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Der Star

und das Dienstmädchen

(Relative Values)

von

Noël Coward

Deutsch von Klaus Chatten

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Der Star und

das Dienstmädchen (Relative Values)

von

Noël Coward

Deutsch von Klaus Chatten

Alle Rechte vorbehalten

Unverkäufliches Manuskript Das Aufführungsrecht ist allein zu erwerben vom Verlag

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PERSONEN CRESTWELL ALICE MRS. MOXTON (MOXIE) FELICITY, COUNTESS VON MARSHWOOD LADY HAYLING ADMIRAL SIR JOHN HAYLING DER EHRENWERTE PETER INGLETON DER EARL VON MARSHWOOD (NIGEL) MIRANDA FRAYLE DON LUCAS Das Stück spielt im Marshwood House, im Osten von Kent. ZEIT: Gegenwart. ERSTER AKT Erste Szene: Samstagnachmittag. Nach dem Mittagessen. Zweite Szene: Ein paar Stunden später. ZWEITER AKT Erste Szene: Vor dem Abendessen. Zweite Szene: Nach dem Abendessen. DRITTER AKT Der nächste Morgen.

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ERSTER AKT

Erste Szene Samstag. Nach dem Mittagessen. Das Wichtigste, was man über die Bücherei im Marshwood House wissen muss, ist, dass sie keine Bücherei ist. Das mag in der Vergangenheit anders gewesen sein und kann sich in der Zukunft wieder ändern, aber jetzt ist sie eindeutig das Wohnzimmer der Familie. Natürlich stehen Bücher herum; der Raum ist auf gemütliche und geschmackvolle Weise möbliert, aber in keiner eindeutigen Stilrichtung. Die Chintzbezüge sind alt und ein bisschen verblichen und das ganze Mobiliar, das aus verschiedenen Epochen stammt, vermittelt den Eindruck, als wäre es irgendwann in den Raum gespült worden, hätte Gefallen an dem Ort gefunden und beschlossen, sich niederzulassen. An der Hinterwand sind Doppeltüren, die sich zum Flur hin öffnen lassen. Vorne links eine Tür in Nigels Arbeitszimmer. Rechts führen französische Fenster auf die Steinterrasse und auf den Garten hinaus, der wie die meisten Gärten in Kent ein solides Innenleben führt, in der Außenwirkung aber leicht verwildert ist. Dahinter begrünte Hügel, und das Meer ist nicht weit weg. Als der Vorhang sich öffnet, haben wir halb drei Uhr an einem Julinachmittag. Crestwell, der Butler, ein gutaussehender Mann Mitte fünfzig, räumt benutzte Cocktailgläser auf.. Alice, ein junges Dienstmädchen um die achtzehn, leert Aschenbecher in einen Mülleimer. ALICE: ...und erst ganz zum Schluss des Films begreift er, dass er sie schon die ganze Zeit liebt, und sie gehen gemeinsam einen Hügel hoch und die Musik wird immer lauter... CRESTWELL: Danke, Alice. Ich muss ihn mir aber jetzt nicht sofort anschauen, oder? ALICE: Sie ist wunderbar, Mr. Crestwell. Wirklich. CRESTWELL: Das sollte sie auch besser sein. ALICE: Mögen Sie sie nicht, Mr. Crestwell? CRESTWELL: Woher soll ich das wissen? Ich habe sie nie zu Gesicht bekommen. ALICE: Aber irgendeinen Film mit ihr müssen Sie doch gesehen haben. CRESTWELL: Ich habe Besseres in meiner Freizeit zu tun, als im Odeon zu sitzen, Süßigkeiten zu lutschen und Blödsinn anzugaffen. ALICE: „Ich glaube an die Liebe“ läuft die ganze Woche in Deal. Es ist einer ihrer früheren Filme, aber er ist wunderbar. Ich war Donnerstagnachmittag drin. Wissen Sie, sie ist diese Nonne... CRESTWELL: Welche Nonne? ALICE: Die von den Japanern gefangen genommen wird.

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CRESTWELL: Beeil dich mit den Aschenbechern, sonst werden wir alle noch von den Japanern gefangen. ALICE: Und sie tun ihr die schrecklichsten Dinge an, aber sie sagt ihnen nicht, wo er ist... CRESTWELL: Wo wer ist? ALICE: Don Lucas. CRESTWELL: Mach dich an die Arbeit, Alice. Sie werden jede Minute hier seim. ALICE: Im wahren Leben sind sie ineinander verliebt, sie und Don Lucas. Ich habe es in „Leinwandromanzen“ gelesen. CRESTWELL: Kümmere dich nicht darum, in wen sie verliebt ist und in wen nicht. Das geht dich nichts an. Und glaub nicht, was du in diesen Kinozeitschriften liest. Es ist von vorne bis hinten gelogen, um so dumme Gören wie dich zu beeindrucken. In dem Augenblick kommt Mrs. Moxton (Moxie) herein. Sie ist eine angenehm ausschauende Dame von sechsundvierzig Jahren und einfach gekleidet, wie es zu einem gehobenen Dienstmädchen für die Dame des Hauses passt. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht ist allerdings grimmig. CRESTWELL: Was hat Mylady jetzt wieder verloren? MOXIE: Die Liste für die Gemeindefeier. Sie will sie Lady Hayling zeigen. Ich habe sie heute Morgen selbst in ihre Tasche getan. (Sie geht zu dem Schreibtisch.) ALICE: Kann Maureen morgen Nachmittag kommen und beim Tee aushelfen, Mr. Crestwell? CRESTWELL: Beim Tee aushelfen? Um alles in der Welt wozu das? ALICE: Ich könnte ihr mit dem Servierhäubchen und einer Schürze aushelfen. Das würde niemand mitbekommen. CRESTWELL: Vor zwei Jahren, Alice, hat man deiner Schwester Maureen die Arbeit angeboten, die jetzt du machst, stimmt´s? ALICE: Ja, Mr. Crestwell. CRESTWELL: Und sie hat die Nase gerümpft, weil ihr eine dienende Tätigkeit zu gewöhnlich war. Stimmt das? ALICE: (widerspruchslos) Ja, Mr. Crestwell. CRESTWELL: Sie hilft jetzt in Deal im „Fisherman´s Rest“ hinter dem Tresen aus, wovon ich ausgehen muss, dass sie das für aristokratischer als Marshwood House hält. Ist dem so, Alice?

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ALICE: (fühlt sich unwohl) Da kann ich wirklich nichts zu sagen, Mr. Crestwell. CRESTWELL: Wieso sollte genau dieses Mädchen, das beim Schönheitswettbewerb in Ramsgate im Badeanzug teilnimmt, den Drang verspüren, sich plötzlich für den staubigen Weg der Sklaverei zu bewerben. ALICE: Also... Wissen Sie... Wenn Sie... CRESTWELL: (kommt in Schwung) Hat sie sich gesagt: „Ich weiß, dass sie in Marshwood einen Engpass haben, weil Amy ihre kranke Großmutter in Canterbury besuchen muss und Mary mit Gürtelrose im Bett liegt...“ MOXIE: (räumt immer noch an dem Schreibtisch) Red keinen Unsinn, du hältst Alice von der Arbeit ab. CRESTWELL: (ignoriert die Unterbrechung) Hat sie sich gesagt: „Um des lieben Mr. Crestwells Willen, der langsam verrückt wird, opfere ich meine übertriebenen Stolz und springe mit Freude in die Bresche?“ ALICE: Das weiß ich wirklich nicht, Mr. … CRESTWELL: (mit donnernder Stimme) Die Antwort, Alice, lautet: NEIN! Die wahre Antwort, Alice, ist, dass deine Schwester, wie so viele von ihren Zeitgenossinnen, eine leindwandbesessene, tunichtgute, kleine Idiotin ist! Und der einzige Grund, warum sie mit dem Tee helfen will, ist, dass sie nahe an Miss Miranda Frayle heran und sie vermutlich nach einem Autogramm fragen will. Und ich erkläre dir feierlich, hier und jetzt, dass wenn sie es sich holt, sie es nur über meine Leiche bekommt. MOXIE: Geh jetzt, Alice. Du stehst schon eine Weile herum. ALICE: Ja, Mrs. Moxton. Sie geht mit dem Tablett mit den Gläsern ab. MOXIE: Was für einen Sinn macht es, mit dem Mädchen so zu reden? Sie versteht nicht mal die Hälfte von dem, was du sagst. CRESTWELL: Ich habe gelernt, dieses Kreuz mit großer Kraft und Stärke zu tragen, Dora. Keiner versteht die Hälfte von dem, was ich sage. MOXIE: Dann spar dir den Atem und rede weniger. CRESTWELL: Was ist los mit dir? Du springst in den letzten drei Tagen allem und jedem an die Gurgel. MOXIE: (findet schließlich die Liste) Hier ist sie! CRESTWELL: Was ist los?

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MOXIE: Nichts ist los. Ich muss das rein bringen. Die Lady wartet darauf. CRESTWELL: Seitdem wir die Neuigkeit haben, benimmst du dich wie eine große Tragödin. Was hat das schon für dich zu bedeuten? MOXIE: Es bedeutet mir eben etwas. Es ist für uns alle von Bedeutung. CRESTWELL: Man kann diesen Filmzeitschriften nicht glauben, weißt du? MOXIE: Ich lese keine Filmmagazine. CRESTWELL: Oh, doch. Das tust du wohl. Ich habe noch letzte Woche in deinem Zimmer drei von ihnen gesehen. MOXIE: Was hast du in meinem Zimmer gemacht? CRESTWELL: (würdevoll) Du hattest mich gebeten, deinen Strickkorb zu holen und in der mir angeborenen Ritterlichkeit, die all die aufrüttelnden Kräfte der sozialen Revolution nicht zerstören konnten, bin ich drei Stockwerke hochgestiegen und habe ihn für dich geholt. MOXIE: Aber ich habe dich nicht gebeten, herumzuwühlen und herumzuschnüffeln. CRESTWELL: (geduldig) Dein Strickkorb, Dora, war auf dem Tisch neben dem Bett. Und neben ihm lagen drei Illustrierte. „Welt der Leinwand“, „Photoplay“ und „Love Stories der Stars“. Auf dem Umschlag des letzteren war eine ganzseitige Farbfotografie der zukünftigen Countess von Marshwood in einem zweiteiligen Badeanzug, die in einer herzlichen Umarmung von einem Herrn in einteiliger Badekleidung gehalten wurde. MOXIE: Alice muss sie liegen gelassen haben, als sie das Zimmer gemacht hat. CRESTWELL: Ich akzeptiere deine wenig überzeugende Erklärung. MOXIE: Ich nehme an, dass es nur normal ist, dass ich wissen will, wie die neue Hausherrin aussieht. CRESTWELL: Meine gedankenlose Spionageaktion fand letzte Woche statt, Dora, ehe einer von uns auch nur die geringste Ahnung hatte, dass Seine Lordschaft die Absicht hatte, wieder zu heiraten. MOXIE: Du überrascht mich wirklich. Du bist länger bei der Familie als ich und dir scheint diese schreckliche Angelegenheit weniger auszumachen als mir. Das Einzige, was du tust, ist, du machst Witze darüber. CRESTWELL: Das Problem mit dir besteht darin, dass du zu konservativ bist. MOXIE: Wem hast du bei der letzten Wahl deine Stimme gegeben?

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CRESTWELL: Man muss nicht konservativ sein, wenn man konservativ wählt. Man entscheidet sich nur das geringere von zwei Übeln. MOXIE: Warum konnte er sich nicht jemand gleichen Standes nehmen? CRESTWELL: Klasse! Oh Gott, ich habe vergessen, was das Wort bedeutet. Erinnere mich daran, dass ich es im Kreuzworträtsellexikon nachsehe. MAXIE: Du kannst es ja vergessen haben. Ich nicht. CRESTWELL: Das, Dora, ist ein Eingeständnis von Niederlage. Das beweist, dass du dich mit Absicht vor dem glockenhellen Ruf des Fortschritts taub gestellt hast. MOXIE: Glockenheller Ruf von Quatsch! CRESTWELL: Was ist mit deinen vergangenen Träumen und deinem Ehrgeiz geschehen? Was ist aus deiner göttlichen Unzufriedenheit geworden? MOXIE: Ich war nicht unzufrieden. CRESTWELL: Du sagst mir bestimmt jeden Augenblick, dass du mit den Lebensbedingungen, die Gott für dich bereitet hat, vollkommen glücklich bist. MOXIE: Mir wär´s ganz recht, wenn du nur einmal kurz damit aufhören würdest, lustig zu sein. Ich weiß, dass du mit Absicht versuchst, die Schwere der Situation aufzuheben und so tust als sei es nicht von Belang, aber mir wäre lieber, du ließest das sein – zumindest mir gegenüber – ich würde mir wirklich wünschen, du würdest... (Sie dreht sich beiseite.) CRESTWELL: (sanft) Nimm´s nicht so hart. Es mag nicht ganz so schlimm sein, wie du denkst. MOXIE: Du hasst die Situation genauso wie ich, stimmt´s? CRESTWELL: Und wenn dem so ist? Es macht keinen Sinn, sich Bauchschmerzen darüber zu machen. Das Einzige, was man tun kann, ist, es philosophisch zu betrachten und das Beste zu hoffen. MOXIE: Ein gewöhnliches, angemaltes Flittchen aus Hollywood, das sich als Countess von Marshwood in Pose wirft, und du redest davon, auf das Beste zu hoffen! CRESTWELL: Das ist zumindest das, was die Mylady versucht. Lady Hayling hat ihr das ganze Mittagessen über zugesetzt. Sie hat versucht, das Thema zu wechseln, aber es ging nicht. MOXIE: Tief drinnen ist die Mylady genauso aufgewühlt wie wir. CRESTWELL: Hat sie das gesagt?

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MOXIE: Nein. Aber ich weiß das. CRESTWELL: Hast du es mit ihr diskutiert? MOXIE: (schnippisch) Nein, habe ich nicht. CRESTWELL: In Ordnung... In Ordnung... Miss Miranda Frayle ist vielleicht nicht so gewöhnlich. Immerhin ist sie in England geboren. So steht es zumindest im Photoplay. MOXIE: Mir ist es egal, ob sie in Timbuktu geboren ist. Es ist mir egal, ob ihr Blut blau, schwarz oder gelb ist. Es ist mir egal, welche Nationalität sie hat. Ich weiß nur, dass ich dieses Haus verlasse, wenn sie es Haus betritt. CRESTWELL: (trocken) Dann solltest du mit dem Packen anfangen. Sie werden gegen sechs Uhr hier sein. MOXIE: (düster) Ich meine das so. CRESTWELL: Es kommt mir so vor, dass du es alles ein bisschen zu ernst nimmst. MOXIE: Vielleicht tue ich das, aber so fühle ich nun mal. Und nichts, was du oder jemand anders dazu sagt, wird das ändern. CRESTWELL: Natürlich hängt eine Masse davon ab, wie sie ist. MOXIE: Er sollte sie nicht heiraten, ganz gleich, wie sie ist. CRESTWELL: Die Willkühr deines Standpunktes schockiert mich immens. MOXIE: Ach, wirklich? CRESTWELL: Wo ist deine Großzügigkeit hin? MOXIE: Ich nehme an, ich habe sie zusammen mit meiner göttlichen Unzufriedenheit verloren. Sie werden von dem Auftritt von Felicity, Countess von Marshwood unterbrochen. Ihr folgen Lady Hayling, Admiral Sir John Hayling und der ehrenwerte Peter Ingleton. Felicity ist eine gut erhaltene Frau in den Fünfzigern. Zu ihrer Zeit war sie mit Sicherheit eine Schönheit. Ehrlich gesagt, ist sie leicht umweht von einer Spur der verrückten, unheilvollen 20er Jahre. Lady Hayling ist eine angenehme Frau gleichfalls in ihren Fünfzigern mit einer Neigung zur Didaktik. Admiral Sir John Hayling ist um die sechzig. Er ist ein typischer Mann aus der Marine mit blauen Augen und einer direkten Art.

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Peter Ingleton könnte zwischen fünfunddreißig und fünfzig sein . Er ist tadellos gekleidet und hat einen zweifelnden Blick. FELICITY: Moxie, meine Gute, konntest du sie nicht finden? MOXIE: (gibt ihr die Liste) Doch, Mylady. Hier ist sie. (Sie wendet sich zum Fortgehen ab.) FELICITY: Um Gottes Willen, bleib! Ich brauch deine Hilfe. Ihre auch, Crestwell. Wir haben eine ausgewachsene Krise auf der Gemeindefeier. Alles muss geändert werden... Wo ist diese kleine, schreckliche Grundstückskarte, Moxie? MOXIE: (geht zum Schreibtisch) Sie ist im Schreibtisch, Mylady. FELICITY: Es könnte sein, dass ich Sie bitten muss, Major Petherick zu ermorden, Crestwell. CRESTWELL: Sehr wohl, Mylady. FELICITY: Er hat sich da vollkommen bei den Karussells eingemischt. Ich habe gerade mit ihm am Telefon gesprochen. Er war ziemlich unerträglich. MOXIE: Hier ist die Karte, Mylady. PETER: (schaut ihr über die Schulter auf die Mappe) Was ist das für ein Fleckchen da? FELICITY: Die Minigolf-Anlage von Mrs. Burrage und das Teezelt. Das können wir unmöglich umstellen, das würde alle wahnsinnig machen. PETER: Und was ist damit? Genau auf der anderen Seite? Wo die ganzen kleinen Schnörkel sind? FELICITY: Die kleinen Schnörkel, Peter, sind Gräber. Wir können kein Karussel aufstellen, von dem aus Zuckerwatte über den ganzen Friedhof angepriesen wird. PETER: (zeigt darauf) Dann hier! FELICITY: Vergiss den Abschnitt, Peter. Das ist immer noch Kirchenbesitz. Wir wissen, dass das Gemeindefest jedes Jahr die Hölle ist, aber es ist nicht der Tag des Jüngsten Gerichts. CRESTWELL: Die einzige Möglichkeit, Mylady, besteht darin, die Band umzusetzen. ADMIRAL: Das steht außer Frage. Der Brigadier spielt da nicht mit. Man kann die Königliche Marine nicht auf die letzte Sekunde durch die Botanik scheuchen. PETER: Ich dachte, darin wäre die Königliche Marine besonders gut.

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FELICITY: Lies die Liste vor, Moxie. Vielleicht kann man ja irgend etwas anderes bewegen. MOXIE: (hölzern) Tombola – Mrs. Edgecombe. Das Gewicht des Kuchens raten – Mrs. Bruce. Miss Hodmarshs Fröhlicher Dip... PETER: Das kann ich mir bei ihr wirklich schlecht vorstellen. FELICITY: Sei still, Peter. Weiter, Moxie. MOXIE: (fährt fort) Second Hand – Mrs. Pollet und Mrs. Dint. Kaltgetränke mit einem Star – Miss Miranda Frayle. (Sie hält inne.) FELICITY: Das ist noch nicht offiziell, weil wir sie noch nicht gefragt haben. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie sich dem verweigert, oder? PETER: Ich finde, das ist das Geringste, was sie tun könnte. LADY H.: Wenn dem so wäre. FELICITY: Wirklich, Cynthia. Das geht so nicht weiter. Das machen wir jetzt schon seit dem Mittagessen. … Moxie, du musst Mr. Durham sagen, ihren Namen in riesiggroßen Buchstaben zu malen. MOXIE: (mit erstickter Stimme) Ja, Mylady. FELICITY: Was ist los, Moxie? MOXIE: Nichts, Mylady. Ich habe nur leichte Kopfschmerzen. Das ist alles. FELICITY: Hast du schon zu Mittag gegessen? MOXIE: Ja, danke schön. Mylady. FELICITY: Dann gibt mir diese grauenhafte Liste und leg dich ein bisschen hin. Wenn du keine hast, in meinem Badezimmer sind ein paar Aspirin. MOXIE: (gibt ihr die Liste zurück) Danke, Mylady. Entschuldigen Sie mich. Moxie geht ziemlich rasch aus dem Zimmer. FELICITY: Ist irgend etwas Besonderes geschehen, was Moxie aufgebracht hat, Crestwell? CRESTWELL: Ich glaube, sie hat in den letzten drei Tagen ein bisschen unter dem Wetter gelitten, Mylady. FELICITY: Oh Gott, ich hoffe, sie wird nicht ernstlich krank. Sie wissen nicht zufällig, wie Mays Gürtelrose angefangen hat, oder?

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CRESTWELL: Ich fürchte nein, Mylady. An einem Tag hatte sie sie noch nicht und am nächsten war sie da. Es hat uns alle überrascht. FELICITY: Ich frage mich, ob wir nach Dr. Partridge rufen lassen sollten? CRESTWELL: Ich denke nein, Mylady. Es ist mein Eindruck, dass Mrs. Moxtons Unpässlichkeit eher emotional als körperlich ist. FELICITY: Emotional? CRESTWELL: Ich denke, dass die unerwartete Neuigkeit von der Verlobung Seiner Lordschaft sie sehr schockiert hat. ADMIRAL: Das hat uns alle sehr schockiert. FELICITY: Hat sie mit Ihnen darüber gesprochen, Crestwell? CRESTWELL: So gut wie gar nicht, Mylady. Erst gerade jetzt, bevor Sie zur Tür hereinkamen. FELICITY: Ohne in irgendeiner Form ihr Vertrauen zu missbrauchen, hat sie erklärt, warum sie so starke Gefühle in Bezug darauf hat? CRESTWELL: Soweit ich mir einen Reim darauf machen konnte, Mylady, ist es wohl der soziale Aspekt der Situation, der sie mehr als alles andere aufbringt. FELICITY: Sie meinen, dass sie findet, dass mein Sohn unter Stand heiratet? CRESTWELL: So ist es, Mylady. Ich habe versucht, mit ihr zu argumentieren, sie zu mehr Toleranz zu überreden, ihr die sich ändernden Werte dieser sich ändernden Welt nahezulegen, aber genau wie Major Petherick und seine Karussells hat sie sich einfach nur versteift. FELICITY: Danke, Crestwell. CRESTWELL: Ist das jetzt alles, Mylady? FELICITY: Abgesehen von den Karussels ja. Sie nehmen besser die Liste und die Karte zu Mr. Durham mit und sehen nach, ob ihm etwas einfällt. CRESTWELL: (nimmt die Karte und die Liste) Sehr wohl, Mylady. FELICITY: Ich muss ihn nach dem Tee sowieso sehen. Aber vielleicht fällt ihm in der Zwischenzeit ja etwas ein. Crestwell tritt ab.

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FELICITY: Ich wüsste nicht, was ich ohne Crestwell tun würde. Erinnert ihr euch noch, wie wir den ganzen Krieg durch er und Moxie und ich das Haus geschmissen und uns mit dieser forschen, weiblichen Air Force herumgeschlagen haben und er blieb die Ruhe selbst. Er war auch im Heimatschutz. Ich werde ihn entsetzlich vermissen. LADY H.: Wieso willst du ohne ihn auskommen? FELICITY: Ich kann ihn Nigel nicht wegnehmen. Er gehört hierher. LADY H.: Bist du dir so sicher, dass Nigel will, dass du weg gehst? FELICITY: Er wird nicht sagen, dass er will, dass ich weg gehe, aber ich halte nichts von ansässigen Schwiegermüttern. Das hat mir mit Joan gereicht. PETER: Ich glaube nicht, dass diese jetzt hier wie Joan ist. FELICITY: Zumindest kann sie nicht stumpfsinniger sein. Das könnte niemand. LADY H.: Joan war vielleicht stumpfsinnig, aber immerhin war sie eine Lady. FELICITY: (lacht) Also, wirklich, Cynthia! LADY H.: Du weißt ganz genau, was ich meine. FELICITY: Ja, ich weiß, was du meinst. Wie auch immer... Miranda Frayle ist eine gute Schauspielerin und hat großartige Beine, was zumindest bedeutet, dass sie sich auf jeden Fall gut bewegen wird. Joan ist über die Tanzfläche gelaufen, als ob sie durch tiefen Schnee waten würde. LADY H.: Aber warum sollte er diese Frau heiraten wollen? Er wollte bis jetzt auch keine von den anderen heiraten. FELICITY: Da täuscht du dich. Er wollte alle anderen heiraten. Er hat einen unglaublichen Sinn für Moral und Verantwortung. Glücklicherweise waren die meisten von ihnen schon verehelicht. ADMIRAL: Judy Lavenham nicht. FELICITY: Die arme Judy war schon eine andere Kategorie. Zu dem Zeitpunkt, wo sie sich getroffen haben, hatte sie bereits die halbe Nation durch. LADY H.: Felicity! FELICITY: Joan war mit den gleichen Instinkten ausgestattet wie Judy, aber ihr fehlte der Charme und der Mut ihnen zu folgen. Gott sei Dank hat Bogey Whittaker sie sich unter den Nagel gerissen, ehe sie bei drei zählen konnte, ansonsten wäre sie jetzt hier statt in Kenia.

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LADY H.: Ich begreife deine Einstellung nicht, Felicity. Die Tatsache, dass Nigels erste Hochzeit ein Desaster war, sollte dich noch mehr um den Erfolg der zweiten zittern lassen. FELICITY: Nigels erste Ehe war kein Desaster, sie war ein Triumph. Erst einmal hat sie nur zwei Jahre gedauert, ein Sohn und Erbe sind daraus erwachsen und sie löste sich eben gerade noch schmerzlos ins Nichts auf. ADMIRAL: Gerade noch? FELICITY: Genau. Ich stand kurz davor, Joan mit meinen bloßen Händen zu erwürgen, als sie sich aus dem Staub machte. Ich bin keine besonders religiöse Person, aber ich habe Bogey Whittaker immer als konkreten Beweis für die Wirksamkeit von Gebeten gesehen. LADY H.: Mir ist schon bewusst, dass heutzutage alle sozialen Schranken aufgelöst werden und jeder Mensch genauso viel wert ist wie der andere und dass jeder Hinweis auf Klassenbewusstsein der Lächerlichkeit preisgegeben wird... FELICITY: Wenn du dir dessen bewusst bist, was machst du dann so ein Theater? LADY H.: Weil ich es nicht glaube. Und tief in dir drin glaubst du es auch nicht. Du weißt genauso gut wie ich, dass wenn man zulässt, dass Nigel diese synthetische, auftrumpfende Person heiratet, es nur ein weiterer Nagel in all unsere Särge ist... FELICITY: (lacht) Liebste Cynthia! Du darfst dich wirklich nicht von selbstgerechter Arroganz zu einer solchen Syntax verleiten lassen. LADY H.: Es macht keinen Sinn, etwas mit dir ernsthaft zu diskutieren. Es ist aussichtslos. FELICITY: Nimm Cynthia mit dir mit, John. Sie wird langsam heiser davon, dass sie den falschen Baum anbellt. LADY H.: Ich sage nur, was ich denke. FELICITY: Tu das nicht, meine Liebe. Es ist so anstrengend. LADY H.: John gibt mir hundertprozentig Recht, stimmt´s, John? ADMIRAL: Ja, ich gebe dir Recht. Meiner Meinung nach sollten wir, solange noch Zeit ist, alle unsere Köpfe zusammenstecken. PETER: Wie die Andrews Sisters. ADMIRAL: Es ist ziemlich offensichtlich, dass man Nigel da hineinmanövriert hat. Denn schließlich ist er kein Dummkopf.

