willt, das Äußerste zu wagen – nicht nur die eigene Freiheit zurückzuerkämpfen, sondern auch Informationen zu sammeln, die wir in unserem Kampf gegen die Herren der Schwarzen Galaxis bitter nötig brauchten.

Niemand aber konnte uns in diesem Au­genblick nützlicher sein als Yärling, der Kommandant dieser Stahlfestung, die immer mehr zu einem gigantischen Tollhaus wurde. Je näher ich dem Zentrum der Anlage kam, um so größer wurde der psychische Druck, der auf mir lastete. Ich konnte deutlich spü­ren, daß ich beeinflußt werden sollte; das Goldene Vlies und mein Extrasinn halfen mir aber, diesen Einfluß zurückzudrängen.

Thalia hatte unter den Auswirkungen der Projektion zu leiden. Ab und zu zuckten ihre Mundwinkel schmerzlich, mehr war aber nicht zu erkennen.

Dann endlich sahen wir Länerth. Als schwärzlicher Schemen saß er in seiner Zen­trale. Auf den Dutzenden von Bildschirmen

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hinter ihm war immer wieder das gleiche zu sehen – die Zentrale des Meisterträumers, die dazu gehörenden Lichtkabinen und das unbeschreibliche Durcheinander auf den en­gen Gängen zwischen den Kabinenstapeln. Länerth selbst rührte sich nicht. Wahrschein­lich konzentrierte sich der Meisterträumer.

»Ich begreife das nicht«, murmelte Tha­lia. »Was soll dieses Chaos bezwecken? Gilt dies uns?«

Ich zuckte mit den Schultern. Ich vermutete, daß Länerth ein neues Pro­

gramm gestartet hatte. Aber er stand ganz offenkundig unter dem Einfluß einer frem­den Macht, die seine Pläne gleichsam ins Gegenteil verkehrt hatte. Denn das, was sich um uns herum abspielte, ließ sich in kein vernünftiges Konzept einordnen.

Ich ging auf Länerth zu, vorsichtig, die Waffe schußfertig in der Hand. »Atlan!«

Thalias Augen waren geweitet. Sie deute­te auf mich.

Erst jetzt bemerkte ich die flimmernde Aura, die mich umgab und um meinen Kör­per herum pulsierte. Das Goldene Vlies wehrte die Energien der Projektoren ab, mehr noch …

Es wurde schlagartig still. Wie vom Blitz gefällt brachen die Scuddamoren zusammen, ihre Gefangenen standen erstarrt.

Also doch. Ich hatte schon seit geraumer Zeit vermu­

tet, daß Länerth nicht mehr Herr seiner Ent­schlüsse war, daß er die geistige Auseinan­dersetzung mit mir verloren hatte – daß er zu meinem Spielball geworden war. Zwar steu­erte der Meisterträumer noch die Apparatu­ren seiner Traumzentrale, aber er tat dies nicht mehr aus freien Stücken und nach sei­nen Vorstellungen. Er übernahm vielmehr meine eigenen Wünsche und Vorstellungen – allerdings funktionierte diese Übertragung alles andere als störungsfrei. Die Ergebnisse konnte ich allenthalben sehen.

Es kam mir zustatten, daß sich auf den Fluren nichts mehr rührte – nur hätte ich an Länerths Stelle eine andere Form gewählt als die, die Betroffenen gleichsam k.o. zu

schlagen. »Länerth!« rief ich. Der Meisterträumer rührte sich nicht.

Nun, vielleicht wurde er regsamer, wenn ich mich rein geistig auf ihn konzentrierte. Das fahle Leuchten um meinen Anzug verstärkte sich. Auf den Bildschirmen konnte ich se­hen, daß die Interferenzzone der Projektoren einen förmlichen Satz machte – und genau das war mein Wunsch gewesen. Ich hatte die Kontrolle über das Mittlere Fort übernom­men, und nicht einmal die Schattenschilde bewahrten die Scuddamoren davor, diesem Einfluß zu erliegen.

Die Aussichten waren ungeheuer. Wir brauchten nicht mehr um unser Leben zu fürchten. Statt dessen konnten wir uns an die Arbeit machen, die Geheimnisse dieser ge­spenstischen Welt zu lüften.

