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Der vorliegende Bericht ist Teil einer Studienreihe zu Flucht und Migration, die das Institute for Security Studies Pretoria mit Unterstützung der Hanns-Seidel-Stiftung 2016 gemeinsam mit der Global Initiative against Transnational Organised Crime erstellt hat. Aufbauend auf einer vom gleichen Team 2015 veröffentlichten, vielbeachteten Studie und basierend auf empirischer Feldforschung, beleuchtet sie vor allem Flucht und Migration von Afrika nach Europa, wobei drei geografische Gebiete im Mittelpunkt stehen: die Sahelzone und Libyen, Nordafrika und die Türkei. DER NIGER-LIBYEN-KORRIDOR | MÄRZ 2017 Der Niger-Libyen-Korridor Schmugglerperspektiven Peter Tinti und Tom Westcott

Der Niger-Libyen-Korridor - hss.de · Gang setzen. Vielmehr gilt es auch, die Nachfrage in den Herkunftsländern zu reduzieren. Einfache und schnelle Lösungen gibt es in diesem Zusammenhang

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Der vorliegende Bericht ist Teil einer Studienreihe zu Flucht und Migration, die das Institute for

Security Studies Pretoria mit Unterstützung der Hanns-Seidel-Stiftung 2016 gemeinsam mit der Global Initiative against Transnational Organised Crime erstellt hat. Aufbauend auf einer vom gleichen Team 2015 veröffentlichten, vielbeachteten Studie und basierend auf empirischer Feldforschung, beleuchtet sie vor allem Flucht und Migration von Afrika nach Europa, wobei drei geografische Gebiete im Mittelpunkt stehen: die Sahelzone und Libyen, Nordafrika und die Türkei.

DER NIGER-LIBYEN-KORRIDOR | MÄRZ 2017

Der Niger-Libyen-KorridorSchmugglerperspektivenPeter Tinti und Tom Westcott

DER NIGER-LIBYEN-KORRIDOR2

Karte von wichtigen Routen nach Europa

Quelle: Eigene Darstellung der Autoren.

Key migrant paths from source African countries to EuropeEastern route into southern LibyaCentral route into southern Libya (aka Niger-Libya Corridor)Western route into southern Libya

Die hier vorgestellte Studie zum Niger-Libyen-Korridor beruht auf ausführlichen Interviews mit Schmugglern, Vertretern von Regierungen, Sicherheitskräften und anderen Experten sowie auf intensiver Forschung der Autoren. Die deutsche Zusammenfassung wurde im Auftrag der Hanns-Seidel-Stiftung Südafrika erstellt.

ZAHL DER MIGRANTEN, DIE NACH IOM-SCHÄTZUNGEN

IN DEN ERSTEN ZEHN MONATEN DES JAHRES 2016

AUF IHREM WEG NACH NORDEN DURCH DIE STADT AGADEZ GEKOMMEN SIND

170 000

Seit Jahrhunderten gehörte es zum traditionellen Lebensunterhalt in der Sahara, die Reise und den Transport von Menschen – Migranten, Pilgerern und Sklaven – zu ermöglichen

Instabilität und Gewalt in Libyen belasten das Land schwer – sie verhindern zudem eine effektive Bekämpfung illegaler Migration nach Europa. Das Transitland Niger gerät verstärkt in den internationalen Fokus, wenn es um die Frage einer Begrenzung des Stroms von Zuwanderern in das südliche Libyen geht, denn die Niger-Libyen-Route ist eine bedeutende Transitroute zwischen West-, Zentral- und Nordafrika. Zentrum des Menschenschmuggels in der Region ist die Stadt Agadez im Niger: Die Anzahl der Flüchtlinge und Wirtschaftsmigranten (die Abgrenzung zwischen den Kategorien ist mitunter

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nicht leicht), die durch Agadez nach Libyen reisen, bleibt seit Jahren hoch – so waren es 2013 etwa 3.000 pro Woche und in den ersten zehn Monaten des Jahres 2016 insgesamt bis zu 170.000 Personen.

