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DigBib.Org: Die freie digitale Bibliothek

Franz Kafka

Amerika

Quelle: www.digbib.org/Franz_Kafka_1883/AmerikaErstellt am 29.08.2013DigBib.Org ist ein öffentliches Projekt. Bitte helfen Sie die Qualität der Texte zu verbessern: Falls SieFehler finden bitte bei DigBib.Org melden.

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Der Heizer

Als der sechzehnjährige Karl Roßmann, der von seinen armen Eltern nachAmerika geschickt worden war, weil ihn ein Dienstmädchen verführt und ein Kindvon ihm bekommen hatte, in dem schon langsam gewordenen Schiff in den Hafenvon New York einfuhr, erblickte er die schon längst beobachtete Statue derFreiheitsgöttin wie in einem plötzlich stärker gewordenen Sonnenlicht. Ihr Arm mitdem Schwert ragte wie neuerdings empor, und um ihre Gestalt wehten die freienLüfte.

>So hoch!< sagte er sich und wurde, wie er so gar nicht an das Weggehendachte, von der immer mehr anschwellenden Menge der Gepäckträger, die an ihmvorüberzogen, allmählich bis an das Bordgeländer geschoben.

Ein junger Mann, mit dem er während der Fahrt flüchtig bekannt geworden war,sagte im Vorübergehen: »Ja, haben Sie denn noch keine Lust, auszusteigen?«»Ich bin doch fertig«, sagte Karl, ihn anlachend, und hob aus Übermut, und weil erein starker Junge war, seinen Koffer auf die Achsel. Aber wie er über seinenBekannten hinsah, der ein wenig seinen Stock schwenkend sich schon mit denandern entfernte, merkte er bestürzt, daß er seinen eigenen Regenschirm unten imSchiff vergessen hatte. Er bat schnell den Bekannten, der nicht sehr beglücktschien, um die Freundlichkeit, bei seinem Koffer einen Augenblick zu warten,überblickte noch die Situation, um sich bei der Rückkehr zurechtzufinden, und eiltedavon. Unten fand er zu seinem Bedauern einen Gang, der seinen Weg sehrverkürzt hätte, zum erstenmal versperrt, was wahrscheinlich mit der Ausschiffungsämtlicher Passagiere zusammenhing, und mußte Treppen, die einander immerwieder folgten, durch fortwährend abbiegende Korridore, durch ein leeres Zimmermit einem verlassenen Schreibtisch mühselig suchen, bis er sich tatsächlich, da erdiesen Weg nur ein- oder zweimal und immer in größerer Gesellschaft gegangenwar, ganz und gar verirrt hatte. In seiner Ratlosigkeit und da er keinen Menschentraf und nur immerfort über sich das Scharren der tausend Menschenfüße hörte undvon der Ferne, wie einen Hauch, das letzte Arbeiten der schon eingestelltenMaschinen merkte, fing er, ohne zu überlegen, an eine beliebige kleine Tür zuschlagen an, bei der er in seinem Herumirren stockte.

»Es ist ja offen«, rief es von innen, und Karl öffnete mit ehrlichem Aufatmen dieTür. »Warum schlagen Sie so verrückt auf die Tür?« fragte ein riesiger Mann, kaumdaß er nach Karl hinsah. Durch irgendeine Oberlichtluke fiel ein trübes, oben imSchiff längst abgebrauchtes Licht in die klägliche Kabine, in welcher ein Bett, einSchrank, ein Sessel und der Mann knapp nebeneinander, wie eingelagert,standen. »Ich habe mich verirrt«, sagte Karl, »Ich habe es während der Fahrt garnicht so bemerkt, aber es ist ein schrecklich großes Schiff.« »Ja, da haben Sierecht«, sagte der Mann mit einigem Stolz und hörte nicht auf, an dem Schloß eineskleinen Koffers zu hantieren, den er mit beiden Händen immer wieder zudrückte, umdas Einschnappen des Riegels zu behorchen. »Aber kommen Sie doch herein!«sagte der Mann weiter, »Sie werden doch nicht draußen stehn!« »Störe ich nicht?«fragte Karl. »Ach, wie werden Sie denn stören!« »Sind Sie ein Deutscher?« suchtesich Karl noch zu versichern, da er viel von den Gefahren gehört hatte, welchebesonders von Irländern den Neuankömmlingen in Amerika drohen. »Bin ich, binich«, sagte der Mann. Karl zögerte noch. Da faßte unversehens der Mann dieTürklinke und schob mit der Türe, die er rasch schloß, Karl zu sich herein. »Ich kannes nicht leiden, wenn man mir vom Gang hereinschaut«, sagte der Mann, derwieder an seinem Koffer arbeitete, »da läuft jeder vorbei und schaut herein, dassoll der Zehnte aushalten!« »Aber der Gang ist doch ganz leer«, sagte Karl, der

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unbehaglich an den Bettpfosten gequetscht dastand. »Ja, jetzt«, sagte derMann.>Es handelt sich doch um jetzt<, dachte Karl, >mit dem Mann istschwer zu reden.< »Legen Sie sich doch aufs Bett, da haben Sie mehr Platz«,sagte der Mann. Karl kroch, so gut es ging, hinein und lachte dabei laut über denersten vergeblichen Versuch, sich hinüberzuschwingen. Kaum war er aber im Bett,rief er: »Gotteswillen, ich habe ja ganz meinen Koffer vergessen!« »Wo ist erdenn?« »Oben auf dem Deck, ein Bekannter gibt acht auf ihn. Wie heißt er nur?«Und er zog aus seiner Geheimtasche, die ihm seine Mutter für die Reise imRockfutter angelegt hatte, eine Visitkarte. »Butterbaum, Franz Butterbaum.«»Haben Sie den Koffer sehr nötig?« »Natürlich.« »Ja, warum haben Sie ihn danneinem fremden Menschen gegeben?« »Ich habe meinen Regenschirm untenvergessen und bin gelaufen, um ihn zu holen, wollte aber den Koffer nichtmitschleppen. Dann habe ich mich auch hier noch verirrt.« »Sie sind allein? OhneBegleitung?« »Ja, allein.« >Ich sollte mich vielleicht an diesen Mann halten<,ging es Karl durch den Kopf, >wo finde ich gleich einen besseren Freund.<»Und jetzt haben Sie auch noch den Koffer verloren. Vom Regenschirm rede ichgar nicht.« Und der Mann setzte sich auf den Sessel, als habe Karls Sache jetzteiniges Interesse für ihn gewonnen. »Ich glaube aber, der Koffer ist noch nichtverloren.« »Glauben macht selig«, sagte der Mann und kratzte sich kräftig inseinem dunklen, kurzen, dichten Haar, »auf dem Schiff wechseln mit denHafenplätzen auch die Sitten. In Hamburg hätte Ihr Butterbaum den Koffer vielleichtbewacht, hier ist höchstwahrscheinlich von beiden keine Spur mehr.« »Da muß ichaber doch gleich hinaufschauen«, sagte Karl und sah sich um, wie erhinauskommen könnte. »Bleiben Sie nur«, sagte der Mann und stieß ihn mit einerHand gegen die Brust, geradezu rauh, ins Bett zurück. »Warum denn?« fragte Karlärgerlich. »Weil es keinen Sinn hat«, sagte der Mann, »in einem kleinen Weilchengehe ich auch, dann gehen wir zusammen. Entweder ist der Koffer gestohlen,dann ist keine Hilfe, oder der Mann hat ihn stehengelassen, dann werden wir ihn,bis das Schiff ganz entleert ist, desto besser finden. Ebenso auch IhrenRegenschirm.« »Kennen Sie sich auf dem Schiff aus?« fragte Karl mißtrauisch,und es schien ihm, als hätte der sonst überzeugende Gedanke, daß auf dem leerenSchiff seine Sachen am besten zu finden sein würden, einen verborgenen Haken.»Ich bin doch Schiffsheizer«, sagte der Mann. »Sie sind Schiffsheizer!« rief Karlfreudig, als überstiege das alle Erwartungen, und sah, den Ellbogen aufgestützt, denMann näher an. »Gerade vor der Kammer, wo ich mit dem Slowaken geschlafenhabe, war eine Luke angebracht, durch die man in den Maschinenraum sehenkonnte.« »Ja, dort habe ich gearbeitet,« sagte der Heizer. »Ich habe mich immerso für Technik interessiert«, sagte Karl, der in einem bestimmten Gedankengangblieb, »und ich wäre sicher später Ingenieur geworden, wenn ich nicht nach Amerikahätte fahren müssen.« »Warum haben Sie denn fahren müssen?« »Ach was!« sagteKarl und warf die ganze Geschichte mit der Hand weg. Dabei sah er lächelnd denHeizer an, als bitte er ihn selbst für das Nichteingestandene um seine Nachsicht.»Es wird schon einen Grund haben«, sagte der Heizer, und man wußte nicht recht,ob er damit die Erzählung dieses Grundes fordern oder abwehren wollte. »Jetztkönnte ich auch Heizer werden«, sagte Karl, »meinen Eltern ist es jetzt ganzgleichgültig, was ich werde.« »Meine Stelle wird frei«, sagte der Heizer, gab imVollbewußtsein dessen die Hände in die Hosentaschen und warf die Beine, die infaltigen, lederartigen, eisengrauen Hosen staken, aufs Bett hin, um sie zustrecken. Karl mußte mehr an die Wand rücken. »Sie verlassen das Schiff?«»Jawohl, wir marschieren heute ab.« »Warum denn? Gefällt es Ihnen nicht?« »Ja,das sind die Verhältnisse, es entscheidet nicht immer, ob es einem gefällt odernicht. Übrigens haben Sie recht, es gefällt mir auch nicht. Sie denken wahrscheinlichnicht ernstlich daran, Heizer zu werden, aber gerade dann kann man es am

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leichtesten werden. Ich also rate Ihnen entschieden ab. Wenn Sie in Europastudieren wollten, warum wollen Sie es denn hier nicht? Die amerikanischenUniversitäten sind ja unvergleichbar besser als die europäischen.« »Es ist jamöglich«, sagte Karl, »aber ich habe ja fast kein Geld zum Studieren. Ich habezwar von irgend jemandem gelesen, der bei Tag in einem Geschäft gearbeitet undin der Nacht studiert hat, bis er Doktor und ich glaube Bürgermeister wurde, aberdazu gehört doch eine große Ausdauer, nicht? Ich fürchte, die fehlt mir. Außerdem warich kein besonders guter Schüler, der Abschied von der Schule ist mir wirklich nichtschwer geworden. Und die Schulen hier sind vielleicht noch strenger. Englischkann ich fast gar nicht. Überhaupt ist man hier gegen Fremde so eingenommen,glaube ich.« »Haben Sie das auch schon erfahren? Na, dann ist's gut. Dann sindSie mein Mann. Sehen Sie, wir sind doch auf einem deutschen Schiff, es gehörtder Hamburg-Amerika-Linie, warum sind wir nicht lauter Deutsche hier? Warumist der Obermaschinist ein Rumäne? Er heißt Schubal. Das ist doch nicht zuglauben. Und dieser Lumpenhund schindet uns Deutsche auf einem deutschenSchiff! Glauben Sie nicht« - ihm ging die Luft aus, er fackelte mit der Hand -, »daßich klage, um zu klagen. Ich weiß, daß Sie keinen Einfluß haben und selbst ein armesBürschchen sind. Aber es ist zu arg!« Und er schlug auf den Tisch mehrmals mitder Faust und ließ kein Auge von ihr, während er schlug. »Ich habe doch schon aufso vielen Schiffen gedient« - und er nannte zwanzig Namen hintereinander, alssei es ein Wort, Karl wurde ganz wirr - »und habe mich ausgezeichnet, bin belobtworden, war ein Arbeiter nach dem Geschmack meiner Kapitäne, sogar auf demgleichen Handelssegler war ich einige Jahre« - er erhob sich, als sei das derHöchstpunkt seines Lebens - »und hier auf diesem Kasten, wo alles nach derSchnur eingerichtet ist, wo kein Witz gefordert wird, hier taug ich nichts, hier steheich dem Schubal immer im Wege, bin ein Faulpelz, verdiene hinausgeworfen zuwerden und bekomme meinen Lohn aus Gnade. Verstehen Sie das? Ich nicht.«»Das dürfen Sie sich nicht gefallen lassen«, sagte Karl aufgeregt. Er hatte fast dasGefühl davon verloren, daß er auf dem unsicheren Boden eines Schiffes, an derKüste eines unbekannten Erdteils war, so heimisch war ihm hier auf dem Bett desHeizers zumute. »Waren Sie schon beim Kapitän? Haben Sie schon bei ihm IhrRecht gesucht?« »Ach gehen Sie, gehen Sie lieber weg. Ich will Sie nicht hierhaben. Sie hören nicht zu, was ich sage, und geben mir Ratschläge. Wie soll ichdenn zum Kapitän gehen!« Und müde setzte sich der Heizer wieder und legte dasGesicht in beide Hände.

>Einen besseren Rat kann ich ihm nicht geben<, sagte sich Karl. Und erfand überhaupt, daß er lieber seinen Koffer hätte holen sollen, statt hier Ratschläge zugeben, die doch nur für dumm gehalten wurden. Als ihm der Vater den Koffer fürimmer übergeben hatte, hatte er im Scherz gefragt: »Wie lange wirst du ihnhaben?« und jetzt war dieser treue Koffer vielleicht schon im Ernst verloren. Dereinzige Trost war noch, daß der Vater von seiner jetzigen Lage kaum erfahrenkonnte, selbst wenn er nachforschen sollte. Nur daß er bis New Yorkmitgekommen war, konnte die Schiffsgesellschaft gerade noch sagen. Leid tat esaber Karl, daß er die Sachen im Koffer noch kaum verwendet hatte, trotzdem er esbeispielsweise längst nötig gehabt hätte, das Hemd zu wechseln. Da hatte er also amunrichtigen Ort gespart; jetzt, wo er es gerade am Beginn seiner Laufbahn nötighaben würde, rein gekleidet aufzutreten, würde er im schmutzigen Hemd erscheinenmüssen. Sonst wäre der Verlust des Koffers nicht gar so arg gewesen, denn derAnzug, den er anhatte, war sogar besser als jener im Koffer, der eigentlich nur einNotanzug war, den die Mutter noch knapp vor der Abreise hatte flicken müssen.Jetzt erinnerte er sich auch, daß im Koffer noch ein Stück Veroneser Salami war, dieihm die Mutter als Extragabe eingepackt hatte, von der er jedoch nur denkleinsten Teil hatte aufessen können, da er während der Fahrt ganz ohne Appetit

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gewesen war und die Suppe, die im Zwischendeck zur Verteilung kam, ihmreichlich genügt hatte. Jetzt hätte er aber die Wurst gern bei der Hand gehabt, umsie dem Heizer zu verehren. Denn solche Leute sind leicht gewonnen, wenn manihnen irgendeine Kleinigkeit zusteckt, das wußte Karl von seinem Vater her,welcher durch Zigarrenverteilung alle die niedrigen Angestellten gewann, mitdenen er geschäftlich zu tun hatte. Jetzt besaß Karl an Verschenkbarem nur nochsein Geld, und das wollte er, wenn er schon vielleicht den Koffer verloren habensollte, vorläufig nicht anrühren. Wieder kehrten seine Gedanken zum Koffer zurück,und er konnte jetzt wirklich nicht einsehen, warum er den Koffer während der Fahrtso aufmerksam bewacht hatte, daß ihm die Wache fast den Schlaf gekostet hatte,wenn er jetzt diesen gleichen Koffer so leicht sich hatte wegnehmen lassen. Ererinnerte sich an die fünf Nächte, während derer er einen kleinen Slowaken, der zweiSchlafstellen links von ihm gelegen war, unausgesetzt im Verdacht gehabt hatte,daß er es auf seinen Koffer abgesehen habe. Dieser Slowake hatte nur daraufgelauert, daß Karl endlich, von Schwäche befallen, für einen Augenblick einnickte,damit er den Koffer mit einer langen Stange, mit der er immer während des Tagesspielte oder übte, zu sich hinüberziehen könne. Bei Tage sah dieser Slowakeunschuldig genug aus, aber kaum war die Nacht gekommen, erhob er sich vonZeit zu Zeit von seinem Lager und sah traurig zu Karls Koffer hinüber. Karl konntedies ganz deutlich erkennen, denn immer hatte hie und da jemand mit der Unruhedes Auswanderers ein Lichtchen angezündet, trotzdem dies nach derSchiffsordnung verboten war, und versuchte, unverständliche Prospekte derAuswanderungsagenturen zu entziffern. War ein solches Licht in der Nähe, dannkonnte Karl ein wenig eindämmern, war es aber in der Ferne oder war dunkel,dann mußte er die Augen offenhalten. Diese Anstrengung hatte ihn recht erschöpft,und nun war sie vielleicht ganz nutzlos gewesen. Dieser Butterbaum, wenn er ihneinmal irgendwo treffen sollte!

In diesem Augenblick ertönten draußen in weiter Ferne in die bisherigevollkommene Ruhe hinein kleine kurze Schläge, wie von Kinderfüßen, sie kamennäher mit verstärktem Klang, und nun war es ein ruhiger Marsch von Männern. Siegingen offenbar, wie es in dem schmalen Gang natürlich war, in einer Reihe, manhörte Klirren wie von Waffen. Karl, der schon nahe daran gewesen war, sich imBett zu einem von allen Sorgen um Koffer und Slowaken befreiten Schlafeauszustrecken, schreckte auf und stieß den Heizer an, um ihn endlich aufmerksamzu machen, denn der Zug schien mit seiner Spitze die Tür gerade erreicht zuhaben. »Das ist die Schiffskapelle,« sagte der Heizer, »die haben oben gespieltund gehen jetzt einpacken. Jetzt ist alles fertig und wir können gehen. KommenSie!« Er faßte Karl bei der Hand, nahm noch im letzten Augenblick eineingerahmtes Muttergottesbild von der Wand über dem Bett, stopfte es in seineBrusttasche, ergriff seinen Koffer und verließ mit Karl eilig die Kabine.

»Jetzt gehe ich ins Büro und werde den Herren meine Meinung sagen. Es istkein Passagier mehr da, man muß keine Rücksicht nehmen.« Dieses wiederholteder Heizer verschiedenartig und wollte im Gehen mit Seitwärtsstoßen des Fußes eineden Weg kreuzende Ratte niedertreten, stieß sie aber bloß schneller in das Lochhinein, das sie noch rechtzeitig erreicht hatte. Er war überhaupt langsam in seinenBewegungen, denn wenn er auch lange Beine hatte, so waren sie doch zuschwer.

Sie kamen durch eine Abteilung der Küche, wo einige Mädchen in schmutzigenSchürzen - sie begossen sie absichtlich - Geschirr in großen Bottichen reinigten. DerHeizer rief eine gewisse Line zu sich, legte den Arm um ihre Hüfte und führte sie,die sich immerzu kokett gegen seinen Arm drückte, ein Stückchen mit. »Es gibt jetztAuszahlung, willst du mitkommen?« fragte er. »Warum soll ich mich bemühn, bring

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mir das Geld lieber her«, antwortete sie, schlüpfte unter seinem Arm durch und liefdavon. »Wo hast du denn den schönen Knaben aufgegabelt?« rief sie noch, wollteaber keine Antwort mehr. Man hörte das Lachen aller Mädchen, die ihre Arbeitunterbrochen hatten.

Sie aber gingen weiter und kamen an eine Tür, die oben einen kleinen Vorgiebelhatte, der von kleinen, vergoldeten Karyatiden getragen war. Für eineSchiffseinrichtung sah das recht verschwenderisch aus. Karl war, wie er merkte,niemals in diese Gegend gekommen, die wahrscheinlich während der Fahrt denPassagieren der ersten und zweiten Klasse vorbehalten gewesen war, währendman jetzt vor der großen Schiffsreinigung die Trennungstüren ausgehoben hatte.Sie waren auch tatsächlich schon einigen Männern begegnet, die Besen an derSchulter trugen und den Heizer gegrüßt hatten. Karl staunte über den großen Betrieb,in seinem Zwischendeck hatte er davon freilich wenig erfahren. Längs der Gängezogen sich auch Drähte elektrischer Leitungen, und eine kleine Glocke hörte manimmerfort.

Der Heizer klopfte respektvoll an der Türe an und forderte, als man »Herein!«rief, Karl mit einer Handbewegung auf, ohne Furcht einzutreten. Dieser trat auchein, aber blieb an der Tür stehen. Vor den drei Fenstern des Zimmers sah er dieWellen des Meeres, und bei Betrachtung ihrer fröhlichen Bewegung schlug ihmdas Herz, als hätte er nicht fünf lange Tage das Meer ununterbrochen gesehen.Große Schiffe kreuzten gegenseitig ihre Wege und gaben dem Wellengang nur soweit nach, als es ihre Schwere erlaubte. Wenn man die Augen klein machte,schienen diese Schiffe vor lauter Schwere zu schwanken. Auf ihren Mastentrugen sie schmale, aber lange Flaggen, die zwar durch die Fahrt gestrafftwurden, trotzdem aber noch hin und her zappelten. Wahrscheinlich vonKriegsschiffen her erklangen Salutschüsse, die Kanonenrohre eines solchen nichtallzuweit vorüberfahrenden Schiffes, strahlend mit dem Reflex ihres Stahlmantels,waren wie gehätschelt von der sicheren, glatten und doch nicht waagrechten Fahrt.Die kleinen Schiffchen und Boote konnte man, wenigstens von der Tür aus, nur inder Ferne beobachten, wie sie in Mengen in die Öffnungen zwischen den großenSchiffen einliefen. Hinter alledem aber stand New York und sah Karl mithunderttausend Fenstern seiner Wolkenkratzer an. Ja, in diesem Zimmer wußteman, wo man war.

An einem runden Tisch saßen drei Herren, der eine ein Schiffsoffizier in blauerSchiffsuniform, die zwei anderen, Beamte der Hafenbehörde, in schwarzenamerikanischen Uniformen. Auf dem Tisch lagen, hochaufgeschichtet,verschiedene Dokumente, welche der Offizier zuerst mit der Feder in der Handüberflog, um sie dann den beiden anderen zu reichen, die bald lasen, baldexzerpierten, bald in ihre Aktentaschen einlegten, wenn nicht gerade der eine, derfast ununterbrochen ein kleines Geräusch mit den Zähnen vollführte, seinemKollegen etwas in ein Protokoll diktierte.

Am Fenster saß an einem Schreibtisch, den Rücken der Tür zugewendet, einkleinerer Herr, der mit großen Folianten hantierte, die auf einem starken Bücherbrettin Kopfhöhe vor ihm aneinandergereiht waren. Neben ihm stand eine offene,wenigstens auf den ersten Blick leere Kassa.

Das zweite Fenster war leer und gab den besten Ausblick. In der Nähe desdritten aber standen zwei Herren in halblautem Gespräch. Der eine lehnte nebendem Fenster, trug auch die Schiffsuniform und spielte mit dem Griff des Degens.Derjenige, mit dem er sprach, war dem Fenster zugewendet und enthüllte hie undda durch eine Bewegung einen Teil der Ordensreihe auf der Brust des andern. Erwar in Zivil und hatte ein dünnes Bambusstöckchen, das, da er beide Hände an denHüften festhielt, auch wie ein Degen abstand.

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Karl hatte nicht viel Zeit, alles anzusehen, denn bald trat ein Diener auf sie zuund fragte den Heizer mit einem Blick, als gehöre er nicht hierher, was er dennwolle. Der Heizer antwortete, so leise als er gefragt wurde, er wolle mit dem HerrnOberkassier reden. Der Diener lehnte für seinen Teil mit einer Handbewegungdiese Bitte ab, ging aber dennoch auf den Fußspitzen, dem runden Tisch in großemBogen ausweichend, zu dem Herrn mit den Folianten. Dieser Herr - das sah mandeutlich - erstarrte geradezu unter den Worten des Dieners, kehrte sich aberendlich nach dem Manne um, der ihn zu sprechen wünschte, und fuchtelte dann,streng abwehrend, gegen den Heizer und der Sicherheit halber auch gegen denDiener hin. Der Diener kehrte darauf zum Heizer zurück und sagte in einem Tone,als vertraue er ihm etwas an: »Scheren Sie sich sofort aus dem Zimmer!«

Der Heizer sah nach dieser Antwort zu Karl hinunter, als sei dieser sein Herz,dem er stumm seinen Jammer klage. Ohne weitere Besinnung machte sich Karllos, lief quer durchs Zimmer, daß er sogar leicht an den Sessel des Offiziersstreifte, der Diener lief gebeugt mit zum Umfangen bereiten Armen, als jage er einUngeziefer, aber Karl war der erste beim Tisch des Oberkassiers, wo er sichfesthielt, für den Fall, daß der Diener versuchen sollte, ihn fortzuziehen.

Natürlich wurde gleich das Zimmer lebendig. Der Schiffsoffizier am Tisch waraufgesprungen, die Herren von der Hafenbehörde sahen ruhig, aber aufmerksamzu, die beiden Herren am Fenster waren nebeneinandergetreten, der Diener,welcher glaubte, er sei dort, wo schon die hohen Herren Interesse zeigten, nichtmehr am Platze, trat zurück. Der Heizer an der Türe wartete angespannt auf denAugenblick, bis seine Hilfe nötig würde. Der Oberkassier endlich machte in seinemLehnsessel eine große Rechtswendung.

Karl kramte aus seiner Geheimtasche, die er den Blicken dieser Leute zuzeigen keine Bedenken hatte, seinen Reisepaß hervor, den er statt weitererVorstellung geöffnet auf den Tisch legte. Der Oberkassier schien diesen Paß fürnebensächlich zu halten, denn er schnappte ihn mit zwei Fingern beiseite, woraufKarl, als sei diese Formalität zur Zufriedenheit erledigt, den Paß wieder einsteckte.

»Ich erlaube mir zu sagen«, begann er dann, »daß meiner Meinung nach demHerrn Heizer Unrecht geschehen ist. Es ist hier ein gewisser Schubal, der ihmaufsitzt. Er selbst hat schon auf vielen Schiffen, die er Ihnen alle nennen kann,zur vollständigen Zufriedenheit gedient, ist fleißig, meint es mit seiner Arbeit gut, undes ist wirklich nicht einzusehen, warum er gerade auf diesem Schiff, wo doch derDienst nicht so übermäßig schwer ist, wie zum Beispiel auf Handelsseglern, schlechtentsprechen sollte. Es kann daher nur Verleumdung sein, die ihn in seinemVorwärtskommen hindert und ihn um die Anerkennung bringt, die ihm sonst ganzbestimmt nicht fehlen würde. Ich habe nur das Allgemeine über diese Sache gesagt,seine besonderen Beschwerden wird er Ihnen selbst vorbringen.« Karl hatte sichmit dieser Rede an alle Herren gewendet, weil ja tatsächlich auch alle zuhörten undes viel wahrscheinlicher schien, daß sich unter allen zusammen ein Gerechtervorfand, als daß dieser Gerechte gerade der Oberkassier sein sollte. AusSchlauheit hatte außerdem Karl verschwiegen, daß er den Heizer erst so kurze Zeitkannte. Im übrigen hätte er noch viel besser gesprochen, wenn er nicht durch dasrote Gesicht des Herrn mit dem Bambusstöckchen beirrt worden wäre, das er vonseinem jetzigen Standort zum erstenmal sah.

»Es ist alles Wort für Wort richtig«, sagte der Heizer, ehe ihn noch jemandgefragt, ja ehe man noch überhaupt auf ihn hingesehen hatte. Diese Übereiltheit desHeizers wäre ein großer Fehler gewesen, wenn nicht der Herr mit den Orden, der,wie es jetzt Karl aufleuchtete, jedenfalls der Kapitän war, offenbar mit sich bereitsübereingekommen wäre, den Heizer anzuhören. Er streckte nämlich die Hand aus undrief dem Heizer zu: »Kommen Sie her!« mit einer Stimme, fest, um mit einem

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Hammer darauf zu schlagen. Jetzt hing alles vom Benehmen des Heizers ab,denn was die Gerechtigkeit seiner Sache anlangte, an der zweifelte Karl nicht.

Glücklicherweise zeigte sich bei dieser Gelegenheit, daß der Heizer schon viel inder Welt herumgekommen war. Musterhaft ruhig nahm er aus seinem Köfferchenmit dem ersten Griff ein Bündelchen Papiere sowie ein Notizbuch, ging damit, alsverstünde sich das von selbst, unter vollständiger Vernachlässigung desOberkassiers, zum Kapitän und breitete auf dem Fensterbrett seine Beweismittelaus. Dem Oberkassier blieb nichts übrig, als sich selbst hinzubemühn. »Der Mannist ein bekannter Querulant«, sagte er zur Erklärung, »er ist mehr in der Kassa alsim Maschinenraum. Er hat Schubal, diesen ruhigen Menschen, ganz zurVerzweiflung gebracht. Hören Sie einmal!« wandte er sich an den Heizer, »Sietreiben Ihre Zudringlichkeit doch schon wirklich zu weit. Wie oft hat man Sieschon aus den Auszahlungsräumen hinausgeworfen, wie Sie es mit Ihren ganz,vollständig und ausnahmslos unberechtigten Forderungen verdienen! Wie oft sindSie von dort in die Hauptkassa gelaufen gekommen! Wie oft hat man Ihnen imguten gesagt, daß Schubal Ihr unmittelbarer Vorgesetzter ist, mit dem allein Siesich als ein Untergebener abzufinden haben! Und jetzt kommen Sie gar noch her,wenn der Herr Kapitän da ist, schämen sich nicht, sogar ihn zu belästigen, sondernentblöden sich nicht einmal, als eingelernten Stimmführer Ihrer abgeschmacktenBeschuldigungen diesen Kleinen mitzubringen, den ich überhaupt zum erstenmalauf dem Schiffe sehe!«

Karl hielt sich mit Gewalt zurück, vorzuspringen. Aber schon war auch der Kapitända, welcher sagte: »Hören wir den Mann doch einmal an. Der Schubal wird mirsowieso mit der Zeit viel zu selbständig, womit ich aber nichts zu Ihren Gunstengesagt haben will.« Das letztere galt dem Heizer, es war nur natürlich, daß er sichnicht sofort für ihn einsetzen konnte, aber alles schien auf dem richtigen Wege. DerHeizer begann seine Erklärungen und überwand sich gleich am Anfang, indem erSchubal mit »Herr« titulierte. Wie freute sich Karl am verlassenen Schreibtischdes Oberkassiers, wo er eine Briefwaage immer wieder niederdrückte vor lauterVergnügen. - Herr Schubal ist ungerecht! Herr Schubal bevorzugt die Ausländer!Herr Schubal verwies den Heizer aus dem Maschinenraum und ließ ihn Klosettereinigen, was doch gewiß nicht des Heizers Sache war! - Einmal wurde sogar dieTüchtigkeit des Herrn Schubal angezweifelt, die eher scheinbar als wirklichvorhanden sein sollte. Bei dieser Stelle starrte Karl mit aller Kraft den Kapitän an,zutunlich, als sei er sein Kollege, nur damit er sich durch die etwas ungeschickteAusdrucksweise des Heizers nicht zu dessen Ungunsten beeinflussen lasse.Immerhin erfuhr man aus den vielen Reden nichts Eigentliches, und wenn auchder Kapitän noch immer vor sich hinsah, in den Augen die Entschlossenheit, denHeizer diesmal bis zu Ende anzuhören, so wurden doch die anderen Herrenungeduldig, und die Stimme des Heizers regierte bald nicht mehr unumschränkt indem Raume, was manches befürchten ließ. Als erster setzte der Herr in Zivil seinBambusstöckchen in Tätigkeit und klopfte, wenn auch nur leise, auf das Parkett. Dieanderen Herren sahen natürlich hie und da hin, die Herren von der Hafenbehörde,die offenbar pressiert waren, griffen wieder zu den Akten und begannen, wennauch noch etwas geistesabwesend, sie durchzusehen, der Schiffsoffizier rückteseinen Tisch wieder näher, und der Oberkassier, der gewonnenes Spiel zu habenglaubte, seufzte aus Ironie tief auf. Von der allgemein eintretenden Zerstreuungschien nur der Diener bewahrt, der von den Leiden des unter die Großen gestelltenarmen Mannes einen Teil mitfühlte und Karl ernst zunickte, als wolle er damitetwas erklären.

Inzwischen ging vor den Fenstern das Hafenleben weiter, ein flaches Lastschiffmit einem Berg von Fässern, die wunderbar verstaut sein mußten, daß sie nicht ins

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Rollen kamen, zog vorüber und erzeugte in dem Zimmer fast Dunkelheit; kleineMotorboote, die Karl jetzt, wenn er Zeit gehabt hätte, genau hätte ansehen können,rauschten nach den Zuckungen der Hände eines am Steuer aufrecht stehendenMannes schnurgerade dahin! Eigentümliche Schwimmkörper tauchten hie und daselbständig aus dem ruhelosen Wasser, wurden gleich wieder überschwemmt undversanken vor dem erstaunten Blick; Boote der Ozeandampfer wurden von heißarbeitenden Matrosen vorwärtsgerudert und waren voll von Passagieren, die darin,so wie man sie hineingezwängt hatte, still und erwartungsvoll saßen, wenn es auchmanche nicht unterlassen konnten, die Köpfe nach den wechselnden Szenerien zudrehen. Eine Bewegung ohne Ende, eine Unruhe, übertragen von dem unruhigenElement auf die hilflosen Menschen und ihre Werke!

Aber alles mahnte zur Eile, zur Deutlichkeit, zu ganz genauer Darstellung; aberwas tat der Heizer? Er redete sich allerdings in Schweiß, die Papiere auf demFenster konnte er längst mit seinen zitternden Händen nicht mehr halten; aus allenHimmelsrichtungen strömten ihm Klagen über Schubal zu, von denen seinerMeinung nach jede einzelne genügt hätte, diesen Schubal vollständig zu begraben,aber was er dem Kapitän vorzeigen konnte, war nur ein traurigesDurcheinanderstrudeln aller insgesamt. Längst schon pfiff der Herr mit demBambusstöckchen schwach zur Decke hinauf, die Herren von der Hafenbehördehielten schon den Offizier an ihrem Tisch und machten keine Miene, ihn je wiederloszulassen, der Oberkassier wurde sichtlich nur durch die Ruhe des Kapitäns vordem Dreinfahren zurückgehalten, der Diener erwartete in Habachtstellung jedenAugenblick einen auf den Heizer bezüglichen Befehl seines Kapitäns.

Da konnte Karl nicht mehr untätig bleiben. Er ging also langsam zu der Gruppehin und überlegte im Gehen nur desto schneller, wie er die Sache möglichstgeschickt angreifen könnte. Es war wirklich höchste Zeit, noch ein kleines Weilchennur, und sie konnten ganz gut beide aus dem Büro fliegen. Der Kapitän mochte jaein guter Mann sein und überdies gerade jetzt, wie es Karl schien, irgendeinenbesonderen Grund haben, sich als gerechter Vorgesetzter zu zeigen, aberschließlich war er kein Instrument, das man in Grund und Boden spielen konnte -und gerade so behandelte ihn der Heizer, allerdings aus seinem grenzenlosempörten Innern heraus.

Karl sagte also zum Heizer: »Sie müssen das einfacher erzählen, klarer, der HerrKapitän kann es nicht würdigen, so wie Sie es ihm erzählen. Kennt er denn alleMaschinisten und Laufburschen beim Namen oder gar beim Taufnamen, daß er,wenn Sie nur einen solchen Namen aussprechen, gleich wissen kann, um wen essich handelt? Ordnen Sie doch Ihre Beschwerden, sagen Sie die wichtigste zuerstund absteigend die anderen, vielleicht wird es dann überhaupt nicht mehr nötig sein,die meisten auch nur zu erwähnen. Mir haben Sie es doch immer so klardargestellt!« >Wenn man in Amerika Koffer stehlen kann, kann man auch hieund da lügen<, dachte er zur Entschuldigung.

Wenn es aber nur geholfen hätte! Ob es nicht auch schon zu spät war? Der Heizerunterbrach sich zwar sofort, als er die bekannte Stimme hörte, aber mit seinenAugen, die ganz von Tränen der beleidigten Mannesehre, der schrecklichenErinnerungen, der äußersten gegenwärtigen Not verdeckt waren, konnte er Karlschon nicht einmal mehr gut erkennen. Wie sollte er auch jetzt - Karl sah dasschweigend vor dem jetzt Schweigenden wohl ein -, wie sollte er auch jetztplötzlich seine Redeweise ändern, da es ihm doch schien, als hätte er alles, was zusagen war, ohne die geringste Anerkennung schon vorgebracht und als habe erandererseits noch gar nichts gesagt und könne doch den Herren jetzt nichtzumuten, noch alles anzuhören. Und in einem solchen Zeitpunkt kommt noch Karl,sein einziger Anhänger, daher, will ihm gute Lehren geben, zeigt ihm aber statt

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dessen, daß alles, alles verloren ist.

>Wäre ich früher gekommen, statt aus dem Fenster zu schauen!< sagte sichKarl, senkte vor dem Heizer das Gesicht und schlug die Hände an die Hosennaht,zum Zeichen des Endes jeder Hoffnung.

Aber der Heizer mißverstand das, witterte wohl in Karl irgendwelche geheimenVorwürfe gegen sich, und in der guten Absicht, sie ihm auszureden, fing er zurKrönung seiner Taten mit Karl jetzt zu streiten an. Jetzt, wo doch die Herren amrunden Tisch längst empört über den nutzlosen Lärm waren, der ihre wichtigenArbeiten störte, wo der Hauptkassier allmählich die Geduld des Kapitänsunverständlich fand und zum sofortigen Ausbruch neigte, wo der Diener, ganzwieder in der Sphäre seiner Herren, den Heizer mit wildem Blicke maß, und woendlich der Herr mit dem Bambusstöckchen, zu welchem sogar der Kapitän hie undda freundlich hinübersah, schon gänzlich abgestumpft gegen den Heizer, ja von ihmangewidert, ein kleines Notizbuch hervorzog und, offenbar mit ganz anderenAngelegenheiten beschäftigt, die Augen zwischen dem Notizbuch und Karl hin undher wandern ließ.

»Ich weiß ja«, sagte Karl, der Mühe hatte, den jetzt gegen ihn gekehrten Schwalldes Heizers abzuwehren, trotzdem aber quer durch allen Streit noch einFreundeslächeln für ihn übrig hatte, »Sie haben recht, recht, ich habe ja nie darangezweifelt.« Er hätte ihm gern aus Furcht vor Schlägen die herumfahrenden Händegehalten, noch lieber allerdings ihn in einen Winkel gedrängt, um ihm ein paarleise, beruhigende Worte zuzuflüstern, die niemand sonst hätte hören müssen. Aberder Heizer war außer Rand und Band. Karl begann jetzt schon sogar aus demGedanken eine Art Trost zu schöpfen, daß der Heizer im Notfall mit der Kraft seinerVerzweiflung alle anwesenden sieben Männer bezwingen könne. Allerdings lag aufdem Schreibtisch, wie ein Blick dorthin lehrte, ein Aufsatz mit viel zu vielenDruckknöpfen der elektrischen Leitung; und eine Hand, einfach auf sieniedergedrückt, konnte das ganze Schiff mit allen seinen von feindlichenMenschen gefüllten Gängen rebellisch machen.

Da trat der doch so uninteressierte Herr mit dem Bambusstöckchen auf Karl zuund fragte, nicht überlaut, aber deutlich über allem Geschrei des Heizers: »Wieheißen Sie denn eigentlich?« In diesem Augenblick, als hätte jemand hinter der Türauf diese Äußerung des Herrn gewartet, klopfte es. Der Diener sah zum Kapitänhinüber, dieser nickte. Daher ging der Diener zur Tür und öffnete sie. Draußen stand ineinem alten Kaiserrock ein Mann von mittleren Proportionen, seinem Ansehennach nicht eigentlich zur Arbeit an den Maschinen geeignet, und war doch -Schubal. Wenn es Karl nicht an aller Augen erkannt hätte, die eine gewisseBefriedigung ausdrückten, von der nicht einmal der Kapitän frei war, er hätte es zuseinem Schrecken am Heizer sehen müssen, der die Fäuste an den gestrafftenArmen so ballte, als sei diese Ballung das Wichtigste an ihm, dem er alles, was eran Leben habe, zu opfern bereit sei. Da steckte jetzt alle seine Kraft, auch die,welche ihn überhaupt aufrecht erhielt.

Und da war also der Feind, frei und frisch im Festanzug, unter dem Arm einGeschäftsbuch, wahrscheinlich die Lohnlisten und Arbeitsausweise des Heizers,und sah mit dem ungescheuten Zugeständnis, daß er die Stimmung jedes einzelnenvor allem feststellen wolle, in aller Augen der Reihe nach. Die sieben waren auchschon alle seine Freunde, denn wenn auch der Kapitän früher gewisse Einwändegegen ihn gehabt oder vielleicht nur vorgeschützt hatte, nach dem Leid, das ihmder Heizer angetan hatte, schien ihm wahrscheinlich an Schubal auch dasgeringste nicht mehr auszusetzen. Gegen einen Mann wie den Heizer konnteman nicht streng genug verfahren, und wenn dem Schubal etwas vorzuwerfenwar, so war es der Umstand, daß er die Widerspenstigkeit des Heizers im Laufe

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der Zeit nicht so weit hatte brechen können, daß es dieser heute noch gewagt hatte,vor dem Kapitän zu erscheinen. Nun konnte man ja vielleicht noch annehmen, dieGegenüberstellung des Heizers und Schubals werde die ihr vor einem höherenForum zukommende Wirkung auch vor den Menschen nicht verfehlen, denn wennsich auch Schubal gut verstellen konnte, er mußte es doch durchaus nicht bis zumEnde aushalten können. Ein kurzes Aufblitzen seiner Schlechtigkeit sollte genügen,um sie den Herren sichtbar zu machen, dafür wollte Karl schon sorgen. Er kanntedoch schon beiläufig den Scharfsinn, die Schwächen, die Launen der einzelnenHerren, und unter diesem Gesichtspunkt war die bisher hier verbrachte Zeit nichtverloren. Wenn nur der Heizer besser auf dem Platz gewesen wäre, aber derschien vollständig kampfunfähig. Wenn man ihm den Schubal hingehalten hätte, hätteer wohl dessen gehaßten Schädel mit den Fäusten aufklopfen können. Aber schon diepaar Schritte zu ihm hinzugehen, war er wohl kaum imstande. Warum hatte dennKarl das so leicht Vorauszusehende nicht vorausgesehen, daß Schubal endlichkommen müsse, wenn nicht aus eigenem Antrieb, so vom Kapitän gerufen? Warumhatte er auf dem Herweg mit dem Heizer nicht einen genauen Kriegsplanbesprochen, statt, wie sie es in Wirklichkeit getan hatten, heillos unvorbereiteteinfach dort einzutreten, wo eine Tür war? Konnte der Heizer überhaupt noch reden,ja und nein sagen, wie es bei dem Kreuzverhör, das allerdings nur im günstigstenFall bevorstand, nötig sein würde? Er stand da, die Beine auseinandergestellt, dieKnie unsicher, den Kopf etwas gehoben, und die Luft verkehrte durch den offenenMund, als gäbe es innen keine Lungen mehr, die sie verarbeiteten.

Karl allerdings fühlte sich so kräftig und bei Verstand, wie er es vielleicht zu Hauseniemals gewesen war. Wenn ihn doch seine Eltern sehen könnten, wie er infremdem Land vor angesehenen Persönlichkeiten das Gute verfocht und, wenn eres auch noch nicht zum Siege gebracht hatte, so doch zur letzten Eroberung sichvollkommen bereitstellte! Würden sie ihre Meinung über ihn revidieren? Ihnzwischen sich niedersetzen und loben? Ihm einmal, einmal in die ihnen soergebenen Augen sehn? Unsichere Fragen und ungeeignetster Augenblick, siezu stellen! »Ich komme, weil ich glaube, daß mich der Heizer irgendwelcherUnredlichkeiten beschuldigt. Ein Mädchen aus der Küche sagte mir, sie hätte ihn aufdem Wege hierher gesehen. Herr Kapitän und Sie alle meine Herren, ich bin bereit,jede Beschuldigung an der Hand meiner Schriften, nötigenfalls durch Aussagenunvoreingenommener und unbeeinflußter Zeugen, die vor der Türe stehen, zuwiderlegen.« So sprach Schubal. Das war allerdings die klare Rede einesMannes, und nach der Veränderung in den Mienen der Zuhörer hätte man glaubenkönnen, sie hörten zum erstenmal nach langer Zeit wieder menschliche Laute. Siebemerkten freilich nicht, daß selbst diese schöne Rede Löcher hatte. Warum war daserste sachliche Wort, das ihm einfiel, »Unredlichkeiten«? Hätte vielleicht dieBeschuldigung hier einsetzen müssen, statt bei seinen nationalenVoreingenommenheiten? Ein Mädchen aus der Küche hatte den Heizer auf demWeg ins Büro gesehen, und Schubal hatte sofort begriffen? War es nicht dasSchuldbewußtsein, das ihm den Verstand schärfte? Und Zeugen hatte er gleichmitgebracht und nannte sie noch außerdem unvoreingenommen und unbeeinflußt?Gaunerei, nichts als Gaunerei! Und die Herren duldeten das und anerkannten esnoch als richtiges Benehmen? Warum hatte er zweifellos sehr viel Zeit zwischender Meldung des Küchenmädchens und seiner Ankunft hier verstreichen lassen?Doch zu keinem anderen Zwecke, als damit der Heizer die Herren so ermüde, daßsie allmählich ihre klare Urteilskraft verlören, welche Schubal vor allem zu fürchtenhatte. Hatte er, der sicher schon lange hinter der Tür gestanden, nicht erst imAugenblick geklopft, als er infolge der nebensächlichen Frage jenes Herrn hoffendurfte, der Heizer sei erledigt?

Alles war klar und wurde ja auch von Schubal wider Willen so dargeboten, aber

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den Herren mußte man es anders, noch handgreiflicher zeigen. Sie brauchenAufrüttelung. Also, Karl, rasch, nütze wenigstens die Zeit aus, ehe die Zeugenauftreten und alles überschwemmen! Eben aber winkte der Kapitän dem Schubalab, der daraufhin sofort - denn seine Angelegenheit schien für ein Weilchenaufgeschoben zu sein - beiseitetrat und mit dem Diener, der sich ihm gleichangeschlossen hatte, eine leise Unterhaltung begann, bei der es an Seitenblickennach dem Heizer und Karl sowie an den überzeugtesten Handbewegungen nichtfehlte. Schubal schien so seine nächste Rede einzuüben.

»Wollten Sie nicht den jungen Menschen etwas fragen, Herr Jakob?« sagte derKapitän unter allgemeiner Stille zu dem Herrn mit dem Bambusstöckchen.

»Allerdings«, sagte dieser, mit einer kleinen Neigung für die Aufmerksamkeitdankend. Und fragte dann Karl nochmals: »Wie heißen Sie eigentlich?"

Karl, welcher glaubte, es sei im Interesse der großen Hauptsache gelegen, wenndieser Zwischenfall des hartnäckigen Fragers bald erledigt würde, antwortete kurz,ohne, wie es seine Gewohnheit war, durch Vorweisung des Passes sichvorzustellen, den er erst hätte suchen müssen: »Karl Roßmann.«

»Aber«, sagte der mit Jakob Angesprochene und trat zuerst fast ungläubiglächelnd zurück. Auch der Kapitän, der Oberkassier, der Schiffsoffizier, ja sogar derDiener zeigten deutlich ein übermäßiges Erstaunen wegen Karls Namen. Nur dieHerren von der Hafenbehörde und Schubal verhielten sich gleichmütig. »Aber«,wiederholte Herr Jakob und trat mit etwas steifen Schritten auf Karl zu, »dann binich ja dein Onkel Jakob, und du bist mein lieber Neffe. Ahnte ich es doch dieganze Zeit über!« sagte er zum Kapitän hin, ehe er Karl umarmte und küßte, der allesstumm geschehen ließ.

»Wie heißen Sie?« fragte Karl, nachdem er sich losgelassen fühlte, zwar sehrhöflich, aber gänzlich ungerührt, und strengte sich an, die Folgen abzusehen, welchedieses neue Ereignis für den Heizer haben dürfte. Vorläufig deutete nichts darauf hin,daß Schubal aus dieser Sache Nutzen ziehen könnte. »Begreifen Sie doch, jungerMann, Ihr Glück«, sagte der Kapitän, der durch Karls Frage die Würde der Persondes Herrn Jakob verletzt glaubte, der sich zum Fenster gestellt hatte, offenbar,um sein aufgeregtes Gesicht, das er überdies mit einem Taschentuch betupfte,den andern nicht zeigen zu müssen. »Es ist der Senator Edward Jakob, der sichIhnen als Ihr Onkel zu erkennen gegeben hat. Es erwartet Sie nunmehr, dochwohl ganz gegen Ihre bisherigen Erwartungen, eine glänzende Laufbahn.Versuchen Sie das einzusehen, so gut es im Augenblick geht, und fassen Siesich!«

»Ich habe allerdings einen Onkel Jakob in Amerika«, sagte Karl zum Kapitängewendet, »aber wenn ich recht verstanden habe, ist Jakob bloß der Zuname desHerrn Senators.

»So ist es«, sagte der Kapitän würdevoll.

»Nun, mein Onkel Jakob, welcher der Bruder meiner Mutter ist, heißt aber mitdem Taufnamen Jakob, während sein Zuname natürlich gleich jenem meiner Mutterlauten müßte, welche eine geborene Bendelmayer ist.«

»Meine Herren!« rief der Senator, der von seinem Erholungsposten vomFenster munter zurückkehrte, mit Bezug auf Karls Erklärung aus. Alle mit Ausnahmedes Hafenbeamten brachen in Lachen aus, manche wie in Rührung, mancheundurchdringlich. »So lächerlich war das, was ich gesagt habe, doch keineswegs«dachte Karl. »Meine Herren«, wiederholte der Senator, »Sie nehmen gegenmeinen und gegen Ihren Willen an einer kleinen Familienszene teil, und ich kanndeshalb nicht umhin, Ihnen eine Erläuterung zu geben, da, wie ich glaube, nur derHerr Kapitän« - diese Erwähnung hatte eine gegenseitige Verbeugung zur Folge -

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»vollständig unterrichtet ist.«

>Jetzt muß ich aber wirklich auf jedes Wort achtgeben<, sagte sich Karl undfreute sich, als er bei einem Seitwärtsschauen bemerkte, daß in die Figur desHeizers das Leben zurückzukehren begann.

»Ich lebe seit allen den langen Jahren meines amerikanischen Aufenthaltes -das Wort Aufenthalt paßt hier allerdings schlecht für den amerikanischen Bürger, derich mit ganzer Seele bin -, seit allen den langen Jahren lebe ich also von meineneuropäischen Verwandten vollständig getrennt, aus Gründen, die erstens nichthierhergehören und die zweitens zu erzählen mich wirklich zu sehr hernehmenwürde. Ich fürchte mich sogar vor dem Augenblick, wo ich vielleicht gezwungen seinwerde, sie meinem lieben Neffen zu erzählen, wobei sich leider ein offenes Wortüber seine Eltern und ihren Anhang nicht vermeiden lassen wird.«

>Er ist mein Onkel, kein Zweifel<, sagte sich Karl und lauschte,>wahrscheinlich hat er seinen Namen ändern lassen.<

»Mein lieber Neffe ist nun von seinen Eltern - sagen wir nur das Wort, das dieSache auch wirklich bezeichnet - einfach beiseitegeschafft worden, wie man eineKatze vor die Tür wirft, wenn sie ärgert. Ich will durchaus nicht beschönigen, wasmein Neffe gemacht hat, daß er so gestraft wurde, aber sein Verschulden ist einsolches, daß sein einfaches Nennen schon genug Entschuldigung enthält.«

>Das läßt sich hören<, dachte Karl, >aber ich will nicht, daß er alles erzählt.Übrigens kann er es ja auch nicht wissen. Woher denn?< »Er wurde nämlich«, fuhrder Onkel fort und stützte sich mit kleinen Neigungen auf das vor ihmeingestemmte Bambusstäbchen, wodurch es ihm tatsächlich gelang, der Sache dieunnötige Feierlichkeit zu nehmen, die sie sonst unbedingt gehabt hätte, »er wurdenämlich von einem Dienstmädchen, Johanna Brummer, einer etwafünfunddreißigjährigen Person, verführt. Ich will mit dem Worte >verführt< meinenNeffen durchaus nicht kränken, aber es ist doch schwer, ein anderes, gleichpassendes Wort zu finden.«

Karl, der schon ziemlich nahe zum Onkel getreten war, drehte sich um, um denEindruck der Erzählung von den Gesichtern der Anwesenden abzulesen. Keinerlachte, alle hörten geduldig und ernsthaft zu. Schließlich lacht man auch nicht überden Neffen eines Senators bei der ersten Gelegenheit, die sich darbietet. Eherhätte man schon sagen können, daß der Heizer, wenn auch nur ganz wenig, Karlanlächelte, was aber erstens als neues Lebenszeichen erfreulich und zweitensentschuldbar war, da ja Karl in der Kabine aus dieser Sache, die jetzt so publikwurde, ein besonderes Geheimnis hatte machen wollen.

»Nun hat diese Brummer«, setzte der Onkel fort, »von meinem Neffen ein Kindbekommen, einen gesunden Jungen, welcher in der Taufe den Namen Jakoberhielt, zweifellos in Gedanken an meine Wenigkeit, welche, selbst in den sichernur ganz nebensächlichen Erwähnungen meines Neffen, auf das Mädchen einengroßen Eindruck gemacht haben muß. Glücklicherweise, sage ich. Denn da die Elternzur Vermeidung der Alimentenzahlung oder sonstigen bis an sie selbstheranreichenden Skandals - ich kenne, wie ich betonen muß, weder die dortigenGesetze noch die sonstigen Verhältnisse der Eltern -, da sie also zur Vermeidungder Alimentenzahlung und des Skandals ihren Sohn, meinen lieben Neffen, nachAmerika haben transportieren lassen, mit unverantwortlich ungenügenderAusrüstung, wie man sieht, so wäre der Junge, ohne die gerade noch in Amerikalebendigen Zeichen und Wunder, auf sich allein angewiesen, wohl schon gleich ineinem Gäßchen im Hafen von New York verkommen, wenn nicht jenesDienstmädchen in einem an mich gerichteten Brief, der nach langen Irrfahrtenvorgestern in meinen Besitz kam, mir die ganze Geschichte samt

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Personenbeschreibung meines Neffen und vernünftigerweise auchNamensnennung des Schiffes mitgeteilt hätte. Wenn ich es darauf angelegt hätte,Sie, meine Herren, zu unterhalten, könnte ich wohl einige Stellen jenes Briefes« -er zog zwei riesige engbeschriebene Briefbogen aus der Tasche und schwenktesie - »hier vorlesen. Er würde sicher Wirkung machen, da er mit einer etwaseinfachen, wenn auch immer gutgemeinten Schlauheit und mit viel Liebe zu demVater des Kindes geschrieben ist. Aber ich will weder Sie mehr unterhalten, als eszur Aufklärung nötig ist, noch vielleicht gar zum Empfang möglicherweise nochbestehende Gefühle meines Neffen verletzen, der den Brief, wenn er mag, in derStille seines ihn schon erwartenden Zimmers zur Belehrung lesen kann.«

Karl hatte aber keine Gefühle für jenes Mädchen. Im Gedränge einer immer mehrzurücktretenden Vergangenheit saß sie in ihrer Küche neben dem Küchenschrank, aufdessen Platte sie ihren Ellbogen stützte. Sie sah ihn an, wenn er hin und wieder indie Küche kam, um ein Glas zum Wassertrinken für seinen Vater zu holen odereinen Auftrag seiner Mutter auszurichten. Manchmal schrieb sie in der vertracktenStellung seitlich vom Küchenschrank einen Brief und holte sich die Eingebungenvon Karls Gesicht. Manchmal hielt sie die Augen mit der Hand verdeckt, danndrang keine Anrede zu ihr. Manchmal kniete sie in ihrem engen Zimmerchenneben der Küche und betete zu einem hölzernen Kreuz; Karl beobachtete sie dannnur mit Scheu im Vorübergehen durch die Spalte der ein wenig geöffneten Tür.Manchmal jagte sie in der Küche herum und fuhr, wie eine Hexe lachend, zurück,wenn Karl ihr in den Weg kam. Manchmal schloß sie die Küchentüre, wenn Karleingetreten war, und behielt die Klinke so lange in der Hand, bis er wegzugehenverlangte. Manchmal holte sie Sachen, die er gar nicht haben wollte, und drücktesie ihm schweigend in die Hände. Einmal aber sagte sie »Karl« und führte ihn, dernoch über die unerwartete Ansprache staunte, unter Grimassen seufzend in ihrZimmerchen, das sie zusperrte. Würgend umarmte sie seinen Hals, und währendsie ihn bat, sie zu entkleiden, entkleidete sie in Wirklichkeit ihn und legte ihn in ihrBett, als wolle sie ihn von jetzt niemandem mehr lassen und ihn streicheln undpflegen bis zum Ende der Welt. »Karl, o du mein Karl!« rief sie, als sähe sie ihnund bestätigte sich seinen Besitz, während er nicht das geringste sah und sichunbehaglich in dem vielen warmen Bettzeug fühlte, das sie eigens für ihn aufgehäuftzu haben schien. Dann legte sie sich auch zu ihm und wollte irgendwelcheGeheimnisse von ihm erfahren, aber er konnte ihr keine sagen, und sie ärgertesich im Scherz oder Ernst, schüttelte ihn, horchte sein Herz ab, bot ihre Brust zumgleichen Abhorchen hin, wozu sie Karl aber nicht bringen konnte, drückte ihrennackten Bauch an seinen Leib, suchte mit der Hand, so widerlich, daß Karl Kopfund Hals aus den Kissen herausschüttelte, zwischen seinen Beinen, stieß dann denBauch einige Male gegen ihn - ihm war, als sei sie ein Teil seiner Selbst, undvielleicht aus diesem Grunde hatte ihn eine entsetzliche Hilfsbedürftigkeit ergriffen.Weinend kam er endlich nach vielen Wiedersehenswünschen ihrerseits in seinBett. Das war alles gewesen, und doch verstand es der Onkel, daraus eine großeGeschichte zu machen. Und die Köchin hatte also auch an ihn gedacht und denOnkel von seiner Ankunft verständigt. Das war schön von ihr gehandelt, und er würdees ihr wohl noch einmal vergelten.

»Und jetzt«, rief der Senator, »will ich von dir offen hören, ob ich dein Onkel binoder nicht.«

»Du bist mein Onkel«, sagte Karl und küßte ihm die Hand und wurde dafür auf dieStirne geküßt. »Ich bin sehr froh, daß ich dich getroffen habe, aber du irrst, wenn duglaubst, daß meine Eltern nur Schlechtes von dir reden. Aber auch abgesehendavon sind in deiner Rede einige Fehler enthalten gewesen, das heißt, ich meine,es hat sich in Wirklichkeit nicht alles so zugetragen. Du kannst aber auch wirklich

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von hier aus die Dinge nicht so gut beurteilen, und ich glaube außerdem, daß eskeinen besonderen Schaden bringen wird, wenn die Herren in Einzelheiten einerSache, an der ihnen doch wirklich nicht viel liegen kann, ein wenig unrichtiginformiert worden sind.«

»Wohl gesprochen«, sagte der Senator, führte Karl vor den sichtlichteilnehmenden Kapitän und fragte: »Habe ich nicht einen prächtigen Neffen?«

»Ich bin glücklich«, sagte der Kapitän mit einer Verbeugung, wie sie nur militärischgeschulte Leute zustandebringen, »Ihren Neffen, Herr Senator, kennengelernt zuhaben. Es ist eine besondere Ehre für mein Schiff, daß es den Ort eines solchenZusammentreffens abgeben konnte. Aber die Fahrt im Zwischendeck war wohlsehr arg, ja, wer kann denn wissen, wer da mitgeführt wird. Nun, wir tun allesmögliche, den Leuten im Zwischendeck die Fahrt möglichst zu erleichtern, viel mehrzum Beispiel als die amerikanischen Linien, aber eine solche Fahrt zu einemVergnügen zu machen, ist uns allerdings noch immer nicht gelungen.«

»Es hat mir nicht geschadet«, sagte Karl.

»Es hat ihm nicht geschadet!« wiederholte laut lachend der Senator. »Nurmeinen Koffer fürchte ich verloren zu -« und damit erinnerte er sich an alles, wasgeschehen und was noch zu tun übrigblieb, sah sich um und erblickte alleAnwesenden stumm vor Achtung und Staunen auf ihren früheren Plätzen, dieAugen auf ihn gerichtet. Nur den Hafenbeamten sah man, soweit ihre strengen,selbstzufriedenen Gesichter einen Einblick gestatteten, das Bedauern an, zu soungelegener Zeit gekommen zu sein, und die Taschenuhr, die sie jetzt vor sichliegen hatten, war ihnen wahrscheinlich wichtiger als alles, was im Zimmervorging und vielleicht noch geschehen konnte.

Der erste, welcher nach dem Kapitän seine Anteilnahme ausdrückte, warmerkwürdigerweise der Heizer. »Ich gratuliere Ihnen herzlich«, sagte er undschüttelte Karl die Hand, womit er auch etwas wie Anerkennung ausdrücken wollte.Als er sich dann mit der gleichen Ansprache auch an den Senator wenden wollte,trat dieser zurück, als überschreite der Heizer damit seine Rechte; der Heizer ließauch sofort ab. Die übrigen aber sahen jetzt ein, was zu tun war, und bildetengleich um Karl und den Senator einen Wirrwarr. So geschah es, daß Karl sogareine Gratulation Schubals erhielt, annahm und für sie dankte. Als letzte traten inder wieder entstandenen Ruhe die Hafenbeamten hinzu und sagten zweienglische Worte, was einen lächerlichen Eindruck machte. Der Senator war ganzin der Laune, um das Vergnügen vollständig auszukosten, nebensächlichereMomente sich und den anderen in Erinnerung zu bringen, was natürlich von allennicht nur geduldet, sondern mit Interesse hingenommen wurde. So machte erdarauf aufmerksam, daß er sich die in dem Brief der Köchin erwähntenhervorstechendsten Erkennungszeichen Karls in sein Notizbuch zu möglicherweisenotwendigem augenblicklichem Gebrauch eingetragen hatte. Nun hatte er währenddes unerträglichen Geschwätzes des Heizers zu keinem anderen Zweck, als umsich abzulenken, das Notizbuch herausgezogen und die natürlich nicht geradedetektivisch richtigen Beobachtungen der Köchin mit Karls Aussehen zum Spiel inVerbindung zu bringen gesucht. »Und so findet man seinen Neffen!« schloß er ineinem Ton, als wolle er noch einmal Gratulation bekommen. »Was wird jetzt mitdem Heizer geschehen?« fragte Karl vorbei an der letzten Erzählung des Onkels.Er glaubte in seiner neuen Stellung alles, was er dachte, auch aussprechen zukönnen.

»Dem Heizer wird geschehen, was er verdient«, sagte der Senator, »und wasder Herr Kapitän für gut erachtet. Ich glaube, wir haben von dem Heizer genug undübergenug, wozu mir jeder der anwesenden Herren sicher zustimmen wird.«»Darauf kommt es doch nicht an, bei einer Sache der Gerechtigkeit«, sagte Karl.

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Er stand zwischen dem Onkel und dem Kapitän und glaubte, vielleicht durch dieseStellung beeinflußt, die Entscheidung in der Hand zu haben.

Und trotzdem schien der Heizer nichts mehr für sich zu hoffen. Die Hände hielt erhalb in dem Hosengürtel, der durch seine aufgeregten Bewegungen mit demStreifen eines gemusterten Hemdes zum Vorschein gekommen war. Daskümmerte ihn nicht im geringsten; er hatte sein ganzes Leid geklagt, nun sollteman auch noch die paar Fetzen sehen, die er am Leibe hatte, und dann sollteman ihn forttragen. Er dachte sich aus, der Diener und Schubal, als die zwei hierim Range Tiefsten, sollten ihm diese letzte Güte erweisen. Schubal würde dannRuhe haben und nicht mehr in Verzweiflung kommen, wie sich der Oberkassierausgedrückt hatte. Der Kapitän würde lauter Rumänen anstellen können, es würde überallRumänisch gesprochen werden, und vielleicht würde dann wirklich alles bessergehen. Kein Heizer würde mehr in der Hauptkassa schwätzen, nur sein letztesGeschwätz würde man in ziemlich freundlicher Erinnerung behalten, das, wie derSenator ausdrücklich erklärt hatte, die mittelbare Veranlassung zur Erkennung desNeffen gegeben hatte. Dieser Neffe hatte ihm übrigens vorher öfters zu nützengesucht und daher für seinen Dienst bei der Wiedererkennung längst vorher einenmehr als genügenden Dank abgestattet; dem Heizer fiel gar nicht ein, jetzt nochetwas von ihm zu verlangen. Im übrigen, mochte er auch der Neffe des Senatorssein, ein Kapitän war er noch lange nicht, aber aus dem Munde des Kapitäns würdeschließlich das böse Wort fallen. - So wie es seiner Meinung entsprach, versuchteauch der Heizer, nicht zu Karl hinzusehen, aber leider blieb in diesem Zimmer derFeinde kein anderer Ruheort für seine Augen.