Ich sah auf den Bildschirmen nach Yär­ling, fand ihn aber nicht. Hatte sich der Kommandant abgesetzt?

Nun, es ließ sich feststellen, wie weit mei­ne Macht reichte. Ich wünschte mir, daß die Projektion des Meisterträumers auf das gan­ze Fort übergriff – wenig später hatte ich das Vergnügen, auf zwei kleinen Kontrollschir­men ein Dutzend ausgeschalteter Meister­träumer zu sehen.

Dann entdeckte ich auf dem Landefeld des Mittleren Forts die Raumschiffe. Sie konnten uns gefährlich werden, auf der an­deren Seite aber brauchten wir eine Flucht­gelegenheit.

Ich befahl den Lotsen dieser Schiffe, den Raumhafen zu verlassen und einen stabilen Orbit einzuschlagen.

Minuten vergingen, dann sah ich, wie die Organschiffe abhoben und in den Himmel über Breisterkähl-Fehr vorstießen. Nur eines der Schiffe blieb am Boden.

Ich lächelte Thalia an. »Jetzt haben wir gewonnen«, sagte ich. Meine Freude war voreilig.

*

»Was kann man tun?«

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Yärling war sich der Tatsache sehr wohl bewußt, daß er mit dem Rücken zur Wand kämpfte. Das Mittlere Fort war verloren, es stand vollkommen unter der Kontrolle des übergeschnappten Meisterträumers. Wenn sich diese Schlappe herumsprach, würde die Karriere des Kommandanten ein ebenso ra­sches wie unwiderrufliches Ende finden.

Das Gegenüber des Kommandanten machte eine Geste der Hilflosigkeit. Quärnt war der Chefwissenschaftler des Inneren Forts, das landeinwärts westlich, in den Ber­gen erbaut worden war. In der Abgelegen­heit dieses Forts untersuchten Scuddamoren-Wissenschaftler alle Möglichkeiten, den technologischen Vorsprung der Scuddamo­ren zu erweitern.

»Wir haben natürlich Probemodelle«, sag­te Quärnt einigermaßen kläglich. »Aber wir beschäftigen uns mit Waffen, defensiven und offensiven. Mit der Arbeit der Meister­träumer haben wir nichts zu tun.«

»Die Schirmfelder der neuen Serie sollen aber auch gegen die Traumprojektoren hel­fen«, beharrte Yärling. »Ich brauche die Schirmfeldprojektoren der neuesten Serie, und ich brauche sie sofort.«

Quärnt sah sehr unglücklich aus. »Es wird dauern«, sagte er kläglich. Ins­

geheim pries er sich glücklich, daß er Yär­ling nicht tatsächlich gegenüberstehen muß­te. Der Kommandant des Mittleren Forts hatte sich ins Äußere Fort geflüchtet, in das eigentliche Hauptquartier der Scuddamoren auf Breisterkähl-Fehr.

»Ich kann einige Tausendschaften gegen das Mittlere Fort in Marsch setzen«, erklärte Yärling. »Aber diese Truppen nützen nichts, wenn sie von den Traumprojektoren kampf­unfähig gemacht oder sogar umgedreht wer­den.«

Quärnt machte eine Geste des Er­schreckens.

»Wir werden unsere Schirmfeldprojekto­ren auf den Weg schicken, Kommandant«, sagte er hastig. »Aber ich warne vor übereil­ten Hoffnungen. Die Geräte sind noch nicht völlig ausgereift.«

Peter Terrid

»Wir haben keine andere Wahl«, erklärte Yärling energisch. »Länerths hochverräte­rische Projektion greift immer weiter um sich. Jetzt hat er auch schon die Besatzungen der Organschiffe übernommen. Wir versu­chen ohne Pause, die Besatzungen dazu zu bewegen, in der Nähe des Äußeren Forts zu landen, aber sie gehorchen uns nicht.«

»Sind nicht in der Nähe des Äußeren Forts ebenfalls Schiffe stationiert?«

Yärling stieß einen Laut der Bitterkeit aus.