Die Schmugglernetzwerke erstrecken sich über Landesgrenzen hinweg und bieten so die Möglichkeit, tausende von Kilometern zu überbrücken. Die Gruppe der Schmuggler ist dabei nicht homogen. Während in manchen Gegenden der Transport von Flüchtlingen hoch professionell organisiert wird, ist er in anderen Gegenden nur lose strukturiert. Die Mehrzahl der westafrikanischen Flüchtlinge reist durch den Niger nach Libyen. Die logistische Infrastruktur für den Menschenschmuggel existiert schon seit Jahrhunderten - Handelswege überbrückten das gesamte Gebiet der Sahara und der Sahel. Auch der Handel mit illegalen Zigaretten, Drogen und Waffen war etabliert, lange bevor die Flüchtlingskrise entstand. Bereits bestehende Schmuggelrouten und transnationale Netzwerke haben den starken Anstieg des Menschenschmuggels begünstigt; in seiner heutigen, strukturierten Form existiert er in Libyen allerdings erst seit etwa fünf Jahren. Er hat sich nach dem Fall des Gaddafi-Regimes hier erst aufgrund der Nachfrage durch syrische Flüchtlinge Ende 2012 entwickelt, wird aber gegenwärtig vor allem von Menschen anderer Herkunft genutzt.

Die Route über den Niger und speziell Agadez bildet aktuell den Hauptzugangsweg nach Libyen. Dies gilt vor allem für Migranten aus Subsahara Afrika. Staatsbürger der 15 Länder umfassenden Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS), zu der auch Niger gehört, können in dieser Region ungehindert und legal reisen. Dies bedeutet, dass nur für die Reise von Niger nach Libyen Schmuggler benötigt werden und auch, dass die Schmuggler im Niger sich oft als legale Dienstleistungsanbieter wahrnehmen. Sie sehen sich durch ein fehlendes Eingreifen der Regierung, die am Geschäft zudem ebenfalls indirekt durch weithin bekannte und tolerierte Korruption teilhat, darin bestätigt. Die Anreise mit Bussen und Minivans von Westafrika aus in den Niger ist gut organisiert. Um die Flüchtlingszahlen auf der Niger-Libyen-Route zu reduzieren, reicht der Kampf gegen Schlepper nicht aus. Die vermutlich erfolgversprechendste Methode zur Verhinderung von Massenmigration ist, potenzielle Migranten davon zu überzeugen, ihre Heimatländer gar nicht erst zu verlassen.

Die Schmugglernetzwerke sind vor allem auch durch die hohe Nachfrage der Migranten und Flüchtenden entstanden, die seit etwa 2013 ein entsprechendes Angebot geschaffen hat. Darüber hinaus müsste die nigrische Regierung heutzutage nicht unerhebliche staatliche Ressourcen aufwenden, um den Flüchtlingstreck nach Libyen zu unterbinden. Selbst wenn der Regierung solche Kapazitäten zur Verfügung stünden, wäre es aufgrund konkurrierender Interessenlagen unwahrscheinlich, dass sie diese auch effektiv für diesen Zweck verwenden würde. Politische und wirtschaftliche Gründe sowie Sicherheitsbedenken stehen dem entgegen.

Da der Transport von Personen in den und innerhalb des Niger an sich nicht illegal ist, entstand rasch eine große Nachfrage nach Transportkapazitäten von Agadez nach Libyen; etwa 200-300$ kostete die Fahrt 2013 für eine Person. Die nigrische Regierung verfolgt die Schlepperaktivitäten bisher nur halbherzig. Dies mag ebenso an weitverbreiteter Korruption liegen, wie auch an völlig mangelhafter Ausstattung der Strafverfolgungsbehörden und dem eher geringen Interesse der Regierung, effektiv gegen den Menschenschmuggel vorzugehen – sie scheint geradezu auf ihn angewiesen zu sein.