»Mißverstehe die Sachlage nicht«, sagte der Senator zu Karl, »es handelt sichvielleicht um eine Sache der Gerechtigkeit, aber gleichzeitig um eine Sache derDisziplin. Beides und ganz besonders das letztere unterliegt hier der Beurteilungdes Herrn Kapitäns.«

»So ist es«, murmelte der Heizer. Wer es merkte und verstand, lächeltebefremdet. »Wir aber haben überdies den Herrn Kapitän in seinen Amtsgeschäften,die sich sicher gerade bei der Ankunft in New York unglaublich häufen, so sehrschon behindert, daß es höchste Zeit für uns ist, das Schiff zu verlassen, um nichtzum Überfluß auch noch durch irgendwelche höchst unnötige Einmischung diesegeringfügige Zänkerei zweier Maschinisten zu einem Ereignis zu machen. Ichbegreife deine Handlungsweise, lieber Neffe, übrigens vollkommen, aber geradedas gibt mir das Recht, dich eilends von hier fortzuführen.«

»Ich werde sofort ein Boot für Sie flottmachen lassen«, sagte der Kapitän, ohnezum Erstaunen Karls auch nur den kleinsten Einwand gegen die Worte desOnkels vorzubringen, die doch zweifellos als eine Selbstdemütigung des Onkelsangesehen werden konnten. Der Oberkassier eilte überstürzt zum Schreibtisch undtelephonierte den Befehl des Kapitäns an den Bootsmeister.

>Die Zeit drängt schon<, sagte sich Karl, >aber ohne alle zu beleidigen,kann ich nichts tun. Ich kann doch jetzt den Onkel nicht verlassen, nachdem ermich kaum wiedergefunden hat. Der Kapitän ist zwar höflich, aber das ist auch alles.Bei der Disziplin hört seine Höflichkeit auf, und der Onkel hat ihm sicher aus derSeele gesprochen. Mit Schubal will ich nicht reden, es tut mir sogar leid, daß ichihm die Hand gereicht habe. Und alle anderen Leute hier sind Spreu.<

Und er ging langsam in solchen Gedanken zum Heizer, zog dessen rechteHand aus dem Gürtel und hielt sie spielend in der seinen.

»Warum sagst du denn nichts?« fragte er. »Warum läßt du dir alles gefallen?«

Der Heizer legte nur die Stirn in Falten, als suche er den Ausdruck für das, waser zu sagen habe. Im übrigen sah er auf Karls und seine Hand hinab.

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»Dir ist ja unrecht geschehen wie keinem auf dem Schiff, das weiß ich genau.«Und Karl zog seine Finger hin und her zwischen den Fingern des Heizers, der mitglänzenden Augen ringsumher schaute, als widerfahre ihm eine Wonne, die ihmaber niemand verübeln möge.

»Du mußt dich aber zur Wehr setzen, ja und nein sagen, sonst haben doch dieLeute keine Ahnung von der Wahrheit. Du mußt mir versprechen, daß du mir folgenwirst, denn ich selbst, das fürchte ich mit vielem Grund, werde dir gar nicht mehrhelfen können.« Und nun weinte Karl, während er die Hand des Heizers küßte, undnahm die rissige, fast leblose Hand und drückte sie an seine Wangen, wie einenSchatz, auf den man verzichten muß. - Da war aber auch schon der Onkel Senatoran seiner Seite und zog ihn, wenn auch nur mit dem leichtesten Zwange, fort.

»Der Heizer scheint dich bezaubert zu haben,« sagte er und sahverständnisinnig über Karls Kopf zum Kapitän hin.

»Du hast dich verlassen gefühlt, da hast du den Heizer gefunden und bist ihmjetzt dankbar, das ist ja ganz löblich. Treibe das aber, schon mir zuliebe, nicht zuweit und lerne deine Stellung begreifen.«

Vor der Tür entstand ein Lärmen, man hörte Rufe, und es war sogar, als werdejemand brutal gegen die Türe gestoßen. Ein Matrose trat ein, etwas verwildert, undhatte eine Mädchenschürze umgebunden. »Es sind Leute draußen«, rief er und stießeinmal mit dem Ellbogen herum, als sei er noch im Gedränge. Endlich fand erseine Besinnung und wollte vor dem Kapitän salutieren, da bemerkte er dieMädchenschürze, riß sie herunter, warf sie zu Boden und rief: »Das ist ja ekelhaft, dahaben sie mir eine Mädchenschürze umgebunden.« Dann aber klappte er dieHacken zusammen und salutierte. Jemand versuchte zu lachen, aber der Kapitänsagte streng: »Das nenne ich eine gute Laune. Wer ist denn draußen?«

»Es sind meine Zeugen«, sagte Schubal vortretend, »ich bitte ergebenst umEntschuldigung für ihr unpassendes Benehmen. Wenn die Leute die Seefahrthinter sich haben, sind sie manchmal wie toll.«

»Rufen Sie sie sofort herein!« befahl der Kapitän, und gleich sich zum Senatorumwendend, sagte er verbindlich, aber rasch: »Haben Sie jetzt die Güte, verehrterHerr Senator, mit Ihrem Herrn Neffen diesem Matrosen zu folgen, der Sie insBoot bringen wird. Ich muß wohl nicht erst sagen, welches Vergnügen und welcheEhre mir das persönliche Bekanntwerden mit Ihnen, Herr Senator, bereitet hat. Ichwünsche mir nur, bald Gelegenheit zu haben, mit Ihnen, Herr Senator, unserunterbrochenes Gespräch über die amerikanischen Flottenverhältnisse wieder einmalaufnehmen zu können und dann vielleicht neuerdings auf so angenehme Weise,wie heute, unterbrochen zu werden.«

»Vorläufig genügt mir dieser eine Neffe«, sagte der Onkel lachend. »Und nunnehmen Sie meinen besten Dank für Ihre Liebenswürdigkeit und leben Sie wohl. Eswäre übrigens gar nicht so unmöglich, daß wir« - er drückte Karl herzlich an sich - »beiunserer nächsten Europareise vielleicht für längere Zeit mit Ihnen zusammenkommenkönnten.«

»Es würde mich herzlich freuen«, sagte der Kapitän. Die beiden Herren schüttelteneinander die Hände, Karl konnte nur noch stumm und flüchtig seine Hand demKapitän reichen, denn dieser war bereits von den vielleicht fünfzehn Leuten inAnspruch genommen, welche unter Führung Schubals zwar etwas betroffen, aberdoch sehr laut einzogen. Der Matrose bat den Senator, vorausgehen zu dürfen,und teilte dann die Menge für ihn und Karl, die leicht zwischen den sichverbeugenden Leuten durchkamen. Es schien, daß diese im übrigen gutmütigenLeute den Streit Schubals mit dem Heizer als einen Spaß auffaßten, dessenLächerlichkeit nicht einmal vor dem Kapitän

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aufhöre. Karl bemerkte unter ihnen auch das Küchenmädchen Line, welche, ihmlustig zuzwinkernd, die vom Matrosen hingeworfene Schürze umband, denn es wardie ihre. Weiter dem Matrosen folgend, verließen sie das Büro und bogen in einenkleinen Gang ein, der sie nach ein paar Schritten zu einem Türchen brachte, vondem aus eine kurze Treppe in das Boot hinabführte, welches für sie vorbereitet war.Die Matrosen im Boot, in das ihr Führer gleich mit einem einzigen Satzhinuntersprang, erhoben sich und salutierten. Der Senator gab Karl gerade eineErmahnung zu vorsichtigem Hinuntersteigen, als Karl noch auf der obersten Stufein heftiges Weinen ausbrach. Der Senator legte die rechte Hand unter Karls Kinn,hielt ihn fest an sich gepreßt und streichelte ihn mit der linken Hand. So gingen sielangsam Stufe für Stufe hinab und traten engverbunden ins Boot, wo der Senator fürKarl gerade sich gegenüber einen guten Platz aussuchte. Auf ein Zeichen desSenators stießen die Matrosen vom Schiffe ab und waren gleich in voller Arbeit.Kaum waren sie ein paar Meter vom Schiffe entfernt, machte Karl die unerwarteteEntdeckung, daß sie sich gerade auf jener Seite des Schiffes befanden, wohin dieFenster der Hauptkassa gingen. Alle drei Fenster waren mit Zeugen Schubalsbesetzt, welche freundschaftlich grüßten und winkten, sogar der Onkel dankte, undein Matrose machte das Kunststück, ohne eigentlich das gleichmäßige Rudern zuunterbrechen, eine Kußhand hinaufzuschicken. Es war wirklich, als gäbe es keinenHeizer mehr. Karl faßte den Onkel, mit dessen Knien sich die seinen fast berührten,genauer ins Auge, und es kamen ihm Zweifel, ob dieser Mann ihm jemals denHeizer werde ersetzen können. Auch wich der Onkel seinem Blicke aus und sahauf die Wellen hin, von denen ihr Boot umschwankt wurde.

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Der Onkel

Im Hause des Onkels gewöhnte sich Karl bald an die neuen Verhältnisse. DerOnkel kam ihm aber auch in jeder Kleinigkeit freundlich entgegen, und niemalsmußte Karl sich erst durch schlechte Erfahrungen belehren lassen, wie dies meistdas erste Leben im Ausland so verbittert.

Karls Zimmer lag im sechsten Stockwerk eines Hauses, dessen fünf untereStockwerke, an welche sich in der Tiefe noch drei unterirdische anschlossen, vondem Geschäftsbetrieb des Onkels eingenommen wurden. Das Licht, das in seinZimmer durch zwei Fenster und eine Balkontüre eindrang, brachte Karl immerwieder zum Staunen, wenn er des Morgens aus seiner kleinen Schlafkammer hiereintrat. Wo hätte er wohl wohnen müssen, wenn er als armer kleiner Einwandererans Land gestiegen wäre? Ja, vielleicht hätte man ihn, was der Onkel nach seinerKenntnis der Einwanderungsgesetze sogar für sehr wahrscheinlich hielt, gar nichtin die Vereinigten Staaten eingelassen, sondern ihn nach Hause geschickt, ohnesich weiter darum zu kümmern, daß er keine Heimat mehr hatte. Denn auf Mitleiddurfte man hier nicht hoffen, und es war ganz richtig, was Karl in dieser Hinsichtüber Amerika gelesen hatte; nur die Glücklichen schienen hier ihr Glück zwischenden unbekümmerten Gesichtern ihrer Umgebung wahrhaft zu genießen.

Ein schmaler Balkon zog sich vor dem Zimmer seiner ganzen Länge nach hin.Was aber in der Heimatstadt Karls wohl der höchste Aussichtspunkt gewesen wäre,gestattete hier nicht viel mehr als den Überblick über eine Straße, die zwischen zweiReihen förmlich abgehackter Häuser gerade, und darum wie fliehend, in die Fernesich verlief, wo aus vielem Dunst die Formen einer Kathedrale ungeheuer sicherhoben. Und morgens wie abends und in den Träumen der Nacht vollzog sich aufdieser Straße ein immer drängender Verkehr, der, von oben gesehen, sich als eineaus immer neuen Anfängen ineinandergestreute Mischung von verzerrtenmenschlichen Figuren und von Dächern der Fuhrwerke aller Art darstellte, von deraus sich noch eine neue, vervielfältigte, wildere Mischung von Lärm, Staub undGerüchen erhob, und alles dieses wurde erfaßt und durchdrungen von einemmächtigen Licht, das immer wieder von der Menge der Gegenstände verstreut,fortgetragen und wieder eifrig herbeigebracht wurde und das dem betörten Augeso körperlich erschien, als werde über dieser Straße eine alles bedeckendeGlasscheibe jeden Augenblick immer wieder mit aller Kraft zerschlagen.

Vorsichtig wie der Onkel in allem war, riet er Karl, sich vorläufig ernsthaft nichtauf das geringste einzulassen. Er sollte wohl alles prüfen und anschauen, abersich nicht gefangennehmen lassen. Die ersten Tage eines Europäers in Amerikaseien ja einer Geburt vergleichbar, und wenn man sich hier auch, damit nur Karlkeine unnötige Angst habe, rascher eingewöhne, als wenn man vom jenseits in diemenschliche Welt eintrete, so müsse man sich vor Augen halten, daß das ersteUrteil immer auf schwachen Füßen stehe und daß man sich dadurch nicht vielleichtalle künftigen Urteile, mit deren Hilfe man ja hier sein Leben weiterführen wolle, inUnordnung bringen lassen dürfe. Er selbst habe Neuankömmlinge gekannt, die zumBeispiel, statt nach diesen Grundsätzen sich zu verhalten, tagelang auf ihremBalkon gestanden und wie verlorene Schafe auf die Straße hinuntergesehen hätten.Das müsse unbedingt verwirren! Diese einsame Untätigkeit, die sich in einenarbeitsreichen New Yorker Tag verschaut, könne einem Vergnügungsreisendengestattet und vielleicht, wenn auch nicht vorbehaltlos, angeraten werden, für einen,der hierbleiben wird, sei sie ein Verderben, man könne in diesem Fall ruhig dasWort anwenden, wenn es auch eine Übertreibung ist. Und tatsächlich verzog derOnkel ärgerlich das Gesicht, wenn er bei einem seiner Besuche, die immer nur

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einmal täglich, und zwar immer zu den verschiedensten Tageszeiten, erfolgten,Karl auf dem Balkon antraf. Karl merkte das bald und versagte sich infolgedessendas Vergnügen, auf dem Balkon zu stehen, nach Möglichkeit.

Es war ja auch bei weitem nicht das einzige Vergnügen, das er hatte. In seinemZimmer stand ein amerikanischer Schreibtisch bester Sorte, wie sich ihn seinVater seit Jahren gewünscht und auf den verschiedensten Versteigerungen umeinen ihm erreichbaren billigen Preis zu kaufen gesucht hatte, ohne daß es ihm beiseinen kleinen Mitteln jemals gelungen wäre.

Natürlich war dieser Tisch mit jenen angeblich amerikanischen Schreibtischen,wie sie sich auf europäischen Versteigerungen herumtreiben, nicht zu vergleichen.Er hatte zum Beispiel in seinem Aufsatz hundert Fächer verschiedenster Größe, undselbst der Präsident der Union hätte für jeden seiner Akten einen passenden Platzgefunden, aber außerdem war an der Seite ein Regulator, und man konnte durchDrehen an einer Kurbel die verschiedensten Umstellungen und Neueinrichtungender Fächer nach Belieben und Bedarf erreichen. Dünne Seitenwändchen senktensich langsam und bildeten den Boden neu sich erhebender oder die Decke neuaufsteigender Fächer; schon nach einer Umdrehung hatte der Aufsatz ein ganzanderes Aussehen, und alles ging, je nachdem man die Kurbel drehte, langsamoder unsinnig rasch vor sich. Es war eine neueste Erfindung, erinnerte aber Karlsehr lebhaft an die Krippenspiele, die zu Hause auf dem Christmarkt denstaunenden Kindern gezeigt wurden, und auch Karl war oft, in seine Winterkleidereingepackt, davor gestanden und hatte ununterbrochen die Kurbeldrehung, dieein alter Mann ausführte, mit den Wirkungen im Krippenspiel verglichen, mit demstockenden Vorwärtskommen der Heiligen Drei Könige, dem Aufglänzen des Sternesund dem befangenen Leben im heiligen Stall. Und immer war es ihm erschienen,als ob die Mutter, die hinter ihm stand, nicht genau genug alle Ereignisseverfolge; er hatte sie zu sich hingezogen, bis er sie an seinem Rücken fühlte, undhatte ihr so lange mit lauten Ausrufen verborgenere Erscheinungen gezeigt,vielleicht ein Häschen, das vorn im Gras abwechselnd Männchen machte und sichdann wieder zum Lauf bereitete, bis die Mutter ihm den Mund zuhielt undwahrscheinlich in ihre frühere Unachtsamkeit verfiel. Der Tisch war freilich nichtdazu gemacht, nur an solche Dinge zu erinnern, aber in der Geschichte derErfindungen bestand wohl ein ähnlich undeutlicher Zusammenhang wie in KarlsErinnerungen. Der Onkel war zum Unterschied von Karl mit diesem Schreibtischdurchaus nicht einverstanden, nur hatte er eben für Karl einen ordentlichenSchreibtisch kaufen wollen, und solche Schreibtische waren jetzt sämtlich mitdieser Neueinrichtung versehen, deren Vorzug auch darin bestand, bei älterenSchreibtischen ohne große Kosten angebracht werden zu können. Immerhin unterließder Onkel nicht, Karl zu raten, den Regulator möglichst gar nicht zu verwenden; umdie Wirkung des Rates zu verstärken, behauptete der Onkel, die Maschinerie seisehr empfindlich, leicht zu verderben und die Wiederherstellung sehr kostspielig.Es war nicht schwer einzusehen, daß solche Bemerkungen nur Ausflüchte waren,wenn man sich auch andererseits sagen mußte, daß der Regulator sehr leicht zufixieren war, was der Onkel jedoch nicht tat.

In den ersten Tagen, an denen selbstverständlich zwischen Karl und dem Onkelhäufigere Aussprachen stattgefunden hatten, hatte Karl auch erzählt, daß er zuHause zwar wenig, aber gern Klavier gespielt habe, was er allerdings lediglich mitden Anfangskenntnissen hatte bestreiten können, die ihm die Mutter beigebrachthatte. Karl war sich dessen wohl bewußt, daß eine solche Erzählung gleichzeitig dieBitte um ein Klavier war, aber er hatte sich schon genügend umgesehen, um zuwissen, daß der Onkel auf keine Weise zu sparen brauchte. Trotzdem wurde ihmdiese Bitte nicht gleich gewährt, aber etwa acht Tage später sagte der Onkel, fast in

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der Form eines widerwilligen Eingeständnisses, das Klavier sei eben angelangtund Karl könne, wenn er wolle, den Transport überwachen. Das war allerdings eineleichte Arbeit, aber dabei nicht einmal viel leichter als der Transport selbst, dennim Haus war ein eigener Möbelaufzug, in welchem ohne Gedränge ein ganzerMöbelwagen Platz finden konnte, und in diesem Aufzug schwebte auch das Pianozu Karls Zimmer hinauf. Karl selbst hätte zwar in dem gleichen Aufzug mit demPiano und den Transportarbeitern fahren können, aber da gleich daneben einPersonenaufzug zur Benützung freistand, fuhr er in diesem, hielt sich mittels einesHebels stets in gleicher Höhe mit dem anderen Aufzug und betrachtete unverwandtdurch die Glaswände das schöne Instrument, das jetzt sein Eigentum war. Als er esin seinem Zimmer hatte und die ersten Töne anschlug, bekam er eine so närrischeFreude, daß er, statt weiterzuspielen, aufsprang und aus einiger Entfernung, dieHände in den Hüften, das Klavier lieber anstaunte. Auch die Akustik des Zimmerswar ausgezeichnet und sie trug dazu bei, ein anfängliches kleines Unbehagen, ineinem Eisenhause zu wohnen, gänzlich verschwinden zu lassen. Tatsächlich merkteman auch im Zimmer, so eisenmäßig das Gebäude von außen erschien, von eisernenBaubestandteilen nicht das geringste, und niemand hätte auch nur eine Kleinigkeitin der Einrichtung aufzeigen können, welche die vollständigste Gemütlichkeitirgendwie gestört hätte. Karl erhoffte in der ersten Zeit viel von seinem Klavierspielund schämte sich nicht, wenigstens vor dem Einschlafen an die Möglichkeit einerunmittelbaren Beeinflussung der amerikanischen Verhältnisse durch diesesKlavierspiel zu denken. Er klang ja allerdings sonderbar, wenn er vor den in dielärmerfüllte Luft geöffneten Fenstern ein altes Soldatenlied seiner Heimat spielte, dasdie Soldaten am Abend, wenn sie in den Kasernenfenstern liegen und auf denfinsteren Platz hinausschauen, von Fenster zu Fenster einander zusingen - abersah er dann auf die Straße, so war sie unverändert und nur ein kleines Stück einesgroßen Kreislaufes, das man nicht an und für sich anhalten konnte, ohne alle Kräftezu kennen, die in der Runde wirkten. Der Onkel duldete das Klavierspiel, sagteauch nichts dagegen, zumal sich Karl, auch nach seiner Mahnung, nur selten dasVergnügen des Spiels gönnte; ja, er brachte Karl sogar Noten amerikanischerMärsche und natürlich auch der Nationalhymne, aber allein aus der Freude an derMusik war es wohl nicht zu erklären, als er eines Tages ohne allen Scherz Karlfragte, ob er nicht auch das Spiel auf der Geige oder auf dem Waldhorn lernenwolle.

Natürlich war das Lernen des Englischen Karls erste und wichtigste Aufgabe. Einjunger Professor einer Handelshochschule erschien morgens um sieben Uhr inKarls Zimmer und fand ihn schon an seinem Schreibtisch und bei den Heftensitzen oder memorierend im Zimmer auf und ab gehen. Karl sah wohl ein, daß zurAneignung des Englischen keine Eile groß genug sei und daß er hier außerdem diebeste Gelegenheit habe, seinem Onkel eine außerordentliche Freude durch rascheFortschritte zu machen. Und tatsächlich gelang es bald, während zuerst dasEnglische in den Gesprächen mit dem Onkel sich auf Gruß und Abschiedswortebeschränkt hatte, immer größere Teile der Gespräche ins Englische hinüberzuspielen,wodurch gleichzeitig vertraulichere Themen sich einzustellen begannen. Daserste amerikanische Gedicht, die Darstellung einer Feuersbrunst, das Karl seinemOnkel an einem Abend rezitieren konnte, machte diesen tiefernst vorZufriedenheit. Sie standen damals beide an einem Fenster in Karls Zimmer, derOnkel sah hinaus, wo alle Helligkeit des Himmels schon vergangen war, undschlug im Mitgefühl der Verse langsam und gleichmäßig in die Hände, während Karlaufrecht neben ihm stand und mit starren Augen das schwierige Gedicht sichentrang.

Je besser Karls Englisch wurde, desto größere Lust zeigte der Onkel, ihn mitseinen Bekannten zusammenzuführen, und ordnete nur für jeden Fall an, daß bei

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solchen Zusammenkünften vorläufig der Englischprofessor sich immer in Karls Nähezu halten habe. Der allererste Bekannte, dem Karl eines Vormittags vorgestelltwurde, war ein schlanker, junger, unglaublich biegsamer Mensch, den der Onkelmit besonderen Komplimenten in Karls Zimmer führte. Er war offenbar einer jenervielen, vom Standpunkt der Eltern aus gesehen, mißratenen Millionärssöhne, dessenLeben so verlief, daß ein gewöhnlicher Mensch auch nur einen beliebigen Tag imLeben dieses jungen Mannes nicht ohne Schmerz verfolgen konnte. Und alswisse oder ahne er dies und als begegne er dem, soweit es in seiner Machtstand, war um seine Lippen und Augen ein unaufhörliches Lächeln des Glückes, dasihm selbst, seinem Gegenüber und der ganzen Welt zu gelten schien. Mit diesemjungen Manne, einem Herrn Mack, wurde, unter unbedingter Zustimmung desOnkels, besprochen, gemeinsam um halb sechs Uhr früh, sei es in der Reitschule,sei es ins Freie, zu reiten. Karl zögerte zuerst, seine Zusage zu geben, da er dochnoch niemals auf einem Pferd gesessen war und das Reiten zuerst ein weniglernen wolle, aber da ihm der Onkel und Mack so sehr zuredeten und das Reitenals bloßes Vergnügen und als gesunde Übung, aber gar nicht als Kunst darstellten,sagte er schließlich zu. Nun mußte er allerdings schon um halb fünf Uhr aus demBett, und das tat ihm oft sehr leid, denn er litt hier, wohl infolge der stetenAufmerksamkeit, die er während des Tages aufwenden mußte, geradezu anSchlafsucht, aber in seinem Badezimmer verlor sich das Bedauern bald. Über dieganze Wanne der Länge und Breite nach spannte sich das Sieb der Dusche -welcher Mitschüler zu Hause, und war er noch so reich, besaß etwas Derartiges undgar noch allein für sich -, und da lag nun Karl ausgestreckt, in dieser Wanne konnteer die Arme ausbreiten, und ließ die Ströme des lauen, heißen, wieder lauen undendlich eisigen Wassers nach Belieben teilweise oder über die ganze Fläche hin aufsich herab. Wie in dem noch ein wenig fortlaufenden Genusse des Schlafes lag erda und fing besonders gern mit den geschlossenen Augenlidern die letzten,einzeln fallenden Tropfen auf, die sich dann öffneten und über das Gesichthinflossen.

In der Reitschule, wo ihn das hoch sich aufbauende Automobil des Onkelsabsetzte, erwartete ihn bereits der Englischprofessor, während Mack ausnahmsloserst später kam. Er konnte aber auch unbesorgt erst später kommen, denn daseigentliche, lebendige Reiten fing erst an, wenn er da war. Bäumten sich nicht diePferde aus ihrem bisherigen Halbschlaf auf, wenn er eintrat, knallte die Peitschenicht lauter durch den Raum, erschienen nicht plötzlich auf der umlaufendenGalerie einzelne Personen, Zuschauer, Pferdewärter, Reitschüler oder was siesonst sein mochten? Karl aber nützte die Zeit vor der Ankunft Macks dazu aus, umdoch ein wenig, wenn auch nur die primitivsten Vorübungen des Reitens zubetreiben. Es war ein langer Mann da, der auf den höchsten Pferderücken mit kaumerhobenem Arm hinaufreichte und der Karl diesen immer kaum eine Viertelstundedauernden Unterricht erteilte. Die Erfolge, die Karl hierbei hatte, waren nichtübergroß, und er konnte sich viele englische Klagerufe dauernd aneignen, die erwährend dieses Lernens zu seinem Englischprofessor atemlos ausstieß, der immeram Türpfosten, meist schlafbedürftig, lehnte. Aber fast alle Unzufriedenheit mit demReiten hörte auf, wenn Mack kam. Der lange Mann wurde weggeschickt, und baldhörte man in dem noch immer halbdunklen Saal nichts anderes als die Hufe dergaloppierenden Pferde und man sah kaum etwas anderes als Macks erhobenenArm, mit dem er Karl ein Kommando gab. Nach einer halben Stunde solchen wieSchlaf vergehenden Vergnügens wurde haltgemacht. Mack war in großer Eile,verabschiedete sich von Karl, klopfte ihm manchmal auf die Wange, wenn er mitseinem Reiten besonders zufrieden gewesen war, und verschwand, ohne vorgroßer Eile mit Karl auch nur gemeinsam durch die Tür hinauszugehen. Karl nahmdann den Professor mit ins Automobil, und sie fuhren zu ihrer Englischstunde

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meist auf Umwegen, denn bei der Fahrt durch das Gedränge der großen Straße, dieeigentlich direkt von dem Hause des Onkels zur Reitschule führte, wäre zuviel Zeitverlorengegangen. Im übrigen hörte wenigstens diese Begleitung desEnglischprofessors bald auf, denn Karl, der sich Vorwürfe machte, den müden Mannnutzlos in die Reitschule zu bemühen, zumal die englische Verständigung mit Mackeine sehr einfache war, bat den Onkel, den Professor von dieser Pflicht zuentheben. Nach einiger Überlegung gab der Onkel dieser Bitte auch nach.

Verhältnismäßig lange dauerte es, ehe sich der Onkel entschloß, Karl auch nur einenkleinen Einblick in sein Geschäft zu erlauben, obwohl Karl öfters darum ersuchthatte. Es war eine Art Kommissions- und Speditionsgeschäftes, wie sie, soweitsich Karl erinnern konnte, in Europa vielleicht gar nicht zu finden war. DasGeschäft bestand nämlich in einem Zwischenhandel, der aber die Waren nicht etwavon den Produzenten zu den Konsumenten oder vielleicht zu den Händlernvermittelte, sondern welcher die Vermittlung aller Waren und Urprodukte für diegroßen Fabrikskartelle und zwischen ihnen besorgte. Es war daher ein Geschäft,welches in einem Käufe, Lagerungen, Transporte und Verkäufe riesenhaftenUmfangs umfaßte und ganz genaue, unaufhörliche telephonische undtelegraphische Verbindungen mit den Klienten unterhalten mußte. Der Saal derTelegraphen war nicht kleiner, sondern größer als das Telegraphenamt derVaterstadt, durch das Karl einmal an der Hand eines dort bekannten Mitschülersgegangen war. Im Saal der Telephone gingen, wohin man schaute, die Türen derTelephonzellen auf und zu, und das Läuten war sinnverwirrend. Der Onkel öffnetedie nächste dieser Türen, und man sah dort im sprühenden elektrischen Licht einenAngestellten, gleichgültig gegen jedes Geräusch der Türe, den Kopf eingespannt inein Stahlband, das ihm die Hörmuscheln an die Ohren drückte. Der rechte Arm lagauf einem Tischchen, als wäre er besonders schwer, und nur die Finger, welcheden Bleistift hielten, zuckten unmenschlich gleichmäßig und rasch. In den Worten,die er in den Sprechtrichter sagte, war er sehr sparsam, und oft sah man sogar,daß er vielleicht gegen den Sprecher etwas einzuwenden hatte, ihn etwas genauerfragen wollte, aber gewisse Worte, die er hörte, zwangen ihn, ehe er seine Absichtausführen konnte, die Augen zu senken und zu schreiben. Er mußte auch nichtreden, wie der Onkel Karl leise erklärte, denn die gleichen Meldungen, wie siedieser Mann aufnahm, wurden noch von zwei anderen Angestellten gleichzeitigaufgenommen und dann verglichen, so daß Irrtümer möglichst ausgeschlossenwaren. In dem gleichen Augenblick, als der Onkel und Karl aus der Tür getretenwaren, schlüpfte ein Praktikant hinein und kam mit dem inzwischen beschriebenenPapier heraus. Mitten durch den Saal war ein beständiger Verkehr von hin und hergejagten Leuten. Keiner grüßte, das Grüßen war abgeschafft, jeder schloß sich denSchritten des ihm Vorhergehenden an und sah auf den Boden, auf dem ermöglichst rasch vorwärtskommen wollte, oder fing mit den Blicken wohl nur einzelneWorte oder Zahlen von Papieren ab, die er in der Hand hielt und die bei seinemLaufschritt flatterten. »Du hast es wirklich weit gebracht«, sagte Karl einmal aufeinem dieser Gänge durch den Betrieb, auf dessen Durchsicht man viele Tageverwenden mußte, selbst wenn man jede Abteilung gerade nur gesehen habenwollte. »Und alles habe ich vor dreißig Jahren selbst eingerichtet, mußt du wissen.Ich hatte damals im Hafenviertel ein kleines Geschäft, und wenn dort im Tag fünfKisten abgeladen waren, so war es viel und ich ging aufgeblasen nach Hause.Heute habe ich die drittgrößten Lagerhäuser im Hafen, und jener Laden ist dasEßzimmer und die Gerätekammer der fünfundsechzigsten Gruppe meiner Packträger.«

»Das grenzt ja ans Wunderbare«, sagte Karl.

»Alle Entwicklungen gehen hier so schnell vor sich«, sagte der Onkel, dasGespräch abbrechend.

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Eines Tages kam der Onkel knapp vor der Zeit des Essens, das Karl wiegewöhnlich allein einzunehmen gedachte, und forderte ihn auf, sich gleichfallsschwarz anzuziehen und mit ihm zum Essen zu kommen, an welchem zweiGeschäftsfreunde teilnehmen würden. Während Karl sich im Nebenzimmerumkleidete, setzte sich der Onkel zum Schreibtisch und sah die gerade beendeteEnglischaufgabe durch, schlug mit der Hand auf den Tisch und rief laut: »Wirklichausgezeichnet!«

Zweifellos gelang das Anziehen besser, als Karl dieses Lob hörte, aber er warauch wirklich seines Englischen schon ziemlich sicher.

Im Speisezimmer des Onkels, das er vom ersten Abend seiner Ankunft noch inErinnerung hatte, erhoben sich zwei große, dicke Herren zur Begrüßung, ein gewisserGreen der eine, ein gewisser Pollunder der zweite, wie sich während desTischgesprächs herausstellte. Der Onkel pflegte nämlich kaum ein flüchtiges Wort überirgendwelche Bekannten auszusprechen und überließ es immer Karl, durch eigeneBeobachtung das Notwendige oder Interessante herauszufinden. Nachdemwährend des eigentlichen Essens nur intime geschäftliche Angelegenheitenbesprochen worden waren, was für Karl eine gute Lektion hinsichtlichkaufmännischer Ausdrücke bedeutete, und man Karl still mit seinem Essen sichhatte beschäftigen lassen, als sei er ein Kind, das sich vor allem ordentlichsattessen müsse, beugte sich Herr Green zu Karl hin und fragte in demunverkennbaren Bestreben, ein möglichst deutliches Englisch zu sprechen, imallgemeinen nach Karls ersten amerikanischen Eindrücken. Karl antwortete untereiner Sterbensstille ringsherum mit einigen Seitenblicken auf den Onkel ziemlichausführlich und suchte sich zum Dank durch eine etwas New Yorkisch gefärbteRedeweise angenehm zu machen. Bei einem Ausdruck lachten sogar alle dreiHerren durcheinander, und Karl fürchtete schon, einen groben Fehler gemacht zuhaben; jedoch nein, er hatte, wie Herr Pollunder erklärte, sogar etwas sehrGelungenes gesagt. Dieser Herr Pollunder schien überhaupt an Karl einbesonderes Gefallen zu finden, und während der Onkel und Herr Green wieder zuden geschäftlichen Besprechungen zurückkehrten, ließ Herr Pollunder Karl seinenSessel nahe zu sich hinschieben, fragte ihn zuerst vielerlei über seinen Namen,seine Herkunft und seine Reise aus, bis er dann schließlich, um Karl wiederausruhen zu lassen, lachend, hustend und eilig selbst von sich und seiner Tochtererzählte, mit der er auf einem kleinen Landgut in der Nähe von New York wohnte,wo er aber allerdings nur die Abende verbringen konnte, denn er war Bankier,und sein Beruf hielt ihn in New York den ganzen Tag fest. Karl wurde auch gleichherzlichst eingeladen, auf dieses Landgut hinauszukommen, ein sofrischgebackener Amerikaner wie Karl habe ja auch sicher das Bedürfnis, sich vonNew York manchmal zu erholen. Karl bat den Onkel sofort um die Erlaubnis,diese Einladung annehmen zu dürfen, und der Onkel gab auch scheinbar freudigdiese Erlaubnis, ohne aber ein bestimmtes Datum zu nennen oder auch nur inErwägung ziehen zu lassen, wie es Karl und Herr Pollunder erwartet hatten.

Aber schon am nächsten Tag wurde Karl in ein Büro des Onkels beordert (derOnkel hatte zehn verschiedene Büros allein in diesem Hause), wo er den Onkelund Herrn Pollunder ziemlich einsilbig in den Fauteuils liegend antraf.

»Herr Pollunder,« sagte der Onkel, er war in der Abenddämmerung des Zimmerskaum zu erkennen, »Herr Pollunder ist gekommen, um dich auf sein Landgutmitzunehmen, wie wir es gestern besprochen haben.«

»Ich wußte nicht, daß es schon heute sein sollte«, antwortete Karl, »sonst wäre ichschon vorbereitet.«

»Wenn du nicht vorbereitet bist, dann verschieben wir vielleicht den Besuchbesser für nächstens«, meinte der Onkel.

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»Was für Vorbereitungen!« rief Herr Pollunder. »Ein junger Mann ist immervorbereitet.«

»Es ist nicht seinetwegen«, sagte der Onkel, zu seinem Gäste gewendet, »aberer müßte immerhin noch in sein Zimmer hinaufgehen, und Sie wären aufgehalten.«»Es ist auch dazu reichlich Zeit«, sagte Herr Pollunder, »ich habe auch eineVerzögerung vorbedacht und früher Geschäftsschluß gemacht.«

»Du siehst«, sagte der Onkel, »was für Unannehmlichkeiten dein Besuch schonjetzt veranlaßt.«

»Es tut mir leid«, sagte Karl, »aber ich werde gleich wieder da sein«, und wollteschon wegspringen.

»Übereilen Sie sich nicht«, sagte Herr Pollunder. »Sie machen mir nicht diegeringsten Unannehmlichkeiten, dagegen macht mir Ihr Besuch eine reineFreude.« »Du versäumst morgen deine Reitstunde, hast du sie schon abgesagt?«»Nein«, sagte Karl, dieser Besuch, auf den er sich gefreut hatte, fing an, eine Lastzu werden, »ich wußte ja nicht -«

»Und trotzdem willst du wegfahren?« fragte der Onkel weiter.

Herr Pollunder, dieser freundliche Mensch, kam zu Hilfe.

»Wir werden auf der Fahrt bei der Reitschule halten und die Sache in Ordnungbringen.«

»Das läßt sich hören«, sagte der Onkel. »Aber Mack wird dich doch erwarten.«

»Erwarten wird er mich nicht«, sagte Karl, »aber er wird allerdings hinkommen.«

»Nun also?« sagte der Onkel, als wäre Karls Antwort nicht die geringsteRechtfertigung gewesen.

Wieder sagte Herr Pollunder das Entscheidende: »Aber Klara« - sie war HerrnPollunders Tochter - »erwartet ihn auch und schon heute abend, und sie hat wohlden Vorzug vor Mack?«

»Allerdings«, sagte der Onkel. »Also lauf schon in dein Zimmer«, und er schlugmehrmals wie ohne Willen gegen die Armlehne des Fauteuils. Karl war schon beider Tür, als ihn der Onkel noch mit der Frage zurückhielt: »Zur Englischstunde bistdu doch wohl morgen früh wieder hier?«

»Aber!« rief Herr Pollunder und drehte sich, soweit es seine Dicke erlaubte, inseinem Fauteuil vor Erstaunen. »Ja darf er denn nicht wenigstens den morgigenTag draußen bleiben? Ich brächte ihn dann übermorgen früh wieder zurück?«

»Das geht auf keinen Fall«, erwiderte der Onkel. »Ich kann sein Studium nichtso in Unordnung kommen lassen. Später, wenn er in einem an und für sichgeregelten Berufsleben sein wird, werde ich ihm sehr gern auch für längere Zeiterlauben, einer so freundlichen und ehrenden Einladung zu folgen.«

>Was das für Widersprüche sind!< dachte Karl.

Herr Pollunder war traurig geworden. »Für einen Abend und eine Nacht steht esaber wirklich fast nicht dafür.«

»Das war auch meine Meinung«, sagte der Onkel.

»Man muß nehmen, was man bekommt«, sagte Herr Pollunder und lachte schonwieder. »Also, ich warte!« rief er Karl zu, welcher, da der Onkel nichts mehrsagte, davoneilte. Als er bald reisefertig zurückkehrte, traf er im Büro nur noch HerrnPollunder, der Onkel war fortgegangen. Herr Pollunder schüttelte Karl ganz glücklichbeide Hände, als wolle er sich so stark als möglich dessen vergewissern, daß Karlnun doch mitfahre. Karl war noch ganz erhitzt von der Eile und schüttelte auchseinerseits Herrn Pollunders Hände, er freute sich, den Ausflug machen zu können.

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»Hat sich der Onkel nicht darüber geärgert, daß ich fahre?«

»Aber nein! Das hat er ja alles nicht so ernst gemeint. Ihre Erziehung liegt ihmeben am Herzen.«

»Hat er es Ihnen selbst gesagt, daß er das Frühere nicht so ernst gemeint hat?«

»O ja«, sagte Herr Pollunder gedehnt und bewies damit, daß er nicht lügen konnte.

»Es ist merkwürdig, wie ungern er mir die Erlaubnis gegeben hat, Sie zubesuchen, obwohl Sie doch sein Freund sind.«

Auch Herr Pollunder konnte, obwohl er dies nicht offen eingestand, keineErklärung dafür finden, und beide dachten, als sie in Herrn Pollunders Automobildurch den warmen Abend fuhren, noch lange darüber nach, obwohl sie gleich vonanderen Dingen sprachen.

Sie saßen eng beieinander, und Herr Pollunder hielt Karls Hand in der seinen,während er erzählte. Karl wollte vieles über das Fräulein Klara hören, als sei erungeduldig über die lange Fahrt und könne mit Hilfe der Erzählungen früherankommen als in Wirklichkeit. Obwohl er am Abend noch niemals durch die NewYorker Straßen gefahren war, und über Trottoir und Fahrbahn, alle Augenblicke dieRichtung wechselnd, wie in einem Wirbelwind der Lärm jagte, nicht wie vonMenschen verursacht, sondern wie ein fremdes Element, kümmerte sich Karl,während er Herrn Pollunders Worte genau aufzunehmen suchte, um nichtsanderes als Herrn Pollunders dunkle Weste, über die quer eine dunkle Kette ruhighing. Aus den Straßen, wo das Publikum in großer, unverhüllter Furcht vor Verspätungin fliegendem Schritt und in Fahrzeugen, die zu möglichster Eile gebracht waren,zu den Theatern drängte, kamen sie durch Übergangsbezirke in die Vorstädte, wo ihrAutomobil durch Polizeileute zu Pferd immer wieder in Seitenstraßen gewiesenwurde, da die großen Straßen von den demonstrierenden Metallarbeitern, die imStreik standen, besetzt waren und nur der notwendigste Wagenverkehr an denKreuzungsstellen gestattet werden konnte. Durchquerte dann das Automobil, ausdunkleren, dumpf hallenden Gassen kommend, eine dieser ganzen Plätzengleichenden großen Straßen, dann erschienen nach beiden Seiten hin inPerspektiven, denen niemand bis zum Ende folgen konnte, die Trottoirs angefülltmit einer in winzigen Schritten sich bewegenden Masse, deren Gesangeinheitlicher war als der einer einzigen Menschenstimme. In der freigehaltenenFahrbahn aber sah man hie und da einen Polizisten auf unbeweglichem Pferdeoder Träger von Fahnen oder beschriebenen, über die Straße gespannten Tüchernoder einen von Mitarbeitern und Ordonnanzen umgebenen Arbeiterführer odereinen Wagen der elektrischen Straßenbahn, der sich nicht rasch genug geflüchtethatte und nun leer und dunkel dastand, während der Führer und der Schaffner aufder Plattform saßen. Kleine Trupps von Neugierigen standen weit entfernt von denwirklichen Demonstranten und verließen ihre Plätze nicht, obwohl sie über dieeigentlichen Ereignisse im unklaren blieben. Karl aber lehnte froh in dem Arm,den Herr Pollunder um ihn gelegt hatte; die Überzeugung, daß er bald in einembeleuchteten, von Mauern umgebenen, von Hunden bewachten Landhause einwillkommener Gast sein werde, tat ihm über alle Maßen wohl, und wenn er auchwegen einer beginnenden Schläfrigkeit nicht mehr alles, was Herr Pollunder sagte,fehlerlos oder wenigstens nicht ohne Unterbrechung auffaßte, so raffte er sich dochvon Zeit zu Zeit auf und wischte sich die Augen, um wieder für eine Weilefestzustellen, ob Herr Pollunder seine Schläfrigkeit bemerkte, denn das wollte erum jeden Preis vermieden wissen.

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Ein Landhaus bei New York

»Wir sind angekommen«, sagte Herr Pollunder gerade in einem von Karlsverlorenen Momenten. Das Automobil stand vor einem Landhaus, das, nach derArt von Landhäusern reicher Leute in der Umgebung New Yorks, umfangreicherund höher war, als es sonst für ein Landhaus nötig ist, das bloß einer Familie dienensoll. Da nur der untere Teil des Hauses beleuchtet war, konnte man gar nichtbemessen, wie weit es in die Höhe reichte. Vorne rauschten Kastanienbäume,zwischen denen - das Gitter war schon geöffnet - ein kurzer Weg zur Freitreppedes Hauses führte. An seiner Müdigkeit beim Aussteigen glaubte Karl zu bemerken,daß die Fahrt doch ziemlich lang gedauert hatte. Im Dunkel der Kastanienallee hörteer eine Mädchenstimme neben sich sagen: »Da ist ja endlich der Herr Jakob.«

»Ich heiße Roßmann«, sagte Karl und faßte die ihm hingereichte Hand einesMädchens, das er jetzt in Umrissen erkannte.

»Er ist ja nur Jakobs Neffe«, sagte Herr Pollunder erklärend, »und heißt selbstKarl Roßmann.«

»Das ändert nichts an unserer Freude, ihn hier zu haben«, sagte das Mädchen,dem an Namen nicht viel lag.

Trotzdem fragte Karl noch, während er zwischen Herrn Pollunder und demMädchen auf das Haus zuschritt: »Sie sind das Fräulein Klara?«

»Ja«, sagte sie, und schon fiel ein wenig unterscheidendes Licht vom Hauseher auf ihr Gesicht, das sie ihm zuneigte, »ich wollte mich aber hier in derFinsternis nicht vorstellen.«

>Ja hat sie uns denn am Gitter erwartet?< dachte Karl, der im Gehenallmählich aufwachte.

»Wir haben übrigens noch einen Gast heute abend«, sagte Klara. »Nichtmöglich!« rief Pollunder ärgerlich. »Herrn Green«, sagte Klara.

»Wann ist er gekommen?« fragte Karl, wie in einer Ahnung befangen.

»Vor einem Augenblick. Habt ihr denn sein Automobil nicht vor dem euerengehört?«

Karl sah zu Pollunder auf, um zu erfahren, wie er die Sache beurteile, aber erhatte die Hände in den Hosentaschen und stampfte bloß etwas stärker im Gehen.

»Es nützt nichts, nur knapp außerhalb New Yorks zu wohnen, von Störungen bleibtman nicht verschont. Wir werden unseren Wohnsitz unbedingt noch weiterverlegen müssen; und sollte ich die halbe Nacht durchfahren müssen, ehe ich nachHause komme.«

Sie blieben an der Freitreppe stehen.

»Aber Herr Green war doch schon sehr lange nicht hier«, sagte Klara, dieoffenbar mit ihrem Vater gänzlich einverstanden war, ihn aber über sich hinausberuhigen wollte. »Warum kommt er denn gerade heute abend«, sagte Pollunder,und die Rede rollte schon wütend über die wulstige Unterlippe, die als loses,schweres Fleisch leicht in große Bewegung kam.

»Allerdings!« sagte Klara.

»Vielleicht wird er bald wieder weggehen«, bemerkte Karl und staunte selbstüber das Einverständnis, in welchem er sich mit diesen noch gestern ihm gänzlichfremden Leuten befand.

»O nein«, sagte Klara, »er hat irgendein großes Geschäft für Papa, dessenBesprechung wahrscheinlich lange dauern wird, denn er hat mir schon im Spaß

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gedroht, daß ich, wenn ich eine höfliche Hauswirtin sein will, bis zum Morgen werdezuhören müssen.«

»Also auch das noch. Dann bleibt er über Nacht!« rief Pollunder, als sei damitendlich das Schlimmste erreicht. »Ich hätte wahrhaftig Lust«, sagte er und wurdefreundlicher durch den neuen Gedanken, »ich hätte wahrhaftig Lust, Sie, HerrRoßmann, wieder ins Automobil zu nehmen und zu Ihrem Onkel zurückzubringen.Der heutige Abend ist schon von vornherein gestört, und wer weiß, wann Sie unsnächstens Ihr Herr Onkel wieder überläßt. Bringe ich Sie aber heute schon wiederzurück, so wird er Sie uns nächstens doch nicht verweigern können.«

Und er faßte Karl schon bei der Hand, um seinen Plan auszuführen. Aber Karlrührte sich nicht, und Klara bat, ihn hierzulassen, denn zumindest sie und Karlwürden von Herrn Green nicht im geringsten gestört werden können, und schließlichmerkte auch Pollunder selbst, daß sein Entschluß nicht der festeste war. Überdies -und dies war vielleicht das Entscheidende - hörte man plötzlich Herrn Green vomobersten Treppenaufsatz in den Garten hinunterrufen: »Wo bleibt ihr denn?«

»Kommt«, sagte Pollunder und bog auf die Freitreppe ein. Hinter ihm gingenKarl und Klara, die einander jetzt im Licht studierten.

>Die roten Lippen, die sie hat<, sagte sich Karl und dachte an die Lippendes Herrn Pollunder und wie schön sie sich in der Tochter verwandelt hatten.

»Nach dem Nachtmahl«, so sagte sie, »werden wir, wenn es Ihnen recht ist,gleich in meine Zimmer gehen, damit wir wenigstens diesen Herrn Green los sind,wenn schon Papa sich mit ihm beschäftigen muß. Und Sie werden dann sofreundlich sein, mir Klavier vorzuspielen, denn Papa hat schon erzählt, wie gut Siedas können, ich aber bin leider ganz unfähig, Musik auszuüben, und rühre meinKlavier nicht an, so sehr ich die Musik eigentlich liebe.«

Mit dem Vorschlag Klaras war Karl ganz einverstanden, wenn er auch gernHerrn Pollunder mit in ihre Gesellschaft hätte ziehen wollen. Vor der riesigenGestalt Greens - an Pollunders Größe hatte sich Karl eben schon gewöhnt -, die sichvor ihnen, wie sie die Stufen hinaufstiegen, langsam entwickelte, wich allerdingsvon Karl jede Hoffnung, diesem Mann den Herrn Pollunder heute abendirgendwie zu entlocken.

Herr Green empfing sie sehr eilig, als sei vieles einzuholen, nahm HerrnPollunders Arm und schob Karl und Klara vor sich in das Speisezimmer, dasbesonders infolge der Blumen auf dem Tische, die sich aus Streifen frischenLaubes halb aufrichteten, sehr festlich aussah und doppelt die Anwesenheit desstörenden Herrn Green bedauern ließ. Gerade freute sich noch Karl, der beimTische wartete, bis die anderen sich setzten, daß die große Glastüre zum Garten hinoffen bleiben würde, denn ein starker Duft wehte herein wie in eine Gartenlaube,da ging gerade Herr Green unter Schnaufen daran, diese Glastüre zuzumachen,bückte sich nach den untersten Riegeln, streckte sich nach den obersten und allesso jugendlich rasch, daß der herbeieilende Diener nichts mehr zu tun fand. Dieersten Worte des Herrn Green bei Tische waren Ausdrücke des Staunens darüber,daß Karl die Erlaubnis des Onkels zu diesem Besuche bekommen hatte. Einengefüllten Suppenlöffel nach dem anderen hob er zum Mund und erklärte rechts zuKlara, links zu Herrn Pollunder, warum er so staune und wie der Onkel über Karlwache und wie die Liebe des Onkels zu Karl zu groß sei, als daß man sie nochLiebe eines Onkels nennen könne.

>Nicht genug, daß er sich hier unnötig einmischt, mischt er sich nochgleichzeitig zwischen mich und den Onkel ein<, dachte Karl und konnte keinenSchluck der goldfarbigen Suppe hinunterbringen. Dann wollte er sich aber wiedernichts anmerken lassen, wie gestört er sich fühlte, und begann die Suppe stumm in

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sich hineinzuschütten. Das Essen verging langsam wie eine Plage. Nur Herr Greenund höchstens noch Klara waren lebhaft und fanden mitunter Gelegenheit zueinem kurzen Lachen. Herr Pollunder verfing sich nur einige Male in dieUnterhaltung, wenn Herr Green von Geschäften zu sprechen anfing. Doch zog ersich auch von solchen Gesprächen bald zurück, und Herr Green mußte ihn nacheiniger Zeit wieder unvermutet damit überraschen. Er legte übrigens Gewicht darauf- und da war es, daß Karl, der aufhorchte, als drohe etwas, von Klara daraufaufmerksam gemacht werden mußte, daß der Braten vor ihm stand und er bei einemAbendessen war -, daß er von vornherein nicht die Absicht gehabt habe, diesenunerwarteten Besuch zu machen. Denn wenn auch das Geschäft, von dem nochgesprochen werden solle, von besonderer Dringlichkeit sei, so hätte wenigstensdas Wichtigste heute in der Stadt verhandelt und das Nebensächlichere für morgenoder später aufgespart werden können. Und so sei er auch tatsächlich, noch langevor Geschäftsschluß, bei Herrn Pollunder gewesen, habe ihn aber nicht angetroffen,so daß er gezwungen gewesen sei, nach Hause zu telephonieren, daß er über Nachtausbleibe, und herauszufahren.

»Dann muß ich um Entschuldigung bitten«, sagte Karl laut und ehe jemand Zeitzur Antwort hatte, »denn ich bin daran schuld, daß Herr Pollunder sein Geschäftheute früher verließ, und es tut mir sehr leid.«

Herr Pollunder bedeckte den größeren Teil seines Gesichtes mit der Serviette,während Klara Karl zwar anlächelte, doch war es kein teilnehmendes Lächeln,sondern eines, das ihn irgendwie beeinflussen sollte.

»Da braucht es keine Entschuldigung«, sagte Herr Green, der gerade eineTaube mit scharfen Schnitten zerlegte, »ganz im Gegenteil, ich bin ja froh, denAbend in so angenehmer Gesellschaft zu verbringen, statt das Nachtmahl alleinzu Hause einzunehmen, wo mich meine alte Wirtschafterin bedient, die so alt ist,daß ihr schon der Weg von der Tür zu meinem Tisch schwerfällt, und ich mich fürlange in meinen Sessel zurücklehnen kann, wenn ich sie auf diesem Gangbeobachten will. Erst vor kurzem habe ich durchgesetzt, daß der Diener dieSpeisen bis zur Tür des Speisezimmers bringt, der Weg aber von der Tür zumeinem Tisch gehört ihr, soweit ich sie verstehe.«

»Mein Gott«, rief Klara, »ist das eine Treue!«

»Ja, es gibt noch Treue auf der Welt«, sagte Herr Green und führte einen Bissenin den Mund, wo die Zunge, wie Karl zufällig bemerkte, mit einem Schwunge dieSpeise ergriff. Ihm wurde fast übel und er stand auf. Fast gleichzeitig griffen HerrPollunder und Klara nach seinen Händen.

»Sie müssen noch sitzen bleiben«, sagte Klara. Und als er sich wieder gesetzthatte, flüsterte sie ihm zu: »Wir werden bald zusammen verschwinden. Haben SieGeduld.«

Herr Green hatte sich inzwischen ruhig mit seinem Essen beschäftigt, als sei esHerrn Pollunders und Klaras natürliche Aufgabe, Karl zu beruhigen, wenn er ihmÜbelkeiten verursachte.

Das Essen zog sich besonders durch die Genauigkeit in die Länge, mit der HerrGreen jeden Gang behandelte, wenn er auch immer bereit war, jeden neuenGang ohne Ermüdung zu empfangen, es bekam wirklich den Anschein, als wolle ersich von seiner alten Wirtschafterin gründlich erholen. Hin und wieder lobte erFräulein Klaras Kunst in der Führung des Hauswesens, was ihr sichtlichschmeichelte, während Karl versucht war, ihn abzuwehren, als greife er sie an.Aber Herr Green begnügte sich nicht einmal mit ihr, sondern bedauerte öfters, ohnevom Teller aufzusehen, die auffallende Appetitlosigkeit Karls. Herr Pollundernahm Karls Appetit in Schutz, obwohl er als Gastgeber Karl auch zum Essen hätte

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aufmuntern sollen. Und tatsächlich fühlte sich Karl durch den Zwang, unter dem erwährend des ganzen Nachtmahls litt, so empfindlich, daß er gegen die eigenebessere Einsicht diese Äußerung Herrn Pollunders als Unfreundlichkeit auslegte.Und es entsprach nur diesem seinen Zustand, daß er einmal ganz unpassendrasch und viel aß und dann wieder für lange Zeit müde Gabel und Messer sinken ließund der Unbeweglichste der Gesellschaft war, mit dem der Diener, der dieSpeisen reichte, oft nichts anzufangen wußte. »Ich werde schon morgen demHerrn Senator erzählen, wie Sie das Fräulein Klara durch Ihr Nichtessen gekränkthaben«, sagte Herr Green und beschränkte sich darauf, die spaßige Absicht dieserWorte durch die Art, wie er mit Besteck hantierte, auszudrücken.

»Sehen Sie nur das Mädchen an, wie traurig es ist«, fuhr er fort und griff Klaraunters Kinn. Sie ließ es geschehen und schloß die Augen.

«Du Dingschen«, rief er, lehnte sich zurück und lachte, hochrot im Gesicht, mitder Kraft des Gesättigten. Vergebens suchte sich Karl das Benehmen HerrnPollunders zu erklären. Der saß vor seinem Teller und sah in ihn, als geschehe dortdas eigentlich Wichtige. Er zog Karls Sessel nicht näher zu sich, und wenn ereinmal sprach, so sprach er zu allen, aber zu Karl hatte er nichts Besonderes zureden. Dagegen duldete er, daß Green, dieser alte, ausgepichte New YorkerJunggeselle, mit deutlicher Absicht Klara berührte, daß er Karl, Pollunders Gastbeleidigte oder wenigstens als Kind behandelte und wer weiß zu welchen Tatensich stärkte und vordrang.

Nach Aufhebung der Tafel - als Green die allgemeine Stimmung merkte, war erder erste, der aufstand und gewissermaßen alle mit sich erhob - ging Karl alleinabseits zu einem der großen, durch schmale weiße Leisten geteilten Fenster, die zurTerrasse führten und die eigentlich, wie er beim Nähertreten merkte, richtige Türenwaren. Was war von der Abneigung übriggeblieben, die Herr Pollunder und seineTochter anfangs gegenüber Green gefühlt hatten und die damals Karl etwasunverständlich vorgekommen war? Jetzt standen sie mit Green beisammen undnickten ihm zu. Der Rauch aus Herrn Greens Zigarre, einem GeschenkPollunders, die von jener Dicke war, von der der Vater zu Hause hie und da alsvon einer Tatsache zu erzählen pflegte, die er wahrscheinlich selbst mit eigenenAugen niemals gesehen hatte, verbreitete sich in dem Saal und trug GreensEinfluß auch in Winkel und Nischen, die er persönlich niemals betreten würde. Soweit entfernt Karl auch stand, noch spürte er von dem Rauch einen Kitzel in derNase, und das Benehmen Herrn Greens, nach welchem er sich von seinem Platzaus nur einmal schnell umsah, erschien ihm infam. Jetzt hielt er es gar nicht mehrfür ausgeschlossen, daß ihm der Onkel die Erlaubnis zu diesem Besuch nur deshalbso lange verweigert hatte, weil er den schwachen Charakter Herrn Pollunderskannte und infolgedessen eine Kränkung Karls bei diesem Besuch, wenn auchnicht genau voraussah, so doch im Bereich der Möglichkeit erblickte. Auch dasamerikanische Mädchen gefiel ihm nicht, obwohl er sich sie durchaus nicht etwaviel schöner vorgestellt hatte. Seit sich Herr Green mit ihr abgegeben hatte, war ersogar überrascht von der Schönheit, deren ihr Gesicht fähig war, und besonders vondem Glanz ihrer unbändig bewegten Augen. Einen Rock, der so fest wie der ihreden Körper umschlossen hätte, hatte er noch niemals gesehen, kleine Falten in demgelblichen, zarten und festen Stoff zeigten die Stärke der Spannung. Und doch lagKarl gar nichts an ihr und er hätte gern darauf verzichtet, auf ihre Zimmer geführt zuwerden, wenn er statt dessen die Tür, auf deren Klinke er für jeden Fall die Händegelegt hatte, hätte öffnen, ins Automobil steigen oder, wenn der Chauffeur schonschlief, allein nach New York hätte spazieren dürfen. Die klare Nacht mit dem ihmzugeneigten vollen Mond stand frei für jedermann, und draußen im Freien vielleichtFurcht zu haben schien Karl sinnlos. Er stellte sich vor - und zum erstenmal

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wurde ihm in diesem Saale wohl -, wie er am Morgen - früher dürfte er kaum zu Fußnach Hause kommen - den Onkel überraschen wollte. Er war zwar noch niemals inseinem Schlafzimmer gewesen, wußte auch gar nicht, wo es lag, aber er wollte esschon erfragen. Dann wollte er anklopfen und auf das förmliche »Herein!« insZimmer laufen und den lieben Onkel, den er bisher immer nur bis hoch hinaufangezogen und zugeknöpft kannte, aufrecht im Bette sitzend, die Augen erstauntzur Tür gerichtet, im Nachthemd überraschen. Das war ja an und für sich vielleichtnoch nicht viel, aber man mußte nur ausdenken, was das zur Folge haben könnte.Vielleicht würde er zum erstenmal gemeinsam mit seinem Onkel frühstücken, derOnkel im Bett, er auf einem Sessel, das Frühstück auf einem Tischchen zwischenihnen, vielleicht würde dieses gemeinsame Frühstück zu einer ständigen Einrichtungwerden, vielleicht würden sie infolge dieser Art Frühstück, was sogar kaum zuvermeiden war, öfters als wie bisher bloß einmal während des Tageszusammenkommen und dann natürlich auch offener miteinander reden können. Eslag ja schließlich nur an dem Mangel dieser offenen Aussprache, wenn er heutedem Onkel gegenüber etwas unfolgsam oder, besser, starrköpfig gewesen war. Undwenn er auch heute über Nacht hierbleiben mußte - es sah leider ganz danach aus,obwohl man ihn hier beim Fenster stehen und auf eigene Faust sich unterhaltenließ -, vielleicht wurde dieser unglückliche Besuch der Wendepunkt zum Besseren indem Verhältnis zum Onkel, vielleicht hatte der Onkel in seinem Schlafzimmerheute abend ähnliche Gedanken.

Ein wenig getröstet wandte er sich um. Klara stand vor ihm und sagte: »Gefällt esIhnen denn gar nicht bei uns? Wollen Sie sich hier nicht ein wenig heimischfühlen? Kommen Sie, ich will den letzten Versuch machen.«

Sie führte ihn quer durch den Saal zur Türe. An einem Seitentisch saßen die beidenHerren bei leicht schäumenden, in hohe Gläser gefällten Getränken, die Karlunbekannt waren und die er zu kosten Lust gehabt hätte. Herr Green hatte einenEllbogen auf dem Tisch, sein ganzes Gesicht war Herrn Pollunder möglichst nahegerückt; wenn man Herrn Pollunder nicht gekannt hätte, hätte man ganz gutannehmen können, es werde hier etwas Verbrecherisches besprochen und keinGeschäft. Während Herr Pollunder mit freundlichem Blick Karl zur Türe folgte, sahsich Green, obwohl man doch schon unwillkürlich sich den Blicken seinesGegenübers anzuschließen pflegt, auch nicht im geringsten nach Karl um, welchemin diesem Benehmen der Ausdruck einer Art Überzeugung Greens zu liegenschien, jeder, Karl für sich und Green für sich, solle hier mit seinen Fähigkeitenauszukommen versuchen, die notwendige gesellschaftliche Verbindung zwischenihnen werde sich schon mit der Zeit durch den Sieg oder die Vernichtung einesvon beiden herstellen. >Wenn er das meint<, sagte sich Karl, >dann ist erein Narr. Ich will wahrhaftig nichts von ihm, und er soll mich auch in Ruhelassen.<

Kaum war er auf den Gang getreten, fiel ihm ein, daß er sich wahrscheinlichunhöflich benommen hatte, denn mit seinen auf Green gehefteten Augen hatte ersich von Klara aus dem Zimmer fast schleppen lassen. Desto williger ging er jetztneben ihr her. Auf dem Wege durch die Gänge traute er zuerst seinen Augen nicht,als er alle zwanzig Schritte einen reich livrierten Diener mit einem Armleuchterstehen sah, dessen dicken Schaft jene mit beiden Händen umschlossen hielten.

»Die neue elektrische Leitung ist bisher nur im Speisezimmer eingeführt«, erklärteKlara. »Wir haben dieses Haus erst vor kurzem gekauft und es gänzlich umbauenlassen, soweit sich ein altes Haus mit seiner eigensinnigen Bauart überhauptumbauen läßt.«

»Da gibt es also auch schon in Amerika alte Häuser«, sagte Karl. »Natürlich«,sagte Klara lachend und zog ihn weiter. »Sie haben merkwürdige Begriffe von

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Amerika.«

»Sie sollen mich nicht auslachen«, sagte er ärgerlich. Schließlich kannte er schonEuropa und Amerika, sie aber nur Amerika.

Im Vorübergehen stieß Klara mit leicht ausgestreckter Hand eine Tür auf und sagte,ohne anzuhalten: »Hier werden Sie schlafen.«

Karl wollte sich natürlich das Zimmer gleich anschauen, aber Klara erklärteungeduldig und fast schreiend, das habe doch Zeit und er solle nur vorhermitkommen. Sie zogen sich auf dem Gang ein wenig hin und her, schließlichmeinte Karl, er müsse sich nicht in allem nach Klara richten, riß sich los und trat indas Zimmer. Ein überraschendes Dunkel vor dem Fenster erklärte sich durch einenBaumwipfel, der sich dort in seinem vollen Umfang wiegte. Man hörteVogelgesang. Im Zimmer selbst, das vom Mondlicht noch nicht erreicht war,konnte man allerdings fast gar nichts unterscheiden. Karl bedauerte, dieelektrische Taschenlampe, die er vom Onkel geschenkt bekommen hatte, nichtmitgenommen zu haben. In diesem Hause war ja eine Taschenlampeunentbehrlich, hätte man ein paar solcher Lampen gehabt, hätte man die Dienerschlafen schicken können. Er setzte sich aufs Fensterbrett und sah und horchtehinaus. Ein aufgestörter Vogel schien sich durch das Laubwerk des alten Baumeszu drängen. Die Pfeife eines New Yorker Vorortzuges erklang irgendwo im Land.Sonst war es still. Aber nicht lange, denn Klara kam eilends herein. Sichtlich böserief sie: »Was soll denn das?« und klatschte auf ihren Rock. Karl wollte erstantworten, wenn sie höflicher geworden war. Aber sie ging mit großen Schritten aufihn zu, rief: »Also wollen Sie mit mir kommen oder nicht?« stieß ihn mit Absichtoder bloß in der Erregung derart in die Brust, daß er aus dem Fenster gestürzt wäre,hätte er nicht noch im letzten Augenblick, vom Fensterbrett gleitend, mit den Füßenden Zimmerboden berührt.