»Nicht genug«, sagte er hart. »Wenn ich diese Einheiten in Marsch setze, werden sie sich mit den Rebellen eine Schlacht liefern – und die Rebellen verfügen über mehr Schif­fe.«

»Hhmm«, sagte Quärnt langsam. »Es gibt da natürlich eine Möglichkeit, auf die Or­ganschiffe einzuwirken …«

»Dazu bleibt immer noch Zeit«, versetzte Yärling hastig. Er konnte eine unruhige Be­wegung nicht unterdrücken. »Wenn die Schirmfelder versagen, können wir immer noch zu diesem Mittel greifen. Aber vorher keinesfalls – ich möchte nicht dafür zur Ver­antwortung gezogen werden.«

»Das verstehe ich«, erklärte Quärnt. »Ich empfehle dennoch, alles vorzubereiten. Und für den allerärgsten Notfall – ich will hoffen, daß die Kartei Gär gesichert ist.«

Der Wissenschaftler hatte das Vergnügen, Yärling erschreckt zu sehen.

»Ich werde die Selbstvernichtung der Kartei vorbereiten«, sagte er dumpf. »Für al­le Fälle. Wann werden die Transporte mit den Schirmfeldprojektoren eintreffen?«

»Eine knappe Stunde, Kommandant«, sagte Quärnt nach kurzem Nachdenken. »Es ließe sich Zeit sparen, wenn uns die Truppen des Äußeren Forts auf halbem Weg entge­genkämen.«

»Ich werde das veranlassen«, sagte Yär­ling. Er trennte die Verbindung.

Das Problem Atlan begann sich langsam zur Katastrophe auszuwachsen. Yärling ver­wünschte den Augenblick, da er sich dem Drängen seiner Untergebenen und Berater

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gebeugt und den Gefangenen dem Meister­träumer übergeben hatte. Hätte sich Yärling der Gefangenen angenommen und sie nach seiner Methode befragt, wäre es nicht zu dieser verhängnisvollen Entwicklung ge­kommen. Nun, noch bestanden gute Aus­sichten, den Kampf mit den Rebellen zu ge­winnen – und nach dem Ende dieser Kämpfe wollte sich Yärling der beiden Gefangenen annehmen – auf seine Art und Weise.

10.

Es war merkwürdig still. Nirgendwo im Mittleren Fort regte sich

noch etwas. Unter dem Einfluß der Projekti­on des Meisterträumers lagen die Bewohner und Insassen des Mittleren Forts in tiefem Schlaf.

Ich hatte es dabei belassen, gegen mein Gefühl. Es war mir zuwider, die Gefangenen des Mittleren Forts so zu behandeln, aber es hätte ein unglaubliches Chaos gegeben, wä­ren alle Insassen der Lichtkabinen erwacht. Dafür bot das Mittlere Fort, bei aller Größe und Riesenhaftigkeit, nicht genügend Platz. Zudem wären dann auch die Scuddamoren erwacht – und das hätte mit großer Sicher­heit ein entsetzliches Blutbad bedeutet.

Zwar konnte der Meisterträumer Länerth, der ein Opfer seiner eigenen Apparaturen geworden war, nichts gegen mich unterneh­men – aber auf der anderen Seite war ich nicht in der Lage, die Projektoren so subtil zu steuern, daß keine unerwünschten Neben­wirkungen auftraten, die ich nicht kontrollie­ren konnte.

Einstweilen jedenfalls waren wir in Si­cherheit.

Diese Gewißheit steigerte sich noch, als plötzlich einer der größeren Bildschirme in Länerths Zentrale aufflammte. Zu meiner Verwunderung erschien Yärling auf dem Bildschirm.

»Ich rufe die Rebellen des Mittleren Forts«, sagte er mit erstaunlicher Ruhe. »Ich fordere euch auf, den Kampf einzustellen und euch zu ergeben.«

Er mußte sehen können, daß Länerth nicht allein in seiner Traumzentrale saß. Er mußte mich sehen können und Thalia – und auch seine schlafenden Scuddamoren. Angesichts dieser Tatsache war seine Redeweise er­staunlich gelassen und selbstsicher.

»Was hätten wir davon?« fragte ich zu­rück. Ich begann zu ahnen, daß der Kom­mandant des Mittleren Forts etwas im Schil­de führte – etwas, das für uns sehr gefährlich werden konnte.