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FELICITY: Aber, John, mein Lieber, doch das ist er. Er ist mein einziger Sohn und ich sollte es wissen. PETER: Ich gebe dir Recht, dass Nigel in Bezug auf Frauen immer schon ein ziemlicher Idiot gewesen ist. Es ist nur vernünftig anzunehmen, dass sie etwas Nettes hat, warum er sich überhaupt in sie verliebt hat. LADY H.: Er war in Mrs. Clifford Hargrave verliebt. Ich möchte zu gern wissen, was Nettes an ihr war. FELICITY: Mr. Clifford Hargrave. LADY H.: (dreht sich weg) Wirklich, Felicity! FELICITY: Aber das meine ich ernst. Er war ein Engel. Findest du nicht, Peter? PETER: Ein ziemlich schwächlicher Engel. FELICITY: Und er ist gut damit umgegangen. ADMIRAL: (sarkastisch) Sehr dezent von ihm. FELICITY: Und er hat dieses Haus geliebt. Wir haben ihn ensetzlich vermisst, als alles vorbei war. LADY H.: Komm, John. Es ist gleich halb vier und der gute, alte Renshaw kommt dich um vier besuchen. Bis zum Abendessen. ADMIRAL: Du weißt, du kannst dich darauf verlassen, dass wir dir den Rücken stärken, Felicity. Ganz gleich, für welche Taktik du dich entschließt. FELICITY: (zugetan) Ja, lieber John, sicher weiß ich das. Aber ich glaube, dass im Augenblick meisterlich durchgeführte Tatenlosigkeit die beste Strategie ist. Zunächst müssen wir die Karte studieren und Stellung beziehen, ehe wir unseren Kurs einschlagen. PETER: Anker gelichtet! LADY H.: Komm, John! ADMIRAL: (ignoriert Peter; zu Felicity) Wir sind um halb neun da. Kopf hoch, meine Liebe! Die Haylings gehen durch die französischen Fenster ab. Felicity seufzt. FELICITY: Ich fürchte, ich war gemein zu der armen Cynthia. Aber sie treibt mich im Augenblick wirklich zur Weißglut. PETER: Sie ermüden mich beide bis zum Wahnsinn. Das habe ich immer schon gesagt.

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FELICITY: Vielleicht tun sie das, aber, weißt du, sie sind so alte Freunde. Ich kenne sie seit so vielen Jahren. Mit Cynthia bin ich zur Schule gegangen. PETER: Ich nehme an, sie war die Klassenbeste in Algebra und die Anführerin beim Völkerball. FELICITY: Sie hat auch Bolingbroke in „Richard dem Zweiten“ gespielt und ihre Perücke ist ihr runtergefallen. PETER: Jetzt trägt sie sie ja wieder. In dem Moment kommt Moxie still in das Zimmer. Sie bleibt in der Tür stehen. FELICITY: Was ist, Moxie? Ich habe doch nichts Wichtiges vergessen, oder? MOXIE: Nein, Mylady. Ich wollte nur mit Ihnen sprechen. Sonst nichts. Ich komme später zurück. PETER: Schon in Ordnung, Moxie, meine Liebe. Ich gehe ins Dorf, dann ist die Luft für dich rein. MOXIE: (mit ziemlich unterdrückter Stimme) Es macht nichts, Sir. Ich komme später wieder. Sie eilt rasch hinaus. FELICITY: Oh Gott! PETER: Sie ist offensichtlich aufgebracht. FELICITY: Mir wär´s wirklich lieber, es wäre anders. Es ist so ansteckend. Was glaubst du, warum nimmt sie es sich so zu Herzen? PETER: Hast du viel mit ihr darüber gesprochen? FELICITY: Nein. Wann immer ich es erwähne, wechselt sie das Thema. Ich glaube, sie ist sehr wütend. PETER: Auf Nigel? FELICITY: Ja. Sie betet ihn an. Das hat sie immer schon getan, schon, als sie das erste Mal hierher kam. Weißt du, er war damals erst fünfzehn, und sie sind zusammen zu Matineen gegangen und haben anschließend bei Gunters Tee getrunken. Ich denke, sie meint, dass er sich gehen lässt. PETER: Vielleicht hat sie recht. FELICITY: Es gibt immer noch Hoffnung, dass sie Unrecht hat.

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PETER: Aber nur eine ganz geringe. FELICITY: Das sehe ich nicht so. Immerhin ist es nicht das erste Mal, dass ein englischer Adliger eine Schauspielerin geheiratet hat. In der Vergangenheit geschah das am Fließband. Natürlich gehe ich davon aus, dass die Familien empört waren und sich aufgeregt haben, aber auf lange Sicht ist es immer gut gegangen. Sieh dir nur die gute Gloria Bainbridge an, lebendig begraben in Lincolnshire und nicht tot zu kriegen, und Lily Grantworth mit ihren ganzen kleinen, muskulösen Jungs. Ich denke, dass die Aristokratie – oder das was von ihr übrig ist – dem Theaterbetrieb eine ganze Masse verdankt. PETER: Hollywood ist nicht unbedingt ein Theaterbetrieb. Es ist deutlich extravaganter. FELICITY: Ich sehe nicht ein, dass das so von Bedeutung ist. Wir leben in einem öffentlichen Zeitalter und dann sollten wir es ebenso gut und einfach nur genießen. PETER: Du weißt ganz genau, dass du es hasst. Du ekelst dich förmlich davor bei Premieren von Blitzlichtern geblendet zu werden und im Dorchester von einer versteckten Kamera mit dem Mund voller Spargel aufgenommen zu werden. FELICITY: Das war für einen guten Zweck. Davon mal abgesehen. Was ist mit dir? Du wirst andauernd dabei fotografiert, wie du Leute an Bahnhöfen und Flughäfen verabschiedest und du genießt das in vollen Zügen. PETER: Das ist Teil meines Berufs, und ich genieße das nicht in vollen Zügen. Ich verachte es. Aber man kann kein Reisebüro leiten, ohne dafür zu werben. FELICITY: Einer der schlimmsten Aspekte des modernen, englischen Lebens ist, dass so viele Freunde arbeiten müssen und sie können´s gar nicht. PETER: Das Ingleton Reisebüro für Schiene, Wasser und Luft ist ein Synonym für zügige Effizienz. FELICITY: Aber nur wegen dieses bebrillten, teigigen Mädchens! Wenn sie nicht wäre, würdest du keine Menschenseele weiter als bis nach Folkestone schaffen. PETER: Ich kann nicht ganz verstehen, warum du mich angreifen musst, nur weil dein Sohn einen Filmstar heiratet und dein Dienstmädchen sich darüber aufregt. FELICITY: Ich rege mich auch auf. Ich habe dir vorher schon gesagt, es ist ansteckend. Die letzten drei Tage waren die Hölle. Cynthia Hayling hat auf meinen Nerven herumgeritten wie eine Kreissäge, Moxie verfiel in Depression, Crestwell sah süffisant drein und ich bekam einen unerträglichen Brief von Rose Eastry, die mir mitteilte, ich solle tapfer sein. PETER: Was geht sie das an?

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FELICITY: Frag sie. Sie ist auch deine Tante. PETER: Aber nur auf eine sehr weitläufige Art. - Beruhig dich, meine Liebe, und konzentrier dich auf das Problem, das vor dir liegt. FELICITY: Das ist ganz genau das, was ich versuche zu tun, aber alle schütten mich ja mit dem Thema zu. Ich habe mich dazu entschieden, Miss Miranda Frayle ohne Vorurteile zu akzeptieren, ganz gleich als wie schrecklich sie sich erweist. PETER: Vielleicht ist sie gar nicht schrecklich. Sie kann absolut entzückend sein. Sie kann einfach und unaffektiert sein und vielleicht wird das Haus überperlen von ihrem Lachen. FELICITY: Davor habe ich am meisten Angst. PETER: Oder sie ist ein bisschen traurig, ein wenig müde und vom Leben gebeutelt wie in „Schweig still, du dummes Herz“. FELICITY: Ist das der, in dem sie so schrecklich von Edward G. Robinson drangsaliert wird? PETER: Nein. Das war „Frauen, die über die Liebe lachen“. FELICITY: Die Plötzlichkeit der Sache erschüttert mich mehr als irgendetwas sonst. PETER: Wirklich? FELICITY: Ja, Peter. Wirklich. Und du brauchst dabei nicht so zweifelnd drein zu gucken. Das ist meine Lesart der Situation und dabei bleibe ich. PETER: Sehr weise. FELICITY: Ich habe mich mit voller Absicht davon verabschiedet, meine Gefühle zu analysieren und ihnen auf den Grund zu gehen, weil wenn ich das tue, werde ich vermutlich feststellen, dass ich deutlich unglücklicher bin, als ich dachte. PETER: Noch weiser. FELICITY: (heftig) Natürlich wär´s mir lieber, es wäre nicht geschehen. Natürlich wäre es mir lieber, er hätte sich etwas weniger Glitzerndes und Spektakuläres aus gesucht, jemand, der weniger unverhohlen unpassend ist, Marshwood vorzustehen und für Jeremy eine gute Stiefmutter zu sein. PETER: Natürlich. FELICITY: Und natürlich wäre es konventioneller und angenehmer, wenn er sich jemand ausgesucht hätte, der mag, was er mag und sich mit den Dingen auskennt, mit denen er sich auskennt.

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PETER: Unterm Strich also jemand aus seinem Stand? FELICITY: Ja. Wenn du es unbedingt hören willst. Jemand aus seiner Klasse. Bitte schön. Bist du jetzt zufrieden? PETER: Nicht zufrieden, aber mit Sicherheit bestätigt. FELICITY: (verärgert) Ich verstehe nicht, warum du dich bestätigt fühlen solltest. Du hast mich nur gezwungen, etwas zu sagen, was ich tapfer versucht habe, nicht zuzugeben. Schon gar nicht vor mir selbst. Das ist sehr unhöflich von dir. PETER: Mach dir nichts draus. Halt durch, Felicity. Du machst das großartig. FELICITY: Lach mich nicht aus. Es ist alles ganz schrecklich. Und das weißt du. Meine Instinkte liegen mit meinem gesunden Menschenverstand im Zwist. PETER: Wie bei Moxie. FELICITY: Genau. Moxie gehört auch zu einer Zeit, die sich erledigt hat. Deshalb fühlt sie sich so schrecklich. PETER: Was ist mit Crestwell? FELICITY: Was meinst du mit: „Was ist mit Crestwell?“ PETER: Das Gleiche trifft auf ihn zu. FELICITY: Crestwell ist im Gegensatz zu Moxie nicht emotional. Er kann sich außerdem gut anpassen und weiß mehr von dem, was in der Welt vorgeht als wir alle zusammen. Du solltest dir mal anhören, was er über die soziale Revolution, die Vereinigten Nationen und den Verfall des Westens sagt. Es ist faszinierend. PETER: Was hält er denn von Danny Kaye? FELICITY: Er liest alles vom New Statesman über den Daily Worker. PETER: Eine ganz schön schmale Bandbreite. FELICITY: Moxie hält sich natürlich an die Times und ist nur empört. Das Telefon klingelt. FELICITY: Peter, sei so gut und geh ran. Vermutlich ist es wieder die Presse. Sie klingeln den ganzen Tag schon durch. Du kannst sie mit mehr Autorität abwimmeln. PETER: (geht zum Telefon) Das beherrschst du schon selbst ganz gut. (Er hebt den Hörer ab.) Hallo? Ja, 2158. Ja. Bleiben Sie kurz dran. (Zu Felicity.) Es ist für dich persönlich. Aus London. FELICITY: Frag, wer es ist?

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PETER: (ins Telefon) Wer will mit ihr sprechen? … Oh, in Ordnung. Einen Augenblick. (Zu Felicity.) Der verlorene Sohn. FELICITY: Nigel! Oh Gott! (Sie nimmt Peter das Telefon ab.) Hallo? … Ja, am Apparat. (Zu Peter.) Die Verbindung ist schrecklich. Es hört sich so an, als ob jemand schnarcht. (Ins Telefon.) Hall... Hallo, Nigel? - Ja, mein Lieber, natürlich. … Was? … Red lauter. Ich verstehe kein Wort. … (Zu Peter.) Er kann mich auch nicht hören. (Ins Telefon.) Wo bist du? - Ich habe gesagt: Wo bist du? Ach, so. Ihr geht jetzt beide los. Sehr schön, mein Lieber. Wie geht’s euch denn? … Nein, mein Guter. Ich habe gesagt: Wie geht’s euch beiden denn? … Ich schreie wie eine Sirene. … SIRENE, mein Lieber. S wie Salz, I wie Irland, R wie Reis, E wie Elch, N wie Nebukadnezar... Nein NEBUKADNEZAR – N für Nebel... Ist auch egal. … Es ist nicht von geringster Bedeutung. Ich habe nur versucht zu erklären, wieso ich schreie... (Zu Peter.) Ich werd verrückt. PETER: Du musst das Ding schütteln. FELICITY: Wenn ich das Ding schüttle, werde ich unterbrochen... Ah, besser. Das Schnarchen hat aufgehört. (Ins Telefon.) Besser. Ich kann dich jetzt hören. Kannst du mich hören? Gut. … Oh, wie schade! … Könnte doch sein, dass dem so ist, weil sie in einem fremden Bett liegt. (Zu Peter, die Hand über die Muschel.) Ich weiß, dass ich das nicht hätte sagen sollen. Er denkt, dass ich sie kritisiere. (Ins Telefon.) Sehr gut, mein Lieber. … Nein, niemand. Nur Peter und die Haylings. Ich habe mir gedacht, dass du es am ersten Abend ruhig haben willst. … Spielt sie Canasta? … Oh, macht nichts. Wir können es ihr beibringen. Das wird ganz wunderbar. … Für Canasta muss man nichts von Karten verstehen. Es ist zu achtzig Prozent Glück. … In Ordnung, mein Lieber, es macht wirklich nichts, es war nur so eine Idee. Sehr gut. Wir erwarten euch zwischen sechs und sieben. … Natürlich bin ich das. Ich bin sicher, dass sie ganz charmant sein wird. (Zu Peter.) Das hätte ich auch nicht sagen sollen. Es hört sich herablassend an. (Ins Telefon.) Nein, es war ganz unwichtig. Es hat sich wie Nebukadnezar angehört, weil es Nebukadnezar gewesen ist. Ich kann das jetzt wirklich nicht erklären. Es ist zu kompliziert. Gut, mein Lieber. (Sie legt auf.) Das war eins der schwachsinnigsten Telefonate, die ich je geführt habe. PETER: Hat er sich nervös angehört? FELICITY: Meiner Meinung nach ein bisschen verärgert, aber das kann am Telefon gelegen haben. PETER: Ich nehme an, er war nervös. FELICITY: Ich war ihm gegenüber zickig, nicht wahr? Ich meine, ich habe mich doch nicht verärgert oder so angehört?

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PETER: (küsst sie mit großer Wärme auf die Wange) Nein, meine Liebe, du warst sehr, sehr gut. Ich weiß, dass es schrecklich für dich ist und du hast meine vollste Sympathie. Wirklich. FELICITY: Lass das bitte, Peter. Sogar ein freundlicher Blick würde mich momentan völlig aus der Fassung bringen. Es ist bedauerlich, dass diese dumme Person nicht Canasta spielen kann. Ich hatte mich ganz darauf verlassen. Dieser Abend wird die Hölle. Sei so gut und hol Moxie. Ich bringe das jetzt am besten hinter mich. Sie staubsaugt vermutlich. PETER: In Ordnung. Wenn du sie nicht aufheitern kannst, sag ihr, dass ich sie vor dem Tee noch nach Dover kutschiere. Sie liebt diese kurzen Ausflüge. FELICITY: Ich glaube, dass das wirklich nicht nötig ist. Ein Gespräch unter vier Augen wird vermutlich sein Übriges tun. Peter tritt ab. Nach einer Weile tritt Moxie auf. Sie ist ziemlich ruhig, aber entschlossen. FELICITY: Alles in Ordnung. Die Luft ist rein. MOXIE: Ja, Mylady. Pause. FELICITY: (freundlich) Du siehst entsetzlich ernst drein, Moxie. Was quält dich? MOXIE: Der Gedanke daran, was ich Ihnen sagen muss, Mylady. Das quält mich. FELICITY: Ganz sicher ist das, was du mir zu sagen hast, nicht ganz so schlimm. MOXIE: Ich fürchte schon. FELICITY: (tätschelt auf den freien Platz neben sich auf dem Sofa) Setz dich hin, meine Gute, und entspann dich, ehe du irgendetwas sagst. MOXIE: Ich stehe wirklich lieber. Wenn ich mich setze, könnte ich weinen und mich zur Idiotin machen. (Eine kurze Pause, dann mit großer Anstrengung.) Ich fürchte, ich muss Sie verlassen, Mylady. FELICITY: Mich verlassen? Wieso, Moxie...? Was um alles in der Welt? MOXIE: Sofort, Mylady. Heute. Ich habe schlechte Nachrichten bekommen. FELICITY: Oh, meine Liebe. Es tut mir aufrichtig leid. Was ist denn los? MOXIE: Es geht um meine Tante, Mylady. Die Schwester meiner Mutter... Sie ist ernstlich krank und ganz alleine...

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FELICITY: Wo? MOXIE: (nach einem kurzen Zögern) In der Südsee. FELICITY: Wieso ist sie ganz alleine? Sie muss doch irgendwen haben, der sich um sie kümmert? MOXIE: Ihr Ehemann hat sich um sie gekümmert, Mylady, aber... aber... er ist vor zwei Tagen gestorben. Ich habe soeben ein Telegramm von einem ihrer Nachbarn erhalten. FELICITY: Und du musst sofort weg? MOXIE: Ja, Mylady. FELICITY: Oh, du arme Moxie, das ist ja schrecklich für dich. Wann denkst du, kannst du wieder kommen? MOXIE: Das ist es ja eben, Mylady. Ich werde nicht zurückkommen können. FELICITY: Bitte?! MOXIE: Sie müssen verstehen, dass sie ganz alleine ist und sie kann noch jahrelang so weiter machen. FELICITY: Willst du damit sagen, dass du mich – jetzt in dieser Minute – endgültig verlassen willst? MOXIE: Es ist nicht so, dass ich das will, Mylady. Das müssen Sie mir glauben. Ich kann nur nicht anders. FELICITY: Aber diese Tante... Was ist mit ihr los? Woran leidet sie denn? MOXIE: Das weiß ich auch nicht genau, Mylady. Die Ärzte konnten es nicht wirklich diagnostizieren. FELICITY: Könnte sie nicht ins Krankenhaus gehen? MOXIE: Oh nein. Sie ist nicht transportfähig. FELICITY: Und ihr Ehemann, der sich um sie gekümmert hat... Woran ist der so plötzlich gestorben? MOXIE: Er wurde überfahren, Mylady. Von einem Armeelaster... FELICITY: (unaufhaltsam) Wo? MOXIE: Gegenüber dem South Parade Pier. FELICITY: Woher weißt du das alles?

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MOXIE: Es stand im Telegramm. FELICITY: Deine Tante muss sehr extravagante Nachbarn haben. MOXIE: (schwach) Ja, Mylady. FELICITY: Moxie, wie lange bist du jetzt bei mir? MOXIE: Ich bin vor zwanzig Jahren als Dienstmädchen nach Marshwood gekommen. FELICITY: Und ein Jahr später bist du mein persönliches Dienstmädchen geworden. MOXIE: Ja. FELICITY: Und seitdem bist du mein persönliches Dienstmädchen, meine persönliche Freundin und Teil der Familie. MOXIE: (offensichtlich unter Druck) Ja, Mylady. FELICITY: Wir haben also zusammen gelebt, sind gereist, haben gelacht und getratscht – und seit ungefähr neunzehn Jahren. MOXIE: Ja, Mylady. FELICITY: Kann es sein, Moxie, dass du mich in der gesamten Zeit für eine komplette Vollidiotin gehalten hast? MOXIE: (dreht sich beiseite) Es tut mir leid, Mylady. Ich wusste, dass es keinen Zweck hat. Ich wusste, dass Sie es nicht glauben würden... FELICITY: Ich glaube, der Armeelaster war zu viel. Du bist eine schrecklich schlechte Lügnerin. Das habe ich schon einmal am Telefon gemerkt. Du regst dich über die Hochzeit seiner Lordschaft auf. Darin besteht der ganze Ärger, stimmt´s? MOXIE: Ja, darin besteht der ganze Ärger. FELICITY: Du willst mich allen Ernstes deshalb verlassen? MOXIE: Ja, bitte, Mylady. FELICITY: Aber wieso, Moxie, meine Liebe? Wieso ist es so extrem wichtig für dich? MOXIE: Lassen Sie mich gehen, Mylady, und verlangen Sie keine Erklärungen von mir. Ich kann hier nicht bleiben. Auf gar keinen Fall.

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FELICITY: Aber du musst hier sowieso nicht lange bleiben. Auf keinen Fall für lange. Ich beabsichtige selbst, bei der nächstbesten Gelegenheit fortzugehen, und du kommst natürlich mit mir mit. MOXIE: Es ist unmöglich, Mylady. Ich muss sofort weg. FELICITY: Aber warum? MOXIE: Ich habe meine Gründe. FELICITY: Und du willst sie mir nicht nennen? MOXIE: Ich kann nicht, Mylady. Ich kann wirklich nicht. FELICITY: In dem Fall gibt es nicht mehr viel zu sagen, nicht wahr? MOXIE: (den Tränen nahe) Oh, Mylady. FELICITY: Ich kann dich ganz offensichtlich nicht zwingen zu bleiben, wenn du das nicht willst, noch kann ich dich dazu bringen, eine Erklärung abzugeben, wenn du dich dagegen entschieden hast. Im Augenblick bin ich natürlich wütend, aber unglücklicherweise weiß ich, dass die Wut nur vorübergehend ist. Sie wird unvermeidlich in sehr kurzer Zeit verschwinden und mich aufgebracht, traurig und bitter, bitter enttäuscht zurücklassen. Komm vorbei und verabschiede dich von mir, wenn du gepackt hast. MOXIE: Sehr wohl, Mylady. (Traurig geht sie in Richtung Tür.) Schwungvoll steht Felicity auf, geht zu Moxie und legt die Arme um sie. FELICITY: Oh, Moxie, Moxie... Das ist einfach zu unglaublich. Ich kann es einfach nicht geschehen lassen, ohne alles, was in meiner Macht ist einzusetzen, um es zu verhindern. Sag mir bitte, warum du meinst, dass du mich so offensichtlich gegen deinen Willen verlassen musst? Ich verspreche dir, ich versuche es zu verstehen. Bitte, Moxie. … MOXIE: (bricht zusammen) Ich kann nicht. Es ist zu demütigend. Ich schäme mich zu sehr. FELICITY: (ihr kommt ein Gedanke) Es geht nicht um Nigel, oder? Es ist nicht so, dass er jemals... MOXIE: (entsetzt) Oh, nein, nein, natürlich nicht... FELICITY: Ist es so, dass du ihn vielleicht mehr liebst als dir lieb ist? MOXIE: (reißt sich zusammen) Nein, Mylady. Nichts dergleichen. Das schwöre ich. Natürlich liebe ich Seine Lordschaft. Ich liebe ihn, seit er ein kleiner Junge ist, aber nicht so...

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FELICITY: (beruhigend) Wir sind alle über seine plötzliche Verlobung aufgebracht. Aber wir müssen uns auch alle darum bemühen, der Situation mit Ruhe und Sensibilität zu begegnen. Immerhin hat sich die Welt zu unseren Lebzeiten sehr verändert, Moxie. Viele Dinge, die, als wir jung waren, unglaublich wichtig waren, haben jetzt keine Bedeutung mehr. Soweit wir das wissen, ist Miranda Frayle ganz einfach, freundlich und vollkommen charmant. Und das einzig Wichtige ist, dass sie ihn glücklich machen wird, oder? MOXIE: Das wird sie aber nicht. FELICITY: Das können wir nicht beweisen, oder? MOXIE: Wenn man die ganze Welt mit einer Zahnbürste durchsuchen würde, könnte man niemanden finden, der weniger dafür geschafffen ist, die Gattin seiner Lordschaft und die Vorsteherin dieses Hauses zu sein. FELICITY: Wie kannst du so sicher sein? Woher willst du das wissen? MOXIE: Weil, Mylady, Miss Miranda Frayle zufälligerweise meine jüngere Schwester ist. VORHANG

Zweite Szene

Zwei Stunden sind seit der ersten Szene vergangen. Felicity sitzt hinter dem Teetisch. Peter läuft mit einer Tasse in der Hand herum. FELICITY: Mir wär´s wirklich lieber, du würdest dich hinsetzen, Peter! Dadurch, dass du wie ein Auto-Skooter durch das Zimmer gleitest, ist gar nichts erreicht. PETER: Auto-Skooter? FELICITY: Ja, diese kleinen Autos auf dem Rummel, mit denen man auf alle drauf fährt. PETER: Bis jetzt bin ich noch auf niemanden drauf gefahren. FELICITY: Wir müssen uns konzentrieren. Das ist eine ernsthafte Krise. PETER: Und wenn wir uns konzentrieren, bis wir blau anlaufen, sind wir keinen Schritt weiter. Es gibt nur eine mögliche Lösung und das weißt du. Du musst sofort ins Ausland und Moxie mitnehmen. FELICITY: Das ist überhaupt keine Lösung, nur eine momentane Maßnahme. Und es steht ganz außer Frage, dass ich jetzt sofort ins Ausland reise. Mein Reisepass ist in London. Ich habe meine Beihilfe im Februar aufgebraucht und sogar da musste ich mir schon was von Henrietta borgen.