Hunderttausende Migranten aus vielen Gegenden in Subsahara Afrika, aus dem Mittleren Osten und Asien sind seit 2012 in Libyen angekommen

Der Transport der Flüchtlinge führt durch Gegenden, in denen jeweils verschiedene ethnische Gruppen die Mehrheit der Bevölkerung bilden, und die entsprechenden Dynamiken in den regionalen politischen Einflussgebieten sind zentral für das Verständnis der Migrationsrouten. Während Tuareg, Araber und Hausa in Agadez dominieren, wird der Transport nach Libyen vor allem von den Toubou organisiert und kontrolliert. Der wirtschaftliche Erfolg des Schmuggels entscheidet nicht selten über den Einfluss der jeweiligen Gruppe und das relativ neue, hochprofitable Geschäft verhilft bisher marginalisierten ethnischen Gruppen zu einer begehrten Einkommensquelle, wo andere legale Alternativen

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rar sind. Das Geschäftsmodell der Toubou beruht darauf, möglichst viele Menschen schnell nach Libyen zu bringen. Konvois mit bis zu 80 Pick-up-Trucks starten in Agadez und überqueren die Grenze meist abseits der üblichen Straßen. Ihr Ziel erreichen sie in drei bis vier Tagen. Bis zu 35 Personen reisen auf einem Fahrzeug zu einem aktuellen Preis von ca. 360$ pro Person. Die Toubou stellen keine straff durchorganisierte homogene Gruppe dar, sondern eher einen lose koordinierten ethnischen Verbund, innerhalb dessen man sich gegenseitig hilft, aber ansonsten auf eigene Rechnung wirtschaftet. Die wirtschaftliche Beziehung der Toubou zu den Flüchtlingen bezieht sich nur auf den Transport zwischen Agadez und der Stadt Sebha in Libyen.

Die meisten derer, die Güter und Menschen über die Grenze schmuggeln, sehen ihre Arbeit selbst nicht als Schmuggel an – sondern vielmehr als “Handel und Transit” im Kontext der Sahara

Der Schmuggel von Menschen über die Grenze ist in die Wirtschaftsstrukturen und -prozesse in der Region integriert. Schmugglernetzwerke hatten schon lange vor der Flüchtlingskrise bestanden und die Flüchtlingskrise hat nach dem Sturz von Gaddafi den Warenschmuggel durch den Schmuggel von Migranten großenteils ersetzt, der innerhalb kurzer Zeit bisher ungekannte Profite abwarf. Die wirtschaftliche Lage im Niger hatte sich im selben Zeitraum auch durch die Schließung von Minen, den Wegfall der Remittance-Zahlungen von Gastarbeitern, die in Libyen ihre Arbeit verloren hatten, sowie durch verstärkte Spannungen in der Region verschlechtert. Die Schmuggelwirtschaft bietet vielen eine willkommene Alternative zur ansonsten oft relativ aussichtslosen Armut – und sie verstärkt durch ihr Angebot die Migrationsbewegungen. Die hohe Anzahl der Migranten hält dann auch den illegalen Grenzverkehr als lukrativen Geschäftszweig aufrecht.

Nach dem Sturz Gaddafis haben lokale Herrschaftsstrukturen die staatliche Kontrolle der Grenzen im Süden weitestgehend ersetzt. Formale Grenzkontrollen sind kein Hindernis für den Schmuggel: Es werden regelmäßig Bestechungsgelder bezahlt. Da seit 2013 Grenzbeamte Berichten zufolge keinen Lohn mehr erhielten, ist diese Praxis kaum verwunderlich. Nicht viel anders sieht es auf nigrischer Seite aus: An mehreren Checkpoints auf dem Weg zur Grenze werden jeweils 150-250$ pro Fahrzeug bezahlt.

Die Ausstattung der nigrischen Sicherheitsbehörden ist derart dürftig, dass die Einnahmen aus Bestechungsgeldern auch für den Kauf und Erhalt von Equipment verwendet werden. Es ist unwahrscheinlich, dass auf diese Einnahmen freiwillig verzichtet werden wird. Vielmehr gibt es Grund zu der Annahme, dass die Einkünfte aus dem Migrantengeschäft durchaus eine stabilisierende Wirkung auf den Niger haben, dessen Militär unterbezahlt ist und zu Putschversuchen neigt. Das Land wurde bisher von gewaltsamen

DIE EINNAHMEN AUS DEM MIGRATIONS-

SCHMUGGELGESCHÄFT HABEN SICH MIT DEN

LOKALEN POLITISCHEN STRUKTUREN UND DEM SICHERHEITSAPPARAT

VERFLOCHTEN

Über die HSSDie Hanns-Seidel-Stiftung unterstützt Forschung zu Migration und Flüchtlingen in der Absicht, fundierte und umfassende Diskussionen und Dialoge innerhalb eines breiten Spektrums von Interessengruppen anzuregen.