»Das Mittlere Fort ist mit einer Selbstver­nichtungsanlage ausgerüstet«, erklärte Yär­ling. »Diese Apparatur kann sowohl vom In­neren als auch vom Äußeren Fort aktiviert werden.«

Ich tat, als wäre mir derlei gleichgültig. »Na, und?« »Ich verlange, daß ihr euch sofort ergebt.

Andernfalls werde ich die Zerstörung des gesamten Forts einleiten.«

Die Drohung ist kein Bluff, meldete der Extrasinn. Geh dennoch nicht darauf ein.

»Das interessiert mich nicht«, sagte ich kalt. »Unsere Freiheit ist uns wichtiger als das Leben – und wir werden auch die Skla­ven dieses Forts befreien.«

»Das werde ich unter keinen Umständen zulassen«, sagte Yärling.

Ich dachte fieberhaft nach. Was hätte ich getan, hätte ich dieses Pro­

blem lösen müssen? Wahrscheinlich hätte ich ähnlich taktiert wie Yärling. Dennoch er­staunte mich die Ruhe, die der Scuddamore an den Tag legte. Auf der anderen Seite, was wußte ich schon von der Psyche eines Scud­damoren? Ich ahnte, daß Yärling auf Zeit spielte. Er hatte etwas in der Hinterhand.

»Was bekommen wir geboten, wenn wir uns ergeben?«

Yärlings Antwort war knapp und bezeich­nend.

»Nichts«, sagte er einfach. »Ich verspre­che, euch nicht töten zu lassen, mehr nicht.«

Ich lachte laut auf. Yärlings großzügiges Angebot hieß im

Klartext, daß er sich das Vergnügen selbst vorbehalten wollte, uns den Hals umzudre­

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hen. Daß er uns nicht töten lassen wollte, hieß noch lange nicht, daß er uns nicht selbst umbrachte.

»Das genügt nicht«, erklärte ich. »Ich ver­lange freien Abzug für mich …«

»… abgelehnt!« »… für meine Gefährtin …« »… abgelehnt!« »… und für alle Sklaven dieses und der

beiden anderen Forts.« »Abgelehnt!« Dieser Yärling war kein Mann der Kom­

promisse. Er gab sich unnachsichtig hart und war es vermutlich auch. Andererseits konnte er diese Sprache nur wagen, wenn er sich seiner Sache völlig sicher war. Wollte er uns nur ablenken?

Ich trat näher an die Schirme heran. Im Fort selbst war es ruhig, in der Umgebung war weit und breit kein Lebewesen zu er­kennen. Aus welcher Quelle schöpfte Yär­ling die Zuversicht, mit der er seine Ver­handlungen führte?

»Unter diesen Umständen«, sagte ich ru­hig, »… zerstöre das Mittlere Fort.«

Yärling zögerte. Offenbar war er doch nicht so stark, wie

er gerne glaubte. Wahrscheinlich würde man es ihm übel ankreiden, wenn er wegen zwei Gefangenen das gigantische Stahlgebilde zerstörte, das als Mittleres Fort bezeichnet wurde.

»Ich garantiere euer Leben«, sagte Yär­ling nach einer kleinen Pause. »Deines und das deiner Partnerin.«

Das heißt nicht, daß er euch nicht bis an die Grenze des Todes foltern wird, kommen­tierte der Logiksektor trocken.

»Darauf gehen wir nicht ein«, sagte ich. »Wir lehnen ab.«

Zu meiner Verwunderung machte Yärling kein weiteres Angebot. Er schaltete einfach ab.

Das war ein Fehler. Mit seiner unbeherrschten Geste zeigte

mir Yärling überdeutlich, daß er seine Stär­ke nicht nur vortäuschte – er hatte tatsäch­lich einen wichtigen Trumpf in petto.

Peter Terrid

Ich mußte auf der Hut sein. Noch einmal betrachtete ich über Bild­

schirm die Umgebung des Mittleren Forts. Ich brauchte einige Sekunden, bis ich be­

griff, was ich sah. Truppen marschierten auf das Fort zu, im

Schutz eines simplen Deflektorfeldes. Hät­ten die Anrückenden nicht unübersehbare Spuren im Gras hinterlassen, ich hätte sie nicht bemerkt.