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PETER: Dann musst du dir wieder etwas von ihr ausleihen. FELICITY: Sie ist in Marokko. PETER: Stimmt mit Marokko irgendwas nicht? FELICITY: Selbst wenn ich zum Barrier Reef ginge, könnte ich nicht für immer dort bleiben. Außerdem verträgt Moxie kein heißes Klima. Sie bekommt Hitzewallungen. PETER: Dann schick sie fort. Schick sie wohin, wo es nett und kühl ist. FELICITY: Ich habe dir ein für allemal gesagt, dass ich mich nicht von Moxie trennen werde. Ich könnte nicht ohne sie leben und habe keine Absicht, es zu versuchen. PETER: Es muss ja nicht für lange sein. Vielleicht bringen wir Nigel ja davon ab, diese furchtbare Frau zu heiraten und dann könnte sie nach Hollywood zurück gehen und niemand müsste etwas davon wissen. FELICITY: Und wie beabsichtigst du, ihn davon abzubringen? PETER: Mit Sicherheit wird es ihn ein wenig aufrütteln, wenn er herausfindet, dass seine zukünftige Schwägerin das Dienstmädchen seiner Mutter ist. Wie heißen sie? Ich meine, wie lautet ihr Familienname? FELICITY: Birch. Sie hatten ein Lebensmittelgeschäft in der Nightingale Lane zwischen Brixton und Clapham. Freda, meine zukünftige Schwiegertochter, hat sich abgesetzt. Moxies wirklicher Name ist Dora, sie hat Moxton geheiratet, Edith Harringtons Chauffeur. Sie hatten ein Kind, aber es starb. Und dann starb Moxton auch, und sie ist wieder zurück zu ihrer Mutter und dem Laden. PETER: Und Freda? FELICITY: Oh, Freda hat das Weite gesucht und lange zuvor das Haus verlassen. Ganz offensichtlich hat sie sich sehr früh schlecht benommen... PETER: In welcher Hinsicht? FELICITY: Oh, in der üblichen. Sie stand immer kurz davor, schwanger zu sein. Wurde es aber nicht. PETER: Vielleicht fehlte ihr die Konzentration. FELICITY: Dann gab es wohl eine schreckliche Szene und die Mutter hatte einen Schlaganfall und Freda stahl sich mit einem Schauspielagenten namens Greenberg nach Amerika davon. Da hat Moxie sie zuletzt gesehen. PETER: Starb die Mutter?

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FELICITY: Ja, und der Laden ging pleite. Und kurz darauf kam Moxie hier als Dienstmädchen her. PETER: (nachdenklich) Zwanzig Jahre sind eine lange Zeit. FELICITY: Zeit, Bande von Loyalität und Zuneigung zu knüpfen, die unmöglich zerstört werden können. PETER: Vielleicht würde Freda, Miranda, wie immer sie auch heißt, sie nicht erkennen. FELICITY: Natürlich würde sie das. Moxie hat sich kaum verändert. PETER: Sie könnte sich aber verändern, nicht wahr? FELICITY: Wie meinst du das? PETER: Ich habe eine Idee. FELICITY: (sarkastisch) Ich nehme an, du willst sie verkleiden. PETER: Nein. Sie befördern. Das wäre das Erste. Die Verkleidung kann nachkommen. FELICITY: Peter! PETER: Nein. Hör zu. Das könnte funktionieren. Ich bin sicher. FELICITY: Was schlägst du vor? Ihr eine Tiara auf den Kopf setzen und behaupten, sie ist die Gräfin von Devonshire. PETER: Natürlich nicht. Sei nicht albern. Aber es wäre möglich. FELICITY: (atemlos) Was wäre möglich? PETER: Wenn ich das richtig sehe, besteht die Crux der ganzen Situation darin, dass Moxie eine Hausangestellte ist, das Dienstmädchen der Mylady, offen gesagt: Von sozial niederem Rang. FELICITY: Das ist nichts Niederes an ihr – sozial oder sonst wie. PETER: In Ordnung, in Ordnung. Ich könnte dir nicht mehr Recht geben, aber das steht nicht zur Debatte. FELICITY: Was meinst du damit, sie zu befördern? PETER: Sie aufsteigen lassen. Sie zu deiner Freundin oder Sekretärin machen. FELICITY: Aber sie bügelt meine Wäsche, macht mir die Haare und serviert mir Zeugs auf dem Tablett.

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PETER: Das macht sie ja nicht öffentlich, nehme ich an. FELICITY: Und was ist mit Nigel? Was würde er sagen? PETER: Wenn Nigel irgendwie reagieren würde, dann würde er sich freuen. Schließlich wird sie ja so was wie seine Schwester. FELICITY: Oh Gott! PETER: Habe ich in diesem Ausruf das schwache Echo des Snobismus der Alten Welt vernommen, Felicity? FELICITY: Natürlich hast du das nicht. Es ist nur so, dass alles so schwachsinnig ist, so widersprüchlich. Moxie ist Moxie. Was für einen Unterschied macht es, ob sie mein Dienstmädchen oder meine Sekretärin ist? PETER: Ja, das stimmt. Aber es macht einen Unterschied. Man muss sich den Tatsachen stellen. Es würde sich zum Beispiel niemand Gedanken machen, wenn du den jungen Stephen Bristow zu einer Ballett-Premiere und anschließend in den Savoy Grill mit nähmest, oder? FELICITY: Natürlich würden sie das nicht. Er ist ein sehr charmanter Junge. PETER: Aber du würdest Crestwell nicht mitnehmen, nicht wahr? FELICITY: Crestwell kann Ballett nicht ausstehen. Er sagt, dass es dekadent ist. PETER: Tatsache ist, dass du ihn nicht mitnehmen würdest. Es würde ihn und dich in Verlegenheit bringen. Es würde auch – auf eine subtile Art – deine Freunde in Verlegenheit bringen. Stephen Bristow ist der Sohn eines Tabakhändlers in Folkestone. Crestwell ist der Sohn eines Polizisten aus Sevenoaks. Was die tatsächliche Klassenzugehörigkeit anbelangt, ist beides gleich. Sie sind beides hart arbeitende, anständige Engländer, aber einer ist zufällig Golflehrer und der andere Butler und der soziale Abgrund, der zwischen ihnen gähnt, ist – selbst in unseren demokratischen Zeiten – unüberbrückbar. FELICITY: Ich sehe trotzdem nicht ein, wie das gegenwärtige Problem dadurch gelöst werden kann, dass ich Moxie zu meiner Sekretärin mache. Sie beherrscht kein Steno oder Schreibmaschine. Sie kann noch nicht einmal wirklich gut buchstabieren. PETER: Das kannst du auch nicht. FELICITY: Aber jeder kennt sie als mein Dienstmädchen. Sie würden mich alle für verrückt halten, wenn ich plötzlich sage, dass sie meine Sekretärin ist. PETER: Dann mach sie zu deiner Begleiterin. FELICITY: Wo essen Begleiterinnen?

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PETER: Vermutlich mit den Leuten, die sie begleiten. Wo ist sie jetzt? FELICITY: Oben in ihrem Zimmer. Ich habe sie mir versprechen lassen, sich nicht zu bewegen, bis ich genug Zeit gehabt habe, die Situation unter jedem Aspekt zu betrachten. PETER: Begleitende Sekretärin. Sie muss vollkommen neu eingekleidet werden. FELICITY: Oh Peter, dem stimmt sie niemals zu. PETER: Ich wüsste nicht, warum. FELICITY: Sie ist eine Frau mit nicht unerheblichem Stolz. Es wird ihr heftig missfallen, ihr eigenes Umfeld zu verlassen, um für ihre Schwester sozial akzeptabel zu sein. PETER: Lass uns sie fragen. FELICITY: Ich denke, dass ich, bevor wir unser Wort an sie richten, Crestwells Meinung dazu hören will. Läute! Peter läutet. PETER: Wir könnten das ganze auch zur Familienfeier ausweiten und so tun, als ob er dein lang verschollener Cousin aus Südafrika ist. FELICITY: Sei nicht so blöd! PETER: Ich wette mit dir auf alles, dass ich sie vollkommen unkenntlich machen kann. Das ist wirklich nur eine Frage von Make-up und Frisur. FELICITY: Lass dich nicht so mitreißen, Peter. Wir planen keine Charaden. Ich lasse nicht zu, dass Moxie sich lächerlich macht. PETER: Das hat nichts mit sich lächerlich machen zu tun. Für mich ist das nur ein sehr sensibler Ausweg aus einer verfahrenen Situation. Wieso sollte sie sich weigern, eine Stufe in der gesellschaftlichen Leiter aufzusteigen? FELICITY: Weil es aus den falschen Gründen gemacht wird. Crestwell tritt auf. CRESTWELL: Sie haben geläutet, Mylady? FELICITY: Ja, Crestwell. Ist Mrs. Moxton in ihrem Zimmer? CRESTWELL: Ja, Mylady. Sie sah deprimiert aus, ich habe ihr eine Tasse Tee herauf bringen lassen.

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FELICITY: Sehr mitfühlend, Crestwell. CRESTWELL: Ich bin eben kurz zu ihr rein, aber ich konnte sie nicht aufheitern. Sie hatte soeben mit dem Kreuzworträtsel in der Times angefangen. Ich habe ihr dabei ein bisschen geholfen. Sie ist mit den Lösungen blitzschnell, aber das Buchstabieren macht ihr einen Strich durch die Rechnung. FELICITY: Oh. PETER: Sie haben nicht zufällig die erste Spalte, senkrecht heraus gefunden, oder? Das treibt mich zum Wahnsinn. Es sind acht Buchstaben, und ich weiß, dass es ein Zitat von Shakespeare ist. CRESTWELL: Das Wort lautet „Geschick“. Es ist aus „Hamlet“. „...des wütenden Geschicks erdulden...“. PETER: Sehr gut. Vielen Dank, Crestwell. FELICITY: Ich denke schon seit geraumer Zeit darüber nach, im Haushalt etwas zu verändern, Crestwell. CRESTWELL: Eine Veränderung, Mylady? FELICITY: Und ich wollte Ihre Meinung dazu hören, bevor ich eine endgültige Entscheidung treffe. Es betrifft Moxie. CRESTWELL: Ja, Mylady? FELICITY: Ich möchte sie befördern, ihren Status verändern. Und ich frage mich, wie sehr eine Veränderung die Welt des Dienstpersonals tangieren würde. CRESTWELL: Dahingehend kommt nur die Köchin in Betracht, Mylady. May ist im Augenblick mit ihrer Gürtelrose beschäftigt, Amy und Alice zählen nicht und ich denke nicht, dass der junge Frank lange bei uns bleiben wird. FELICITY: Wieso nicht? CRESTWELL: Seine Arbeit macht ihm keinen Spaß, Mylady. Wie so viele junge Leute hat er eine ziemlich klarumrissen Sicht auf soziale Gleichheit. Er findet, dass alle niederen Verrichtungen von jemand anderem erledigt werden sollten. PETER: Und die Köchin? CRESTWELL: In gewisser Weise eine sehr vernünftige Person, Sir. Von Zeit zu Zeit temperamentvoll, wenn die Umstände ihre Anstrenungen vereiteln, aber auf keinen Fall stellt sie sich taub, wenn man etwas dringend von ihr will. FELICITY: Mag sie Mrs. Moxton – Moxie?

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CRESTWELL: „Mögen“ wäre übertrieben, Mylady. Sie respektiert sie und sagt ihr gelegentlich aus Teeblättern wahr, aber ich würde ihre Beziehung nicht gerade als sehr intim bezeichnen. FELICITY: Was würde sie tun, wenn Moxie nicht mehr länger Teil der Hausangestellten wäre und meine Sekretärin würde? CRESTWELL: (fassungslos) Sekretärin, Mylady? FELICITY: Nun... Begleitende Sekretärin. CRESTWELL: In welchem Ausmaß würde eine solche Metamorphose den gegenwärtigen Status Quo beeinflussen, Mylady? FELICITY: Das weiß ich auch nicht wirklich. Ich meine, man müsste das alles sehr sorgsam angehen. CRESTWELL: Die Mahlzeiten beispielsweise? FELICITY: (hilflos) Oh Gott! Das ist ein Problem, nicht wahr? CRESTWELL: Schon ein Problem, aber kein unlösbares. Ich nehme an, sie könnte im Esszimmer speisen, wenn Sie unter sich sind. FELICITY: Ja. Davon gehe ich aus. Ja, natürlich könnte sie das. CRESTWELL: Und sonst, bei eher formellen Angelegenheiten könnte sie sich ein Tablett mit hoch nehmen. Darf ich vorschlagen, dass wir das sogenannte japanische Zimmer in ein privates Wohnzimmer für sie umwandeln? Es benutzt gegenwärtig sowieso niemand und abgesehen davon, dass man dort einen schönen Blick hat, würde es ihre Position unterstreichen. FELICITY: Was für eine wunderbare Idee, Crestwell! Sie denken aber nicht, dass sie allzu einsam sein wird? CRESTWELL: Dem haben wir uns früher oder später alle zu stellen, Mylady. Ein höherer Rang bringt immer eine höhere Belastung mit sich. Ich habe mal gehört, dass Marinekommandanten häufig verzweifelt sind, wenn sie eine Beförderung trifft und sie aus dem staubigen Rund ihres Gemeinschaftsschlafsaals herauskatapultiert werden. FELICITY: Bis jetzt hatte ich Moxie ehrlich gesagt nicht als Marinekommandant gesehen. CRESTWELL: Nichtsdestotrotz ist der Vergleich nicht so weit hergeholt, Mylady. FELICITY: Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet. Was halten Sie von meiner Idee, Crestwell? CRESTWELL: Darf ich fragen, ob sie sie schon mit Mrs. Moxton besprochen haben?

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PETER: Noch nicht. Wir wollten zunächst Ihre Meinung hören. FELICITY: Glauben Sie, sie wird nicht zustimmen? CRESTWELL: Ich denke, unter den speziellen Umständen könnte sie das tun. Ja. PETER: Wie viel wissen Sie Crestwell? CRESTWELL: In trauter Gemeinschaft mit der menschlichen Rasse weiß ich sehr wenig, Sir, aber ich kann mir eine Menge vorstellen. FELICITY: Lieber Crestwell, weichen Sie bitte nicht aus. Das ist eine Krisensituation. CRESTWELL: Das hatte ich mir gedacht, Mylady. FELICITY: (fest) Miss Miranda Frayle, die zukünftige Braut seiner Lordschaft ist zufälligerwiese Mrs. Moxtons Schwester. CRESTWELL: Vielen Dank, Mylady. Sie können sich auf meine Diskretion verlassen. FELICITY: Sie haben das bereits von sich aus geraten? CRESTWELL: Durch einfache Schlussfolgerung und indem ich eins und eins zusammen gezogen habe, bin ich darauf gekommen, dass etwas sehr Verzwicktes im Gange sein muss. FELICITY: Damit haben Sie Recht, Crestwell. Es gibt kaum etwas Verzwickteres. CRESTWELL: Ein Zufall in der besten Tradition der britischen Komödie, Mylady. Stellen Sie sich nur vor, wie wunderbar Mr. Somerset Maugham mit der Situation umgehen würde. PETER: Ich kann mir eine ganze Menge anderer Autoren vorstellen, die die Idee nicht gerade verwerfen würden. CRESTWELL: Wenn ich das bemerken darf, unsere gegenwärtigen Autoren würden die feinen Nuancen nicht hinbekommen. Sie sind alle zu spröde. Gesellschaftskomödien werden hinfällig, wenn es keine Gesellschaft mehr gibt. FELICITY: Helfen Sie uns, Crestwell? CRESTWELL: In welcher Hinsicht, Mylady? FELICITY: In jeder nur erdenklichen. Sie sind ein weiser Mann und sehr überzeugend. CRESTWELL: Danke, Mylady.

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FELICITY: Ich werde nie vergessen, wie sie mit diesem schrecklich, weiblichen Air Force Offizier, die dem Alkohol zusprach und sich nachts immer mit dem Fahrrad aus dem Staub machte, fertig geworden sind. CRESTWELL: Dabei handelte es sich eher um moralische Erpressung als um Überzeugungskraft. FELICITY: Holen Sie Moxie jetzt runter? CRESTWELL: Sehr wohl, Mylady. Er tritt mit einem Teetablett ab. FELICITY: Bemüh dich gar nicht darum, die Situation allzu sehr zu genießen, Peter. PETER: Ich verstehe wirklich nicht, warum du nicht Crestwell heiratest, Felicity. Das würde alles vereinfachen. FELICITY: Es ist wirklich sehr aufwühlend. PETER: Das muss es aber nicht sein, wenn es richtig gehandhabt wird. FELICITY: Ich sorge mich um Moxie. Ich habe soeben etwas begriffen, etwas sehr Peinliches. PETER: Was? FELICITY: Ich kenne sie nicht wirklich. PETER: Was um alles in der Welt meinst du damit? FELICITY: Sie kennt mich ganz gut. Darüber besteht kein Zweifel. Sie hat sich mit meinen Stimmungen beschäftigt und meinen Wünschen gehorcht. Sie kennt all meine Probleme und meine Beziehungen. Ehrlich gesagt, gibt es gewisse Aspekte von mir, die sie nur alleine kennt. Sie hat mich durch Krankheit gepflegt, sie hat meine Tränen gesehen, sie hat mich angekleidet und nackt erlebt, mein Gesicht voll mit Abschminke oder perfekt hergerichtet. Und nur ein einziges Mal in neunzehn Jahren habe ich sie in ihrem Nachthemd gesehen und das war im Hotel Stazione in Genua, als ich einen Eiweißschock von schlechtem Fisch hatte. PETER: Mit Sicherheit hat die Kenntnis des Charakters einer Person nicht unbedingt etwas damit zu tun, dass man jemand regelmäßig in seinem Nachthemd sieht, oder?

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FELICITY: Sie hat ihre Arbeit treu und gut verrichtet, sie hat sich mit Demut in meinen Dienst gestellt, sie hat mich getröstet und verwöhnt und für die ganzen langen Jahre mein vollstes Vertrauen empfangen und bis heute wusste ich noch nicht einmal, dass sie eine Schwester hat! PETER: Wenn sie sich für sie schämte, wenn sie sie aus ihrem Leben verbannt hat, dann war es nur natürlich, dass sie nicht über sie spricht oder auch nur erwähnt. FELICITY: Ich habe Moxie viele Dinge erzählt, für die ich mich geschämt habe. Moxie tritt – gefolgt von Crestwell – auf. MOXIE: Crestwell sagt, dass sie mich sprechen wollen, Mylady. FELICITY: Ja, Moxie, genau. Sehr dringend. Wenn du dich bitte setzen würdest? MOXIE: Sehr wohl, Mylady. FELICITY: Auf´s Sofa. Crestwell, nehmen Sie bitte auch Platz. Das ist eine Familienkonferenz und die kann nicht unbedingt gehandhabt werden, wenn alle rumstehen. CRESTWELL: Sehr wohl, Mylady. Er und Moxie setzen sich auf das Sofa. FELICITY: Peter? PETER: (setzt sich) In Ordnung. Mir ist so, als sollten wir Papier und Bleistift zur Hand nehmen. FELICITY: Also, Moxie, meine Liebe. Im Vertrauen habe ich die Situation Peter erläutert. Ich musste sie mit irgendwem besprechen, und er ist ein alter Freund, auf dessen Diskretion ich mich völlig verlassen kann. MOXIE: Ich verstehe, Mylady. FELICITY: Und Crestwell auch. Aber wie es aussieht, hatte er es schon von sich selbst aus erraten. MOXIE: (sieht Crestwell kurz böse an) Ach, wirklich, Mylady? CRESTWELL: Ein Prozess logischen Denkens, Dora. Ursache und Wirkung, verstehst du? MOXIE: Damit kenne ich mich nicht aus. Aber ich kenne mich mit Leuten aus, die herumschnüffeln und sich nicht um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern. FELICITY: Du musst nicht verärgert über Crestwell sein, Moxie. Er ist wirklich darauf bedacht, uns in jeder Hinsicht zu helfen.

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MOXIE: Ich verstehe. Sehr nett von ihm. FELICITY: Der Gedanke, dass du Marshwood und mich aus irgendeinem anderer Grund, außer dass du unglücklich hier bist, verlassen willst, erfüllt mich mit Bestürzung. MOXIE: Aber das ist der Grund, Mylady. Ich werde hier unglücklich sein. Unter den gegebenen Umständen könnte ich nichts anderes sein. FELICITY: Ich verstehe das sehr gut, Moxie, deshalb habe ich nach reiflicher Überlegung entschieden, die Umstände zu verändern. MOXIE: Darf ich fragen inwiefern, Mylady? FELICITY: Ich möchte, dass du von jetzt an nicht mehr mein privates Dienstmädchen bist, sondern meine begleitende Sekretärin wirst. MOXIE: Ich fürchte, das kann ich nicht machen. FELICITY: Wieso nicht? MOXIE: Es würde sich dumm anfühlen, Mylady. Außerdem wäre es nicht richtig. CRESTWELL: Also, Dora sei nicht trotzig. MOXIE: Das ist meine Angelegenheit, Fred, und nicht deine. Du hast dich schon genug eingemischt. Darüber können wir uns gleich unterhalten, wenn ich etwas freier sprechen kann. FELICITY: Du kannst hier vollkommen frei sprechen, Moxie. MOXIE: Mit Hinblick auf Crestwell würde ich das lieber nicht, Mylady. FELICITY: Wieso denkst du, dass es nicht richtig für dich wäre, meine begleitende Sekretärin zu sein? MOXIE: Zunächst kann ich nicht Schreibmaschine schreiben, und ich habe eine furchtbare Handschrift. CRESTWELL: Es geht mehr um den Status als um die tatsächliche Könnerschaft. FELICITY: (ängstlich) Genau darum geht’s. MOXIE: Sie wollen damit sagen, dass es meine Schwester in weniger große Verlegenheit bringen würde, wenn sie mich in einer falschen Position vorfände als in meiner tatsächlichen? PETER: Touché.

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MOXIE: Glauben Sie wirklich, Mylady, dass die Position einer bezahlten Gesellschaftsdame so über der eines bezahlten Dienstmädchens steht? FELICITY: Natürlich glaube ich das nicht. Aber in den Augen der Welt, nehme ich an, ist dem so. MOXIE: Wie würde diese Veränderung, wenn sie wirklich stattfinden würde, dazu beitragen, die Fakten zu verbessern? FELICITY: Es würde dir einen anderen Rang im Haus geben, Moxie. Du würdest beispielsweise, wenn wir alleine sind, mit uns essen.... MOXIE: (unaufhaltsam) Und wenn Gäste da sind? FELICITY: (sich abstrampelnd) Nun. Das würde ganz davon abhängen, wie viele da wären. Wir haben uns überlegt, das alte, japanische Zimmer in eine Art von privatem Wohnzimmer für dich zu verwandeln, sodass du in aller Form und Ruhe ab und an ein Tablett mit hochnehmen kannst. MOXIE: Ich könnte meine Schwester von Zeit zu Zeit auf einen kleinen Snack einladen, nicht wahr, Mylady? FELICITY: Sei nicht wütend, Moxie. Sei bitte nicht wütend. MOXIE: Ich bin nicht wütend, Mylady, wirklich nicht. Und ich begreife, was Sie versuchen. Aber es funktioniert nicht. Es würde nicht funktionieren. FELICITY: Wieso bist du dir da so sicher? MOXIE: Das ist gegen den gesunden Menschenverstand, nicht wahr? Ich weiß, dass es an mir liegt, ich könnte es nicht durchstehen. Sie lassen mich besser gehen. Wie ich bereits gesagt habe. Es gibt keinen anderen Ausweg. PETER: Aber selbst das ist kein Ausweg. Ganz gleich, wo Sie sind, sind Sie überall Lord Marshwoods Schwägerin. MOXIE: Niemand muss das je erfahren. FELICITY: Ich nehme so ein Opfer von dir nicht an, Moxie. Nichts wird mich dazu bringen. Wenn ich das tun würde, würde ich mir niemals verzeihen. MOXIE: Oh, Mylady, steigern Sie sich da nicht rein, davon bekommen Sie nur wieder Kopfschmerzen. PETER: Weigern Sie sich vollkommen den Vorschlag der Mylady in Betracht zu ziehen? Auch als vorübergehende Maßnahme, bis wir uns einen besseren Lageplan machen können? MOXIE: Das würde nichts ändern. Es wäre einfach nicht richtig. CRESTWELL: Also, Dora, hör mal zu...

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MOXIE: (wild) Wenn du nicht wirklich willst, dass ich meine Geduld verliere und mich so richtig blamiere, hältst du besser den Mund! FELICITY: Oh, Moxie. MOXIE: Es tut mir leid, Mylady, aufrichtig leid, aber die ganze Angelegenheit zerreißt mich. Und das ist eine Tatsache. Ich halte das nicht aus. Ich habe drei Nächte lang vor Angst nicht geschlafen und frage mich, was getan werden könnte. Ich will dieses Haus und Sie nicht verlassen, genauso wenig, wie Sie mich gehen lassen wollen. Seit neunzehn Jahren gehöre ich hier hin und es ist zu spät für mich, woanders hinzugehören. FELICITY: Es steht außer Frage, dass du weg gehst, Moxie. Ich möchte, dass du das ganz einfach begreifst. Ein für allemal. MOXIE: Ich muss aber, Mylady. Diese Idee mit der Verstellung, wo ich mich als jemand anders ausgebe, löst gar nichts. Ich bin, was ich bin und es gibt nichts, wofür ich mich schämen müsste. CRESTWELL: Das wissen wir alle, Dora. Es bringt nichts, wenn du dich hineinsteigerst. MOXIE: (hält ihn in Schach) Und wieso sollte ich mich nicht herein steigern? Gott weiß, dass ich genügend Gründe dafür habe. Für dich ist alles in wunderbarster Ordnung, Fred Crestwell, du bist im sicheren Bereich. Du besitzt, was du den philosophischen Überblick nennst und mit dem stopfst du uns, bis er uns allen zur Nase heraus kommt. Dir geht’s gut, vollkommen gut! Nichts haut dich aus deinen Latschen. Ich sage nicht, dass du kein guter Butler bist, wenn man sich mit Butlern auskennt, abgesehen davon, dass du ab und zu ein bisschen schlampig mit dem Silber bist. CRESTWELL: Möge Gott dir das verzeihen, Dora. MOXIE: Nein, ich bin diejenige, die unter der Situation leiden wird, mehr als irgend wer sonst, sogar mehr als Sie, Mylady. Ich weiß, dass es schwierig für Sie ist und Sie in eine peinliche Situation bringt, aber Sie verlieren nicht alles dadurch, nicht wirklich. Aber wenn diese Hochzeit stattfindet, habe ich nichts mehr. Weder meinen Beruf noch meinen Stolz darauf noch das Gefühl, dass ich irgendwohin gehöre. Ich bin bis ans Ende meiner Tage in einer peinlichen Lage. FELICITY: (verzweifelt) Oh, Moxie! MOXIE: (den Tränen nahe) Ich bin immer stolz auf meinen Beruf gewesen und habe ihn so gut ich konnte, ausgeübt. Und jeder, der dafür auf mich herabsieht, kann mir gestohlen bleiben.