»Jetzt wäre ich bald hinausgefallen«, sagte er vorwurfsvoll.

»Schade, daß es nicht geschehen ist. Warum sind Sie so unartig! Ich stoße Sienoch einmal hinunter.«

Und wirklich umfaßte sie ihn und trug ihn, der, zuerst verblüfft, sich schwer zumachen vergaß, mit ihrem vom Sport gestählten Körper fast bis zum Fenster. Aberdort besann er sich, machte sich mit einer Wendung der Hüften los und umfaßte sie.»Ach, Sie tun mir weh«, sagte sie gleich.

Aber nun glaubte Karl, sie nicht mehr loslassen zu dürfen. Er ließ ihr zwar Freiheit,Schritte nach Belieben zu machen, folgte ihr aber und ließ sie nicht los. Es warauch so leicht, sie in ihrem engen Kleid zu umfassen.

»Lassen Sie mich«, flüsterte sie, das erhitzte Gesicht eng an seinem, er mußtesich anstrengen, sie zu sehen, so nahe war sie ihm. »Lassen Sie mich, ich werdeIhnen etwas Schönes geben.« >Warum seufzt sie so<, dachte Karl, >eskann ihr nicht wehtun, ich drücke sie ja nicht<, und er ließ sie noch nicht los. Aberplötzlich, nach einem Augenblick unachtsamen, schweigenden Dastehens, fühlte erwieder ihre wachsende Kraft an seinem Leib, und sie hatte sich ihm entwunden,faßte ihn mit gut ausgenütztem Obergriff, wehrte seine Beine mit Fußstellungen einerfremdartigen Kampftechnik ab und trieb ihn vor sich, mit großartiger RegelmäßigkeitAtem holend, gegen die Wand. Dort war aber ein Kanapee, auf das legte sie Karlhin und sagte, ohne sich allzusehr zu ihm hinabzubeugen:

»Jetzt rühr dich, wenn du kannst.«

»Katze, tolle Katze«, konnte Karl gerade noch aus dem Durcheinander von Wutund Scham rufen, in dem er sich befand.

»Du bist ja wahnsinnig, du tolle Katze!«

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»Gib acht auf deine Worte«, sagte sie und ließ die eine Hand zu seinem Halsegleiten, den sie so stark zu würgen anfing, daß Karl ganz unfähig war, etwas andereszu tun als Luft zu schnappen, während sie mit der anderen Hand an seine Wangefuhr, wie probeweise sie berührte, sie wieder, und zwar immer weiter, in die Luftzurückzog und jeden Augenblick mit einer Ohrfeige niederfallen lassen konnte.

»Wie wäre es«, fragte sie dabei, »wenn ich dich zur Strafe für dein Benehmeneiner Dame gegenüber mit einer tüchtigen Ohrfeige nach Hause schicken wollte?Vielleicht wäre es dir nützlich für deinen künftigen Lebensweg, wenn es auch keineschöne Erinnerung abgeben würde. Du tust mir ja leid und bist ein erträglicherhübscher Junge, und hättest du Jiu-Jitsu gelernt, hättest du wahrscheinlich michdurchgeprügelt. Trotzdem, trotzdem - es verlockt mich geradezu riesig, dich zuohrfeigen, so wie du jetzt daliegst. Ich werde es wahrscheinlich bedauern; wennich es aber tun sollte, so wisse schon jetzt, daß ich es fast gegen meinen Willentun werde. Und ich werde mich dann natürlich nicht mit einer Ohrfeige begnügen,sondern rechts und links schlagen, bis dir die Backen anschwellen. Und vielleichtbist du ein Ehrenmann - ich möchte es fast glauben - und wirst mit den Ohrfeigennicht weiterleben wollen und dich aus der Welt schaffen. Aber warum bist du auchso gegen mich gewesen? Gefalle ich dir vielleicht nicht? Lohnt es sich nicht, aufmein Zimmer zu kommen? Achtung! Jetzt hätte ich dir schon fast unversehens dieOhrfeige aufgepelzt. Wenn du heute also noch so loskommen solltest, benimmdich nächstens feiner. Ich bin nicht dein Onkel, dem du trotzen kannst. Im übrigenwill ich dich noch darauf aufmerksam machen, daß du, wenn ich dich ungeohrfeigtloslasse, nicht glauben mußt, daß deine jetzige Lage und wirklichesGeohrfeigtwerden vom Standpunkt der Ehre aus das gleiche sind. Solltest du dasglauben wollen, so würde ich es doch vorziehen, dich wirklich zu ohrfeigen. Waswohl Mack sagen wird, wenn ich ihm das alles erzähle?«

Bei der Erinnerung an Mack ließ sie Karl los, in seinen undeutlichen Gedankenerschien ihm Mack wie ein Befreier. Er fühlte noch ein Weilchen Klaras Hand anseinem Hals, wand sich daher noch ein wenig und lag dann still.

Sie forderte ihn auf, aufzustehen, er antwortete nicht und rührte sich nicht. Sieentzündete irgendwo eine Kerze, das Zimmer bekam Licht, ein blauesZickzackmuster erschien auf dem Plafond, aber Karl lag, den Kopf aufsSofapolster aufgestützt so, wie ihn Klara gebettet hatte, und wandte ihn nicht einenFingerbreit. Klara ging im Zimmer herum, ihr Rock rauschte um ihre Beine,wahrscheinlich beim Fenster blieb sie eine lange Weile stehen.

»Ausgetrotzt?« hörte man sie dann fragen.

Karl empfand es schwer, in diesem Zimmer, das ihm doch von Herrn Pollunderfür diese Nacht zugedacht war, keine Ruhe bekommen zu können. Da wandertedieses Mädchen herum, blieb stehen und redete, und er hatte sie doch sounaussprechlich satt. Rasch schlafen und von hier fortgehen war sein einzigerWunsch. Er wollte gar nicht mehr ins Bett, nur hier auf dem Kanapee wollte erbleiben. Er lauerte nur darauf, daß sie wegginge, um hinter ihr her zur Tür zuspringen, sie zu verriegeln, und dann wieder zurück auf das Kanapee sich zuwerfen. Er hatte ein solches Bedürfnis, sich zu strecken und zu gähnen, aber vorKlara wollte er das nicht tun. Und so lag er, starrte hinauf, fühlte sein Gesichtimmer unbeweglicher werden und eine ihn umkreisende Fliege flimmerte ihm vorden Augen, ohne daß er recht wußte, was es war. Klara trat wieder zu ihm, beugtesich in die Richtung seiner Blicke, und hätte er sich nicht bezwungen, hätte er sieschon anschauen müssen.

»Ich gehe jetzt«, sagte sie. »Vielleicht bekommst du später Lust, zu mir zukommen. Die Tür zu meinen Zimmern ist die vierte, von dieser Tür aus gerechnet,auf dieser Seite des Ganges. Du gehst also an drei weiteren Türen vorüber und die,

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zu welcher du dann kommst, ist die richtige. Ich gehe nicht mehr hinunter in denSaal, sondern bleibe schon in meinem Zimmer. Du hast mich aber auchordentlich müde gemacht. Ich werde nicht gerade auf dich warten, aber wenn dukommen willst, so komm. Erinnere dich, daß du versprochen hast, mir auf demKlavier vorzuspielen. Aber vielleicht habe ich dich ganz entnervt und du kannstdich nicht mehr rühren, dann bleib und schlaf dich aus. Dem Vater sage ich vorläufigvon unserer Rauferei kein Wort; ich bemerke das für den Fall, daß dir das Sorgemachen sollte.« Darauf lief sie trotz ihrer angeblichen Müdigkeit mit zwei Sprüngenaus dem Zimmer.

Sofort setzte sich Karl aufrecht, dieses Liegen war schon unerträglich geworden.Um ein wenig Bewegung zu machen ging er zur Tür und sah auf den Gang hinaus.War dort aber eine Finsternis! Er war froh, als er die Tür zugemacht undabgesperrt hatte und wieder bei seinem Tisch im Schein der Kerze stand. SeinEntschluß war, nicht länger in diesem Haus zu bleiben, sondern hinunter zu HerrnPollunder zu gehen, ihm offen zu sagen, wie ihn Klara behandelt hatte - amEingeständnis seiner Niederlage lag ihm gar nichts -, und mit dieser wohlgenügenden Begründung um die Erlaubnis zu bitten, nach Hause fahren oder gehenzu dürfen. Sollte Herr Pollunder etwas gegen diese sofortige Heimkehreinzuwenden haben, dann wollte ihn Karl wenigstens bitten, ihn durch einenDiener zum nächsten Hotel führen zu lassen. In dieser Weise, wie sie Karl plante,ging man zwar sonst in der Regel nicht mit freundlichen Gastgebern um, abernoch seltener ging man mit einem Gaste derart um, wie es Klara getan hatte. Siehatte sogar noch ihr Versprechen, dem Herrn Pollunder von der Rauferei vorläufignichts zu sagen, für eine Freundlichkeit gehalten, das war aber schonhimmelschreiend. Ja, war denn Karl zu einem Ringkampf eingeladen worden, sodaß es für ihn beschämend gewesen wäre, von einem Mädchen geworfen zu werden,das wahrscheinlich den größten Teil ihres Lebens mit dem Lernen vonRingkämpferkniffen verbracht hatte? Am Ende hatte sie gar von Mack Unterrichtbekommen. Mochte sie ihm nur alles erzählen; der war sicher einsichtig, das wußteKarl, obwohl er niemals Gelegenheit gehabt hatte, das im einzelnen zu erfahren.Karl wußte aber auch, daß, wenn Mack ihn unterrichtete, er noch viel größereFortschritte als Klara machen würde; dann käme er eines Tages wieder hierher,höchstwahrscheinlich uneingeladen, untersuchte natürlich zuerst die Örtlichkeit, derengenaue Kenntnis ein großer Vorteil Klaras gewesen war, packte dann diese gleicheKlara und klopfte mit ihr das kleine Kanapee aus, auf das sie ihn heute geworfenhatte.

Jetzt handelte es sich nur darum, den Weg zum Saal zurückzufinden, wo er jawahrscheinlich auch seinen Hut in der ersten Zerstreutheit auf einenunpassenden Platz gelegt hatte. Die Kerze wollte er natürlich mitnehmen, aberselbst bei Licht war es nicht leicht, sich auszukennen. Er wußte zum Beispiel nichteinmal, ob dieses Zimmer in der gleichen Ebene wie der Saal gelegen war. Klarahatte ihn auf dem Herweg immer so gezogen, daß er sich gar nicht hatte umsehenkönnen. Herr Green und die leuchtertragenden Diener hatten ihm auch zu denkengegeben; kurz, er wußte jetzt tatsächlich nicht einmal, ob sie eine oder zwei odervielleicht gar keine Treppe passiert hatten. Nach der Aussicht zu schließen, lag dasZimmer ziemlich hoch, und er suchte sich deshalb einzubilden, daß sie überTreppen gekommen waren, aber schon zum Hauseingang hatte man ja überTreppen steigen müssen, warum konnte nicht auch diese Seite des Hauses erhöhtsein? Aber wenn wenigstens auf dem Gang irgendwo ein Lichtschein aus einer Türzu sehen oder eine Stimme aus der Ferne auch noch so leise zu hören gewesenwäre! Seine Taschenuhr, ein Geschenk des Onkels, zeigte elf Uhr, er nahm dieKerze und ging auf den Gang hinaus. Die Tür ließ er offen, um für den Fall, als seinSuchen vergeblich wäre, wenigstens sein Zimmer wiederzufinden und danach, für

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den äußersten Notfall, die Tür zu Klaras Zimmer. Zur Sicherheit, damit sich die Türenicht von selbst schließe, verstellte er sie mit einem Sessel. Auf dem Gang zeigtesich der Übelstand, daß gegen Karl - er ging natürlich von Klaras Türe weg nach links -ein Luftzug strich, der zwar ganz schwach war, aber immerhin leicht die Kerzehätte auslöschen können, so daß Karl die Flamme mit der Hand schützen und überdiesöfters stehenbleiben mußte, damit die niedergedrückte Flamme sich erhole. Es warein langsames Vorwärtskommen, und der Weg schien dadurch doppelt lang. Karlwar schon an großen Strecken der Wände vorübergekommen, die gänzlich ohne Türenwaren, man konnte sich nicht vorstellen, was dahinter war. Dann kam wieder Türan Tür, er suchte, mehrere zu öffnen, sie waren versperrt und die Räume offenbarunbewohnt. Es war eine Raumverschwendung sondergleichen, und Karl dachtean die östlichen New Yorker Quartiere, die ihm der Onkel zu zeigen versprochenhatte, wo angeblich in einem kleinen Zimmer mehrere Familien wohnten und dasHeim einer Familie in einem Zimmerwinkel bestand, in dem sich die Kinder umihre Eltern scharten. Und hier standen so viele Zimmer leer und waren nur dazuda, um hohl zu klingen, wenn man an die Tür schlug. Herr Pollunder schien Karlirregeführt zu sein von falschen Freunden und vernarrt in seine Tochter unddadurch verdorben. Der Onkel hatte ihn sicher richtig beurteilt, und nur seinGrundsatz, auf die Menschenbeurteilung Karls keinen Einfluß zu nehmen, warschuld an diesem Besuch und an diesen Wanderungen auf den Gängen. Karlwollte das morgen dem Onkel ohne weiteres sagen, denn nach seinemGrundsatz würde der Onkel auch das Urteil des Neffen über ihn gerne und ruhiganhören. Überdies war dieser Grundsatz vielleicht das einzige, was Karl an seinemOnkel nicht gefiel, und selbst dieses Nichtgefallen war nicht unbedingt.

Plötzlich hörte die Wand an der einen Gangseite auf, und ein eiskaltes marmornesGeländer trat an ihre Stelle. Karl stellte die Kerze neben sich und beugte sichvorsichtig hinunter. Dunkle Leere wehte ihm entgegen. Wenn das die Haupthalledes Hauses war - im Schimmer der Kerze erschien ein Stück einer gewölbeartiggeführten Decke -, warum war man nicht durch diese Halle eingetreten? Wozudiente nur dieser große, tiefe Raum? Man stand ja hier oben wie auf der Galerieeiner Kirche. Karl bedauerte fast, nicht bis morgen in diesem Haus bleiben zukönnen, er hätte gern bei Tageslicht von Herrn Pollunder sich überall herumführen undüber alles unterrichten lassen. Das Geländer war übrigens nicht lang, und bald wurdeKarl wieder vom geschlossenen Gang aufgenommen. Bei einer plötzlichenWendung des Ganges stieß Karl mit ganzer Wucht an die Mauer, und nur dieununterbrochene Sorgfalt, mit der er die Kerze krampfhaft hielt, bewahrte sieglücklicherweise vor dem Fallen und Auslöschen. Da der Gang kein Ende nehmenwollte, nirgends ein Fenster einen Ausblick gab, weder in der Höhe noch in derTiefe sich etwas rührte, dachte Karl schon, er gehe immerfort im gleichenKreisgang in der Runde, und hoffte schon, die offene Tür seines Zimmers vielleichtwiederzufinden, aber weder sie noch das Geländer kehrte wieder. Bis jetzt hattesich Karl von lautem Rufen zurückgehalten, denn er wollte in einem fremden Hauszu so später Stunde keinen Lärm machen, aber jetzt sah er ein, daß es in diesemunbeleuchteten Hause kein Unrecht war, und machte sich gerade daran, nachbeiden Seiten des Ganges ein lautes »Hallo!« zu schreien, als er in der Richtung,aus der er gekommen war, ein kleines, sich näherndes Licht bemerkte. Jetztkonnte er erst die Länge des geraden Ganges abschätzen; das Haus war eineFestung, keine Villa. Karls Freude über dieses rettende Licht war so groß, daß er alleVorsicht vergaß und darauf zulief; schon bei den ersten Sprüngen löschte seineKerze aus. Er achtete nicht darauf, denn er brauchte sie nicht mehr, hier kam ihmein alter Diener mit einer Laterne entgegen, der ihm den richtigen Weg schonzeigen würde.

»Wer sind Sie?« fragte der Diener und hielt Karl die Laterne ans Gesicht,

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wodurch er gleichzeitig sein eigenes beleuchtete. Sein Gesicht erschien etwassteif durch einen großen, weißen Vollbart, der erst auf der Brust in seidenartigeRingel ausging. >Es muß ein treuer Diener sein, dem man das Tragen einessolchen Bartes erlaubt<, dachte Karl und sah diesen Bart unverwandt der Längeund Breite nach an, ohne sich dadurch behindert zu fühlen, daß er selbst beobachtetwurde. Im übrigen antwortete er sofort, daß er der Gast des Herrn Pollunder sei, ausseinem Zimmer in das Speisezimmer gehen wolle und es nicht finden könne.

»Ach so«, sagte der Diener, »wir haben das elektrische Licht noch nichteingeführt.«

»Ich weiß«, sagte Karl.

»Wollen Sie nicht Ihre Kerze an meiner Lampe anzünden?« fragte der Diener.

»Bitte«, sagte Karl und tat es.

»Es zieht hier so auf den Gängen,« sagte der Diener, »die Kerze löscht leicht aus,darum habe ich eine Laterne.«

»Ja, eine Laterne ist viel praktischer«, sagte Karl.

»Sie sind auch schon von der Kerze ganz betropft«, sagte der Diener undleuchte mit der Kerze Karls Anzug ab.

»Das habe ich ja gar nicht bemerkt!« rief Karl, und es tat ihm sehr leid, da esein schwarzer Anzug war, von dem der Onkel gesagt hatte, er passe ihm ambesten von allen. Die Rauferei mit Klara dürfte dem Anzug auch nicht genützthaben, erinnerte er sich jetzt. Der Diener war gefällig genug, den Anzug zureinigen, so gut es in der Eile ging; immer wieder drehte sich Karl vor ihm herumund zeigte ihm noch hier und dort einen Fleck, den der Diener folgsam entfernte.

»Warum zieht es denn hier eigentlich so?« fragte Karl, als sie schonweitergingen. »Es ist hier eben noch viel zu bauen«, sagte der Diener, »man hatzwar mit dem Umbau schon angefangen, aber es geht sehr langsam. Jetztstreiken auch noch die Bauarbeiter, wie Sie vielleicht wissen. Man hat viel Ärgermit so einem Bau. Jetzt sind da ein paar große Durchbrüche gemacht worden, dieniemand vermauert, und die Zugluft geht durch das ganze Haus. Wenn ich nichtdie Ohren voll Watte hätte, könnte ich nicht bestehen.« »Da muß ich wohl lauterreden?« fragte Karl.

»Nein, Sie haben eine klare Stimme«, sagte der Diener. »Aber um auf diesenBau zurückzukommen; besonders hier in der Nähe der Kapelle, die später unbedingtvon dem übrigen Haus abgesperrt werden muß, ist die Zugluft gar nichtauszuhalten.« »Die Brüstung, an der man in diesem Gang vorüberkommt, geht alsoin eine Kapelle hinaus?«

»Ja.«

»Das habe ich mir gleich gedacht«, sagte Karl.

»Sie ist sehr sehenswert«, sagte der Diener, »wäre sie nicht gewesen, hätte wohlHerr Mack das Haus nicht gekauft.«

»Herr Mack?« fragte Karl, »ich dachte, das Haus gehöre Herrn Pollunder?«

»Allerdings«, sagte der Diener, »aber Herr Mack hat doch bei diesem Kauf denAusschlag gegeben. Sie kennen Herrn Mack nicht?« »O ja«, sagte Karl. »Aber inwelcher Verbindung ist er denn mit Herrn Pollunder?«

»Er ist der Bräutigam des Fräuleins«, sagte der Diener.

»Das wußte ich freilich nicht«, sagte Karl und blieb stehen.

»Setzt Sie das in solches Erstaunen?« fragte der Diener.

»Ich will es mir nur zurechtlegen. Wenn man solche Beziehungen nicht kennt,

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kann man ja die größten Fehler machen«, antwortete Karl.

»Es wundert mich nur, daß man Ihnen davon nichts gesagt hat«, sagte derDiener. »Ja, wirklich«, sagte Karl beschämt.

»Wahrscheinlich dachte man, Sie wüßten es«, sagte der Diener, »es ist ja keineNeuigkeit. Hier sind wir übrigens«, und öffnete eine Tür, hinter der sich eine Treppezeigte, die senkrecht zu der Hintertüre des ebenso wie bei der Ankunft hellbeleuchteten Speisezimmers führte.

Ehe Karl in das Speisezimmer eintrat, aus dem man die Stimmen HerrnPollunders und Herrn Greens unverändert wie vor nun wohl schon zwei Stundenhörte, sagte der Diener: »Wenn Sie wollen, erwarte ich Sie hier und führe Sie dannin Ihr Zimmer. Es macht immerhin Schwierigkeiten, sich gleich am ersten Abendhier auszukennen.«

»Ich werde nicht mehr in mein Zimmer zurückkehren,« sagte Karl und wußte nicht,warum er bei dieser Auskunft traurig wurde.

»Es wird nicht so arg sein«, sagte der Diener, ein wenig überlegen lächelnd, undklopfte ihm auf den Arm. Er hatte sich wahrscheinlich Karls Worte dahin erklärt, daßKarl beabsichtige, während der ganzen Nacht im Speisezimmer zu bleiben, sichmit den Herren zu unterhalten und mit ihnen zu trinken. Karl wollte jetzt keineBekenntnisse machen, außerdem dachte er, der Diener, der ihm besser gefiel alsdie anderen hiesigen Diener, könne ihm ja dann die Wegrichtung nach New Yorkzeigen, und sagte deshalb: »Wenn Sie hier warten wollen, so ist das sicherlicheine große Freundlichkeit von Ihnen, und ich nehme sie dankbar an. Jedenfallswerde ich in einer kleinen Weile herauskommen und Ihnen dann sagen, was ichweiter tun werde. Ich denke schon, daß mir Ihre Hilfe noch nötig sein wird.«

»Gut«, sagte der Diener, stellte die Laterne auf den Boden und setzte sich aufein niedriges Postament, dessen Leere wahrscheinlich auch mit dem Umbau desHauses zusammenhing. »Ich werde also hier warten. Die Kerze können Sie auchbei mir lassen«, sagte der Diener noch, als Karl mit der brennenden Kerze in denSaal gehen wollte. »Ich bin aber zerstreut«, sagte Karl und reichte die Kerze demDiener hin, welcher ihm bloß zunickte, ohne daß man wußte, ob er es mit Absicht tatoder ob es eine Folge dessen war, daß er mit der Hand seinen Bart strich.

Karl öffnete die Tür, die ohne seine Schuld laut erklirrte, denn sie bestand auseiner einzigen Glasplatte, die sich fast bog, wenn die Tür rasch geöffnet und nur ander Klinke festgehalten wurde. Karl ließ die Tür erschrocken los, denn er hattegerade besonders still eintreten wollen. Ohne sich mehr umzudrehen, merkte ernoch, wie hinter ihm der Diener, der offenbar von seinem Postamentherabgestiegen war, vorsichtig und ohne das geringste Geräusch die Tür schloß.

»Verzeihen Sie, daß ich störe«, sagte er zu den beiden Herren, die ihn mit ihrengroßen, erstaunten Gesichtern ansahen. Gleichzeitig aber überflog er mit einemBlick den Saal, ob er nicht irgendwo schnell seinen Hut finden könne. Er war abernirgends zu sehen, der Eßtisch war völlig abgeräumt, vielleicht war der Hutunangenehmerweise irgendwie in die Küche fortgetragen worden.

»Wo haben Sie denn Klara gelassen?« fragte Herr Pollunder, dem übrigens dieStörung nicht unlieb schien, denn er setzte sich gleich anders in seinem Fauteuilund kehrte Karl seine ganze Front zu. Herr Green spielte den Unbeteiligten, zogeine Brieftasche heraus, die an Größe und Dicke ein Ungeheuer ihrer Art war,schien in den vielen Taschen ein bestimmtes Stück zu suchen, las aber währenddes Suchens auch andere Papiere, die ihm gerade in die Hand kamen.

»Ich hätte eine Bitte, die Sie nicht mißverstehen dürfen«, sagte Karl, ging eiligst zuHerrn Pollunder hin und legte, um ihm recht nahe zu sein, die Hand auf dieArmlehne des Fauteuils. »Was soll denn das für eine Bitte sein?« fragte Herr

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Pollunder und sah Karl mit offenem, rückhaltlosem Blicke an. »Sie ist natürlichschon erfüllt.« Und er legte den Arm um Karl und zog ihn zu sich zwischen seineBeine. Karl duldete das gerne, obwohl er sich im allgemeinen doch für eine solcheBehandlung allzu erwachsen fühlte. Aber das Aussprechen seiner Bitte wurdenatürlich schwieriger. »Wie gefällt es Ihnen denn eigentlich bei uns?« fragte HerrPollunder.

»Scheint es Ihnen nicht auch, daß man auf dem Lande sozusagen befreit wird,wenn man aus der Stadt herauskommt? Im allgemeinen« - und ein nichtmißzuverstehender, durch Karl etwas verdeckter Seitenblick ging auf Herrn Green -, »im allgemeinen habe ich dieses Gefühl immer wieder, jeden Abend.«

>Er spricht<, dachte Karl, >als wüßte er nichts von dem großen Haus, denendlosen Gängen, der Kapelle, den leeren Zimmern, dem Dunkel überall.< »Nun«,sagte Herr Pollunder, »die Bitte!«, und schüttelte Karl freundschaftlich, der stummdastand.

»Ich bitte«, sagte Karl, und so sehr er die Stimme dämpfte, es ließ sich nichtvermeiden, daß der daneben sitzende Green alles hörte, vor dem Karl die Bitte, diemöglicherweise als eine Beleidigung Pollunders aufgefaßt werden konnte, so gernverschwiegen hätte - »ich bitte, lassen Sie mich noch jetzt, in der Nacht, nachHause.«

Und da das Ärgste ausgesprochen war, drängte alles andere um so schnellernach, er sagte, ohne die geringste Lüge zu gebrauchen, Dinge, an die er gar nichteigentlich vorher gedacht hatte. »Ich möchte um alles gerne nach Hause. Ichwerde gerne wiederkommen, denn wo Sie, Herr Pollunder, sind, dort bin auch ichgerne. Nur heute kann ich nicht hierbleiben. Sie wissen, der Onkel hat mir dieErlaubnis zu diesem Besuch nicht gerne gegeben. Er hat sicher dafür seine gutenGründe gehabt, wie für alles, was er tut, und ich habe es mir herausgenommen,gegen seine bessere Einsicht die Erlaubnis förmlich zu erzwingen. Ich habe seineLiebe zu mir einfach mißbraucht. Was für Bedenken er gegen diesen Besuch hatte,ist ja jetzt gleichgültig, ich weiß bloß ganz bestimmt, daß nichts in diesem Bedenkenwar, was Sie, Herr Pollunder, kränken könnte, der Sie der beste, der allerbesteFreund meines Onkels sind. Kein anderer kann sich in der Freundschaft meinesOnkels auch nur im entferntesten mit Ihnen vergleichen. Das ist ja auch dieeinzige Entschuldigung für meine Unfolgsamkeit, aber keine genügende. Sie habenvielleicht keinen genauen Einblick in das Verhältnis zwischen meinem Onkel undmir, ich will daher nur von dem Einleuchtendsten sprechen. Solange meineEnglischstudien nicht abgeschlossen sind und ich mich im praktischen Handelnicht genügend umgesehen habe, bin ich gänzlich auf die Güte meines Onkelsangewiesen, die ich allerdings als Blutsverwandter genießen darf. Sie dürfen nichtglauben, daß ich schon jetzt irgendwie mein Brot anständig - und vor allem anderensoll mich Gott bewahren - verdienen könnte. Dazu ist leider meine Erziehung zuunpraktisch gewesen. Ich habe vier Klassen eines europäischen Gymnasiums alsDurchschnittsschüler durchgemacht, und das bedeutet für den Gelderwerb vielweniger als nichts, denn unsere Gymnasien sind im Lehrplan sehr rückschrittlich.Sie würden lachen, wenn ich Ihnen erzählen wollte, was ich gelernt habe. Wennman weiterstudiert, das Gymnasium zu Ende macht, an die Universität geht, danngleicht sich ja wahrscheinlich alles irgendwie aus, und man hat zum Schluß einegeordnete Bildung, mit der sich etwas anfangen läßt und die einem dieEntschlossenheit zum Gelderwerb gibt. Ich aber bin aus diesemzusammenhängenden Studium leider herausgerissen worden; manchmal glaubeich, ich weiß gar nichts, und schließlich wäre auch alles, was ich wissen könnte, fürAmerikaner noch immer zu wenig. Jetzt werden in meiner Heimat neuestens hieund da Reformgymnasien eingerichtet, wo man auch moderne Sprachen und

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vielleicht auch Handelswissenschaften lernt; als ich aus der Volksschule trat, gabes das noch nicht. Mein Vater wollte mich zwar im Englischen unterrichten lassen,aber erstens konnte ich damals nicht ahnen, welches Unglück über mich kommenwird und wie ich das Englische brauchen werde, und zweitens mußte ich für dasGymnasium viel lernen, so daß ich für andere Beschäftigungen nicht besonders vielZeit hatte. - Ich erwähne das alles, um Ihnen zu zeigen, wie abhängig ich vonmeinem Onkel bin und wie verpflichtet infolgedessen ich ihm gegenüber auch bin.Sie werden sicher zugeben, daß ich es mir bei solchen Verhältnissen nicht erlaubendarf, auch nur das geringste gegen seinen auch nur geahnten Willen zu tun. Unddarum muß ich, um den Fehler, den ich ihm gegenüber begangen habe, nurhalbwegs wiedergutzumachen, sofort nach Hause gehen.«

Während dieser langen Rede Karls hatte Herr Pollunder aufmerksam zugehört,öfters, besonders wenn der Onkel erwähnt wurde, Karl, wenn auch unmerklich, ansich gedrückt und einige Male ernst und wie erwartungsvoll zu Greenhinübergesehen, der sich weiterhin mit seiner Brieftasche beschäftigte. Karl aberwar, je deutlicher ihm seine Stellung zum Onkel im Laufe seiner Rede zuBewußtsein kam, immer unruhiger geworden, hatte sich unwillkürlich aus dem ArmPollunders zu drängen gesucht. Alles beengte ihn hier; der Weg zum Onkel durchdie Glastüre, über die Treppe, durch die Allee, über die Landstraßen, durch dieVorstädte zur großen Verkehrsstraße, einmündend in des Onkels Haus, erschien ihmals etwas streng Zusammengehöriges, das leer, glatt und für ihn vorbereitet dalagund mit einer starken Stimme nach ihm verlangte. Herrn Pollunders Güte undHerrn Greens Abscheulichkeit verschwammen, und er wollte aus diesemrauchigen Zimmer nichts anderes für sich haben als die Erlaubnis zumAbschiednehmen. Zwar fühlte er sich gegen Herrn Pollunder abgeschlossen,gegen Herrn Green kampfbereit, und doch erfüllte ihn ringsherum eineunbestimmte Furcht, deren Stöße seine Augen trübten.

Er trat einen Schritt zurück und stand nun gleich weit von Herrn Pollunder undvon Herrn Green entfernt.

»Wollten Sie ihm nicht etwas sagen?« fragte Herr Pollunder Herrn Green undfaßte wie bittend Herrn Greens Hand.

»Ich wüßte nicht, was ich ihm sagen sollte«, sagte Herr Green, der endlich einenBrief aus seiner Tasche gezogen und vor sich auf den Tisch gelegt hatte. »Es istrecht lobenswert, daß er zu seinem Onkel zurückkehren will, und nach menschlicherVoraussicht sollte man glauben, daß er dem Onkel eine besondere Freude damitmachen wird. Es müßte denn sein, daß er durch seine Unfolgsamkeit den Onkelschon allzu böse gemacht hat, was ja auch möglich ist. Dann allerdings wäre esbesser, er bliebe hier. Es ist eben schwer, etwas Bestimmtes zu sagen; wir sindzwar beide Freunde des Onkels und es dürfte Mühe machen, zwischen meiner undHerrn Pollunders Freundschaft Rangunterschiede zu erkennen, aber in dasInnere des Onkels können wir nicht hineinschauen, und ganz besonders nicht überdie vielen Kilometer hinweg, die uns hier von New York trennen.«

»Bitte, Herr Green«, sagte Karl und näherte sich mit Selbstüberwindung HerrnGreen. »Ich höre aus Ihren Worten heraus, daß Sie es auch für das beste halten,wenn ich gleich zurückkehre.«

»Das habe ich durchaus nicht gesagt«, meinte Herr Green und vertiefte sich indas Anschauen des Briefes, an dessen Rändern er mit zwei Fingern hin und herfuhr. Er schien damit andeuten zu wollen, daß er von Herrn Pollunder gefragtworden sei, ihm auch geantwortet habe, während er mit Karl eigentlich nichts zutun habe.

Inzwischen war Herr Pollunder zu Karl getreten und hatte ihn sanft von Herrn

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Green weg zu einem der großen Fenster gezogen. »Lieber Herr Roßmann,« sagteer, zu Karls Ohr hinabgebeugt, und wischte zur Vorbereitung mit demTaschentuch über sein Gesicht, und bei der Nase innehaltend, schneuzte er sich.»Sie werden doch nicht glauben, daß ich Sie gegen Ihren Willen hier zurückhaltenwill. Davon ist ja keine Rede. Das Automobil kann ich Ihnen zwar nicht zurVerfügung stellen, denn es steht weit von hier in einer öffentlichen Garage, da ichnoch keine Zeit hatte, hier, wo alles erst im Werden ist, eine eigene Garageeinzurichten. Der Chauffeur wiederum schläft nicht hier im Haus, sondern in derNähe der Garage, ich weiß wirklich selbst nicht, wo. Außerdem ist es gar nicht seinePflicht, jetzt zu Hause zu sein, seine Pflicht ist es nur, früh zur rechten Zeit hiervorzufahren. Aber das alles wären keine Hindernisse für Ihre augenblicklicheHeimkehr, denn wenn Sie darauf bestehen, begleite ich Sie sofort zur nächstenStation der Stadtbahn, die allerdings so weit entfernt ist, daß Sie nicht viel früher zuHause ankommen dürften, als wenn Sie früh - wir fahren ja schon um sieben Uhr -mit mir in meinem Automobil fahren wollen.«

»Da möchte ich, Herr Pollunder, doch lieber mit der Stadtbahn fahren«, sagteKarl. »An die Stadtbahn habe ich gar nicht gedacht. Sie sagen selbst, daß ich mitder Stadtbahn früher ankomme, als früh mit dem Automobil.«

»Es ist aber ein ganz kleiner Unterschied.«

»Trotzdem, trotzdem, Herr Pollunder«, sagte Karl, »ich werde in Erinnerung anIhre Freundlichkeit immer gerne herkommen, vorausgesetzt natürlich, daß Sie michnach meinem heutigen Benehmen noch einladen wollen, und vielleicht werde iches nächstens besser ausdrücken können, warum heute jede Minute, um die ichmeinen Onkel früher sehe, für mich so wichtig ist.« Und als hätte er bereits dieErlaubnis zum Weggehen erhalten, fügte er hinzu: »Aber keinesfalls dürfen Sie michbegleiten. Es ist auch ganz unnötig. Draußen ist ein Diener, der mich gern zurStation begleiten wird. Jetzt muß ich nur noch meinen Hut suchen.« Und bei denletzten Worten durchschritt er schon das Zimmer, um noch in Eile einen letztenVersuch zu machen, ob sein Hut doch vielleicht zu finden wäre.

»Könnte ich Ihnen nicht mit einer Mütze aushelfen?« sagte Herr Green und zogeine Mütze aus der Tasche. »Vielleicht paßt sie Ihnen zufällig.« Verblüfft blieb Karlstehen und sagte: »Ich werde Ihnen doch nicht Ihre Mütze wegnehmen. Ich kann jaganz gut mit unbedecktem Kopf gehen. Ich brauche gar nichts.« »Es ist nichtmeine Mütze. Nehmen Sie nur!«

»Dann danke ich«, sagte Karl, um sich nicht aufzuhalten, und nahm die Mütze.Er zog sie an und lachte zuerst, da sie ganz genau paßte, nahm sie wieder in dieHand und betrachtete sie, konnte aber das Besondere, das er an ihr suchte, nichtfinden; es war eine vollkommen neue Mütze. »Sie paßt so gut!« sagte er.

»Also, sie paßt!« rief Herr Green und schlug auf den Tisch.

Karl ging schon zur Türe zu, um den Diener zu holen, da erhob sich Herr Green,streckte sich nach dem reichlichen Mahl und der vielen Ruhe, klopfte stark gegenseine Brust und sagte in einem Ton zwischen Rat und Befehl: »Ehe Sieweggehen, müssen Sie von Fräulein Klara Abschied nehmen.«

»Das müssen Sie«, sagte auch Herr Pollunder, der ebenfalls aufgestanden war.Ihm hörte man es an, daß die Worte nicht aus seinem Herzen kamen, schwach ließ erdie Hände an die Hosennaht schlagen und knöpfte immer wieder seinen Rock aufund zu, der nach der augenblicklichen Mode ganz kurz war und kaum zu denHüften ging, was so dicke Leute wie Herr Pollunder schlecht kleidete. Übrigens hatteman, wenn er so neben Herrn Green stand, den deutlichen Eindruck, daß es beiHerrn Pollunder keine gesunde Dicke war; der Rücken war in seiner ganzen Masseetwas gekrümmt, der Bauch sah weich und unhaltbar aus, eine wahre Last, und

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das Gesicht erschien bleich und geplagt. Dagegen stand hier Herr Green,vielleicht noch etwas dicker als Herr Pollunder, aber es war einezusammenhängende, sich gegenseitig tragende Dicke, die Füße waren soldatischzusammengeklappt, den Kopf trug er aufrecht und schaukelnd; er schien eingroßer Turner, ein Vorturner, zu sein.

»Gehen Sie also vorerst«, fuhr Herr Green fort, »zu Fräulein Klara. Das dürfteIhnen sicher Vergnügen machen und paßt auch sehr gut in meine Zeiteinteilunghinein. Ich habe Ihnen nämlich tatsächlich, ehe Sie von hier fortgehen, etwasInteressantes zu sagen, was wahrscheinlich auch für Ihre Rückkehr entscheidendsein kann. Nur bin ich leider durch höheren Befehl gebunden, Ihnen vor Mitternachtnichts zu verraten. Sie können sich vorstellen, daß mir das selbst leid tut, denn esstört meine Nachtruhe, aber ich halte mich an meinen Auftrag. Jetzt ist es viertelzwölf, ich kann also meine Geschäfte noch mit Herrn Pollunder zu Endebesprechen, wobei Ihre Gegenwart nur stören würde, und Sie können ein hübschesWeilchen mit Fräulein Klara verbringen. Punkt zwölf stellen Sie sich dann hier ein,wo Sie das Nötige erfahren werden.«

Konnte Karl diese Forderung ablehnen, die von ihm wirklich nur das Geringstean Höflichkeit und Dankbarkeit gegenüber Herrn Pollunder verlangte und die überdiesein sonst unbeteiligter, roher Mann stellte, während Herr Pollunder, den es anging,sich mit Worten und Blicken möglichst zurückhielt? Und was war jenes Interessante,das er erst um Mitternacht erfahren durfte? Wenn es seine Heimkehr nichtwenigstens um die dreiviertel Stunde beschleunigte, um die es sie jetzt verschob,interessierte es ihn wenig. Aber sein größter Zweifel war, ob er überhaupt zu Klaragehen konnte, die doch seine Feindin war. Wenn er wenigstens das Schlageisenbei sich gehabt hätte, das ihm der Onkel als Briefbeschwerer geschenkt hatte! DasZimmer Klaras mochte ja eine recht gefährliche Höhle sein. Aber nun war es ja ganzund gar unmöglich, hier gegen Klara das geringste zu sagen, da sie PollundersTochter und, wie er jetzt gehört hatte, gar Macks Braut war. Sie hätte ja nur um eineKleinigkeit anders sich zu ihm verhalten müssen, und er hätte sie wegen ihrerBeziehungen offen bewundert. Noch überlegte er das alles, aber schon merkte er,daß man keine Überlegungen von ihm verlangte, denn Green öffnete die Tür und sagtedem Diener, der vom Postamente sprang: »Führen Sie diesen jungen Mann zuFräulein Klara.«

>So führt man Befehle aus<, dachte Karl, als ihn der Diener, fast laufend,stöhnend vor Altersschwäche, auf einem besonders kurzen Weg zu Klaras Zimmerzog. Als Karl an seinem Zimmer vorüberkam, dessen Tür noch immer offenstand,wollte er, vielleicht zu seiner Beruhigung, für einen Augenblick eintreten. DerDiener ließ das aber nicht zu. »Nein«, sagte er, »Sie müssen zu Fräulein Klara. Siehaben es ja selbst gehört.«

»Ich würde mich nur einen Augenblick drinnen aufhalten«, sagte Karl, und erdachte daran, sich zur Abwechslung ein wenig auf das Kanapee zu werfen, damitihm die Zeit rascher gegen Mitternacht vorrücke.

»Erschweren Sie mir die Ausführung meines Auftrages nicht«, sagte der Diener.>Er scheint es für eine Strafe zu halten, daß ich zu Fräulein Klara gehen muß<,dachte Karl und machte ein paar Schritte, blieb aber aus Trotz wieder stehen.»Kommen Sie doch, junger Herr«, sagte der Diener, »wenn Sie nun schon einmalhier sind. Ich weiß, Sie wollten noch in der Nacht weggehen, es geht eben nichtalles nach Wunsch, ich habe es Ihnen ja gleich gesagt, daß es kaum möglich seinwird.« »Ja, ich will weggehen und werde auch weggehen«, sagte Karl, »und willjetzt nur von Fräulein Klara Abschied nehmen.«

»So?« sagte der Diener, und Karl sah ihm wohl an, daß er kein Wort davonglaubte. »Warum zögern Sie also, Abschied zu nehmen; kommen Sie doch.«

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»Wer ist auf dem Gang?« ertönte Klaras Stimme, und man sah sie aus einernahen Tür sich vorbeugen, eine große Tischlampe mit rotem Schirm in der Hand.Der Diener eilte zu ihr hin und erstattete die Meldung. Karl ging ihm langsamnach. »Sie kommen spät«, sagte Klara.

Ohne ihr vorläufig zu antworten, sagte Karl zum Diener leise, aber, da er seineNatur schon kannte, im Ton strengen Befehls: »Sie warten auf mich knapp vordieser Tür!« »Ich wollte schon schlafen gehen,« sagte Klara und stellte die Lampeauf den Tisch. Wie unten im Speisezimmer schloß auch hier wieder der Dienervorsichtig von außen die Tür. »Es ist ja schon halb zwölf vorüber.«

»Halb zwölf vorüber?« wiederholte Karl fragend, wie erschrocken über dieseZahlen. »Dann muß ich mich aber sofort verabschieden«, sagte Karl, »denn Punktzwölf muß ich schon unten im Speisesaal sein.« »Was Sie für eilige Geschäfte haben!« sagte Klara und ordnete zerstreut die Falten ihres losen Nachtkleides. IhrGesicht glühte und immerfort lächelte sie. Karl glaubte zu erkennen, daß keineGefahr bestand, mit Klara wieder in Streit zu geraten. »Können Sie nicht doch nochein wenig Klavier spielen, wie es mir gestern Papa und heute Sie selbstversprochen haben?«

»Ist es nicht aber schon zu spät?« fragte Karl. Er hätte ihr gern gefällig sein wollen,denn sie war ganz anders als vorher, so als wäre sie irgendwie aufgestiegen in dieKreise Pollunders und weiterhin Macks.

»Ja, spät ist es schon«, sagte sie, und es schien ihr die Lust zur Musik schonvergangen zu sein. »Dann widerhallt hier auch jeder Ton im ganzen Hause, ichbin überzeugt, wenn Sie spielen, wacht noch oben in der Dachkammer dieDienerschaft auf.« »Dann lasse ich also das Spiel, ich hoffe ja bestimmt nochwiederzukommen; übrigens, wenn es Ihnen keine besondere Mühe macht,besuchen Sie doch einmal meinen Onkel und schauen Sie bei der Gelegenheitauch in mein Zimmer. Ich habe ein prachtvolles Piano. Der Onkel hat es mirgeschenkt. Dann spiele ich Ihnen, wenn es Ihnen recht ist, alle meine Stückchenvor, es sind leider nicht viele, und sie passen auch gar nicht zu einem so großenInstrument, auf dem nur Virtuosen sich hören lassen sollten. Aber auch diesesVergnügen werden Sie haben können, wenn Sie mich von Ihrem Besuch vorherverständigen, denn der Onkel will nächstens einen berühmten Lehrer für michengagieren - Sie können sich denken, wie ich mich darauf freue -, und dessenSpiel wird allerdings dafür stehen, mir während der Unterrichtsstunde einen Besuchzu machen. Ich bin, wenn ich ehrlich sein soll, froh, daß es für das Spiel schon zuspät ist, denn ich kann noch gar nichts, Sie würden staunen, wie wenig ich kann.Und nun erlauben Sie, daß ich mich verabschiede, schließlich ist es ja doch schonSchlafenszeit.« Und weil ihn Klara gütig ansah und ihm wegen der Rauferei garnichts nachzutragen schien, fügte er lächelnd hinzu, während er ihr die Hand reichte:»In meiner Heimat pflegt man zu sagen: >Schlafe wohl und träume süß.<«

»Warten Sie«, sagte sie, ohne die Hand anzunehmen, »vielleicht sollten Siedoch spielen.« Und sie verschwand durch eine kleine Seitentür, neben der dasPiano stand. >Was ist denn?< dachte Karl. >Lange kann ich nicht warten,so lieb sie auch ist.< Es klopfte an der Gangtüre, und der Diener, der die Türenicht ganz zu öffnen wagte, flüsterte durch einen kleinen Spalt: »Verzeihen Sie, ichwurde soeben abberufen und kann nicht mehr warten.«

»Gehen Sie nur«, sagte Karl, der sich nun getraute, den Weg ins Speisezimmerallein zu finden. »Lassen Sie mir nur die Laterne vor der Türe. Wie spät ist esübrigens? »Bald dreiviertel zwölf«, sagte der Diener.

»Wie langsam die Zeit vergeht!« sagte Karl. Der Diener wollte schon die Türe

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schließen, da erinnerte sich Karl, daß er ihm noch kein Trinkgeld gegeben hatte,nahm einen Schilling aus der Hosentasche - er trug jetzt immer Münzengeld, nachamerikanischer Sitte lose klingelnd, in der Hosentasche, Banknoten dagegen inder Westentasche - und reichte ihn dem Diener mit den Worten: »Für Ihre gutenDienste.«

Klara war schon wieder eingetreten, die Hände an ihrer festen Frisur, als es Karleinfiel, daß er den Diener doch nicht hätte wegschicken sollen, denn wer würde ihnjetzt zur Station der Stadtbahn führen? Nun, da würde wohl schon Herr Pollundereinen Diener noch auftreiben können, vielleicht war übrigens dieser Diener insSpeisezimmer gerufen worden und würde dann zur Verfügung stehen.

»Ich bitte Sie also doch, ein wenig zu spielen. Man hört hier so selten Musik, daßman sich keine Gelegenheit, sie zu hören, entgehen lassen will.« »Dann ist es aberhöchste Zeit«, sagte Karl ohne weitere Überlegungen und setzte sich gleich zumKlavier.

»Wollen Sie Noten haben?« fragte Klara.

»Danke, ich kann ja Noten nicht einmal vollkommen lesen«, antwortete Karl undspielte schon. Es war ein kleines Lied, das, wie Karl wohl wußte, ziemlich langsamhätte gespielt werden müssen, um, besonders für Fremde, auch nur verständlich zusein, aber er hudelte es in ärgstem Marschtempo hinunter. Nach der Beendigungfuhr die gestörte Stille des Hauses wie in großem Gedränge wieder an ihren Platz.Man saß wie benommen da und rührte sich nicht.

»Ganz schön«, sagte Klara, aber es gab keine Höflichkeitsformel, die Karl

nach diesem Spiel hätte schmeicheln können.

»Wie spät ist es?« fragte er.

»Dreiviertel zwölf.«

»Dann habe ich noch ein Weilchen Zeit«, sagte er und dachte bei sich:>Entweder - oder. Ich muß ja nicht alle zehn Lieder spielen, die ich kann, abereines kann ich nach Möglichkeit gut spielen.< Und er fing sein geliebtesSoldatenlied an. So langsam, daß das aufgestörte Verlangen des Zuhörens sich nachder nächsten Note streckte, die Karl zurückhielt und nur schwer hergab. Er mußte jatatsächlich bei jedem Lied die nötigen Tasten mit den Augen erst zusammensuchen,aber außerdem fühlte er in sich ein Leid entstehen, das, über das Ende des Liedeshinaus, ein anderes Ende suchte und es nicht finden konnte. »Ich kann ja nichts«,sagte Karl nach Schluß des Liedes und sah Klara mit Tränen in den Augen an. Daertönte aus dem Nebenzimmer lautes Händeklatschen. »Es hört noch jemand zu!«rief Karl aufgerüttelt.

»Mack«, sagte Klara leise. Und schon hörte man Mack rufen: »Karl Roßmann,Karl Roßmann!«

Karl schwang sich mit beiden Füßen zugleich über die Klavierbank und öffnete dieTür. Er sah dort Mack in einem großen Himmelbett halb liegend sitzen, dieBettdecke war lose über die Beine geworfen. Der Baldachin aus blauer Seide wardie einzige, ein wenig märchenhafte Pracht des sonst einfachen, aus schweremHolz eckig gezimmerten Bettes. Auf dem Nachttischchen brannte nur eine Kerze,aber die Bettwäsche und Macks Hemd waren so weiß, daß das über sie fallendeKerzenlicht in fast blendendem Widerschein von ihnen strahlte; auch derBaldachin leuchtete, wenigstens am Rande, mit seiner leicht gewellten, nicht ganzfest gespannten Seide. Gleich hinter Mack versank aber das Bett und alles invollständigem Dunkel. Klara lehnte sich an den Bettpfosten und hatte nur nochAugen für Mack.

»Servus«, sagte Mack und reichte Karl die Hand. »Sie spielen ja recht gut,

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bisher habe ich bloß Ihre Reitkunst gekannt.«

»Ich kann das eine so schlecht wie das andere«, sagte Karl. »Wenn ich gewußthätte, daß Sie zuhören, hätte ich bestimmt nicht gespielt. Aber ihr Fräulein« - erunterbrach sich, er zögerte »Braut« zu sagen, da Mack und Klara offenbar schonmiteinander schliefen. »Ich ahnte es ja«, sagte Mack, »darum mußte Sie Klara ausNew York hierherlocken, sonst hätte ich Ihr Spiel gar nicht zu hören bekommen. Esist ja reichlich anfängerhaft, und selbst in diesen Liedern, die Sie doch eingeübthatten und die sehr primitiv gesetzt sind, haben Sie einige Fehler gemacht, aberimmerhin hat es mich sehr gefreut, ganz abgesehen davon, daß ich das Spielkeines Menschen verachte. Wollen Sie sich aber nicht setzen und noch einWeilchen bei uns bleiben? Klara, gib ihm doch einen Sessel.«

»Ich danke«, sagte Karl stockend. »Ich kann nicht bleiben, so gern ichhierbliebe. Zu spät erfahre ich, daß es so wohnliche Zimmer in diesem Hause gibt.«

»Ich baue alles in dieser Art um«, sagte Mack.

In diesem Augenblick erklangen zwölf Glockenschläge, rasch hintereinander, einerin den Lärm des anderen dreinschlagend. Karl fühlte das Wehen der großenBewegung dieser Glocken an den Wangen. Was war das für ein Dorf, das solcheGlocken hatte! »Höchste Zeit«, sagte Karl, streckte Mack und Klara nur die Händehin, ohne sie zu fassen, und lief auf den Gang hinaus. Dort fand er die Laternenicht und bedauerte, dem Diener zu bald das Trinkgeld gegeben zu haben.

Er wollte sich an der Wand zu der offenen Tür seines Zimmers hintasten, waraber kaum in der Hälfte des Weges, als er Herrn Green mit erhobener Kerze eiligheranschwanken sah. In der Hand, in der er auch die Kerze hielt, trug er einenBrief.

»Roßmann, warum kommen Sie denn nicht? Warum lassen Sie mich warten?Was haben Sie denn bei Fräulein Klara getrieben?«

>Viele Fragen!< dachte Karl, >und jetzt drückt er mich noch an dieWand<, denn tatsächlich stand er dicht vor Karl, der mit dem Rücken an der Wandlehnte. Green nahm in diesem Gang eine schon lächerliche Größe an, und Karl stelltesich zum Spaß die Frage, ob er nicht etwa den guten Herrn Pollunder aufgefressenhabe.

»Sie sind tatsächlich kein Mann von Wort. Versprechen, um zwölfhinunterzukommen, und umschleichen statt dessen die Türe Fräulein Klaras. Ichdagegen habe Ihnen für Mitternacht etwas Interessantes versprochen und bindamit schon da.« Und damit reichte er Karl den Brief. Auf dem Umschlag stand»An Karl Roßmann, um Mitternacht persönlich abzugeben, wo immer er angetroffenwird«.

»Schließlich«, sagte Herr Green, während Karl den Brief öffnete, »ist es, glaube ich,schon anerkennenswert, daß ich Ihretwegen aus New York hierhergefahren bin, sodaß Sie mich durchaus nicht noch auf den Gängen Ihnen nachlaufen lassen müßten.«

»Vom Onkel!« sagte Karl, kaum daß er in den Brief hineingeschaut hatte.

»Ich habe es erwartet«, sagte er zu Herrn Green gewendet.

»Ob Sie es erwartet haben oder nicht, ist mir kolossal gleichgültig. Lesen Sie nurschon«, sagte dieser und hielt Karl die Kerze hin.

Karl las bei ihrem Licht:

»Geliebter Neffe! Wie Du während unseres leider viel zu kurzenZusammenlebens schon erkannt haben wirst, bin ich durchaus ein Mann vonPrinzipien. Das ist nicht nur für meine Umgebung, sondern auch für mich sehrunangenehm und traurig, aber ich verdanke meinen Prinzipien alles, was ich bin,und niemand darf verlangen, daß ich mich vom Erdboden wegleugne, niemand,

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auch Du nicht, mein geliebter Neffe, wenn auch Du gerade der Erste in der Reihewärest, wenn es mir einmal einfallen sollte, jenen allgemeinen Angriff gegen michzuzulassen. Dann würde ich am liebsten gerade Dich mit diesen beiden Händen, mitdenen ich das Papier halte und beschreibe, auffangen und hochheben. Da abervorläufig gar nichts darauf hindeutet, daß dies einmal geschehen könnte, muß ich Dichnach dem heutigen Vorfall unbedingt von mir fortschicken, und ich bitte Dichdringend, mich weder selbst aufzusuchen noch brieflich oder durch ZwischenträgerVerkehr mit mir zu suchen. Du hast Dich gegen meinen Willen dafür entschieden,heute abend von mir fortzugehen, dann bleibe aber auch bei diesem EntschlußDein Leben lang; nur dann war es ein männlicher Entschluß. Ich erwählte zumÜberbringer dieser Nachricht Herrn Green, meinen besten Freund, der sicherlich fürDich schonende Worte genug finden wird, die mir im Augenblick tatsächlich nichtzur Verfügung stehen. Er ist ein einflußreicher Mann und wird Dich, schon mirzuliebe, in Deinen ersten selbständigen Schritten mit Rat und Tat unterstützen. Umunsere Trennung zu begreifen, die mir jetzt am Schlusse dieses Briefes wiederunfaßlich scheint, muß ich mir immer wieder neuerlich sagen: Von Deiner Familie,Karl, kommt nichts Gutes. Sollte Herr Green vergessen, Dir Deinen Koffer undDeinen Regenschirm auszuhändigen, so erinnere ihn daran. Mit besten Wünschenfür Dein weiteres Wohlergehen. Dein treuer Onkel Jakob.«

»Sind Sie fertig?« fragte Green.

»Ja«, sagte Karl. »Haben Sie mir den Koffer und den Regenschirmmitgebracht?« fragte Karl.

»Hier ist er,« sagte Green und stellte Karls alten Reisekoffer, den er bisher mitder linken Hand hinter dem Rücken versteckt hatte, neben Karl auf den Boden.»Und den Regenschirm?« fragte Karl weiter.

»Alles hier«, sagte Green und zog auch den Regenschirm hervor, den er ineiner Hosentasche hängen hatte. »Die Sachen hat ein gewisser Schubal, einObermaschinist der Hamburg-Amerika-Linie, gebracht, er hat behauptet, sie aufdem Schiff gefunden zu haben. Sie können ihm bei Gelegenheit danken.«

»Nun habe ich wenigstens meine alten Sachen wieder«, sagte Karl und legteden Schirm auf den Koffer.

»Sie sollten aber in Zukunft besser auf sie achtgeben, läßt Ihnen der Herr Senatorsagen«, bemerkte Herr Green und fragte dann, offenbar aus privater Neugierde:»Was ist das eigentlich für ein merkwürdiger Koffer?«

»Es ist ein Koffer, mit dem die Soldaten in meiner Heimat zum Militär einrücken«,antwortete Karl, »es ist der alte Militärkoffer meines Vaters. Er ist sonst ganzpraktisch«, fügte er lächelnd hinzu, »vorausgesetzt, daß man ihn nicht irgendwostehen läßt.«

»Schließlich Sind Sie ja belehrt genug«, sagte Herr Green, »und einen zweitenOnkel haben Sie in Amerika wohl nicht. Hier gebe ich Ihnen noch eine Kartedritter Klasse nach San Franzisko. Ich habe diese Reise für Sie beschlossen, weilerstens die Erwerbsmöglichkeiten im Osten für Sie viel bessere sind und weilzweitens hier in allen Dingen, die für Sie in Betracht kommen könnten, Ihr Onkelseine Hände im Spiele hat und ein Zusammentreffen unbedingt vermieden werdenmuß. In Frisko können Sie ganz ungestört arbeiten; fangen Sie nur ruhig ganz untenan und versuchen Sie, sich allmählich hinaufzuarbeiten.«

Karl konnte keine Bosheit aus diesen Worten heraushören, die schlimmeNachricht, welche den ganzen Abend in Green gesteckt hatte, war überbracht, undvon nun an schien Green ein ungefährlicher Mann, mit dem man vielleicht offenerreden konnte als mit jedem anderen. Der beste Mensch, der ohne eigene Schuldzum Boten einer so geheimen und quälenden Entschließung auserwählt wird, muß,

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solange er sie bei sich behält, verdächtig scheinen. »Ich werde«, sagte Karl, dieBestätigung eines erfahrenen Mannes erwartend, »dieses Haus sofort verlassen,denn ich bin nur als Neffe meines Onkels aufgenommen, während ich als Fremderhier nichts zu suchen habe. Würden Sie so liebenswürdig sein, mir den Ausgang zuzeigen und mich dann auf den Weg zu führen, auf dem ich zur nächstenGastwirtschaft komme?«

»Aber rasch«, sagte Green. »Sie machen mir nicht wenig Scherereien.«

Beim Anblick des großen Schrittes, den Green gleich gemacht hatte, stockteKarl, das war doch eine verdächtige Eile, und er faßte Green unten beim Rock undsagte in einem plötzlichen Erkennen des wahren Sachverhaltes: »Eines müssen Siemir noch erklären: auf dem Umschlag des Briefes, den Sie mir zu übergeben hatten,steht bloß, daß ich ihn um Mitternacht erhalten soll, wo immer ich angetroffen werde.Warum haben Sie mich also mit Berufung auf diesen Brief hier zurückgehalten, alsich um viertel zwölf von hier fort wollte? Sie gingen dabei über Ihren Auftrag hinaus.«

Green leitete seine Antwort mit einer Handbewegung ein, welche das Unnützevon Karls Bemerkung übertrieben darstellte, und sagte dann: »Steht vielleicht aufdem Umschlag, daß ich mich Ihretwegen zu Tode hetzen soll, und läßt vielleicht derInhalt des Briefes darauf schließen, daß die Aufschrift so aufzufassen ist? Hätte ichSie nicht zurückgehalten, hätte ich Ihnen den Brief eben um Mitternacht auf derLandstraße übergeben müssen.«

»Nein«, sagte Karl unbeirrt, »es ist nicht ganz so. Auf dem Umschlag steht:>Zu übergeben nach Mitternacht.< Wenn Sie zu müde waren, hätten Sie mirvielleicht gar nicht folgen können, oder ich wäre, was allerdings selbst HerrPollunder geleugnet hat, schon um Mitternacht bei meinem Onkel angekommen,oder es wäre schließlich Ihre Pflicht gewesen, mich in Ihrem Automobil, von demplötzlich nicht mehr die Rede war, zu meinem Onkel zurückzubringen, da ich sodanach verlangte, zurückzukehren. Besagt nicht die Überschrift ganz deutlich, daß dieMitternacht für mich noch der letzte Termin sein soll? Und Sie sind es, der dieSchuld trägt, daß ich ihn versäumt habe.«

Karl sah Green mit scharfen Augen an und erkannte wohl, wie in Green dieBeschämung über diese Entlarvung mit der Freude über das Gelingen seiner Absichtkämpfte. Endlich nahm er sich zusammen und sagte in einem Tone, als wäre erKarl, der doch schon lange schwieg, mitten in die Rede gefallen: »Kein Wortweiter!« und schob ihn, der Koffer und Schirm wieder aufgenommen hatte, durcheine kleine Tür, die er vor ihm aufstieß, hinaus.

Karl stand erstaunt im Freien. Eine an das Haus angebaute Treppe ohneGeländer führte vor ihm hinab. Er mußte nur hinuntergehen und dann sich ein wenigrechts zur Allee wenden, die auf die Landstraße führte. In dem hellen Mondscheinkonnte man sich gar nicht verirren. Unten im Garten hörte er das vielfache Bellenvon Hunden, die losgelassen, ringsherum im Dunkel der Bäume liefen. Man hörte inder sonstigen Stille ganz genau, wie sie nach ihren großen Sprüngen ins Grasschlugen.

Ohne von diesen Hunden belästigt zu werden, kam Karl glücklich aus dem Garten.Er konnte nicht mit Bestimmtheit feststellen, in welcher Richtung New York lag. Erhatte bei der Herfahrt zu wenig auf die Einzelheiten geachtet, die ihm jetzt hättennützlich sein können. Schließlich sagte er sich, daß er ja nicht unbedingt nach NewYork müsse, wo ihn niemand erwarte und einer sogar mit Bestimmtheit nichterwarte. Er wählte also eine beliebige Richtung und machte sich auf den Weg.

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Weg nach Ramses

In dem kleinen Wirtshaus, in das Karl nach kurzem Marsch kam, und daseigentlich nur eine kleine letzte Station des New Yorker Fuhrwerkverkehrs bildeteund deshalb kaum für Nachtlager benützt zu werden pflegte, verlangte Karl diebilligste Bettstelle, die zu haben war, denn er glaubte, mit dem Sparen sofortanfangen zu müssen. Er wurde, seiner Forderung entsprechend, vom Wirt miteinem Wink, als sei er ein Angestellter, die Treppe hinaufgewiesen, wo ihn einzerrauftes, altes Frauenzimmer, ärgerlich über den gestörten Schlaf, empfing und,fast ohne ihn anzuhören, mit ununterbrochenen Ermahnungen, leise aufzutreten, inein Zimmer führte, dessen Tür sie, nicht ohne ihn vorher mit einem Pst! angehauchtzu haben, schloß.

Karl wußte zuerst nicht recht, ob die Fenstervorhänge bloß herabgelassen warenoder ob vielleicht das Zimmer überhaupt keine Fenster habe, so finster war es;schließlich bemerkte er eine kleine, verhängte Luke, deren Tuch er wegzog,wodurch einiges Licht hereinkam. Das Zimmer hatte zwei Betten, die aber beideschon besetzt waren. Karl sah dort zwei junge Leute, die in schwerem Schlafelagen und vor allem deshalb wenig vertrauenswürdig erschienen, weil sie, ohneverständlichen Grund, angezogen schliefen; der eine hatte sogar seine Stiefel an.

In dem Augenblick, als Karl die Luke freigelegt hatte, hob einer der Schläfer dieArme und Beine ein wenig in die Höhe, was einen derartigen Anblick bot, daß Karltrotz seinen Sorgen in sich hineinlachte.

Er sah bald ein, daß er, abgesehen davon, daß auch keine andereSchlafgelegenheit, weder Kanapee noch Sofa, vorhanden war, zu keinem Schlafewerde kommen können, denn er durfte seinen erst wiedergewonnenen Koffer unddas Geld, das er bei sich trug, keiner Gefahr aussetzen. Weggehen aber wollte erauch nicht, denn er getraute sich nicht, an der Zimmerfrau und dem Wirt vorüberdas Haus gleich wieder zu verlassen. Schließlich war es ja hier doch vielleicht nichtunsicherer als auf der Landstraße. Auffallend war freilich, daß im ganzen Zimmer,soweit sich das bei dem halben Licht feststellen ließ, kein einziges Gepäckstück zuentdecken war. Aber vielleicht und höchstwahrscheinlich waren die zwei jungenLeute die Hausdiener, die der Gäste wegen bald aufstehen mußten und deshalbangezogen schliefen. Dann war es allerdings nicht besonders ehrenvoll, mit ihnenzu schlafen, aber desto ungefährlicher. Nur durfte er sich aber, solange das nichtaußer jedem Zweifel stand, auf keinen Fall zum Schlafe niederlegen.