»Länerth!« rief ich. »Feinde greifen uns an. Schalte sie aus.«

Der Meisterträumer machte ein Zeichen der Zustimmung. Er gehorchte mir aufs Wort, das hatte ich unterdessen feststellen können.

»Versuche, die Projektoren auf die An­greifer zu richten«, bestimmte ich. »Und versuche auch, die beiden anderen Forts da­mit zu erfassen.«

Der Meisterträumer machte sich an die Arbeit. Zunächst zeigten seine Bemühungen keinerlei Wirkung. Er fingerte an Knöpfen, Hebeln herum, betätigte Schalter, ohne daß sich eine Veränderung zeigte. Dann wurden rasch nacheinander zwei grundverschiedene Vorgänge sichtbar. Zum einen erschienen die Angreifer plötzlich auf den Bildschir­men. Der Schutz des Deflektorfelds war nicht mehr vorhanden. Ihren Vormarsch aber stoppten die anrückenden Scuddamoren deswegen nicht. Es waren einige tausend, und sie wurden von einer Heerschar von Ro­botern begleitet – und die zu übernehmen, war selbst einem Meisterträumer unmöglich.

»Sie reagieren nicht«, sagte Länerth. Es war selten, daß er etwas sagte, und seine Stimme verriet Entsetzen. »Sie sind nicht zu beeinflussen.«

Ich ballte die Fäuste. Das also war das Mittel, mit dem Yärling unseren Widerstand brechen wollte. Es gab gegen die Traumpro­jektoren eine wirkungsvollen Schutz – und damit hatte ich nicht gerechnet angesichts der Einzigartigkeit meines Goldenen Vlie­ses.

Die zweite Überraschung bestand darin, daß die Bewohner des Mittleren Forts plötz­

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lich wieder erwachten – und sie griffen ohne Zögern zu ihren Waffen. Scuddamoren ha­steten auf ihre Positionen, Sklaven von ge­stern begleiteten sie.

Die Traumsklaven und ihre Peiniger for­mierten sich zur Abwehrfront, die Gefange­nen mit spürbarer Wut und Verzweiflung, die Scuddamoren eher widerstrebend. Hier half offenbar Länerths Projektion nach.

In breiter Front griffen die Scuddamoren an. Ein Gewirr von Strahlbahnen spann sich zu den Mauern des Mittleren Forts, kleinere Geschütze feuerten zurück.

Ich war einen Augenblick lang ratlos. Diese Schlacht hatte ich nicht gewollt. Ver­meiden konnte ich sie aber nur, wenn ich Länerth dazu überredete oder zwang, den Kampf einseitig zu beenden – und das wie­derum wäre ein Verbrechen an den wieder­erwachten Sklaven gewesen.

Ich konnte es drehen und wenden, wie ich wollte – es ließ sich keine Entscheidung fin­den, die allen gerecht wurde. Ich sah, daß die Angreifer Verluste hatten – überwiegend Roboter, aber auch Scuddamoren. Und auch auf unserer Seite gab es Verletzte und Tote.

Die Schlacht um das Mittlere Fort hatte begonnen – sie war nicht mehr aufzuhalten.

Es ist an der Zeit sich abzusetzen, sagte der Extrasinn.

Ich hatte keine Lust, meine Mitgefange­nen in dieser Lage allein zurückzulassen – aber dazu war ich gezwungen.

Die Schlacht um das Stahlfort war erbit­tert, und es zeigte sich, daß die Angreifer stärker waren. Das erste Tor wurde ge­stürmt. Jetzt tobte der erbitterte Kampf auch im Innern des Mittleren Forts.

Ich brauchte meinen Extrasinn nicht zu bemühen, um zu der Schlußfolgerung zu kommen, daß jeder Widerstand gegen die Scuddamoren Yärlings nur ein Hinauszö­gern des Unvermeidlichen war.