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CRESTWELL: (fest) Jetzt hör mal zu, Dora. Hör mal für eine Minute auf, dich zu bemitleiden und benutz deinen Grips. Niemand sieht auf irgendwen herab. Wir wissen alle, dass du eine gute Arbeiterin bist, wir wissen alle, dass du aufgeregt bist und wir wissen alle, wieso. Darüber brauchen wir also nicht zu diskutieren. Wir wissen auch, dass wenn du die Märtyrerin spielst und für immer weg gehst, das nichts löst, aber irgend etwas muss geschehen, und zwar um der Mylady und deinetwillen. Und du musst es tun. Wir haben nicht viel Zeit und müssen rasch eine Entscheidung treffen. MOXIE: (wütend) Red nicht so mit mir! CRESTWELL: Sei mal für einen Moment still. Darf ich einen Vorschlag machen, Mylady? FELICITY: Natürlich dürfen Sie das. Bleib ruhig, Moxie, Crestwell hat recht. (Zu Crestwell.) Wir hören. CRESTWELL: (ergreift das Wort) Gut. Zunächst einmal wird die begleitende Sekretärin aus einem Grund nicht funktionieren. PETER: Aus welchem Grund? CRESTWELL: Es ist nicht gut genug. MOXIE: Oh, Fred... Wie kannst du nur so etwas sagen... CRESTWELL: Wenn Doras Schwester hier ankommt, wird man sie naturgemäß als Teil der Familie empfangen, nicht wahr? FELICITY: Selbstverständlich. CRESTWELL: Dann muss Dora das auch sein. PETER: Ich muss sagen, dass ich Crestwells Überlegung nachvollziehen kann. FELICITY: Ich auch. Aber ich weiß nicht, wie man das nur irgendwie bewerkstelligen kann. CRESTWELL: Einen Augenblick, wenn ich bitten darf, Mylady. FELICITY: Fahren Sie fort, Crestwell. CRESTWELL: Seine Lordschaft sind jetzt seit über vier Monaten fort, nicht wahr? FELICITY: Ja. CRESTWELL: Angenommen, dass während dieser Zeit ein Onkel von Dora in Australien gestorben ist und ihr eine größere Summe Geldes hinterlassen hat. Genug Geld, um ihr für den Rest ihres Lebens ein Einkommen zu sichern? FELICITY: Ja, ich verstehe. Fahren Sie fort.

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CRESTWELL: Da sie aber mit der Familie gefühlsmäßig verbunden ist, wie man vielleicht sagen kann, würde sie Marshwood nicht verlassen wollen, ganz gleich, wie finanziell unabhängig sie wäre, nicht wahr? FELICITY: Ich weiß nicht. Wäre dem so, Moxie? MOXIE: Natürlich wäre dem so, Mylady. CRESTWELL: (triumphierend) Deshalb würde sie hier bleiben, zumnindest für die nächste Zeit, sie würde als persönliche Freundin bleiben und ihre Schwester auf Augenhöhe treffen und nicht als Teil der Angestellten. FELICITY: Ja, das verstehe ich. Aber ich verstehe nicht, wie man das nur überzeugend erklären könnte. PETER: Außer Nigel muss man es niemandem erklären. Du kannst ihn dir, kurz, nachdem er angekommen ist, alleine greifen und ihm von Moxies Onkel erzählen. Du kannst hinzufügen, dass sie hinsichtlich ihrer Vergangenheit als Dienstmädchen sehr sensibel ist und dass er nichts davon erwähnt. FELICITY: Was ist mit den Haylings? PETER: Da kümmere ich mich drum. Ich springe vor dem Abendessen bei ihnen rein und erzähl ihnen ein bisschen von der Wahrheit, aber nicht alles und verpflichte sie zum Schweigen. FELICITY: Glaubst du, dass du das tun kannst, Moxie? MOXIE: Mir gefällt es nicht, Mylady. Irgendwie fühlt es sich nicht richtig an. Mir gefällt es ganz und gar nicht. FELICITY: Mir auch nicht. Aber es ist einen Versuch wert, ob wir es mögen oder nicht. MOXIE: Sind Sie sich sicher Mylady, wirklich sicher. CRESTWELL: Los, Dora, sei nicht so wankelmütig. MOXIE: Sei still, Fred. Ich rede mit der Mylady. (Zu Felicity.) Und was ist mit später, Mylady. FELICITY: Später? MOXIE: Wenn sie verheiratet sind, meine ich. Soll ich dann hier bleiben? Im Haus mit ihr? FELICITY: (hilflos) Ich weiß es nicht. Wir werden das beschließen, wenn die Zeit dafür kommt. Ich werde vermutlich fort gehen und wenn du willst, kannst du natürlich mitkommen.

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MOXIE: Aber nicht als begleitende Sekretärin oder als Freund der Familie oder als Schwägerin ihres Sohnes, ausschließlich als Ihr Dienstmädchen, was ich immer schon war. FELICITY: Sehr wohl, Moxie. Das verspreche ich. MOXIE: Na gut, Mylady. Wenn Sie denken, dass ich das kann, tue ich´s. Ich werde jedenfalls mein Bestes geben. FELICITY: Glaubst du, dass sie dich erkennen wird. MOXIE: Ich weiß nicht. Sie hat mich zwanzig Jahre lang nicht zu Gesichte bekommen. Ich habe mir ein paar Dingen aufgehoben, die ich ihr zu sagen hätte, ob sie mich erkennt oder nicht. Ich kann ihr vergeben, dass sie weggelaufen ist und mich ganz alleine mit Mum zurückgelassen hat, aber ich kann ihr nicht vergeben, dass sie zurück kommt und ihre Nase wo rein steckt, wo sie nicht hin gehört. PETER: Hasst du sie, Moxie? MOXIE: Natürlich nicht. Das ist sie nicht wert. Sie war immer schon affektiert und nach dem hinterher, was sie kriegen konnte. Wenn jemals ein Mädchen den Hosenboden versohlt bekommen musste, dann sie. PETER: Da könnten wir uns nach dem Abendessen drum kümmern. FELICITY: Tsch, Peter! - Du trägst besser heute Abend meine Haute Couture. Andere Kleidungsstücke besprechen wir am Morgen. MOXIE: Ich bringe Ihnen gleich in einer halben Stunde schon Ihren Tee. FELICITY: Ich glaube, Peter hat einige Ideen zu deinen Haaren. Du hörst dir besser an, was er sagt. Er ist darin ziemlich gut. MOXIE: Sehr wohl, Mylady. (Zu Peter.) Vielen Dank, Sir. FELICITY: Ich denke, Moxie sollte besser das Chintz-Zimmer haben, Crestwell. Sie kümmern sich darum, dass ihre Sachen umplatziert werden, ja? CRESTWELL: Sehr wohl, Mylady. Ich nehme an, dass wir, wenn ich das so sagen darf, durch sind? FELICITY: Das sind wir. Geräusch eines herannahenden Autos und überschwängliches Hupen sind zu hören. FELICITY: Los, Moxie! Großer Gott, sie kommen an! Los, Moxie – rasch! MOXIE: (kichert) Oh, Mylady. Ich glaube, ich kann das nicht... Ich glaube wirklich nicht!

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Sie geht zu Felicity, die ihre Hand nimmt. FELICITY: Kopf hoch, Moxie! MOXIE: (richtet sich plötzlich auf und spricht mit einer anderen Stimme) Crestwell, sagen Sie Alice, dass sie mir ein Bad einlaufen lassen soll, bitte? CRESTWELL: (unterwürfig) Sehr wohl, Mrs. Moxton. MOXIE: Und wo Sie schon mal dabei sind, können Sie etwas gegen das Grinsen in Ihrem Gesicht tun! Rauscht an ihm vorbei aus dem Zimmer. VORHANG

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ZWEITER AKT

Erste Szene Ungefähr zwei Stunden sind zu der vorhergehenden Szene vergangen. Felicity und Nigel sind alleine im Zimmer. Sie sind beide für das Abendessen angezogen. Nigel ist fünfunddreißig oder sechsunddreißig. Er sieht gut aus und besitzt Charme. Vielleicht hat er eine leichte Schwäche an sich, etwas leicht Verdrießliches, aber man spürt, dass er im Großen und Ganzen ein angenehmer Zeitgenosse ist. Im Augenblick ist er jedoch leicht verärgert. NIGEL: Aber ich verstehe das immer noch nicht ganz, Mutter. FELICITY: Ich dachte, es wäre einfach genug. NIGEL: Wie du weißt, mag ich Moxie. Das war schon immer so. Aber ich kann nicht umhin, so zu empfinden, dass mir diese plötzliche Transformation ein wenig drastisch vorkommt. FELICITY: Das ist ihre Art, ein neues Leben zu beginnen, weißt du – wie Leute, die plötzlich nach Rhodesien gehen. NIGEL: Es wäre deutlich weniger schwierig, wenn sie nach Rhodesien gegangen wäre. FELICITY: Für mich nicht, mein Lieber. Große, weite Ebenen sind nichts für mich. Von ihnen bekomme ich das genaue Gegenteil von dem, was man „klaustrophobisch“ nennt. NIGEL: Ist es absolut notwendig für dich, dort hinzugehen, wo sie hin geht. Willst du dich für den Rest deines Lebens neben sie einspannen? FELICITY: Unbedingt. Ich bin ihr zugetan, und sie ist mir zugetan. NIGEL: Aber wenn sie finanziell unabhängig und nicht mehr dein Dienstmädchen ist, dann kannst du nicht erwarten, dass sie dir alles Mögliche nachträgt und sich um dich kümmert. FELICITY: Moxie würde damit fortfahren, sich um mich zu kümmern, wenn sie Millionärin wäre. NIGEL: Wenn du mich fragst, ist die ganze Angelegenheit absurd. Du möchtest doch wohl nicht als Exzentrikerin gelten, oder? FELICITY: Das wäre mir egal. Exzentrikern geht es gut. Sieh dir nur die alte Maud Nethersole an, sie grinst vom Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang wie ein Honigkuchenpferd. NIGEL: Die alte Maud Nethersole ist nicht exzentrisch, sie hat einfach nicht alle Tassen im Schrank.

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FELICITY: Ich verstehe trotzdem nicht, was du für ein Theater machst. Moxie ist seit Jahren bei uns, sie ist Teil der Familie. Warum sollte sie nicht mit uns essen und uns bei unseren Vornamen ansprechen? NIGEL: Warum sie das nicht sollte? Also, wirklich, Mutter! FELICITY: Nenn mir einen ernsthaften Grund. NIGEL: Erst einmal ist es unpassend. Außerdem ist es extrem peinlich. Das musst du doch einsehen. FELICITY: Sylvia Fowler spricht uns mit Vornamen an, ehrlich gesagt befeuert sie uns sogar damit. NIGEL: Das ist was Anderes. Sie ist die Frau von Jack Fowler und wir kennen ihn unser ganzes Leben lang. FELICITY: Sie hat bei Selfridges manikürt. NIGEL: Harrods. FELICITY: Jedenfalls ist sie eine grauenvolle, halslose Person und hat mit uns nichts zu tun. NIGEL: Und wenn ihr Kopf zwischen ihren Schultern versunken wäre, spielt sie in all dem hier gerade keine Rolle. FELICITY: Oh ja, und ob. Es spielt eine Rolle. Wieso solltest du ein Augenhöhegespräch mit einer vulgären Person mit schriller Stimme und ohne Hals akzeptieren und die Nase über die liebe, gute Moxie rümpfen, die uns die besten Jahre ihres Lebens geschenkt hat. NIGEL: Ich rümpfe nicht meine Nase über sie, aber nichtsdestotrotz denke ich, dass sie sich selbst und wir uns nicht wohl dabei fühlen würden, wenn sie den ganzen Tag im Haus herum lümmeln würde und trockene Martinis kippt. FELICITY: Bei dir hört sich das Haus deiner Ahnen wie eine Spelunke an. NIGEL: Was wird Tante Rose dazu sagen? FELICITY: Tante Rose ist zu sehr darüber aufgebracht, dass du einen Filmstar heiratest, als dass sie sich Sorgen um Moxie macht. NIGEL: Wie kann sie es wagen, aufgebracht zu sein? Es geht sie rein gar nichts an an. FELICITY: Genauso wenig wie das jetzt hier. NIGEL: Miranda ist eine der wunderbarsten Personen auf der Welt. Sie hat Millionen von Menschen Träume und Glück geschenkt.

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FELICITY: Mit der ganz offensichtlichen Ausnahme von Tante Rose. NIGEL: Zur Hölle mit Tante Rose! FELICITY: Tust du, worum ich dich bitte? In Bezug auf Moxie, meine ich? NIGEL: Ich gehe davon aus. Aber ich finde es nicht gut und werde es auch niemals gut finden. FELICITY: Und du versprichst mir, es niemandem zu sagen. Noch nicht einmal Miranda? NIGEL: Wie kannst du nur so dumm sein, Mutter? Früher oder später wird jeder es heraus bekommen. FELICITY: Versprichst du es mir? NIGEL: Wenn du darauf bestehst. FELICITY: Ich bestehe darauf. Es ist sehr wichtig. NIGEL: Na gut. Ich verspreche es. FELICITY: Es wird auch nicht für lange sein. Wir gehen bald fort. NIGEL: Warum solltest du das? FELICITY: Weil das dein zu Hause ist, mein Lieber, und ich gehe davon aus, dass du und Miranda darin leben wollt. NIGEL: Es ist auch dein zu Hause. FELICITY: Nur für die Zeit, in der du ungebunden bist, mein Lieber. Schwiegermütter können entsetzlich ermüdend sein. Es wäre Miranda gegenüber nicht fair. NIGEL: Du bist mit Joan gut zurecht gekommen. FELICITY: Mit Joan zurecht zu kommen, war die spektakulärste Leistung meines ganzen Lebens. Mein Nervensystem hat sich nie ganz davon erholt. NIGEL: (sich erinnernd) Die gute, alte Joan. Mein Gott, war sie über die Maßen dröge, stimmt´s? Ich begreife nicht, wieso ich sie je geheiratet habe. FELICITY: Diese Frage habe ich mir auch manchmal gestellt, besonders, wenn sie Klavier spielte. NIGEL: Es hörte sich an, als würde sie alles mit dem großen Daumen spielen. Aber – na gut - so schlecht war sie auch wieder nicht. FELICITY: Wir mussten es nach der Scheidung neu stimmen lassen.

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NIGEL: Magst du Miranda, Mutter? Wirklich? FELICITY: Ich konnte mit ihr nur ein paar Worte wechseln und dann sagte sie bereits, dass sie sich schlafen legen wollte. NIGEL: Sie war von der Fahrt hierher erschöpft. Sie hält immer einen Nachmittagsschlaf. FELICITY: Sehr apart! NIGEL: (eindringlich) Glaubst du, dass du sie mögen wirst? FELICITY: Das hoffe ich, mein Lieber. Sie schien sehr charmant. Aber natürlich fehlen ihr die Augenbrauen. NIGEL: Du scheinst dich heute Abend in deinem Geist mit anatomischen Defekten zu beschäftigen. FELICITY: Ich habe ja nicht gesagt, dass es ein Defekt sei. Ich habe nur gesagt, dass sie keine Augenbrauen hat. NIGEL: Sie ist ein ganz einfacher Mensch und total süß, weißt du? Ganz das Gegenteil von dem, was man denkt, wenn man sie von der Leinwand kennt. FELICITY: Ich habe sie nur als Schwester im Krankenhaus, Gangsterbraut, Nonne und Katharina die Große gesehen. Es ist also schwierig, sich eine klar umrissene Meinung zu bilden. NIGEL: Ich bin sehr in sie verliebt. FELICITY: Dessen bin ich sicher, mein Lieber. NIGEL: Ich nehme an, es war ein großer Schock für dich, nicht wahr? FELICITY: Ich denke, dass es etwas mitfühlender gewesen wäre, wenn du etwas vorgespürt hättest. NIGEL: Es geschah alles so schnell. FELICITY: Was, mein Lieber? NIGEL: Nun ja. Sie zu treffen und sich in sie zu verlieben und um ihre Hand anzuhalten. Es war außergewöhnlich. Wirklich. Wie ein Blitzschlag. FELICITY: Daran muss sie ja gewöhnt sein - wo sie so viel fotografiert wird, meine ich. NIGEL: Es passierte alles am Cap d´Antibes. Auf einmal waren wir allein auf einem Floß... FELICITY: Wie die Kon Tiki Expedition.

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NIGEL: Und wir wussten beide irgendwie – auf den ersten Blick -, dass wir füreinander geschaffen sind. FELICITY: Du hast dich da offenbar von nichts aufhalten lassen. NIGEL: Ich nehme an, dass diese ganze angestrengte Flapsigkeit nur kaschieren soll, was du wirklich fühlst. FELICITY: Ich weiß noch nicht, was ich wirklich fühle. Ich hatte noch keine Zeit, es herauszufinden. NIGEL: Du bist ihr gegenüber voreingenommen. Das ist jedenfalls sehr offensichtlich. FELICITY: Was soll ich denn sein? NIGEL: Ein bisschen mitfühlender. Ich weiß, es kommt alles sehr plötzlich, aber du solltest ein bisschen mehr Vertrauen in meinen Geschmack und mein Urteilsvermögen haben. FELICITY: Seit du achtzehn Jahre alt bist, mein Lieber, ist dein Liebesleben ein bisschen zu unberechenbar gewesen. Dein Geschmack und dein Urteilsvermögen haben mich nicht sonderlich vertrauensvoll inspiriert. NIGEL: Das ist nicht der Fehler von Miranda. Du kennst sie noch nicht. Du könntest ihr wenigstens mit einem Schuss Selbstzweifel begegnen. FELICITY: (süß) Das tue ich, mein Lieber. Ich komme ihr mit großem Zweifel entgegen. NIGEL: Jedenfalls kann ich nur dazu sagen, dass es verdammt unfair von dir ist. FELICITY: (fest) Red keinen Unsinn, Nigel. Ich bin nicht im geringsten unfair. Als deine Mutter ist es nur normal, dass ich gegen die Idee voreingenommen bin, dass Miranda Frayle meine Schwiegertochter wird. Ich weiß rein gar nichts von ihren persönlichen Gewohnheiten, abgesehen von der Tatsache, dass sie jeden Nachmittag schläft und schwimmen kann. NIGEL: Sie ist eine bemerkenswerte Person. Sie ist ehrlich und unaffektiert und sie hat darauf geachtet, dass ihr Erfolg sie nicht verdirbt. Sie hasst Aufgesetztheit und Ausgestelltes, sie liebt gewöhnliche, einfache Dinge, einfache Dinge, wie auf dem Land zu leben und zu nähen und zu lesen. Außerdem mag sie Kinder. FELICITY: Hat sie jemals welche gehabt? NIGEL: Nein. Aber darum geht’s nicht. FELICITY: Sie ist vorher noch nicht verheiratet gewesen, oder? NIGEL: Doch. Mit jemandem namens Greenberg. Er hat sich ihr gegenüber sehr fies verhalten.

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FELICITY: In welcher Hinsicht? NIGEL: In jeder. Er war grausam und fuhr einfach weg und hat sie wochenlang allein gelassen. FELICITY: Dadurch hatte sie wenigstens die Gelegenheit, sich im Nähen und Lesen zu perfektionieren. NIGEL: Es ist ganz offensichtlich, dass du dich ihr gegenüber verhärtet hast. Deshalb sage ich nichts mehr. FELICITY: (nach einer kurzen Pause) Ich habe in der Zeitung gelesen, dass Mr. Don Lucas in England gelandet ist. NIGEL: Worauf willst du jetzt hinaus, Mutter? FELICITY: Könnte das für Miranda nicht ein bisschen ärgerlich sein? NIGEL: Glaubst du, ich weiß nichts von Don Lucas und Miranda? FELICITY: Nein, mein Lieber. Ihre aufwühlende Beziehung fällt wohl unter die Rubrik Allgemeinbildung. Ich habe mir nur gedacht, dass es etwas unglücklich ist, dass er gerade jetzt ankommt. Schließlich geht die Welt davon aus, dass sie die Liebe seines Lebens ist. NIGEL: Wie ich dir schon bereits gesagt habe, Mutter, Miranda ist vollkommen ehrlich. Sie hat nie versucht, irgend etwas vor mir zu verheimlichen. Ich weiß alles über ihre Liebesgeschichte mit Don Lucas. Damit war vor Ewigkeiten Schluss, drei Viertel davon ist sowieso nur Publicity des Studios gewesen. FELICITY: Das freut mich, Liebling. NIGEL: Es ist nicht sonderlich weise, das zu glauben, was in der Zeitung steht. FELICITY: Ich weiß. Das sagen alle, aber irgendwie tut man es trotzdem. NIGEL: Die Werbeagenten in den Studios sind vollkommen skrupellos. Ihr Job besteht darin, dass die Stars unter allen Umständen im Gespräch sind. Miranda und Don Lucas waren Co-Stars in drei Filmen. Das hat schon ausgereicht, um alles in Bewegung zu setzen. FELICITY: Ich kann mich an ihn in dem Film über die Nonne erinnern. Er war sehr gut. NIGEL: Er ist ein schrecklicher Trinker, weißt du? FELICITY: Das ist ja furchtbar für sie. Wann beabsichtigt ihr zu heiraten? NIGEL: So bald wie möglich. FELICITY: Ich verstehe. Hat Sie Familie? Verwandte?

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NIGEL: Ihre Mutter starb, als sie achtzehn war. Das hat sie sehr mitgenommen. Das ist einer der Gründe gewesen, warum sie nach Amerika ist. FELICITY: Was waren die anderen? NIGEL: Sie musste Geld verdienen. Sie war professionelle Tänzerin. FELICITY: Standard oder Akrobatik? NIGEL: Das weiß ich nicht, Mutter. Ist das von Bedeutung? FELICITY: Natürlich ist das nicht von Bedeutung. Es wäre egal, wenn sie ihre jungen Jahre kopfüber an einem Trapez verbracht hätte. Ich bin nur begierig darauf, so viel wie möglich über ihren Hintergrund herauszufinden. Hat sie Geschwister? NIGEL: (widerstrebend) Ich glaube, es gab eine Schwester. Sie war ein ganzes Stück älter als sie. Miranda redet nicht gern über sie. FELICITY: Wieso nicht? NIGEL: Sie landete offensichtlich in der Gosse. FELICITY: Generell oder auf eine spezifische Art und Weise? NIGEL: Das weiß ich nicht. Alles, was ich weiß, ist, das die arme Miranda ihr geholfen hat, wo sie nur konnte. FELICITY: Wie? NIGEL: Oh, sie hat ihr ständig Geld geschickt, aber es hatte keinen Zweck, sie hat alles nur für Alkohol ausgegeben. FELICITY: Die arme Miranda. Es scheint, dass sie von Ausschweifungen heimgesucht wird, nicht wahr? Lebt die Schwester noch? NIGEL: Nein. Ich glaube nicht. FELICITY: Gut. Sie hätte auf der Hochzeit auftauchen und alle mit Flaschen beschmeißen können. NIGEL: Miranda hat nicht gerade ein leichtes Leben geführt. Ich nehme an, dass sie deshalb davon fort und zur Ruhe kommen will. FELICITY: Das verstehe ich. Der englische Adel hat sich oft als angenehmer Unterschlupf für die Leidtragenden der Welt erwiesen. NIGEL: Jetzt bist du sarkastisch. FELICITY: Es scheint mir, heute Abend alles zu verrutschen. Es ist sehr frustrierend.

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NIGEL: Wieso hat Crestwell die Cocktails noch nicht hereingebracht? FELICITY: Ich läute. (Sie tut es.) Wir sind im Augenblick leicht unterbesetzt. May hat Gürtelrose, weißt du? NIGEL: Großer Gott! Ist das ansteckend? FELICITY: Ich denke nicht. Aber du hattest doch sowieso nicht vor, viel Zeit mit ihr zu verbringen, oder? Peter tritt ein. Er trägt ein Dinner-Jackett. PETER: Bei den Sträuchern sind zwei Pfadfinderinnen. Ich habe sie vom Fenster aus gesehen. FELICITY: Was haben sie gemacht? PETER: Sie haben nichts gemacht. Sie waren einfach nur da. NIGEL: Wenn sie Autogrammjägerinnen sind, müssen wir sie wegschicken. Miranda wird von Autogrammjägern in den Wahnsinn getrieben. FELICITY: Die Arme. Crestwell tritt mit einem Tablett mit Cocktailingredienzien auf. Ihm folgt Alice mit einem Eiskübel. FELICITY: Ganz offensichtlich sind ein paar Pfadfinderinnen im Gebüsch, Crestwell. CRESTWELL: Ich weiß, Mylady. Sie hängen den ganzen Nachmittag schon da rum. Ich denke, eine von ihnen ist die kleine Tochter der Mumbys. NIGEL: Schicken Sie sie fort, ganz gleich, wer sie sind. FELICITY: Wenn es Elsie Mumby ist, können wir sie unmöglich wegschicken. Danach würde sich das ganze Dorf gegen uns bewaffnen. NIGEL: Wieso? FELICITY: Sie hat ihren kleinen Bruder aus einem Brunnen gezogen. Sie ist eine lokale Heldin. CRESTWELL: Setz den Eiskübel ab, Alice, und sieh nach, was sie wollen. ALICE: Sie wollen ein Autogramm von Miss Frayle, Mr. Crestwell. Miss Luton aus dem Postamt hätte auch gern eins. Sie hat Billy mit seinem Fahrrad hierher geschickt. CRESTWELL: Sammle ihre Alben ein, Alice, und sag ihnen, sie sollen morgen früh wieder danach fragen.