Unter dem Bett stand eine Kerze mit Zündhölzchen, die sich Karl mitschleichenden Schritten holte. Er hatte kein Bedenken, Licht zu machen, denndas Zimmer gehörte nach Auftrag des Wirtes ihm ebensogut wie den beidenanderen, die überdies den Schlaf der halben Nacht schon genossen hatten unddurch den Besitz der Betten ihm gegenüber in unvergleichlichem Vorteil waren. Imübrigen gab er sich natürlich durch Vorsicht beim Herumgehen und Hantieren alleMühe, sie nicht zu wecken.

Zunächst wollte er seinen Koffer untersuchen, um einmal einen Überblick überseine Sachen zu bekommen, an die er sich schon nur undeutlich erinnerte undvon denen sicher das Wertvollste schon verlorengegangen sein dürfte. Denn wennder Schubal seine Hand auf etwas legt, dann ist wenig Hoffnung, daß man esunbeschädigt zurückbekommt. Allerdings hatte er vom Onkel ein großes Trinkgelderwarten können, während er aber andererseits wieder beim Fehlen einzelnerObjekte auf den eigentlichen Kofferwächter, den Herrn Butterbaum, sich hatteausreden können.

Über den ersten Anblick beim Öffnen des Koffers war Karl entsetzt. Wie viele

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Stunden hatte er während der Überfahrt darauf verwendet, den Koffer zu ordnen undwieder neu zu ordnen, und jetzt war alles so wild durcheinander hineingestopft,daß der Deckel beim Öffnen des Schlosses von selbst in die Höhe sprang.

Bald aber erkannte Karl zu seiner Freude, daß die Unordnung nur darin ihrenGrund hatte, daß man seinen Anzug, den er während der Fahrt getragen hatte undfür den der Koffer natürlich nicht mehr berechnet gewesen war, nachträglich miteingepackt hatte. Nicht das geringste fehlte. In der Geheimtasche des Rockesbefand sich nicht nur der Paß, sondern auch das von zu Hause mitgenommeneGeld, so daß Karl, wenn er jenes, das er bei sich hatte, dazu legte, mit Geld für denAugenblick reichlich versehen war. Auch die Wäsche, die er bei seiner Ankunft aufdem Leib getragen hatte, fand sich vor, rein gewaschen und gebügelt. Er legteauch sofort Uhr und Geld in die bewährte Geheimtasche. Das einzig Bedauerlichewar, daß die Veroneser Salami, die auch nicht fehlte, allen Sachen ihren Geruchmitgeteilt hatte. Wenn sich das nicht durch irgendein Mittel beseitigen ließ, hatteKarl die Aussicht, monatelang in diesen Geruch eingehüllt herumzugehen.

Beim Hervorsuchen einiger Gegenstände, die zuunterst lagen - es waren dieseine Taschenbibel, Briefpapier und die Photographien der Eltern -, fiel ihm dieMütze vom Kopf und in den Koffer. In ihrer alten Umgebung erkannte er sie sofort,es war seine Mütze, die Mütze, die ihm die Mutter als Reisemütze mitgegeben hatte.Er hatte jedoch aus Vorsicht diese Mütze auf dem Schiff nicht getragen, da erwußte, daß man in Amerika allgemein Mützen statt Hüte trägt, weshalb er die seinenicht schon vor der Ankunft hatte abnützen wollen. Nun hatte sie allerdings HerrGreen dazu benützt, um sich auf Karls Kosten zu belustigen. Ob ihm vielleichtauch dazu der Onkel den Auftrag gegeben hatte? Und in einer unabsichtlichen,wütenden Bewegung faßte er den Kofferdeckel, der laut zuklappte.

Nun war keine Hilfe mehr, die beiden Schläfer waren geweckt. Zuerst strecktesich und gähnte der eine, ihm folgte gleich der andere. Dabei war fast der ganzeKofferinhalt auf dem Tisch ausgeschüttet; wenn es Diebe waren, brauchten sie nurheranzutreten und auszuwählen. Nicht nur um dieser Möglichkeit vorzukommen,sondern um auch sonst gleich Klarheit zu schaffen, ging Karl mit der Kerze in derHand zu den Betten und erklärte, mit welchem Rechte er hier sei. Sie schienendiese Erklärung gar nicht erwartet zu haben, denn noch viel zu verschlafen, umreden zu können, sahen sie ihn bloß ohne jedes Erstaunen an. Sie waren beide sehrjunge Leute, aber schwere Arbeit oder Not hatten ihnen vorzeitig die Knochen ausden Gesichtern vorgetrieben, unordentliche Bärte hingen ihnen ums Kinn, ihrschon lange nicht geschnittenes Haar lag ihnen zerfahren auf dem Kopf, und ihretiefliegenden Augen rieben und drückten sie nun noch vor Verschlafenheit mit denFingerknöcheln.

Karl wollte ihren augenblicklichen Schwächezustand ausnützen und sagtedeshalb: »Ich heiße Karl Roßmann und bin ein Deutscher. Bitte, sagen Sie mir, dawir doch ein gemeinsames Zimmer haben, auch Ihren Namen und Ihre Nationalität.Ich erkläre nur noch gleich, daß ich keinen Anspruch auf ein Bett habe, da ich so spätgekommen bin und überhaupt nicht die Absicht habe, zu schlafen. Außerdem müssenSie sich nicht an meinem schönen Kleid stoßen, ich bin völlig arm und ohneAussichten.«

Der Kleinere von beiden - es war jener, der die Stiefel anhatte - deutete mitArmen, Beinen und Mienen an, daß ihn das alles gar nicht interessiere und daß jetztüberhaupt keine Zeit für derartige Redensarten sei, legte sich nieder und schliefsofort; der andere, ein dunkelhäutiger Mann, legte sich auch wieder nieder, sagteaber noch vor dem Einschlafen mit lässig ausgestreckter Hand: »Der da heißtRobinson und ist Irländer, ich heiße Delamarche, bin Franzose und bitte jetzt umRuhe.«

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Kaum hatte er das gesagt, blies er mit großem Atemaufwand Karls Kerze ausund fiel auf das Kissen zurück.

>Diese Gefahr ist also vorläufig abgewehrt<, sagte sich Karl und kehrte zumTisch zurück. Wenn ihre Schläfrigkeit nicht Vorwand war, war ja alles gut.Unangenehm war bloß, daß der eine Irländer war. Karl wußte nicht mehr genau, inwelchem Buch er einmal zu Hause gelesen hatte, daß man sich in Amerika vor denIrländern hüten solle. Während seines Aufenthaltes beim Onkel hätte er freilich diebeste Gelegenheit gehabt, die Frage nach der Gefährlichkeit der Irländer auf denGrund zu gehen, hatte dies aber, weil er sich für immer gut aufgehoben geglaubthatte, völlig versäumt. Nun wollte er wenigstens mit der Kerze, die er wiederangezündet hatte, diesen Irländer genauer ansehen, wobei er fand, daß geradedieser erträglicher aussah als der Franzose. Er hatte sogar noch eine Spur vonrunden Wangen und lächelte im Schlafe ganz freundlich, soweit das Karl auseiniger Entfernung, auf den Fußspitzen stehend, feststellen konnte.

Trotz allem fest entschlossen, nicht zu schlafen, setzte sich Karl auf deneinzigen Stuhl des Zimmers, verschob vorläufig das Packen des Koffers, da er jadafür die ganze Nacht noch verwenden konnte, und blätterte ein wenig in der Bibel,ohne etwas zu lesen. Dann nahm er die Photographie der Eltern zur Hand, aufwelcher der kleine Vater hoch aufgerichtet stand, während die Mutter in demFauteuil vor ihm, ein wenig eingesunken, dasaß. Die eine Hand hielt der Vater aufder Rückenlehne des Fauteuils, die andere, zur Faust geballt, auf einemillustrierten Buch, das aufgeschlagen auf einem schwachen Schmucktischchenihm zur Seite lag. Es gab auch eine andere Photographie, auf welcher Karl mitseinen Eltern abgebildet war. Vater und Mutter sahen ihn dort scharf an, währender nach dem Auftrag des Photographen den Apparat hatte anschauen müssen.Diese Photographie hatte er aber auf die Reise nicht mitgenommen. Destogenauer sah er die vor ihm liegende an und suchte von verschiedenen Seiten denBlick des Vaters aufzufangen. Aber der Vater wollte, wie er auch den Anblickdurch verschiedene Kerzenstellungen änderte, nicht lebendig werden, seinwaagerechter, starker Schnurrbart sah der Wirklichkeit auch gar nicht ähnlich, eswar keine gute Aufnahme. Die Mutter dagegen war schon besser abgebildet, ihrMund war so verzogen, als sei ihr ein Leid angetan worden und als zwinge siesich zu lächeln. Karl schien es, als müsse dies jedem, der das Bild ansah, so sehrauffallen, daß es ihm im nächsten Augenblick wieder schien, die Deutlichkeit diesesEindrucks sei zu stark und fast widersinnig. Wie könne man von einem Bild so sehrdie unumstößliche Überzeugung eines verborgenen Gefühls des Abgebildeten erhalten!

Und er sah vom Bild ein Weilchen lang weg. Als er mit den Blicken wiederzurückkehrte, fiel ihm die Hand der Mutter auf, die ganz vorne an der Lehne desFauteuils herabhing, zum Küssen nahe. Er dachte, ob es nicht vielleicht doch gutwäre, den Eltern zu schreiben, wie sie es ja tatsächlich beide (und der Vater zuletztsehr streng in Hamburg) von ihm verlangt hatten. Er hatte sich freilich damals, alsihm die Mutter am Fenster an einem schrecklichen Abend die Amerikareiseangekündigt hatte, unabänderlich zugeschworen, niemals zu schreiben, aber wasgalt ein solcher Schwur eines unerfahrenen Jungen hier in den neuenVerhältnissen! Ebensogut hätte er damals schwören können, daß er nach zwei Monatenamerikanischen Aufenthalts General der amerikanischen Miliz sein werde,während er tatsächlich in einer Dachkammer mit zwei Lumpen beisammen war, ineinem Wirtshaus vor New York, und außerdem zugeben mußte, daß er hier wirklichan seinem Platze war. Und lächelnd prüfte er die Gesichter der Eltern, als könne manaus ihnen erkennen, ob sie noch immer das Verlangen hatten, eine Nachricht vonihrem Sohn zu bekommen. In diesem Anschauen merkte er bald, daß er doch sehrmüde war und kaum die Nacht werde durchmachen können. Das Bild entfiel seinen

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Händen, dann legte er das Gesicht auf das Bild, dessen Kühle seiner Wangewohltat, und mit einem angenehmen Gefühl schlief er ein. Geweckt wurde er frühdurch das Kitzeln unter der Achsel. Es war der Franzose, der sich dieseZudringlichkeit erlaubte. Aber auch der Irländer stand schon vor Karls Tisch undbeide sahen ihn mit keinem geringeren Interesse an, als es Karl in der Nachtihnen gegenüber getan hatte. Karl wunderte sich nicht darüber, daß ihn ihr Aufstehennicht schon geweckt hatte; sie mußten durchaus nicht aus böser Absicht besondersleise aufgetreten sein, denn er hatte tief geschlafen und außerdem hatte ihnen dasAnziehen und offenbar auch das Waschen nicht viel Arbeit gemacht.

Nun begrüßten sie einander ordentlich und mit einer gewissen Förmlichkeit, undKarl erfuhr, daß die beiden Maschinenschlosser waren, die in New York schonlange Zeit keine Arbeit hatten bekommen können und infolgedessen ziemlichheruntergekommen waren. Robinson öffnete zum Beweise dessen seinen Rock,und man konnte sehen, daß kein Hemd da war, was man allerdings auch schon andem lose sitzenden Kragen hätte erkennen können, der hinten am Rock befestigtwar. Sie hatten die Absicht, in das zwei Tagereisen von New York entfernteStädtchen Butterford zu marschieren, wo angeblich Arbeitsstellen frei waren. Siehatten nichts dagegen, daß Karl mitkomme, und versprachen ihm erstens,zeitweilig seinen Koffer zu tragen, und zweitens, falls sie selbst Arbeit bekommensollten, ihm eine Lehrlingsstelle zu verschaffen, was, wenn nur überhaupt Arbeitvorhanden sei, eine Leichtigkeit wäre. Karl hatte noch kaum zugestimmt, als sieihm schon freundschaftlich den Rat gaben, das schöne Kleid auszuziehen, da esihm bei jeder Bewerbung um eine Stelle hinderlich sein werde. Gerade in diesemHause sei eine gute Gelegenheit, das Kleid loszuwerden, denn die Zimmerfraubetreibe einen Kleiderhandel. Sie halfen Karl, der auch rücksichtlich des Kleidesnoch nicht ganz entschlossen war, aus dem Kleid heraus und trugen es davon.Als Karl, allein gelassen und ein wenig schlaftrunken, sein altes Reisekleid nochlangsam anzog, machte er sich Vorwürfe, das Kleid verkauft zu haben, das ihmvielleicht bei der Bewerbung um eine Lehrlingsstelle schaden, bei der um einenbesseren Posten aber nur nützen konnte, und er öffnete die Tür, um die beidenzurückzurufen, stieß aber schon mit ihnen zusammen, die einen halben Dollar alsErlös auf den Tisch legten, dabei aber so fröhliche Gesichter machten, daß man sichunmöglich dazu überreden konnte, sie hätten bei dem Verkauf nicht auch ihrenVerdienst gehabt, und zwar einen ärgerlich großen.

Es war übrigens keine Zeit, sich darüber auszusprechen, denn die Zimmerfraukam herein, genau so verschlafen wie in der Nacht, und trieb alle drei auf denGang hinaus, mit der Erklärung, daß das Zimmer für neue Gäste hergerichtet werdenmüsse. Davon war aber natürlich keine Rede, sie handelte nur aus Bosheit. Karl,der seinen Koffer gerade hatte ordnen wollen, mußte zusehen, wie die Frau seineSachen mit beiden Händen packte und mit einer Kraft in den Koffer warf, als seienes irgendwelche Tiere, die man zum Kuschen bringen mußte. Die beidenSchlosser machten sich zwar um sie zu schaffen, zupften sie an ihrem Rock,beklopften ihren Rücken, aber wenn sie die Absicht hatten, Karl damit zu helfen, sowar das ganz verfehlt. Als die Frau den Koffer zugeklappt hatte, drückte sie Karlden Halter in die Hand, schüttelte die Schlosser ab und jagte alle drei mit derDrohung aus dem Zimmer, daß sie, wenn sie nicht folgten, keinen Kaffeebekommen würden. Die Frau mußte offenbar gänzlich vergessen haben, daß Karl nichtvon allem Anfang an zu den Schlossern gehört hatte, denn sie behandelte sie alseine einzige Bande. Allerdings hatten die Schlosser Karls Kleid ihr verkauft unddamit eine gewisse Gemeinsamkeit erwiesen.

Auf dem Gange mußten sie lange hin und her gehen, und besonders derFranzose, der sich in Karl eingehängt hatte, schimpfte ununterbrochen, drohte, den

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Wirt, wenn er sich vorwagen sollte, niederzuboxen, und es schien eineVorbereitung dazu zu sein, daß er die geballten Fäuste rasend aneinander rieb.Endlich kam ein unschuldiger kleiner Junge, der sich strecken mußte, als er demFranzosen die Kaffeekanne reichte. Leider war nur eine Kanne vorhanden, undman konnte dem Jungen nicht begreiflich machen, daß noch Gläser erwünscht wären.So konnte immer nur einer trinken und die beiden anderen standen vor ihm undwarteten. Karl hatte keine Lust zu trinken, wollte aber die anderen nicht kränkenund stand also, wenn er an der Reihe war, untätig da, die Kanne an den Lippen.

Zum Abschied warf der Irländer die Kanne auf die steinernen Fliesen hin. Sieverließen, von niemandem gesehen, das Haus und traten in den dichten,gelblichen Morgennebel. Sie marschierten im allgemeinen still nebeneinander amRande der Straße, Karl mußte seinen Koffer tragen, die anderen würden ihnwahrscheinlich erst auf seine Bitte ablösen; hie und da schoß ein Automobil ausdem Nebel, und die drei drehten ihre Köpfe nach den meist riesenhaften Wagen,die so auffällig in ihrem Bau und so kurz in ihrer Erscheinung waren, daß man nichtZeit hatte, auch nur das Vorhandensein von Insassen zu bemerken. Späterbegannen die Kolonnen von Fuhrwerken, welche Lebensmittel nach New Yorkbrachten, und die in fünf die ganze Breite der Straße einnehmenden Reihen soununterbrochen dahinzogen, daß niemand die Straße hätte überqueren können. VonZeit zu Zeit verbreiterte sich die Straße zu einem Platz, in dessen Mitte auf einerturmartigen Erhöhung ein Polizist auf und ab schritt, um alles übersehen und miteinem Stöckchen den Verkehr auf der Hauptstraße sowie den von den Seitenstraßenhier einmündenden Verkehr ordnen zu können, der dann bis zum nächsten Platzeund zum nächsten Polizisten unbeaufsichtigt blieb, aber von den schweigendenund aufmerksamen Kutschern und Chauffeuren freiwillig in genügender Ordnunggehalten wurde. Über die allgemeine Ruhe staunte Karl am meisten. Wäre nicht dasGeschrei der sorglosen Schlachttiere gewesen, man hätte vielleicht nichts gehört alsdas Klappern der Hufe und das Sausen der Antiderapants. Dabei war dieFahrtschnelligkeit natürlich nicht immer die gleiche. Wenn auf einzelnen Plätzeninfolge allzu großen Andrangs von den Seiten große Umstellungen vorgenommenwerden mußten, stockten die ganzen Reihen und fuhren nur Schritt für Schritt, dannaber kam es auch wieder vor, daß für ein Weilchen alles blitzschnell vorbeijagte, bises, wie von einer einzigen Bremse regiert, sich wieder besänftigte. Dabei stieg vonder Straße nicht der geringste Staub auf, alles bewegte sich in der klarsten Luft.Fußgänger gab es keine, hier wanderten keine einzelnen Marktweiber zur Stadt wiein Karls Heimat, aber doch erschienen hie und da große, flache Automobile, aufdenen an zwanzig Frauen mit Rückenkörben, also doch vielleicht Marktweiber,standen und die Hälse streckten, um den Verkehr zu überblicken und sich Hoffnungauf raschere Fahrt zu holen. Dann sah man ähnliche Automobile, auf deneneinzelne Männer, die Hände in den Hosentaschen, herumspazierten. Auf einemdieser Automobile, die verschiedene Aufschriften trugen, las Karl unter einemkleinen Aufschrei: »Hafenarbeiter für die Spedition Jakob aufgenommen.« DerWagen fuhr gerade ganz langsam, und ein auf der Wagentreppe stehenderkleiner, gebückter, lebhafter Mann lud die drei Wanderer zum Einsteigen ein. Karlflüchtete sich hinter die Schlosser, als könne sich auf dem Wagen der Onkelbefinden und ihn sehen. Er war froh, daß auch die beiden die Einladung ablehnten,wenn ihn auch der hochmütige Gesichtsausdruck gewissermaßen kränkte, mit demsie das taten. Sie mußten durchaus nicht glauben, daß sie zu gut waren, um in dieDienste des Onkels zu treten. Er gab es ihnen, wenn auch natürlich nichtausdrücklich, sofort zu verstehen. Darauf bat ihn Delamarche, sich gefälligst nicht inSachen einzumischen, die er nicht verstehe; diese Art, Leute aufzunehmen, seiein schändlicher Betrug, und die Firma Jakob sei berüchtigt in den ganzenVereinigten Staaten. Karl antwortete nicht, hielt sich aber von nun an mehr an den

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Irländer, er bat ihn auch, ihm jetzt ein wenig den Koffer zu tragen, was dieser,nachdem Karl seine Bitte mehrmals wiederholt hatte, auch tat. Nur klagte erununterbrochen über die Schwere des Koffers, bis es sich zeigte, daß er nur dieAbsicht hatte, den Koffer um die Veroneser Salami zu erleichtern, die ihm wohlschon im Hotel angenehm aufgefallen war. Karl mußte sie auspacken, derFranzose nahm sie zu sich, um sie mit seinem dolchartigen Messer zu behandelnund fast ganz allein aufzuessen. Robinson bekam nur hie und da eine Schnitte,Karl dagegen, der wieder den Koffer tragen mußte, wenn er ihn nicht auf derLandstraße stehen lassen wollte, bekam nichts, als hätte er sich seinen Anteil schonim voraus genommen. Es schien ihm zu kleinlich, um ein Stückchen zu betteln,aber die Galle regte sich in ihm. Aller Nebel war schon verschwunden, in derFerne erglänzte ein hohes Gebirge, das mit welligem Kamm in noch fernerenSonnendunst führte. An der Seite der Straße lagen schlecht bebaute Felder, die sichum große Fabriken hinzogen, die dunkel angeraucht im freien Lande standen. Inden wahllos hingestellten einzelnen Mietskasernen zitterten die vielen Fenster inder mannigfaltigsten Bewegung und Beleuchtung, und auf all den kleinen,schwachen Balkonen hatten Frauen und Kinder vielerlei zu tun, während um sieherum, sie verdeckend und enthüllend, aufgehängte und hingelegte Tücher undWäschestücke im Morgenwind flatterten und mächtig sich bauschten. Glitten dieBlicke von den Häusern ab, dann sah man Lerchen hoch am Himmel fliegen undunten wieder die Schwalben, nicht allzuweit über den Köpfen der Fahrenden.

Vieles erinnerte Karl an seine Heimat und er wußte nicht, ob er gut daran tue,New York zu verlassen und in das Innere des Landes zu gehen. In New York wardas Meer und zu jeder Zeit die Möglichkeit der Rückkehr in die Heimat. Und so blieber stehen und sagte zu seinen beiden Begleitern, er habe doch wieder Lust, inNew York zu bleiben. Und als Delamarche ihn einfach weitertreiben wollte, ließ ersich nicht treiben und sagte, daß er doch wohl noch das Recht habe, über sich zuentscheiden. Der Irländer mußte erst vermitteln und erklären, daß Butterford vielschöner als New York sei, und beide mußten ihn noch sehr bitten, ehe er wiederweiterging. Und selbst dann wäre er noch nicht gegangen, wenn er sich nichtgesagt hätte, daß es für ihn vielleicht besser sei, an einen Ort zu kommen, wo dieMöglichkeit der Rückkehr in die Heimat keine so leichte sei. Gewiß werde er dortbesser arbeiten und vorwärtskommen, da ihn keine unnützen Gedanken hindernwürden. Und nun war er es, der die beiden anderen zog, und sie freuten sich sosehr über seinen Eifer, daß sie, ohne sich erst bitten zu lassen, den Kofferabwechselnd trugen und Karl gar nicht recht verstand, womit er ihnen eigentlichdiese Freude verursache. Sie kamen in eine ansteigende Gegend, und wenn siehie und da stehenblieben, konnten sie beim Rückblick das Panorama New Yorksund seines Hafens immer ausgedehnter sich entwickeln sehen. Die Brücke, dieNew York mit Brooklyn verbindet, hing zart über den East River, und sie erzitterte,wenn man die Augen klein machte. Sie schien ganz ohne Verkehr zu sein, undunter ihr spannte sich das unbelebte, glatte Wasserband. Alles in beidenRiesenstädten schien leer und nutzlos aufgestellt. Unter den Häusern gab es kaumeinen Unterschied zwischen den großen und den kleinen. In der unsichtbaren Tiefeder Straßen ging wahrscheinlich das Leben fort nach seiner Art, aber über ihnen warnichts zu sehen als leichter Dunst, der sich zwar nicht bewegte, aber ohne Müheverjagbar zu sein schien. Selbst in den Hafen, den größten der Welt, war Ruheeingekehrt, und nur hie und da glaubte man, wohl beeinflußt von der Erinnerung aneinen früheren Anblick aus der Nähe, ein Schiff zu sehen, das eine kurze Streckesich fortschob. Aber man konnte ihm auch nicht lange folgen, es entging denAugen und war nicht mehr zu finden.

Aber Delamarche und Robinson sahen offenbar viel mehr, sie zeigten nachrechts und links und überwölbten mit den ausgestreckten Händen Plätze und Gärten,

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die sie mit Namen benannten. Sie konnten es nicht begreifen, daß Karl über zweiMonate in New York gewesen war und kaum etwas anderes von der Stadtgesehen hatte als eine Straße. Und sie versprachen ihm, wenn sie in Butterfordgenug verdient hätten, mit ihm nach New York zu gehen und ihm allesSehenswerte zu zeigen und ganz besonders natürlich jene Örtlichkeiten, wo mansich bis zum Seligwerden unterhielt. Und Robinson begann im Anschluß daran mitvollem Mund ein Lied zu singen, das Delamarche mit Händeklatschen begleiteteund das Karl als eine Operettenmelodie aus seiner Heimat erkannte, die ihm hiermit einem englischen Text viel besser gefiel, als sie ihm je zu Hause gefallenhatte. So gab es eine kleine Vorstellung im Freien, an der alle Anteil nahmen, nurdie Stadt unten, die sich angeblich bei dieser Melodie unterhielt, schien gar nichtsdavon zu wissen.

Einmal fragte Karl, wo denn die Spedition Jakob liege, und sofort sah erDelamarches und Robinsons ausgestreckte Zeigefinger vielleicht auf dengleichen, vielleicht auf meilenweit entfernte Punkte gerichtet. Als sie dannweitergingen, fragte Karl, wann sie frühestens mit genügendem Verdienst nach NewYork zurückkehren könnten. Delamarche sagte, das könne schon ganz gut in einemMonat sein, denn in Butterford sei Arbeitermangel und die Löhne seien hoch.Natürlich würden sie ihr Geld in eine gemeinsame Kasse legen, damit zufälligeUnterschiede im Verdienst unter ihnen als Kameraden ausgeglichen würden. Diegemeinsame Kasse gefiel Karl nicht, obwohl er als Lehrling natürlich wenigerverdienen würde als ausgelernte Arbeiter. Überdies erwähnte Robinson, daß sienatürlich, wenn in Butterford keine Arbeit wäre, weiterwandern müßten, entweder umals Landarbeiter irgendwo unterzukommen oder vielleicht nach Kalifornien in dieGoldwäscherei zu gehen, was, nach Robinsons ausführlichen Erzählungen zuschließen, sein liebster Plan war.

»Warum sind Sie denn Schlosser geworden, wenn Sie jetzt in die Goldwäschereiwollen?« fragte Karl, der ungern von der Notwendigkeit solcher weiten,unsicheren Reisen hörte.

»Warum ich Schlosser geworden bin?« sagte Robinson, »doch gewiß nichtdeshalb, damit meiner Mutter Sohn dabei verhungert. In den Goldwäschereien istein feiner Verdienst.«

»War einmal«, sagte Delamarche.

»Ist noch immer«, sagte Robinson und erzählte von vielen dabei reichgewordenen Bekannten, die noch immer dort waren, natürlich keinen Finger mehrrührten, aus alter Freundschaft ihm aber und selbstverständlich auch seinenKameraden zu Reichtum verhelfen würden.

»Wir werden schon in Butterford Stellen erzwingen«, sagte Delamarche undsprach damit Karl aus der Seele, aber eine zuversichtliche Ausdrucksweise wares nicht. Während des Tages machten sie nur einmal in einem Wirtshaus halt undaßen davor im Freien an einem, wie es Karl schien, eisernen Tisch fast rohesFleisch, das man mit Messer und Gabel nicht zerschneiden, sondern nur zerreißenkonnte. Das Brot hatte eine walzenartige Form, und in jedem Brotlaib steckte einlanges Messer. Zu diesem Essen wurde eine schwarze Flüssigkeit gereicht, die imHalse brannte. Delamarche und Robinson schmeckte sie aber, sie erhoben oftauf die Erfüllung verschiedener Wünsche ihre Gläser und stießen miteinander an,wobei sie ein Weilchen lang in der Höhe Glas an Glas hielten. Am Nebentisch saßenArbeiter in kalkbespritzten Blusen, und alle tranken die gleiche Flüssigkeit.Automobile, die in Mengen vorüberfuhren, warfen Schwaden von Staub über dieTische hin. Große Zeitungsblätter wurden herumgereicht, man sprach erregt vomStreik der Bauarbeiter, der Name Mack wurde öfters genannt. Karl erkundigte sichüber ihn und erfuhr, daß dies der Vater des ihm bekannten Mack und der größte

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Bauunternehmer von New York war. Der Streik kostete ihn Millionen undbedrohte vielleicht seine geschäftliche Stellung. Karl glaubte kein Wort von diesemGerede schlecht unterrichteter, übelwollender Leute.

Verbittert wurde das Essen für Karl außerdem dadurch, daß es sehr fraglich war,wie das Essen gezahlt werden sollte. Das Natürliche wäre gewesen, daß jeder seinenTeil gezahlt hätte, aber Delamarche wie auch Robinson hatten gelegentlichbemerkt, daß für das letzte Nachtlager ihr letztes Geld aufgegangen war. Uhr, Ringoder sonst etwas Veräußerbares war an keinem zu sehen. Und Karl konnte ihnendoch nicht vorhalten, daß sie an dem Verkauf seiner Kleider etwas verdient hätten,das wäre doch Beleidigung und Abschied für immer gewesen. Das Erstaunlicheaber war, daß weder Delamarche noch Robinson irgendwelche Sorgen wegen derBezahlung hatten, vielmehr hatten sie gute Laune genug, möglichst oftAnknüpfungen mit der Kellnerin zu versuchen, die stolz und mit schwerem Gangzwischen den Tischen hin und her ging. Ihr Haar hing ihr von den Seiten einwenig lose in Stirn und Wangen, und sie strich es immer wieder zurück, indem siemit den Händen darunter hinfuhr. Schließlich, als man vielleicht das erstefreundliche Wort von ihr erwartete, trat sie zum Tische, legte beide Hände auf ihnund fragte: »Wer zahlt?« Nie waren Hände rascher aufgeflogen als jetzt jene vonDelamarche und Robinson, die auf Karl zeigten. Karl erschrak darüber nicht, denner hatte es ja vorausgesehen, und sah nichts Schlimmes darin, daß dieKameraden, von denen er ja auch Vorteile erwartete, einige Kleinigkeiten von ihmbezahlen ließen, wenn es auch anständiger gewesen wäre, diese Sache vor dementscheidenden Augenblick ausdrücklich zu besprechen. Peinlich war bloß, daß erdas Geld erst aus der Geheimtasche heraufbefördern mußte. Seine ursprünglicheAbsicht war es gewesen, das Geld für die letzte Not aufzuheben und sich alsovorläufig mit seinen Kameraden gewissermaßen in eine Reihe zu stellen. DerVorteil, den er durch dieses Geld und vor allem durch das Verschweigen desBesitzes gegenüber den Kameraden erlangte, wurde für diese mehr als reichlichdadurch aufgewogen, daß sie schon seit ihrer Kindheit in Amerika waren, daß siegenügende Kenntnisse und Erfahrungen für Gelderwerb hatten und daß sie schließlichan bessere Lebensverhältnisse als ihre gegenwärtigen nicht gewöhnt waren. Diesebisherigen Absichten, die Karl rücksichtlich seines Geldes hatte, mußten an und fürsich durch diese Bezahlung nicht gestört werden, denn einen Vierteldollar konnteer schließlich entbehren und deshalb also ein Vierteldollarstück auf den Tisch legenund erklären, dies sei sein einziges Eigentum und er sei bereit, es für diegemeinsame Reise nach Butterford zu opfern. Für die Fußreise genügte ein solcherBetrag auch vollkommen. Nun aber wußte er nicht, ob er genügend Kleingeld hatte,und überdies lag dieses Geld sowie die zusammengelegten Banknoten irgendwo inder Tiefe der Geheimtasche, in der man eben am besten etwas fand, wenn manden ganzen Inhalt auf den Tisch schüttete. Außerdem war es höchst unnötig, daß dieKameraden von dieser Geheimtasche überhaupt etwas erfuhren. Nun schien eszum Glück, daß die Kameraden sich noch immer mehr für die Kellnerin interessiertenals dafür, wie Karl das Geld für die Bezahlung zusammenbrächte. Delamarche locktedie Kellnerin durch die Aufforderung, die Rechnung aufzustellen, zwischen sichund Robinson und sie konnte die Zudringlichkeiten der beiden nur dadurchabwehren, daß sie einem oder dem anderen die ganze Hand auf das Gesicht legteund ihn wegschob. Inzwischen sammelte Karl, heiß vor Anstrengung, unter derTischplatte in der einen Hand das Geld, das er mit der anderen Stück für Stück in derGeheimtasche herumjagte und herausholte. Endlich glaubte er, obwohl er dasamerikanische Geld noch nicht genau kannte, er hätte, wenigstens der Menge derStücke nach, eine genügende Summe, und legte sie auf den Tisch. Der Klang desGeldes unterbrach sofort die Scherze. Zu Karls Ärger und zu allgemeinemErstaunen zeigte sich, daß fast ein ganzer Dollar dalag. Keiner fragte zwar, warum

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Karl von dem Gelde, das für eine bequeme Eisenbahnfahrt nach Butterfordgereicht hätte, früher nichts gesagt hatte, aber Karl war doch in großer Verlegenheit.Langsam strich er, nachdem das Essen bezahlt war, das Geld wieder ein, nochaus seiner Hand nahm Delamarche ein Geldstück, das er für die Kellnerin alsTrinkgeld brauchte, die er umarmte und an sich drückte, um ihr dann, von deranderen Seite her, das Geld zu überreichen.

Karl war ihnen dankbar, daß sie auf dem Weitermarsch keine Bemerkungen überdas Geld machten, und er dachte sogar eine Zeitlang daran, ihnen sein ganzesVermögen einzugestehen, unterließ das aber doch, da sich keine rechteGelegenheit fand. Gegen Abend kamen sie in eine mehr ländliche, fruchtbareGegend. Ringsherum sah man ungeteilte Felder, die sich in ihrem ersten Grün übersanfte Hügel legten, reiche Landsitze umgrenzten die Straße, und stundenlang gingman zwischen den vergoldeten Gittern der Gärten, mehrmals kreuzten sie dengleichen langsam fließenden Strom und vielemal hörten sie über sich dieEisenbahnzüge auf den hoch sich schwingenden Viadukten donnern.

Eben ging die Sonne an dem geraden Rande ferner Wälder nieder, als sie sichauf einer Anhöhe inmitten einer kleinen Baumgruppe ins Gras hinwerfen, um sichvon den Strapazen auszuruhen. Delamarche und Robinson lagen da undstreckten sich nach Kräften. Karl saß aufrecht und sah auf die ein paar Meter tieferführende Straße, auf der immer wieder Automobile, wie schon während des ganzenTages, leicht aneinander vorübereilten, als würden sie in genauer Anzahl immerwieder von der Ferne abgeschickt und in der gleichen Anzahl in der anderenFerne erwartet. Während des ganzen Tages seit dem frühesten Morgen hatte Karlkein Automobil halten, keinen Passagier aussteigen gesehen.

Robinson machte den Vorschlag, die Nacht hier zu verbringen, da sie allegenügend müde wären, da sie dann desto früher ausmarschieren könnten und da sieschließlich kaum ein billigeres und besser gelegenes Nachtlager vor Einbruchvölliger Dunkelheit finden könnten. Delamarche war einverstanden, und nur Karlglaubte zu der Bemerkung verpflichtet zu sein, daß er Geld genug habe, um dasNachtlager für alle auch in einem Hotel zu bezahlen. Delamarche sagte, sie würdendas Geld noch brauchen, er solle es nur gut aufheben. Delamarche verbarg nichtim geringsten, daß man mit Karls Geld schon rechnete. Da sein erster Vorschlagangenommen war, erklärte nun Robinson weiter, nun müßten sie aber vor demSchlafen, um sich für morgen zu kräftigen, etwas Tüchtiges essen, und einer solledas Essen für alle aus dem Hotel holen, das in nächster Nähe an der Landstraße mitder Aufschrift »Hotel Occidental« leuchtete. Als der Jüngste, und da sich auchsonst niemand meldete, zögerte Karl nicht, sich für diese Besorgung anzubieten,und ging, nachdem er eine Bestellung auf Speck, Brot und Bier erhalten hatte, insHotel hinüber. Es mußte eine große Stadt in der Nähe sein, denn gleich der erste Saaldes Hotels, den Karl betrat, war von einer lauten Menge erfüllt, und an dem Büfett,das sich an einer Längswand und an den zwei Seitenwänden hinzog, liefenunaufhörlich viele Kellner mit weißen Schürzen vor der Brust und konnten doch dieungeduldigen Gäste nicht zufriedenstellen, denn immer wieder hörte man an denverschiedensten Stellen Flüche und Fäuste, die auf den Tisch schlugen. Karl wurdevon niemandem beachtet; es gab auch im Saale selbst keine Bedienung, dieGäste, die an winzigen, bereits zwischen drei Tischnachbarn verschwindendenTischen saßen, holten alles, was sie wünschten, beim Büfett. Auf allen Tischchenstand eine große Flasche mit Öl, Essig oder dergleichen, und alle Speisen, die vomBüfett geholt wurden, wurden vor dem Essen aus dieser Flasche übergossen.Wollte Karl überhaupt erst zum Büfett kommen, wo ja dann wahrscheinlich,besonders bei seiner großen Bestellung, die Schwierigkeiten erst beginnen würden,mußte er sich zwischen vielen Tischen durchdrängen, was natürlich bei aller Vorsicht

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nicht ohne grobe Belästigung der Gäste durchzuführen war, die jedoch alles wiegefühllos hinnahmen, selbst als Karl einmal, allerdings gleichfalls von einem Gast,gegen ein Tischchen gestoßen wurde, das er fast umgeworfen hätte. Erentschuldigte sich zwar, wurde aber offenbar nicht verstanden, verstand übrigensauch nicht das geringste von dem, was man ihm zurief.

Beim Büfett fand er mit Mühe ein kleines freies Plätzchen, auf dem ihm eine langeWeile die Aussicht durch die aufgestützten Ellbogen seiner Nachbarn genommenwar. Es schien hier überhaupt eine Sitte, die Ellbogen aufzustützen und die Faust andie Schläfe zu drücken; Karl mußte daran denken, wie der Lateinprofessor Dr.Krumpal gerade diese Haltung gehaßt hatte und wie er immer heimlich undunversehens herangekommen war und mittels eines plötzlich erscheinendenLineals mit scherzhaftem Ruck die Ellbogen von den Tischen gestreift hatte.

Karl stand eng ans Büfett gedrängt, denn kaum hatte er sich angestellt, war hinterihm ein Tisch aufgestellt worden, und der eine der dort sich niederlassenden Gästestreifte schwer, wenn er sich nur ein wenig beim Reden zurückbog, mit seinemgroßen Hut Karls Rücken. Und dabei war so wenig Hoffnung, vom Kellner etwas zubekommen, selbst als die beiden plumpen Nachbarn befriedigt weggegangenwaren. Einigemal hatte Karl einen Kellner über den Tisch hin bei der Schürze gefaßt,aber immer hatte sich der mit verzerrtem Gesicht losgerissen. Keiner war zuhalten, sie liefen nur und liefen nur. Wenn wenigstens in der Nähe Karls etwasPassendes zum Essen und Trinken gewesen wäre, er hätte es genommen, sichnach dem Preis erkundigt, das Geld hingelegt und wäre mit Freude weggegangen.Aber gerade vor ihm lagen nur Schüsseln mit heringartigen Fischen, derenschwarze Schuppen am Rande goldig glänzten. Die konnten sehr teuer sein undwürden wahrscheinlich niemanden sättigen. Außerdem waren kleine Fäßchen mit Rumerreichbar, aber Rum wollte er seinen Kameraden nicht bringen, sie schienenschon sowieso bei jeder Gelegenheit nur auf den konzentriertesten Alkoholauszugehen und darin wollte er sie nicht noch unterstützen. Es blieb also Karlnichts übrig, als einen anderen Platz zu suchen und mit seinen Bemühungen vonvorne anzufangen. Nun aber war auch schon die Zeit sehr vorgerückt. Die Uhr amanderen Ende des Saales, deren Zeiger man bei scharfem Hinsehen durch denRauch gerade noch erkennen konnte, zeigte schon neun vorüber. Anderswo amBüfett war aber das Gedränge noch größer als an dem früheren, ein wenig abgelegenenPlatz. Außerdem füllte sich der Saal desto mehr, je später es wurde. Immer wiederzogen durch die Haupttüre mit großem Hallo neue Gäste ein. An manchen Stellenräumten Gäste selbstherrlich das Büfett ab und setzten sich aufs Pult und trankeneinander zu, es waren die besten Plätze, man übersah den ganzen Saal.

Karl drängte sich zwar noch weiter durch, aber eine eigentliche Hoffnung, etwaszu erreichen, hatte er nicht mehr. Er machte sich Vorwürfe darüber, daß er, der diehiesigen Verhältnisse nicht kannte, sich zu dieser Besorgung angeboten hatte.Seine Kameraden würden ihn mit vollem Rechte auszanken und gar noch denken,daß er, nur um Geld zu sparen, nichts mitgebracht hatte. Nun stand er gar in einerGegend, wo ringsherum an den Tischen warme Fleischspeisen mit schönen,gelben Kartoffeln gegessen wurden; es war ihm unbegreiflich, wie sich die Leutedas verschafft hatten.

Da sah er ein paar Schritte vor sich eine ältere, offenbar zum Hotelpersonalgehörige Frau, die lachend mit einem Gaste redete. Dabei arbeitete sie fortwährendmit einer Haarnadel in ihrer Frisur herum. Sofort war Karl entschlossen, seineBestellung bei dieser Frau vorzubringen, schon weil sie ihm als die einzige Frauim Saal eine Ausnahme vom allgemeinen Lärm und Jagen bedeutete und dannauch aus dem einfachen Grunde, weil sie die einzige Hotelangestellte war, dieman erreichen konnte, vorausgesetzt allerdings, daß sie nicht beim ersten Wort,

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das er an sie richten würde, in Geschäften fortlief. Aber ganz das Gegenteil trat ein.Karl hatte sie noch gar nicht angeredet, sondern nur ein wenig belauert, als sie,wie man eben manchmal mitten im Gespräch beiseiteschaut, zu Karl hinsah undihn, ihre Rede unterbrechend, freundlich und in einem Englisch, klar wie dieGrammatik, fragte, ob er etwas suche. »Allerdings«, sagte Karl, »Ich kann hiergar nichts bekommen.«

»Dann kommen Sie mit mir, Kleiner«, sagte sie, verabschiedete sich von ihremBekannten, der seinen Hut abnahm, was hier wie unglaubliche Höflichkeiterschien, faßte Karl bei der Hand, ging zum Büfett, schob einen Gast beiseite, öffneteeine Klapptüre im Pult, durchquerte den Gang hinter dem Pult, wo man sich vorden unermüdlich laufenden Kellnern in acht nehmen mußte, öffnete eine zweiteTapetentüre, und schon befanden sie sich in großen, kühlen Vorratskammern.>Man muß eben den Mechanismus kennen<, sagte sich Karl.

»Also, was wollen Sie denn?« fragte sie und beugte sich dienstbereit zu ihmherab. Sie war sehr dick, ihr Leib schaukelte sich, aber ihr Gesicht hatte eine,natürlich im Verhältnis, fast zarte Bildung. Karl war fast versucht, im Anblick dervielen Eßwaren, die hier sorgfältig in Regalen und auf Tischen aufgerichtet lagen, fürseine Bestellung rasch ein feineres Nachtessen auszudenken, besonders da ererwarten konnte, von dieser einflußreichen Frau billiger bedient zu werden,schließlich aber nannte er doch wieder, da ihm nichts Passendes einfiel, nurSpeck, Brot und Bier.

»Nichts weiter?« fragte die Frau.

»Nein danke«, sagte Karl, »aber für drei Personen.«

Auf die Frage der Frau nach den beiden anderen erzählte Karl in ein paar kurzenWorten von seinen Kameraden, es machte ihm Freude, ein wenig ausgefragt zuwerden. »Aber das ist ja ein Essen für Sträflinge«, sagte die Frau und erwartete nunoffenbar weitere Wünsche Karls. Dieser aber fürchtete nun, sie werde ihnbeschenken und kein Geld annehmen wollen, und schwieg deshalb. »Das werdenwir gleich zusammengestellt haben«, sagte die Frau, ging mit einer bei ihrer Dickebewunderungswerten Beweglichkeit zu einem Tisch hin, schnitt mit einem langen,dünnen, sägeblattartigen Messer ein großes Stück mit viel Fleisch durchwachsenenSpecks ab, nahm aus einem Regal einen Laib Brot, hob vom Boden dreiFlaschen Bier auf und legte alles in einen leichten Strohkorb, den sie Karl reichte.Zwischendurch erklärte sie Karl, sie habe ihn deshalb hierhergeführt, weil dieEßwaren draußen auf dem Büfett im Rauch und in den vielen Ausdünstungen trotzdem schnellen Verbrauch immer die Frische verlieren. Für die Leute draußen seiaber alles gut genug. Karl sagte nun gar nichts mehr, denn er wußte nicht, wodurcher diese auszeichnende Behandlung verdiene. Er dachte an seine Kameraden,die vielleicht, so gute Kenner Amerikas sie auch waren, doch nicht bis in dieseVorratskammer gedrungen wären und sich mit den verdorbenen Eßwaren auf demBüfett hätten begnügen müssen. Man hörte hier keinen Laut aus dem Saal, die Mauernmußten sehr dick sein, um diese Gewölbe genügend kühl zu erhalten. Karl hatte schonden Strohkorb ein Weilchen lang in der Hand, dachte aber nicht ans Zahlen undrührte sich auch nicht. Nur als die Frau noch nachträglich eine Flasche, ähnlichdenen, die draußen auf den Tischen standen, in den Korb legen wollte, dankte erschaudernd.

»Haben Sie noch einen weiten Marsch?« fragte die Frau.

»Bis nach Butterford«, antwortete Karl.

«Das ist noch sehr weit«, sagte die Frau.

»Noch eine Tagereise«, sagte Karl.

»Nicht weiter?« fragte die Frau.

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»O nein«, sagte Karl.

Die Frau rückte einige Sachen auf den Tischen zurecht, ein Kellner kam herein,schaute suchend herum, wurde dann von der Frau auf eine große Schüssel, in derein breiter, mit ein wenig Petersilie bestreuten Haufen von Sardinen lag,hingewiesen und trug dann diese Schüssel in den erhobenen Händen in den Saalhinaus.

»Warum wollen Sie denn eigentlich im Freien übernachten?« fragte die Frau.

»Wir haben hier Platz genug. Schlafen Sie bei uns im Hotel.«

Das war für Karl sehr verlockend, besonders da er die vorige Nacht so schlechtverbracht hatte. »Ich habe mein Gepäck draußen«, sagte er zögernd und nicht ganzohne Eitelkeit.

»Das bringen Sie nur her«, sagte die Frau, »das ist kein Hindernis.«

»Aber meine Kameraden!« sagte Karl und merkte sofort, daß die allerdings einHindernis waren.

»Die dürfen natürlich auch hier übernachten«, sagte die Frau.

»Kommen Sie nur! Lassen Sie sich nicht so bitten.«

»Meine Kameraden sind im übrigen brave Leute,« sagte Karl, »aber sie sindnicht rein.«

»Haben Sie den Schmutz im Saal nicht gesehen?« fragte die Frau und verzogdas Gesicht.

»Zu uns kann wirklich der Ärgste kommen. Ich werde also gleich drei Bettenvorbereiten lassen. Allerdings nur auf dem Dachboden, denn das Hotel istvollbesetzt, ich bin auch auf den Dachboden übersiedelt, aber besser als im Freienist es jedenfalls.«

»Ich kann meine Kameraden nicht mitbringen,« sagte Karl. Er stellte sich vor,welchen Lärm die beiden auf den Gängen dieses feinen Hotels machen würden;Robinson würde alles verunreinigen und Delamarche unfehlbar selbst diese Fraubelästigen.

»Ich weiß nicht, warum das unmöglich sein soll,« sagte die Frau, »aber wenn Siees so wollen, dann lassen Sie eben Ihre Kameraden draußen und kommen alleinzu uns.« »Das geht nicht, das geht nicht«, sagte Karl, »es sind meine Kameradenund ich muß bei ihnen bleiben.«

»Sie sind starrköpfig«, sagte die Frau und sah von ihm weg, »man meint es gutmit Ihnen, möchte Ihnen gern behilflich sein, und Sie wehren sich mit allen Kräften.«

Karl sah das alles ein, aber er wußte keinen Ausweg, so sagte er nur noch:»Meinen besten Dank für Ihre Freundlichkeit.«

Dann erinnerte er sich daran, daß er noch nicht gezahlt hatte, und fragte nachdem schuldigen Betrag.

»Zahlen Sie das erst, wenn Sie mir den Strohkorb zurückbringen«, sagte dieFrau. »Spätestens morgen früh muß ich ihn haben.«

»Bitte«, sagte Karl. Sie öffnete eine Türe, die geradewegs ins Freie führte, undsagte noch, während er mit einer Verbeugung hinaustrat: » Gute Nacht, Siehandeln aber nicht recht.« Er war schon ein paar Schritte weit, da rief sie ihmnoch nach: »Auf Wiedersehen morgen!«

Kaum war er draußen, hörte er auch schon wieder aus dem Saal denungeschwächten Lärm, in den sich jetzt auch Klänge eines Blasorchesters mischten.Er war froh, daß er nicht durch den Saal hatte hinausgehen müssen. Das Hotel war

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jetzt in allen seinen fünf Stockwerken beleuchtet und machte die Straße davor inihrer ganzen Breite hell. Noch immer fuhren draußen, wenn auch schon inunterbrochener Folge, Automobile, rascher aus der Ferne her anwachsend als beiTage, tasteten mit den weißen Strahlen ihrer Laternen den Boden der Straße ab,kreuzten mit erblassenden Lichtern die Lichtzone des Hotels und eiltenaufleuchtend in das weitere Dunkel.

Die Kameraden fand Karl schon in tiefem Schlaf, er war aber auch zu langeausgeblieben. Gerade wollte er das Mitgebrachte appetitlich auf Papiereausbreiten, die er im Korb vorfand, um erst, wenn alles fertig wäre, die Kameradenzu wecken, als er zu seinem Schrecken seinen Koffer, den er abgesperrtzurückgelassen hatte und dessen Schlüssel er in der Tasche trug, vollständig geöffnetsah, während der halbe Inhalt ringsherum im Gras verstreut war.

»Steht auf!« rief er. »Ihr schlaft, und inzwischen waren Diebe da.« »Fehlt dennetwas?« fragte Delamarche. Robinson war noch nicht ganz wach und griff schonnach dem Bier.

»Ich weiß nicht«, rief Karl, »aber der Koffer ist offen. Das ist doch eineUnvorsichtigkeit, sich schlafen zu legen und den Koffer hier frei stehen zulassen.« Delamarche und Robinson lachten, und der erstere sagte: »Sie dürfeneben nächstens nicht so lange fortbleiben. Das Hotel ist zehn Schritte entfernt, undSie brauchen zum Hin- und Herweg drei Stunden. Wir haben Hunger gehabt,haben gedacht, daß Sie in Ihrem Koffer etwas zum Essen haben könnten, undhaben das Schloß so lange gekitzelt, bis es sich aufgemacht hat. Im übrigen war jagar nichts darin, und Sie können alles wieder ruhig einpacken.«

»So«, sagte Karl, starrte in den rasch sich leerenden Korb und horchte auf daseigentümliche Geräusch, das Robinson beim Trinken hervorbrachte, da ihm dieFlüssigkeit zuerst weit in die Gurgel eindrang, dann aber mit einer Art Pfeifenwieder zurückschnellte, um erst dann in großem Erguß in die Tiefe zu rollen. »HabenSie schon zu Ende gegessen?« fragte er, als sich die beiden einen Augenblickverschnauften.

»Haben Sie denn nicht schon im Hotel gegessen?« fragte Delamarche, derglaubte, Karl beanspruche seinen Anteil.

»Wenn Sie noch essen wollen, dann beeilen Sie sich«, sagte Karl und ging zuseinem Koffer.

»Der scheint Launen zu haben«, sagte Delamarche zu Robinson.

»Ich habe keine Launen«, sagte Karl, »aber ist das vielleicht recht, in meinerAbwesenheit meinen Koffer aufzubrechen und meine Sachen herauszuwerfen?Ich weiß, man muß unter Kameraden manches dulden, und ich habe mich auchdarauf vorbereitet, aber das ist zu viel. Ich werde im Hotel übernachten und gehenicht nach Butterford. Essen Sie rasch auf, ich muß den Korb zurückgeben.«

»Siehst du, Robinson, so spricht man«, sagte Delamarche, »das ist die feineRedeweise. Er ist eben ein Deutscher. Du hast mich früh vor ihm gewarnt, aber ichbin ein guter Narr gewesen und habe ihn doch mitgenommen. Wir haben ihmunser Vertrauen geschenkt, haben ihn einen ganzen Tag mit uns geschleppt,haben dadurch zumindest einen halben Tag verloren und jetzt - weil ihn dort imHotel irgend jemand gelockt hat - verabschiedet er sich, verabschiedet sicheinfach. Aber weil er ein falscher Deutscher ist, tut er dies nicht offen, sondernsucht sich den Vorwand mit dem Koffer, und weil er ein grober Deutscher ist,kann er nicht weggehen, ohne uns in unserer Ehre zu beleidigen und uns Diebezu nennen, weil wir mit seinem Koffer einen kleinen Scherz gemacht haben.«

Karl, der seine Sachen packte, ohne sich umzuwenden: »Reden Sie nur soweiter und erleichtern Sie mir das Weggehen. Ich weiß ganz gut, was

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Kameradschaft ist. Ich habe in Europa auch Freunde gehabt, und keiner kann mirvorwerfen, daß ich mich falsch oder gemein gegen ihn benommen hätte. Wir sindjetzt natürlich außer Verbindung, aber wenn ich noch einmal nach Europazurückkommen sollte, werden mich alle gut aufnehmen und mich sofort als ihrenFreund anerkennen. Und Sie, Delamarche, und Sie, Robinson, Sie hätte ichverraten sollen, da Sie doch, was ich niemals vertuschen werde, so freundlichwaren, sich meiner anzunehmen und mir eine Lehrlingsstelle in Butterford inAussicht zu stellen? Aber es ist etwas anderes. Sie haben nichts, und daserniedrigt Sie in meinen Augen nicht im geringsten, aber Sie mißgönnen mir meinenkleinen Besitz und suchen mich deshalb zu demütigen, das kann ich nichtaushalten. Und nun, nachdem Sie meinen Koffer aufgebrochen haben,entschuldigen Sie sich mit keinem Wort, sondern beschimpfen mich noch undbeschimpfen weiter mein Volk - damit nehmen Sie mir aber auch jede Möglichkeit,bei Ihnen zu bleiben. Übrigens gilt das alles nicht eigentlich von Ihnen, Robinson.Gegen Ihren Charakter habe ich nur einzuwenden, daß Sie von Delamarche zusehr abhängig sind.«

»Da sehen wir ja«, sagte Delamarche, indem er zu Karl trat und ihm einenleichten Stoß gab, wie um ihn aufmerksam zu machen, »da sehen wir ja, wie Siesich entpuppen. Den ganzen Tag sind Sie hinter mir gegangen, haben sich anmeinem Rock gehalten, haben mir jede Bewegung nachgemacht und waren sonststill wie ein Mäuschen. Jetzt aber, da Sie im Hotel irgendeinen Rückhalt spüren,fangen Sie große Reden zu halten an. Sie sind ein kleiner Schlaumeier, und ichweiß noch gar nicht, ob wir das so ruhig hinnehmen werden. Ob wir nicht dasLehrgeld für das verlangen werden, was Sie uns während des Tages abgeschauthaben. Du, Robinson, wir beneiden ihn - meint er - um seinen Besitz. Ein TagArbeit in Butterford - von Kalifornien gar nicht zu reden -, und wir haben zehnmalmehr, als Sie uns gezeigt haben und als Sie in Ihrem Rockfutter noch versteckthaben mögen. Also, nur immer Achtung aufs Maul!«

Karl hatte sich vom Koffer erhoben und sah nun auch den verschlafenen, abervom Bier ein wenig belebten Robinson herankommen. »Wenn ich noch langehierbleibe«, sagte er, »könnte ich vielleicht noch weitere Überraschungen erleben.Sie scheinen Lust zu haben, mich durchzuprügeln.«

»Alle Geduld hat ein Ende«, sagte Robinson. »Sie schweigen besser,Robinson«, sagte Karl, ohne Delamarche aus den Augen zu lassen, »im Innerngeben Sie mir ja doch recht, aber nach außen müssen Sie es mit Delamarchehalten!«

»Wollen Sie ihn vielleicht bestechen?« fragte Delamarche.

»Fällt mir nicht ein«, sagte Karl. »Ich bin froh, daß ich fortgehe, und ich will mitkeinem von Ihnen mehr etwas zu tun haben. Nur eines will ich noch sagen, Siehaben mir den Vorwurf gemacht, daß ich Geld besitze und es vor Ihnen versteckthabe. Angenommen, daß es wahr ist, war es nicht sehr richtig Leuten gegenübergehandelt, die ich erst ein paar Stunden kannte, und bestätigen Sie nicht nochdurch Ihr jetziges Benehmen die Richtigkeit einer derartigen Handlungsweise?«

»Bleib ruhig«, sagte Delamarche zu Robinson, obwohl sich dieser nicht rührte.Dann fragte er Karl. »Da Sie so unverschämt aufrichtig sind, so treiben Sie doch,da wir ja so gemütlich beisammenstehen, diese Aufrichtigkeit noch weiter undgestehen Sie ein, warum Sie eigentlich ins Hotel wollen.« Karl mußte einen Schrittüber den Koffer hinweg machen, so nahe war Delamarche an ihn herangetreten.Aber Delamarche ließ sich dadurch nicht beirren, schob den Koffer beiseite,machte einen Schritt vorwärts, wobei er den Fuß auf ein weißes Vorhemd setzte, dasim Gras liegengeblieben war, und wiederholte seine Frage. Wie zur Antwort stiegvon der Straße her ein Mann mit einer stark leuchtenden Taschenlampe zu der

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Gruppe herauf. Es war ein Kellner aus dem Hotel. Kaum hatte er Karl erblickt,sagte er: »Ich suche Sie schon fast eine halbe Stunde. Alle Böschungen aufbeiden Straßenseiten habe ich schon abgesucht. Die Frau Oberköchin läßt Ihnennämlich sagen, daß sie den Strohkorb, den sie Ihnen geborgt hat, dringend braucht.«

»Hier ist er«, sagte Karl mit einer vor Aufregung unsicheren Stimme.Delamarche und Robinson waren in scheinbarer Bescheidenheit beiseitegetreten,wie sie es vor fremden gutgestellten Leuten immer machten. Der Kellner nahmden Korb an sich und sagte: »Dann läßt Sie die Frau Oberköchin fragen, ob Sie essich nicht überlegt haben und doch vielleicht im Hotel übernachten wollten. Auch diebeiden anderen Herren wären willkommen, wenn Sie sie mitnehmen wollen. DieBetten sind schon vorbereitet. Die Nacht ist ja heute warm, aber hier, auf derLehne, ist es durchaus nicht ungefährlich zu schlafen, man findet öfters Schlangen.«

»Da die Frau Oberköchin so freundlich ist, werde ich ihre Einladung dochannehmen«, sagte Karl und wartete auf eine Äußerung seiner Kameraden. AberRobinson stand stumpf da, und Delamarche hatte die Hände in den Hosentaschenund schaute zu den Sternen hinauf. Beide bauten offenbar darauf, daß Karl sieohne weiteres mitnehmen werde. »Für diesen Fall«, sagte der Kellner, »habe ichden Auftrag, Sie ins Hotel zu führen und Ihr Gepäck zu tragen.«

»Dann warten Sie, bitte, noch einen Augenblick«, sagte Karl und bückte sich, umdie paar Sachen, die noch herumlagen, in den Koffer zu legen.

Plötzlich richtete er sich auf. Die Photographie fehlte, sie war ganz oben imKoffer gelegen und war nirgends zu finden. Alles war vollständig, nur diePhotographie fehlte. »Ich kann die Photographie nicht finden«, sagte er bittend zuDelamarche.

»Welche Photographie?« fragte dieser.

»Die Photographie meiner Eltern«, sagte Karl.

»Wir haben keine Photographie gesehen«, sagte Delamarche.

»Es war keine Photographie darin, Herr Roßmann,« bestätigte auch Robinson vonseiner Seite.

»Aber das ist doch unmöglich«, sagte Karl, und seine hilfesuchenden Blickezogen den Kellner näher. »Sie lag obenauf und jetzt ist sie weg. Wenn Sie dochlieber den Spaß mit dem Koffer nicht gemacht hätten!«

»Jeder Irrtum ist ausgeschlossen«, sagte Delamarche, »in dem Koffer warkeine Photographie.«

»Sie war mir wichtiger als alles, was ich sonst im Koffer habe«, sagte Karl zumKellner, der herumging und im Grase suchte. »Sie ist nämlich unersetzlich, ichbekomme keine zweite.« Und als der Kellner von dem aussichtslosen Suchenabließ, sagte er noch: »Es war das einzige Bild, das ich von meinen Eltern besaß.«

Daraufhin sagte der Kellner laut, ohne jede Beschönigung: »Vielleicht könnten wirnoch die Taschen der Herren untersuchen.«

»Ja«, sagte Karl sofort, »ich muß die Photographie finden. Aber ehe ich dieTaschen durchsuche, sage ich noch, daß, wer mir die Photographie freiwillig gibt,den ganzen gefüllten Koffer bekommt.« Nach einem Augenblick allgemeiner Stillesagte Karl zum Kellner: »Meine Kameraden wollen also offenbar dieTaschendurchsuchung. Aber selbst jetzt verspreche ich sogar demjenigen, indessen Tasche die Photographie gefunden wird, den ganzen Koffer. Mehr kannich nicht tun.«

Sofort machte sich der Kellner daran, Delamarche zu untersuchen, der ihmschwieriger zu behandeln schien als Robinson, den er Karl überließ. Er machte Karldarauf aufmerksam, daß beide gleichzeitig untersucht werden müßten, da sonst einer

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unbeobachtet die Photographie beiseiteschaffen könnte. Gleich beim ersten Grifffand Karl in Robinsons Tasche eine ihm gehörige Krawatte, aber er nahm sie nichtan sich und rief dem Kellner zu: »Was Sie bei Delamarche auch finden mögen,lassen Sie ihm, bitte, alles. Ich will nichts als die Photographie, nur diePhotographie.«

Beim Durchsuchen der Brusttaschen gelangte Karl mit der Hand an die heiße,fettige Brust Robinsons, und es kam ihm zu Bewußtsein, daß er an seinenKameraden vielleicht ein großes Unrecht begehe. Er beeilte sich nun nachMöglichkeit. Im übrigen war alles umsonst, weder bei Robinson noch beiDelamarche fand sich die Photographie vor. »Es hilft nichts«, sagte der Kellner.

»Sie haben wahrscheinlich die Photographie zerrissen und die Stückeweggeworfen«, sagte Karl. »Ich dachte, sie wären Freunde, aber im geheimenwollten sie mir nur schaden. Nicht eigentlich Robinson, der wäre gar nicht auf denEinfall gekommen, daß die Photographie solchen Wert für mich hat, aber destomehr Delamarche.« Karl sah nur den Kellner vor sich, dessen Laterne einenkleinen Kreis beleuchtete, während alles sonst, auch Delamarche und Robinson, intiefem Dunkel war.

Es war natürlich gar nicht mehr die Rede davon, daß die beiden in das Hotelmitgenommen werden könnten. Der Kellner schwang den Koffer auf die Achsel,Karl nahm den Strohkorb, und sie gingen. Karl war schon auf der Straße, als er, imNachdenken sich unterbrechend, stehenblieb und in das Dunkel hinaufrief: »HörenSie einmal, sollte doch einer von Ihnen die Photographie noch haben und mir insHotel bringen wollen - er bekommt den Koffer noch immer und wird, ich schwörees, nicht angezeigt.« Es kam keine eigentliche Antwort herunter, nur einabgerissenes Wort war zu hören, der Beginn eines Zurufs Robinsons, dem aberoffenbar Delamarche sofort den Mund stopfte. Noch eine lange Weile warteteKarl, ob man sich oben nicht doch noch anders entscheiden würde. Zweimal rief erin Abständen: »Ich bin noch immer da!« Aber kein Laut antwortete, nur einmalrollte ein Stein den Abhang herab, vielleicht durch Zufall, vielleicht in einemverfehlten Wurf.

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Hotel Occidental

Im Hotel wurde Karl gleich in eine Art Büro geführt, in welchem die Oberköchin, einVormerkbuch in der Hand, einer jungen Schreibmaschinistin einen Brief in dieSchreibmaschine diktierte. Das äußerst präzise Diktieren, der beherrschte undelastische Tastenschlag jagten an dem nur hie und da merklichen Ticken derWanduhr vorüber, die schon fast halb zwölf zeigte. »So!« sagte die Oberköchin,klappte das Vormerkbuch zu, die Schreibmaschinistin sprang auf und stülpte denHolzdeckel über die Maschine, ohne bei dieser mechanischen Arbeit die Augenvon Karl zu lassen. Sie sah noch wie ein Schulmädchen aus, ihre Schürze war sehrsorgfältig gebügelt, auf den Achseln zum Beispiel gewellt, die Frisur recht hoch, undman staunte ein wenig, wenn man nach diesen Einzelheiten ihr ernstes Gesichtsah. Nach Verbeugungen, zuerst gegen die Oberköchin, dann gegen Karl,entfernte sie sich, und Karl sah unwillkürlich die Oberköchin mit einem fragendenBlicke an.