»Wir müssen fliehen«, drängte Thalia. »Und nur du kannst mit der Großen Plejade den Lotsen des Organschiffs beeinflussen – und auch das wahrscheinlich nicht mehr lan­ge.«

Thalia hatte recht. Uns blieb nicht mehr viel Zeit. An fast al­

len Fronten drangen die Scuddamoren vor. Der eine oder andere geriet unter den Ein­fluß der Traumprojektoren, wurde aber so­fort von seinen Mitkämpfern ausgeschaltet. Der Sieg des Kommandanten war nicht mehr zu verhindern.

»Kommt mit uns!« rief ich einer Gruppe von Gefangenen zu. »Wir haben auf dem Landefeld ein Raumschiff stehen. Folgt uns!«

»Rettet euch«, sagte einer der Verteidiger, ein rötlich gefärbtes Spinnenwesen. Die rie­sigen Facettenaugen schienen voll grenzen­loser Trauer zu sein. »Wir danken euch, daß ihr unsere Sklaverei beendet habt – den Rest werden wir selbst erledigen.«

»Lauft«, schrie eine andere Stimme. »Rettet euch – und rettet dieses Revier. Kümmert euch nicht um uns!«

Ich ahnte, welche Gedanken durch die verschiedenen Hirne dieser Gefangenen gin­gen.

Ich nahm Thalia bei der Hand und rannte los. Ich wußte, daß der Tod – wenn nicht ein noch schlimmeres Schicksal – uns auf den Fersen folgte. Wir hatten wirklich keine Zeit mehr zu verlieren.

Eine kleine Gruppe von Scuddamoren war bereits damit beschäftigt, auf das Lan­defeld des Mittleren Forts vorzudringen, aber gerade an diesem Abschnitt war der Widerstand der verzweifelt kämpfenden Sklaven besonders hartnäckig. Ein Feuer­stoß zwang die Scuddamoren schleunigst in Deckung. Das Tor öffnete sich, von dem ich geglaubt hatte, daß ich es nie wieder offen würde sehen können. Sonnenlicht fiel auf das Landefeld, auf das Organschiff.

»Beeilt euch«, hörte ich eine helle Stim­me rufen. »Beeilt euch, bevor es zu spät ist.«

Wir hasteten über die stählerne Brücke, auf das Organschiff zu, das auf uns wartete.

*

Banjar sah, was sich auf den Bildschir­

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men abspielte. Er sah auch, wer ihn gequält und versklavt hatte. Banjar empfand in die­sem Augenblick keinen Haß, eher Mitleid.

Die Schlacht war verloren. Nur das Laby­rinth von Gängen und Fluren, das es in dem Fort gab, hatte bisher einen vollständigen Triumph der angreifenden Scuddamoren verhindert.

Auf einem kleinen Schirm konnte Banjar sehen, wie die beiden Gestalten in dem Or­ganschiff verschwanden. Auf geheimnisvol­le Weise hatte jeder erwachte Gefangene der Scuddamoren sofort gewußt, wer die Befrei­ung von der geistigen Sklaverei bewerkstel­ligt hatte.

»Leb wohl, Atlan«, flüsterte Banjar. »Und auch Thalia«, murmelte Päär neben

ihm. Banjar wartete, daß das Organschiff star­

tete. Er wußte, daß es den beiden gelingen würde, das Organschiff zu übernehmen, auch wenn er die Quelle für dieses Wissen nicht hätte nennen können. Ein breites Lä­cheln flog über die Züge Banjars, als er sah, wie die Scuddamoren einen zweiten Angriff auf das Organschiff starteten und wieder zu­rückgeschlagen wurden.

Und dann hob sich das Organschiff vom Boden. Die SKEILAS – der Name war auf dem Schirm deutlich zu erkennen – hob ab, stieg auf, jagte dem Himmel entgegen – der Freiheit. Dort oben gab es keine Grenzen und Beschränkungen, dachte Banjar. Es gab nichts Freieres als den Weltraum, vor dessen Größe selbst der wahnwitzige Machtan­spruch der Scuddamoren nichtig werden mußte.

Päär stieß ihn an und riß ihn aus seinen Gedanken.

»Es wird langsam Zeit«, sagte der Junge. Die Waffe in seiner Hand war seit langem leergeschossen.

Banjar warf einen Blick auf den Meister­träumer, der über seinen Apparaturen hock­te.