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ALICE: Ja, Mr. Crestwell. CRESTWELL: Und steh nicht mit ihnen da und kichere rum. ALICE: Nein, Mr. Crestwell. Sie tritt ab. FELICITY: Danke, Crestwell. Ich gehe davon aus, dass wir mit derlei Angelegenheiten eine Menge zu tun haben werden. CRESTWELL: Da gibt es auch noch die Reporter von der Presse, Mylady. Ich bräuchte Anweisungen, was ich ihnen sagen soll. NIGEL: Werden Sie sie los! CRESTWELL: Der junge Willis von der Kentish Times ist äußerst penetrant gewesen, Euer Lordschaft. Er hat sieben Mal angerufen und ist zweimal vor der Tür gestanden. NIGEL: Sagen Sie ihm, er soll zur Hölle fahren! FELICITY: Sei nicht dumm, Nigel. Wir können unmöglich zu dem Sohn der alten Mrs. Willis sagen, dass er zur Hölle fahren soll. Sie ist eine meiner treuesten Unterstützerinnen des Cottage Hospital Komitees, und sie hat die ganzen Matten aus Wolle für den Solidaritätsverkauf gemacht. CRESTWELL: Wenn Sie, Mylord, morgen vielleicht kurz Zeit hätten und ihn Miss Miranda Frayle vorstellen würden. Es bedeutet sehr viel für ihn. Er ist sehr ehrgeizig und verdient Ermutigung. NIGEL: Einer der Gründe, warum ich Miss Frayle hierher gebracht habe, war, sie vor der Presse und den Autogrammjägern und der ganzen anderen Brut, die ihr in ihrem Leben zusetzen, zu beschützen. FELICITY: (fest) Du musst den jungen Willis treffen, Nigel, und sie auch. Er war während der Wahl einfach ganz toll und gibt uns für das Gemeindefest jedes Jahr eine halbe Seite. (Zu Crestwell.) Sagen Sie dem jungen Willis, dass er mich morgen früh sprechen soll. CRESTWELL: Sehr wohl, Mylady. Er tritt ab. NIGEL: Wirklich, Mutter. Meiner Meinung nach handelst du sehr rücksichtslos. FELICITY: Unsinn, mein Guter. Wenn Miranda sich dazu entschlossen hat und in einem kleinen, englischen Dorf leben will, muss sie sich auf Öffentlichkeit einstellen. Machst du die Cocktails oder soll ich?

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PETER: Mach du sie bitte, Nigel. Felicity tut nie genug Gin rein. NIGEL: In Ordnung. Martini für alle? FELICITY: Ja, bitte, mein Lieber. PETER: Es ist schon ein sehr festlicher Anlass, nicht wahr? Wenn man alles bedenkt. Miranda tritt auf. Ihre Erscheinung ist tadellos. Sie trägt ein einfaches Abendkleid, ihr Schmuck ist dezent, und sie hat eine große Chintz Arbeitstasche bei sich. FELICITY: Ah, da bist du ja, Miranda. Ich hoffe, du hast wohl geruht. MIRANDA: (einfach) Ich bin in einer Welt eingeschlafen und in einer anderen aufgewacht. FELICITY: Wie verwirrend. MIRANDA: Nach der Fahrt war ich müde und gereizt und auch nervös, Sie und Nigels Freunde zu treffen. Und ich habe mich gefragt, was Sie alle von mir denken würden. Aber als ich aufwachte, war alles anders. Seit Wochen habe ich mich das erste Mal leicht und friedlich gefühlt. Vielleicht lag es an dem Zimmer. Was für ein wunderbares, wunderbares Zimmer. Spukt es darin? FELICITY: Das hängt ganz davon ab, wer drin wohnt. PETER: Als Judy Lavenham darin gewohnt hat, lief es unter dem Namen Victoria Station. NIGEL: (von dem Tisch mit den Getränken) Halt die Klappe, Peter. FELICITY: Komm und setz dich, meine Gute. MIRANDA: (macht es sich auf dem Sofa bequem) Ich habe mir Arbeit mitgebracht. Ich hoffe, das macht niemandem was aus. FELICITY: Nicht im geringsten. Warum sollte es uns stören? NIGEL: Martini, Liebling? MIRANDA: Nein, danke, mein Lieber. Ich möchte etwas Alkoholfreies, wenn es das gibt. NIGEL: Zitronensaft mit ein bisschen Sodawasser? MIRANDA: Perfekt. (Zu Felicity.) Ich will völlig bei Verstand bleiben und jeden Eindruck auf mich wirken lassen. Sie verstehen schon, was ich meine, nicht wahr? Ich möchte, dass die Atmosphäre mich sozusagen überwältigt. NIGEL: Peter, hilf mir.

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Peter und Nigel geben die Getränke aus. FELICITY: Ich habe mir gedacht, dass du nicht viele fremde Menschen an deinem ersten Abend hier draußen treffen wolltest, deshalb sind – abgesehen von uns – nur Admiral und Lady Hayling zum Abendessen da. Sie sind sehr alte Freunde und unsere nächsten Nachbarn. MIRANDA: Ist sonst noch jemand im Haus? FELICITY: Nur Peter und... und Moxie. (Sie stiert zu Nigel hin.) MIRANDA: (nippt an ihrem Getränk) Ist das ein Spitzname? FELICITY: Ja, ich glaube ja. Ihr Name ist Mrs. Moxton. Wir kennen sie seit so vielen Jahren, dass sie praktisch Teil der Familie ist. MIRANDA: Ich hoffe, ich finde ihre Zustimmung. NIGEL: (leicht irritiert über Mirandas Bescheidenheit) Warum um alles in der Welt sollte sie dir die verweigern? MIRANDA: Man kann davon ausgehen, dass Freunde der Familie Eindringlinge mehr abstoßen als die Familie selbst. In dem Augenblick tritt Moxie auf. Sie ist in einem einfachen dunkelblauen Abendkleid gekleidet. Ihr Haar ist ansprechend zurecht gemacht. Sie trägt zwei Perlenketten und ein offensichtlich teures Armband am rechten Handgelenk. Außerdem hat sie eine große Hornbrille auf. Sie geht zu Felicity. MOXIE: Ich hoffe, ich bin nicht zu spät? FELICITY: Natürlich nicht, Moxie, meine Liebe. NIGEL: (angestrengt) Hallo, Moxie. MOXIE: Willkommen zu Hause, mein... mein Gott! Sie sehen wirklich gut aus. FELICITY: (eilig) Miss Miranda Frayle – Mrs. Moxton. MIRANDA: (mädchenhaft) Sehr erfreut. Ich habe so viel über Sie gehört. Ich hoffe wirklich, dass wir Freundinnen sein werden. MOXIE: Mir ist, als würde ich Sie schon gut kennen, Miss Frayle. MIRANDA: (mit impulsivem Charme) Wollen Sie mich nicht Miranda nennen? MOXIE: Sicher. Das wäre mir ein Vergnügen.

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MIRANDA: (ernsthaft) Vielen Dank. Vielen, lieben Dank. Ich weiß, wie schwierig das für Sie sein muss, für Sie alle. Schließlich wissen Sie alle nicht, wie ich wirklich bin. Sie müssen nach dem Äußeren urteilen. Und Äußerlichkeiten können täuschen, nicht wahr? FELICITY: Ja, glücklicherweise. Denk nur, wie unangenehm das wäre, wenn wir alles auf den ersten Blick über den anderen wissen würden. MOXIE: Das ist ein großer Moment. Ich bin einer Ihrer glühendsten Verehrerinnen. MIRANDA: (liebenswürdig) Vielen Dank. MOXIE: Sei ein Schatz, Peter, und mach mir einen Drink. Ich vergehe vor Durst. NIGEL: (zuckt zusammen, aber fängt sich wieder) Du setzt alles am besten neu auf, Peter. In dem Shaker ist jetzt nur noch Eiswasser. Ich nehme an, dass du einen Martini willst, Moxie? MOXIE: Ja, bitte, mein... mein Lieber. MIRANDA: (pompös, setzt sich ihre Brille auf und wühlt in ihrer Arbeitstasche) Sie haben ja keine Ahnung, wie wunderbar das ist, zu entspannen, meine alte Brille aufzusetzen und sich keinen Kopf zu machen, wie ich aussehe. NIGEL: Ehrlich gesagt, steht sie dir ausgesprochen gut. MIRANDA: (bläst ihm einen Kuss zu) Danke, mein Süßer. PETER: (während Miranda einen Stickrahmen aus ihrer Tasche holt und ihn genau prüft) Sind Sie eine fleißige Stickerin, Miss Frayle? MIRANDA: Ja. Das bin ich immer schon gewesen. Von Kindesbeinen an. Ich musste bei uns zu Hause das meiste Nähen und Stopfen erledigen. Wir waren entsetzlich arm, müssen Sie wissen. Ich erinnere mich, dass Mutter mich von der Straße vom Spielen rief, um Strümpfe zu stopfen oder um einen Saum an etwas zu setzen. Wir konnten uns keine Nähmaschine leisten. MOXIE: Sie haben auf der Straße gespielt? MIRANDA: (mit einem kleinen, fröhlichen Lachen) Oh ja. Ich war ein ganz gewöhnliches, kleines Gossenkind. Eine meiner ältesten Erinnerungen ist, wie ich ein Puppenhaus aus einem alten Pappkarton gebastelt habe, den ich im Mülleimer fand. MOXIE: Wo haben Sie gelebt? MIRANDA: Ach, es war wirklich ein schreckliches Slum. Nicht weit weg von der Brixton High Street. MOXIE: (mit eiserner Kontrolle) Ein schreckliches Slum?

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MIRANDA: (sich erinnernd) Oh ja. Ich sehe es vor mir, wie sonntagabends immer diese Masse Menschen herumlief und die ganzen Lichter. Ich bin immer los und habe für Mutter ihr Bier aus der Kneipe geholt und habe es in einem Krug nach Hause gebracht. Eines Abends war da ein Leierkasten und ich habe zu ihm getanzt... MOXIE: Wie alt waren Sie? MIRANDA: Oh, ich nehme an, so ungefähr fünf. MOXIE: Sie haben vor einer Kneipe zu einem Leierkasten getanzt, als sie fünf waren? MIRANDA: (mit einem wehmütigen Lächeln) So habe ich ehrlich gesagt das Tanzen gelernt... (Sie bricht ab.) Ich hoffe, dass diese schmutzigen Enthüllungen über meine Kindheit Sie nicht schockieren? NIGEL: Mach dich nicht lächerlich, Liebling. Natürlich tun sie das nicht. FELICITY: Ich finde sie im Gegenteil absolut faszinierend. Wie geht’s dir damit, Moxie? MOXIE: Ganz genauso. MIRANDA: Ich bin in der Gosse geboren. In Reichweite des Bow Bells. Ich bin mit Cockney Akzent aufgewachsen und stolz darauf. FELICITY: Das musst du ganz gewiss sein. Es ist bestimmt wunderbar. MIRANDA: Gestern – das habe ich noch nicht einmal Nigel erzählt – habe ich mir alte Sachen angezogen, mich verschleiert und bin mit einer Straßenbahn nach Brixton gefahren – ganz allein. MOXIE: Wie sah´s aus? Das Slum? MIRANDA: Sehr verändert. Zwanzig Jahre sind eine lange Zeit. Aber das Haus war noch da. Es hat mir einen ordentlichen Stich versetzt, das Fenster von Mutters Zimmer zu sehen, dort, wo sie gestorben ist. MOXIE: Ich gehe davon aus, dass Sie sie aufopferungsvoll gepflegt haben, nicht wahr? MIRANDA: (einfach) Ich habe mein Bestes gegeben. Aber es war nicht viel. PETER: Und Sie waren ganz alleine? Es gab keinen Vater, keine Geschwister? MIRANDA: Mein Vater starb, kurz nachdem ich geboren wurde. Ich hatte eine Schwester. Sie war ein ganzes Stück älter als ich. Die arme, alte Dora. PETER: Wieso? Was war mit ihr?

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MIRANDA: Oh, was eben mit Menschen passiert, wenn sie sich vom Leben klein kriegen lassen. FELICITY: In welcher Hinsicht hat das Leben sie klein gekriegt? MIRANDA: In jeder ehrlich gesagt. Verstehen Sie, sie war die Pechmarie. Ich die Goldmarie. Ich hatte immer schon Haltung. Tief in mir drinnen wusste ich immer schon, dass ich weiterkommen würde, ich mich aus dem Morast ziehen, der Armut und dem Dreck meiner Umgebung entfliehen würde. Ich nehme an, dass ich mit dem Willen zum Erfolg geboren wurde. Das ist so unfair, nicht wahr? Ich meine, dass es einigen Leuten von Anfang an so geht und anderen nicht. Deshalb hat Dora mich wohl gehasst. Weil ich so viel hatte und sie so wenig. PETER: War sie grausam zu Ihnen? MIRANDA: Oh nein. Nicht gerade grausam, sie hat mich einfach nicht verstanden. PETER: Sie hat sie nie wirklich schlecht behandelt? Sie hat Sie nie geschlagen oder herum geschubst? MIRANA: Nie – solange sie nüchtern war. MOXIE: (fest) Ich glaube, ich möchte noch einen Martini, bitte. PETER: (nimmt ihr Glas) Ich denke, wir wollen alle welchen. (Er geht zu dem Tisch mit den Getränken.) FELICITY: Du hast uns noch nicht gesagt, was aus ihr geworden ist. Lebt sie noch? MIRANDA: Nein. Sie ist vor ein paar Jahren gestorben. Die Nachricht hat mich ziemlich kalt erwischt. Ich hatte seit Jahren nichts von ihr gehört. Ich habe ihr ab und zu ein bisschen zukommen lassen, wissen Sie, nur um ihr unter die Arme zu greifen und Essenspakete geschickt, so Zeugs halt, aber sie hat nie Dankbarkeit gezeigt. Ich nehme an, dass das bisschen Geld alles für Alkohol drauf ging. PETER: Vermutlich hat sie die Essenspakete als Löschpapier benutzt. MIRANDA: Als ich dann hörte, dass sie gestorben sei, in schrecklich schmutzigen Umständen, hat es mich mehr mitgenommen, als ich das je für möglich gehalten hätte. Ich musste nach Palm Springs reisen, um wieder Herr meiner Sinne zu werden. FELICITY: Palm Springs hört sich göttlich an, nicht wahr? Nahezu biblisch.

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MIRANDA: Verstehen Sie, ich habe plötzlich begriffen, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben gescheitert war, entsetzlich gescheitert. Ich fühlte mich schuldig und beschämt, als wenn es mein Fehler wäre, meine Verantwortung. Ich nehme an, dass es das nicht wirklich gewesen ist, aber Sie wissen, wie kindisch man in Bezug auf solche Dinge sein kann. FELICITY: Ja, das verstehe ich. Meine beiden Schwestern sind ziemlich starke Trinkerinnen. Natürlich leben sie beide noch, aber wann immer ein Telegramm ins Haus kommt, sage ich mir selbst: „Caroline hat es jetzt übertrieben.“ Oder: „Jetzt hat´s Sarah erwischt.“ PETER: Dein Drink, Moxie. Felicity? FELICITY: (nimmt einen Cocktail) Er sieht sehr schwach aus, mein Lieber. Der Wermut ist schließlich dafür da, dass man ihn benutzt, weißt du? PETER: (freundschaftlich zu Miranda) Ich finde, dass es nur recht ist, wenn man Sie vor Ihrer zukünftigen Schwiegermutter warnt. Sie ist bekannt für ihre Gemeinheiten hinsichtlich Nebensächlichkeiten. FELICITY: Ich würde Gin nicht gerade eine Nebensächlichkeit nennen. PETER: Dafür ist sie bei den wesentlichen Dingen wahnsinnig großzügig. Sie würde Ihnen ihr letztes Hemd geben, nicht wahr, Moxie? MOXIE: Natürlich würde sie das, Mr. - Mr. - Mr. Bagshot hat das erst kürzlich gesagt. PETER: (bösartig) Wer ist Mr. Bagshot? FELICITY: (eilt zu Hilfe) Mr. Bagshot ist der neue Vikar, Peter. NIGEL: Neue Vikar? Was ist mit Eustace Parker geschehen? Ist er fort? FELICITY: Ja, mein Lieber. Er ist verhaftet worden. NIGEL: Davon hast du gar nichts in deinen Briefen erwähnt. FELICITY: Ich konnte nicht, mein Lieber. Bestimmte Sachen kann man nicht in Briefen schreiben. NIGEL: Aber er war doch so ein sanfter, friedlicher Kerl. Was um alles in der Welt hat er getan? FELICITY: Uns fehlen die Beweise, dass er wirklich etwas getan hat. Es... es war einfach nur eine von diesen Sachen. NIGEL: Was für Sachen? PETER: Verrückte Sachen.

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FELICITY: Das erzähle ich dir später, Nigel. Ich möchte wirklich nicht gern weiter darüber reden. Miranda, meine Liebe, es ist doch jetzt bestimmt an der Zeit, dass du einen richtigen Drink willst? Die Limonade sieht so erbärmlich aus. MIRANDA: Nein, vielen Dank. Ich trinke selten, wissen Sie? Komischerweise habe ich in Hollywood gelernt, nicht zu trinken. Man wird dann so vertraut mit der Selbstdisziplin. PETER: Ich hoffe für uns alle, für die ganze Welt, dass Sie nicht beschlossen haben, es mit dem Schauspielen ganz sein zu lassen. MIRANDA: Ich fürchte, das habe ich. (Sie lächelt Nigel an.) Ich denke, mit Pete verheiratet zu sein, wird ein 24-Stunden-Job. FELICITY: Pete? MIRANDA: (mit einem Lachen) Oh Gott, es ist mir so rausgerutscht. Ich nenne ihn immer Pete. Es ist eine dumme Angewohnheit. Er nennt mich manchmal auch Pete. FELICITY: Bringt einen das nicht durcheinander? MIRANDA: (zu Nigel) Es gelingt uns schon, dass wir uns verständigen, stimmt´s, Liebling? NIGEL: Es ist Mirandas Idee, dass sie ihre Karriere aufgibt. Ich persönlich finde, dass sie es dem Publikum schuldet, wenigstens einen Film pro Jahr zu drehen, aber sie hört nicht auf mich. PETER: Warum nicht? MIRANDA: Verstehen Sie nicht? Verstehen Sie wirklich nicht? (Beeindruckend.) Ich liebe Nigel einfach. Ich liebe ihn von ganzem Herzen. Und ich habe mich entschieden, dass die Countess von Marshwood die längste und tollste Rolle ist, die ich je gespielt habe. FELICITY: Ich hoffe, sie ist dir nicht zu anstrengend. NIGEL: Mutter! FELICITY: Ich weiß, wovon ich rede. Ich gebe sie seit Jahren. Nigels guter Vater war mein Protagonist. Ich habe sie für eine gute Rolle gehalten, aber technisch etwas anstrengend. Crestwell tritt auf. CRESTWELL: (kündigt an) Admiral Sir John und Lady Hayling. PETER: (leicht panisch geflüstert zu Felicity) Mein Gott! Ich habe vergessen, sie zu warnen.

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Admiral und Lady Hayling kommen herein. Crestwell tritt ab. LADY H.: Tut mir leid, dass wir spät dran sind. Der arme Eustace Parker kam, als wir gerade fort wollten und fand stundenlang kein Ende hinsichtlich der Gemeindefeier. NIGEL: Eustace Parker? FELICITY: (rasch) Oh, ich freue mich, dass er wieder da ist. Das muss alle ziemlich schockiert haben. LADY H.: Wovon redest du, Felicity? FELICITY: Über nichts, meine Lieben. Ich erzähl´s euch später. ADMIRAL: (gibt Nigel die Hand) Hallo, Nigel. LADY H.: Willkommen zu Hause, mein Lieber. (Sie küsst ihn.) FELICITY: Cynthia, John – das hier ist Miranda. Miranda Frayle. ADMIRAL: (barsch) Sehr erfreut. LADY H.: (gibt Miranda die Hand) Wir haben sie so oft aus der Ferne bewundert. MIRANDA: (ist aufgestanden und hat ihre Brille abgenommen) Danke schön. LADY H.: (sieht Moxie) Moxie! Du sieht sehr schick aus! Wenn du vielleicht Zeit hättest, wenn wir zu Abend essen, dass du so gut sein würdest und dir mit ein paar Stichen meine Tasche vornimmst. Sie hat ein paar Löcher an den Seiten. Ich wollte eigentlich Saunders fragen, es zu erledigen, bevor wir das Haus verlassen haben, aber ich hab´s vergessen. MOXIE: (nach einer kurzen Pause) Also, wirklich, Cynthia. Wie kann man nur so vergesslich sein! LADY H.: (empört) Was hast du gesagt? FELICITY: (nimmt Lady Hayling beim Arm) Cynthia... John, du auch. Ich muss mit euch über das Cottage Krankenhaus sprechen. Wir haben eine entsetzliche Krise über die Vorsteherin. Ich bin mit meinem Latein am Ende. Diesmal ist sie wirklich zu weit gegangen. Kommt in das Arbeitszimmer. Ich kann nicht vor allen darüber reden. Ich brauche euren gesunden Menschenverstand hinsichtlich dieser Sache. Bitte, kommt! Mix noch einen Cocktail, Peter. Dauert bloß ein Minütchen. Felicity drängt die Haylings ins Arbeitszimmer und schließt die Tür hinter sich zu. NIGEL: Was um alles in der Welt ist heute Abend mit Mutter los? Sie ist ja fast hysterisch.

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PETER: Die Krankenhausvorsteherin kann einen wirklich zur Weißglut treiben. Sie ist ein leibhaftiger Dämon. NIGEL: Wenn du dich auf Mrs. Gaskin beziehst, Peter, der gesamte Distrikt bewundert sie. PETER: Es handelt sich aber nicht um Mrs. Gaskin. Es ist eine Neue. NIGEL: Seit wann? PETER: (von dem Tisch mit den Getränken aus) Seitdem Mrs. Gaskin gestorben ist – natürlich. NIGEL: Mir war nicht bewusst, dass das alte Mädchen gestorben war. Wann ist das passiert? PETER: Ich glaube, vor drei Wochen. NIGEL: Woran ist sie gestorben? PETER: Es macht keinen Sinn, mich ins Kreuzverhör zu nehmen. Ich war nicht nicht hier. Davon abgesehen glaube ich, dass diese lokalen Ereignisse Miranda nicht im geringsten interessieren. MIRANDA: Aber natürlich tun sie das. Sie sind Teil meines neuen Lebens. Ich will alles wissen. Ich will Schritt für Schritt alles über diese vertraute, lustige, gute englische Welt lernen, die bald mein zu Hause sein wird. Es ist sehr wichtig für mich. Wirklich. NIGEL: (tätschelt liebevoll ihre Hand) Liebling. MIRANDA: (sieht zugetan zu ihm hoch) Ich gehe davon aus, dass es im Dorf zunächst nicht einfach sein wird. Ich meine, die Leute dazu zu bewegen, dass sie mir vertrauen, mich als Freundin zu sehen, aber ich werde sie auf lange Sicht für mich gewinnen. Du wirst sehen! Felicity und die Haylings kommen aus dem Arbeitszimmer. Zur gleichen Zeit tritt Crestwell auf. CRESTWELL: (kündigt an) Das Essen ist angerichtet, Mylord. FELICITY: (zu den Haylings) Oh, ihr Lieben! Und ich entführe euch, ehe ihr einen Cocktail haben konntet. LADY H.: Wir können sie ja mit hinein nehmen. FELICITY: Ich glaube, das wäre wohl das Beste, wenn es euch nichts ausmacht. Wir fangen mit einem Soufflé an. PETER: Ich trage sie für euch.

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FELICITY: Dann mal alle los! Miranda... Sie nimmt Mirandas Arm und geht aus dem Zimmer. Die anderen, die sich heiter unterhalten, folgen ihr. Als Moxie die Tür erreicht, hält sie inne und murmelt: „Bitte, geht weiter. Ich komme gleich.“ Sie läuft ins Zimmer zurück. Sie tut so, als würde sie sich nach ihrer Tasche umschauen. Als die anderen fort sind, sinkt sie auf´s Sofa. CRESTWELL: Dora. MOXIE: Ich kann´s nicht! Ich weiß, dass ich´s nicht kann. CRESTWELL: Reiß dich zusammen. MOXIE: Ich kann da nicht sitzen und dabei zuhören, wie sie so über Mum redet und behauptet, sie hätte Krüge von Bier für sie aus der Kneipe geholt! Mum hat in ihrem ganzen Leben keinen Tropfen angerührt. Von ihrem ersten Schrei bis zu ihrem letzten Atmer war sie eine anständige, gottesfürchtige Frau. CRESTWELL: Komm runter, Dora. An dem Tag, an dem sie geboren wurde, kann sie nicht sonderlich gottesfürchtig gewesen sein. MOXIE: Du glaubst, dass das alles sehr komisch ist, was? CRESTWELL: Ich kann nicht ernsthaft leugnen, dass meiner Meinung nach in dieser ganzen seltsamen Räuberpistole ein gewisser eigensinniger Humor steckt. MOXIE: Du hast sie nicht gehört! Du hast nicht die unverschämten Lügen gehört, die sie erzählt hat... CRESTWELL: Da täuscht du dich, Dora. Ich habe es fertig gebracht, mich mit den meisten der wichtigsten Punkte in der Rede deiner Schwester vertraut zu machen, indem ich ganz einfach mein Ohr an das Schlüsselloch gehalten habe. MOXIE: Ich werde ihr niemals vergeben. Niemals, niemals, niemals. CRESTWELL: Komm schon. Sie werden sich wundern, was mit dir los ist. MOXIE: (den Tränen nahe) Oh, Fred.... CRESTWELL: Also, also... Nicht doch. (Er nimmt einen halbgefüllten Martini.) Hier. Kipp das runter! MOXIE: Nein. Das tue ich besser nicht. Wirklich. CRESTWELL: Trink das. Einer alten Säuferin wie dir wird das nichts ausmachen. Moxie trinkt es in einem Schluck.