Über das ISSDas Institute for Security Studies fördert den Ausbau von Wissen und Fähigkeiten, die Afrikas Zukunft sichern. Das Institut liefert unabhängige Forschung, die einen hohen Ruf genießt. Es bietet kompetente Analysen und Beratung und stellt praktische Schulungen und technische Hilfe zur Verfügung.

Über die GIDie Global Initiative against Transnational Organized Crime ist ein Netzwerk von prominenten Vertretern aus Strafverfolgungs- und Regierungsbehörden sowie der Entwicklungszusammenarbeit, die sich der Entwicklung neuer und innovativer Strategien zur Beendigung organisierter Kriminalität widmen. Bei GI handelt sich um eine Schweizer Nichtregierungsorganisation mit Sitz in Genf.

© 2017, Institute for Security Studies

Copyright in the volume as a whole is vested in the Institute for Security Studies and the authors, and no part may be reproduced in whole or in part without the express permission, in writing, of both the authors and the publishers.

Responsibility for the accuracy of all information stated in the original paper rests solely with the authors. The views expressed in this publication are those of the authors and do not necessarily reflect the position of the Hanns Seidel Foundation, the Global Initiative or the ISS, its trustees, members of the Advisory Council or donors.

Picture: ©IOM/Amanda Nero

Danksagung

Diese Veröffentlichung wurde durch die Unterstützung der Hanns-Seidel-Stiftung ermöglicht. Das Institute for Security Studies bedankt sich darüber hinaus für die Förderung durch andere Mitglieder des ISS Partnerschaftsforums, die Regierungen Australiens, Kanadas, Dänemarks, Finnlands, Japans, der Niederlande, Norwegens, Schwedens und der USA.

Aufständen und Terrorismus verschont. Kritiker behaupten, ein abrupter Stopp der Migration durch den Niger könnte das Land daher sogar destabilisieren und die Regierung und Wirtschaft so weit schwächen, dass auch die Sicherheitslage prekär würde. Besonders wichtig ist es unter diesen Umständen, für den Niger wirtschaftliche Alternativen zu entwickeln. Eine Lösung des Problems erscheint nur dann realistisch, wenn nicht nur das Angebot des Schmuggels an sich bekämpft wird – unter Umständen könnte dies sogar bedauerliche unerwünschte Nebenwirkungen auslösen, etwa wenn andere Menschenrechtsverletzungen und bewaffnete Konflikte zunehmen würden und einen Teufelskreis in Gang setzen. Vielmehr gilt es auch, die Nachfrage in den Herkunftsländern zu reduzieren. Einfache und schnelle Lösungen gibt es in diesem Zusammenhang nicht. Noch

am deutlichsten ist die Notwendigkeit erkennbar, der fortschreitenden politischen Fragmentierung Libyens entgegenzutreten. Der offensichtliche Staatszerfall in diesem Land ist eine treibende Kraft, die den Schmuggel begünstigt und verstärkt hat. Eine bessere Grenzsicherung innerhalb Afrikas allein wird nicht ausreichen, d Migrationsbewegung nach Europa nachhaltig zu reduzieren. Eine Politik zur Reduzierung der illegalen Migration muss auch Maßnahmen zur Bekämpfung der Schmuggelindustrie sowie der Flucht- und Migrationsursachen umfassen.

Originaltext: P Tinti and T Westcott, The Niger-Lybia corridor: Smugglers’ perspectives, ISS Paper 299, November 2016, https://issafrica.s3.amazonaws.com/site/uploads/Paper299-2.pdf.