»Das ist aber schön, daß Sie nun doch gekommen sind«, sagte die Oberköchin.»Und Ihre Kameraden?«

»Ich habe sie nicht mitgenommen«, sagte Karl.

»Die marschieren wohl sehr früh aus«, sagte die Oberköchin, wie um sich dieSache zu erklären.

>Muß sie denn nicht denken, daß ich auch mitmarschiere?< fragte sich Karlund sagte deshalb, um jeden Zweifel auszuschließen: »Wir sind in Unfriedenauseinandergegangen.«

Die Oberköchin schien das als eine angenehme Nachricht aufzufassen. »Dannsind Sie also frei?« fragte sie.

»Ja, frei bin ich«, sagte Karl, und nichts schien ihm wertloser.

»Hören Sie, möchten Sie nicht hier im Hotel eine Stelle annehmen?« fragte dieOberköchin.

»Sehr gern«, sagte Karl, »ich habe aber entsetzlich wenig Kenntnisse. Ich kannzum Beispiel nicht einmal auf der Schreibmaschine schreiben.«

»Das ist nicht das Wichtigste«, sagte die Oberköchin. »Sie bekämen eben vorläufignur eine ganz kleine Anstellung und müßten dann zusehen, durch Fleiß undAufmerksamkeit sich hinaufzubringen. Jedenfalls aber glaube ich, daß es für Siebesser und passender wäre, sich irgendwo festzusetzen, statt so durch die Welt zubummeln. Dazu scheinen Sie mir nicht gemacht.«

>Das würde alles auch der Onkel unterschreiben<, sagte sich Karl undnickte zustimmend. Gleichzeitig erinnerte er sich, daß er, um den man so besorgtwar, sich noch gar nicht vorgestellt hatte. »Entschuldigen Sie, bitte«, sagte er,»daß ich mich noch gar nicht vorgestellt habe, ich heiße Karl Roßmann.«

»Sie sind ein Deutscher, nicht wahr?«

»Ja«, sagte Karl, »Ich bin noch nicht lange in Amerika.«

»Woher sind Sie denn?«

»Aus Prag in Böhmen«, sagte Karl.

»Sehen Sie einmal an«, rief die Oberköchin in einem stark englisch betontenDeutsch und hob fast die Arme, »dann sind wir ja Landsleute, ich heiße GreteMitzelbach und bin aus Wien. Und Prag kenne ich ja ganz ausgezeichnet, ich warja ein halbes Jahr in der Goldenen Gans auf dem Wenzelsplatz angestellt. Aberdenken Sie nur einmal.«

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»Wann ist das gewesen?« fragte Karl.

»Das ist schon viele, viele Jahre her.«

»Die alte Goldene Gans«, sagte Karl, »ist vor zwei Jahren niedergerissenworden.«

»Ja, freilich«, sagte die Oberköchin, ganz in Gedanken an vergangene Zeiten.Mit einem Male aber wieder lebhaft werdend, rief sie und faßte dabei Karls Hände:»Jetzt, da es sich herausgestellt hat, daß Sie mein Landsmann sind, dürfen Sie umkeinen Preis von hier fort. Das dürfen Sie mir nicht antun. Hätten Sie zum BeispielLust, Liftjunge zu werden? Sagen Sie nur ja und Sie sind es. Wenn Sie ein bißchenherumgekommen sind, werden Sie wissen, daß es nicht besonders leicht ist,solche Stellen zu bekommen, denn sie sind der beste Anfang, den man sichdenken kann. Sie kommen mit allen Gästen zusammen, man sieht Sie immer, mangibt Ihnen kleine Aufträge; kurz, Sie haben jeden Tag die Möglichkeit, zu etwasBesserem zu gelangen. Für alles übrige lassen Sie mich sorgen.«

»Liftjunge möchte ich ganz gerne sein,« sagte Karl nach einer kleinen Pause. Eswäre ein großer Unsinn gewesen, gegen die Stelle eines Liftjungen mit Rücksicht aufseine fünf Gymnasialklassen Bedenken zu haben. Eher wäre hier in Amerika Grundgewesen, sich der fünf Gymnasialklassen zu schämen. Übrigens hatten die LiftjungenKarl immer gefallen, sie waren ihm wie der Schmuck des Hotels erschienen.

»Sind nicht Sprachkenntnisse erforderlich?« fragte er noch.

»Sie sprechen Deutsch und ein schönes Englisch, das genügt vollkommen.«

»Englisch habe ich erst in Amerika in zweieinhalb Monaten erlernt«, sagte Karl,er glaubte, seinen einzigen Vorzug nicht verschweigen zu dürfen. »Das sprichtschon genügend für Sie«, sagte die Oberköchin. »Wenn ich daran denke, welcheSchwierigkeiten mir das Englisch gemacht hat. Das ist allerdings schon seinedreißig Jahre her. Gerade gestern habe ich davon gesprochen. Gestern war nämlichmein fünfzigster Geburtstag.« Und sie suchte lächelnd den Eindruck von KarlsMienen abzulesen, den die Würde dieses Alters auf ihn machte.

»Dann wünsche ich Ihnen viel Glück«, sagte Karl.

»Das kann man immer brauchen«, sagte sie, schüttelte Karl die Hand und wurdewieder halb traurig über diese alte Redensart aus der Heimat, die ihr da imDeutschsprechen eingefallen war.

»Aber ich halte Sie auf «, rief sie dann. »Und Sie sind gewiß sehr müde, und wirkönnen auch alles viel besser bei Tag besprechen. Die Freude, einen Landsmanngetroffen zu haben, macht ganz gedankenlos. Kommen Sie, ich werde Sie in IhrZimmer führen.«

»Ich habe noch eine Bitte, Frau Oberköchin«, sagte Karl im Anblick desTelephonkastens, der auf dem Tisch stand, »es ist möglich, daß mir morgen,vielleicht sehr früh, meine früheren Kameraden eine Photographie bringen, die ichdringend brauche. Wären Sie so freundlich und würden Sie dem Portiertelephonieren, er möchte die Leute zu mir schicken oder mich holen lassen?«

»Gewiß«, sagte die Oberköchin, »aber würde es nicht genügen, wenn er ihnen diePhotographie abnimmt? Was ist es denn für eine Photographie, wenn man fragendarf?«

»Es ist die Photographie meiner Eltern«, sagte Karl. »Nein, ich muß mit denLeuten selbst sprechen.« Die Oberköchin sagte nichts weiter und gab telephonischin die Portierloge den entsprechenden Befehl, wobei sie 536 als ZimmernummerKarls nannte. Sie gingen dann durch eine der Eingangstür entgegengesetzte Tür aufeinen kleinen Gang hinaus, wo an dem Geländer eines Aufzuges ein kleinerLiftjunge schlafend lehnte. »Wir können uns selbst bedienen«, sagte die Oberköchin

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leise und ließ Karl in den Aufzug eintreten. »Eine Arbeitszeit von zehn bis zwölfStunden ist eben ein wenig zuviel für einen solchen Jungen«, sagte sie dann,während sie aufwärts fuhren. »Aber es ist eigentümlich in Amerika. Da ist dieserkleine Junge zum Beispiel, er ist auch erst vor einem halben Jahre mit seinenEltern hier angekommen, er ist ein Italiener. Jetzt sieht er aus, als könne er dieArbeit unmöglich aushalten, hat schon kein Fleisch im Gesicht, schläft im Dienst ein,obwohl er von Natur sehr bereitwillig ist - aber er muß nur noch ein halbes Jahr hieroder irgendwo anders in Amerika dienen und hält alles mit Leichtigkeit aus, und infünf Jahren wird er ein starker Mann sein. Von solchen Beispielen könnte ich Ihnenstundenlang erzählen. Dabei denke ich gar nicht an Sie, denn Sie sind ein kräftigerJunge; Sie sind siebzehn Jahre alt, nicht?«

»Ich werde nächstens Monat sechzehn«, antwortete Karl.

»Sogar erst sechzehn!« sagte die Oberköchin. »Also nur Mut!«

Oben führte sie Karl in ein Zimmer, das zwar schon als Dachzimmer eine schiefeWand hatte, im übrigen aber bei einer Beleuchtung durch zwei Glühbirnen sich sehrwohnlich zeigte. »Erschrecken Sie nicht über die Einrichtung«, sagte dieOberköchin, »es ist nämlich kein Hotelzimmer, sondern ein Zimmer meinerWohnung, die aus drei Zimmern besteht, so daß Sie mich nicht im geringstenstören. Ich sperre die Verbindungstüre ab, so daß Sie ganz ungeniert bleiben.Morgen, als neuer Hotelangestellter, werden Sie natürlich Ihr eigenes Zimmerchenbekommen. Wären Sie mit Ihren Kameraden gekommen, dann hätte ich Ihnen in dergemeinsamen Schlafkammer der Hausdiener aufbetten lassen, aber da Sie alleinsind, denke ich, daß es Ihnen hier besser passen wird, wenn Sie auch nur aufeinem Sofa schlafen müssen. Und nun schlafen Sie wohl, damit Sie sich für denDienst kräftigen. Er wird morgen noch nicht zu anstrengend sein.«

»Ich danke Ihnen vielmals für Ihre Freundlichkeit.«

»Warten Sie«, sagte sie, beim Ausgang stehenbleibend, »da wären Sie aber baldgeweckt worden.« Und sie ging zu der einen Seitentür des Zimmers, klopfte undrief: »Therese!«

»Bitte, Frau Oberköchin«, meldete sich die Stimme der kleinenSchreibmaschinistin. »Wenn du mich früh wecken gehst, so mußt du über den Ganggehen, hier im Zimmer schläft ein Gast. Er ist todmüde.« Sie lächelte Karl zu, währendsie dies sagte. »Hast du verstanden?«

»Ja, Frau Oberköchin.«

»Also dann gute Nacht!«

»Gute Nacht wünsch ich.«

»Ich schlafe nämlich«, sagte die Oberköchin zur Erklärung, »seit einigen Jahrenungemein schlecht. Jetzt kann ich ja mit meiner Stellung zufrieden sein undbrauche eigentlich keine Sorgen zu haben. Aber es müssen die Folgen meinerfrüheren Sorgen sein, die mir diese Schlaflosigkeit verursachen. Wenn ich um dreiUhr früh einschlafe, kann ich froh sein. Da ich aber schon um fünf, spätestens umhalb sechs wieder auf dem Platze sein muß, muß ich mich wecken lassen, und zwarbesonders vorsichtig, damit ich nicht noch nervöser werde, als ich es schon bin.Und da weckt mich eben die Therese. Aber jetzt wissen Sie wirklich schon alles,und ich komme gar nicht weg. Gute Nacht!« Und trotz ihrer Schwere huschte siefast aus dem Zimmer.

Karl freute sich auf den Schlaf, denn der Tag hatte ihn sehr hergenommen. Undbehaglichere Umgebung konnte er für einen langen, ungestörten Schlaf gar nichtwünschen. Das Zimmer war zwar nicht zum Schlafzimmer bestimmt, es war eherein Wohnzimmer, oder, richtiger, ein Repräsentationszimmer der Oberköchin, und

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ein Waschtisch war ihm zuliebe eigens für diesen Abend hergebracht worden, aberdennoch fühlte sich Karl nicht als Eindringling, sondern nur desto besser versorgt.Sein Koffer war richtig her gestellt und wohl schon lange nicht in größerer Sicherheitgewesen. Auf einem niedrigen Schrank mit Schiebefächern, über den einegroßmaschige wollene Decke gezogen war, standen verschiedene Photographienim Rahmen und unter Glas; bei der Besichtigung des Zimmers blieb Karl dastehen und sah sie an. Es waren meist alte Photographien und stellten in derMehrzahl Mädchen dar, die, in unmodernen, unbehaglichen Kleidern, mit lockeraufgesetzten, kleinen, aber hochgehenden Hüten, die rechte Hand auf einenSchirm gestützt, dem Beschauer zugewendet waren und doch mit den Blickenauswichen. Unter den Herrenbildnissen fiel Karl besonders das eines jungenSoldaten auf, der das Käppi auf ein Tischchen gelegt hatte, stramm mit seinemwilden schwarzen Haar dastand und voll von einem stolzen, aber unterdrücktenLachen war. Die Knöpfe seiner Uniform waren auf der Photographie nachträglichvergoldet worden. Alle diese Photographien stammten wohl noch aus Europa,man hätte dies auf der Rückseite wahrscheinlich auch genau ablesen können, aberKarl wollte sie nicht in die Hand nehmen. So wie diese Photographien hierstanden, so hätte er auch die Photographie seiner Eltern in seinem künftigenZimmer aufstellen mögen.

Gerade streckte er sich nach einer gründlichen Waschung des ganzen Körpers,die er, seiner Nachbarin wegen, möglichst leise durchzuführen sich bemüht hatte, imVorgenuß des Schlafes auf seinem Kanapee aus, da glaubte er ein schwachesKlopfen an einer Tür zu hören. Man konnte nicht gleich feststellen, an welcher Tür eswar, es konnte auch bloß ein zufälliges Geräusch sein. Es wiederholte sich auch nichtgleich, und Karl schlief schon fast, als es wieder erfolgte. Aber nun war keinZweifel mehr, daß es ein Klopfen war und von der Tür der Schreibmaschinistinherkam. Karl lief auf den Fußspitzen zur Tür hin und fragte so leise, daß es, wennman trotz allem nebenan doch schlief, niemanden hätte wecken können: »WünschenSie etwas?«

Sofort und ebenso leise kam die Antwort: »Möchten Sie nicht die Tür öffnen?

Der Schlüssel steckt auf Ihrer Seite.«

»Bitte«, sagte Karl, »ich muß mich nur zuerst anziehen.«

Es gab eine kleine Pause, dann hieß es: »Das ist nicht nötig. Machen Sie auf undlegen Sie sich ins Bett, ich werde ein wenig warten.«

»Gut«, sagte Karl und führte es auch so aus, nur drehte er außerdem noch daselektrische Licht an. »Ich liege schon«, sagte er dann etwas lauter. Da trat auchschon aus ihrem dunklen Zimmer die kleine Schreibmaschinistin, genau soangezogen wie unten im Büro, sie hatte wohl die ganze Zeit über nicht darangedacht, schlafen zu gehen. »Entschuldigen Sie vielmals«, sagte sie und standein wenig gebückt vor Karls Lager, »und verraten Sie mich, bitte, nicht. Ich will Sieauch nicht lange stören, ich weiß, daß Sie todmüde sind.«

»Es ist nicht so arg«, sagte Karl, »aber es wäre vielleicht doch besser gewesen,ich hätte mich angezogen.« Er mußte ausgestreckt daliegen, um bis an den Halszugedeckt sein zu können, denn er besaß kein Nachthemd. »Ich bleibe ja nur einenAugenblick«, sagte sie und griff nach einem Sessel.

»Kann ich mich zum Kanapee setzen?«

Karl nickte. Da setzte sie sich so eng zum Kanapee, daß Karl an die Mauer rückenmußte, um zu ihr aufschauen zu können. Sie hatte ein rundes, gleichmäßiges Gesicht,nur die Stirn war ungewöhnlich hoch, aber das konnte auch vielleicht nur an derFrisur liegen, die ihr nicht recht paßte. Ihr Anzug war sehr rein und sorgfältig. In derlinken Hand quetschte sie ein Taschentuch.

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»Werden Sie lange hierbleiben?« fragte sie.

»Es ist noch nicht ganz bestimmt«, antwortete Karl, »aber ich denke, ich werdebleiben.«

»Das wäre nämlich sehr gut«, sagte sie und fuhr mit dem Taschentuch über ihrGesicht, »ich bin hier nämlich so allein.«

»Das wundert mich«, sagte Karl. »Die Frau Oberköchin ist doch sehr freundlichzu Ihnen. Sie behandelt Sie gar nicht wie eine Angestellte. Ich dachte schon, Siewären Verwandte.«

»O nein«, sagte sie, »ich heiße Therese Berchtold, ich bin aus Pommern.«

Auch Karl stellte sich vor. Daraufhin sah sie ihn zum erstenmal voll an, als sei erihr durch die Namensnennung ein wenig fremder geworden. Sie schwiegen einWeilchen. Dann sagte sie: »Sie dürfen nicht glauben, daß ich undankbar bin. Ohnedie Frau Oberköchin stünde es ja mit mir viel schlechter. Ich war früher Küchenmädchenhier im Hotel und schon in großer Gefahr, entlassen zu werden, denn ich konntedie schwere Arbeit nicht leisten. Man stellt hier große Ansprüche. Vor einem Monatist ein Küchenmädchen nur vor Überanstrengung ohnmächtig geworden und vierzehnTage im Krankenhaus gelegen. Und ich bin nicht sehr stark, ich habe früher viel zuleiden gehabt und bin dadurch in der Entwicklung ein wenig zurückgeblieben; Siewürden wohl gar nicht sagen, daß ich schon achtzehn Jahre alt bin. Aber jetzt werdeich schon stärker.«

»Der Dienst hier muß wirklich sehr anstrengend sein«, sagte Karl. »Unten habeich jetzt einen Liftjungen stehend schlafen gesehen.«

»Dabei haben es die Liftjungen noch am besten«, sagte sie, » die verdienen ihrschönes Geld an Trinkgeldern und müssen sich schließlich doch bei weitem nicht soplagen wie die Leute in der Küche. Aber da habe ich wirklich einmal Glück gehabt,die Frau Oberköchin hat einmal ein Mädchen gebraucht, um die Servietten für einBankett herzurichten, hat zu uns Küchenmädchen heruntergeschickt, es gibt hier anfünfzig solcher Mädchen, ich war gerade bei der Hand und habe sie sehrzufriedengestellt, denn im Aufbauen der Servietten habe ich mich immerausgekannt. Und so hat sie mich von da an in ihrer Nähe behalten und allmählich zuihrer Sekretärin ausgebildet. Dabei habe ich sehr viel gelernt.«

»Gibt es denn da so viel zu schreiben? « fragte Karl.

»Ach, sehr viel,« antwortete sie, »das können Sie sich wahrscheinlich gar nichtvorstellen. Sie haben doch gesehen, daß ich heute bis halb zwölf gearbeitet habe,und heute ist kein besonderer Tag. Allerdings schreibe ich nicht immerfort,sondern habe auch viel Besorgungen in der Stadt zu machen.«

»Wie heißt denn die Stadt?« fragte Karl.

»Das wissen Sie nicht?« sagte sie, »Ramses.«

»Ist es eine große Stadt?« fragte Karl.

»Sehr groß«, antwortete sie, »ich gehe nicht gern hin. Aber wollen Sie nichtwirklich schon schlafen?«

»Nein, nein«, sagte Karl, »ich weiß ja noch gar nicht, warum Siehereingekommen sind.«

»Weil ich mit niemandem reden kann. Ich bin nicht wehleidig, aber wennwirklich niemand für einen da ist, so ist man schon glücklich, schließlich vonjemandem angehört zu werden. Ich habe Sie schon unten im Saal gesehen, ichkam gerade, um die Frau Oberköchin zu holen, als sie Sie in die Speisekammerwegführte.«

»Das ist ein schrecklicher Saal«, sagte Karl.

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»Ich merke es schon gar nicht mehr«, antwortete sie. »Aber ich wollte nursagen, daß ja die Frau Oberköchin so freundlich zu mir ist, wie es nur meine Mutterwar. Aber es ist doch ein zu großer Unterschied in unserer Stellung, als daß ich freimit ihr reden könnte. Unter den Küchenmädchen habe ich früher gute Freundinnengehabt, aber die sind schon längst nicht mehr hier, und die neuen Mädchen kenneich kaum. Schließlich kommt es mir manchmal vor, daß mich meine jetzige Arbeitmehr anstrengt als die frühere, daß ich sie aber nicht einmal so gut verrichte wie die,und daß mich die Frau Oberköchin nur aus Mitleid in meiner Stellung hält. Schließlichmuß man ja wirklich eine bessere Schulbildung gehabt haben, um Sekretärin zuwerden. Es ist eine Sünde, das zu sagen, aber oft und oft fürchte ich, wahnsinnig zuwerden. Um Gottes willen«, sagte sie plötzlich viel schneller und griff flüchtig nachKarls Schulter, da er die Hände unter der Decke hielt. »Sie dürfen aber der FrauOberköchin kein Wort davon sagen, sonst bin ich wirklich verloren. Wenn ich ihraußer den Umständen, die ich ihr durch meine Arbeit mache, auch noch Leidbereiten sollte, das wäre wirklich das Höchste.«

»Es ist selbstverständlich, daß ich ihr nichts sagen werde«, antwortete Karl.»Dann ist es gut«, sagte sie, »und bleiben Sie hier. Ich wäre froh, wenn Siehierblieben, und wir könnten, wenn es Ihnen recht ist, zusammenhalten. Gleich,wie ich Sie zum erstenmal gesehen habe, habe ich Vertrauen zu Ihnen gehabt.Und trotzdem - denken Sie, so schlecht bin ich - habe ich auch Angst gehabt, dieFrau Oberköchin könnte Sie an meiner Stelle zum Sekretär machen und michentlassen. Erst wie ich da lange allein gesessen bin, während Sie unten im Bürowaren, habe ich mir die Sache so zurechtgelegt, daß es sogar sehr gut wäre, wennSie meine Arbeiten übernähmen, denn die würden Sie sicher besser verstehen.Wenn Sie die Besorgungen in der Stadt nicht machen wollten, könnte ich ja dieseArbeit behalten. Sonst aber wäre ich in der Küche gewiß viel nützlicher, besonders daich auch schon etwas stärker geworden bin.« »Die Sache ist schon geordnet«,sagte Karl, »ich werde Liftjunge und Sie bleiben Sekretärin. Wenn Sie aber derFrau Oberköchin nur die geringste Andeutung von Ihren Plänen machen, verrate ichauch das übrige, was Sie mir heute gesagt haben, so leid es mir tun würde.«

Diese Tonart erregte Therese so sehr, daß sie sich beim Bett niederwarf undwimmernd das Gesicht ins Bettzeug drückte.

»Ich verrate ja nichts«, sagte Karl, »aber Sie dürfen auch nichts sagen.«

Nun konnte er nicht mehr ganz unter seiner Decke versteckt bleiben, streichelteein wenig ihren Arm, fand nichts Rechtes, was er ihr sagen könne, und dachte nur,daß hier ein bitteres Leben sei. Endlich beruhigte sie sich wenigstens so weit, daßsie sich ihres Weinens schämte, sah Karl dankbar an, redete ihm zu, morgen langezu schlafen, und versprach, wenn sie Zeit fände, gegen acht Uhr heraufzukommenund ihn zu wecken.

»Sie wecken ja so geschickt«, sagte Karl.

»Ja, einiges kann ich«, sagte sie, fuhr mit der Hand zum Abschied sanft überseine Decke hin und lief in ihr Zimmer.

Am nächsten Tag bestand Karl darauf, gleich seinen Dienst anzutreten, obwohlihm die Oberköchin diesen Tag für die Besichtigung von Ramses freigeben wollte.Aber Karl erklärte offen, dafür werde sich noch Gelegenheit finden, jetzt sei es für ihndas Wichtigste, mit der Arbeit anzufangen, denn eine auf ein anderes Zielgerichtete Arbeit habe er schon in Europa nutzlos abgebrochen und fange alsLiftjunge in einem Alter an, in dem wenigstens die tüchtigeren Jungen nahe daranseien, in natürlicher Folge eine höhere Arbeit zu übernehmen. Es sei ganz richtig, daßer als Liftjunge anfange, aber ebenso richtig sei, daß er sich besonders beeilenmüsse. Bei diesen Umständen würde ihm die Besichtigung der Stadt gar kein

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Vergnügen machen. Nicht einmal zu einem kurzen Weg, zu dem ihn Thereseaufforderte, konnte er sich entschließen. Immer schwebte ihm der Gedanke vorAugen, es könne schließlich mit ihm, wenn er nicht fleißig sei, so weit kommen wiemit Delamarche und Robinson.

Beim Hotelschneider wurde ihm die Liftjungenuniform anprobiert, die äußerlichsehr prächtig mit Goldknöpfen und Goldschnüren ausgestattet war, bei derenAnziehen es Karl aber doch ein wenig schauderte, denn besonders unter denAchseln war das Röckchen kalt, hart und dabei unaustrockbar naß von dem Schweißder Liftjungen, die es vor ihm getragen hatten. Die Uniform mußte auch vor allemüber der Brust eigens für Karl erweitert werden, denn keine der zehn vorliegendenwollte auch nur beiläufig passen. Trotz dieser Näharbeit, die hier notwendig war,und obwohl der Meister sehr peinlich schien - zweimal flog die bereits abgelieferteUniform aus seiner Hand in die Werkstatt zurück -, war alles in kaum fünf Minutenerledigt, und Karl verließ das Atelier schon als Liftjunge mit anliegenden Hosen undeinem, trotz der bestimmten gegenteiligen Zusicherung des Meisters, sehrbeengenden Jäckchen, das immer wieder zu Atemübungen verlockte, da mansehen wollte, ob das Atmen noch immer möglich war.

Dann meldete er sich bei jenem Oberkellner, unter dessen Befehl er stehensollte, einem schlanken, schönen Mann mit großer Nase, der wohl schon in denVierzigern stehen konnte. Er hatte keine Zeit, sich auch nur auf das geringsteGespräch einzulassen, und läutete bloß einen Liftjungen herbei, zufällig gerade jenen,den Karl gestern gesehen hatte. Der Oberkellner nannte ihn nur bei seinemTaufnamen Giacomo, was Karl erst später erfuhr, denn in der englischenAussprache war der Name nicht zu erkennen. Dieser Junge bekam nun denAuftrag, Karl das für den Liftdienst Notwendige zu zeigen, aber er war so scheuund eilig, daß Karl von ihm, so wenig auch im Grunde zu zeigen war, kaum diesesWenige erfahren konnte. Sicher war Giacomo auch deshalb verärgert, weil er denLiftdienst offenbar Karls halber verlassen mußte und den Zimmermädchen zurHilfeleistung zugeteilt war, was ihm nach bestimmten Erfahrungen, die er aberverschwieg, entehrend vorkam. Enttäuscht war Karl vor allem dadurch, daß einLiftjunge mit der Maschinerie des Aufzuges nur insoferne etwas zu tun hatte, alser ihn durch einen einfachen Druck auf den Knopf in Bewegung setzte, während fürReparaturen am Triebwerk derartig ausschließlich die Maschinisten des Hotelsverwendet wurden, daß zum Beispiel Giacomo trotz halbjährigem Dienst beim Liftweder das Triebwerk im Keller noch die Maschinerie im Innern des Aufzuges miteigenen Augen gesehen hatte, obwohl ihn dies, wie er ausdrücklich sagte, sehrgefreut hätte. Überhaupt war es ein einförmiger Dienst und wegen der zwölfstündigenArbeitszeit, abwechselnd bei Tag und Nacht, so anstrengend, daß er nachGiacomos Angaben überhaupt nicht auszuhalten war, wenn man nichtminutenweise im Stehen schlafen konnte. Karl sagte hierzu nichts, aber er begriffwohl, daß gerade diese Kunst Giacomo die Stelle gekostet hatte.

Sehr willkommen war es Karl, daß der Aufzug, den er zu besorgen hatte, nur fürdie obersten Stockwerke bestimmt war, weshalb er es nicht mit denanspruchsvollsten reichen Leuten zu tun haben würde. Allerdings konnte man hierauch nicht so viel lernen wie anderswo und es war nur für den Anfang gut.

Schon nach der ersten Woche sah Karl ein, daß er dem Dienst vollständiggewachsen war. Das Messing seines Aufzuges war am besten geputzt, keiner derdreißig anderen Aufzüge konnte sich damit vergleichen, und es wäre vielleicht nochleuchtender gewesen, wenn der Junge, der bei dem gleichen Aufzug diente, auchnur annähernd so fleißig gewesen wäre und sich nicht in seiner Lässigkeit durch KarlsFleiß unterstützt gefühlt hätte. Es war ein geborener Amerikaner, namens Renell, eineitler Junge mit dunklen Augen und glatten, etwas gehöhlten Wangen. Er hatte

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einen eleganten Privatanzug, in dem er an dienstfreien Abenden leicht parfümiertin die Stadt eilte; hie und da bat er auch Karl, ihn abends zu vertreten, da er inFamilienangelegenheiten weggehen müsse, und es kümmerte ihn wenig, daß seinAussehen allen solchen Ausreden widersprach. Trotzdem konnte ihn Karl gutleiden und hatte es gern, wenn Renell an solchen Abenden vor dem Ausgehen inseinem Privatanzug unten beim Lift vor ihm stehenblieb, sich noch ein wenigentschuldigte, während er die Handschuhe über die Finger zog, und dann durch denKorridor abging. Im übrigen wollte ihm Karl mit diesen Vertretungen nur eineGefälligkeit machen, wie sie ihm gegenüber einem älteren Kollegen am Anfangselbstverständlich schien, eine dauernde Einrichtung sollte es nicht werden. Dennermüdend genug war dieses ewige Fahren im Lift allerdings und gar in denAbendstunden hatte es fast keine Unterbrechung. Bald lernte Karl auch diekurzen, tiefen Verbeugungen machen, die man von den Liftjungen verlangt, unddas Trinkgeld fing er im Fluge ab. Es verschwand in seiner Westentasche, undniemand hätte nach seinen Mienen sagen können, ob es groß oder klein war. VorDamen öffnete er die Tür mit einer kleinen Beigabe von Galanterie und schwangsich in den Aufzug langsam hinter ihnen, die in Sorge um ihre Röcke, Hüte undBehänge zögernder als Männer einzutreten pflegten. Während der Fahrt stand er, weildies das unauffälligste war, knapp bei der Tür, mit dem Rücken zu seinen Fahrgästen,und hielt den Griff der Aufzugstür, um sie im Augenblick der Ankunft plötzlich unddoch nicht etwa erschreckend seitwärts wegzustoßen. Selten nur klopfte ihm einerwährend der Fahrt auf die Schulter, um irgendeine kleine Auskunft zu bekommen,dann drehte er sich eilig um, als habe er es erwartet, und gab mit lauter StimmeAntwort. Oft gab es trotz den vielen Aufzügen, besonders nach Schluß der Theateroder nach Ankunft bestimmter Expreßzüge, ein solches Gedränge, daß er, kaum daßdie Gäste oben entlassen waren, wieder hinunterrasen mußte, um die dortWartenden aufzunehmen. Er hatte auch die Möglichkeit, durch Ziehen an einemdurch den Aufzugskasten hindurchgehenden Drahtseil, die gewöhnlicheSchnelligkeit zu steigern, allerdings war dies durch die Aufzugsordnung verbotenund sollte auch gefährlich sein. Karl tat es auch niemals, wenn er mit Passagierenfuhr, aber wenn er sie oben abgesetzt hatte und unten andere warteten, dannkannte er keine Rücksicht und arbeitete an dem Seil mit starken, taktmäßigen Griffenwie ein Matrose. Er wußte übrigens, daß dies die anderen Liftjungen auch taten, under wollte seine Passagiere nicht an andere Jungen verlieren. Einzelne Gäste, dielängere Zeit im Hotel wohnten, was hier übrigens ziemlich gebräuchlich war, zeigtenhie und da durch ein Lächeln, daß sie Karl als ihren Liftjungen erkannten, Karl nahmdiese Freundlichkeit mit ernstem Gesicht, aber gerne an. Manchmal, wenn derVerkehr etwas schwächer war, konnte er auch besondere kleine Aufträgeannehmen, zum Beispiel, einem Hotelgast, der sich nicht erst in sein Zimmerbemühen wollte, eine im Zimmer vergessene Kleinigkeit zu holen, dann flog er inseinem in solchen Augenblicken ihm besonders vertrauten Aufzug allein hinauf,trat in das fremde Zimmer, wo meistens sonderbare Dinge, die er nie gesehenhatte, herumlagen oder an den Kleiderrechen hingen, fühlte den charakteristischenGeruch einer fremden Seife, eines Parfüms, eines Mundwassers und eilte, ohnesich im geringsten aufzuhalten, mit dem meist trotz undeutlichen Angabengefundenen Gegenstand wieder zurück. Oft bedauerte er, größere Aufträge nichtübernehmen zu können, da hierfür eigene Diener und Botenjungen bestimmt waren,die ihre Wege auf Fahrrädern, ja sogar Motorrädern besorgten. Nur zu Botengängenaus den Zimmern in die Speise- oder Spielsäle konnte sich Karl bei günstigerGelegenheit verwenden lassen.

Wenn er nach der zwölfstündigen Arbeitszeit drei Tage lang um sechs Uhrabends, die nächsten drei Tage um sechs Uhr früh aus der Arbeit kam, war er somüde, daß er geradewegs, ohne sich um jemanden zu kümmern, in sein Bett ging. Es

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lag im gemeinsamen Schlafsaal der Liftjungen, die Frau Oberköchin, deren Einflußvielleicht doch nicht so groß war, wie er am ersten Abend geglaubt hatte, hatte sichzwar bemüht, ihm ein eigenes Zimmerchen zu verschaffen, und es wäre ihr wohlauch gelungen, aber da Karl sah, welche Schwierigkeiten es machte und wie dieOberköchin öfters mit seinem Vorgesetzten, jenem so beschäftigten Oberkellner,wegen dieser Sache telephonierte, verzichtete er darauf und überzeugte dieOberköchin von dem Ernst seines Verzichtes mit dem Hinweis darauf, daß er vonden anderen Jungen wegen eines nicht eigentlich selbsterarbeiteten Vorzugesnicht beneidet werden wolle.

Ein ruhiges Schlafzimmer war dieser Schlafsaal allerdings nicht. Denn da jedereinzelne die freie Zeit von zwölf Stunden verschiedenartig auf Essen, Schlaf,Vergnügen und Nebenverdienst verteilte, war im Schlafsaal immerfort die größteBewegung. Da schliefen einige und zogen die Decke über die Ohren, um nichts zuhören; wurde doch einer geweckt, dann schrie er so wütend über das Geschrei deranderen, daß auch die übrigen noch so guten Schläfer nicht standhalten konnten.Fast jeder Junge hatte seine Pfeife, so wurde damit eine Art Luxus getrieben,auch Karl hatte sich eine angeschafft und fand bald Geschmack an ihr. Nun durfteaber im Dienst nicht geraucht werden, die Folge dessen war, daß im Schlafsaaljeder, solange er nicht unbedingt schlief, auch rauchte. Infolgedessen stand jedesBett in einer eigenen Rauchwolke und alles in einem allgemeinen Dunst. Es warunmöglich durchzusetzen, obwohl eigentlich die Mehrzahl grundsätzlich zustimmte,daß in der Nacht nur an einem Ende des Saales das Licht brennen sollte. Wäredieser Vorschlag durchgedrungen, dann hätten diejenigen, welche schlafenwollten, dies im Dunkel der einen Saalhälfte - es war ein großer Saal mit vierzigBetten - ruhig tun können, während die anderen im beleuchteten Teil Würfel oderKarten hätten spielen und alles übrige besorgen können, wozu Licht nötig war. Hätteeiner, dessen Bett in der beleuchteten Saalhälfte stand, schlafen gehen wollen, sohätte er sich in eines der freien Betten im Dunkel legen können, denn es standenimmer Betten genug frei, und niemand wendete gegen eine derartigevorübergehende Benützung seines Bettes durch einen anderen etwas ein. Aber esgab keine Nacht, in der diese Einteilung befolgt worden wäre. Immer wieder fandensich zum Beispiel zwei, welche, nachdem sie das Dunkel zu etwas Schlafausgenutzt hatten, Lust bekamen, in ihren Betten auf einem zwischen siegelegten Brett Karten zu spielen, und natürlich drehten sie eine passendeelektrische Lampe auf, deren stechendes Licht die Schlafenden, wenn sie ihmzugewendet waren, auffahren ließ. Man wälzte sich zwar noch ein wenig herum,fand aber schließlich auch nichts Besseres zu tun, als mit dem gleichfallsgeweckten Nachbarn auch ein Spiel bei neuer Beleuchtung vorzunehmen. Undwieder dampften natürlich auch alle Pfeifen. Es gab allerdings auch einige, die umjeden Preis schlafen wollten - Karl gehörte meist zu ihnen - und die, statt den Kopfaufs Kissen zu legen, ihn mit dem Kissen bedeckten oder hineinwickelten; aberwie wollte man im Schlaf bleiben, wenn der nächste Nachbar in tiefer Nachtaufstand, um vor dem Dienst noch ein wenig in der Stadt dem Vergnügennachzugehen, wenn er in dem am Kopfende des eigenen Bettes angebrachtenWaschbecken laut und wassersprühend sich wusch, wenn er die Stiefel nicht nurpolternd anzog, sondern stampfend sich besser in sie hineintreten wollte - fastalle hatten trotz amerikanischer Stiefelform zu enge Stiefel -, um dann schließlich,da ihm eine Kleinigkeit in seiner Ausstattung fehlte, das Kissen des Schlafendenzu heben, unter dem man, allerdings schon längst geweckt, nur darauf wartete, aufihn loszufahren? Nun waren sie aber auch alle Sportsleute und junge, meistkräftige Burschen, die keine Gelegenheit zu sportlichen Übungen versäumen wollten.Und man konnte sicher sein, wenn man in der Nacht, mitten aus dem Schlafdurch großen Lärm geweckt, aufsprang, auf dem Boden neben seinem Bett zwei

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Ringkämpfer zu finden und bei greller Beleuchtung auf allen Betten in der Rundeaufrecht stehende Sachverständige in Hemd und Unterhosen. Einmal fiel anläßlicheines solchen nächtlichen Boxkampfes einer der Kämpfer über den schlafenden Karl,und das erste, was Karl beim Öffnen der Augen erblickte, war das Blut, das demJungen aus der Nase rann und, ehe man noch etwas dagegen unternehmenkonnte, das ganze Bettzeug überfloß. Oft verbrachte Karl fast die ganzen zwölfStunden mit Versuchen, einige Stunden Schlaf zu gewinnen, obwohl es ihn auchsehr lockte, an den Unterhaltungen der anderen teilzunehmen; aber immer wiederschien es ihm, daß alle anderen in ihrem Leben einen Vorsprung vor ihm hatten,den er durch fleißigere Arbeit und ein wenig Verzichtleistung ausgleichen müsse.Obwohl ihm also hauptsächlich seiner Arbeit wegen am Schlaf sehr gelegen war,beklagte er sich doch weder gegenüber der Oberköchin, noch gegenüber Thereseüber die Verhältnisse im Schlafsaal, denn erstens trugen im ganzen und großen alleJungen schwer daran, ohne sich ernstlich zu beklagen, und zweitens war diePlage im Schlafsaal ein notwendiger Teil seiner Aufgabe als Liftjunge, die er jaaus den Händen der Oberköchin dankbar übernommen hatte. Einmal in der Wochehatte er beim Schichtwechsel vierundzwanzig Stunden frei, die er zum Teil dazuverwendete, bei der Oberköchin ein, zwei Besuche zu machen und mit Therese,deren kärgliche freie Zeit er abpaßte, irgendwo, in einem Winkel, auf einem Korridorund selten nur in ihrem Zimmer, einige flüchtige Reden auszutauschen. Manchmalbegleitete er sie auch auf ihren Besorgungen in der Stadt, die alle höchst eiligausgeführt werden mußten. Dann liefen sie fast, Karl mit ihrer Tasche in der Hand,zur nächsten Station der Untergrundbahn, die Fahrt verging im Nu, als werde derZug ohne jeden Widerstand nur hingerissen, schon waren sie ihm entstiegen,klapperten, statt auf den Aufzug zu warten, der ihnen zu langsam war, die Stufenhinauf, die großen Plätze, von denen sternförmig die Straßen auseinanderflogen,erschienen und brachten ein Getümmel in den von allen Seiten geradlinigströmenden Verkehr, aber Karl und Therese eilten eng beisammen in dieverschiedenen Büros, Waschanstalten, Lagerhäuser und Geschäfte, in denentelephonisch nicht leicht zu besorgende, im übrigen nicht besondersverantwortliche Bestellungen oder Beschwerden auszurichten waren. Theresemerkte bald, daß Karls Hilfe hierbei nicht zu verachten war, daß sie vielmehr invieles eine große Beschleunigung brachte. Niemals mußte sie in seiner Begleitungwie sonst oft darauf warten, daß die überbeschäftigten Geschäftsleute sie anhörten. Ertrat an das Pult und klopfte so lange mit den Knöcheln darauf, bis es half, er riefüber Menschenmauern sein noch immer etwas überspitztes, aus hundert Stimmenleicht herauszuhörendes Englisch hin, er ging auf die Leute ohne Zögern zu, undmochten sie sich hochmütig in die Tiefe der längsten Geschäftssäle zurückgezogenhaben. Er tat es nicht aus Übermut und würdigte jeden Widerstand, aber er fühlte sichin einer sicheren Stellung, die ihm Rechte gab, das Hotel Occidental war eineKundschaft, deren man nicht spotten durfte, und schließlich war Therese trotz ihrergeschäftlichen Erfahrung hilfsbedürftig. »Sie sollten immer mitkommen«, sagte siemanchmal, glücklich lachend, wenn sie von einer besonders gut ausgeführtenUnternehmung kamen.

Nur dreimal während der eineinhalb Monate, die Karl in Ramses blieb, war erlängere Zeit, über ein paar Stunden, in Thereses Zimmerchen. Es war natürlichkleiner als irgendein Zimmer der Oberköchin, die wenigen Dinge, welche darinstanden, waren gewissermaßen nur um das Fenster gelagert, aber Karl verstandschon nach seinen Erfahrungen aus dem Schlafsaal den Wert eines eigenen,verhältnismäßig ruhigen Zimmers, und wenn er es auch nicht ausdrücklich sagte, somerkte Therese doch, wie ihm ihr Zimmer gefiel. Sie hatte keine Geheimnisse vorihm, und es wäre auch nicht gut möglich gewesen, nach ihrem Besuch damals, amersten Abend, noch Geheimnisse vor ihm zu haben. Sie war ein uneheliches

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Kind, ihr Vater war Baupolier und hatte die Mutter und das Kind aus Pommernsich nachkommen lassen; aber als hätte er damit seine Pflicht erfüllt oder als hätte erandere Menschen erwartet als die abgearbeitete Frau und das schwache Kind,die er an der Landungsstelle in Empfang nahm, war er bald nach ihrer Ankunftohne viel Erklärungen nach Kanada ausgewandert, und die Zurückgebliebenenhatten weder einen Brief noch eine sonstige Nachricht von ihm erhalten, was zumTeil auch nicht zu verwundern war, denn sie waren in den Massenquartieren desNew Yorker Ostens unauffindbar verloren.

Einmal erzählte Therese - Karl stand neben ihr beim Fenster und sah auf dieStraße - vom Tode ihrer Mutter. Wie die Mutter und sie an einem Winterabend - siekonnte damals etwa fünf Jahre alt gewesen sein - jede mit ihrem Bündel durch dieStraßen eilten, um Schlafstellen zu suchen. Wie die Mutter sie zuerst bei der Handführte - es war ein Schneesturm und nicht leicht vorwärtszukommen -, bis die Handerlahmte und sie Therese, ohne sich nach ihr umzusehen, losließ, die sich nunMühe geben mußte, sich selbst an den Röcken der Mutter festzuhalten. Oft stolperteTherese und fiel sogar, aber die Mutter war wie in einem Wahn und hielt nicht an.Und diese Schneestürme in den langen, geraden New Yorker Straßen! Karl hattenoch keinen Winter in New York mitgemacht. Geht man gegen den Wind, und derdreht sich im Kreise, kann man keinen Augenblick die Augen öffnen, immerfortzerreibt einem der Wind den Schnee auf dem Gesicht, man läuft, aber kommt nichtweiter, es ist etwas Verzweifeltes. Ein Kind ist dabei natürlich gegen dieErwachsenen im Vorteil, es läuft unter dem Wind durch und hat noch ein wenigFreude an allem. So hatte auch damals Therese ihre Mutter nicht ganz begreifenkönnen, und sie war fest davon überzeugt, daß, wenn sie sich an jenem Abend klüger -sie war eben noch ein so kleines Kind - zu ihrer Mutter verhalten hätte, diese nichteinen so jammervollen Tod hätte erleiden müssen. Die Mutter war damals schonzwei Tage ohne Arbeit gewesen, nicht das kleinste Geldstück war mehrvorhanden, der Tag war ohne einen Bissen im Freien verbracht worden, und inihren Bündeln schleppten sie nur unbrauchbare Fetzen mit sich herum, die sie,vielleicht aus Aberglauben, nicht wegzuwerfen wagten. Nun war der Mutter für dennächsten Morgen Arbeit bei einem Bau in Aussicht gestellt worden, aber siefürchtete, wie sie Therese den ganzen Tag über zu erklären suchte, die günstigeGelegenheit nicht ausnutzen zu können, denn sie fühlte sich todmüde, hatte schonam Morgen zum Schrecken der Passanten auf der Gasse viel Blut gehustet, undihre einzige Sehnsucht war, irgendwo in die Wärme zu kommen und sichauszuruhen. Und gerade an diesem Abend war es unmöglich, ein Plätzchen zubekommen. Dort, wo sie nicht schon vom Hausbesorger aus dem Torganggewiesen wurden, in dem man sich immerhin vom Wetter ein wenig hätte erholenkönnen, durcheilten sie die engen, eisigen Korridore, durchstiegen die hohenStockwerke, umkreisten die schmalen Terrassen der Höfe, klopften wahllos anTüren, wagten einmal niemanden anzusprechen, baten dann jeden, der ihnenentgegenkam, und einmal oder zweimal hockte die Mutter atemlos auf der Stufeeiner stillen Treppe nieder, riß Therese, die sich fast wehrte, an sich und küßte sie mitschmerzhaftem Anpressen der Lippen. Wenn man nachher weiß, daß das dieletzten Küsse waren, begreift man nicht, daß man, und mag man ein kleiner Wurmgewesen sein, so blind sein konnte, das nicht einzusehen. In manchen Zimmern,an denen sie vorüberkamen, waren die Türen geöffnet, um eine erstickende Luftherauszulassen, und aus dem rauchigen Dunst, der, wie durch einen Brandverursacht, die Zimmer erfüllte, trat nur die Gestalt irgend jemandes hervor, der imTürrahmen stand und entweder durch seine stumme Gegenwart oder durch einkurzes Wort die Unmöglichkeit eines Unterkommens in dem betreffenden Zimmerbewies. Therese schien es jetzt im Rückblick, daß die Mutter nur in den erstenStunden ernstlich einen Platz suchte, denn nachdem etwa Mitternacht vorüber war,

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hat sie wohl niemanden mehr angesprochen, obwohl sie mit kleinen Pausen biszur Morgendämmerung nicht aufhörte weiterzueilen und obwohl in diesen Häusern, indenen weder Haustore noch Wohnungstüren je verschlossen werden, immerfortLeben ist und einem auf Schritt und Tritt Menschen begegnen. Natürlich war eskein Laufen, das sie rasch weiterbrachte, sondern es war nur die äußersteAnstrengung, deren sie fähig war, und es konnte in Wirklichkeit ganz gut auch bloßein Schleichen sein. Therese wußte auch nicht, ob sie von Mitternacht bis fünf Uhrfrüh in zwanzig Häusern oder in zwei oder gar nur in einem Haus gewesen waren.Die Korridore dieser Häuser sind nach schlauen Plänen der bestenRaumausnützung, aber ohne Rücksicht auf leichte Orientierung angelegt; wie oftwaren sie wohl durch die gleichen Korridore gekommen! Therese hatte wohl indunkler Erinnerung, daß sie das Tor eines Hauses, das sie ewig durchsucht hatten,wieder verließen, aber ebenso schien es ihr, daß sie sich auf der Gasse gleichumgewandt und wieder in dieses Haus gestürzt hätten. Für das Kind war es natürlichein unbegreifliches Leid, einmal von der Mutter gehalten, einmal sich an ihrfesthaltend, ohne ein kleines Wort des Trostes mitgeschleift zu werden, und dasGanze schien damals für seinen Unverstand nur die Erklärung zu haben, daß dieMutter von ihm weglaufen wolle. Darum hielt sich Therese desto fester, selbstwenn die Mutter sie an einer Hand hielt, der Sicherheit halber auch noch mit deranderen Hand an den Röcken der Mutter, und heulte in Abständen. Sie wollte nichthier zurückgelassen werden, zwischen den Leuten, die vor ihnen die Treppestampfend emporstiegen, die hinter ihnen, noch nicht zu sehen, hinter einerWendung der Treppe herankamen, die in den Gängen vor einer Tür Streitmiteinander hatten und einander gegenseitig in das Zimmer hineinstießen.Betrunkene wanderten mit dumpfem Gesang im Haus umher, und glücklichschlüpfte noch die Mutter mit Therese durch solche sich gerade schließendeGruppen. Gewiß hätten sie spät in der Nacht, wo man nicht mehr so achtgab undniemand mehr unbedingt auf seinem Recht bestand, wenigstens in einen derallgemeinen, von Unternehmern vermieteten Schlafsäle sich drängen können, anderen einigen sie vorüberkamen, aber Therese verstand es nicht, und die Mutterwollte keine Ruhe mehr. Am Morgen, dem Beginn eines schönen Wintertages,lehnten sie beide an einer Hausmauer und hatten dort vielleicht ein weniggeschlafen, vielleicht nur mit offenen Augen herumgestarrt. Es zeigte sich, daßTherese ihr Bündel verloren hatte, und die Mutter machte sich daran, Therese zurStrafe für die Unachtsamkeit zu schlagen, aber Therese hörte keinen Schlag undspürte keinen. Sie gingen dann weiter durch die sich belebenden Gassen, dieMutter an der Mauer, kamen über eine Brücke, wo die Mutter mit der Hand den Reifvom Geländer streifte, und gelangten schließlich, damals hatte Therese eshingenommen, heute verstand sie es nicht, gerade zu jenem Bau, zu dem dieMutter für jenen Morgen bestellt war. Sie sagte Therese nicht, ob sie warten oderweggehen solle, und Therese nahm dies als Befehl zum Warten, da dies ihrenWünschen am besten entsprach. Sie setzte sich also auf einen Ziegelhaufen undsah zu, wie die Mutter ihr Bündel aufschnürte, einen bunten Fetzen herausnahmund damit ihr Kopftuch umband, das sie während der ganzen Nacht getragenhatte. Therese war zu müde, als daß ihr auch nur der Gedanke gekommen wäre, derMutter zu helfen. Ohne sich in der Bauhütte zu melden, wie dies üblich war, undohne jemanden zu fragen, stieg die Mutter eine Leiter hinauf, als wisse sie schonselbst, welche Arbeit ihr zugeteilt war. Therese wunderte sich darüber, da dieHandlangerinnen gewöhnlich nur unten mit Kalklöschen, mit dem Hinreichen derZiegel und mit sonstigen einfachen Arbeiten beschäftigt werden. Sie dachte daher,die Mutter wolle heute eine besser bezahlte Arbeit ausführen, und lächelteverschlafen zu ihr hinauf. Der Bau war noch nicht hoch, kaum bis zum Erdgeschoß,gediehen, wenn auch schon die hohen Gerüststangen für den weiteren Bau,

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allerdings noch ohne Verbindungshölzer, zum blauen Himmel ragten. Obenumging die Mutter geschickt die Maurer, die Ziegel auf Ziegel legten und sieunbegreiflicherweise nicht zur Rede stellten, sie hielt sich vorsichtig mit zarterHand an einem Holzverschlag, der als Geländer diente, und Therese staunte untenin ihrem Dusel diese Geschicklichkeit an und glaubte noch einen freundlichenBlick der Mutter erhalten zu haben. Nun kam aber die Mutter auf ihrem Gang zueinem kleinen Ziegelhaufen, vor dem das Geländer und wahrscheinlich auch derWeg aufhörte, aber sie hielt sich nicht daran, ging auf den Ziegelhaufen los, ihreGeschicklichkeit schien sie verlassen zu haben, sie stieß den Ziegelhaufen um undfiel über ihn hinweg in die Tiefe. Viele Ziegel rollten ihr nach und schließlich, eineganze Weile später, löste sich irgendwo ein schweres Brett los und krachte auf sienieder. Die letzte Erinnerung Thereses an ihre Mutter war, wie sie mitauseinandergestreckten Beinen dalag in dem karierten Rock, der noch ausPommern stammte, wie jenes auf ihr liegende rohe Brett sie fast bedeckte, wienun die Leute von allen Seiten zusammenliefen und wie oben vom Bau irgendeinMann zornig etwas hinunterrief.

Es war spät geworden, als Therese ihre Erzählung beendet hatte. Sie hatteausführlich erzählt, wie es sonst nicht ihre Gewohnheit war, und gerade beigleichgültigen Stellen, wie bei der Beschreibung der Gerüststangen, die jede für sichallein in den Himmel ragten, hatte sie mit Tränen in den Augen innehalten müssen.Sie wußte jede Kleinigkeit, die damals vorgefallen war, jetzt, nach zehn Jahren,ganz genau, und weil der Anblick ihrer Mutter oben im halbfertigen Erdgeschoßdas letzte Andenken an das Leben der Mutter war und sie es ihrem Freunde garnicht deutlich genug überantworten konnte, wollte sie nach dem Schlusse ihrerErzählung noch einmal darauf zurückkommen, stockte aber, legte das Gesicht in dieHände und sagte kein Wort mehr.

Es gab aber auch lustigere Zeiten in Theresens Zimmer. Gleich bei seinemersten Besuch hatte Karl dort ein Lehrbuch der kaufmännischen Korrespondenzliegen gesehen und auf seine Bitten geborgt erhalten. Es wurde gleichzeitigbesprochen, daß Karl die im Buch enthaltenen Aufgaben machen und Therese, diedas Buch, soweit es für ihre kleinen Arbeiten nötig war, schon durchstudiert hatte,zur Durchsicht vorlegen solle. Nun lag Karl ganze Nächte lang, Watte in denOhren, unten auf seinem Bett im Schlafsaal, der Abwechslung halber in allenmöglichen Lagen, las im Buch und kritzelte die Aufgaben in ein Heftchen, mit einerFüllfeder, die ihm die Oberköchin zur Belohnung dafür geschenkt hatte, daß er für sieein großes Inventarverzeichnis sehr praktisch angelegt und rein ausgeführt hatte. Esgelang ihm, die meisten Störungen der anderen Jungen dadurch zum Guten zuwenden, daß er sich von ihnen immer kleine Ratschläge in der englischen Sprachegeben ließ, bis sie dessen müde wurden und ihn in Ruhe ließen. Oft staunte er, wiedie anderen mit ihrer gegenwärtigen Lage ganz ausgesöhnt waren, ihrenprovisorischen Charakter - ältere als zwanzigjährige Liftjungen wurden nichtgeduldet - gar nicht fühlten, die Notwendigkeit einer Entscheidung über ihrenkünftigen Beruf nicht einsahen und trotz Karls Beispiel nichts anderes lasen alshöchstens Detektivgeschichten, die in schmutzigen Fetzen von Bett zu Bettgereicht wurden. Bei den Zusammenkünften korrigierte nun Therese mit übergroßerUmständlichkeit; es ergaben sich strittige Ansichten, Karl führte als Zeugen seinengroßen New Yorker Professor an, aber der galt bei Therese ebenso wenig wie diegrammatikalischen Meinungen der Liftjungen. Sie nahm ihm die Füllfeder aus derHand und strich die Stelle, von deren Fehlerhaftigkeit sie überzeugt war, durch,Karl aber strich in solchen Zweifelsfällen, obwohl im allgemeinen keine höhereAutorität als Therese die Sache zu Gesicht bekommen sollte, aus Genauigkeit dieStriche Theresens wieder durch. Manchmal allerdings kam die Oberköchin undentschied dann immer zu Theresens Gunsten, was noch nicht beweisend war,

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denn Therese war ihre Sekretärin. Gleichzeitig aber brachte sie die allgemeineVersöhnung, denn es wurde Tee gekocht, Gebäck geholt, und Karl mußte vonEuropa erzählen, allerdings mit vielen Unterbrechungen von seiten der Oberköchin,die immer wieder fragte und staunte, wodurch sie Karl zu Bewußtsein brachte, wievieles sich dort in verhältnismäßig kurzer Zeit von Grund aus geändert hatte und wievieles wohl auch schon seit seiner Abwesenheit anders geworden war undimmerfort anders wurde. Karl mochte etwa einen Monat in Ramses gewesen sein,als ihm eines Abends Renell im Vorübergehen sagte, er sei vor dem Hotel voneinem Mann mit Namen Delamarche angesprochen und nach Karl ausgefragtworden. Renell habe nun keinen Grund gehabt, etwas zu verschweigen, undhabe der Wahrheit gemäß erzählt, daß Karl Liftjunge sei, jedoch Aussicht habe, infolgeder Protektion der Oberköchin noch ganz andere Stellen zu bekommen. Karlmerkte, wie vorsichtig Renell von Delamarche behandelt worden war, der ihnsogar für diesen Abend zu einem gemeinsamen Nachtmahl eingeladen hatte.

»Ich habe nichts mehr mit Delamarche zu tun«, sagte Karl, »nimm du dich nurauch vor ihm in acht!«

»Ich?« sagte Renell, streckte sich und eilte weg. Er war der zierlichste Junge imHotel, und es ging unter den anderen Jungen, ohne daß man den Urheber wußte,das Gerücht um, daß er von einer vornehmen Dame, die schon längere Zeit im Hotelwohnte, im Lift zumindest abgeküßt worden sei. Für den, der das Gerücht kannte,hatte es unbedingt einen großen Reiz, jene selbstbewußte Dame, in deren Äußeremnicht das geringste die Möglichkeit eines solchen Benehmens ahnen ließ, mit ihrenruhigen, leichten Schritten, zarten Schleiern, streng geschnürter Taille an sichvorübergehen zu sehen. Sie wohnte im ersten Stock, und Renells Lift war nicht derihre, aber man konnte natürlich, wenn die anderen Lifts augenblicklich besetztwaren, solchen Gästen den Eintritt in einen anderen Lift nicht verwehren. So kames, daß diese Dame hie und da in Karls und Renells Lift fuhr, und tatsächlich immernur, wenn Renell Dienst hatte. Es konnte Zufall sein, aber niemand glaubte daran,und wenn der Lift mit den beiden abfuhr, gab es in der ganzen Reihe derLiftjungen eine mühsam unterdrückte Unruhe, die sogar schon zum Einschreiteneines Oberkellners geführt hatte. Sei es nun, daß die Dame, sei es, daß das Gerüchtdie Ursache war, jedenfalls hatte sich Renell verändert, war noch bei weitemselbstbewußter geworden, überließ das Putzen gänzlich Karl, der schon auf die nächsteGelegenheit einer gründlichen Aussprache hierüber wartete, und war im Schlafsaalgar nicht mehr zu sehen. Kein anderer war so vollständig aus der Gemeinschaftder Liftjungen ausgetreten, denn im allgemeinen hielten alle, zumindest inDienstfragen, streng zusammen und hatten eine Organisation, die von derHoteldirektion anerkannt war.

Alles dieses ließ sich Karl durch den Kopf gehen, dachte auch an Delamarche,und verrichtete im übrigen seinen Dienst wie immer. Gegen Mitternacht hatte ereine kleine Abwechslung, denn Therese, die ihn öfters mit kleinen Geschenkenüberraschte, brachte ihm einen großen Apfel und eine Tafel Schokolade. Sieunterhielten sich ein wenig, durch die Unterbrechungen, welche die Fahrten mitdem Aufzug brachten, kaum gestört. Das Gespräch kam auch auf Delamarche, undKarl merkte, daß er sich eigentlich durch Therese hatte beeinflussen lassen, wenner ihn seit einiger Zeit für einen gefährlichen Menschen hielt, denn so erschien erallerdings Therese nach Karls Erzählungen. Karl jedoch hielt ihn im Grunde nur füreinen Lumpen, der durch das Unglück sich hatte verderben lassen und mit demman schon auskommen konnte. Therese widersprach dem aber sehr lebhaft undforderte Karl in langen Reden das Versprechen ab, kein Wort mit Delamarchemehr zu reden. Statt dieses Versprechen zu geben, drängte sie Karl wiederholt,schlafen zu gehen, da Mitternacht schon längst vorüber war, und als sie sich

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weigerte, drohte er, seinen Posten zu verlassen und sie in ihr Zimmer zu führen.Als sie endlich bereit war wegzugehen, sagte er: »Warum machst du dir sounnötige Sorgen, Therese? Für den Fall, daß du dadurch besser schlafen solltest,verspreche ich dir gerne, daß ich mit Delamarche nur reden werde, wenn es sichnicht vermeiden läßt.« Dann kamen viele Fahrten, denn der Junge am Nebenliftwurde zu irgendeiner anderen Hilfeleistung verwendet, und Karl mußte beide Liftsbesorgen. Es gab Gäste, die von Unordnung sprachen, und ein Herr, der eineDame begleitete, berührte Karl sogar mit dem Spazierstock, um ihn zur Eileanzutreiben, eine Ermahnung, die recht unnötig war. Wenn doch wenigstens dieGäste, da sie sahen, daß bei dem einen Lift kein Junge stand, gleich zu Karls Liftgetreten wären, aber das taten sie nicht, sondern gingen zu dem Nebenlift undblieben dort, die Hand an der Klinke, stehen oder traten gar selbst in den Aufzugein, was nach dem strengsten Paragraphen der Dienstordnung die Liftjungen umjeden Preis verhüten sollten. So gab es für Karl ein sehr ermüdendes Hin- undHerlaufen, ohne daß er aber dabei das Bewußtsein gehabt hätte, seine Pflicht genauzu erfüllen. Gegen drei Uhr früh wollte überdies ein Packträger, ein alter Mann, mitdem er ein wenig befreundet war, irgendeine Hilfeleistung von ihm haben, aberdie konnte er nun keinesfalls leisten, denn gerade standen Gäste vor seinenbeiden Lifts. Und es gehörte Geistesgegenwart dazu, sich sofort mit großenSchritten für eine Gruppe zu entscheiden. Er war daher glücklich, als der andereJunge wieder antrat, und rief ein paar Worte des Vorwurfs wegen seines langenAusbleibens zu ihm hinüber, obwohl er wahrscheinlich keine Schuld daran hatte.

Nach vier Uhr früh trat ein wenig Ruhe ein, aber Karl brauchte sie auch schondringend. Er lehnte schwer am Geländer neben seinem Aufzug, aß langsam denApfel, aus dem schon nach dem ersten Biß ein starker Duft strömte, und sah ineinen Lichtschacht hinunter, der von den großen Fenstern der Vorratskammernumgeben war, hinter denen hängende Massen von Bananen im Dunkel geradenoch schimmerten.

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Der Fall Robinson

Da klopfte ihm jemand auf die Schulter. Karl, der natürlich dachte, es wäre einGast, steckte den Apfel eiligst in die Tasche und eilte, kaum daß er den Mannansah, zum Aufzug hin.

»Guten Abend, Herr Roßmann«, sagte nun aber der Mann, »ich bin es,Robinson.«

»Sie haben sich aber verändert!« sagte Karl und schüttelte den Kopf.

»Ja, es geht mir gut«, sagte Robinson und sah an seiner Kleidung hinunter, dievielleicht aus ziemlich feinen Stücken bestand, aber so zusammengewürfelt war, daßsie geradezu schäbig aussah. Das Auffallendste war eine offenbar zum erstenmalgetragene weiße Weste mit vier kleinen, schwarz eingefaßten Täschchen, auf dieRobinson auch durch Vorstrecken der Brust aufmerksam zu machen suchte.

»Sie haben teuere Kleider«, sagte Karl und dachte flüchtig an sein schöneseinfaches Kleid, in dem er sogar neben Renell hätte bestehen können und das diezwei schlechten Freunde verkauft hatten.

»Ja«, sagte Robinson, »ich kaufe mir fast jeden Tag irgend etwas. Wie gefälltIhnen die Weste?«

»Ganz gut«, sagte Karl.

»Es sind aber keine wirklichen Taschen, das ist nur so gemacht«, sagteRobinson und faßte Karl bei der Hand, damit sich dieser selbst davon überzeuge.Aber Karl wich zurück, denn aus Robinsons Mund kam ein unerträglicherBranntweingeruch.

»Sie trinken wieder viel«, sagte Karl und stand schon wieder am Geländer.

»Nein«, sagte Robinson, »nicht viel«, und fügte im Widerspruch zu seiner früherenZufriedenheit hinzu: »Was hat der Mensch sonst auf der Welt.« Eine Fahrtunterbrach das Gespräch, und kaum war Karl wieder unten, erfolgte eintelephonischer Anruf, laut dessen Karl den Hotelarzt holen sollte, da eine Dameim siebenten Stockwerk einen Ohnmachtsanfall erlitten hatte. Während diesesWeges hoffte Karl im geheimen, daß Robinson sich inzwischen entfernt habenwerde, denn er wollte nicht mit ihm gesehen werden und, in Gedanken anTheresens Warnung, auch von Delamarche nichts hören. Aber Robinson wartetenoch in der steifen Haltung eines Vollgetrunkenen, und gerade ging ein höhererHotelbeamter in schwarzem Gehrock und Zylinderhut vorüber, glücklicherweiseohne Robinson, wie es schien, besonders zu beachten. »Wollen Sie, Roßmann,nicht einmal zu uns kommen, wir haben es jetzt sehr fein«, sagte Robinson undsah Karl lockend an.