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CRESTWELL: Besser. Kinn hoch, Oberlippe steif halten, Zähne zusammenbeißen, Schultern zurück und ran an den Feind! MOXIE: Oh, Fred! CRESTWELL: Hast du in der letzten Zeit irgendwelche guten Bücher gelesen? (Nimmt ihren Arm.) VORHANG

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Zweite Szene

Etwa eine Stunde später. Alice läuft durch das Zimmer, summt vor sich hin und sammelt die benutzten Cocktailgläser auf ihr Tablett ein. Crestwell tritt auf. CRESTWELL: Beeil dich, Alice. Mrs. Crabbe braucht dich in der Küche. ALICE: Ja, Mr. Crestwell. CRESTWELL: Und darf ich, Alice, in den wenigen, kurzen Augenblicken von Intimität, die uns gegönnt sind, vorschlagen, dass du, obgleich du von der Ehre am Tisch servieren zu dürfen, überwältigt bist, nicht ganz so laut dabei atmest, während du es tust. ALICE: Tut mir leid, Mr. Crestwell. CRESTWELL: Als du dich gerade der zukünftigen Countess von Marshwood mit den porchierten Möhren genähert hast, hast du dich wie ein Güterzug angehört, der um die Ecke biegt. ALICE: Ich konnte nichts dagegen tun. Wirklich nicht! Am Donnerstag noch zu sehen, wie sie von den Japanern gefoltert wurde und ihr am Samstag die Möhren zu reichen, hat mir einfach den Atem geraubt. CRESTWELL: Wenn dem wirklich so wäre, gäbe es keinen Grund zur Beschwerde. ALICE: Ja, Mr. Crestwell. CRESTWELL: Noch steht es sonderlich in Einklang mit den rühmlichsten Traditionen häuslicher Dienerschaft, dass du Mrs. Moxton so angestiert hast, dass dir fast die Augen aus dem Kopf gefallen wären und du dabei den Mund sperrangelweit offen hattest. ALICE: Es war so eine Überraschung, sie am Tisch sitzen zu sehen – in der Garderobe. Ich hätte fast einen Anfall bekommen. CRESTWELL: Wenn du zu Anfällen neigst, Alice, hättest du mich im vorhinein warnen sollen. ALICE: Was hat das alles zu bedeuten, Mr. Crestwell? CRESTWELL: Was bedeutet was alles? ALICE: Dass Mrs. Moxton plötzlich mit ihnen die Mahlzeiten zu sich nimmt statt mit uns und dass sie den Armreif der Mylady trägt?

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CRESTWELL: Es handelt sich um ein soziologisches Experiment, das auf der veralteten und unzutreffenden Annahme basiert, dass wir alle in den Augen Gottes gleich sind und wir somit gleich in den Augen unserer Mitmenschen sein sollten. ALICE: Oh! CRESTWELL: Die Tatsache, dass es so nicht funktioniert und in keinster Weise so je funktionieren wird, schreckt die Idealisten davon ab, tapfer in Richtung Utopia weiterzumachen. ALICE: Was ist Utopia? CRESTWELL: Einige geistig-klinische Abstraktion, Alice, wo alle sich auf Augenhöhe begrüßen und es keine Kellner gibt. ALICE: Ach, so. Gabel zum Essen? Es wird geläutet. CRESTWELL: Die Haustür! Wer zum Teufel kann das sein? Mach das hier fertig, Alice, und geh zu Mrs. Crabbe. ALICE: Ja, Mr. Crestwell. Crestwell tritt rasch ab. Mit einem plötzlichen Energieschub leert sie die Aschenbecher in den Müllkorb, sammelt die übrigen Gläser ein, stellt sie auf ein Tablett und ist gerade dabei abzutreten, als sich die Tür öffnet und Crestwell Don Lucas ins Zimmer geleitet. Alice bleibt mitten im Laufen stehen und verharrt starrend mit geöffnetem Mund. Don Lucas ist extrem gutaussehend und Ende dreißig. Seine Haut ist perfekt gebräunt, seine sportliche Kleidung tadellos und steht in bester Hollywoodtradition. Er ist zudem ganz leicht angetrunken. CRESTWELL: Ich teile Ihrer Lordschaft mit, dass Sie hier sind. DON: Hey! Einen Moment mal! Tun Sie das nicht! Ich kenne den Earl nicht. Ihn will ich ja nicht sehen. Ich will Miss Frayle sehen. Miss Miranda Frayle. CRESTWELL: Sehr wohl, Sir! (Er dreht sich fort, um wegzugehen.) DON: Ehe sie ihr sagen, dass ich hier bin, könnten... (Er sieht zu Alice.) Könnte ich kurz mit Ihnen sprechen? CRESTWELL: (zu Alice) Atme dreimal kräftig durch die Nase ein, Alice. Halt dabei den Mund geschlossen und zieh Leine! ALICE: Ja, Mr. Crestwell. Sie tritt ab.

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CRESTWELL: Was wollten Sie sagen, Sir? DON: Hören Sie... Ich bin Don Lucas... CRESTWELL: Ja, Sir. Ich habe Sie sofort erkannt. Wenn ich so sagen darf, Sir, mit Freude, aber durchaus durchmischt mit Bestürzung. DON: Das verstehe ich nicht. CRESTWELL: Ich gehe davon aus, dass Sie mit Miss Frayle in einer privaten Angelegenheit sprechen möchten? DON: Ja. Das stimmt. Das will ich. Miss Frayle und ich... Nun ja, wir sind alte Freunde. CRESTWELL: Diesem Umstand trage ich Rechnung, Sir, wenn meine spontane Freude sie zu sehen, durch ein gewisses Maß an Besorgnis eingefärbt ist. DON: Wie bitte? CRESTWELL: So abgeschieden wir auch in unserem entlegenen Vakuum in Kent leben, haben wir nicht gänzlich den Kontakt zur Außenwelt verloren. Dank der Leinwand und der verschiedenen Wochenzeitschriften, die mit ihr verbandelt sind, sind wir in den Genuss des Privilegs gekommen, sowohl ihr öffentliches als auch ihre privates Leben mit dem größten Interesse zu verfolgen. Sie sind in dieser Gegend sehr populär, Mr. Lucas. DON: Vielen Dank. Ich könnte jetzt einen Scotch vertragen, wenn Sie einen haben. CRESTWELL: Gewiss, Sir. Möchten Sie ihn doppelt, einfach oder on the rocks? DON: (beeindruckt) Oh! Sie sind wirklich gut. Sie haben alle Antworten parat. CRESTWELL: Außer die auf meine Frage, Sir. DON: Okay. Sie haben gewonnen. On the rocks. CRESTWELL: (geht zu dem Tisch mit den Getränken) Sehr wohl, Sir. DON: Danke. Wie heißen Sie? CRESTWELL: (fährt mit dem Mixen des Getränkes fort) Crestwell, Sir. Frederick Crestwell. DON: Hören Sie mal zu, Fred... Ich brauche Ihre Hilfe. Ich stecke in ein paar Schwierigkeiten. CRESTWELL: Was für Schwierigkeiten, Sir? Beruflich, gesetzlich oder emotional? DON: So komisch, wie Sie reden, würden Sie in Hollywood ein Vermögen als Drehbuchautor machen.

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CRESTWELL: In den seltenen Moment, in denen ich mich mit einer gewissen Melancholie selbst hinterfrage, Sir, ist mir die Idee auch schon gekommen. Aber mir ist so, als wäre ich im Großen und Ganzen hier glücklicher. (Er reicht Don ein Glas Whisky mit Eis.) DON: Danke. (Er nimmt es und genehmigt sich einen Schluck.) Ich will zu Ihnen von Mann zu Mann sprechen. CRESTWELL: Jeden anderen Ansatz würde ich ehrlich gesagt äußerst komisch finden. DON: Ihr Earl hier... Beabsichtigt er wirklich, Miranda, Miss Frayle, zu heiraten oder ist das nur eine Publicity Ente? Ich will wissen, wie hier der Hase läuft. CRESTWELL: Wenn Sie nach Ihrer langen Reise Appetit haben, Sir, Hasen habe ich keinen, aber ich könnte mit kaltem Huhn und Salat etwas improvisieren. DON: (zeigt Anzeichen von Verärgerung) Schalten Sie die Komikernummer mal für einen Augenblick aus, ja? Das bedeutet ganz schön viel für mich. Ich habe die Nachricht vor drei Tagen im Radio gehört und habe mir sofort ein Flugzeug geschnappt. Ich muss wissen, ob das ernst gemeint ist, diese Hochzeit, oder ob die Werbeabteilung des Studios hier was mit ganz heißen Nadeln strickt. CRESTWELL: Ich fürchte, es ist ernsthaft, Sir. DON: Das kann sie mir nicht antun! Das kann sie nicht! Ich muss sie sehen, Fred. Ich muss sie jetzt alleine sehen und Sie müssen das so einrichten. CRESTWELL: Sie befinden sich alle mitten in einem Abendessen, Sir. Ich weiß wirklich nicht, wie ich sie loseisen sollte, ohne – wie Sie sich vielleicht ausdrücken würden - „den Hund in der Pfanne verrückt zu machen“. DON: Sie brauchen nicht zu sagen, dass ich es bin. Sagen Sie, dass es ein Reporter v om „Life Magazine“ ist. Für´s „Life Magazine“ würde sie alles machen. CRESTWELL: Ein unverantwortlicher Impuls, den sie mit so vielen anderen öffentlichen Personen teilt. DON: Sagen Sie, es ist eine Schiene für die nächste Ausgabe über vier Seiten mit ihr auf dem Titelblatt. Damit kriegen wir sie. Damit kriegt man jeden. CRESTWELL: Ich gebe mein Bestes, Sir. DON: Sie sind ein echter Kumpel, Fred. Hier. (Er gibt ihm einen zwanzig Dollarschein.) CRESTWELL: (sieht ihn an) Zwanzig Dollar, Sir! Wenn das die Regierung wüsste, würde man mich in den Adelsstand erheben. Crestwell tritt ab. Don geht geradeweg auf den Tisch mit den Getränken zu, schüttet sich einen Scotch ein und läuft – Sklave seiner Gefühle – im Zimmer auf und ab.

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Nach einer kurzen Zeit tritt Miranda auf. Als sie sieht, wer es ist, schließt sie rasch die Tür hinter sich. MIRANDA: (zweifelnd) Pete! DON: (gebrochen) Pete! MIRANDA: (wütend) Du Hurensohn! DON: (noch gebrochener) Pete! MIRANDA: Von allen billigen, fiesen Tricks...! Das vergebe ich dir niemals! Niemals, niemals, niemals! DON: (geht zu ihr hin) Süße! Ich muss mit dir reden... Ich muss. Ich werde wahnsinnig. MIRANDA: Komm mir nicht zu nahe! Du, du Schlange! DON: Ich bin in dem schnellsten Flugzeug, was ich auftreiben konnte, über den Atlantik geflogen und das ohne Schlafkabine, weil sie alle ausgebucht waren, und du nennst mich Schlange! MIRANDA: Und was du für eine Schlange bist! Ich will dich nie wieder sehen. Das habe ich dir bereits gesagt, als ich weg bin und es gilt immer noch. DON: Du meinst das nicht ernst, Pete, in deinem Herzen meinst du das nicht ernst. MIRANDA: Und ob ich das meine. Ich habe dich von meinem Leben abgeschnitten – wie ein angefaultes Körperteil. DON: Pete! MIRANDA: Und hör auf damit, mich Pete zu nennen. Das ist vorbei! DON: (kurzfristig mit Verstand) Ich bin kein angefaultes Körperteil, und das weißt du. (Er fasst sie bei der Schulter.) Sieh mich an! MIRANDA: (wehrt sich) Lass mich in Ruhe! DON: (küsst sie wild) Na gut, dann bin ich ein angefaultes Körperteil. MIRANDA: (macht sich von ihm frei) Wie konntest du nur! Oh, wie konntest du nur! DON: Ich bin verrückt nach dir. Ich bin seit drei Jahren verrückt nach dir. MIRANDA: (verächtlich) Verrückt nach mir! Und was ist mit Beejie Lemaire und Zenda Hicks und diese verlogene, polnische Prinzessin, für die Daryl Zanuck die Party geschmissen hat?

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DON: Sie haben mir nichts bedeutet, nichts. Das weißt du! Schiffe, die durch die Nacht gleiten. Sonst nichts. MIRANDA: Vielleicht waren sie das, aber auf ihrem Weg ins offene Meer sind sie mit Sicherheit durch dein Strandhaus in Santa Monica geglitten. DON: Du willst also wieder da anfangen, ja? MIRANDA: Worauf du dich verlassen kannst! Ich habe dir alles gegeben, was ich habe: Mein Herz, meine Träume, meine Zärtlichkeit... DON: Alles nur nicht gleichberechtigte Credits. Wenn du dich bitte an „Schweig still, du dummes Herz“ erinnern würdest? MIRANDA: Du bist unter dem Titel genannt worden, was, in Anbetracht der Tatsache, dass es dein erster großer Film war, mehr gewesen ist, als du zu erwarten hattest. DON: Ich habe zumindest die guten Kritiken gekriegt. MIRANDA: Du hast eine Hymne im Hollywood Reporter bekommen und im New Yorker haben sie dir die Hosen runtergelassen. Wenn du das gute Kritiken nennst, fresse ich einen Besenstiel. DON: (ereifert) Das ist doch wohl Schnee von gestern, oder? Ich mache jetzt mehr Kasse, als du jemals gemacht hast, sogar, bevor du ins Schliddern gekommen bist. MIRANDA: (empört) Ins Schliddern gekommen?!! DON: Meinst du, ich wüsste nicht, wieso du den Typen mit seinem Titel heiraten willst? Meinst du, die ganze Welt wüsste das nicht? Weil seitdem du „Katharina die Große“ gemacht hast, dein Stuhl wackelt! MIRANDA: (lebendig) Mein Stuhl wackelt also? Vielleicht sollte es dich interessieren, dass MGM. Mir zu jeder beliebigen Summe angeboten hat, „Die schlimmen Jahre“ zu drehen. Sie liegen mir damit seit Wochen in den Ohren. DON: Sie liegen mit diesem unerträglichen Drehbuch seit anderthalb Jahren jedem Star in Hollywood in den Ohren. MIRANDA: Hau ab, Don! Ich habe die Nase voll davon! Hau ab! DON: Ich haue nirgendwohin ab, bis ich nicht fertig bin. Es gibt da ein paar Dinge, die ich deinem Earl gerne sagen würde. MIRANDA: (ändert ihre Taktik) Don, bitte... Geh! - Bitte! Um all der Dinge willen, die wir einmal füreinander bedeutet haben, um der guten Zeit willen, die wir miteinander hatten. Komm hier einfach nicht so hereingeschneit, mach mir keine Szene und zerstöre nicht alles! Bitte!

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DON: Liebst du diesen Typen? MIRANDA: Ja, natürlich. DON: Liebst du ihn wirklich? So, wie du mich geliebt hast? MIRANDE: (unter erheblichem Druck) Bitte, bitte geh, Don! Sie können jeden Augenblick hier sein! DON: ( unnachgiebig) So, wie du mich geliebt hast? MIRANDA: Es ist anders. Ich meine, kein Mensch liebt jemand anders auf die gleiche Art. DON: Du machst mich verrückt, Pete. Ich habe dagegen angekämpft. Seit wir den Streit hatten, seit der Nacht, in der wir uns getrennt haben und du den Oscar von 1949 nach mir geworfen hast, habe ich versucht, dich aus meinem Geist, aus meinem Herzen zu verbannen... MIRANDA: (bewegt) Nichts. Bitte, sag nichts mehr! DON: (geht auf sie zu) Pete! MIRANDA: Verschwinde! Du musst verschwinden. DON: (ritterlich) In Ordnung. Ich verschwinde. Ich weiß, dass wir´s vermasselt haben. Ich weiß jetzt, dass es keine Hoffnung mehr für mich gibt. Ich wollte mir nur sicher sein. (Er sieht sie wehmütig an.) Lebe wohl, Pete. Solange es gedauert hat, war es großartig. MIRANDA: (zitternd) Lebe wohl, Pete... Sehr sanft und zärtlich nimmt er sie in den Arm und küsst sie. In dem Augenblick kommt Felicity ins Zimmer. Miranda und Don lassen rasch voneinander ab. FELICITY: Ehrlich gesagt, bin ich gekommen, um dich zu retten, Miranda, aber – wie ich sehe – war das unnötig. MIRANDA: (mit erstaunlicher Geistesgegenwart) Das ist einer meiner alten Freunde. Wir haben uns nur gerade auf Wiedersehen gesagt. FELICITY: Aber er ist doch erst jetzt angekommen. DON: Ich muss nach London zurück. MIRANDA: (mit Haltung) Das ist Don Lucas. Don, das ist Lady Marshwood. FELICITY: (enthusiastisch) Ich dachte, ich hätte sie erkannt, aber ich konnte einfach meinen Augen nicht trauen. Das ist eine ausgesprochene erfreuliche Überraschung!

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DON: (dankbar) Danke schön, Madam. FELICITY: Sie haben doch wohl nicht vor, den ganzen Weg nach London zurückzufahren. DON: Ich fürchte, ich muss... Ich... FELICITY: Unsinn! Da will ich nichts von hören. Diese lange, dunkle Straße zu dieser Nachtstunde und bei schüttendem Regen. MIRANDA: Es regnet nicht. FELICITY: Das wird es aber, bis er in Canterbury ist. Das ist immer so. Außerdem kann ich es nicht zulassen, dass Mr. Don Lucas sich in unser Haus schleicht und wieder hinaus, ohne das alle wissen zu lassen. Das ganze Dorf würde mich steinigen. MIRANDA: Er muss heute Abend nach London. Er hat ganz früh morgen eine wichtige Konferenz. FELICITY: Wer hat denn schon einmal davon gehört, dass jemand eine Konferenz am Samstagmorgen hat? Mr. Lucas, ich bestehe absolut darauf, dass sie wenigstens bis morgen früh bleiben! (Sie klingelt entschieden.) MIRANDA: Aber Lady Marshwood... Wirklich... FELICITY: (fröhlich) Liebe Miranda, du musst mir schon gestatten, das auf meine Art zu handhaben. Du bist noch nicht mit Nigel verheiratet, weißt du. Noch bin ich die Herrin dieses Hauses und ich beabsichtige, bis zum letztmöglichen Augenblick mit eiserner Faust zu regieren. (Sie tätschelt liebevoll ihren Arm und dreht sich dann zu Don.) Crestwell kann Ihnen alles geben, was sie brauchen. Einen Schlafanzug, Rasierklingen und Zahnbürsten. Bitte, Mr. Lucas. Ich wäre entsetzlich verletzt, wenn Sie sich weigerten. MIRANDA: Aber... DON: (sieht zu Miranda) Viellen Dank, Lady Marshwood. Ich nehme an. MIRANDA: Don! Crestwell tritt auf. CRESTWELL: Sie haben geläutet, Mylady? FELICITY: Oh, Crestwell... Mr. Don Lucas bleibt über Nacht hier. Sie kümmern sich drum, dass er alles hat, was er braucht, nicht wahr? CRESTWELL: Gewiss, Mylady. Das japanische Zimmer?

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FELICITY: Ja. (Zu Don.) Sie haben nichts dagegen, in einem japanischen Zimmer zu sein, oder? Ich meine, Sie waren nicht im Pazifik? DON: Nein, Madam. FELICITY: Das freut mich. So japanisch ist es auch wieder nicht. Nur die Tapete und eine ziemlich verwaschen aussehende Malerei eines Karpfens. Man hat einen wunderbaren Blick. Wenn es klar ist, können Sie das Schloss von Dover sehen. Sind Sie jemals im Schloss von Dover gewesen? DON: Nein, Madam. Ich war nie zuvor in England. FELICITY: Ich fürchte, unterm Strich haben Sie sich nicht die beste Zeit für einen Besuch ausgesucht, aber wir haben immer noch eine Masse, worauf wir stolz sind. Sagen Sie Seiner Lordschaft, dass Mr. Lucas angekommen ist, Crestwell, und sagen Sie allen, dass sie sich beeilen sollen. Wir haben den Kaffee hier drin. CRESTWELL: Sehr wohl, Mylady. Crestwell tritt ab. FELICITY: Was für ein absurder Gedanke, dass ich Sie und die gute Miranda das letzte Mal zusammen gesehen habe, Sie sie praktisch halbnackt durch ein brennendes Dorf getragen haben! Möchten Sie einen Drink? DON: Danke. Vielen Dank. FELICITY: Alles steht da hinten. Bedienen Sie sich selbst. Du willst doch nicht ins Speisezimmer zurück, oder, Miranda? Und noch mehr von dem ekelhaften Süssen konsumieren? MIRANDA: (resignierend) Nein, danke schön. FELICITY: Dann setz dich hin, meine Gute, und entspann dich! Ich finde, wir sollten wirklich alle entspannen. Es ist ein ausgesprochen aufregender Tag gewesen. Du und Nigel, die hier angekommen sind und Mr. Lucas, der hier mitten in der Nacht auftaucht und unser Garten, der von Pfadfinderinnen zertrampelt wird... DON: (kommt mit einem neuen Drink) Pfadfinderinnen? FELICITY: Eine sehr alte, englische Tradition. Gibt’s die überhaupt in Hollywood? Ein großartiges Konzept. Man bildet sie praktisch in allem aus: Von Wiederbelebung bis zum Feuermachen aus feuchten Zweigen. Wenn es durchsickert, dass Sie hier sind, Mr. Lucas, greifen sie das Haus wahrscheinlich in einer Formation an. Nigel kommt herein. Sein Ausdruck auf seinem Gesicht ist leicht düster.

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FELICITY: (freudig) Ah, da bist du ja, Nigel! Das ist Mr. Don Lucas, mein Sohn, Lord Marshwood. DON: (auf ihn zu) Nabend auch! NIGEL: (ohne Begeisterung) Sehr erfreut. FELICITY: Er ist extra aus London gekommen, um sich von Miranda zu verabschieden. Sie sind alte Freunde, weißt du? NIGEL: Ja. Das weiß ich. FELICITY: Ob du es glaubst oder nicht, er hatte die Absicht, unverzüglich den ganzen Weg zurück zu fahren! Hast du schon jemals so etwas Absurdes gehört? Glücklicherweise war ich imstande, ihn davon zu überzeugen wenigstens über Nacht zu bleiben. NIGEL: Über Nacht bleiben! FELICITY: Ja. Mach dir nichts draus. Crestwell hat alles unter Kontrolle. Wir haben uns wegen des Ausblicks für das japanische Zimmer entschieden. NIGEL: Natürlich. Eine sehr gute Idee. Sehr gut mitgedacht, Mutter. Lady Hayling, Moxie, Admiral Hayling und Peter kommen herein. FELICITY: (stellt vor) Cynthia. Das ist Mr. Don Lucas. Man braucht ihn ja ganz offensichtlich nicht vorzustellen, nicht wahr? Lady Hayling. LADY H.: (gibt Don die Hand) Sehr erfreut. FELICITY: Mrs. Moxton – Mr. Lucas – Admiral Hayling – und mein Neffe Peter Ingelton. Allgemeines „sehr erfreut“-Gemurmel. Lady Hayling setzt sich neben Miranda auf das Sofa. Moxie nimmt auf einem Stuhl in der Nähe von Felicity Platz. Die Männer stehen für einen Augenblick herum. FELICITY: (im Konversationston) Das ist das erste Mal, dass Mr. Lucas in England ist. Stellt euch das mal vor! LADY H.: Wie ungewöhnlich! (Zu Don.) Ich hoffe, es macht Ihnen Spaß? ADMIRAL: Ich bin einmal in Amerika gewesen. 1922. Norfolk, Virginia. Kennen Sie das? DON: Nein, Sir. ADMIRAL: Ich kommandierte ein Geschwader von leichten Kreuzern zu den Westindischen Inseln. Wir mussten in Norfolk vor Anker, weil wir Ärger mit dem Dampfkessel hatten. Er war verdammt heiß.

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FELICITY: Ärger mit dem Dampfkessel hört sich heiß an. Crestwell kommt mit einem Tablett mit Kaffee hinein, das er auf den Tisch absetzt. FELICITY: Danke schön, Crestwell. Ich denke, Sie können den Bridgetisch im Arbeitszimmer fertig machen. Es könnte sein, dass wir später spielen wollen. CRESTWELL: Sehr wohl, Mylady. Er geht in die Bücherei ab. FELICITY: Spielen Sie Bridge, Mr. Lucas? DON: Nein, Madam. Ich denke, Poker liegt mir eher. FELICITY: Mein verstorbener Mann hat Poker geliebt. Wie schade, dass er jetzt nicht da ist! Während des folgenden Dialogs, gießt Felicity den Kaffee ein und Peter und Nigel reichen die Tassen weiter. PETER: (zu Don) Werden Sie lange in England sein? DON: Nein. Ich muss zurück. Ich fange mit einem neuen Film an. FELICITY: Wie aufregend! Worum geht es? Oder ist das ein Geheimnis? DON: (fixiert Miranda) Nein, es ist kein Geheimnis. Es ist eine alte Geschichte. Die älteste Geschichte der Welt. Es geht um Landstreicher. (Unruhig, stiert weiter auf Miranda.) Jemand, der nicht weiß, wo er hingehen, der nicht weiß, wofür er leben soll, der einfach nur herumhängt und sich wünscht, tot zu sein. MIRANDA: (versucht, ihn ruhig zu stellen) Don! FELICITY: Es hört sich sehr traurig an. Wird es ein Happy End geben? DON: (gebrochen) Nein, Madam. So läuft das nicht. So läuft das überhaupt nicht. Entschuldigen Sie mich. Don geht rasch durch die französischen Fenster nach draußen. FELICITY: (nach einer kurzen Pause) Der arme Mr. Lucas. Etwas scheint ihn aufzubringen. Du gehst ihm besser nach, Peter, und sorg um Himmels Willen dafür, dass er von dem Gebüsch weg bleibt, wenn Elsie Mumby ihn sieht, bricht sie in Wolfsgeheul aus. PETER: In Ordnung. Er läuft Don hinterher.