Es war dieses Wesen, das sich Länerth nannte, dem Banjar eine Ewigkeit der geisti­gen Sklaverei zu verdanken hatte. Banjar

Peter Terrid

wußte nicht, wie viele Jahre oder gar Jahr­zehnte er in der Traumwelt des Meisterträu­mers verbracht hatte. Er wußte nur, daß er um keinen Preis in diese Unfreiheit zurück­kehren würde.

Banjar sah den Meisterträumer an. Er und Päär gehörten zu einem Volk, das

von jeher seines Gerechtigkeitssinns wegen bekannt war.

Banjar wußte, was zu tun war, aber er zö­gerte.

Hatte er das Recht …? Die anderen nahmen ihm die Entschei­

dung ab. Die Sklaven des Mittleren Forts wußten,

daß ihre Stunde gekommen war. Sie wußten, daß es in dieser Zwingburg des Grauens Ap­parate gab, die den Geist beeinflußten. Lan­ge Zeit hatten sie unter dem Einfluß dieser Projektoren gelebt und gelitten. Diese Zeit war nun verstrichen, ein für allemal vorbei.

Voraussetzung aber war, daß keiner mehr in die Hände der Scuddamoren fiel. Es gab ein Mittel, das zu verhindern, und jetzt war die Stunde gekommen, dieses Mittel einzu­setzen.

Der Kampf war ein Kampf der Gedanken, eine lautlose Schlacht zwischen einer erbar­mungslosen Apparatur und dem Wollen ei­nes nach Tausenden zählenden Sklaven­heers.

Was sich zuvor in kleinem Maßstab ereig­net hatte, vollzog sich nun in weit größerem Maßstab.

Der Wille der Sklaven lehnte sich gegen den Zwang der Maschine auf. Und dieser Wille war stark und entschlossen genug, den Zwang der Maschine umzukehren. Es gab nur ein Mittel, einer erneuten Versklavung zu entgehen, und dieses Mittel ließ sich nur einsetzen, wenn alle damit übereinstimmten. Diese Übereinstimmung wurde erreicht.

Sie alle konzentrierten sich auf den glei­chen Gedanken. Die Sklaven des Mittleren Forts richteten ihre Gedanken auf den Mei­sterträumer, zwangen ihn zu dem alles ent­scheidenden Handgriff. Als der Alarm durch die Räume gellte, lächelte Banjar. Päär lä­

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chelte zurück. Die Freiheit war nur noch ein paar Augenblicke entfernt.

*

»Nichts«, sagte der Bote. »Wir haben nichts gefunden, allerdings konnten wir nicht alles untersuchen – die Strahlungsge­fahr.«

»Die Strahlung interessiert mich nicht«, brüllte Yärling. »Ich will wissen, wo diese beiden Verbrecher geblieben sind.«

Der Bote zuckte zusammen. »Wir tun unser möglichstes«, sagte er

zaghaft. Yärling erwiderte diese Bemerkung mit

einem Fluch. Er stand in der Zentrale des Äußeren

Forts, und was er auf den Bildschirmen zu sehen bekam, erfüllte ihn gleichermaßen mit Wut, Entsetzen und ein wenig Angst.

Von dem Mittleren Fort zeugten nur noch glühheiße Ruinen. In einer ungeheuren De­tonation war das gesamte Fort in die Luft geflogen – zweifelsohne ein Werk der Selbstvernichtungsanlage.

Aber weder im Inneren noch im Äußeren Fort war der Befehl zur Vernichtung gege­ben worden. Der einzige, der ihn außerdem noch hätte durchführen können, wäre Lä­nerth gewesen, der Meisterträumer. Aber Yärling war sicher, daß Länerth kein Selbst­mörder war.

Man konnte ihn nicht mehr befragen. Das Vernichtungswerk war gründlich gewesen.

Und nun suchten Scuddamoren in den Trümmern nach den Überresten der Verräter und Rebellen. Die Suche würde langwierig werden – in diesem Trümmerhaufen etwas finden zu wollen, war ein reines Glücks­spiel.

Und noch eine Sorge quälte den Kom­mandanten des Mittleren Forts, das es nicht mehr gab. Aber er sprach den Gedanken nicht aus.