»Laden Sie mich ein oder Delamarche?« fragte Karl.

»Ich und Delamarche. Wir sind darin einig«, sagte Robinson.

»Dann sage ich Ihnen und bitte Sie, Delamarche das gleiche auszurichten:Unser Abschied war, wenn das nicht schon an und für sich klar gewesen seinsollte, ein endgültiger. Sie beide haben mir mehr Leid getan als irgend jemand.Haben Sie sich vielleicht in den Kopf gesetzt, mich auch weiterhin nicht in Ruhezu lassen?«

»Wir sind doch Ihre Kameraden«, sagte Robinson, und widerliche Tränen derTrunkenheit stiegen ihm in die Augen. »Delamarche läßt Ihnen sagen, daß er Sie füralles Frühere entschädigen will. Wir wohnen jetzt mit Brunelda zusammen, einerherrlichen Sängerin.« Und im Anschluß daran wollte er gerade ein Lied in hohenTönen singen, wenn ihn nicht Karl noch rechtzeitig angezischt hätte: »Schweigen

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Sie, aber augenblicklich; wissen Sie denn nicht, wo Sie sind!« »Roßmann«, sagteRobinson, nun rücksichtlich des Singens eingeschüchtert, »ich bin doch IhrKamerad, sagen Sie, was Sie wollen. Und nun haben Sie hier eine so schönePosition, könnten Sie mir einiges Geld überlassen?« »Sie vertrinken es ja bloßwieder«, sagte Karl, »da sehe ich in Ihrer Tasche sogar irgendeineBranntweinflasche, aus der Sie gewiß, während ich weg war, getrunken haben,denn anfangs waren Sie ja noch ziemlich bei Sinnen.« »Das ist nur zur Stärkung,wenn ich auf einem Wege bin«, sagte Robinson entschuldigend.

»Ich will Sie ja nicht mehr bessern«, sagte Karl.

»Aber das Geld!« sagte Robinson mit aufgerissenen Augen.

»Sie haben wohl von Delamarche den Auftrag bekommen, Geld mitzubringen.Gut, ich gebe Ihnen Geld, aber nur unter der Bedingung, daß Sie sofort von hierfortgehen und niemals mehr mich hier besuchen. Wenn Sie mir etwas mitteilenwollen, schreiben Sie an mich. Karl Roßmann, Liftjunge, Hotel Occidental, genügtals Adresse. Aber hier dürfen Sie, das wiederhole ich, mich nicht mehr besuchen.Hier bin ich im Dienst und habe keine Zeit für Besuche. Wollen Sie also das Geldunter dieser Bedingung?« fragte Karl und griff in die Westentasche, denn er warentschlossen, das Trinkgeld der heutigen Nacht zu opfern. Robinson nickte bloß zuder Frage und atmete schwer. Karl deutete das unrichtig und fragte nochmals:»Ja oder nein?« Da winkte ihn Robinson zu sich heran und flüsterte unterSchlingbewegungen, die schon ganz deutlich waren: »Roßmann, mir ist sehrschlecht.«

»Zum Teufel«, entfuhr es Karl, und mit beiden Händen schleppte er ihn zumGeländer. Und schon ergoß es sich aus Robinsons Mund in die Tiefe. Hilflos stricher in den Pausen, die ihm seine Übelkeit ließ, blindlings zu Karl hin. »Sie sindwirklich ein guter Junge«, sagte er dann, oder: »Es hört schon auf«, was aber nochlange nicht richtig war, oder: »Die Hunde, was haben sie mir dort für ein Zeugeingegossen!« Karl hielt es vor Unruhe und Ekel bei ihm nicht mehr aus undbegann auf und ab zu gehen. Hier, im Winkel neben dem Aufzug, war jaRobinson ein wenig versteckt, aber wie, wenn ihn doch jemand bemerkte, einerdieser nervösen, reichen Gäste, die nur darauf warten, dem herbeilaufendenHotelbeamten eine Beschwerde mitzuteilen, für welche dieser dann wütend amganzen Hause Rache nimmt, oder wenn einer dieser immerfort wechselndenHoteldetektive vorüberkäme, die niemand kennt außer der Direktion und die man injedem Menschen vermutet, der prüfende Blicke, vielleicht bloß aus Kurzsichtigkeit,macht. Und unten brauchte nur jemand bei dem die ganze Nacht nichtaussetzenden Restaurationsbetrieb in die Vorratskammern zu gehen, staunenddie Scheußlichkeit im Lichtschacht zu bemerken und Karl telephonisch anzufragen,was denn um Himmels willen da oben los sei. Konnte Karl dann Robinsonverleugnen? Und wenn er es täte, würde sich nicht Robinson in seiner Dummheitund Verzweiflung statt aller Entschuldigung gerade nur auf Karl berufen? Undmußte dann nicht Karl sofort entlassen werden, da dann das Unerhörte geschehenwar, daß ein Liftjunge, der niedrigste und entbehrlichste Angestellte in derungeheueren Stufenleiter der Dienerschaft dieses Hotels, durch seinen Freunddas Hotel hatte beschmutzen und die Gäste erschrecken oder ganz vertreibenlassen? Konnte man einen Liftjungen weiter dulden, der solche Freunde hatte,von denen er sich überdies während seiner Dienststunden besuchen ließ? Sah esnicht ganz so aus, als ob ein solcher Liftjunge selbst ein Säufer oder gar etwasÄrgeres sei, denn welche Vermutung war einleuchtender, als daß er seine Freundeaus den Vorräten des Hotels so lange überfütterte, bis sie an einer beliebigen Stelledieses gleichen, peinlich rein gehaltenen Hotels solche Dinge ausführten, wie jetztRobinson? Und warum sollte sich ein solcher Junge auf die Diebstähle von

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Lebensmitteln beschränken, da doch die Möglichkeit zu stehlen bei der bekanntenNachlässigkeit der Gäste, den überall offenstehenden Schränken, den auf den Tischenherumliegenden Kostbarkeiten, den aufgerissenen Kassetten, den gedankenloshingeworfenen Schlüsseln wirklich unzählige waren? Gerade sah Karl in der FerneGäste aus einem Kellerlokal heraufsteigen, in dem eben eine Varietévorstellungbeendet worden war. Karl stellte sich zu seinem Aufzug und wagte sich gar nichtnach Robinson umzudrehen, aus Furcht vor dem, was er zu sehen bekommenkönnte. Es beruhigte ihn wenig, daß er keinen Laut, nicht einmal einen Seufzer, vondort hörte. Er bediente zwar seine Gäste und fuhr mit ihnen auf und ab, aber seineZerstreutheit konnte er doch nicht ganz verbergen, und bei jeder Abwärtsfahrt warer darauf gefaßt, unten eine peinliche Überraschung vorzufinden.

Endlich hatte er wieder Zeit, nach Robinson zu sehen, der in seinem Winkelganz klein kauerte und das Gesicht gegen die Knie drückte. Seinen runden, hartenHut hatte er weit aus der Stirne geschoben.

»Also jetzt gehen Sie schon«, sagte Karl leise und bestimmt. »Hier ist das Geld.Wenn Sie sich beeilen, kann ich Ihnen noch den kürzesten Weg zeigen.« »Ichwerde nicht weggehen können«, sagte Robinson und wischte sich mit einemwinzigen Taschentuche die Stirn, »ich werde hier sterben. Sie können sich nichtvorstellen, wie schlecht mir ist. Delamarche nimmt mich überall in die feinen Lokalemit, aber ich vertrage dieses zimperliche Zeug nicht, ich sage es Delamarchetäglich.« »Hier können Sie nun einmal nicht bleiben«, sagte Karl, »bedenken Siedoch, wo Sie sind. Wenn man Sie hier findet, werden Sie bestraft, und ich verlieremeinen Posten. Wollen Sie das?«

»Ich kann nicht weggehen«, sagte Robinson, »lieber springe ich da hinunter«,und er zeigte zwischen den Geländerstangen in den Lichtschacht. »Wenn ich hierso sitze, so kann ich es noch ertragen, aber aufstehen kann ich nicht, ich habe esja schon versucht, während Sie weg waren.«

»Dann hole ich also einen Wagen, und Sie fahren ins Krankenhaus«, sagte Karlund schüttelte ein wenig Robinsons Beine, der jeden Augenblick in völligeTeilnahmslosigkeit zu verfallen drohte. Aber kaum hatte Robinson das WortKrankenhaus gehört, das ihm schreckliche Vorstellungen zu erwecken schien, alser laut zu weinen anfing und die Hände, um Gnade bittend, nach Karl ausstreckte.

»Still«, sagte Karl, schlug ihm mit einem Klaps die Hände nieder, lief zu demLiftjungen, den er in der Nacht vertreten hatte, bat ihn für ein kleines Weilchen umdie gleiche Gefälligkeit, eilte zu Robinson zurück, zog den noch immerSchluchzenden mit aller Kraft in die Höhe und flüsterte ihm zu: »Robinson, wenn Siewollen, daß ich mich Ihrer annehme, dann strengen Sie sich aber an, jetzt eineganz kleine Strecke Wegs aufrecht zu gehen. Ich führe Sie nämlich in mein Bett, indem Sie so lange bleiben können, bis Ihnen gut ist. Sie werden staunen, wie baldSie sich erholen werden. Aber jetzt benehmen Sie sich nur vernünftig, denn aufden Gängen sind überall Leute, und auch mein Bett ist in einem allgemeinenSchlafsaal. Wenn man auf Sie auch nur ein wenig aufmerksam wird, kann ichnichts mehr für Sie tun. Und die Augen müssen Sie offenhalten, ich kann Sie danicht wie einen Todkranken herumführen.«

»Ich will ja alles tun, was Sie für recht halten«, sagte Robinson, »aber Sie alleinwerden mich nicht führen können. Könnten Sie nicht noch Renell holen?« »Renell istnicht hier«, sagte Karl.

»Ach ja«, sagte Robinson, »Renell ist mit Delamarche beisammen. Die beidenhaben mich ja nach Ihnen ausgeschickt. Ich verwechsle schon alles.« Karlbenützte diese und noch andere unverständliche Selbstgespräche Robinsons, um ihnvorwärts zu schieben, und kam mit ihm auch glücklich bis zu einer Ecke, von der

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aus ein etwas schwächer beleuchteter Gang zum Schlafsaal der Liftjungen führte.Gerade jagte in vollem Lauf ein Liftjunge auf sie zu und an ihnen vorüber. Imübrigen hatten sie bis jetzt nur ungefährliche Begegnungen gehabt; zwischen vierund fünf Uhr war nämlich die stillste Zeit, und Karl hatte wohl gewußt, daß, wenn ihmdas Wegschaffen Robinsons jetzt nicht gelänge, in der Morgendämmerung und imbeginnenden Tagesverkehr überhaupt nicht mehr daran zu denken wäre.

Im Schlafsaal war am anderen Ende des Saales gerade eine große Raufereioder sonstige Veranstaltung im Gange, man hörte rhythmisches Händeklatschen,aufgeregtes Füßetrappeln und sportliche Zurufe. In der bei der Tür gelegenenSaalhälfte sah man in den Betten nur wenige unbeirrte Schläfer, die meisten lagenauf dem Rücken und starrten in die Luft, während hie und da einer, bekleidet oderunbekleidet, wie er gerade war, aus dem Bett sprang, um nachzusehen, wie dieDinge am anderen Saalende standen. So brachte Karl Robinson, der sich an dasGehen inzwischen ein wenig gewöhnt hatte, ziemlich unbeachtet in Renells Bett,da es der Türe sehr nahe lag und glücklicherweise nicht besetzt war, während inseinem eigenen Bett, wie er aus der Ferne sah, ein fremder Junge, den er garnicht kannte, ruhig schlief. Kaum fühlte Robinson das Bett unter sich, als er sofort -ein Bein baumelte noch aus dem Bett heraus - einschlief. Karl zog ihm die Deckeweit über das Gesicht und glaubte, sich wenigstens für die nächste Zeit keine Sorgenmachen zu müssen, da Robinson gewiß nicht vor sechs Uhr früh erwachen würde, undbis dahin würde er wieder hier sein und dann, vielleicht schon mit Renell, ein Mittelfinden, um Robinson wegzubringen. Eine Inspektion des Schlafsaales durchirgendwelche höheren Organe gab es nur in außerordentlichen Fällen, dieAbschaffung der früher üblichen allgemeinen Inspektion hatten die Liftjungen schonvor Jahren durchgesetzt, es war also auch von dieser Seite nichts zu fürchten.

Als Karl wieder bei seinem Aufzug angelangt war, sah er, daß sowohl seinAufzug als auch jener seines Nachbarn gerade in die Höhe fuhren. Unruhig warteteer darauf, wie sich das aufklären würde. Sein Aufzug kam früher herunter, und esentstieg ihm jener Junge, der vor einem Weilchen durch den Gang gelaufen war.

»Ja, wo bist du denn gewesen, Roßmann?« fragte dieser. »Warum bist duweggegangen? Warum hast du es nicht gemeldet?«

»Aber ich habe ihm doch gesagt, daß er mich ein Weilchen vertreten soll«,antwortete Karl und zeigte auf den Jungen vom Nachbarlift, der geradeherankam. »Ich habe ihn doch auch zwei Stunden lang während des größtenVerkehrs vertreten.«

»Das ist alles sehr gut«, sagte der Angesprochene, »aber das genügt doch nicht.Weißt du denn nicht, daß man auch die kürzeste Abwesenheit während des Dienstesim Büro des Oberkellners melden muß? Dazu hast du ja das Telephon da. Ich hättedich schon gerne vertreten, aber du weißt ja, daß das nicht so leicht ist. Geradewaren vor beiden Lifts neue Gäste vom Vier-Uhr-dreißig-Expreßzug. Ich konnte dochnicht zuerst mit deinem Lift laufen und meine Gäste warten lassen, so bin ich alsozuerst mit meinem Lift hinaufgefahren!«

»Nun?« fragte Karl gespannt, da beide Jungen schwiegen.

»Nun«, sagte der Junge vom Nachbarlift, »da geht gerade der Oberkellnervorüber, sieht die Leute vor deinem Lift ohne Bedienung, bekommt Galle, fragtmich, der ich gleich hergerannt bin, wo du steckst, ich habe keine Ahnung davon,denn du hast mir ja gar nicht gesagt, wohin du gehst, und so telephoniert er gleichin den Schlafsaal, daß sofort ein anderer Junge herkommen soll.«

»Ich habe dich ja noch im Gang getroffen«, sagte Karls Ersatzmann. Karl nickte.

»Natürlich«, beteuerte der andere Junge, »habe ich gleich gesagt, daß du michum deine Vertretung gebeten hast, aber hört denn der auf solche

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Entschuldigungen? Du kennst ihn wahrscheinlich noch nicht. Und wir sollten dirausrichten, daß du sofort ins Büro kommen sollst. Also halte dich lieber nicht auf undlauf hin. Vielleicht verzeiht er es dir noch, du warst ja wirklich nur zwei Minutenweg. Berufe dich nur ruhig darauf, daß du mich um Vertretung gebeten hast.Davon, daß du mich vertreten hast, rede lieber nicht, laß dir raten, mir kann nichtsgeschehen, ich hatte Erlaubnis, aber es ist nicht gut, von einer solchen Sache zureden und sie noch in diese Angelegenheit zu mischen, mit der sie nichts zu tunhat.«

»Es ist das erstemal gewesen, daß ich meinen Posten verlassen habe«, sagteKarl.

»Das ist immer so, nur glaubt man es nicht«, sagte der Junge und lief zuseinem Lift, da sich Leute näherten.

Karls Vertreter, ein etwa vierzehnjähriger Junge, der offenbar mit Karl Mitleidhatte, sagte: »Es sind schon viele Fälle vorgekommen, in denen man solcheSachen verziehen hat. Gewöhnlich wird man zu anderen Arbeiten versetzt.Entlassen wurde, soviel ich weiß, wegen einer solchen Sache nur einer. Du mußt direine gute Entschuldigung ausdenken. Auf keinen Fall sage, daß dir plötzlichschlecht geworden ist, da lacht er dich aus. Da ist es schon besser, du sagst, einGast hat dir irgendeine eilige Bestellung an einen anderen Gast aufgegeben unddu weißt nicht mehr, wer der erste Gast war, und den zweiten hast du nicht findenkönnen.«

»Na«, sagte Karl, »es wird nicht so schlimm werden«, nach allem, was er gehörthatte, glaubte er an keinen guten Ausgang mehr. Und wenn selbst diesesDienstversäumnis verziehen werden sollte, so lag doch drinnen im Schlafsaal nochRobinson als lebendige Schuld, und es war bei dem galligen Charakter desOberkellners nur zu wahrscheinlich, daß man sich mit keiner oberflächlichenUntersuchung begnügen und Robinson schließlich doch noch aufstöbern würde. Esbestand wohl kein ausdrückliches Verbot, nach dem fremde Leute in denSchlafsaal nicht mitgenommen werden durften, aber dies bestand nur deshalbnicht, weil eben unausdenkbare Dinge nicht verboten werden. Als Karl in das Bürodes Oberkellners eintrat, saß dieser gerade bei seinem Morgenkaffee, machteeinmal einen Schluck und sah dann wieder in ein Verzeichnis, das ihm offenbarder gleichfalls anwesende oberste Hotelportier überbracht hatte. Es war dies eingroßer Mann, den seine üppige, reichgeschmückte Uniform - noch auf den Achselnund die Arme hinunter schlängelten sich goldene Ketten und Bänder - nochbreitschultriger machte, als er von Natur aus war. Ein glänzender schwarzerSchnurrbart, weit in Spitzen ausgezogen, so wie ihn Ungarn tragen, rührte sichauch bei der schnellsten Kopfbewegung nicht. Im übrigen konnte sich der Manninfolge seiner Kleiderlast überhaupt nur schwer bewegen und stellte sich nichtanders als mit seitwärts eingestemmten Beinen auf, um sein Gewicht richtig zuverteilen.

Karl war frei und eilig eingetreten, wie er es sich hier im Hotel angewöhnt hatte,denn die Langsamkeit und Vorsicht, die bei Privatpersonen Höflichkeit bedeutet, hältman bei Liftjungen für Faulheit. Außerdem mußte man ihm auch nicht gleich beimEintreten sein Schuldbewußtsein ansehen. Der Oberkellner hatte zwar flüchtig aufdie sich öffnende Tür hingeblickt, war dann aber sofort zu seinem Kaffee und zuseiner Lektüre zurückgekehrt, ohne sich weiter um Karl zu kümmern. Der Portier aberfühlte sich vielleicht durch Karls Anwesenheit gestört, vielleicht hatte er irgendeinegeheime Nachricht oder Bitte vorzutragen, jedenfalls sah er alle Augenblicke bösund mit steif geneigtem Kopf nach Karl hin, um sich dann, wenn er, offenbarseiner Absicht entsprechend, mit Karls Blicken zusammengetroffen war, wiederdem Oberkellner zuzuwenden. Karl aber glaubte, es würde sich nicht gut

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ausnehmen, wenn er jetzt, da er nun schon einmal hier war, das Büro wiederverließe, ohne vom Oberkellner den Befehl hierzu erhalten zu haben. Dieser aberstudierte weiter das Verzeichnis und aß zwischendurch von einem Stück Kuchen,von dem er hie und da, ohne im Lesen innezuhalten, den Zucker abschüttelte.Einmal fiel ein Blatt des Verzeichnisses zu Boden, der Portier machte nicht einmalden Versuch, es aufzuheben, er wußte, daß er es nicht zustande brächte, es warauch nicht nötig, denn Karl war schon zur Stelle und reichte das Blatt demOberkellner, der es ihm mit einer Handbewegung abnahm, als sei es von selbstvom Boden aufgeflogen. Die ganze kleine Dienstleistung hatte nichts genützt, dennder Portier hörte auch weiterhin mit seinen bösen Blicken nicht auf. Trotzdem warKarl gefaßter als früher. Schon daß seine Sache für den Oberkellner so wenigWichtigkeit zu haben schien, konnte man für ein gutes Zeichen halten. Es warschließlich auch nur begreiflich. Natürlich bedeutet ein Liftjunge gar nichts und darfsich deshalb nichts erlauben, aber eben deshalb, weil er nichts bedeutet, kann erauch nichts Außergewöhnliches anstellen. Schließlich war der Oberkellner in seinerJugend selbst Liftjunge gewesen - was noch der Stolz dieser Generation vonLiftjungen war -, er war es gewesen, der die Liftjungen zum erstenmal organisierthatte, und gewiß hat auch er einmal ohne Erlaubnis seinen Posten verlassen,wenn ihn auch jetzt allerdings niemand zwingen konnte, sich daran zu erinnern,und wenn man auch nicht außer acht lassen durfte, daß er, gerade als gewesenerLiftjunge, darin seine Pflicht sah, diesen Stand durch zeitweilig unnachsichtlicheStrenge in Ordnung zu halten. Nun setzte aber Karl außerdem seine Hoffnung aufdas Vorrücken der Zeit. Nach der Bürouhr war es schon viertel sechs, jedenAugenblick konnte Renell zurückkehren, vielleicht war er sogar schon da, denn esmußte ihm doch aufgefallen sein, daß Robinson nicht zurückgekommen war, übrigenskonnten sich Delamarche und Renell gar nicht weit vom Hotel Occidentalaufgehalten haben, wie Karl jetzt einfiel, denn sonst hätte auch Robinson in seinemelenden Zustand den Weg hierher nicht gefunden. Wenn nun Renell Robinson inseinem Bett antraf, was doch geschehen mußte, dann war alles gut. Dennpraktisch, wie Renell war, besonders wenn es sich um seine Interessen handelte,würde er schon Robinson irgendwie gleich aus dem Hotel entfernen, was ja um soleichter geschehen konnte, als Robinson sich inzwischen ein wenig gestärkt hatteund überdies wahrscheinlich Delamarche vor dem Hotel wartete, um ihn inEmpfang zu nehmen. Wenn aber Robinson einmal entfernt war, dann konnte Karldem Oberkellner viel ruhiger entgegentreten und für diesmal vielleicht noch miteiner, wenn auch schweren, Rüge davonkommen. Dann würde er sich mit Thereseberaten, ob er der Oberköchin die Wahrheit sagen dürfe - er für seinen Teil sah keinHindernis -, und wenn das möglich war, würde die Sache ohne besonderenSchaden aus der Welt geschafft sein.

Gerade hatte sich Karl durch solche Überlegungen ein wenig beruhigt undmachte sich daran, das in dieser Nacht eingenommene Trinkgeld unauffällig zuüberzählen, denn es schien ihm dem Gefühl nach besonders reichlich gewesen zusein, als der Oberkellner das Verzeichnis mit den Worten »Warten Sie noch, bitte,einen Augenblick, Feodor«, auf den Tisch legte, elastisch aufsprang und Karl solaut anschrie, daß dieser erschrocken vorerst nur in das große, schwarze Mundlochstarrte.

»Du hast deinen Posten ohne Erlaubnis verlassen. Weißt du, was das bedeutet?Das bedeutet Entlassung. Ich will keine Entschuldigung hören, deine erlogenenAusreden kannst du für dich behalten, mir genügt vollständig die Tatsache, daß dunicht da warst. Wenn ich das einmal dulde und verzeihe, werden nächstens allevierzig Liftjungen während des Dienstes davonlaufen, und ich kann meinefünftausend Gäste allein die Treppe hinauftragen.«

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Karl schwieg. Der Portier war näher gekommen und zog das Röckchen Karls, daseinige Falten warf, ein wenig tiefer, zweifellos um den Oberkellner auf diesekleine Unordentlichkeit im Anzug Karls besonders aufmerksam zu machen.

»Ist dir vielleicht plötzlich schlecht geworden?« fragte der Oberkellner listig. Karlsah ihn prüfend an und antwortete: »Nein.«

»Also nicht einmal schlecht ist dir geworden?« schrie der Oberkellner destostärker. »Also dann mußt du ja irgendeine großartige Lüge erfunden haben. WelcheEntschuldigung hast du? Heraus damit.«

»Ich habe nicht gewußt, daß man telephonisch um Erlaubnis bitten muß«, sagteKarl.

»Das ist allerdings köstlich«, sagte der Oberkellner, faßte Karl beim Rockkragenund brachte ihn fast in der Schwebe vor eine Dienstordnung der Lifts, die an derWand aufgenagelt war. Auch der Portier ging hinter ihnen zur Wand hin. »Da,lies!« sagte der Oberkellner und zeigte auf einen Paragraphen. Karl glaubte, ersolle es für sich lesen. »Laut!« kommandierte aber der Oberkellner.

Statt laut zu lesen, sagte Karl, in der Hoffnung, damit den Oberkellner besser zuberuhigen: »Ich kenne den Paragraphen, ich habe ja die Dienstordnung auchbekommen und genau gelesen. Aber gerade eine solche Bestimmung, die manniemals braucht, vergißt man. Ich diene schon zwei Monate und habe niemalsmeinen Posten verlassen.«

»Dafür wirst du ihn jetzt verlassen«, sagte der Oberkellner, ging zum Tisch hin,nahm das Verzeichnis wieder zur Hand, als wolle er darin weiterlesen, schlugdamit aber auf den Tisch, als sei es ein nutzloser Fetzen, und ging, starke Röte aufStirn und Wangen, kreuz und quer im Zimmer herum. »Wegen eines solchenBengels hat man das nötig! Solche Aufregungen beim Nachtdienst!« stieß ereinigemal hervor. »Wissen Sie, wer gerade hinauffahren wollte, als dieser Kerlhier vom Lift weggelaufen war?« wandte er sich zum Portier. Und er nannte einenNamen, bei dem es dem Portier, der gewiß alle Gäste kannte und bewerten konnte,so schauderte, daß er schnell auf Karl hinsah, als sei nur dessen Existenz eineBestätigung dessen, daß der Träger jenes Namens eine Zeitlang bei einem Lift,dessen Junge weggelaufen war, nutzlos hatte warten müssen. »Das istschrecklich!« sagte der Portier und schüttelte langsam in grenzenloserBeunruhigung den Kopf gegen Karl hin, welcher ihn traurig ansah und dachte, daßer nun auch für die Begriffsstutzigkeit dieses Mannes werde büßen müssen.

»Ich kenne dich übrigens auch schon«, sagte der Portier und streckte seinendicken, großen, steifgespannten Zeigefinger aus. »Du bist der einzige Junge,welcher mich grundsätzlich nicht grüßt. Was bildest du dir eigentlich ein! Jeder, deran der Portierloge vorübergeht, muß mich grüßen. Mit den übrigen Portiers kannst du eshalten, wie du willst, ich aber verlange gegrüßt zu werden. Ich tue zwar manchmalso, als ob ich nicht aufpaßte, aber du kannst ganz ruhig sein, ich weiß sehr genau,wer mich grüßt oder nicht, du Lümmel!« Und er wandte sich von Karl ab und schritthochaufgerichtet auf den Oberkellner zu, der aber, statt sich zu des PortiersSache zu äußern, sein Frühstück beendete und eine Morgenzeitung überflog, die einDiener eben ins Zimmer hereingebracht hatte.

»Herr Oberportier«, sagte Karl, der während der Unachtsamkeit des Oberkellnerswenigstens die Sache mit dem Portier ins reine bringen wollte, denn er begriff, daßihm vielleicht der Vorwurf des Portiers nicht schaden konnte, wohl aber dessenFeindschaft, »ich grüße Sie ganz gewiß. Ich bin doch noch nicht lange in Amerika undstamme aus Europa, wo man bekanntlich viel mehr grüßt, als nötig ist. Das habe ichmir natürlich noch nicht ganz abgewöhnen können, und noch vor zwei Monaten hatman mir in New York, wo ich zufällig in höheren Kreisen verkehrte, bei jeder

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Gelegenheit zugeredet, mit meiner übertriebenen Höflichkeit aufzuhören. Und dasollte ich gerade Sie nicht gegrüßt haben! Ich habe Sie jeden Tag einigemal gegrüßt.Aber natürlich nicht jedesmal, wenn ich Sie gesehen habe, da ich doch täglichhundertmal an Ihnen vorüberkomme.«

»Du hast mich jedesmal zu grüßen, jedesmal, ohne Ausnahme, du hast die ganzeZeit, während du mit mir sprichst, die Kappe in der Hand zu halten, du hast michimmer mit >Oberportier< anzureden und nicht mit >Sie<. Und alles dasjedesmal und jedesmal.«

»Jedesmal?« wiederholte Karl leise und fragend, er erinnerte sich jetzt, wie ervom Portier während der ganzen Zeit seines hiesigen Aufenthaltes immer strengund vorwurfsvoll angeschaut worden war, schon von jenem ersten Morgen an, andem er, seiner dienenden Stellung noch nicht recht angepaßt, etwas zu kühn,diesen Portier ohne weiteres umständlich und dringlich ausgefragt hatte, ob nichtzwei Männer vielleicht nach ihm gefragt und etwa eine Photographie für ihnzurückgelassen hätten.

»Jetzt siehst du, wohin ein solches Benehmen führt«, sagte der Portier, derwieder ganz nahe zu Karl zurückgekehrt war, und zeigte auf den noch lesendenOberkellner, als sei dieser der Vertreter seiner Rache. »In deiner nächsten Stellungwirst du es schon verstehen, den Portier zu grüßen, und wenn es auch nur vielleichtin einer elenden Spelunke sein wird.«

Karl sah ein, daß er eigentlich seinen Posten schon verloren hatte, denn derOberkellner hatte es bereits ausgesprochen, der Oberportier als fertige Tatsachewiederholt, und wegen eines Liftjungen dürfte wohl die Bestätigung der Entlassungseitens der Hoteldirektion nicht nötig sein. Es war allerdings schneller gegangen,als er gedacht hatte, denn schließlich hatte er doch zwei Monate gedient, so gut erkonnte, und gewiß besser als mancher andere Junge. Aber auf solche Dinge wirdeben im entscheidenden Augenblick offenbar in keinem Weltteil, weder in Europanoch in Amerika, Rücksicht genommen, sondern es wird so entschieden, wieeinem in der ersten Wut das Urteil aus dem Munde fährt. Vielleicht wäre es jetzt ambesten gewesen, wenn er sich gleich verabschiedet hätte und weggegangen wäre,die Oberköchin und Therese schliefen vielleicht noch, er hätte sich, um ihnen dieEnttäuschung und Trauer über sein Benehmen wenigstens beim persönlichenAbschied zu ersparen, brieflich verabschieden, hätte rasch seinen Koffer packenund in der Stille fortgehen können. Blieb er aber auch nur einen Tag noch, und erhätte allerdings ein wenig Schlaf gebraucht, so erwartete ihn nichts anderes alsAufbauschung seiner Sache zum Skandal, Vorwürfe von allen Seiten, derunerträgliche Anblick der Tränen Theresens und vielleicht gar der Oberköchin undmöglicherweise zuguterletzt auch noch eine Bestrafung. Andererseits aber beirrtees ihn, daß er hier zwei Feinden gegenüberstand und daß an jedem Wort, das eraussprechen würde, wenn nicht der eine, so der andere etwas aussetzen und zumSchlechten deuten würde. Deshalb schwieg er und genoß vorläufig die Ruhe, die imZimmer herrschte, denn der Oberkellner las noch immer die Zeitung, und derOberportier ordnete sein über den Tisch hin verstreutes Verzeichnis nach denSeitenzahlen, was ihm bei seiner offenbaren Kurzsichtigkeit große Schwierigkeitenmachte.

Endlich legte der Oberkellner die Zeitung gähnend hin, vergewisserte sich durcheinen Blick auf Karl, daß dieser noch anwesend sei, und drehte die Glocke desTischtelephons an. Er rief mehrere Male »Hallo!«, aber niemand meldete sich.»Es meldet sich niemand«, sagte er zum Oberportier. Dieser, der dasTelephonieren, wie es Karl schien, mit besonderem Interesse beobachtete, sagte:»Es ist ja schon dreiviertel sechs. Sie ist gewiß schon wach. Läuten Sie nur stärker.«In diesem Augenblick kam, ohne weitere Aufforderung, das telephonische

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Gegenzeichen. »Hier Oberkellner Isbary«, sagte der Oberkellner. »GutenMorgen, Frau Oberköchin. Ich habe Sie doch nicht am Ende geweckt? Das tut mirsehr leid. Ja, ja, dreiviertel sechs ist es schon. Aber es tut mir aufrichtig leid, daßich Sie erschreckt habe. Sie wollten während des Schlafens das Telephonabstellen. Nein, nein, tatsächlich, es gibt für mich keine Entschuldigung, besondersbei der Geringfügigkeit der Sache, wegen der ich Sie sprechen will. Aber natürlichhabe ich Zeit, bitte sehr, ich bleibe beim Telephon, wenn es Ihnen recht ist.«

»Sie muß im Nachthemd zum Telephon gelaufen sein«, sagte der Oberkellnerlächelnd zum Oberportier, der die ganze Zeit über mit gespanntemGesichtsausdruck zum Telephonkasten sich gebückt gehalten hatte. »Ich habe siewirklich geweckt, sie wird nämlich sonst von dem kleinen Mädel, das bei ihr auf derSchreibmaschine schreibt, geweckt, und die muß es heute ausnahmsweiseversäumt haben. Es tut mir leid, daß ich sie aufgeschreckt habe, sie ist sowiesonervös.«

»Warum spricht sie nicht weiter?«

»Sie ist nachschauen gegangen, was mit dem Mädel los ist«, antwortete derOberkellner schon mit der Muschel am Ohr, denn es läutete wieder. »Sie wird sichschon finden«, redete er weiter ins Telephon hinein. »Sie dürfen sich nicht vonallem so erschrecken lassen. Sie brauchen wirklich eine gründliche Erholung. Jaalso, meine kleine Anfrage. Es ist da ein Liftjunge namens« - er drehte sichfragend nach Karl um, der, da er genau aufpaßte, gleich mit seinem Namenaushelfen konnte -, »also namens Karl Roßmann. Wenn ich mich recht erinnere, sohaben Sie sich für ihn ein wenig interessiert; leider hat er Ihre Freundlichkeitschlecht belohnt, er hat ohne Erlaubnis seinen Posten verlassen, hat mir dadurchschwere, jetzt noch gar nicht übersehbare Unannehmlichkeiten verursacht, und ichhabe ihn daher soeben entlassen. Ich hoffe, Sie nehmen die Sache nicht tragisch.Wie meinen Sie? Entlassen, ja, entlassen. Aber ich sagte Ihnen doch, daß erseinen Posten verlassen hat. Nein, da kann ich Ihnen wirklich nicht nachgeben,liebe Frau Oberköchin. Es handelt sich um meine Autorität, da steht viel auf demSpiel, so ein Junge verdirbt mir die ganze Bande. Gerade bei den Liftjungen mußman teuflisch aufpassen. Nein, nein, in diesem Falle kann ich Ihnen den Gefallennicht tun, so sehr ich es mir immer angelegen sein lasse, Ihnen gefällig zu sein.Und wenn ich ihn schon trotz allem hier ließe, zu keinem anderen Zweck, als ummeine Galle in Tätigkeit zu erhalten, Ihretwegen, ja, Ihretwegen, Frau Oberköchin,kann er nicht hierbleiben. Sie nehmen einen Anteil an ihm, den er durchaus nichtverdient, und da ich nicht nur ihn kenne, sondern auch Sie, weiß ich, daß das zu denschwersten Enttäuschungen für Sie führen müßte, die ich Ihnen um jeden Preisersparen will. Ich sage das ganz offen, obwohl der verstockte Junge ein paarSchritte vor mir steht. Er wird entlassen, nein, nein, Frau Oberköchin, er wirdvollständig entlassen, nein, nein, er wird zu keiner anderen Arbeit versetzt, er istvollständig unbrauchbar. Übrigens laufen ja auch sonst Beschwerden gegen ihn ein.Der Oberportier zum Beispiel, ja also, was denn, Feodor, ja, Feodor beklagt sichüber die Unhöflichkeit und Frechheit dieses Jungen. Wie, das soll nicht genügen? Ja,liebe Frau Oberköchin, Sie verleugnen wegen dieses Jungen Ihren Charakter.Nein, so dürfen Sie mir nicht zusetzen.« In diesem Augenblick beugte sich derPortier zum Ohr des Oberkellners und flüsterte etwas. Der Oberkellner sah ihnzuerst erstaunt an und redete dann so rasch in das Telephon, daß Karl ihn anfangsnicht ganz genau verstand und auf den Fußspitzen zwei Schritte näher trat. »LiebeFrau Oberköchin«, hieß es, »aufrichtig gesagt, ich hätte nicht geglaubt, daß Sie eine soschlechte Menschenkennerin sind. Eben erfahre ich etwas über IhrenEngelsjungen, was Ihre Meinung über ihn gründlich ändern wird, und es tut mir fastleid, daß gerade ich es Ihnen sagen muß. Dieser feine Junge also, den Sie ein

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Muster von Anstand nennen, läßt keine dienstfreie Nacht vergehen, ohne in dieStadt zu laufen, aus der er erst am Morgen wiederkommt. Ja, ja, Frau Oberköchin,das ist durch Zeugen bewiesen, durch einwandfreie Zeugen, ja. Können Sie mirnun vielleicht sagen, wo er das Geld zu diesen Lustbarkeiten hernimmt? Wie erdie Aufmerksamkeit für seinen Dienst behalten soll? Und wollen Sie vielleicht auchnoch, daß ich Ihnen beschreiben soll, was er in der Stadt treibt? Diesen Jungenloszuwerden will ich mich aber ganz besonders beeilen. Und Sie, bitte, nehmendas als Mahnung, wie vorsichtig man gegen hergelaufene Burschen sein soll.«»Aber, Herr Oberkellner«, rief nun Karl, förmlich erleichtert durch den großen Irrtum,der hier unterlaufen schien und der vielleicht am ehesten dazu führen konnte, daßsich alles noch unerwartet besserte, »da liegt bestimmt eine Verwechslung vor.Ich glaube, der Herr Oberportier hat Ihnen gesagt, daß ich jede Nacht weggehe.Das ist aber durchaus nicht richtig, ich bin vielmehr jede Nacht im Schlafsaal, daskönnen alle Jungens bestätigen. Wenn ich nicht schlafe, lerne ich kaufmännischeKorrespondenz, aber aus dem Schlafsaal rühre ich mich keine Nacht. Das ist jaleicht zu beweisen. Der Herr Oberportier verwechselt mich offenbar mit jemandanderem, und jetzt verstehe ich auch, warum er glaubt, daß ich ihn nicht grüße.«

»Wirst du sofort schweigen«, schrie der Oberportier und schüttelte die Faust, woandere einen Finger bewegt hätten. »Ich soll dich mit jemand anderemverwechseln! Ja, dann kann ich nicht mehr Oberportier sein, wenn ich die Leuteverwechsle. Hören Sie nur, Herr Isbary, dann kann ich nicht mehr Oberportier sein,nun ja, wenn ich die Leute verwechsle. In meinen dreißig Dienstjahren ist mirallerdings noch keine Verwechslung passiert, wie mir Hunderte von HerrenOberkellnern, die wir seit jener Zeit hatten, bestätigen müssen, aber bei dir,miserabler Junge, soll ich mit den Verwechslungen angefangen haben. Bei dir,mit deiner auffallenden, glatten Fratze. Was gibt es da zu verwechseln! Dukönntest jede Nacht hinter meinem Rücken in die Stadt gelaufen sein, und ichbestätige bloß nach deinem Gesicht, daß du ein ausgegorener Lump bist.«

»Laß, Feodor!« sagte der Oberkellner, dessen telephonisches Gespräch mit derOberköchin plötzlich abgebrochen worden zu sein schien. »Die Sache ist ja ganzeinfach. Auf seine Unterhaltungen in der Nacht kommt es in erster Reihe gar nichtan. Er möchte ja vielleicht vor seinem Abschied noch irgendeine großeUntersuchung über seine Nachtbeschäftigung verursachen wollen. Ich kann mirschon vorstellen, daß ihm das gefallen würde. Es würden womöglich alle vierzigLiftjungen heraufzitiert und als Zeugen einvernommen, die würden ihn natürlichauch alle verwechselt haben, es müßte also zur Zeugenschaft allmählich das ganzePersonal heran, der Hotelbetrieb würde natürlich auf ein Weilchen eingestellt, undwenn er dann schließlich doch hinausgeworfen würde, so hätte er doch wenigstensseinen Spaß gehabt. Also das machen wir lieber nicht. Die Oberköchin, diese guteFrau, hat er schon zum Narren gehalten, und damit soll es genug sein. Ich willnichts weiter hören; du bist wegen Dienstversäumnis auf der Stelle aus dem Dienstentlassen. Da gebe ich dir eine Anweisung an die Kasse, daß dir dein Lohn biszum heutigen Tage ausgezahlt werde. Das ist übrigens bei deinem Verhalten -unter uns gesagt - einfach ein Geschenk, das ich dir nur aus Rücksicht auf dieFrau Oberköchin mache.«

Ein telephonischer Anruf hielt den Oberkellner ab, die Anweisung sofort zuunterschreiben. »Die Liftjungen geben mir aber heute zu schaffen!« rief er schonnach Anhören der ersten Worte. »Das ist ja unerhört!« rief er nach einem Weilchen.Und vom Telephon weg wandte er sich zum Hotelportier und sagte: »Bitte,Feodor, halt mal diesen Burschen ein wenig, wir werden noch mit ihm zu redenhaben.« Und ins Telephon gab er den Befehl: »Komm sofort herauf.«

Nun konnte sich der Oberportier wenigstens austoben, was ihm beim Reden

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nicht hatte gelingen wollen. Er hielt Karl oben am Arm fest, aber nicht etwa mitruhigem Griff, der schließlich auszuhalten gewesen wäre, sondern er lockerte hieund da den Griff und machte ihn dann mit Steigerung fester und fester, was beiseinen großen Körperkräften gar nicht aufzuhören schien und ein Dunkel vor KarlsAugen verursachte. Aber er hielt Karl nicht nur, sondern als hätte er auch denBefehl bekommen, ihn gleichzeitig zu strecken, zog er ihn auch hie und da in dieHöhe und schüttelte ihn, wobei er immer wieder halb fragend zum Oberkellnersagte: »Ob ich ihn jetzt nur nicht verwechsle, ob ich ihn jetzt nur nichtverwechsle.«

Es war eine Erlösung für Karl, als der oberste der Liftjungen, ein gewisser Beß, einewig fauchender, dicker Junge, eintrat, und die Aufmerksamkeit des Oberportiersein wenig auf sich lenkte. Karl war so ermattet, daß er kaum grüßte, als er zu seinemErstaunen hinter dem Jungen Therese, leichenblaß, unordentlich angezogen, mitlose aufgesteckten Haaren, hereinschlüpfen sah. Im Augenblick war sie bei ihmund flüsterte: »Weiß es schon die Oberköchin?«

»Der Oberkellner hat es ihr telephoniert«, antwortete Karl. »Dann ist es schongut, dann ist es schon gut«, sagte sie rasch, mit lebhaften Augen. »Nein«, sagteKarl. »Du weißt ja nicht, was sie gegen mich haben. Ich muß weg, die Oberköchin istdavon auch schon überzeugt. Bitte, bleib nicht hier, geh hinauf, ich werde michdann von dir verabschieden kommen.«

»Aber, Roßmann, was fällt dir denn ein, du wirst schön bei uns bleiben, solange esdir gefällt. Der Oberkellner macht ja alles, was die Oberköchin will, er liebt sie ja, ichhabe es letzthin erfahren. Da sei nur ruhig.«

»Bitte, Therese, geh jetzt weg. Ich kann mich nicht so gut verteidigen, wenn duhier bist. Und ich muß mich genau verteidigen, weil Lügen gegen mich vorgebrachtwerden. Je besser ich aber aufpassen und mich verteidigen kann, desto mehrHoffnung ist, daß ich bleibe. Also, Therese -« Leider konnte er in einem plötzlichenSchmerz nicht unterlassen, leise hinzuzufügen: »Wenn mich nur dieser Oberportierlosließe! Ich wußte gar nicht, daß er mein Feind ist. Aber wie er mich immerfort drücktund zieht!«

>Warum sage ich das nur!< dachte er gleichzeitig, >kein Frauenzimmerkann das ruhig anhören<, und tatsächlich wandte sich Therese, ohne daß er sienoch mit der freien Hand hätte davon abhalten können, an den Oberportier: »HerrOberportier, bitte, lassen Sie doch sofort den Roßmann frei, Sie machen ihm jaSchmerzen. Die Frau Oberköchin wird gleich persönlich kommen, und dann wirdman schon sehen, daß ihm in allem Unrecht geschieht. Lassen Sie ihn los; waskann es Ihnen denn für ein Vergnügen machen, ihn zu quälen!« Und sie griff sogarnach des Oberportiers Hand. »Befehl, kleines Fräulein, Befehl«, sagte derOberportier und zog mit der freien Hand Therese freundlich an sich, während er mitder anderen Karl nun sogar angestrengt drückte, als wolle er ihm nicht nurSchmerzen machen, sondern als habe er mit diesem in seinem Besitzbefindlichen Arm ein besonderes Ziel, das noch lange nicht erreicht sei.

Therese brauchte einige Zeit, um sich der Umarmung des Oberportiers zuentwinden, und wollte sich gerade beim Oberkellner, der sich noch immer vondem sehr umständlichen Beß erzählen ließ, für Karl einsetzen, als die Oberköchin mitraschem Schritte eintrat.

»Gott sei Dank!« rief Therese und man hörte einen Augenblick lang im Zimmernichts als diese lauten Worte. Gleich sprang der Oberkellner auf und schob Beßzur Seite. »Sie kommen also selbst, Frau Oberköchin? Wegen dieser Kleinigkeit?Nach unserem Telephongespräch konnte ich es ja ahnen, aber geglaubt habe iches eigentlich doch nicht. Und dabei wird die Sache Ihres Schützlings immerfort

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ärger. Ich fürchte, ich werde ihn tatsächlich nicht entlassen, aber dafür einsperrenlassen müssen. Hören Sie selbst.« Und er winkte Beß herbei.

»Ich möchte zuerst ein paar Worte mit dem Roßmann reden«, sagte die Oberköchinund setzte sich auf einen Sessel, da sie der Oberkellner hierzu nötigte. »Karl, bitte,komm näher«, sagte sie dann. Karl folgte oder wurde vielmehr vom Oberportiernäher geschleppt. »Lassen Sie ihn doch los«, sagte die Oberköchin ärgerlich, »er istdoch kein Raubmörder!« Der Oberportier ließ ihn tatsächlich los, drückte aber vorhernoch einmal so stark, daß ihm selbst vor Anstrengung die Tränen in die Augentraten.

»Karl«, sagte die Oberköchin, legte die Hände ruhig in den Schoß und sah Karl mitgeneigtem Kopfe an - es war gar nicht wie ein Verhör -, »vor allem will ich dirsagen, daß ich noch vollständiges Vertrauen zu dir habe. Auch der Herr Oberkellnerist ein gerechter Mann, dafür bürge ich. Wir beide wollen dich im Grunde gerne hierbehalten« - sie sah hierbei flüchtig zum Oberkellner hinüber, als wolle sie bitten, ihrnicht ins Wort zu fallen. Es geschah auch nicht. »Vergiß also, was man dir bis jetztvielleicht hier gesagt hat. Vor allem, was dir vielleicht der Herr Oberportier gesagthat, mußt du nicht besonders schwer nehmen. Er ist zwar ein aufgeregter Mann,was bei seinem Dienst kein Wunder ist, aber hat auch Frau und Kinder und weiß,daß man einen Jungen, der nur auf sich angewiesen ist, nicht unnötig plagen muß,sondern daß das schon die übrige Welt genügend besorgt.«

Es war ganz still im Zimmer. Der Oberportier sah, Erklärungen fordernd, auf denOberkellner, dieser sah auf die Oberköchin und schüttelte den Kopf. Der LiftjungeBeß grinste recht sinnlos hinter dem Rücken des Oberkellners. Therese schluchztevor Freude und Leid in sich hinein und hatte alle Mühe, es niemanden hören zulassen.

Karl aber blickte, obwohl das nur als schlechtes Zeichen aufgefaßt werdenkonnte, nicht auf die Oberköchin, die gewiß nach seinem Blick verlangte, sondernvor sich auf den Fußboden. In seinem Arm zuckte der Schmerz nach allenRichtungen, das Hemd klebte an den Striemen fest, und er hätte eigentlich denRock ausziehen und die Sache besehen sollen. Was die Oberköchin sagte, warnatürlich sehr freundlich gemeint, aber unglücklicherweise schien es ihm, als müssees gerade durch das Verhalten der Oberköchin zutage treten, daß er keineFreundlichkeit verdiene, daß er die Wohltaten der Oberköchin zwei Monateunverdient genossen habe, ja, daß er nichts anderes verdiene, als unter die Händedes Oberportiers zu kommen.

»Ich sage das«, fuhr die Oberköchin fort, »damit du jetzt unbeirrt antwortest, wasdu übrigens wahrscheinlich auch sonst getan hättest, wie ich dich zu kennenglaube.«

»Darf ich, bitte, inzwischen den Arzt holen, der Mann könnte nämlich inzwischenverbluten«, mischte sich plötzlich der Liftjunge Beß sehr höflich, aber sehr störend ein.

»Geh«, sagte der Oberkellner zu Beß, der gleich davonlief. Und dann zurOberköchin: »Die Sache ist die. Der Oberportier hat den Jungen da nicht zum Spaßfestgehalten. Unten, im Schlafsaal der Liftjungen, ist nämlich in einem Bett sorgfältigzugedeckt ein wildfremder, schwer betrunkener Mann aufgefunden worden. Manhat ihn natürlich geweckt und wollte ihn wegschaffen. Da hat dieser Mann abereinen großen Radau zu machen angefangen, immer wieder herumgeschrien, derSchlafsaal gehöre dem Karl Roßmann, dessen Gast er sei, der ihn hergebrachthabe und der jeden bestrafen werde, der ihn anzurühren wagen würde. Im übrigenmüsse er auch deshalb auf den Karl Roßmann warten, weil ihm dieser Geldversprochen habe und es nur holen gegangen sei. Achten Sie, bitte, darauf, FrauOberköchin: Geld versprochen habe und es holen gegangen sei. Du kannst auch

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achtgeben, Roßmann«, sagte der Oberkellner nebenbei zu Karl, der sich geradenach Therese umgedreht hatte, die wie gebannt den Oberkellner anstarrte undimmer wieder entweder irgendwelche Haare aus der Stirn strich oder dieseHandbewegung um ihrer selbst willen machte. »Aber vielleicht erinnere ich dichan irgendwelche Verpflichtungen. Der Mann unten hat nämlich weiterhin gesagt, daßihr beide nach deiner Rückkunft irgendeiner Sängerin einen Nachtbesuch machenwerdet, deren Namen allerdings niemand verstanden hat, da ihn der Mann immernur unter Gesang aussprechen konnte.«

Hier unterbrach sich der Oberkellner, denn die sichtlich bleich gewordeneOberköchin erhob sich vom Sessel, den sie ein wenig zurückstieß.

»Ich verschone Sie mit dem Weiteren«, sagte der Oberkellner.

»Nein, bitte, nein«, sagte die Oberköchin und ergriff seine Hand, »erzählen Sie nurweiter, ich will alles hören, darum bin ich ja hier.«

Der Oberportier, der vortrat und sich zum Zeichen dessen, daß er von Anfang analles durchschaut hatte, laut auf die Brust schlug, wurde vom Oberkellner mit denWorten: »Ja, Sie hatten ganz recht, Feodor!« gleichzeitig beruhigt undzurückgewiesen.

»Es ist nicht mehr viel zu erzählen«, sagte der Oberkellner. »Wie die Jungeneben schon sind, haben sie den Mann zuerst ausgelacht, haben dann mit ihmStreit bekommen, und er ist, da dort immer gute Boxer zur Verfügung stehen,einfach niedergeboxt worden; und ich habe gar nicht zu fragen gewagt, anwelchen und an wie vielen Stellen er blutet, denn diese Jungen sind fürchterlicheBoxer, und ein Betrunkener macht es ihnen natürlich leicht!«

»So«, sagte die Oberköchin, hielt den Sessel an der Lehne und sah auf denPlatz, den sie eben verlassen hatte. »Also sprich doch, bitte, ein Wort, Roßmann!«sagte sie dann. Therese war von ihrem bisherigen Platz zur Oberköchinhinübergelaufen und hatte sich, was sie Karl sonst niemals hatte tun sehen, in dieOberköchin eingehängt. Der Oberkellner stand knapp hinter der Oberköchin undglättete langsam einen kleinen, bescheidenen Spitzenkragen der Oberköchin, dersich ein wenig umgeschlungen hatte. Der Oberportier neben Karl sagte: »Alsowird's?«, wollte damit aber nur einen Stoß markieren, den er unterdessen Karl inden Rücken gab.

»Es ist wahr«, sagte Karl, infolge des Stoßes unsicherer, als er wollte, »daß ichden Mann in den Schlafsaal gebracht habe.«

»Mehr wollen wir nicht wissen«, sagte der Portier im Namen aller. DieOberköchin wandte sich stumm zum Oberkellner und dann zu Therese.

»Ich konnte mir nicht anders helfen«, sagte Karl weiter. »Der Mann ist meinKamerad von früher her, er kam, nachdem wir uns zwei Monate lang nicht gesehenhatten, hierher, um mir einen Besuch zu machen, war aber so betrunken, daß ernicht wieder allein fortgehen konnte.«

Der Oberkellner sagte neben der Oberköchin halblaut vor sich hin: »Er kam alsozu Besuch und war nachher so betrunken, daß er nicht fortgehen konnte. - DieOberköchin flüsterte über die Schulter dem Oberkellner etwas zu, der mit einemoffenbar nicht zu dieser Sache gehörigen Lächeln Einwände zu machen schien.Therese - Karl sah nur zu ihr hin - drückte ihr Gesicht in völliger Hilflosigkeit an dieOberköchin und wollte nichts mehr sehen. Der einzige, der mit Karls Erklärungvollständig zufrieden war, war der Oberportier, welcher einigemal wiederholte: »Esist ja ganz recht, seinem Saufbruder muß man helfen«, und diese Erklärung jedemder Anwesenden durch Blicke und Handbewegungen einzuprägen suchte.

»Schuld also bin ich«, sagte Karl und machte eine Pause, als warte er auf ein

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freundliches Wort seiner Richter, das ihm Mut zur weiteren Verteidigung gebenkönnte, aber es kam nicht, »schuld bin ich nur daran, daß ich den Mann - er heißtRobinson, ist ein Irländer - in den Schlafsaal gebracht habe. Alles andere, was ergesagt hat, hat er aus Betrunkenheit gesagt und ist nicht richtig.«

»Du hast ihm also kein Geld versprochen?" fragte der Oberkellner. »Ja«, sagteKarl, und es tat ihm leid, daß er das vergessen hatte, er hatte sich ausUnüberlegtheit oder Zerstreutheit in allzu bestimmten Ausdrücken als schuldlosbezeichnet. »Geld habe ich ihm versprochen, weil er mich darum gebeten hat.Aber ich wollte es nicht holen, sondern ihm das Trinkgeld geben, das ich heutenacht verdient hatte« Und er zog zum Beweise das Geld aus der Tasche undzeigte auf der flachen Hand die paar kleinen Münzen.

»Du verrennst dich immer mehr«, sagte der Oberkellner. »Wenn man dirglauben sollte, müßte man immer das, was du früher gesagt hast, vergessen. Zuersthast du also den Mann - nicht einmal den Namen Robinson glaube ich dir, so hat,seit es Irland gibt, kein Irländer geheißen -, zuerst also hast du ihn nur in denSchlafsaal gebracht, wofür allein du übrigens schon im Schwung hinausfliegenkönntest, Geld aber hast du ihm zuerst nicht versprochen, dann wieder, wenn mandich überraschend fragt, hast du ihm Geld versprochen. Aber wir haben hier keinAntwort- und Fragespiel, sondern wollen deine Rechtfertigung hören. Zuerst aberwolltest du das Geld nicht holen, sondern ihm dein heutiges Trinkgeld geben,dann aber zeigt sich, daß du dieses Geld noch bei dir hast, also offenbar dochnoch anderes holen wolltest, wofür auch dein langes Ausbleiben spricht. Schließlichwäre es ja nichts Besonderes, wenn du für ihn aus deinem Koffer hättest Geld holenwollen; daß du es aber mit aller Kraft leugnest, das ist allerdings etwasBesonderes, ebenso wie du auch immerfort verschweigen willst, daß du den Mannerst hier im Hotel betrunken gemacht hast, woran ja nicht der geringste Zweifelist, denn du selbst hast zugegeben, daß er allein gekommen ist, aber nicht alleinweggehen konnte, und er selbst hat ja im Schlafsaal herumgeschrien, daß er deinGast ist. Fraglich also bleiben jetzt nur noch zwei Dinge, die du, wenn du dieSache vereinfachen willst, selbst beantworten kannst, die man aber schließlichauch ohne deine Mithilfe wird feststellen können: Erstens, wie hast du dir denZutritt zu den Vorratskammern verschafft, und zweitens, wie hast duverschenkbares Geld angesammelt?«

>Es ist unmöglich, sich zu verteidigen, wenn nicht guter Wille da ist<, sagtesich Karl und antwortete dem Oberkellner nicht mehr, so sehr Theresewahrscheinlich darunter litt. Er wußte, daß alles, was er sagen konnte, hinterherganz anders aussehen würde, als es gemeint gewesen war, und daß es nur der Artder Beurteilung überlassen bleibe, Gutes oder Böses vorzufinden.

»Er antwortet nicht«, sagte die Oberköchin.

»Es ist das Vernünftigste, was er tun kann«, sagte der Oberkellner.

»Er wird sich schon noch etwas ausdenken«, sagte der Oberportier und strichmit der früher grausamen Hand behutsam seinen Bart.

»Sei still«, sagte die Oberköchin zu Therese, die an ihrer Seite zu schluchzenbegann, »du siehst, er antwortet nicht, wie kann ich denn da etwas für ihn tun?Schließlich bin ich es, die vor dem Herrn Oberkellner unrecht behält. Sag doch,Therese, habe ich deiner Meinung nach etwas für ihn zu tun versäumt?« Wie konntedas Therese wissen, und was nützte es, daß sich die Oberköchin durch diese öffentlichan das kleine Mädchen gerichtete Frage und Bitte vor diesen beiden Herrenvielleicht viel vergab? »Frau Oberköchin«, sagte Karl, der sich noch einmalaufraffte, aber nur um Therese die Antwort zu ersparen, zu keinem anderenZweck, »ich glaube nicht, daß ich Ihnen irgendwie Schande gemacht habe, und

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nach genauer Untersuchung müßte das auch jeder andere finden.«

»Jeder andere«, sagte der Oberportier und zeigte mit dem Finger auf denOberkellner, »das ist eine Spitze gegen Sie, Herr Isbary.«

»Nun, Frau Oberköchin«, sagte dieser, »es ist halb sieben, hohe und höchste Zeit.Ich denke, Sie lassen mir am besten das Schlußwort in dieser schon allzu duldsambehandelten Sache.«

Der kleine Giacomo war hereingekommen, wollte zu Karl treten, ließ aber, durchdie allgemein herrschende Stille erschreckt, davon ab und wartete. Die Oberköchinhatte seit Karls letzten Worten den Blick nicht von ihm gewendet, und es deuteteauch nichts daraufhin, daß sie die Bemerkung des Oberkellners gehört hatte. IhreAugen sahen voll auf Karl hin, sie waren groß und blau, aber ein wenig getrübtdurch das Alter und die viele Mühe. Wie sie so dastand und den Sessel vor sichschwach schaukelte, hätte man ganz gut erwarten können, sie werde im nächstenAugenblick sagen:

>Nun, Karl, die Sache ist, wenn ich es überlege, noch nicht recht klargestelltund braucht, wie du richtig gesagt hast, noch eine genaue Untersuchung. Und diewollen wir jetzt veranstalten, ob man sonst damit einverstanden ist oder nicht,denn Gerechtigkeit muß sein.<

Statt dessen aber sagte die Oberköchin nach einer kleinen Pause, die niemandzu unterbrechen gewagt hatte - nur die Uhr schlug in Bestätigung der Worte desOberkellners halb sieben und mit ihr, wie jeder wußte, gleichzeitig alle Uhren imganzen Hotel, es klang im Ohr und in der Ahnung wie das zweimalige Zuckeneiner einzigen großen Ungeduld -: »Nein, Karl, nein, nein! Das wollen wir uns nichteinreden. Gerechte Dinge haben auch ein besonderes Aussehen, und das hat,ich muß es gestehen, deine Sache nicht. Ich darf das sagen und muß es auchsagen; ich muß es gestehen, denn ich bin es, die mit dem besten Vorurteil für dichhergekommen ist. Du siehst, auch Therese schweigt.« (Aber sie schwieg dochnicht, sie weinte.)

Die Oberköchin stockte in einem plötzlich sie überkommenden Entschluß und sagte:»Karl, komm einmal her«, und als er zu ihr gekommen war - gleich vereinigtensich hinter seinem Rücken der Oberkellner und der Oberportier zu lebhaftemGespräch -, umfaßte sie ihn mit der linken Hand, ging mit ihm und der willenlosfolgenden Therese in die Tiefe des Zimmers und dort mit beiden einigemal aufund ab, wobei sie sagte: »Es ist möglich, Karl, und darauf scheinst du zuvertrauen, sonst würde ich dich überhaupt nicht verstehen, daß eine Untersuchung dirin einzelnen Kleinigkeiten recht geben wird. Warum denn nicht? Du hast vielleichttatsächlich den Oberportier gegrüßt. Ich glaube es sogar bestimmt, ich weiß auch, wasich von dem Oberportier zu halten habe, du siehst, ich rede selbst jetzt offen zudir. Aber solche kleine Rechtfertigungen helfen dir gar nichts. Der Oberkellner,dessen Menschenkenntnis ich im Laufe vieler Jahre zu schätzen gelernt habe, undwelcher der verläßlichste Mensch ist, den ich überhaupt kenne, hat deine Schuld klarausgesprochen, und die scheint mir allerdings unwiderleglich. Vielleicht hast dubloß unüberlegt gehandelt, vielleicht aber bist du nicht der, für den ich dich gehaltenhabe. Und doch«, damit unterbrach sie sich gewissermaßen selbst und sah flüchtignach den beiden Herren zurück, »kann ich es mir noch nicht abgewöhnen, dich füreinen im Grunde anständigen Jungen zu halten.«

»Frau Oberköchin! Frau Oberköchin!« mahnte der Oberkellner, der ihren Blickaufgefangen hatte.

»Wir sind gleich fertig«, sagte die Oberköchin und redete nun schneller auf Karlein: »Höre, Karl, so wie ich die Sache übersehe, bin ich noch froh, daß derOberkellner keine Untersuchung einleiten will; denn, wollte er sie einleiten, ich

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müßte es in deinem Interesse verhindern. Niemand soll erfahren, wie und womit duden Mann bewirtet hast, der übrigens nicht einer deiner früheren Kameradengewesen sein kann, wie du vorgibst, denn mit denen hast du ja zum Abschiedgroßen Streit gehabt, so daß du nicht jetzt einen von ihnen traktieren wirst. Es kannalso nur ein Bekannter sein, mit dem du dich leichtsinnigerweise in der Nacht inirgendeiner städtischen Kneipe verbrüdert hast. Wie konntest du mir, Karl, alle dieseDinge verbergen? Wenn es dir im Schlafsaal vielleicht unerträglich war und duzuerst aus diesem unschuldigen Grunde mit deinem Nachtschwärmen angefangenhast, warum hast du denn kein Wort gesagt, du weißt, ich wollte dir ein eigenesZimmer verschaffen und habe darauf geradezu erst über deine Bitten verzichtet.Es scheint jetzt, als hättest du den allgemeinen Schlafsaal vorgezogen, weil dudich dort ungebundener fühltest. Und dein Geld hattest du doch in meiner Kassaaufgehoben, und die Trinkgelder brachtest du mir jede Woche; woher, um Gotteswillen, Junge, hast du das Geld für deine Vergnügungen genommen und woherwolltest du jetzt das Geld für deinen Freund holen? Das sind natürlich lauter Dinge,die ich wenigstens jetzt dem Oberkellner gar nicht andeuten darf, denn dann wärevielleicht eine Untersuchung unausweichlich. Du mußt also unbedingt aus demHotel, und zwar so schnell als möglich. Geh direkt in die Pension Brenner - duwarst doch schon mehrmals mit Therese dort - sie werden dich auf dieseEmpfehlung hin umsonst aufnehmen -« und die Oberköchin schrieb mit einemgoldenen Crayon, den sie aus der Bluse zog, einige Zeilen auf eine Visitenkarte,wobei sie aber die Rede nicht unterbrach - »deinen Koffer werde ich dir gleichnachschicken. Therese, lauf doch in die Garderobe der Liftjungen und packseinen Koffer!« (Aber Therese rührte sich noch nicht, sondern wollte, wie sie allesLeid ausgehalten hatte, nun auch die Wendung zum Besseren, welche die SacheKarls dank der Güte der Oberköchin nahm, ganz miterleben.)