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NIGEL: Wusstest du, dass er kommt, Miranda? MIRANDA: Natürlich nicht. NIGEL: Ich denke, es war sehr nachlässig von dir, Mutter, ihn zum Bleiben zu bitten. FELICITY: Es wäre viel nachlässiger gewesen, ihn mitten in der Nacht nach London zurückfahren zu lassen. Nicht nur nachlässig, sondern auch vollkommen ungastfreundlich. NIGEL: Ich denke dabei nur an Miranda. FELICITY: Das tut er auch. Deshalb ist er aufgebracht. Wir müssen alles tun, was in unseren Kräften steht, um ihn aufzuheitern. Wenn ich´s recht bedenke, hätten wir ihm das alte Kinderzimmer statt des japanischen geben sollen. Da hängt dieses niedliche Fries mit den Kaninchen, das du so mochtest, als du klein warst. Crestwell kommt aus der Bibliothek. CRESTWELL: Der Bridgetisch ist bereitet, Mylady. FELICITY: Danke, Crestwell. Sie lassen die Kaffeeutensilien besser stehen, wir könnten später noch mehr davon brauchen. CRESTWELL: Sehr wohl, Mylady. Er tritt ab. Nigel geht offenbar von einer Falle aus und ist sehr wütend. Er spricht mit Kälte in der Stimme. NIGEL: Vor dem Abendessen hast du mich gefragt, Mutter, wann Miranda und ich heiraten wollen. FELICITY: Natürlich habe ich das gefragt, mein Lieber. Wir brennen alle darauf, es zu erfahren. NIGEL: Und – wenn du dich erinnerst – habe ich darauf geantwortet: „So bald wie möglich.“ FELICITY: Natürlich erinnere ich mich daran. NIGEL: Nun, ich habe meine Meinung geändert. MIRANDA: Nigel! NIGEL: Es wird sobald wie möglich stattfinden, und zwar am Montag. Ich habe den Antrag schon. Wir fahren am Morgen nach London und lassen uns am Nachmittag trauen.

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FELICITY: Ist das nicht ein wenig impulsiv, mein Lieber? NIGEL: Mir ist es egal, wie impulsiv das ist. So wird das gemacht. MOXIE: (steht auf) So wird das nicht gemacht. FELICITY: Moxie, bitte... NIGEL: (zu Moxie) Ich verstehe nicht ganz, was dich das angeht... MOXIE: (in großer Not) Es tut mir leid, Mylady. Ich kann es nicht mehr ertragen, ich kann´s wirklich nicht ertragen. NIGEL: Wovon redest du? MOXIE: Über Sie und Miss Miranda Frayle, Mylord. Sie werden sie nicht am Montag oder irgendeinem anderen Wochentag heiraten. Sie werden sie überhaupt nicht heiraten. NIGEL: Was ist mit dir los? Hast du den Verstand verloren? FELICITY: Moxie, meine Liebe. Sag um Gottes Willen nichts weiter! Es führt zu nichts Gutem. LADY H.: Lass sie nur, Felicity. Soll sie doch jetzt, wo sie schon mal angefangen hat, weitermachen. Das reinigt wenigstens die Luft. NIGEL: Reinigt die Luft? MOXIE: (zu Felicity) Es tut mir leid, wenn Sie jetzt denken, dass ich Sie hängen lasse, Mylady, aber ich halte das nicht länger aus. Und es fühlt sich nicht richtig an, und es ist nicht richtig. Und wir hätten von Anfang an nicht damit anfangen sollen. Wo er so weit gegangen ist, möchte ich, dass Seine Lordschaft ein paar Fakten weiß, bevor er meine Schwester heiratet. MIRANDA: (springt entsetzt auf) Mein Gott! Dora! MOXIE: Das ist richtig, meine Liebe. Dora! Die, die dich so schlecht behandelt hat, als sie betrunken war und unter entsetzlichen Umständen gestorben ist! FELICITY: Oh Gott! Das gerät wirklich außer Kontrolle. MIRANDA: Was tust du hier? Ich verstehe nicht... Ich dachte, du wärest tot! MOXIE: Das hast du nie gedacht. Dir war immer egal, ob ich tot oder lebendig bin. Ja, Pech gehabt! Denn hier stehe ich ziemlich lebendig, und wenn du denkst, dass du als Herrin durch dieses Haus, was seit neunzehn Jahren mein Zuhause gewesen ist, stolzieren wirst, hast du dich geschnitten!

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MIRANDA: (mit Grandezza) Bitte, Nigel... Ich möchte gerne in mein Zimmer gehen, wenn du nichts dagegen hast. Das ist alles zu unangenehm. MOXIE: Einen Augenblick. Du hörst dir an, was ich zu sagen habe und wenn es das Letzte ist, was ich tun werde. Und es macht auch keinen Sinn, dass du weiter die feine Madame spielst, weil die Katze aus dem Sack ist und durch kein Getue und noch so viele Posen bekommst du das rückgängig gemacht. MIRANA: (wütend) Das ist unerträglich! MOXIE: Du hast vollkommen recht, es ist unerträglich. Es hört sich alles sehr rührend an, wie du da im Slum stehst und auf das Zimmer blickst, in dem deine Mutter gestorben ist, aber vielleicht interessiert es dich zu hören, dass Mutter im St. Thomas Krankenhaus verstarb. Und ich wette eins zu tausend, dass sie auch nicht gestorben wäre, wenn du nicht ihr Herz gebrochen hättest, wenn du dich nicht wie eine Nutte benommen und mit diesem schmierigen, kleinen Agenten nach Amerika fortgelaufen wärest. MIRANDA: Wie kannst du es wagen, so zu mir zu sprechen? Hört nicht auf sie! Hört nicht auf sie! MOXIE: Das entspricht alles der Wahrheit, Freda, und das weißt du. Ich hätte nichts davon gesagt, wenn du nicht damit angefangen, wenn du nicht so posiert und behauptest hättest, dass du in der Gosse aufgewachsen wärest. Schmutz und Armut! Ach, wirklich! Eine Londoner Cockney-Vergangenheit im Umfeld der Bow Bells. Du bist in der Station Road Nr. 3 in Sidcup geboren und wenn du von Sidcup aus die Bow Bells hören willst, musst du Ohren wie ein Schäferhund haben. MIRANDA: (bricht auf dem Sofa zusammen) Ich ertrage das nicht mehr! Ich kann nicht! Ich kann nicht! Bring mich fort, Nigel... Bring mich fort! MOXIE: Wenn Seine Lordschaft dich fort bringt und dich dreimal heiratet, ändert das nichts an der Tatsache, dass ich deine Schwester bin. Das solltest du nicht vergessen. FELICITY: Ich finde wirklich, Moxie, dass du genug gesagt hast. MOXIE: Nicht ganz, Mylady. Das ist noch was und mein Herz birst davon über. Ich muss dieses Haus für immer verlassen. Das ist das Erste, was ich morgen früh tun werde. Ich kann nicht mehr das Dienstmädchen von Mylady sein. Beim besten Willen nicht. Ich kann nicht. Es ist alles aus und vorbei. (Gebrochen.) Leben Sie wohl, Mylady... Sie rennt aus dem Zimmer hinaus. VORHANG

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DRITTER AKT

Der nächste Morgen. Es ist halb zehn. Peter liegt auf dem Sofa und liest den Observer. Crestwell tritt auf. CRESTWELL: Sie haben geläutet, Sir? PETER: Ja, Crestwell. Ich fühle mich alleine. Das Haus ist wie eine Grabesstätte. Wo sind alle? CRESTWELL: Seine Lordschaft sind sehr früh raus, Sir. Er sagte, dass er auf einen langen Ausritt ist. Mylady habe ich zur gewöhnlichen Zeit geweckt, aber sie ist noch nicht heruntergekommen. Miss Frayle hat sich wegen ihres Frühstücks noch nicht gemeldet und Mr. Lucas auch nicht. PETER: Was ist mit Moxie? CRESTWELL: Ihr geht’s nicht gut, Sir. Sie packt. PETER: Will sie wirklich gehen? CRESTWELL: Ja, nach Bexhill, Sir. Sie sagt, sie hat dort Freunde. Sie nimmt den elf Uhr fünfzehn ab Deal; da es Sonntag ist, bedeutet das zweimal umsteigen, aber sie bleibt hartnäckig. PETER: Oh Gott! Die arme Moxie! Es kommt mir verdammt unfair vor. CRESTWELL: Ich halte es für unreif, so rasch jede Hoffnung auf ein Happy End sausen zu lassen, Sir. Mrs. Moxton – und da unterscheidet sie sich nicht von ihren anderen Geschlechtsgenossinnen – neigt dazu, ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen. Mylady dagegen ist anders. PETER: Ich hoffe, Sie haben recht, Crestwell. CRESTWELL: Wenn Sie mir dazu einen leicht veralteten Kommentar gestatten, Sir: Ich bin verdammt sicher, dass ich recht habe. Düster tritt Don Lucas auf. PETER: Hallo! Wie geht’s? DON: Schrecklich. PETER: Kater? DON: Wissen Sie, Kumpel, Sie könnten Unsummen durch Wahrsagerei verdienen.

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CRESTWELL: Machen Sie einen kleinen Ausritt auf einem der Pferde, dann geht’s Ihnen schon besser, Sir. DON: Ich bräuchte eher eine Giraffe, an der ich mich festhalten könnte, um gerade laufen zu können, geschweige denn alleine Auto zu fahren. CRESTWELL: Sie denken nicht daran, uns zu verlassen, Sir? DON: Und ob! Sobald ich aus meinen Augen gucken kann, bin ich von hier weg. CRESTWELL: Überlassen Sie das mir, Sir. Wir bringen Sie in kürzester Zeit wieder ganz ordentlich zum Laufen! Entschuldigen Sie... Er tritt rasch ab. PETER: Wieso setzen Sie sich nicht? DON: Wenn ich das täte, bliebe ich unten. PETER: Gestern Abend im Garten haben Sie mir versprochen, dass Sie sich zusammenreißen und freudestrahlend in die Zukunft blicken werden. DON: Das war gestern Abend. Heute ist heute. PETER: Sie haben nicht wieder geweint, oder? DON: Hören Sie zu, Pete... (Er unterbricht sich.) Oh Gott! PETER: Was ist los? DON: Sie Pete zu nennen... Es ist mir irgendwie rausgerutscht. PETER: Das macht mir nichts aus. DON: Es gibt nur einen Pete für mich auf der Welt. PETER: Dann ist es ja sehr nett, dass Sie mich so nennen. DON: Sie waren gestern Abend ganz wunderbar zu mir, einfach wunderbar. Und wenn Sie denken, dass ich das jemals vergesse, müsste ich verrückt sein! Wir sind Freunde, nicht wahr? PETER: Natürlich sind wir das. DON: Das ist wirklich toll, dass Sie das sagen. Wirklich. PETER: Das freut mich. DON: Freundschaft ist etwas ganz Seltenes. Eines der seltensten Dinge auf dieser gottverdammten Welt. Macht es Ihnen was aus, wenn wir uns darauf die Hand geben?

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PETER: Nicht im Geringsten. Wenn Sie meinen, dass es unbedingt nötig ist. DON: (nimmt fest seine Hand) Na, also! Felicity tritt ins Zimmer. FELICITY: Was um alles in der Welt tut ihr da? PETER: Die Hand geben. FELICITY: Guten Morgen, Mr. Lucas. Sie wollte ich sehen. Peter, sei so lieb und verschwinde kurz in den Garten, bitte. PETER: Der Garten geht mir so langsam auf die Nerven. FELICITY: Dann ins Arbeitszimmer, bitte. Ich möchte unter vier Augen mit Mr. Lucas sprechen. PETER: Na gut, meine Liebe. Er nimmt den Observer und geht ins Arbeitszimmer. FELICITY: Setzen Sie sich, Mr. Lucas – Don. Es macht Ihnen nichts aus, wenn ich Sie Don nenne, oder? Mir ist so, als ob wir irgendwie alte Freund wären. DON: Danke schön, Madam. FELICITY: Und Sie müssen mich Felicity nennen. Madam hört sich so royalistisch an. Es klingt bei Ihnen nicht richtig. Crestwell tritt auf. Er hat ein großes Glas Brandy, Gingerale und drei Aspirin bei sich. CRESTWELL: (zu Don) Ihr Ausritt sozusagen, Sir. DON: (nimmt es) Danke schön. CRESTWELL: Schlucken Sie die drei Aspirin zuerst, Sir, und trinken Sie das Getränk dann sehr langsam. FELICITY: (heiter) Wie in alten Zeiten, was, Crestwell? Abgesehen davon, dass der verstorbene Lord Marshwood die Aspirin gekaut hat. CRESTWELL: Der junge Willis ist da, Mylady. Er ist seit viertel nach acht hier. FELICITY: Sagen Sie ihm, er soll warten, Crestwell. Es könnte sein, dass wir für später einen ziemlichen Aufreißer für ihn haben. CRESTWELL: Sehr wohl, Mylady.

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Er tritt ab. DON: Ich glaube, ich habe es gestern Abend etwas übertrieben und mich unzivilisiert benommen. Es tut mir leid. FELICITY: Selbst wenn Sie sich wie ein vollständiger Barbar aufgeführt hätten, Don, hätte ich Verständnis dafür. Schließlich standen Sie unter erheblichem, emotionalem Stress, nicht wahr? DON: Ja. Ich denke, dem war so. FELICITY: Und tun Sie das immer noch? DON: (vehement) Madam... Felicity, ich werde damit fertig. Ich kriege die Sache in den Griff. FELICITY: Nur Mut, Don! Nur Mut! DON: Ich hätte nicht hierher fahren sollen, meine Nase hier hereinstecken und mich zum Idioten machen. Das verstehe ich jetzt. Es macht keinen Sinn, in jemanden verschossen zu sein, wenn die Person nicht verschossen in einen ist, nicht wahr? Miranda und ich sind schon vor einer ganzen Weile durch. Nur war ich zu dumm, um das zu glauben. FELICITY: Sind Sie so sicher? DON: Wie meinen Sie das? FELICITY: Ich bin Nigels Mutter, deshalb ist das, was ich sage, auf doppelte Weise verzwickt. Kann ich Ihnen trauen? Wirklich trauen? DON: Sicher können Sie das. FELICITY: Ich bin sentimental und ich habe immer geglaubt, lächerlicher Weise vielleicht, dass wenn zwei Menschen sich auf dieser Welt lieben, nichts diese Liebe zerstören sollte. Die angekündigte Hochzeit zwischen Miranda und meinem Sohn ist ein Fehler, ein tragischer, scheußlicher Fehler, weil sie derjenige sind, den sie liebt, der Einzige, der sie wirklich ehrlich lieben wird. Das hat sie mir gesagt. DON: (zweifelnd) Ihnen gesagt? FELICITY: (mit sanftem Lächeln) Nicht mit so vielen Worten, aber ich bin eine Frau, Don, und ich wusste es sofort, als ich euch zusammen gesehen habe. Wie sie Sie angesehen hat, wenn sie ihren Blick auf Sie richtete, der Ton in der Stimme, als sie mit Ihnen gesprochen hat, da habe ich gesehen, dass ihr Herz, ihr beharrliches und launisches Herz Ihnen gehört. DON: Sie hat zu mir gesagt, dass ich eine Schlange bin und sie mich nie wieder sehen möchte. Sie hat gesagt, ich sei ein angefaultes Körperteil.

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FELICITY: Leute sagen nur solche Sachen, wenn sie leidenschaftlich verliebt sind. Sie überraschen mich, Don. Wirklich. DON: (steht auf und läuft im Zimmer herum) Was zum Teufel kann ich tun? Sie wird bald heiraten. Alles ist arrangiert. FELICITY: Sie enttäuschen mich, Don. Wenn ich an Ihre Geisteschärfe und ihr Potenzial in diesem brennenden Dorf denke, und sehen Sie sich jetzt an... DON: Das war ein Kinofilm! Im wahren Leben funktioniert´s nicht so wie im Kino. FELICITY: Generell nicht. Das gebe ich zu. Aber ich verstehe nicht, warum es das nicht ab und an einmal sollte. DON: Aber was kann ich tun? FELICITY: Tun Sie gar nichts. Warten Sie einfach nur. Aber verlieren Sie vor allem nicht den Mut und gestehen Sie Ihre Niederlage nicht ein. Nigel kommt durch die französischen Fenster ins Zimmer. Er trägt Reitkleidung. FELICITY: Guten Morgen, mein Lieber. Hattest du Spaß auf deinem Ausritt? NIGEL: Nein. FELICITY: (steht auf und geht zur Tür des Studierzimmers) Peter... NIGEL: (mürrisch zu Don) Guten Morgen. Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen. DON: (verlegen) Oh ja. Danke. PETER: Was ist los? FELICITY: Die Frage kannst du dir wirklich sparen. Das solltest du eigentlich wissen. An einem Sonntagmorgen passiert nichts. Don will die Kirche sehen, stimmt´s, Don? Ich dachte, du würdest sie ihm gerne zeigen. (Zu Don.) Der Turm ist normannisch, aber der Rest ist deutlich später. DON: Später? FELICITY: Du könntest ihm auch das Haus der alten Mrs. Dunlop zeigen, wo ihr schon mal dabei seid. Es ist nicht weit weg. PETER: Die Kirche ist in Ordnung. Aber bei der alten Mrs. Dunlop spiele ich nicht mit. FELICITY: Oh, es geht ihr viel besser. Sie ist quietschvergnügt, seitdem ihr Mann gestorben ist. Lauft los, ihr beiden. DON: Okay, Madam... Felicity.

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PETER: (resigniert) Dann kommen Sie! Don und Peter treten ab. FELICITY: Madam Felicity hört sich so ur-amerikanisch an, nicht wahr? Wie Grandma Moses oder Mutter Gottes. NIGEL: Ich möchte mit dir sprechen, Mutter. FELICITY: (geht zum Schreibtisch) Nicht jetzt, mein Lieber. Ich muss noch zig Sachen erledigen, ehe es zur Kirche geht. Mrs. Crabbe wartet auf die Speisekarten und der junge Willis ist seit viertel nach acht hier. NIGEL: Der junge Willis? FELICITY: Ja, mein Lieber. Wenn weder du noch Miranda ein Interview geben wollt, muss ich das wohl tun. Ich denke, dass unsere erste Verpflichtung der Kentish Times gehört. Du musst keine Angst haben. Ich werde nicht indiskret sein. Ich werde ihn nur mit ein paar Geschichten über Mirandas frühes Leben abspeisen. Die Tatsache, dass sie streng genommen unwahr sind, macht nichts aus. Da hat er etwas, worauf er sich stürzen kann. NIGEL: Du sagst zu dem jungen Willis kein Sterbenswörtchen über Mirandas frühes Leben. Ich verbiete es hundertprozentig! FELICITY: Es kann unmöglich einen Einfluss auf euch haben, mein Lieber! Das Interview kommt erst Mitte der Woche heraus, und da seid Miranda und du schon in euren Flitterwochen. Ich nehme an, dass ihr irgendwohin in Flitterwochen wollt, oder? NIGEL: Dein Versuch, mich zu täuschen, ist sinnlos, Mutter. Es macht keinen Sinn, wenn wir nach letztem Abend versuchen, so zu tun, als ob alles in Ordnung wäre, weil du verdammt noch mal weißt, dass dem nicht so ist. FELICITY: Was gestern Abend geschehen ist, war peinlich, das gebe ich zu, aber ich kann nicht sehen, dass das die Situation in irgendeiner Hinsicht ändert. NIGEL: Mutter! FELICITY: Du hast – wie ich finde ziemlich laut – gesagt, dass du eine spezielle Genehmigung hast und du Miranda morgen Nachmittag heiraten wirst. So weit, so gut, nicht wahr? Alle sind so aufgeregt. Seit das Schiff vor der Küste gesunken ist, ist hier nichts mehr los gewesen. NIGEL: Ich bin irritiert, Mutter. Ich habe heute Nacht kein Auge zugemacht. Hast du heute Morgen Miranda gesehen? FELICITY: Nein. Du?

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NIGEL: Nein. FELICITY: Das denke ich, solltest du aber. Sie ist wahrscheinlich gleichfalls maßlos irritiert. NIGEL: Du magst sie nicht, nicht wahr? FELICITY: Natürlich nicht. Ich finde, sie ist eine Idiotin. NIGEL: Mutter! FELICITY: Was könnte blöder sein, als diesen ganzen Unsinn über Slums, Kneipen und die Gosse zu erfinden, wohingegen sie die ganze Zeit durchaus manierlich in Sidcup geboren ist? NIGEL: Sie hat sich selbst verklärt. Das finde ich nicht schlimm. Schließlich ist ihr ganzes Leben verklärt worden und zudem noch sehr erfolgreich. Ich nehme an, dass es zur Gewohnheit geworden ist. FELICITY: Nun, da muss sie sich umstellen. Wir können nicht zulassen, dass die neue Lady Marshwood durch unsere ländliche Gegend läuft und jedem die unverschämtesten Lügen auftischt. NIGEL: Natürlich war sie etwas nervös und verspannt. Sie hat vermutlich nicht darüber nachgedacht, was sie gesagt hat. FELICITY: Sie wirkte auf mich ziemlich entspannt. Wie sie da saß und an der scheußlichen Limonade genippt hat. Wieso konnte sie keinen gesunden und netten Martini konsumieren wie alle anderen auch? NIGEL: Das ist unvernünftig und unhöflich. FELICITY: Manchmal erinnerst du mich so an deinen Vater! NIGEL: Was hat das jetzt damit zu tun? FELICITY: Er hat eine Frau keines zweiten Blickes gewürdigt, es sei denn sie hatte einen unübersehbaren Zug von Gewöhnlichkeit. Auf Hauspartys konnte ich ihm immer hundertprozentig vertrauen, ganz im Gegensatz zu Pferderennen. NIGEL: Er hat dich geliebt, nicht wahr? FELICITY: Großer Gott, nein! Nicht in dieser Hinsicht. Er entwickelte so was wie eine raue Zuneigung für mich, aber er war nicht im entferntesten von mir angezogen. Er hat mir auf unseren Flitterwochen gesagt, dass ich Sloane Street Füße hätte. NIGEL: Vielleicht wäre ihm eine Lösung für die Situation eingefallen. Ich stehe wie ein Ochs vorm Berge.

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FELICITY: Das geht mir genauso. Ist es nicht furchtbar? NIGEL: Was für unglaubliche, schreckliche Zufälle! FELICITY: Ich gebe dir vollkommen recht. Aber so ist nun mal die Lage, und wir müssen das Beste draus machen, oder? NIGEL: Geht Moxie? FELICITY: Ja. Nach Bexhill. Sie nimmt den elf Uhr fünfzehn ab Deal. NIGEL: Bexhill? FELICITY: Ich glaube, das ist ein ganz charmanter Ort. Ich reise ihr in ein paar Tagen nach, wenn der ganze Zirkus vorüber ist. Davon weiß sie natürlich nichts, weil sie im Augenblick zu aufgebracht ist, um irgendetwas klar zu sehen, der arme Schatz. NIGEL: Du kannst nicht in Bexhill leben! FELICITY: Ich habe nicht gesagt, dass ich dort leben will. Ich bleibe nur für ein paar Tage in einem Hotel, wo ich dann entscheide, wo ich meine alten Knochen auf Dauer ablege. NIGEL: Alte Knochen, wirklich! Du hast nicht die geringste Absicht, dieses Haus zu verlassen und du hast es nie gehabt. FELICITY: Da täuscht du dich. Wenn du Miranda heiratest, werde ich mit Sicherheit das Haus verlassen. Wenn ich dabei zusehen müsste, wie sie diese Stickerei betreibt, hätte ich innerhalb einer Woche einen Nervenzusammenbruch. NIGEL: (kommt auf den Punkt) Wie kann ich sie jetzt heiraten? Unter den Umständen? FELICITY: Du kannst jemanden nicht nicht heiraten, nur weil sie nicht zu einem Leierkasten getanzt hat, als sie fünf war! NIGEL: Ich finde, deine Flapsigkeit ist unverzeihlich, Mutter, und absolut geschmacklos! FELICITY: Es macht keinen Sinn, mich zu beschimpfen, mein Lieber. Du hast dein Bett gemacht und öffentlich verkündet, dass es deine Absicht ist, sich sobald wie möglich darauf zu legen. Ich sehe nicht, wie du da jetzt rauskommen willst. Es ist zu spät. NIGEL: Ich habe nicht gesagt, dass ich da raus wollte. Ich habe nur gesagt: „Wie kann ich Miranda unter diesen Umständen heiraten?“ Und ich sag´s noch einmal. Wie kann ich das? FELICITY: Wie fühlt sich Miranda damit?

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NIGEL: Ich weiß nicht. Sie ist gestern Nacht tränenüberströmt ins Bett gegangen und hat die Tür zugeknallt. FELICITY: Wenn ich du wäre, mein Lieber, würde ich sie auf einen netten, langen Spaziergang mitnehmen und einfach nur reden, bis ihr eine Lösung gefunden habt oder noch besser: Nimm das Auto, einen Picknickkorb und fahrt zur St. Margaret´s Bay. Don und Peter kommen durch die französischen Fenster hinein. Sie atmen beide schwer. FELICITY: Großer Gott! So schnell schon zurück. PETER: Wir konnten nicht durch´s Tor. Das ganze Dorf ist auf den Beinen! FELICITY: (sieht auf Dons Hand, die er mit einem Taschentuch abreibt) Don, was haben Sie mit Ihrer Hand gemacht? PETER: Das ist rote Tinte aus Elsie Mumbys Füller. FELICITY: Zeig ihm, wo er sich waschen kann, Peter. PETER: Hier lang! Wenn sie trocknet, geht sie nie wieder runter. Er führt Don nach draußen. FELICITY: Ich hatte heute Morgen, als ich aufgewacht bin, das Gefühl, dass es heute nicht leicht werden würde und ich hatte recht. NIGEL: Bleibt der plärrende Flegel jetzt für immer hier? FELICITY: Er ist kein Flegel. Er ist äußerst charmant. Und wenn du einen Sinn für „noblesse oblige“ hättest, würdest du ihn fragen, ob er dein Trauzeuge sein will! NIGEL: (bitter) Danke für alles, Mutter. Du bist mir ein großer Trost gewesen. Türen knallend verlässt er das Zimmer. Felicity seufzt und wendet sich dem Schreibtisch zu. Crestwell tritt auf. Er trägt ein Tablett mit einem riesigen Haufen von Autogrammbüchern. CRESTWELL: Soll ich die zu den anderen legen, Mylady? FELICITY: Ja, bitte, Crestwell. Und sagen Sie dem jungen Willis, dass er besser fort geht. Ich fürchte, wir haben erst im späteren Verlauf des Tages eindeutige Neuigkeiten. CRESTWELL: Ja, Mylady.