Yärling kochte förmlich vor Haß. Die Zerstörung des Mittleren Forts war eine empfindliche Niederlage für die Scuddamo­

ren, und dieses Desaster hatte Yärling haupt­sächlich den beiden Gefangenen Atlan und Thalia zuzuschreiben. Yärling traute diesen beiden durchaus zu, nicht nur die Zerstörung des Mittleren Forts bewirkt zu haben – er argwöhnte auch, daß sie einen Trick gefun­den hatten, die Explosion zu überleben – ob­wohl der Anblick des Trümmerhaufens ziemlich deutlich machte, daß es keine Überlebenden gegeben hatte.

»Wir haben etwas gefunden, Herr.« »Was?« »Aufzeichnungen«, wußte Yärlings Ge­

sprächspartner zu berichten. »Eine automati­sche Kamera hat den Start der SKEILAS aufgenommen.«

»Unwichtig«, wehrte Yärling ab. Er erinnerte sich, daß kurz vor der Erstür­

mung des Forts – der die Vernichtung auf dem Fuß gefolgt war – die SKEILAS sich rechtzeitig in Sicherheit gebracht hatte. Dem Lotsen war es offenbar gelungen, den Ein­fluß von Länerths Projektor abzuschütteln.

»Vielleicht doch nicht«, wagte der Scud­damore zu bemerken. »Von der SKEILAS fehlt nämlich jede Spur!«

»Raumortung!« Yärling ließ sich das Bild auf einen Bild­

schirm projizieren. Ein Auswerter zeigte ihm, wie viele Einheiten der Scuddamoren-Flot­te im Orbit um Breisterkähl-Fehr standen – und aus den Kodezeichen ging hervor, um welche Einheiten es sich dabei handelte. Die SKEILAS fehlte.

»Her mit den Bildern«, rief Yärling er­regt. »Projiziert sie auf den Hauptschirm.«

Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis die ersten Aufnahmen zu sehen waren. Deutlich konnte Yärling seine eigenen Truppen beim Angriff sehen – und auch, wie sie zurückge­schlagen wurden.

Dann tauchten zwei Gestalten auf, die über die Brücke hasteten und auf das Organ­schiff zuliefen. Die Bilder waren nicht sehr gut.

»Vergrößern!« rief Yärling. »Zielt auf die Flüchtenden.«

Das Bild hielt an, wurde dann größer. Der

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Ausschnitt wanderte ein wenig hin und her, dann hatte er die beiden Gestalten erfaßt.

»Sie sind entkommen«, murmelte Yärling haßerfüllt. »Es sind die beiden, da besteht kein Zweifel.«

Zwar waren die Aufnahmen nicht sehr gut, aber sie zeigten doch sehr deutlich, um wen es sich bei den beiden Gestalten handel­te.

»Weiter!« bestimmte Yärling. Der Film lief wieder an. Er zeigte, wie die beiden Flüchtigen im Schiff verschwanden, das kur­ze Zeit später abhob und in den Raum vor­stieß.

»Anhalten!« rief Yärling. Er glaubte etwas gesehen zu haben. »Ein paar Augenblicke zurückspulen.« Der Film lief rückwärts. »Halt! Und jetzt vergrößern!« bestimmte

der Kommandant. Eine grauenvolle Ahnung beschlich ihn.

Peter Terrid

»Noch näher!« rief er unbeherrscht. Er spähte auf den Schirm, fand aber nicht, was er gesucht hatte. »Noch ein Stück zurück, und dann wieder vergrößern.«

Auf dem großen Bildschirm flackerten die Bilder, dann stabilisierte sich die Projektion wieder. Der Ausschnitt wurde herangeholt. Yärling spürte, wie der Haß in ihm kochte. Und die Angst. Denn er hatte etwas ent­deckt, daß für ihn – und nicht nur für ihn – von lebenswichtigem Interesse war. Die bei­den Flüchtenden waren nicht einfach geflo­hen. Sie waren kaltblütig genug gewesen, ei­ne Beute mitzunehmen. Auf dem Schirm war es zu sehen, ein wenig verschwommen, aber unverkennbar. Mit Atlan und Thalia waren auch die unersetzlich wertvollen Är­getzos von Breisterkähl-Fehr verschwunden.

E N D E