Jemand öffnete, ohne sich zu zeigen, ein wenig die Tür und schloß sie gleichwieder. Es mußte offenbar Giacomo gegolten haben, denn dieser trat vor undsagte: »Roßmann, ich habe dir etwas auszurichten.«

»Gleich«, sagte die Oberköchin und steckte Karl, der mit gesenktem Kopf ihrzugehört hatte, die Visitenkarte in die Tasche, »dein Geld behalte ich vorläufig, duweißt, du kannst es mir anvertrauen. Heute bleib zu Hause und überlege deineAngelegenheit, morgen - heute habe ich keine Zeit, auch habe ich mich schon vielzu lange hier aufgehalten - komme ich zu Brenner, und wir werden zusehen, waswir weiter für dich machen können. Verlassen werde ich dich nicht, das sollst dujedenfalls schon heute wissen. Über deine Zukunft mußt du dir keine Sorgenmachen, eher über die letztvergangene Zeit.« Darauf klopfte sie ihm leicht auf dieSchulter und ging zum Oberkellner hinüber. Karl hob den Kopf und sah der großen,stattlichen Frau nach, die sich in ruhigem Schritt und freier Haltung von ihmentfernte.

»Bist du denn gar nicht froh«, sagte Therese, die bei ihm zurückgeblieben war,»daß alles so gut ausgefallen ist?«

»O ja«, sagte Karl und lächelte ihr zu, wußte aber nicht, warum er darüber froh seinsollte, daß man ihn als einen Dieb wegschickte. Aus Theresens Augen strahlte diereinste Freude, als sei es ihr ganz gleichgültig, ob Karl etwas verbrochen hatteoder nicht, ob er gerecht beurteilt worden war oder nicht, wenn man ihn nurgerade entwischen ließ, in Schande oder in Ehren. Und so verhielt sich geradeTherese, die doch in ihren eigenen Angelegenheiten so peinlich war und ein nichtganz eindeutiges Wort der Oberköchin wochenlang in ihren Gedanken drehte unduntersuchte. Mit Absicht fragte er: »Wirst du meinen Koffer gleich packen undwegschicken?« Er mußte gegen seinen Willen vor Staunen den Kopf schütteln, soschnell fand sich Therese in die Frage hinein, und die Überzeugung, daß in dem

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Koffer Dinge waren, die man vor allen Leuten geheimhalten mußte, ließ sie gar nichtnach Karl hinübersehen, gar nicht ihm die Hand reichen, sondern nur flüstern:»Natürlich, Karl, gleich, gleich werde ich den Koffer packen.« Und schon war siedavongelaufen.

Nun ließ sich aber Giacomo nicht mehr halten, und aufgeregt durch das langeWarten, rief er laut: »Roßmann, der Mann wälzt sich unten im Gang und will sichnicht wegschaffen lassen. Sie wollten ihn ins Krankenhaus bringen lassen, aberer wehrt sich und behauptet, du würdest niemals dulden, daß er ins Krankenhauskommt. Man solle ein Automobil nehmen und ihn nach Hause schicken, du würdestdas Automobil bezahlen. Willst du?« »Der Mann hat Vertrauen zu dir«, sagte derOberkellner. Karl zuckte mit den Schultern und zählte Giacomo sein Geld in dieHand. »Mehr habe ich nicht«, sagte er dann. »Ich soll dich auch fragen, ob dumitfahren willst«, fragte noch Giacomo, mit dem Gelde klimpernd.

»Er wird nicht mitfahren«, sagte die Oberköchin.

»Also, Roßmann«, sagte der Oberkellner schnell und wartete gar nicht, bisGiacomo draußen war, »du bist auf der Stelle entlassen.«

Der Oberportier nickte mehrere Male, als wären es seine eigenen Worte, die derOberkellner nur nachspreche.

»Die Gründe deiner Entlassung kann ich nicht laut aussprechen, denn sonst müßteich dich einsperren lassen.«

Der Oberportier sah auffallend streng zur Oberköchin hinüber, denn er hatte wohlerkannt, daß sie die Ursache dieser allzu milden Behandlung war.

»Jetzt geh zu Beß, zieh dich um, übergib Beß deine Livree und verlasse sofort, abersofort das Haus.«

Die Oberköchin schloß die Augen, sie wollte damit Karl beruhigen. Während er sichzum Abschied verbeugte, sah er flüchtig, wie der Oberkellner die Hand derOberköchin wie im geheimen umfaßte und mit ihr spielte. Der Oberportier begleiteteKarl mit schweren Schritten bis zur Tür, die er ihn nicht schließen ließ, sondern selbstnoch offen hielt, um Karl nachschreien zu können: »In einer Viertelminute will ichdich beim Haupttor an mir vorübergehen sehen! Merk dir das!«

Karl beeilte sich, wie er nur konnte, um nur beim Haupttor eine Belästigung zuvermeiden, aber es ging alles viel langsamer, als er wollte. Zuerst war Beß nichtgleich zu finden und jetzt, in der Frühstückszeit, war alles voll Menschen, dannzeigte sich, daß ein Junge sich Karls alte Hosen ausgeborgt hatte, und Karl mußtedie Kleiderständer bei fast allen Betten absuchen, ehe er diese Hosen fand, so daßwohl fünf Minuten vergangen waren, ehe Karl zum Haupttor kam. Gerade vor ihmging eine Dame mitten zwischen vier Herren. Sie gingen alle auf ein großesAutomobil zu, das sie erwartete und dessen Schlag bereits ein Lakai geöffnet hielt,während er den freien linken Arm seitwärts waagrecht und steif ausstreckte, washöchst feierlich aussah. Aber Karl hatte umsonst gehofft, hinter dieser vornehmenGesellschaft unbemerkt hinauszukommen. Schon faßte ihn der Oberportier bei derHand und zog ihn zwischen zwei Herren hindurch, die er um Verzeihung bat, zusich hin. »Das soll eine Viertelminute gewesen sein«, sagte er und sah Karl vonder Seite an, als beobachte er eine schlecht gehende Uhr. »Komm einmal her«,sagte er dann und führte ihn in die große Portierloge, die Karl zwar schon längsteinmal anzusehen Lust gehabt hatte, in die er aber jetzt, von dem Portiergeschoben, nur mit Mißtrauen eintrat. Er war schon in der Tür, als er sich umwandteund den Versuch machte, den Oberportier wegzuschieben und wegzukommen.

»Nein, nein, hier geht man hinein«, sagte der Oberportier und drehte Karl um.»Ich bin doch schon entlassen«, sagte Karl und meinte damit, daß ihm im Hotelniemand mehr etwas zu befehlen habe.

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»Solange ich dich halte, bist du nicht entlassen«, sagte der Portier, wasallerdings auch richtig war.

Karl fand schließlich auch keine Ursache, warum er sich gegen den Portierwehren sollte. Was konnte ihm denn auch im Grunde noch geschehen? Überdiesbestanden die Wände der Portierloge ausschließlich aus ungeheuerenGlasscheiben, durch die man die im Vestibül gegeneinanderströmendeMenschenmenge deutlich sah, als wäre man mitten unter ihnen. Ja, es schien inder ganzen Portierloge keinen Winkel zu geben, in dem man sich vor den Augender Leute verbergen konnte. So eilig es dort draußen die Leute zu haben schienen,denn mit ausgestrecktem Arm und gesenktem Kopf, mit spähenden Augen, mithochgehaltenen Gepäckstücken suchten sie ihren Weg, so versäumte doch kaumeiner, einen Blick in die Portierloge zu werfen, denn hinter deren Scheiben warenimmer Ankündigungen und Nachrichten ausgehängt, die sowohl für die Gäste als fürdas Hotelpersonal Wichtigkeit hatten. Außerdem aber bestand noch einunmittelbarer Verkehr der Portierloge mit dem Vestibül, denn an zwei großenSchiebefenstern saßen zwei Unterportiers und waren unaufhörlich damit beschäftigt,Auskünfte in den verschiedensten Angelegenheiten zu erteilen. Das warengeradezu überbürdete Leute, und Karl hätte behaupten wollen, daß der Oberportier,wie er ihn kannte, sich in seiner Laufbahn um diese Posten herumgewundenhatte. Diese zwei Auskunftserteiler hatten - von außen konnte man sich das nichtrichtig vorstellen - in der Öffnung des Fensters immer zumindest zehn fragendeGesichter vor sich. Unter diesen zehn Fragern, die immerfort wechselten, war oftein Durcheinander von Sprachen, als sei jeder einzelne von einem anderenLande abgesandt. Immer fragten einige gleichzeitig, immer redeten außerdemeinzelne durcheinander. Die meisten wollten etwas aus der Portierloge holen oderetwas dort abgeben, so sah man immer auch ungeduldig fuchtelnde Hände ausdem Gedränge ragen. Einmal hatte einer ein Begehren wegen irgendeiner Zeitung,die sich unversehens von der Höhe aus entfaltete und für einen Augenblick alleGesichter verhüllte. All diesem mußten nun die zwei Unterportiers standhalten.Bloßes Reden hätte für ihre Aufgabe nicht genügt, sie plapperten, besonders der eine,ein düsterer Mann mit einem das ganze Gesicht umgebenden dunklen Bart, gabdie Auskunft ohne die geringste Unterbrechung. Er sah weder auf die Tischplatte,wo er fortwährend Handreichungen auszuführen hatte, noch auf das Gesicht diesesoder jenes Fragers, sondern ausschließlich starr vor sich, offenbar um seine Kräftezu sparen und zu sammeln. Übrigens störte wohl sein Bart ein wenig dieVerständlichkeit seiner Rede, und Karl konnte in dem Weilchen, während dessen erbei ihm stehenblieb, sehr wenig von dem Gesagten auffassen, wenn es auchmöglicherweise trotz dem englischen Beiklang gerade fremde Sprachen waren, dieer gebrauchen mußte. Außerdem beirrte es, daß sich eine Auskunft so knapp an dieandere anschloß und in sie überging, so daß oft noch ein Frager mit gespanntemGesicht zuhorchte, da er glaubte, es gehe noch um seine Sache, um erst nacheinem Weilchen zu merken, daß er schon erledigt war. Gewöhnen mußte man sichauch daran, daß der Unterportier niemals bat, eine Frage zu wiederholen, selbstwenn sie im ganzen verständlich und nur ein wenig undeutlich gestellt war, einkaum merkliches Kopfschütteln verriet dann, daß er nicht die Absicht habe, dieseFrage zu beantworten, und es war Sache des Fragestellers, seinen eigenenFehler zu erkennen und die Frage besser zu formulieren. Besonders damitverbrachten manche Leute sehr lange Zeit vor dem Schalter. Zur Unterstützungder Unterportiers war jedem ein Laufbursche beigegeben, der in gestrecktem Laufvon einem Bücherregal und aus verschiedenen Kasten alles herbeizubringen hatte,was der Unterportier gerade benötigte. Das waren die bestbezahlten, wenn auchanstrengendsten Posten, die es im Hotel für ganz junge Leute gab, in gewissem

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Sinne waren sie auch noch ärger daran als die Unterportiers, denn diese hatten bloßnachzudenken und zu reden, während die jungen Leute gleichzeitig nachdenkenund laufen mußten. Brachten sie einmal etwas Unrichtiges herbei, so konnte sichnatürlich der Unterportier in der Eile nicht damit aufhalten, ihnen langeBelehrungen zu geben, er warf vielmehr einfach das, was sie ihm auf den Tischlegten, mit einem Ruck vom Tisch hinunter. Sehr interessant war die Ablösung derUnterportiers, die gerade kurz nach dem Eintritt Karls stattfand. Eine solcheAblösung mußte natürlich, wenigstens während des Tages, öfters stattfinden, denn esgab wohl kaum einen Menschen, der es länger als eine Stunde hinter dem Schalterausgehalten hätte. Zur Ablösungszeit ertönte nun eine Glocke, und gleichzeitig tratenaus einer Seitentür die zwei Unterportiers, die jetzt an die Reihe kommen sollten,jeder von seinem Laufburschen gefolgt. Sie stellten sich vorläufig untätig beimSchalter auf und betrachteten ein Weilchen die Leute draußen, um festzustellen, inwelchem Stadium sich gerade die augenblickliche Fragebeantwortung befand.Schien ihnen der Augenblick passend, um einzugreifen, klopften sie demabzulösenden Unterportier auf die Schulter, der, obwohl er sich bisher um nichts,was hinter seinem Rücken vorging, gekümmert hatte, sofort verstand und seinenPlatz frei machte. Das Ganze ging so rasch, daß es oft die Leute draußenüberraschte und sie aus Schrecken über das so plötzlich vor ihnen auftauchendeneue Gesicht fast zurückwichen. Die abgelösten zwei Männer streckten sich undbegossen dann über zwei bereitstehenden Waschbecken ihre heißen Köpfe. Dieabgelösten Laufburschen durften sich aber noch nicht strecken, sondern hattennoch ein Weilchen damit zu tun, die während ihrer Dienststunden auf den Bodengeworfenen Gegenstände aufzuheben und an ihren Platz zu legen.

Alles dieses hatte Karl mit der angespanntesten Aufmerksamkeit in wenigenAugenblicken in sich aufgenommen, und mit leichten Kopfschmerzen folgte er stilldem Oberportier, der ihn weiterführte. Offenbar hatte auch der Oberportier dengroßen Eindruck beachtet, den diese Art der Auskunftserteilung auf Karl gemachthatte, und er riß plötzlich an Karls Hand und sagte: »Siehst du, so wird hiergearbeitet.« Karl hatte ja allerdings hier im Hotel nicht gefaulenzt, aber vonsolcher Arbeit hatte er doch keine Ahnung gehabt, und fast völlig vergessend, daßder Oberportier sein großer Feind war, sah er zu ihm auf und nickte stumm undanerkennend mit dem Kopf. Das schien dem Oberportier aber wieder eineÜberschätzung des Unterportiers und vielleicht eine Unhöflichkeit gegenüber seinerPerson zu sein, denn als hätte er Karl zum Narren gehalten, rief er, ohneBesorgnis, daß man ihn hören könnte: »Natürlich ist dieses hier die dümmste Arbeit imganzen Hotel; wenn man eine Stunde zugehört hat, kennt man so ziemlich alleFragen, die gestellt werden, und den Rest braucht man ja nicht zu beantworten.Wenn du nicht frech und ungezogen gewesen wärest, gelogen, gelumpt, gesoffenund gestohlen hättest, hätte ich dich vielleicht bei so einem Fenster anstellen können,denn dazu kann ich ausschließlich nur vernagelte Köpfe brauchen.«

Karl überhörte gänzlich die Beschimpfung, soweit sie ihn betraf, so sehr war erdarüber empört, daß die ehrliche und schwere Arbeit der Unterportiers, stattanerkannt zu werden, verhöhnt wurde, und überdies verhöhnt von einem Mann, der,wenn er es gewagt hätte, sich einmal zu einem solchen Schalter zu setzen, gewißnach ein paar Minuten unter dem Gelächter aller Frager hätte abziehen müssen.

»Lassen Sie mich«, sagte Karl, seine Neugierde in betreff der Portierloge warbis zum Übermaß gestillt, »ich will mit Ihnen nichts mehr zu tun haben.«

»Das genügt nicht, um fortzukommen«, sagte der Oberportier, drückte Karls Arme,daß dieser sie gar nicht rühren konnte, und trug ihn förmlich an das andere Ende derPortierloge. Sahen die Leute draußen diese Gewalttätigkeit des Oberportiers nicht?Oder, wenn sie es sahen, wie faßten sie sie denn auf, daß keiner sich darüber

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aufhielt, daß niemand wenigstens an die Scheibe klopfte, um dem Oberportier zuzeigen, daß er beobachtet werde und nicht nach seinem Gutdünken mit Karlverfahren dürfe?

Aber bald hatte Karl auch keine Hoffnung mehr, vom Vestibül aus Hilfe zubekommen, denn der Oberportier griff an eine Schnur und über den Scheiben derhalben Portierloge zogen sich im Fluge bis an die letzte Höhe schwarze Vorhängezusammen. Auch in diesem Teil der Portierloge waren ja Menschen, aber alle involler Arbeit und ohne Ohr und Auge für alles, was nicht mit ihrer Arbeitzusammenhing. Außerdem waren sie ganz vom Oberportier abhängig und hätten,statt Karl zu helfen, lieber geholfen, alles zu verbergen, was auch immer demOberportier eingefallen wäre. Da waren zum Beispiel sechs Unterportiers bei sechsTelephonen. Die Anordnung war, wie man gleich bemerkte, so getroffen, daßimmer einer bloß Gespräche aufnahm, während sein Nachbar nach den vom erstenempfangenen Notizen die Aufträge telephonisch weiterleitete. Es waren dies jeneneuesten Telephone, für die keine Telephonzelle nötig war, denn das Glockenläutenwar nicht lauter als ein Zirpen, man konnte in das Telephon mit Flüsternhineinsprechen und doch kamen die Worte dank besonderer elektrischerVerstärkungen mit Donnerstimmen an ihrem Ziele an. Deshalb hörte man die dreiSprecher an ihren Telephonen kaum und hätte glauben können, sie beobachtetenmurmelnd irgendeinen Vorgang in der Telephonmuschel, während die dreianderen, wie betäubt von dem auf sie herandringenden, für die Umgebung im übrigenunhörbaren Lärm, die Köpfe auf das Papier sinken ließen, das zu beschreiben ihreAufgabe war. Wieder stand auch hier neben jedem der drei Sprecher ein Jungezur Hilfeleistung; diese drei Jungen taten nichts anderes, als abwechselnd denKopf horchend zu ihrem Herrn zu strecken und dann eilig, als würden siegestochen, in riesigen, gelben Büchern - die umschlagenden Blättermassenüberrauschten bei weitem jedes Geräusch der Telephone - die Telephonnummernherauszusuchen.

Karl konnte sich tatsächlich nicht enthalten, das alles genau zu verfolgen, obwohlder Oberportier, der sich gesetzt hatte, ihn in einer Art Umklammerung vor sichhinhielt. »Es ist meine Pflicht«, sagte der Oberportier und schüttelte Karl, als wolleer nur erreichen, daß dieser ihm sein Gesicht zuwende, »das, was der Oberkellneraus welchen Gründen immer versäumt hat, im Namen der Hoteldirektion wenigstensein wenig nachzuholen. So tritt hier immer jeder für den anderen ein. Ohne das wäreein so großer Betrieb undenkbar. Du willst vielleicht sagen, daß ich nicht deinunmittelbarer Vorgesetzter bin; nun, desto schöner ist es von mir, daß ich michdieser sonst verlassenen Sache annehme. Im übrigen bin ich in gewissem Sinneals Oberportier über alle gesetzt, denn mir unterstehen doch alle Tore des Hotels,also dieses Haupttor, die drei Mittel- und die zehn Nebentore, von den unzähligenTürchen und türlosen Ausgängen gar nicht zu reden. Natürlich haben mir alle inBetracht kommenden Bedienungsmannschaften unbedingt zu gehorchen.Gegenüber diesen großen Ehren habe ich natürlich andererseits vor derHoteldirektion die Verpflichtung, niemanden hinauszulassen, der nur imgeringsten verdächtig ist. Gerade du aber kommst mir, weil es mir so beliebt, sogarstark verdächtig vor.« Und vor Freude darüber hob er die Hände und ließ sie wiederstark zurückschlagen, daß es klatschte und wehtat. »Es ist möglich«, fügte er hinzuund unterhielt sich dabei königlich, »daß du bei einem anderen Ausgang unbemerkthinausgekommen wärest, denn du standest mir natürlich nicht dafür, besondereAnweisungen deinetwegen ergehen zu lassen. Aber da du nun einmal hier bist,will ich dich genießen. Im übrigen habe ich nicht daran gezweifelt, daß du dasRendezvous, das wir uns beim Haupttor gegeben hatten, auch einhalten wirst,denn das ist eine Regel, daß der Freche und der Unfolgsame gerade dort unddann mit seinen Lastern aufhört, wo es ihm schadet. Du wirst das an dir selbst

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gewiß noch oft beobachten können.«

»Glauben Sie nicht«, sagte Karl und atmete den eigentümlich dumpfen Geruchein, der vom Oberportier ausging, und den er erst hier, wo er so lange in seinernächsten Nähe stand, bemerkte, »glauben Sie nicht«, sagte er, »daß ich vollständig inIhrer Gewalt bin, ich kann ja schreien.«

»Und ich kann dir den Mund stopfen«, sagte der Oberportier ebenso ruhig undschnell, wie er es wohl nötigenfalls auszuführen gedachte. »Und meinst du dennwirklich, wenn man deinetwegen hereinkommen sollte, es würde sich jemandfinden, der dir recht geben würde, mir, dem Oberportier, gegenüber? Du siehst alsowohl den Unsinn deiner Hoffnungen ein. Weißt du, wie du noch in der Uniformwarst, da hast du tatsächlich noch ein wenig beachtenswert ausgesehen, aber indiesem Anzug, der tatsächlich nur in Europa möglich ist! -« Und er zerrte an denverschiedensten Stellen des Anzuges, der jetzt allerdings, obwohl er vor fünfMonaten noch fast neu gewesen war, abgenutzt, faltig, vor allem aber fleckig war,was hauptsächlich auf die Rücksichtslosigkeit der Liftjungen zurückzuführen war, diejeden Tag, um den Saalboden dem allgemeinen Befehl gemäß glatt und staubfrei zuerhalten, aus Faulheit keine eigentliche Reinigung vornahmen, sondern mitirgendeinem Öl den Boden besprengten und damit gleichzeitig alle Kleider auf denKleiderständern schändlich bespritzten. Nun konnte man seine Kleider aufheben, woman wollte, immer fand sich einer, der gerade seine Kleider nicht bei der Handhatte, dagegen die versteckten fremden Kleider mit Leichtigkeit fand und sichausborgte. Und womöglich war dieser eine gerade derjenige, der an diesem Tagedie Saalreinigung vorzunehmen hatte und der dann die Kleider nicht nur mit dem Ölbespritzte, sondern vollständig von oben bis unten begoß. Nur Renell hatte seinekostbaren Kleider an irgendeinem geheimen Orte versteckt, von wo sie kaumjemals einer hervorgezogen hatte, zumal sich ja auch niemand vielleicht ausBosheit oder Geiz fremde Kleider ausborgte, sondern aus bloßer Eile undNachlässigkeit dort nahm, wo er sie fand. Aber selbst auf Renells Kleid war mittenauf dem Rücken ein kreisrunder, rötlicher Ölfleck, und in der Stadt hätte ein Kenner andiesem Fleck selbst in diesem eleganten jungen Mann den Liftjungen feststellenkönnen. Und Karl sagte sich bei diesen Erinnerungen, daß er auch als Liftjungegenug gelitten hatte und daß doch alles vergebens gewesen war, denn nun wardieser Liftjungendienst nicht, wie er gehofft hatte, eine Vorstufe zu bessererAnstellung gewesen, vielmehr war er jetzt noch tiefer hinabgedrückt worden undsogar sehr nahe an das Gefängnis geraten. Überdies wurde er jetzt noch vomOberportier festgehalten, der wohl darüber nachdachte, wie er Karl noch weiterbeschämen könne. Und völlig vergessend, daß der Oberportier durchaus nicht derMann war, der sich vielleicht überzeugen ließ, rief Karl, während er sich mit dergerade freien Hand mehrmals gegen die Stirn schlug: »Und wenn ich Sie wirklichnicht gegrüßt haben sollte, wie kann denn ein erwachsener Mensch wegen einesunterlassenen Grußes so rachsüchtig werden!«

»Ich bin nicht rachsüchtig«, sagte der Oberportier, »Ich will nur deine Taschendurchsuchen. Ich bin zwar überzeugt, daß ich nichts finden werde, denn du wirstwohl vorsichtig gewesen sein und hast wohl deinen Freund allmählich alles, jedenTag etwas, wegschleppen lassen. Aber durchsucht worden mußt du sein.« Undschon griff er in die eine von Karls Rocktaschen mit solcher Gewalt, daß dieseitlichen Nähte platzten. »Da ist also schon nichts«, sagte er und überklaubte inseiner Hand den Inhalt dieser Tasche, einen Reklamekalender des Hotels, einBlatt mit einer Aufgabe aus kaufmännischer Korrespondenz, einige Rock- undHosenknöpfe, die Visitenkarte der Oberköchin, einen Polierstift für die Nägel, den ihmeinmal ein Gast beim Kofferpacken zugeworfen hatte, einen altenTaschenspiegel, den ihm Renell einmal zum Dank für vielleicht zehn Vertretungen

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im Dienste geschenkt hatte, und noch ein paar Kleinigkeiten. »Da ist also nichts«,wiederholte der Oberportier und warf alles unter die Bank, als sei esselbstverständlich, daß das Eigentum Karls, soweit es nicht gestohlen war, unter dieBank gehöre.

>Jetzt ist's aber genug<, sagte sich Karl - sein Gesicht mußte glühend rotsein -, und als der Oberportier, durch die Gier unvorsichtig gemacht, in Karlszweiter Tasche herumgrub, fuhr Karl mit einem Ruck aus den Ärmeln heraus, stießim ersten, noch unbeherrschten Sprung einen Unterportier ziemlich stark gegenseinen Apparat, lief durch die schwüle Luft, eigentlich langsamer, als erbeabsichtigt hatte, zur Tür, war aber glücklich draußen, ehe der Oberportier in seinemschweren Mantel sich auch nur hatte erheben können. Die Organisation desWachdienstes mußte doch nicht so mustergültig sein, es läutete zwar von einigenSeiten, aber Gott weiß zu welchen Zwecken! Hotelangestellte gingen zwar imTorgang in solcher Anzahl kreuz und quer, daß man fast daran denken konnte, siewollten in unauffälliger Weise den Ausgang unmöglich machen, denn viel sonstigenSinn konnte man in diesem Hin- und Hergehen nicht erkennen; jedenfalls kamKarl bald ins Freie, mußte aber noch das Hoteltrottoir entlanggehen, denn zurStraße konnte man nicht gelangen, da eine ununterbrochene Reihe vonAutomobilen stockend sich am Haupttor vorbeibewegte. Diese Automobile waren,um nur so bald als möglich zu ihrer Herrschaft zu kommen, geradezuineinandergefahren, jedes wurde vom nachfolgenden vorwärtsgeschoben.Fußgänger, die es besonders eilig hatten, auf die Straße zu gelangen, stiegen zwarhie und da durch die einzelnen Automobile hindurch, als sei dort ein öffentlicherDurchgang, und es war ihnen ganz gleichgültig, ob im Automobil nur der Chauffeurund die Dienerschaft saß oder auch die vornehmsten Leute. Ein solchesBenehmen schien aber Karl doch übertrieben, und man mußte sich wohl in denVerhältnissen schon auskennen, um das zu wagen; wie leicht konnte er an einAutomobil geraten, dessen Insassen das übelnahmen, ihn hinunterwarfen undeinen Skandal veranlaßten, und nichts hatte er als ein entlaufener verdächtigerHotelangestellter in Hemdärmeln mehr zu fürchten. Schließlich konnte ja die Reiheder Automobile nicht in Ewigkeit so fortgehen, und er war auch, solange er sichans Hotel hielt, eigentlich am wenigsten verdächtig. Tatsächlich gelangte Karlendlich an eine Stelle, wo die Automobilreihe zwar nicht aufhörte, aber zur Straßehin abbog und lockerer wurde. Gerade wollte er in den Verkehr der Straßeschlüpfen, in dem wohl noch viel verdächtiger aussehende Leute, als er war, freiherumliefen, da hörte er in der Nähe seinen Namen rufen. Er wandte sich um undsah, wie zwei ihm wohlbekannte Liftjungen aus einer niedrigen, kleinen Türöffnung,die wie der Eingang einer Gruft aussah, mit äußerster Anstrengung eine Bahreherauszogen, auf der, wie Karl nun erkannte, wahrhaftig Robinson lag, Kopf,Gesicht und Arme mannigfaltig umbunden. Es war häßlich anzusehen, wie er dieArme an die Augen führte, um mit dem Verbande die Tränen abzuwischen, die ervor Schmerzen oder vor sonstigem Leid oder gar vor Freude über dasWiedersehen mit Karl vergoß.

»Roßmann«, rief er vorwurfsvoll, »warum läßt du mich denn so lange warten! Schoneine Stunde verbringe ich damit, mich zu wehren, damit ich nicht wegtransportiertwerde, ehe du kommst. Diese Kerle« - und er gab dem einen Liftjungen einKopfstück, als sei er durch die Verbände vor Schlägen geschützt - »sind ja wahreTeufel. Ach, Roßmann, der Besuch bei dir ist mir teuer zu stehen gekommen.«

»Was hat man dir denn gemacht?« sagte Karl und trat an die Bahre heran,welche die Liftjungen, um sich auszuruhen, lachend niederstellten.

»Du fragst noch«, seufzte Robinson, »und siehst, wie ich ausschaue. Bedenke,ich bin ja höchstwahrscheinlich für mein ganzes Leben zum Krüppel geschlagen. Ich

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habe fürchterliche Schmerzen von hier bis hierher« - und er zeigte zuerst auf denKopf und dann auf die Zehen -, »ich möchte dir wünschen, daß du gesehen hättest,wie ich aus der Nase geblutet habe. Meine Weste ist ganz verdorben, die habeich überhaupt dort gelassen, meine Hosen sind zerfetzt, ich bin in Unterhosen« -und er lüftete die Decke ein wenig und lud Karl ein, unter sie zu schauen. »Waswird nur aus mir werden! Ich werde zumindest einige Monate liegen müssen, unddas will ich dir gleich sagen, ich habe niemanden anderen als dich, der michpflegen könnte, Delamarche ist ja viel zu ungeduldig. Roßmann, Roßmannchen!«Und Robinson streckte die Hand nach dem ein wenig zurücktretenden Karl aus,um ihn durch Streicheln für sich zu gewinnen.

»Warum habe ich dich nur besuchen müssen!« wiederholte er mehrere Male, umKarl die Mitschuld nicht vergessen zu lassen, die dieser an seinem Unglück hatte. -Nun erkannte zwar Karl sofort, daß das Klagen Robinsons nicht von seinenWunden, sondern von dem ungeheueren Katzenjammer stammte, in dem er sichbefand, da er, in schwerer Trunkenheit kaum eingeschlafen, gleich geweckt undzu seiner Überraschung blutig geboxt worden war und sich in der wachen Welt garnicht mehr zurechtfinden konnte. Die Bedeutungslosigkeit der Wunden war schonan den unförmlichen, aus alten Fetzen bestehenden Verbänden zu sehen, mitdenen ihn die Liftjungen offenbar zum Spaß ganz und gar umwickelt hatten. Undauch die zwei Liftjungen an den Enden der Bahre prusteten vor Lachen von Zeitzu Zeit. Nun war aber hier nicht der Ort, Robinson zur Besinnung zu bringen,denn stürmend eilten hier die Passanten, ohne sich um die Gruppe an der Bahrezu kümmern, vorbei, öfters sprangen Leute mit richtigem Turnerschwung überRobinson hinweg, der mit Karls Geld bezahlte Chauffeur rief: »Vorwärts, vorwärts!«Die Liftjungen hoben mit letzter Kraft die Bahre auf, Robinson erfaßte Karls Handund sagte schmeichelnd: »Nun komm, so komm doch.« War nicht Karl in demAufzug, in dem er sich befand, im Dunkel des Automobils noch am bestenaufgehoben? Und so setzte er sich neben Robinson, der den Kopf an ihn lehnteDie zurückbleibenden Liftjungen schüttelten ihm, als ihrem gewesenen Kollegen,durch das Coupéfenster herzlich die Hand, und das Automobil drehte sich mitscharfer Wendung zur Straße hin, als müsse unbedingt ein Unglück geschehen, abergleich nahm der alles umfassende Verkehr auch die schnurgerade Fahrt diesesAutomobils ruhig in sich auf.

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Ein Asyl

Es mußte wohl eine entlegene Vorstadtstraße sein, in der das Automobilhaltmachte, denn ringsherum herrschte Stille, am Trottoirrand hockten Kinder undspielten. Ein Mann mit einer Menge alter Kleider über den Schultern riefbeobachtend zu den Fenstern der Häuser empor. In seiner Müdigkeit fühlte sich Karlunbehaglich, als er aus dem Automobil auf den Asphalt trat, den dieVormittagssonne warm und hell beschien.

»Wohnst du wirklich hier?« rief er ins Automobil hinein.

Robinson, der während der ganzen Fahrt friedlich geschlafen hatte, brummteirgendeine undeutliche Bejahung und schien darauf zu warten, daß Karl ihnhinaustragen werde. »Dann habe ich hier also nichts mehr zu tun. Leb wohl«,sagte Karl und machte sich daran, die ein wenig sich senkende Straße abwärts zugehen. »Aber Karl, was fällt dir denn ein?« rief Robinson und stand schon vorlauter Sorge ziemlich aufrecht, nur mit noch etwas unruhigen Knien, im Wagen.

»Ich muß doch gehen«, sagte Karl, der der raschen Gesundung Robinsonszugesehen hatte.

»In Hemdärmeln?« fragte dieser.

»Ich werde mir schon noch einen Rock verdienen«, antwortete Karl, nickteRobinson zuversichtlich zu, grüßte mit erhobener Hand und wäre wirklichfortgegangen, wenn nicht der Chauffeur gerufen hätte: »Noch einen kleinenAugenblick Geduld, mein Herr!«

Es zeigte sich unangenehmerweise, daß der Chauffeur noch Ansprüche auf einenachträgliche Bezahlung stellte, denn die Wartezeit vor dem Hotel war noch nichtbezahlt. »Nun ja«, rief aus dem Automobil Robinson in Bestätigung der Richtigkeitdieser Forderung, »ich habe ja dort so lange auf dich warten müssen. Etwas mußtdu ihm noch geben.«

»Ja, freilich«, sagte der Chauffeur.

»Ja, wenn ich nur noch etwas hätte«, sagte Karl und griff in die Hosentaschen,obwohl er wußte, daß es nutzlos war.

»Ich kann mich nur an Sie halten«, sagte der Chauffeur und stellte sichbreitbeinig auf, »von dem kranken Mann dort kann ich nichts verlangen.«

Vom Tor her näherte sich ein junger Bursch mit zerfressener Nase und hörte auseiner Entfernung von einigen Schritten zu. Gerade machte durch die Straße einPolizeimann die Runde, faßte mit gesenktem Gesicht den hemdärmeligenMenschen ins Auge und blieb stehen. Robinson, der den Polizeimann auchbemerkt hatte, machte die Dummheit, aus dem anderen Fenster ihm zuzurufen:»Es ist nichts, es ist nichts!«, als ob man einen Polizeimann wie eine Fliegeverscheuchen könnte. Die Kinder, welche den Polizeimann beobachtet hatten,wurden nun durch sein Stillstehen auch auf Karl und den Chauffeur aufmerksamund liefen im Trab herbei. Im Tor gegenüber stand eine alte Frau und sah starrhinüber.

»Roßmann!« rief da eine Stimme aus der Höhe. Es war Delamarche, der das vomBalkon des letzten Stockwerks rief. Er selbst war nur schon recht undeutlichgegen den weißlich blauen Himmel zu sehen, hatte offenbar einen Schlafrock anund beobachtete mit einem Operngucker die Straße. Neben ihm war ein roterSonnenschirm aufgespannt, unter dem eine Frau zu sitzen schien. »Halloh!« riefer mit größter Anstrengung, um sich verständlich zu machen, »ist Robinson auch da?«

»Ja«, antwortete Karl, von einem zweiten, viel lauteren »Ja« Robinsons aus

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dem Wagen kräftig unterstützt.

»Halloh!« rief es zurück, »ich komme gleich!«

Robinson beugte sich aus dem Wagen. »Das ist ein Mann«, sagte er, unddieses Lob Delamarches war an Karl gerichtet, an den Chauffeur, an denPolizeimann und an jeden, der es hören wollte. Oben auf dem Balkon, den manaus Zerstreutheit noch ansah, obwohl ihn Delamarche schon verlassen hatte,erhob sich nun unter dem Sonnenschirm tatsächlich eine starke Frau in rotem,taillenlosem Kleid, nahm den Operngucker von der Brüstung und sah durch ihn aufdie Leute hinunter, die nur allmählich die Blicke von ihr wandten. Karl sah inErwartung Delamarches in das Haustor und weiterhin in den Hof, den eine fastununterbrochene Reihe von Geschäftsdienern durchquerte, von denen jeder einekleine, aber offenbar sehr schwere Kiste auf der Achsel trug. Der Chauffeur warzu seinem Wagen getreten und putzte, um die Zeit auszunutzen, mit einemFetzen die Wagenlaternen. Robinson befühlte seine Gliedschmerzen, schienerstaunt über die geringen Schmerzen zu sein, die er trotz größter Aufmerksamkeitfühlen konnte, und begann vorsichtig, mit tief geneigtem Gesicht, einen der dickenVerbände am Bein zu lösen. Der Polizeimann hielt sein schwarzes Stöckchen quervor sich und wartete still, mit der großen Geduld, die Polizeileute haben müssen, obsie nun im gewöhnlichen Dienst oder auf der Lauer sind. Der Bursche mit derzerfressenen Nase setzte sich auf einen Torstein und streckte die Beine von sich.Die Kinder näherten sich Karl allmählich mit kleinen Schritten, denn dieser schienihnen, obwohl er sie nicht beachtete, wegen seiner blauen Hemdärmel derWichtigste von allen zu sein. An der Länge der Zeit, die bis zur AnkunftDelamarches verging, konnte man die große Höhe dieses Hauses ermessen. UndDelamarche kam sogar sehr eilig, mit nur flüchtig zugezogenem Schlafrock. »Also,da seid ihr!« rief er erfreut und streng zugleich. Bei seinen großen Schritten enthülltesich stets für einen Augenblick seine farbige Unterkleidung. Karl begriff nicht ganz,warum Delamarche hier, in der Stadt, in der riesigen Mietskaserne, auf deroffenen Straße, so bequem angezogen herumging, als sei er in seiner Privatvilla.Ebenso wie Robinson hatte auch Delamarche sich sehr verändert. Sein dunkles,glatt rasiertes, peinlich reines, von roh ausgearbeiteten Muskeln gebildetesGesicht sah stolz und respekteinflößend aus. Der grelle Schein seiner jetzt immeretwas zusammengezogenen Augen überraschte. Sein violetter Schlafrock warzwar alt, fleckig und für ihn zu groß, aber aus diesem häßlichen Kleidungsstückbauschte sich oben eine mächtige, dunkle Krawatte aus schwerer Seide.

»Nun?« fragte er alle insgesamt. Der Polizeimann trat ein wenig näher undlehnte sich an den Motorkasten des Automobils. Karl gab eine kleine Erklärung.»Robinson ist ein wenig marod, aber wenn er sich Mühe gibt, wird er schon dieTreppen hinaufgehen können; der Chauffeur hier will noch eine Nachzahlung zumFahrgeld, das ich schon bezahlt habe. Und jetzt gehe ich. Guten Tag.«

»Du gehst nicht«, sagte Delamarche.

»Ich habe es ihm auch schon gesagt«, meldete sich Robinson aus dem Wagen.

»Ich gehe doch«, sagte Karl und machte ein paar Schritte. Aber Delamarchewar schon hinter ihm und schob ihn mit Gewalt zurück.

»Ich sage, du bleibst!« rief er.

»Aber laßt mich doch«, sagte Karl und machte sich bereit, wenn es nötig seinsollte, mit den Fäusten sich die Freiheit zu verschaffen, so wenig Aussicht aufErfolg gegenüber einem Mann wie Delamarche auch war. Aber da stand doch derPolizeimann, da war der Chauffeur, hie und da gingen Arbeitergruppen durch diesonst freilich ruhige Straße; würde man es denn dulden, daß ihm von Delamarche einUnrecht geschehe? In einem Zimmer hätte er mit ihm nicht allein sein wollen, aber

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hier? Delamarche zahlte jetzt ruhig dem Chauffeur, der unter vielenVerbeugungen den unverdient großen Betrag einsteckte und aus Dankbarkeit zuRobinson ging und mit diesem offenbar darüber sprach, wie er am bestenherausbefördert werden könnte. Karl sah sich unbeobachtet, vielleicht duldeteDelamarche ein stillschweigendes Fortgehen leichter; wenn Streit vermiedenwerden konnte, war es natürlich am besten, und so ging Karl einfach in dieFahrbahn hinein, um möglichst rasch wegzukommen. Die Kinder strömten zuDelamarche, um ihn auf Karls Flucht aufmerksam zu machen, aber er mußte selbstgar nicht eingreifen, denn der Polizeimann sagte mit vorgestrecktem Stabe:»Halt!«

»Wie heißt du?« fragte er, schob den Stab unter den Arm und zog langsam einBuch hervor. Karl sah ihn jetzt zum erstenmal genauer an, es war ein kräftigerMann, hatte aber schon fast ganz weißes Haar.

»Karl Roßmann«, sagte er.

»Roßmann«, wiederholte der Polizeimann, zweifellos nur, weil er ein ruhiger undgründlicher Mensch war, aber Karl, der es hier eigentlich zum erstenmal mitamerikanischen Behörden zu tun bekam, sah schon in dieser Wiederholung dasAussprechen eines gewissen Verdachtes. Und tatsächlich konnte seine Sachenicht gut stehen, denn selbst Robinson, der doch so sehr mit seinen eigenenSorgen beschäftigt war, bat aus dem Wagen heraus mit stummen lebhaftenHandbewegungen den Delamarche, er möge Karl doch helfen. Aber Delamarchewehrte ihn mit hastigem Kopfschütteln ab und sah untätig zu, die Hände in seinenübergroßen Taschen. Der Bursche auf dem Türstein erklärte einer Frau, die jetzt erstaus dem Tore trat, den ganzen Sachverhalt von allem Anfang an. Die Kinderstanden in einem Halbkreis hinter Karl und sahen still zum Polizeimann hinauf.

»Zeig deine Ausweispapiere«, sagte der Polizeimann. Das war wohl nur eineformelle Frage; denn wenn man keinen Rock hat, wird man auch nicht vielAusweispapiere bei sich haben. Karl schwieg deshalb, um lieber auf die nächsteFrage ausführlich zu antworten und so den Mangel der Ausweispapiere möglichst zuvertuschen.

Aber die nächste Frage war: »Du hast also keine Ausweispapiere?« und Karlmußte antworten: »Bei mir nicht.«

»Das ist aber schlimm«, sagte der Polizeimann, sah nachdenklich im Kreiseumher und klopfte mit zwei Fingern auf den Deckel seines Buches. »Hast duirgendeinen Verdienst?« fragte der Polizeimann schließlich.

»Ich war Liftjunge«, sagte Karl.

»Du warst Liftjunge, bist es also nicht mehr, und wovon lebst du denn jetzt?«

»Jetzt werde ich mir eine neue Arbeit suchen.«

»Ja, bist du denn entlassen worden?«

»Ja, vor einer Stunde.«

»Plötzlich?«

»Ja«, sagte Karl und hob wie zur Entschuldigung die Hand. Die ganzeGeschichte konnte er hier nicht erzählen, und wenn es auch möglich gewesen wäre,so schien es doch ganz aussichtslos, ein drohendes Unrecht durch Erzählungeines erlittenen Unrechts abzuwehren. Und wenn er sein Recht nicht von der Güteder Oberköchin und von der Einsicht des Oberkellners erhalten hatte, von derGesellschaft hier auf der Straße hatte er es gewiß nicht zu erwarten.

»Und ohne Rock bist du entlassen worden?« fragte der Polizeimann.

»Nun ja«, sagte Karl; also auch in Amerika gehörte es zur Art der Behörden, das,

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was sie sahen, noch eigens zu fragen. (Wie hatte sein Vater bei der Beschaffungdes Reisepasses über die nutzlosen Fragereien der Behörden sich ärgern müssen!)Karl hatte große Lust wegzulaufen, sich irgendwo zu verstecken und keine Fragenmehr anhören zu müssen. Und nun stellte gar der Polizeimann jene Frage, vor dersich Karl am meisten gefürchtet und in deren unruhiger Voraussicht er sich bisherwahrscheinlich unvorsichtiger benommen hatte, als es sonst geschehen wäre.

»In welchem Hotel warst du denn angestellt?«

Er senkte den Kopf und antwortete nicht, auf diese Frage wollte er unbedingtnicht antworten. Es durfte nicht geschehen, daß er, von einem Polizeimanneskortiert, wieder ins Hotel Occidental zurückkäme, daß dort Verhöre stattfanden, zudenen seine Freunde und Feinde beigezogen würden, daß die Oberköchin ihre schonsehr schwach gewordene gute Meinung über Karl gänzlich aufgab, da sie ihn, densie in der Pension Brenner vermutete, von einem Polizeimann aufgegriffen, inHemdärmeln, ohne ihre Visitenkarte, zurückgekehrt fand, während der Oberkellnervielleicht nur voll Verständnis nicken und der Oberportier dagegen von der HandGottes sprechen würde, die den Lumpen endlich gefunden habe.

»Er war im Hotel Occidental angestellt«, sagte Delamarche und trat an die Seitedes Polizeimannes.

»Nein«, rief Karl und stampfte mit dem Fuße auf, »es ist nicht wahr!«

Delamarche sah ihn mit spöttisch zugespitztem Munde an, als könne er noch ganzandere Dinge verraten. Unter die Kinder brachte die unerwartete Aufregung Karlsgroße Bewegung, und sie zogen zu Delamarche hin, um lieber von dort aus Karlgenau anzusehen. Robinson hatte den Kopf völlig aus dem Wagen gesteckt undverhielt sich vor Spannung ganz ruhig; hie und da ein Augenzwinkern war seineeinzige Bewegung. Der Bursche im Tor schlug in die Hände vor Vergnügen, dieFrau neben ihm gab ihm einen Stoß mit dem Ellbogen, damit er ruhig sei. DieGepäckträger hatten gerade Frühstückspause und erschienen sämtlich mit großen Töpfenschwarzen Kaffees, in dem sie mit Stangenbroten herumrührten. Einige setztensich auf den Trottoirrand, alle schlurften den Kaffee sehr laut. »Sie kennen wohlden Jungen?« fragte der Polizeimann den Delamarche.

»Besser, als mir lieb ist«, sagte dieser. »Ich habe ihm seinerzeit viel Gutesgetan, er aber hat sich dafür sehr schlecht bedankt, was Sie wohl, selbst nach demganz kurzen Verhör, das Sie mit ihm angestellt haben, leicht begreifen werden.«

»Ja«, sagte der Polizeimann, »er scheint ein verstockter Junge zu sein.«

»Das ist er«, sagte Delamarche, »aber es ist das noch nicht seine schlechtesteEigenschaft.«

»So?« sagte der Polizeimann.

»Ja«, sagte Delamarche, der nun im Reden war und dabei mit den Händen inden Taschen seinen ganzen Mantel in schwingende Bewegung brachte, »das istein feiner Hecht. Ich und mein Freund dort im Wagen, wir haben ihn zufällig imElend aufgegriffen, er hatte damals keine Ahnung von amerikanischenVerhältnissen, er kam gerade aus Europa, wo man ihn auch nicht hatte brauchenkönnen; nun, wir schleppten ihn mit uns, ließen ihn mit uns leben, erklärten ihm alles,wollten ihm einen Posten verschaffen, dachten, trotz allen Anzeichen, diedagegen sprachen, noch einen brauchbaren Menschen aus ihm zu machen, daverschwand er einmal in der Nacht, war einfach weg, und das unterBegleitumständen, die ich lieber verschweigen will. War es so oder nicht?« fragteDelamarche schließlich und zupfte Karl am Hemdärmel.

»Zurück, ihr Kinder!« rief der Polizeimann, denn diese hatten sich so weitvorgedrängt, daß Delamarche fast über eines gestolpert wäre. Inzwischen waren auch

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die Gepäckträger, die bisher die Interessantheit dieses Verhörs unterschätzt hatten,aufmerksam geworden und hatten sich in dichtem Ring hinter Karl versammelt,der nun auch nicht einen Schritt hätte zurücktreten können und überdies unaufhörlich inden Ohren das Durcheinander der Stimmen dieser Gepäckträger hatte, die in einemgänzlich unverständlichen, vielleicht mit slawischen Worten untermischten Englischmehr polterten als redeten. »Danke für die Auskunft«, sagte der Polizeimann undsalutierte vor Delamarche. »Jedenfalls werde ich ihn mitnehmen und dem HotelOccidental zurückgeben lassen.« Aber Delamarche sagte: »Dürfte ich die Bittestellen, mir den Jungen vorläufig zu überlassen, ich hätte einiges mit ihm in Ordnungzu bringen. Ich verpflichte mich, ihn dann selbst ins Hotel zurückzuführen.«

»Das kann ich nicht tun«, sagte der Polizeimann.

Delamarche sagte: »Hier ist meine Visitenkarte«, und reichte ihm ein Kärtchen.Der Polizeimann sah es anerkennend an, sagte aber, verbindlich lächelnd: »Nein,es ist vergeblich.«

So sehr sich Karl bisher vor Delamarche gehütet hatte, jetzt sah er in ihm dieeinzig mögliche Rettung. Es war zwar verdächtig, wie sich dieser beim Polizeimannum Karl bewarb, aber jedenfalls würde sich Delamarche leichter als derPolizeimann bewegen lassen, ihn nicht ins Hotel zurückzuführen. Und selbst wennKarl an der Hand des Delamarche ins Hotel zurückkam, so war es viel wenigerschlimm, als wenn es in Begleitung des Polizeimannes geschah. Vorläufig aberdurfte natürlich Karl nicht zu erkennen geben, daß er tatsächlich zu Delamarchewollte, sonst war alles verloren. Und unruhig sah er auf die Hand desPolizeimannes, die sich jeden Augenblick erheben konnte, um ihn zu fassen. »Ichmüßte doch wenigstens erfahren, warum er plötzlich entlassen worden ist«, sagteschließlich der Polizeimann, während Delamarche mit verdrießlichem Gesicht beiseitesah und die Visitenkarte zwischen den Fingerspitzen zerdrückte.

»Aber er ist doch gar nicht entlassen!« rief Robinson zu allgemeinerÜberraschung und beugte sich, auf den Chauffeur gestützt möglichst weit aus demWagen. »Im Gegenteil, er hat ja dort einen guten Posten. Im Schlafsaal ist er derOberste und kann hineinführen, wen er will. Nur ist er riesig beschäftigt, und wennman etwas von ihm haben will, muß man lange warten. Immerfort steckt er beimOberkellner, bei der Oberköchin und ist Vertrauensperson. Entlassen ist er aufkeinen Fall. Ich weiß nicht, warum er das gesagt hat. Wie kann er denn entlassensein? Ich habe mich im Hotel schwer verletzt, und da hat er den Auftragbekommen, mich nach Hause zu schaffen, und weil er gerade ohne Rock war, ister eben ohne Rock mitgefahren. Ich konnte nicht noch warten, bis er den Rockholt.« »Nun also«, sagte Delamarche mit ausgebreiteten Armen, in einem Ton,als werfe er dem Polizeimann Mangel an Menschenkenntnis vor, und diese seinezwei Worte schienen in die Unbestimmtheit der Aussage Robinsons einewiderspruchslose Klarheit zu bringen. »Ist das aber auch wahr?« fragte derPolizeimann schon schwächer. »Und wenn es wahr ist, warum gibt der Junge vor,entlassen zu sein?« »Du sollst antworten«, sagte Delamarche.

Karl sah den Polizeimann an, der hier zwischen fremden, nur auf sich selbstbedachten Leuten Ordnung schaffen sollte, und etwas von seinen allgemeinenSorgen ging auch auf Karl über. Er wollte nicht lügen und hielt die Hände festverschlungen auf dem Rücken. In dem Tore erschien ein Aufseher und klatschte indie Hände, zum Zeichen, daß die Gepäckträger wieder an ihre Arbeit gehen sollten.Sie schütteten den Bodensatz aus ihren Kaffeetöpfen und zogen verstummend mitschwankenden Schritten ins Haus. »So kommen wir zu keinem Ende«, sagte derPolizeimann und wollte Karl am Arm fassen. Karl wich unwillkürlich noch ein wenigzurück, fühlte den freien Raum, der sich ihm infolge des Abmarsches derGepäckträger eröffnet hatte, wandte sich um und setzte sich unter einigen großen

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Anfangssprüngen in Lauf. Die Kinder brachen in einen einzigen Schrei aus undliefen mit ausgestreckten Ärmchen ein paar Schritte mit. »Haltet ihn!« rief derPolizeimann die lange, fast leere Gasse hinab und lief unter gleichmäßigemAusstoßen dieses Rufes in geräuschlosem, große Kraft und Übung verratendem Laufhinter Karl her. Es war ein Glück für Karl, daß die Verfolgung in einem Arbeiterviertelstattfand. Die Arbeiter halten es nicht mit den Behörden. Karl lief mitten in derFahrbahn, weil er dort die wenigsten Hindernisse hatte, und sah nun hie und daauf dem Trottoir Arbeiter stehenbleiben und ihn ruhig beobachten, während derPolizeimann ihnen sein »Haltet ihn!« zurief und in seinem Lauf, er hielt sichklugerweise auf dem glatten Trottoir, unaufhörlich den Stab gegen Karl hinausstreckte. Karl hatte wenig Hoffnung und verlor sie fast ganz, als derPolizeimann nun, da sie sich Quergassen näherten, die gewiß auchPolizeipatrouillen enthielten, geradezu betäubende Pfiffe ausstieß. Karls Vorteil warlediglich seine leichte Kleidung, er flog, oder besser stürzte, die sich immer mehrsenkende Straße hinab, nur machte er, zerstreut infolge seiner Verschlafenheit, oftzu hohe, zeitraubende und nutzlose Sprünge. Außerdem aber hatte der Polizeimannsein Ziel, ohne nachdenken zu müssen, immer vor Augen, für Karl dagegen war derLauf doch eigentlich Nebensache, er mußte nachdenken, unter verschiedenenMöglichkeiten auswählen, immer neu sich entschließen. Sein etwas verzweifelterPlan war vorläufig, die Quergassen zu vermeiden, da man nicht wissen konnte,was in ihnen steckte, vielleicht würde er da geradewegs in eine Wachstubehineinlaufen; er wollte sich, solange es nur ging, an diese weithin übersichtlicheStraße halten, die erst tief unten in eine Brücke auslief, die, kaum begonnen, inWasser- und Sonnendunst verschwand. Gerade wollte er sich nach diesemEntschluß zu schnellerem Lauf zusammennehmen, um die erste Querstraßebesonders eilig zu passieren, da sah er nicht allzu weit vor sich einenPolizeimann, lauernd an die dunkle Mauer eines im Schatten liegenden Hausesgedrückt, bereit, im richtigen Augenblick auf Karl loszuspringen. Jetzt blieb keineHilfe als die Quergasse, und als er gar aus dieser Gasse ganz harmlos beimNamen gerufen wurde - es schien ihm zwar zuerst eine Täuschung zu sein, dennein Sausen hatte er schon die ganze Zeit lang in den Ohren -, zögerte er nichtmehr länger und bog, um die Polizeileute möglichst zu überraschen, auf einem Fußsich schwenkend, rechtwinklig in diese Gasse ein.

Kaum war er zwei Sprünge weit gekommen - daß man seinen Namen gerufenhatte, hatte er schon wieder vergessen, nun pfiff auch der zweite Polizeimann,man merkte seine unverbrauchte Kraft, ferne Passanten in dieser Querstraßeschienen eine raschere Gangart anzunehmen -, da griff aus einer kleinen Haustüreeine Hand nach Karl und zog ihn mit den Worten »Still sein!« in einen dunklenFlur. Es war Delamarche, ganz außer Atem, mit erhitzten Wangen, seine Haareklebten ihm rings um den Kopf. Den Schlafrock trug er unter dem Arm und warnur mit Hemd und Unterhose bekleidet. Die Türe, welche nicht das eigentlicheHaustor war, sondern nur einen unscheinbaren Nebeneingang bildete, hatte ergleich geschlossen und versperrt.

»Einen Augenblick«, sagte er dann, lehnte sich mit hochgehaltenem Kopf an dieWand und atmete schwer. Karl lag fast in seinen Armen und drückte halbbesinnungslos das Gesicht an seine Brust.

»Da laufen die Herren«, sagte Delamarche und streckte den Fingeraufhorchend gegen die Tür. Wirklich liefen jetzt die zwei Polizeileute vorbei, ihrLaufen klang in der leeren Gasse, wie wenn Stahl gegen Stein geschlagen wird.

»Du bist aber ordentlich hergenommen«, sagte Delamarche zu Karl, der nochimmer an seinem Atem würgte und kein Wort herausbringen konnte. Delamarchesetzte ihn vorsichtig auf den Boden, kniete neben ihm nieder, strich ihm mehrmals

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über die Stirn und beobachtete ihn. »Jetzt geht es schon«, sagte Karl und standmühsam auf.

»Dann also los«, sagte Delamarche, der seinen Schlafrock wieder angezogenhatte, und schob Karl, der noch vor Schwäche den Kopf gesenkt hielt, vor sich her.Von Zeit zu Zeit schüttelte er Karl, um ihn frischer zu machen.

»Du willst müde sein?« sagte er. »Du konntest doch im Freien laufen wie einPferd, ich aber mußte hier durch die verfluchten Gänge und Höfe schleichen.Glücklicherweise bin ich aber auch ein Läufer.« Vor Stolz gab er Karl einen weitausgeholten Schlag auf den Rücken. »Von Zeit zu Zeit ist ein solches Wettrennenmit der Polizei eine gute Übung.«

»Ich war schon müde, wie ich zu laufen anfing«, sagte Karl.

»Für schlechtes Laufen gibt es keine Entschuldigung«, sagte Delamarche.

»Wenn ich nicht wäre, hätten sie dich schon längst gefaßt.«

»Ich glaube auch«, sagte Karl. »Ich bin Ihnen sehr verpflichtet.«

»Kein Zweifel«, sagte Delamarche.

Sie gingen durch einen langen, schmalen Flurgang, der mit dunklen, glattenSteinen gepflastert war. Hie und da öffnete sich rechts oder links einTreppenaufgang oder man erhielt einen Durchblick in einen anderen, größeren Flur.Erwachsene waren kaum zu sehen, nur Kinder spielten auf den leeren Treppen.An einem Geländer stand ein kleines Mädchen und weinte, daß ihr vor Tränen dasganze Gesicht glänzte. Kaum hatte sie Delamarche bemerkt, als sie, mit offenemMunde nach Luft schnappend, die Treppe hinauflief und sich erst hoch obenberuhigte, als sie nach häufigem Umdrehen sich überzeugt hatte, daß ihr niemandfolge oder folgen wolle.

»Die habe ich vor einem Augenblick niedergerannt«, sagte Delamarche lachendund drohte ihr mit der Faust, worauf sie schreiend weiter hinauflief.

Auch die Höfe, durch die sie kamen, waren fast gänzlich verlassen. Nur hie und daschob ein Geschäftsdiener einen zweirädrigen Karren vor sich her, eine Frau füllte ander Pumpe eine Kanne mit Wasser, ein Briefträger durchquerte mit ruhigenSchritten den ganzen Hof, ein alter Mann mit weißem Schnauzbart saß mitübergeschlagenen Beinen vor einer Glastür und rauchte eine Pfeife, vor einemSpeditionsgeschäft wurden Kisten abgeladen, die unbeschäftigten Pferde drehtengleichmütig die Köpfe, ein Mann in einem Arbeitsmantel überwachte mit einem Papierin der Hand die ganze Arbeit; in einem Büro war das Fenster geöffnet, und einAngestellter, der an seinem Schreibpult saß, hatte sich von ihm abgewendet undsah nachdenklich hinaus, wo gerade Karl und Delamarche vorübergingen. »Eineruhigere Gegend kann man sich gar nicht wünschen«, sagte Delamarche. »AmAbend ist ein paar Stunden lang großer Lärm, aber während des Tages geht es hiermusterhaft zu.«

Karl nickte, ihm schien die Ruhe zu groß zu sein. »Ich könnte gar nicht anderswowohnen«, sagte Delamarche, »denn Brunelda verträgt absolut keinen Lärm. Kennstdu Brunelda? Nun, du wirst sie ja sehen. Jedenfalls empfehle ich dir, dichmöglichst still aufzuführen.«

Als sie zu der Treppe kamen, die zur Wohnung Delamarches führte, war dasAutomobil bereits weggefahren, und der Bursche mit der zerfressenen Nasemeldete, ohne über Karls Wiedererscheinen irgendwie zu staunen, er habeRobinson die Treppe hinaufgetragen. Delamarche nickte ihm bloß zu, als sei ersein Diener, der eine selbstverständliche Pflicht erfüllt habe, und zog Karl, der einwenig zögerte und auf die sonnige Straße sah, mit sich die Treppe hinauf. »Wir sindgleich oben«, sagte Delamarche einige Male während des Treppensteigens, aber

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seine Voraussage wollte sich nicht erfüllen, immer wieder setzte sich an eineTreppe eine neue in nur unmerklich veränderter Richtung an. Einmal blieb Karlsogar stehen, nicht eigentlich vor Müdigkeit, aber vor Wehrlosigkeit gegenüberdieser Treppenlänge. »Die Wohnung liegt ja sehr hoch«, sagte Delamarche, als sieweitergingen, »aber auch das hat seine Vorteile. Man geht sehr selten aus, denganzen Tag ist man im Schlafrock, wir haben es sehr gemütlich. Natürlich kommenin diese Höhe auch keine Besuche herauf.«

>Woher sollten denn die Besuche kommen?< dachte Karl. Endlicherschien auf einem Treppenabsatz Robinson vor einer geschlossenenWohnungstür, und nun waren sie angelangt; die Treppe war noch nicht einmal zuEnde, sondern führte im Halbdunkel weiter, ohne daß irgend etwas auf ihrenbaldigen Abschluß hinzudeuten schien. »Ich habe es mir ja gedacht«, sagteRobinson leise, als bedrückten ihn noch Schmerzen. »Delamarche bringt ihn!Roßmann, was wärest du ohne Delamarche!« Robinson stand in Unterkleidung daund suchte sich nur, soweit es möglich war, in die kleine Bettdecke einzuwickeln,die man ihm aus dem Hotel Occidental mitgegeben hatte; es war nichteinzusehen, warum er nicht in die Wohnung ging, statt hier vor möglicherweisevorüberkommenden Leuten sich lächerlich zu machen. »Schläft sie?« fragteDelamarche.

»Ich glaube nicht«, sagte Robinson, »aber ich habe doch lieber gewartet, bis dukommst.«

»Zuerst müssen wir schauen, ob sie schläft«, sagte Delamarche und beugte sichzum Schlüsselloch. Nachdem er lange unter verschiedenartigen Kopfdrehungenhindurchgeschaut hatte, erhob er sich und sagte: »Man sieht sie nicht genau, dasRouleau ist heruntergelassen. Sie sitzt auf dem Kanapee, aber vielleicht schläftsie.«

»Ist sie denn krank?« fragte Karl, denn Delamarche stand da, als bitte er umRat. Nun aber fragte er in scharfem Tone zurück: »Krank?«

»Er kennt sie ja nicht«, sagte Robinson entschuldigend.

Ein paar Türen weiter waren zwei Frauen auf den Korridor getreten, sie wischtendie Hände an ihren Schürzen rein, sahen auf Delamarche und Robinson undschienen sich über sie zu unterhalten. Aus einer Tür sprang ein noch ganz jungesMädchen mit glänzendem blondem Haar und schmiegte sich zwischen die zweiFrauen, indem es sich in ihre Arme einhängte. »Das sind widerliche Weiber«,sagte Delamarche leise, aber offenbar nur aus Rücksicht auf die schlafendeBrunelda, »nächstens werde ich sie bei der Polizei anzeigen und werde für JahreRuhe vor ihnen haben. Schau nicht hin«, zischte er dann Karl an, der nichts Bösesdaran gefunden hatte, die Frauen anzuschauen, wenn man nun schon einmal aufdem Gang auf das Erwachen Bruneldas warten mußte. Und ärgerlich schüttelte erden Kopf, als habe er von Delamarche keine Ermahnungen anzunehmen, undwollte, um dies noch deutlicher zu zeigen, auf die Frauen zugehen, da hielt ihnaber Robinson mit den Worten »Roßmann, hüte dich!« am Ärmel zurück, undDelamarche, schon durch Karl gereizt, wurde über ein lautes Auflachen desMädchens so wütend, daß er mit großem Anlauf, Arme und Beine werfend, auf dieFrauen zueilte, die jede in ihre Türe wie weggeweht verschwanden.

»So muß ich hier öfters die Gänge reinigen«, sagte Delamarche, als er mitlangsamen Schritten zurückkehrte; da erinnerte er sich an Karls Widerstand undsagte:

»Von dir aber erwarte ich ein ganz anderes Benehmen, sonst könntest du mit mirschlechte Erfahrungen machen.«

Da rief aus dem Zimmer eine fragende Stimme in sanftem, müdem Tonfall:

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»Delamarche?«

»Ja«, antwortete Delamarche und sah freundlich die Tür an, »können wireintreten?«

»O ja«, hieß es, und Delamarche öffnete, nachdem er noch die zwei hinter ihmWartenden mit einem Blick gestreift hatte, langsam die Tür.

Man trat in vollständiges Dunkel ein. Der Vorhang der Balkontür, ein Fenster warnicht vorhanden, war bis zum Boden hinabgelassen und wenig durchscheinend,außerdem aber trug die Überfüllung des Zimmers mit Möbeln und herumhängendenKleidern viel zu seiner Verdunkelung bei. Die Luft war dumpf, und man rochgeradezu den Staub, der sich hier in Winkeln, die offenbar für jede Handunzugänglich waren, angesammelt hatte. Das erste, was Karl beim Eintrittbemerkte, waren drei Kasten, die knapp hintereinander aufgestellt waren. Aufdem Kanapee lag die Frau, die früher vom Balkon hinuntergeschaut hatte. Ihr rotesKleid hatte sich unten ein wenig verzogen und hing in einem großen Zipfel bis aufden Boden, man sah ihre Beine fast bis zu den Knien, sie trug dicke weißeWollstrümpfe; Schuhe hatte sie keine.