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FELICITY: Und, Crestwell, Sie könnten Mr. Lucas´Auto holen lassen. Könnte sein, dass wir es brauchen. Haben Sie Miss Frayle meine Nachricht gegeben? CRESTWELL: Ja, Mylady. Sie wird bald unten sein. FELICITY: Wie sah sie aus? CRESTWELL: Etwas papieren, Mylady. Ich glaube, sie hat nicht gut geschlafen. Sie hat sich nach Zügen nach London erkundigt. Ich habe ihr gesagt, dass es einen elf und fünfzehn ab Deal gibt, aber dass sie in Ashford und Maidstone umsteigen müsste. FELICITY: Ich frage mich, warum dieser Zug überhaupt existiert. Er scheint nirgendwohin zu fahren, wo irgendwer hin will. In dem Augenblick tritt Miranda auf. Sie sieht blass aus und trägt schwarz. CRESTWELL: Wär´s das für den Augenblick, Mylady? FELICITY: Ja, danke schön, Crestwell. Crestwell geht in die Bibliothek. FELICITY: Guten Morgen, Miranda. Ich hoffe, du hast gut geschlafen? MIRANDA: Ich habe kaum ein Auge zugemacht. FELICITY: Du Arme, du musst erschöpft sein! Möchtest du Kaffee, etwas auf´s Brot oder sonst was? MIRANDA: Nein, danke. Ihr Butler sagte mir, dass sie mich dringend sprechen wollten. FELICITY: Wie dumm von ihm. Es ist überhaupt nicht dringend. Ich wollte dich nur um einen Gefallen bitten. MIRANDA: Einen Gefallen? FELICITY: Ja. Ich möchte, dass du der Lokalzeitung eine Exklusivinterview gibst. Ich weiß, man spürt dich bis zum Wahnsinn wegen solcher Dinge auf, aber Willis ist ein besonderer Schützling und es würde so viel für ihn bedeuten. MIRANDA: Ich fürchte, das kann ich nicht, Lady Marshwood. Ich gehe fort. FELICITY: Du gehst fort? MIRANDA: Ich glaube, dass ich unmöglich bleiben könnte, nicht solange meine Schwester im Haus ist. FELICITY: Aber sie lebt hier. Sie hat hier neunzehn Jahre lang gelebt.

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MIRANDA: Mir ist es egal, wo sie lebt. Ich will sie nie wieder sehen. FELICITY: Ich fürchte, das ist nicht möglich. Ohne sie bin ich bewegungsunfähig. Ich bin ihr zugetan. MIRANDA: Sie hat mich beleidigt und gedemütigt und ich spreche bis zum Ende aller Tage kein Wort mehr mit ihr. FELICITY: Ich glaube, das macht ihr nicht viel aus. Schließlich seid ihr in den letzten zwanzig Jahren nicht gerade intim miteinander gewesen, oder? MIRANDA: Die Situation ist unerträglich. FELICITY: Schwierig. Da gebe ich dir recht, aber nicht unerträglich. Moxie und ich werden nicht die ganze Zeit über in diesem Haus sein, weißt du. Wir gehen manchmal fort, statten Besuche ab. MIRANDA: (entsetzt) Wollen Sie damit sagen, dass sie weiterhin hier leben werden, nachdem wir geheiratet haben? FELICITY: Selbstverständlich, meine Liebe. Zufälligerweise ist das mein Zuhause, weißt du. Ich habe hier durchgängig während Nigels erster Ehe gelebt. Natürlich hat sie nicht lange gedauert. Das war nicht meine Schuld. Zumindest denke ich das nicht. MIRANDA: Und Dora – Moxie – wie immer Sie sie auch nennen – wird hier auch leben? FELICITY: Selbstverständlich. MIRANDA: Aber das steht doch ganz außer Frage! Es wäre unerträglich. FELICITY: Es wäre viel unerträglicher für mich, wenn sie fort ginge. MIRANDA: Aber Sie müssen doch verstehen... FELICITY: Ich wäre absolut hilflos ohne sie. Ich käme zu keiner Mahlzeit pünktlich, meine Haare stünden nur noch ab und ich wäre vom Kopf bis Fuß von Sicherheitsnadeln bedeckt. MIRANDA: Jetzt hören Sie mal zu, Lady Marshwood, ich finde, wir kommen dahingehend besser zu einer Einigung. FELICITY: Auf jeden Fall. Was schlägst du vor? MIRANDA: Ich schlage vor, dass man Dora irgendwo eine kleine Hütte und eine vernünftige Pension zuweist. Ich habe das mit Nigel noch nicht besprochen, aber ich bin sicher, dass er mir zustimmen würde... FELICITY: Ich habe keinen Zweifel, dass er das tun würde, aber er hängt auch nicht von ihr ab, weil sie ihm nicht jeden Morgen die Haare richtet. Und ich tue das.

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MIRANDA: Ich gebe zu, dass ich mich Dora gegenüber nicht sonderlich gut benommen habe und das tut mir leid. Ich werde versuchen, das, soweit es nur geht, wieder gut zu machen. FELICITY: Du hast gerade gesagt, dass du nicht beabsichtigtest, bis ans Ende deiner Tage mit ihr zu sprechen. MIRANDA: Das weiß ich und das tut mir auch leid. Ich habe kein Auge zugemacht und meine Nerven liegen blank. FELICITY: Möchtest du eine Tablette? Ich habe welche in meinem Zimmer. Moxie weiß, wo sie sind. MIRANDA: Nein, danke schön. FELICITY: Wir fühlen uns alle heute Morgen ein bisschen überreizt. Nigel hat natürlich das Vernünftigste getan. Er hat sich für einen Ritt über Land auf´s Pferd gesetzt. Aber das konnten wir nicht alle tun, weil´s nicht genug Pferde gibt. Ehrlich gesagt, besitzt May ein Fahrrad, das sie augenblicklich nicht benutzt... MIRANDA: Sie wollen nicht, dass ich Nigel heirate, nicht wahr? FELICITY: Im Augenblick nicht, Miranda, aber ich bin sicher, dass ich mich schon dran gewöhne. Ich bin sehr anpassungsfähig. Ich gehe davon aus, dass wir beide zunächst gewisse Zugeständnisse machen müssen, aber wir werden uns zweifelsfrei nach einer gewissen Zeit gut nebeneinander bewegen. MIRANDA: Nebeneinander bewegen? FELICITY: Ich weiß, es hört sich nicht sonderlich verführerisch an, aber du weißt schon, was ich meine, nicht wahr? MIRANDA: Das tue ich. Ich bin nicht ganz so dumm, wie Sie glauben. FELICITY: Das freut mich! MIRANDA: Ich weiß auch, dass Sie die ganze Verkleiderei von Dora geplant haben, um mich vor Nigel klein und dumm aussehen zu lassen. FELICITY: Ich hatte keine Ahnung, dass du so großzügig zu dem Endergebnis beitragen würdest. MIRANDA: Dann haben Sie es also geplant? FELICITY: Nein, ehrlich gesagt, habe ich das nicht. Die ganze Angelegenheit war improvisiert, ziemlich dämlich, das gebe ich zu, um Moxies Gefühle und deine wenigstens zeitweise zu schützen.

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MIRANDA: Glauben Sie, dass ich Ihnen das abnehme? FELICITY: Du kannst das glauben oder sein lassen, aber zufälligerweise ist das die Wahrheit. Natürlich wusste ich, dass die Tatsache, dass du und Moxie Geschwister seid unweigerlich herauskommen musste, aber ich habe gehofft, dass zu dem Zeitpunkt du und ich uns gut genug gekannt und gut genug gemocht hätten, um die Situation ruhig und vernünftig zu besprechen. Unglücklicherweise hat es nicht funktioniert. MIRANDA: Das hat es ganz sicher nicht. FELICITY: Moxie, die von deinen eskapistischen Phantasierereien aufgebracht war, hat den Kopf verloren und mit dem Versteckspiel aufgehört. Ich muss sagen, dass ich ihr das nicht verübeln kann. MIRANDA: Sie vielleicht nicht, aber ich. FELICITY: Das Einzige, was du ihr vorwerfen kannst, ist, dass sie nicht am Alkohol gestorben ist. MIRANDA: (beginnt, die Kontrolle zu verlieren) Gut, ich sage Ihnen das hier und jetzt: Bevor ich meinen Fuß in dieses Haus als Nigels Ehefrau setze, ist sie ein für allemal verschwunden. FELICITY: Im Gegenteil. Sie wird dich an der Haustür begrüßen. Wir könnten sogar durchsetzen, dass sie einen Knicks vor dir macht. Die Pressefotografen würden es lieben! MIRANDA: Sie vergessen eins. Nigel ist zufälligerweise in mich verliebt. Er wird nicht herumstehen und zulassen, dass ich öffentlich gedemütigt werde. FELICITY: Bist du dir so sicher? MIRANDA: Was meinen Sie damit? FELICITY: Nigel ist mein Sohn, Miranda, und wie sein Vater hat er einen angeborenen Defekt in seinem Temperament. Er verachtet Disharmonie, hasst Szenen und sucht bei dem erstbesten häuslichen Konflikt das Weite. MIRANDA: Wollen Sie damit sagen, dass aufgrund dieser, dieser Tatsache, dass Dora Ihr Dienstmädchen ist, er mich nicht heiraten wird? FELICITY: Aber nicht doch. Nigel steht zu seinem Wort. Ich warne dich nur vor. MIRANDA: Ich brauche keine Warnung. Vielen Dank. FELICITY: Also, wirklich, Miranda, für eine erfolgreiche und weltberühmte Frau bist du erstaunlich dumm. MIRANDA: Wie können Sie es wagen, so mit mir zu sprechen!

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FELICITY: Du vergisst, meine Liebe, dass ich praktisch schon deine Schwiegermutter bin. Und es scheint so sicher wie das Amen in der Kirche, dass wir dazu bestimmt sind, in den nächsten Jahren eine endlose Serie von unangenehmen Szenen zu erleben. Ich denke, wir können diese hier jetzt abkürzen, nicht wahr? (Sie bewegt sich zur Tür hin.) Wir gehen normalerweise um elf Uhr zur Kirche. Felicity tritt ab. Allein zurückgelassen läuft Miranda für eine Zeitlang durch´s Zimmer und ballt ihre Fäuste. Nigel tritt auf. Er hat sich einen marineblauen Anzug angezogen. NIGEL: Miranda! Ich dachte, du würdest immer noch schlafen. MIRANDA: Noch schlafen! Ich habe die ganze Nacht meine Augen nicht zugemacht. NIGEL: Liebling, das tut mir so leid. MIRANDA: Ich gehe heute Morgen fort. Ich nehme den elf Uhr fünfzehn ab Deal. NIGEL: Das kannst du unmöglich. MIRANDA: Und wieso nicht? Das möchte ich gerne wissen? NIGEL: Das ist ein furchtbarer Zug. Du musst zweimal umsteigen. Ashford und Maidstone. MIRANDA: Deine Mutter hat mich beleidigt. NIGEL: Ich bin sicher, dass sie das nicht gewollt hat. Du musst Mutter wirklich nicht ernst nehmen. Sie quasselt unentwegt, weißt du, sie meint nur die Hälfte von dem, was sie sagt. MIRANDA: Sie sagt, dass sie mit uns hier im Haus leben will. Stimmt das? NIGEL: Natürlich stimmt das. Sie hat immer hier gelebt. MIRANDA: Nigel! NIGEL: Beruhig dich, Liebes! Du musst sie ja nicht oft sehen, nur abends. Sie hat den ganzen Tag über unheimlich viel um die Ohren. Sie steht dem Haus vor und im Grunde dem ganzen Dorf. Keiner weiß, in wie vielen Komitees sie sitzt. Sie ist gewissermaßen eine Institution. MIRANDA: Erwartest du von mir, dass ich mein ganzes Leben, meine Karriere, alles opfere, um mit einer Institution zu leben?

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NIGEL: Ich habe dich nie gebeten, irgendwas zu opfern. Du hast in Cannes gesagt, dass du trübselig und einsam bist und von all dem weg wolltest und dass dein Ruhm und dein Erfolg nur leeres Getue sei. Du bist sogar in Tränen ausgebrochen, als dieser junge Mann einen Schnappschuss von dir vor dem Palm Beach Casino machen wollte. MIRANDA: Deine Mutter hasst mich. Verstehst du das nicht? Sie hasst mich! NIGEL: Unsinn. Das bildest du dir ein. Sie ist heute Morgen vielleicht ein bisschen vergrätzt. Die Szene gestern Abend war ärgerlich, das Haus ist unterbesetzt, ein Dienstmädchen krank und die andere fort, und sie hat die Gemeindefeier am Freitag. Sie hat viel um die Ohren. MIRANDA: Sie hat viel um die Ohren? Und was ist mit mir? NIGEL: Hör zu, Miranda... MIRANDA: (den Tränen nahe) Du liebst mich nicht. Das ist jedenfalls ganz klar. Du hast dich letzte Nacht nicht für mich interessiert... NIGEL: Du hast mir die Tür vor der Nase zugeschlagen. MIRANDA: Und heute Morgen bist du ohne ein Wort des Mitgefühls oder Verständnisses reiten gegangen. NIGEL: In England sagen wir eher „einen Ausritt machen“ als „reiten gegangen“. MIRANDA: Ich lebe nicht mit deiner Mutter in diesem Haus, und das ist endgültig. NIGEL: (eisig) Als meine Ehefrau, Miranda, erwarte ich, dass du dort lebst, wo ich lebe und tust, worum ich dich bitte, und dich darum bemühst, dich gut mit meiner Mutter zu verstehen. Ich hasse und verachte Szenen. Und was noch viel bedeutender ist, habe ich keinerlei Absicht, mich in sie einzumischen. Ich bin ziemlich sicher, dass, sobald du ihr ein Zeichen des Entgegenkommens gibst, meine Mutter dir bestimmt auf dem halben Weg entgegenkommen würde. Und ich sehe keinen guten Grund, warum ihr euch nicht, mit gutem Willen auf beiden Seiten, bestens nebeneinander bewegen solltet. Würdevoll tritt Nigel ab und verschließt die Tür hinter sich. Miranda stößt einen nicht genau definierten Wutschrei aus und bricht tränenreich auf dem Sofa zusammen. Nach einer Weile tritt Don auf. DON: Pete! MIRANDA: Verschwinde! DON: Wein nicht! Du weißt, wie fertig mich das machst, wenn du weinst. MIRANDA: Ich ertrage das nicht mehr... Ich ertrage...

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DON: Was ist passiert, Kleines? Hat der Typ, der den Stock verschluckt hat, etwas gesagt, was dich aufgeregt hat? MIRANDA: (kontrolliert sich unter höchster Anstrengung) Nein. Don, es ist nichts. Geh bitte fort. Ich bin gleich wieder in Ordnung... DON: Wie kann ich gehen und dich so zurücklassen? MIRANDA: Das musst du, Don. Das musst du wirklich. Du kannst nichts weiter tun. (Sie steht auf und bewegt sich von ihm fort.) Das ist mein Problem und ich muss mich alleine damit herumschlagen. DON: Wenn diese englische Laus mit Zylinderhut irgendetwas gesagt hat, das dich zum Weinen bringt, zerquetsch ich ihm seine Nase. MIRANDA: Nein, Don, tu das nicht. Das bringt nichts. DON: Wieso hast du geweint? MIRANDA: (tapfer) Ein Augenblick der Schwäche. Das ist alles. Ich habe mich plötzlich einsam und aufgebracht gefühlt... DON: (unglücklich) Oh, Pete! MIRANDA: (wie vor der Kamera) Das Leben kann manchmal sehr grausam sein, Don. Es kann den Menschen Schlimmes zufügen, ganz besonders übersensiblen, leutseligen Närrinnen wie mir. DON: Du bist keine Närrin, Pete. Du bist ganz schön clever. Das bist du immer schon gewesen. Und du bist eine Kämpferin. Das ist das, was mir am besten an dir gefällt. Du hast Mut! MIRANDA: Danke, Don – Pete. DON: Du lässt nicht zu, dass diese schmalspurige Teegesellschaft dich aus dem Gleichgewicht bringt, oder? Du – Miranda Frayle? Du musst völlig den Verstand verloren haben! MIRANDA: Wozu die Rederei, Pete? Vielleicht habe ich den Verstand verlieren. Vielleicht habe ich alles durcheinander gebracht, aber ich kann hier nicht so einfach r aus. Ich habe den Vertrag unterschrieben. DON: Du bist nach zwei Wochen bei „Träume lügen nicht“ ausgestiegen, Vertrag oder kein Vertrag. Wo ist dein Kampfgeist? Sie haben dich für drei Monate gesperrt und du hast ihnen ins Gesicht gelacht! Zumindest können sie dich hier nicht sperren! MIRANDA: Sie können Schlimmeres tun. Sie können mich quälen und demütigen. Sie können... (Sie stockt.) Sie können mir das Herz brechen.

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DON: (nimmt sie in seine Arme) Solange ich da bin, können sie das nicht! Ich bin der, der dich liebt. Erinnerst du dich? MIRANDA: (emotional) Oh, Pete! Felicity tritt gefolgt von Nigel und Peter auf. Sie sind für die Kirche angezogen. FELICITY: Also, wirklich, Miranda! Das wird langsam eintönig! MIRANDA: (löst sich aus Dons Umarmung) Mir ist, als hätten wir nichts mehr miteinander zu besprechen, Lady Marshwood. FELICITY: Ich fürchte, das wird unsere langen Winterabende zusammen etwas fade machen. Es sieht danach aus, als ob wir doch einen Fernsehapparat bräuchten. NIGEL: (mit Würde) Was bedeutet das, Miranda? MIRANDA: (mit Würde) Das bedeutet, dass ich fort gehe. NIGEL: Ich weiß. Das hast du vor kurzem schon gesagt. Ich fahre dich nach dem Mittagessen. Du kannst unmöglich den Zug nehmen. MIRANDA: Don fährt mich, und zwar vor dem Mittagessen. Oder, Don? DON: Darauf kannst du wetten. FELICITY: Nun, wir können hier nicht rumstehen und darüber diskutieren, wer wen fährt. Wir werden zu spät in der Kirche sein. Crestwell tritt auf. CRESTWELL: Das Auto von Mr. Don Lucas steht vor der Tür, Mylady. DON: (erfreut) Okay. Los, komm, Pete! NIGEL: Pete! … Mir wär´s lieber, du führest nicht mit Mr. Lucas nach London, Miranda. DON: (drohend) Sie können schon mal damit aufhören, sie von jetzt an herumzukommandieren, verstanden? Sie kommt mit mir. Jetzt! FELICITY: Seien Sie nicht so streitlustig, Don. Es ist völlig unnötig. Sie retten jetzt niemanden von den Japanern, verstehen Sie? DON: Tut mir leid, Madam – Felicity. Aber sie kommt jetzt sofort mit mir. Sie wird nicht hier bleiben und gequält und gedemütigt werden. PETER: (zu Felicity) Siehst du, er glaubt doch, dass wir die Japaner sind. Das ist so eine Art Okkupationsneurose.

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NIGEL: Halt die Klappe, Peter. (Zu Miranda.) Du bestehst darauf, mit Mr. Lucas fortzufahren? MIRANDA: Ja, das tue ich! Ich kann hier nicht bleiben. Ich könnte nicht in diesem Haus leben, wenn die Umstände so sind wie sie sind. (Sie schickt Felicity einen giftigen Blick.) Zu glauben, dass das geht, war eine Tollheit von mir. Ich trenne mich von dir, Nigel. Es tut mir leid, aber so ist das nun mal. Und du kannst meiner Schwester ausrichten, dass sie deiner Mutter die Haare machen kann, solange sie welche hat. Los jetzt, Don! Schwungvoll verlässt Miranda das Zimmer. Nach einem verlegenen Blick zu Felicity folgt Don ihr. FELICITY: Die arme Miranda! Sie ist den ganzen Morgen schon drüber. NIGEL: Das ist alles dein Verdienst, Mutter. Ich hoffe, du bist zufrieden. Du hast das hier alles bewerkstelligt. Mit voller Absicht hast du sie in die Arme von diesem Rüpel getrieben. FELICITY: Das habe ich nicht. Seit sie ihren Fuß in dieses Haus gesetzt hat, lag sie wie ein Springteufel entweder in seinen Armen oder hat ihn gemieden. NIGEL: Du hast dich abscheulich benommen und ich schäme mich für dich. FELICITY: Und ich schäme mich entsetzlich für dich. Du, der du zum Hochadel gehörst, lässt ohne Protest zu, dass die Frau, die du liebst, unter deinen Augen einfach entführt wird. Ich kann´s kaum glauben. NIGEL: Was für ein heuchlerischer Unsinn! Du wolltest Miranda los werden und du hast es geschafft. Du freust dich wie eine Schneekönigin! FELICITY: Und du? Willst du da rumstehen und so tun, als ob dein Herz gebrochen sei? Du scheinst zu vergessen, dass ich deine Mutter bin, mein Lieber. Ich habe dich mitten in einer Ascot Woche zur Welt gebracht, und ich kenne dich vollständig. Du hast Miranda nie wirklich geliebt, nicht mehr als du all die anderen geliebt hast. Natürlich freue ich mich. Wir freuen uns alle. Und jetzt lasst uns um Gottes Willen gehen. Wir sind schrecklich spät. Das letzte Läuten ist eine Ewigkeit her. Moxie tritt in ihrem Mantel und mit Hut auf. FELICITY: Ah, da bist du ja, Moxie! Ich hatte keine Ahnung, was mit dir los ist! MOXIE: Ich bin gekommen, um auf Wiedersehen zu sagen, Mylady. FELICITY: Unsinn! Nimm deinen Hut ab und sei nicht so albern! MOXIE: Aber, Mylady...

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FELICITY: Tu, was ich dir sage. Und gib mir um Himmels Willen Geld für die Kollekte. Es gibt nichts mehr, worüber du dir Sorgen machen musst. Ich habe jetzt keine Zeit, noch mehr zu erklären, aber das macht Crestwell dann... Los geht’s, alle miteinander! Moxie gibt Felicity eine Münze. FELICITY: Danke schön. Geben Sie Moxie ein Glas Sherry. Sie sieht so aus, als ob sie gleich umkippt. Komm, Nigel, es ist dein erster Sonntag, an dem du zu Hause bist und du musst versuchen, so dreinzuschauen, als ob nichts passiert wäre. Und schließlich, wenn man es analysiert, ist ja auch nicht viel geschehen, oder? Schwungvoll tritt Felicity durch die französischen Fenster ab. Peter folgt ihr. Nigel will auch gehen, aber plötzlich sieht er Moxies Gesichtsausdruck. NIGEL: Kopf hoch, Moxie! Alles ist jetzt wieder in Ordnung. Er fasst sie herzlich an der Schulter an und folgt den anderen. MOXIE: (in sein Weggehen hinein – zittrig) Danke, Mylord. Vielen, vielen Dank. (Sie sinkt in einen Sessel und wühlt in ihrer Tasche nach einem Taschentuch.) CRESTWELL: Lass gut sein, Dora. Du hast gehört, was er gesagt hat! MOXIE: Für dich ist alles einfach. Du hast dich nicht öffentlich ausgestellt und dir die ganze Nacht die Augen ausgeheult. CRESTWELL: (geht zu dem Tisch mit den Getränken) Einmal angenommen ich hätte das, dann besäße ich jetzt genug Grips, um die Klappe zu halten. MOXIE: Dir ist nicht der Boden unter deinen Füßen weggezogen und du bist nicht von deinem eigenen Fleisch und Blut beschämt und gedemütigt worden. Ich werde nie wieder erhobenen Hauptes durch die Gegend gehen können. Und das ist eine Tatsache. CRESTWELL: (gießt freudig zwei Gläser Sherry ein) In dem Fall müssen wir uns wohl mit deinem gebeugten Gang abfinden, nicht wahr? (Er gibt ihr ein Glas.) Hier! Fort mit der Melancholie! Nimm einen Schluck hiervon! MOXIE: (nimmt das Glas – schwach) Danke, Fred. CRESTWELL: (nimmt sein eigenes Glas) Wenn ich mir die ganze Situation betrachte, Dora, sattelst du das Pferd vom falschen Ende aus auf. Du bist nicht diejenige, die beschämt und gedemütigt wurde. Dein einziger Fehler, wenn du mir gestattest, eine winzig kleine Kritik anzubringen, bestand darin, dass du, als sie sich bot, nicht die wunderbare Gelegenheit ergriffen hast, deinem eigen Fleisch und Blut den Hosenboden zu versohlen! MOXIE: (mit einem leichten Kichern) Oh, Fred!

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CRESTWELL: (erhebt sein Glas) Ich spreche einen Toast auf dich aus, Dora. Feierlich trinke ich auf dich und mich, auf unsere demütige, aber im Großen und Ganzen ehrenhafte Berufung. Ich trinke auf die Mylady und seine Lordschaft, die unter der Last der Privilegien stöhnen, denen es aber immer gelingt, die Nase hoch zu halten. Zu guter Letzt trinke ich auf den unrühmlichen und endgültigen Fall des unmöglichsten Traumes, der je das alberne Herz der Menschheit bewegt hat: Die gesellschaftliche Gleichheit! (Er trinkt.) MOXIE: Niemand kann dich vom Reden abbringen, was? CRESTWELL: Es wäre, das gebe ich zu, eine Herkulesarbeit, aber sollte es dir zu irgendeiner Zeit zu viel werden, musst du nur ein Wort sagen. MOXIE: Der Tag wird zweifelsohne kommen! (Sie kichert wieder.) CRESTWELL: Wie sieht´s mit noch einem Schluck Sherry aus? MOXIE: Ich habe nichts dagegen! VORHANG

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