»Das ist eine Hitze, Delamarche«, sagte sie, wandte das Gesicht von derWand, hielt ihre Hand lässig in Schwebe gegen Delamarche hin, der sie ergriff undküßte. Karl sah nur ihr Doppelkinn an, das bei der Wendung des Kopfes auchmitrollte. »Soll ich den Vorhang vielleicht hinaufziehen lassen?« fragteDelamarche. »Nur das nicht«, sagte sie mit geschlossenen Augen und wieverzweifelt, »dann wird es ja noch ärger.«

Karl war zum Fußende des Kanapees getreten, um die Frau genauer anzusehen,er wunderte sich über ihre Klagen, denn die Hitze war gar nicht außerordentlich.

»Warte, ich werde es dir ein wenig bequem machen«, sagte Delamarcheängstlich, öffnete oben am Hals ein paar Knöpfe und zog dort das Kleid auseinander,so daß der Hals und der Ansatz der Brust frei wurde und ein zarter, gelblicherSpitzensaum des Hemdes erschien. »Wer ist das«, sagte die Frau plötzlich undzeigte mit dem Finger auf Karl, »warum starrt er mich so an?«

»Du fängst bald an, dich nützlich zu machen«, sagte Delamarche und schob Karlbeiseite, während er die Frau mit den Worten beruhigte: »Es ist nur der Junge, denich zu deiner Bedienung mitgebracht habe.«

»Aber ich will doch niemanden haben!« rief sie. »Warum bringst du mir fremdeLeute in die Wohnung?«

»Aber die ganze Zeit wünschst du dir doch eine Bedienung«, sagte Delamarcheund kniete nieder; auf dem Kanapee war trotz seiner großen Breite neben Bruneldanicht der geringste Platz.

»Ach, Delamarche«, sagte sie, »du verstehst mich nicht und verstehst michnicht.«

»Dann verstehe ich dich also wirklich nicht«, sagte Delamarche und nahm ihrGesicht zwischen beide Hände. »Aber es ist ja nichts geschehen, wenn du willst,geht er augenblicklich fort.«

»Wenn er schon einmal hier ist, soll er bleiben«, sagte sie nun wieder, und Karlwar ihr in seiner Müdigkeit für diese vielleicht gar nicht freundlich gemeinten Worteso dankbar, daß er, immer in undeutlichen Gedanken an diese endlose Treppe, dieer nun vielleicht gleich wieder hätte Abwärtssteigen müssen, über den auf seinerDecke friedlich schlafenden Robinson hinwegtrat und trotz allem ärgerlichenHändefuchteln Delamarches sagte: »Ich danke Ihnen jedenfalls dafür, daß Sie michnoch ein wenig hier lassen wollen. Ich habe wohl schon vierundzwanzig Stundennicht geschlafen, dabei genug gearbeitet und verschiedene Aufregungen gehabt.

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Ich bin schrecklich müde. Ich weiß gar nicht recht, wo ich bin. Wenn ich aber einpaar Stunden geschlafen habe, können Sie mich ohne Rücksichtnahmefortschicken, und ich werde gerne gehen.«

»Du kannst überhaupt hierbleiben«, sagte die Frau und fügte ironisch hinzu,»Platz haben wir ja in Überfluß, wie du siehst.«

»Du mußt also fortgehen«, sagte Delamarche, »wir können dich nicht brauchen.«

»Nein, er soll bleiben«, sagte die Frau nun wieder im Ernste. Und Delamarchesagte zu Karl wie in Ausführung dieses Wunsches: »Also leg dich schon irgendwohin.«

»Er kann sich auf die Vorhänge legen, aber er muß sich die Stiefel ausziehen,damit er nichts zerreißt.«

Delamarche zeigte Karl den Platz, den sie meinte. Zwischen der Türe und dendrei Schränken war ein großer Haufen von verschiedenartigsten Fenstervorhängenhingeworfen. Wenn man alle regelmäßig zusammengefaltet, die schweren zuunterst und weiter hinauf die leichteren gelegt und schließlich die verschiedenen inden Haufen gesteckten Bretter und Holzringe herausgezogen hätte, so wäre es einerträgliches Lager geworden, so war es nur eine schaukelnde und gleitendeMasse, auf die sich aber Karl trotzdem augenblicklich legte, denn zu besonderenSchlafvorbereitungen war er zu müde und mußte sich auch mit Rücksicht auf seineGastgeber hüten, viel Umstände zu machen. Er war schon fast im eigentlichenSchlaf, da hörte er einen lauten Schrei, erhob sich und sah die Brunelda aufrechtauf dem Kanapee sitzen, die Arme weit ausbreiten und Delamarche, der vor ihrkniete, umschlingen. Karl, dem der Anblick peinlich war, lehnte sich wieder zurückund versenkte sich in die Vorhänge zur Fortsetzung des Schlafes. Daß er es hierauch nicht zwei Tage aushalten würde, schien ihm klar zu sein, desto nötiger aberwar es, sich zuerst gründlich auszuschlafen, um sich dann bei völligem Verstandeschnell und ruhig entschließen zu können.

Aber Brunelda hatte schon Karls vor Müdigkeit groß aufgerissene Augen, die sieschon einmal erschreckt hatten, bemerkt und rief: »Delamarche, ich halte es vorHitze nicht aus, ich brenne, ich muß mich ausziehen, ich muß baden, schick diebeiden aus dem Zimmer, wohin du willst, auf den Gang, auf den Balkon, nur daßich sie nicht mehr sehe! Man ist in seiner eigenen Wohnung und immerfort gestört.Wenn ich mit dir allein wäre, Delamarche! Ach Gott, sie sind noch immer da! Wiedieser unverschämte Robinson sich in Gegenwart einer Dame in seinerUnterkleidung streckt! Und wie dieser fremde Junge, der mich vor einemAugenblick ganz wild angeschaut hat, sich wieder gelegt hat, um mich zutäuschen! Nur weg mit ihnen, Delamarche, sie sind mir eine Last, sie liegen mir aufder Brust, wenn ich jetzt umkomme, ist es ihretwegen.«

»Sofort sind sie draußen, zieh dich nur aus«, sagte Delamarche, ging zuRobinson hin und schüttelte ihn mit dem Fuß, den er ihm auf die Brust setzte.Gleichzeitig rief er Karl zu: »Roßmann, aufstehen! Ihr müßt beide auf den Balkon!Und wehe euch, wenn ihr hereinkommt, ehe man euch ruft! Und jetzt flink,Robinson« - dabei schüttelte er Robinson stärker -, »und du, Roßmann, gib acht, daßich nicht auch über dich komme«, dabei klatschte er laut zweimal in die Hände.

»Wie lange das dauert!« rief Brunelda auf dem Kanapee, sie hatte beim Sitzendie Beine weit auseinandergestellt, um ihrem übermäßig dicken Körper mehr Raum zuverschaffen, nur mit größter Anstrengung, unter vielem Schnappen und häufigemAusruhen, konnte sie sich so weit bücken, um ihre Strümpfe am obersten Ende zufassen und ein wenig hinunterzuziehen, gänzlich ausziehen konnte sie sich nicht,das mußte Delamarche besorgen, auf den sie nun ungeduldig wartete.

Ganz stumpf vor Müdigkeit war Karl von dem Haufen hinuntergekrochen und

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ging langsam zur Balkontüre, ein Stück Vorhangstoff hatte sich ihm um den Fußgewickelt, und er schleppte es gleichgültig mit. In seiner Zerstreutheit sagte ersogar, als er an Brunelda vorüberkam: »Ich wünsche gute Nacht« und wandertedann an Delamarche vorbei, der den Vorhang der Balkontüre ein wenig zurückzog,auf den Balkon hinaus. Gleich hinter Karl kam Robinson, wohl nicht minderschläfrig, denn er summte vor sich hin: »Immerfort malträtiert man einen! WennBrunelda nicht mitkommt, gehe ich nicht auf den Balkon.« Aber trotz dieserVersicherung ging er ohne jeden Widerstand hinaus, wo er sich, da Karl schon inden Lehnstuhl gesunken war, sofort auf den Steinboden legte.

Als Karl erwachte, war es schon Abend, die Sterne standen schon am Himmel,hinter den hohen Häusern der gegenüberliegenden Straßenseite stieg der Schein desMondes empor. Erst nach einigem Umherschauen in der unbekannten Gegend,einigem Aufatmen in der kühlen, erfrischenden Luft wurde sich Karl dessen bewußt,wo er war. Wie unvorsichtig war er gewesen, alle Ratschläge der Oberköchin, alleWarnungen Theresens, alle eigenen Befürchtungen hatte er vernachlässigt, saß hierruhig auf dem Balkon Delamarches und hatte hier gar den halben Tagverschlafen, als sei nicht hier hinter dem Vorhang Delamarche, sein großer Feind.Auf dem Boden wand sich der faule Robinson und zog Karl am Fuße, er schien ihnauch auf diese Weise geweckt zu haben, denn er sagte: »Du hast einen Schlaf,Roßmann! Das ist die sorglose Jugend. Wie lange willst du denn noch schlafen?Ich hätte dich ja noch schlafen lassen, aber erstens ist es mir da auf dem Boden zulangweilig und zweitens habe ich einen großen Hunger. Ich bitte dich, steh einwenig auf, ich habe da unten, im Sessel drin, etwas zum Essen aufgehoben, ichmöchte es gern herausziehen. Du bekommst dann auch etwas.« Und Karl, deraufstand, sah nun, wie Robinson, ohne aufzustehen, sich auf dem Bauchherüberwälzte und mit ausgestreckten Händen unter dem Sessel eine versilberteSchale hervorzog, wie sie etwa zum Aufbewahren von Visitenkarten dient. Aufdieser Schale lag aber eine halbe, ganz schwarze Wurst, einige dünne Zigaretten,eine geöffnete, aber noch gut gefüllte und von Öl überfließende Sardinenbüchse und eineMenge meist zerdrückter und zu einem Ballen gewordener Bonbons. Dannerschien noch ein großes Stück Brot und eine Art Parfümflasche, die aber etwasanderes als Parfüm zu enthalten schien, denn Robinson zeigte mit besondererGenugtuung auf sie und schnalzte zu Karl hinauf.

»Siehst du, Roßmann«, sagte Robinson, während er Sardine nach Sardinehinunterschlang und hie und da die Hände vom Öl an einem Wolltuch reinigte, dasoffenbar Brunelda auf dem Balkon vergessen hatte. »Siehst du, Roßmann, so mußman sich sein Essen aufheben, wenn man nicht verhungern will. Du, ich bin ganzbeiseitegeschoben. Und wenn man immerfort als Hund behandelt wird, denktman schließlich, man ist's wirklich. Gut, daß du da bist, Roßmann, ich kannwenigstens mit jemandem reden. Im Hause spricht ja niemand mit mir. Wir sindverhaßt. Und alles wegen der Brunelda. Sie ist ja natürlich ein prächtiges Weib. Du -«und er winkte Karl zu sich herab, um ihm zuzuflüstern - »ich habe sie einmal nacktgesehen. O!« Und in der Erinnerung an diese Freude fing er an, Karls Beine zudrücken und zu schlagen, bis Karl ausrief: »Robinson, du bist ja verrückt«, seineHände packte und zurückstieß.

»Du bist eben noch ein Kind, Roßmann«, sagte Robinson, zog einen Dolch, dener an seiner Halsschnur trug, unter dem Hemd hervor, nahm die Dolchkappe abund zerschnitt die harte Wurst. »Du mußt noch viel zulernen. Bist aber bei uns ander richtigen Quelle. Setz dich doch. Willst du nicht auch etwas essen? Nunvielleicht bekommst du Appetit, wenn du mir zuschaust. Trinken willst du auchnicht? Du willst aber rein gar nichts. Und gesprächig bist du gerade auch nichtbesonders. Aber es ist ganz gleichgültig, mit wem man auf dem Balkon ist, wenn

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nur überhaupt jemand da ist. Ich bin nämlich sehr oft auf dem Balkon. Das machtder Brunelda solchen Spaß. Es muß ihr nur etwas einfallen, einmal ist es ihr kalt,einmal heiß, einmal will sie schlafen, einmal will sie sich kämmen, einmal will sie dasMieder öffnen, einmal will sie es anziehen, und da werde ich immer auf den Balkongeschickt. Manchmal tut sie wirklich das, was sie sagt, aber meistens liegt sie nurso wie früher auf dem Kanapee und rührt sich nicht. Früher habe ich öfters denVorhang so ein wenig weggezogen und durchgeschaut, aber seit einmalDelamarche bei einer solchen Gelegenheit - ich weiß genau, daß er es nicht wollte,sondern es nur auf Bruneldas Bitte tat - mir mit der Peitsche einige Male insGesicht geschlagen hat - siehst du die Striemen? -, wage ich nicht mehr,durchzuschauen. Und so liege ich dann hier auf dem Balkon und habe keinVergnügen außer essen. Vorgestern, wie ich des Abends so allein gelegen bin,damals war ich noch in meinen eleganten Kleidern, die ich leider in deinem Hotelverloren habe - diese Hunde; reißen einem die teuren Kleider vom Leib! -, wie ichalso da so allein gelegen bin und durch das Geländer hinuntergeschaut habe, warmir alles so traurig und ich habe zu heulen angefangen. Da ist zufällig, ohne daß iches gleich bemerkt habe, die Brunelda zu mir herausgekommen in dem roten Kleid- das paßt ihr doch von allen am besten -, hat mir ein wenig zugeschaut und hatendlich gesagt: >Robinson, warum weinst du?< Dann hat sie ihr Kleidgehoben und hat mir mit dem Saum die Augen abgewischt. Wer weiß, was sienoch getan hätte, wenn nicht Delamarche nach ihr gerufen hätte und sie nicht sofortwieder ins Zimmer hätte hineingehen müssen. Natürlich habe ich gedacht, jetzt seidie Reihe an mir, und habe durch den Vorhang gefragt, ob ich schon ins Zimmerdarf. Und was, meinst du, hat die Brunelda gesagt: >Nein!< hat sie gesagt,und >Was fällt dir ein?< hat sie gesagt.«

»Warum bleibst du denn hier, wenn man dich so behandelt?« fragte Karl.

»Verzeih, Roßmann, du fragst nicht sehr gescheit«, antwortete Robinson. »Duwirst schon auch noch hierbleiben, und wenn man dich noch ärger behandelt.Übrigens behandelt man mich gar nicht so arg.«

»Nein«, sagte Karl, »Ich gehe bestimmt weg, und womöglich noch heute abend.Ich bleibe nicht bei euch.«

»Wie willst du denn zum Beispiel das anstellen, heute abend wegzugehen?«fragte Robinson, der das Weiche aus dem Brot herausgeschnitten hatte undsorgfältig in dem Öl der Sardinenbüchse tränkte. »Wie willst du weggehen, wenn dunicht einmal ins Zimmer hineingehen darfst?«

»Warum dürfen wir denn nicht hineingehen?

»Nun, solange es nicht geläutet hat, dürfen wir nicht hineingehen«, sagteRobinson, der mit möglichst weit geöffnetem Munde das fette Brot verspeiste,während er mit einer Hand das vom Brot herabtropfende Öl auffing, um von Zeit zuZeit das noch übrige Brot in diese als Reservoir dienende hohle Hand zu tauchen.»Es ist hier alles strenger geworden. Zuerst war da nur ein dünner Vorhang, manhat zwar nicht durchgesehen, aber am Abend hat man doch die Schatten erkannt.Das war der Brunelda unangenehm, und da habe ich einen ihrer Theatermäntel zueinem Vorhang umarbeiten und statt des alten Vorhangs hier aufhängen müssen.Jetzt sieht man gar nichts mehr. Dann habe ich früher immer fragen dürfen, ob ichschon hineingehen darf, und man hat mir, je nach den Umständen, ja oder neingeantwortet, aber dann habe ich das wahrscheinlich zu sehr ausgenutzt und zuoft gefragt. Brunelda konnte das nicht ertragen - und sie ist trotz ihrer Dicke sehrschwach veranlagt, Kopfschmerzen hat sie oft und Gicht in den Beinen fast immer-, und so wurde bestimmt, daß ich nicht mehr fragen darf, sondern daß, wenn ichhineingehen kann, auf die Tischglocke gedrückt wird. Das gibt ein solches Läuten,daß es mich selbst aus dem Schlafe weckt - ich habe einmal eine Katze zu meiner

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Unterhaltung hier gehabt, die ist vor Schrecken über dieses Läuten weggelaufenund nicht mehr zurückgekommen; also, geläutet hat es heute noch nicht, wenn esnämlich läutet, dann darf ich nicht nur, sondern muß hineingehen - und wenn eseinmal so lange nicht läutet, dann kann es noch sehr lange dauern.«

»Ja«, sagte Karl, »aber was für dich gilt, muß doch noch nicht für mich gelten.Überhaupt gilt so etwas nur für den, der es sich gefallen läßt.«

»Aber«, rief Robinson, »warum sollte denn das nicht auch für dich gelten?Selbstverständlich gilt es auch für dich. Warte hier nur ruhig mit mir, bis es läutet.Dann kannst du ja versuchen, ob du wegkommst.«

»Warum gehst du denn eigentlich nicht fort von hier? Nur deshalb, weilDelamarche dein Freund ist oder, besser, war. Ist denn das ein Leben? Wäre esda nicht in Butterford besser, wohin ihr zuerst wolltet? Oder gar in Kalifornien, wodu Freunde hast?«

»Ja«, sagte Robinson, »das konnte niemand voraussehen.« Und ehe er weitererzählte, sagte er noch: »Auf dein Wohl, lieber Roßmann« und nahm einen langenZug aus der Parfümflasche. »Wir waren ja damals, wie du uns so gemein hastsitzenlassen, sehr schlecht daran. Arbeit konnten wir in den ersten Tagen keinebekommen, Delamarche übrigens wollte keine Arbeit, er hätte sie schon bekommen,sondern schickte nur immer mich auf die Suche, und ich habe kein Glück. Er hatsich nur so herumgetrieben, aber es war schon fast Abend, da hatte er nur einDamenportemonnaie mitgebracht. Es war zwar sehr schön, aus Perlen, jetzt hat eres der Brunelda geschenkt, aber es war fast nichts darin. Dann sagte er, wirsollten in die Wohnungen betteln gehen, bei dieser Gelegenheit kann man natürlichmanches Brauchbare finden, wir sind also betteln gegangen, und ich habe, damites besser aussieht, vor den Wohnungstüren gesungen. Und wie schonDelamarche immer Glück hat, kaum sind wir vor der zweiten Wohnung gestanden,einer sehr reichen Wohnung im Parterre, und haben an der Tür der Köchin und demDiener etwas vorgesungen, da kommt die Dame, der diese Wohnung gehört, ebenBrunelda, die Treppe herauf. Sie war vielleicht zu stark geschnürt und konnte diepaar Stufen gar nicht heraufkommen. Aber wie schön sie ausgesehen hat,Roßmann! Sie hat ein ganz weißes Kleid mit einem roten Sonnenschirm gehabt.Zum Ablecken war sie. Zum Austrinken war sie. Ach Gott, ach Gott, war sie schön!So ein Frauenzimmer! Nein, sag mir nur, wie kann es so ein Frauenzimmergeben? Natürlich ist das Mädchen und der Diener ihr gleich entgegengelaufen undhaben sie fast hinaufgetragen. Wir sind rechts und links von der Tür gestanden undhaben salutiert, das macht man hier so. Sie ist ein wenig stehengeblieben, weilsie noch immer nicht genug Atem hatte, und nun weiß ich nicht, wie das eigentlichgeschehen ist, ich war durch das Hungern nicht ganz bei Verstand, und sie wareben in der Nähe noch schöner und riesig breit und infolge eines besonderenMieders, ich kann es dir dann im Kasten zeigen, überall so fest; kurz, ich habe sieein bißchen hinten angerührt, aber ganz leicht, weißt du, nur so angerührt. Natürlichkann man das nicht dulden, daß ein Bettler eine reiche Dame anrührt. Es war ja fastkeine Berührung, aber schließlich war es eben doch eine Berührung. Wer weiß, wieschlimm das ausgefallen wäre, wenn mir nicht Delamarche sofort eine Ohrfeigegegeben hätte, und zwar eine solche Ohrfeige, daß ich sofort meine beiden Hände fürdie Wange brauchte.«

»Was ihr getrieben habt!« sagte Karl, von der Geschichte ganz gefangengenommen, und setzte sich auf den Boden. »Das war also Brunelda?«

»Nun ja«, sagte Robinson, »das war Brunelda.«

»Sagtest du nicht einmal, daß sie eine Sängerin ist?« fragte Karl. »Freilich ist sieeine Sängerin, und eine große Sängerin«, antwortete Robinson, der eine große

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Bonbonmasse auf der Zunge wälzte und hie und da ein Stück, das aus dem Mundgedrängt wurde, mit dem Finger wieder zurückdrückte. »Aber das wußten wir natürlichdamals noch nicht, wir sahen nur, daß es eine reiche und sehr feine Dame war. Sietat, als wäre nichts geschehen, und vielleicht hatte sie auch nichts gespürt, denn ichhatte sie tatsächlich nur mit den Fingerspitzen angetippt. Aber immerfort hat sieden Delamarche angesehen, der ihr wieder - wie er das schon trifft - gerade in dieAugen zurückgeschaut hat. Darauf hat sie zu ihm gesagt: Komm mal auf einWeilchen hinein, und hat mit dem Sonnenschirm in die Wohnung gezeigt, wohinDelamarche ihr vorangehen sollte. Dann sind sie beide hineingegangen, und dieDienerschaft hat hinter ihnen die Tür zugemacht. Mich haben sie draußenvergessen, und da habe ich gedacht, es wird nicht gar so lange dauern, und habemich auf die Treppe gesetzt, um Delamarche zu erwarten. Aber stattDelamarches ist der Diener herausgekommen und hat mir eine ganze SchüsselSuppe herausgebracht. >Eine Aufmerksamkeit Delamarches!< sagte ich mir.Der Diener blieb noch, während ich aß, ein Weilchen bei mir stehen und erzählte mireiniges über Brunelda, und da habe ich gesehen, welche Bedeutung der Besuchbei Brunelda für uns haben könnte. Denn Brunelda war eine geschiedene Frau,hatte ein großes Vermögen und war vollständig selbständig! Ihr früherer Mann, einKakaofabrikant, liebte sie zwar noch immer, aber sie wollte von ihm nicht dasgeringste hören. Er kam sehr oft in die Wohnung, immer sehr elegant, wie zu einerHochzeit, angezogen - das ist Wort für Wort wahr, ich kenne ihn selbst -, aber derDiener wagte trotz der größten Bestechung nicht, Brunelda zu fragen, ob sie ihnempfangen wollte, denn er hatte schon einige Male gefragt, und immer hatte ihmBrunelda das, was sie gerade bei der Hand hatte, ins Gesicht geworfen. Einmalsogar ihre große gefüllte Wärmflasche, und mit der hatte sie ihm einen Vorderzahnausgeschlagen. Ja, Roßmann, da schaust du!«

»Woher kennst du den Mann?« fragte Karl.

»Er kommt manchmal auch herauf«, sagte Robinson.

»Herauf?« Karl schlug vor Staunen leicht mit der Hand auf den Boden.

»Du kannst ruhig staunen«, fuhr Robinson fort, »selbst ich habe gestaunt, wiemir das der Diener damals erzählt hat. Denk nur, wenn Brunelda nicht zu Hausewar, hat sich der Mann von dem Diener in ihre Zimmer führen lassen und immereine Kleinigkeit als Andenken mitgenommen und immer etwas sehr Teures undFeines für Brunelda zurückgelassen und dem Diener streng verboten zu sagen, vonwem es ist. Aber einmal, als er etwas - wie der Diener sagte, und ich glaube es -geradezu Unbezahlbares aus Porzellan mitgebracht hatte, muß Brunelda esirgendwie erkannt haben, hat es sofort auf den Boden geworfen, ist daraufherumgetreten, hat es angespuckt und noch einiges andere damit gemacht, so daßes der Diener vor Ekel kaum hinaustragen konnte.«

»Was hat ihr denn der Mann getan?« fragte Karl.

»Das weiß ich eigentlich nicht«, sagte Robinson. »Ich glaube aber, nichtsBesonderes, wenigstens weiß er es selbst nicht. Ich habe ja schon manchmal mitihm darüber gesprochen. Er erwartet mich täglich dort an der Straßenecke, wenn ichkomme, so muß ich ihm Neuigkeiten erzählen; kann ich nicht kommen, wartet ereine halbe Stunde und geht dann wieder weg. Es war für mich ein guterNebenverdienst, denn er bezahlte die Nachrichten sehr vornehm, aber seitDelamarche davon erfahren hat, muß ich ihm alles abliefern, und so gehe ichseltener hin.«

»Aber was will der Mann haben?« fragte Karl. »Was will er denn haben? Er hörtdoch, sie will ihn nicht.«

»Ja«, seufzte Robinson, zündete sich eine Zigarette an und blies unter großen

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Armschwenkungen den Rauch in die Höhe. Dann schien er sich anders zuentschließen und sagte: »Was kümmert das mich? Ich weiß nur, er würde viel Gelddafür geben, wenn er so hier auf dem Balkon liegen dürfte wie wir.« Karl stand auf,lehnte sich ans Geländer und sah auf die Straße hinunter. Der Mond war schonsichtbar, in die Tiefe der Gasse drang sein Licht aber noch nicht. Die am Tag soleere Gasse war, besonders vor den Haustoren, gedrängt voll von Menschen, allewaren in langsamer, schwerfälliger Bewegung, die Hemdärmel der Männer, die hellenKleider der Frauen hoben sich schwach vom Dunkel ab, alle waren ohneKopfbedeckung. Die vielen Balkone ringsum waren nun insgesamt besetzt, dortsaßen beim Licht einer Glühlampe die Familien, je nach der Größe des Balkons, umeinen kleinen Tisch herum oder bloß auf Sesseln in einer Reihe oder sie stecktenwenigstens die Köpfe aus dem Zimmer hervor. Die Männer saßen breitbeinig da, dieFüße zwischen den Geländerstangen hinausgestreckt, und lasen Zeitungen, die fastbis auf den Boden reichten, oder spielten Karten, scheinbar stumm, aber unterstarken Schlägen auf die Tische, die Frauen hatten den Schoß voll Näharbeit underübrigten nur hier und da einen kurzen Blick für ihre Umgebung oder für die Straße.Eine blonde, schwache Frau auf dem benachbarten Balkon gähnte immerfort,verdrehte dabei die Augen und hob immer vor den Mund ein Wäschestück, das siegerade flickte; selbst auf den kleinsten Balkonen verstanden es die Kinder,einander zu jagen, was den Eltern sehr lästig fiel. Im Inneren vieler Zimmer warenGrammophone aufgestellt und bliesen Gesang oder Orchestralmusik hervor, mankümmerte sich nicht besonders um diese Musik, nur hie und da gab derFamilienvater einen Wink, und irgend jemand eilte ins Zimmer hinein, um eineneue Platte einzulegen. An manchen Fenstern sah man vollständigbewegungslose Liebespaare, an einem Fenster Karl gegenüber stand ein solchesPaar aufrecht, der junge Mann hatte seinen Arm um das Mädchen gelegt unddrückte mit der Hand ihre Brust.

»Kennst du jemanden von den Leuten hier nebenan?« fragte Karl Robinson,der nun auch aufgestanden war, und, weil es ihn fröstelte, außer der Bettdecke auchnoch die Decke Bruneldas um sich gewickelt hielt.

»Fast niemanden, das ist ja eben das Schlimme an meiner Stellung«, sagteRobinson und zog Karl näher zu sich, um ihm ins Ohr flüstern zu können, »sonst hätteich mich augenblicklich nicht gerade zu beklagen. Die Brunelda hat jaDelamarches wegen alles, was sie hatte, verkauft und ist mit all ihren Reichtümernhierher in diese Vorstadtwohnung gezogen, damit sie sich ihm ganz widmen kannund damit sie niemand stört, übrigens war das auch der Wunsch Delamarches.«

»Und die Dienerschaft hat sie entlassen?« fragte Karl.

»Ganz richtig«, sagte Robinson. »Wo sollte man auch die Dienerschaft hierunterbringen? Diese Diener sind ja sehr anspruchsvolle Herren. Einmal hatDelamarche bei der Brunelda einen solchen Diener einfach mit Ohrfeigen ausdem Zimmer getrieben, da ist eine nach der andern geflogen, bis der Manndraußen war. Natürlich haben die anderen Diener sich mit ihm vereinigt und vor derTür Lärm gemacht, da ist Delamarche herausgekommen (ich war damals nichtDiener, sondern Hausfreund, aber doch war ich mit den Dienern beisammen) undhat gefragt: >Was wollt ihr?< Der älteste Diener, ein gewisser Isidor, hatdaraufhin gesagt: >Sie haben mit uns nichts zu reden, unsere Herrin ist diegnädige Frau.< Wie du wahrscheinlich merkst, haben sie Brunelda verehrt. AberBrunelda ist, ohne sich um sie zu kümmern, zu Delamarche gelaufen, sie wardamals doch noch nicht so schwer wie jetzt, hat ihn vor allen umarmt, geküßt und>Liebster Delamarche< genannt. >Und schick doch schon diese Affenweg<, hat sie endlich gesagt. Affen - das sollten die Diener sein; stell dir dieGesichter vor, die sie da machten. Dann hat die Brunelda die Hand Delamarches

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zu ihrer Geldtasche hingezogen, die sie am Gürtel trug, Delamarche hathineingegriffen und also angefangen, die Diener auszuzahlen; die Brunelda hatsich nur dadurch an der Auszahlung beteiligt, daß sie mit der offenen Geldtascheim Gürtel dabei gestanden ist. Delamarche mußte oft hineingreifen, denn er verteiltedas Geld, ohne zu zählen und ohne die Forderungen zu prüfen. Schließlich sagte er:>Da ihr also mit mir nicht reden wollt, sage ich euch nur im Namen Bruneldas:Packt euch, aber sofort.< So sind sie entlassen worden, es gab dann nocheinige Prozesse, Delamarche mußte sogar einmal zu Gericht, aber davon weiß ichnichts Genaueres. Nur gleich nach dem Abschied der Diener hat Delamarche zuBrunelda gesagt: >Jetzt hast du also keine Dienerschaft?< Sie hat gesagt:>Aber da ist ja Robinson.< Daraufhin hat Delamarche gesagt und hat mirdabei einen Schlag auf die Achsel gegeben: >Also gut, du wirst unser Dienersein.< Und Brunelda hat mir dann auf die Wange geklopft. Wenn sich dieGelegenheit findet, Roßmann, laß dir auch einmal von ihr auf die Wange klopfen. Duwirst staunen, wie schön das ist.«

»Du bist also Delamarches Diener geworden?« sagte Karl zusammenfassend.

Robinson hörte das Bedauern aus der Frage heraus und antwortete: »Ich binDiener, aber das bemerken nur wenige Leute. Du siehst, du selbst wußtest esnicht, obwohl du doch schon ein Weilchen bei uns bist. Du hast ja gesehen, wieich in der Nacht bei euch im Hotel angezogen war. Das Feinste vom Feinen hatteich an. Gehen Diener so angezogen? Nur ist eben die Sache die, daß ich nicht oftweggehen darf, ich muß immer bei der Hand sein, in der Wirtschaft ist eben immeretwas zu tun. Eine Person ist eben zu wenig für die viele Arbeit. Wie du vielleichtbemerkt hast, haben wir sehr viele Sachen im Zimmer herumstehen; was wireben bei dem großen Auszug nicht verkaufen konnten, haben wir mitgenommen.Natürlich hätte man es wegschenken können, aber Brunelda schenkt nichts weg.Denk dir nur, welche Arbeit es gegeben hat, diese Sachen die Treppeheraufzutragen.«

»Robinson, du hast das alles heraufgetragen?« fragte Karl.

»Wer denn sonst?« sagte Robinson. »Es war noch ein Hilfsarbeiter da, einfaules Luder; ich habe die meiste Arbeit allein machen müssen. Brunelda ist untenbeim Wagen gestanden, Delamarche hat oben angeordnet, wohin die Sachen zulegen sind, und ich bin immerfort hin und her gelaufen. Es hat zwei Tagegedauert, sehr lange, nicht wahr? Aber du weißt ja gar nicht, wieviel Sachen hierim Zimmer sind, alle Kasten sind voll und hinter den Kasten ist alles vollgestopftbis zur Decke hinauf. Wenn man ein paar Leute für den Transport aufgenommenhätte, wäre ja alles bald fertig gewesen, aber Brunelda wollte es niemandem außermir anvertrauen. Das war ja sehr schön, aber ich habe damals meine Gesundheit fürmein ganzes Leben verdorben, und was habe ich denn sonst gehabt als meineGesundheit? Wenn ich mich nur ein wenig anstrenge, sticht es mich hier und hierund hier. Glaubst du, diese Jungen im Hotel, diese Grasfrösche - was sind siedenn sonst? -, hätten mich jemals besiegen können, wenn ich gesund wäre? Aberwas mir auch fehlen sollte, dem Delamarche und der Brunelda sage ich keinWort, ich werde arbeiten, solange es gehen wird, und wenn es nicht mehr gehenwird, werde ich mich hinlegen und sterben, und dann erst, zu spät, werden siesehen, daß ich krank gewesen bin und trotzdem immerfort und immerfortweitergearbeitet und mich in ihren Diensten zu Tode gearbeitet habe. Ach,Roßmann -«, sagte er schließlich und trocknete die Augen an Karls Hemdärmel. Nacheinem Weilchen sagte er: »Ist dir denn nicht kalt, du stehst da so im Hemd?«

»Geh, Robinson«, sagte Karl, »immerfort weinst du. Ich glaube nicht, daß du sokrank bist. Du siehst ganz gesund aus, aber weil du immerfort da auf dem Balkonliegst, hast du dir so verschiedenes ausgedacht. Du hast vielleicht manchmal

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einen Stich in der Brust, das habe ich auch, das hat jeder. Wenn alle Menschenwegen jeder Kleinigkeit so weinen wollten wie du, müßten die Leute auf allenBalkonen weinen.«

»Ich weiß es besser«, sagte Robinson und wischte nun die Augen mit dem Zipfelseiner Decke. »Der Student, der nebenan bei der Vermieterin wohnt, die auch füruns kochte, hat mir letzthin, als ich das Eßgeschirr zurückbrachte, gesagt: >HörenSie einmal, Robinson, sind Sie nicht krank?< Mir ist verboten, mit den Leuten zureden, und so habe ich nur das Geschirr hingelegt und wollte weggehen. Da ist erzu mir gegangen und hat gesagt: >Hören Sie, Mann, treiben Sie die Sache nichtzum Äußersten, Sie sind krank.< >Ja, also, ich bitte, was soll ich dennmachen?< habe ich gefragt. >Das ist Ihre Sache<, hat er gesagt und hatsich umgedreht. Die anderen dort bei Tisch haben gelacht, wir haben ja hier überallFeinde, und so bin ich lieber weggegangen.« »Also Leuten, die dich zum Narrenhalten, glaubst du, und Leuten, die es gut mit dir meinen, glaubst du nicht.«

»Aber ich muß doch wissen, wie mir ist«, fuhr Robinson auf, kehrte aber gleichwieder zum Weinen zurück.

»Du weißt eben nicht, was dir fehlt, du solltest irgendeine ordentliche Arbeit fürdich suchen, statt hier Delamarches Diener zu machen. Denn soweit ich nachdeinen Erzählungen und nach dem, was ich selbst gesehen habe, urteilen kann, istdas hier kein Dienst, sondern eine Sklaverei. Das kann kein Mensch ertragen,das glaube ich dir. Du aber denkst, weil du Delamarches Freund bist, darfst duihn nicht verlassen. Das ist falsch; wenn er nicht einsieht, was für ein elendesLeben du führst, so hast du ihm gegenüber nicht die geringsten Verpflichtungenmehr.«

»Du glaubst also wirklich, Roßmann, daß ich mich wieder erholen werde, wenn ichdas Dienen hier aufgebe?«

»Gewiß«, sagte Karl.

»Gewiß?« fragte nochmals Robinson.

»Ganz gewiß«, sagte Karl lächelnd.

»Dann könnte ich ja gleich anfangen, mich zu erholen«, sagte Robinson und sahKarl an.

»Wieso denn?« fragte dieser.

»Nun, weil du doch meine Arbeit hier übernehmen sollst«, antwortete Robinson.

»Wer hat dir denn das gesagt?« fragte Karl.

»Das ist doch ein alter Plan. Davon wird ja schon seit einigen Tagengesprochen. Es hat damit angefangen, daß Brunelda mich ausgezankt hat, weil ichdie Wohnung nicht sauber genug halte. Natürlich habe ich versprochen, daß ichalles gleich in Ordnung bringen werde. Nun, das ist aber sehr schwer. Ich kannzum Beispiel in meinem Zustand nicht überallhin kriechen, um den Staubwegzuwischen, man kann sich schon in der Mitte des Zimmers nicht rühren, wieerst dort zwischen den Möbeln und den Vorräten? Und wenn man alles genaureinigen will, muß man doch auch die Möbel von ihrem Platz wegschieben, und dassoll ich allein machen? Außerdem müßte das alles ganz leise geschehen, weil dochBrunelda, die ja das Zimmer kaum verläßt, nicht gestört werden darf. Ich habe alsozwar versprochen, daß ich alles rein machen werde, aber rein gemacht habe ich estatsächlich nicht. Als Brunelda das bemerkt hat, hat sie zu Delamarche gesagt, daßdas nicht so weitergeht und daß man noch eine Hilfskraft wird aufnehmen müssen.>Ich will nicht, Delamarche<, hat sie gesagt, >daß du mir einmal Vorwürfemachst, ich hätte die Wirtschaft nicht gut geführt. Selbst kann ich mich nichtanstrengen, das siehst du doch ein, und Robinson genügt nicht; am Anfang war er

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so frisch und hat sich überall umgesehen, aber jetzt ist er immerfort müde und sitztmeist in einem Winkel. Aber ein Zimmer mit so viel Gegenständen wie das unsrigehält sich nicht selbst in Ordnung.< Daraufhin hat Delamarche nachgedacht, wassich da tun ließe, denn eine beliebige Person kann man natürlich in einen solchenHaushalt nicht aufnehmen, auch zur Probe nicht, denn man paßt uns ja von allenSeiten auf. Weil ich aber dein guter Freund bin und von Renell gehört habe, wie dudich im Hotel plagen mußt, habe ich dich in Vorschlag gebracht. Delamarche wargleich einverstanden, obwohl du dich damals gegen ihn so keck benommen hast,und ich habe mich natürlich sehr gefreut, daß ich dir so nützlich sein konnte. Für dichist nämlich diese Stellung wie geschaffen, du bist jung, stark und geschickt, währendich nichts mehr wert bin. Nur will ich dir sagen, daß du noch keineswegsaufgenommen bist; wenn du Brunelda nicht gefällst, können wir dich nicht brauchen.Also strenge dich nur an, daß du ihr angenehm bist, für das übrige werde ich schonsorgen.«

»Und was wirst du machen, wenn ich hier Diener sein werde?« fragte Karl; erfühlte sich so frei, der erste Schrecken, den ihm die Mitteilungen Robinsonsverursacht hatten, war vorüber. Delamarche hatte also keine schlimmerenAbsichten mit ihm, als ihn zum Diener zu machen - hätte er schlimmere Absichtengehabt, dann hätte sie der plapperhafte Robinson gewiß verraten -, wenn es aber sostand, dann getraute sich Karl, noch heute nacht den Abschied durchzuführen.Man kann niemanden zwingen, einen Posten anzunehmen. Und während Karlfrüher Sorgen gehabt hatte, ob er nach seiner Entlassung aus dem Hotel baldgenug, um vor Hunger geschützt zu sein, einen passenden und womöglich nichtunansehnlicheren Posten bekommen werde, schien ihm jetzt im Vergleich zu demihm hier zugedachten Posten, der ihm widerlich war, jeder andere Posten gutgenug, und selbst die stellungslose Not hätte er diesem Posten vorgezogen.Robinson das aber begreiflich zu machen, versuchte er gar nicht, besonders daRobinson jetzt in jedem Urteil durch die Hoffnung völlig befangen war, von Karlentlastet zu werden.

»Ich werde also«, sagte Robinson und begleitete die Rede mit behaglichenHandbewegungen - die Ellbogen hatte er auf das Geländer aufgestützt -, »dirzunächst alles erklären und die Vorräte zeigen. Du bist gebildet und hast sicher aucheine schöne Schrift, du könntest also gleich ein Verzeichnis all der Sachen machen,die wir da haben. Das hat sich Brunelda schon längst gewünscht. Wenn morgenvormittag schönes Wetter ist, werden wir Brunelda bitten, daß sie sich auf denBalkon setzt, und inzwischen werden wir ruhig und ohne sie zu stören im Zimmerarbeiten können. Denn darauf, Roßmann, mußt du vor allem achtgeben. Nur nichtBrunelda stören. Sie hört alles, wahrscheinlich hat sie als Sängerin so empfindlicheOhren. Du rollst zum Beispiel das Faß mit Schnaps, das hinter dem Kasten steht,heraus, es macht Lärm, weil es schwer ist und dort überall verschiedene Sachenherumliegen, so daß man es nicht mit einem Male durchrollen kann. Brunelda liegtzum Beispiel ruhig auf dem Kanapee und fängt Fliegen, die sie überhaupt sehrbelästigen. Du glaubst also, sie kümmert sich um dich nicht, und rollst dein Faßweiter. Sie liegt noch immer ruhig. Aber in einem Augenblick, wo du es gar nichterwartest und wo du am wenigsten Lärm machst, setzt sie sich plötzlich aufrecht,schlägt mit beiden Händen auf das Kanapee, daß man sie vor Staub nicht sieht - seitwir hier sind, habe ich das Kanapee nicht ausgeklopft; ich kann ja nicht, sie liegtdoch immerfort darauf -, und fängt schrecklich zu schreien an, wie ein Mann, undschreit so stundenlang. Das Singen haben ihr die Nachbarn verboten, dasSchreien aber kann ihr niemand verbieten, sie muß schreien, übrigens geschieht esja jetzt nur selten, ich und Delamarche sind sehr vorsichtig geworden. Es hat ihrja auch sehr geschadet. Einmal ist sie ohnmächtig geworden, und ich habe -Delamarche war gerade weg - den Studenten von nebenan holen müssen, der hat

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sie aus einer großen Flasche mit Flüssigkeit bespritzt, es hat auch geholfen, aberdiese Flüssigkeit hat einen unerträglichen Geruch gehabt, noch jetzt, wenn man dieNase zum Kanapee hält, riecht man es. Der Student ist sicher unser Feind, wie allehier, du mußt dich auch vor allen in acht nehmen und dich mit keinem einlassen.«

»Du, Robinson«, sagte Karl, »das ist aber ein schwerer Dienst. Da hast du michfür einen schönen Posten empfohlen.«

»Mach dir keine Sorgen«, sagte Robinson und schüttelte mit geschlossenenAugen den Kopf, um alle möglichen Sorgen Karls abzuwehren. »Der Posten hatauch Vorteile, wie sie dir kein anderer Posten bieten kann. Du bist immerfort inder Nähe einer Dame wie Brunelda, du schläfst manchmal mit ihr im gleichenZimmer, das bringt schon, wie du dir denken kannst, verschiedeneAnnehmlichkeiten mit sich. Du wirst reichlich bezahlt werden, Geld ist in Mengeda, ich habe als Freund Delamarches nichts bekommen; nur wenn ichausgegangen bin, hat mir Brunelda immer etwas mitgegeben, aber du wirstnatürlich bezahlt werden wie ein anderer Diener. Du bist ja auch nichts anderes.Das Wichtigste für dich aber ist, daß ich dir den Posten sehr erleichtern werde.Zunächst werde ich natürlich nichts machen, damit ich mich erhole, aber wie ich nurein wenig erholt bin, kannst du auf mich rechnen. Die eigentliche BedienungBruneldas behalte ich überhaupt für mich, also das Frisieren und Anziehen, soweites nicht Delamarche besorgt. Du wirst dich nur um das Aufräumen des Zimmers,um Besorgungen und die schwereren häuslichen Arbeiten zu kümmern haben.«

»Nein, Robinson«, sagte Karl, »das alles verlockt mich nicht.«

»Mach keine Dummheiten, Roßmann«, sagte Robinson nahe an Karls Gesicht,

»verscherze dir nicht diese schöne Gelegenheit. Wo bekommst du denn gleicheinen Posten? Wer kennt dich? Wen kennst du? Wir, zwei Männer, die schon vielerlebt haben und große Erfahrungen besitzen, sind wochenlang herumgelaufen,ohne Arbeit zu bekommen. Es ist nicht leicht, es ist sogar verzweifelt schwer.«

Karl nickte und wunderte sich, wie vernünftig Robinson sprechen konnte. Für ihnhatten diese Ratschläge allerdings keine Geltung, er durfte hier nicht bleiben, inder großen Stadt würde sich wohl noch ein Plätzchen für ihn finden, die ganze Nachtüber, das wußte er, waren alle Gasthäuser überfüllt, man brauchte Bedienung für dieGäste, darin hatte er nun schon Übung. Er würde sich schon rasch und unauffällig inirgendeinen Betrieb einfügen. Gerade im gegenüberliegenden Hause war unten einkleines Gasthaus untergebracht, aus dem eine rauschende Musik hervordrang.Der Haupteingang war nur mit einem großen gelben Vorhang verdeckt, dermanchmal, von einem Luftzug bewegt, mächtig in die Gasse hinausflatterte. Sonstwar es in der Gasse freilich viel stiller geworden. Die meisten Balkone warenfinster, nur in der Ferne fand sich noch hier und dort ein einzelnes Licht, aberkaum faßte man es für ein Weilchen ins Auge, erhoben sich dort die Leute, undwährend sie in die Wohnung zurückdrängten, griff ein Mann an die Glühlampe unddrehte, als letzter auf dem Balkon zurückbleibend, nach einem kurzen Blick auf dieGasse das Licht aus.

>Nun beginnt ja schon die Nacht<, sagte sich Karl, >bleibe ich nochlänger hier, gehöre ich schon zu ihnen.< Er drehte sich um, um den Vorhang vorder Wohnungstür wegzuziehen. »Was willst du?« sagte Robinson und stellte sichzwischen Karl und den Vorhang.

»Weg will ich«, sagte Karl. »Laß mich! Laß mich!«

»Du willst sie doch nicht stören«, rief Robinson, »was fällt dir denn nur ein!« Under legte Karl die Arme um den Hals, hing sich mit seiner ganzen Last an ihn,umklammerte mit den Beinen Karls Beine und zog ihn so im Augenblick auf dieErde nieder. Aber Karl hatte unter den Liftjungen ein wenig raufen gelernt, und so

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stieß er Robinson die Faust unter das Kinn, aber schwach und voll Schonung. Dergab Karl noch rasch und ganz rücksichtslos mit dem Knie einen vollen Stoß in denBauch, fing dann aber, beide Hände am Kinn, so laut zu heulen an, daß von dembenachbarten Balkon ein Mann unter wildem Händeklatschen »Ruhe!« befahl. Karllag noch ein wenig still, um den Schmerz, den ihm der Stoß Robinsons verursachthatte, zu verwinden. Er wandte nur das Gesicht zum Vorhang hin, der ruhig undschwer vor dem offenbar dunklen Zimmer hing. Es schien ja niemand mehr imZimmer zu sein, vielleicht war Delamarche mit Brunelda ausgegangen, und Karlhatte schon völlige Freiheit. Robinson, der sich wirklich wie ein Wächterhundbenahm, war ja endgültig abgeschüttelt.

Da ertönten aus der Ferne von der Gasse her stoßweise Trommeln undTrompeten. Einzelne Rufe vieler Leute sammelten sich bald zu einemallgemeinen Schreien. Karl drehte den Kopf und sah, wie sich alle Balkone vonneuem belebten. Langsam erhob er sich, er konnte sich nicht ganz aufrichten undmußte sich schwer gegen das Geländer drücken. Unten auf dem Trottoirmarschierten junge Burschen mit großen Schritten, ausgestreckten Armen, dieMützen in der erhobenen Hand, die Gesichter zurückgewandt. Die Fahrbahn bliebnoch frei. Einzelne schwenkten auf hohen Stangen Lampions, die von einemgelblichen Rauch umhüllt waren. Gerade traten die Trommler und Trompeter inbreiten Reihen ans Licht, und Karl staunte über ihre Menge, da hörte er hinter sichStimmen, drehte sich um und sah den Delamarche den schweren Vorhang hebenund dann aus dem Zimmerdunkel Brunelda treten, im roten Kleid, mit einemSpitzenüberwurf um die Schultern, einem dunklen Häubchen über demwahrscheinlich unfrisierten und bloß aufgehäuften Haar, dessen Enden lose hie undda hervorsahen. In der Hand hielt sie einen kleinen ausgespannten Fächer,bewegte ihn aber nicht, sondern drückte ihn eng an sich.

Karl schob sich dem Geländer entlang zur Seite, um den beiden Platz zumachen. Gewiß würde ihn niemand zum Hierbleiben zwingen, und wenn es auchDelamarche versuchen wollte, Brunelda würde ihn auf seine Bitte sofort entlassen.Sie konnte ihn ja gar nicht leiden, seine Augen erschreckten sie. Aber als er einenSchritt zur Tür hin machte, hatte sie es doch bemerkt und sagte: »Wohin denn,Kleiner?« Karl stockte vor den strengen Blicken Delamarches, und Brunelda zogihn zu sich. »Willst du dir denn nicht den Aufzug unten ansehen?« sagte sie undschob ihn vor sich an das Geländer. »Weißt du, worum es sich handelt?« hörte Karlsie hinter sich sagen und machte ohne Erfolg eine unwillkürliche Bewegung, umsich ihrem Druck zu entziehen. Traurig sah er auf die Gasse hinunter, als sei dortder Grund seiner Traurigkeit.

Delamarche stand zuerst mit gekreuzten Armen hinter Brunelda, dann lief er insZimmer und brachte Brunelda den Operngucker. Unten war hinter denMusikanten der Hauptteil des Aufzuges erschienen. Auf den Schultern einesriesenhaften Mannes saß ein Herr, von dem man in dieser Höhe nichts anderes sahals seine mattschimmernde Glatze, über der er seinen Zylinderhut ständig grüßendhoch erhoben hielt. Rings um ihn wurden offenbar Holztafeln getragen, die, vomBalkon aus gesehen, ganz weiß erschienen; die Anordnung war derartig getroffen,daß diese Plakate von allen Seiten sich förmlich an den Herrn anlehnten, der ausihrer Mitte hervorragte. Da alles im Gange war, lockerte sich diese Mauer vonPlakaten immerfort und ordnete sich auch immerfort von neuem. Im weiterenUmkreis war um den Herrn die ganze Breite der Gasse, wenn auch, soweit manim Dunkel schätzen konnte, auf eine unbedeutende Länge hin, von Anhängern desHerrn angefüllt, die sämtlich in die Hände klatschten und wahrscheinlich den Namendes Herrn, einen ganz kurzen, aber unverständlichen Namen, in einem getragenenGesange verkündeten. Einzelne, die geschickt in der Menge verteilt waren, hatten

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Automobillaternen mit äußerst starkem Licht, das sie die Häuser auf beiden Seitender Straße langsam auf- und abwärts führten. In Karls Höhe störte das Licht nicht mehr,aber auf den unteren Balkonen sah man die Leute, die davon bestrichen wurden,eiligst die Hände an die Augen führen.

Delamarche erkundigte sich auf die Bitte Bruneldas bei den Leuten auf demNachbarbalkon, was die Veranstaltung zu bedeuten habe. Karl war ein wenigneugierig, ob und wie man ihm antworten würde. Und tatsächlich mußte Delamarchedreimal fragen, ohne eine Antwort zu bekommen. Er beugte sich schon gefährlichüber das Geländer, Brunelda stampfte vor Ärger über die Nachbarn leicht auf, Karlfühlte ihre Knie. Endlich kam doch irgendeine Antwort, aber gleichzeitig fingen aufdiesem Balkon, der gedrängt voll Menschen war, alle laut zu lachen an. Daraufhinschrie Delamarche etwas hinüber, so laut, daß, wenn nicht augenblicklich in derganzen Gasse viel Lärm gewesen wäre, alles ringsum erstaunt hätte aufhorchenmüssen. Jedenfalls hatte es die Wirkung, daß das Lachen unnatürlich bald sich legte.

»Es wird morgen ein Richter in unserem Bezirk gewählt und der, den sie untentragen, ist ein Kandidat«, sagte Delamarche, vollkommen ruhig zu Bruneldazurückkehrend. »Nein!« rief er dann und klopfte liebkosend Brunelda auf denRücken. »Wir wissen schon gar nicht mehr, was in der Welt vorgeht.«

»Delamarche«, sagte Brunelda, auf das Benehmen der Nachbarnzurückkommend, »wie gern wollte ich übersiedeln, wenn es nicht so anstrengendwäre! Ich darf es mir aber leider nicht zumuten.« Und unter großen Seufzern,unruhig und zerstreut, nestelte sie an Karls Hemd, der möglichst unauffällig immerwieder diese kleinen, fetten Händchen wegzuschieben suchte, was ihm auch leichtgelang, denn Brunelda dachte nicht an ihn, sie war mit ganz anderen Gedankenbeschäftigt.

Aber auch Karl vergaß bald Brunelda und duldete die Last ihrer Arme auf seinenAchseln, denn die Vorgänge auf der Straße nahmen ihn sehr in Anspruch. AufAnordnung einer kleinen Gruppe gestikulierender Männer, die knapp vor demKandidaten marschierten und deren Unterhaltungen eine besondere Bedeutunghaben mußten, denn von allen Seiten sah man lauschende Gesichter sich ihnenzuneigen, wurde unerwarteterweise vor dem Gasthaus haltgemacht. Einer diesermaßgebenden Männer machte mit erhobener Hand ein Zeichen, das sowohl derMenge als auch dem Kandidaten galt. Die Menge verstummte, und der Kandidat,der sich auf den Schultern seines Trägers mehrfach aufzustellen suchte undmehrmals in den Sitz zurückfiel, hielt eine kleine Rede, während welcher er seinenZylinder in Windeseile hin und her fahren ließ. Man sah das ganz deutlich, dennwährend seiner Rede waren alle Automobillaternen auf ihn gerichtet worden, so daßer in der Mitte eines hellen Sternes sich befand.

Nun erkannte man aber auch schon das Interesse, welches die ganze Straße ander Angelegenheit nahm. Auf den Balkonen, die von Parteigängern desKandidaten besetzt waren, fiel man mit in das Singen seines Namens ein und ließdie weit über das Geländer vorgestreckten Hände maschinenmäßig klatschen. Auf denübrigen Balkonen, die sogar in der Mehrzahl waren, erhob sich ein starkerGegengesang, der allerdings keine einheitliche Wirkung hatte, da es sich um dieAnhänger verschiedener Kandidaten handelte. Dagegen verbanden sich weiterhinalle Feinde des anwesenden Kandidaten zu einem allgemeinen Pfeifen, undsogar Grammophone wurden vielfach wieder in Gang gesetzt. Zwischen deneinzelnen Balkonen wurden politische Streitigkeiten mit einer durch die nächtlicheStunde verstärkten Erregung ausgetragen. Die meisten waren schon inNachtkleidern und hatten nur Überröcke umgeworfen, die Frauen hüllten sich in große,dunkle Tücher, die unbeachteten Kinder kletterten beängstigend auf denEinfassungen der Balkone umher und kamen in immer größerer Zahl aus den

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dunklen Zimmern, in denen sie schon geschlafen hatten, hervor. Hie und dawurden einzelne unkenntliche Gegenstände von besonders Erhitzten in derRichtung ihrer Gegner geschleudert, manchmal gelangten sie an ihr Ziel, meistaber fielen sie auf die Straße hinab, wo sie oft ein Wutgeheul hervorriefen. Wurdeden führenden Männern unten der Lärm zu arg, so erhielten die Trommler undTrompeter den Auftrag einzugreifen, und ihr schmetterndes, mit ganzer Kraftausgeführtes, nicht enden wollendes Signal unterdrückte alle menschlichenStimmen bis zu den Dächern der Häuser hinauf. Und immer, ganz plötzlich - manglaubte es kaum -, hörten sie auf, worauf die hierfür offenbar eingeübte Menge aufder Straße in die für einen Augenblick eingetretene allgemeine Stille ihrenParteigesang emporbrüllte - man sah im Lichte der Automobillaternen den Mundjedes einzelnen weit geöffnet -, bis dann die inzwischen zur Besinnunggekommenen Gegner zehnmal so stark wie früher aus allen Balkonen undFenstern hervorschrien und die Partei unten nach ihrem kurzen Sieg zu einem fürdiese Höhe wenigstens gänzlichen Verstummen brachten.

»Wie gefällt es dir, Kleiner?« fragte Brunelda, die sich eng hinter Karl hin und herdrehte, um mit dem Gucker möglichst alles zu übersehen. Karl antwortete nur durchKopfnicken. Nebenbei bemerkte er, wie Robinson dem Delamarche eifrigverschiedene Mitteilungen offenbar über Karls Verhalten machte, denen aberDelamarche keine Bedeutung beizumessen schien, denn er suchte Robinson mitder Linken, mit der Rechten hatte er Brunelda umfaßt, immerfortbeiseitezuschieben. »Willst du nicht durch den Gucker schauen?« fragte Bruneldaund klopfte auf Karls Brust, um zu zeigen, daß sie ihn meine. »Ich sehe genug«,sagte Karl.

»Versuch es doch«, sagte sie, »du wirst besser sehen.«

»Ich habe gute Augen«, antwortete Karl, »ich sehe alles.« Er empfand es nichtals Liebenswürdigkeit, sondern als Störung, als sie den Gucker seinen Augennäherte, und tatsächlich sagte sie nun nichts als das eine Wort »Du!« melodisch,aber drohend. Und schon hatte Karl den Gucker an seinen Augen und sah nuntatsächlich nichts.

»Ich sehe ja nichts«, sagte er und wollte den Gucker loswerden, aber denGucker hielt sie fest, und den auf ihrer Brust eingebetteten Kopf konnte er wederzurück noch seitwärts schieben.

»Jetzt siehst du aber schon«, sagte sie und drehte an der Schraube desGuckers.

»Nein, ich sehe noch immer nichts«, sagte Karl und dachte daran, daß erRobinson ohne seinen Willen nun tatsächlich entlastet habe, denn Bruneldasunerträgliche Launen wurden nun an ihm ausgelassen.

»Wann wirst du denn endlich sehen?« sagte sie und drehte - Karl hatte nunsein ganzes Gesicht in ihrem schweren Atem - weiter an der Schraube. »Jetzt?«fragte sie.

»Nein, nein, nein!« rief Karl, obwohl er nun tatsächlich, wenn auch nur sehrundeutlich, alles unterscheiden konnte. Aber gerade hatte Brunelda irgend etwasmit Delamarche zu tun, sie hielt den Gucker nur lose vor Karls Gesicht, und Karlkonnte, ohne daß sie es besonders beachtete, unter dem Gucker hinweg auf dieStraße sehen. Später bestand sie auch nicht mehr auf ihrem Willen und benützte denGucker für sich.

Aus dem Gasthaus unten war ein Kellner getreten, und aus der Türschwelle hinund her eilend, nahm er die Bestellungen der Führer entgegen. Man sah, wie ersich streckte, um das Innere des Lokals zu übersehen und möglichst viel Bedienungherbeizurufen. Während dieser offenbar einem großen Freitrinken dienenden

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Vorbereitungen ließ der Kandidat nicht vom Reden ab. Sein Träger, der riesige, nurihm dienende Mann, machte immer nach einigen Sätzen eine kleine Drehung, umdie Rede allen Teilen der Menge zukommen zu lassen. Der Kandidat hielt sichmeist ganz zusammengekrümmt und versuchte mit ruckweisen Bewegungen dereinen freien Hand und des Zylinders in der anderen seinen Worten möglichsteEindringlichkeit zu geben. Manchmal aber, in fast regelmäßigen Zwischenräumen,durchfuhr es ihn, er erhob sich mit ausgebreiteten Armen, er redete nicht mehreine Gruppe, sondern die Gesamtheit an, er sprach zu den Bewohnern der Häuserbis zu den höchsten Stockwerken hinauf, und doch war es vollkommen klar, daß ihnschon in den untersten Stockwerken niemand hören konnte; ja, daß ihm auch, wenndie Möglichkeit gewesen wäre, niemand hätte zuhören wollen, denn jedes Fenster undjeder Balkon war doch zumindest von einem schreienden Redner besetzt.Inzwischen brachten einige Kellner aus dem Gasthaus ein mit gefülltenleuchtenden Gläsern besetztes Brett, im Umfang eines Billards, hervor. Die Führerorganisierten die Verteilung, die in Form eines Vorbeimarsches an der Gasthaustürerfolgte. Aber obwohl die Gläser auf dem Brett immer wieder nachgefüllt wurden,genügten sie für die Menge nicht, und zwei Reihen von Schankburschen mußtenrechts und links vom Brett durchschlüpfen und die Menge weiterhin versorgen. DerKandidat hatte natürlich mit dem Reden aufgehört und benützte die Pause, um sichneu zu kräftigen. Abseits von der Menge und dem grellen Licht trug ihn sein Trägerlangsam hin und her, und nur einige seiner nächsten Anhänger begleiteten ihn dortund sprachen zu ihm hinauf.

»Sieh mal den Kleinen«, sagte Brunelda, »er vergißt vor lauter Schauen, wo erist.« Und sie überraschte Karl und drehte mit beiden Händen sein Gesicht sich zu,so daß sie ihm in die Augen sah. Es dauerte aber nur einen Augenblick, denn Karlschüttelte gleich ihre Hände ab, und ärgerlich darüber, daß man ihn nicht ein Weilchenin Ruhe ließ, und gleichzeitig voll Lust, auf die Straße zu gehen und alles von derNähe anzusehen, suchte er sich nun mit aller Kraft vom Druck Bruneldas zubefreien und sagte:

»Bitte, lassen Sie mich weg.«

»Du wirst bei uns bleiben«, sagte Delamarche, ohne den Blick von der Straße zuwenden, und streckte nur eine Hand aus, um Karl am Weggehen zu verhindern.»Laß nur«, sagte Brunelda und wehrte die Hand des Delamarche ab, »er bleibt jaschon.« Und sie drückte Karl noch fester ans Geländer, er hätte mit ihr raufen müssen,um sich von ihr zu befreien. Und wenn ihm das auch gelungen wäre, was hätte erdamit erreicht! Links von ihm stand Delamarche, rechts hatte sich nun Robinsonaufgestellt, er war in einer regelrechten Gefangenschaft. »Sei froh, daß man dichnicht hinauswirft«, sagte Robinson und beklopfte Karl mit der Hand, die er unterBruneldas Arm durchgezogen hatte.

»Hinauswirft?« sagte Delamarche. »Einen entlaufenen Dieb wirft man nichthinaus, den übergibt man der Polizei. Und das kann ihm gleich morgen frühgeschehen, wenn er nicht ganz ruhig ist.«

Von diesem Augenblick an hatte Karl an dem Schauspiel unten keine Freudemehr. Nur gezwungen, weil er Bruneldas wegen sich nicht aufrichten konnte,beugte er sich ein wenig über das Geländer. Voll eigener Sorgen, mit zerstreutenBlicken sah er die Leute unten an, die in Gruppen von etwa zwanzig Mann vor dieGasthaustüre traten, die Gläser ergriffen, sich umdrehten und diese Gläser in derRichtung gegen den jetzt mit sich beschäftigten Kandidaten schwenkten, einenParteigruß ausriefen, die Gläser leerten und sie, jedenfalls dröhnend, in dieser Höheaber unhörbar, auf das Brett wieder niedersetzten, um einer neuen, vor Ungeduldlärmenden Gruppe Platz zu machen. Über Auftrag der Führer war die Kapelle, diebisher im Gasthaus gespielt hatte, auf die Gasse getreten, ihre großen

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Blasinstrumente strahlten aus der dunklen Menge, aber ihr Spiel verging fast imallgemeinen Lärm. Die Straße war nun, wenigstens auf der Seite, wo sich dasGasthaus befand, weithin mit Menschen angefüllt. Von oben, woher Karl amMorgen im Automobil gekommen war, strömten sie herab, von unten, von derBrücke her, liefen sie herauf, und selbst die Leute in den Häusern hatten derVerlockung nicht widerstehen können, in diese Angelegenheit mit eigenen Händeneinzugreifen, auf den Balkonen und in den Fenstern waren fast nur Frauen undKinder zurückgeblieben, während die Männer unten aus den Haustoren drängten. Nunaber hatte die Musik und die Bewirtung ihren Zweck erreicht, die Versammlungwar genügend groß, ein von zwei Automobillaternen flankierter Führer winkte derMusik ab, stieß einen starken Pfiff aus, und nun sah man den ein wenig abgeirrtenTräger mit dem Kandidaten durch einen von Anhängern gebannten Weg eiligstherbeikommen.

Kaum war er bei der Gasthaustüre, begann der Kandidat im Schein der nun imengen Kreis um ihn gehaltenen Automobillaternen seine neue Rede. Aber nunwar alles viel schwieriger als früher, der Träger hatte nicht die geringsteBewegungsfreiheit mehr, das Gedränge war zu groß. Die nächsten Anhänger, die frühermit allen möglichen Mitteln die Wirkung der Reden des Kandidaten zu verstärkenversucht hatten, hatten nun Mühe, sich in seiner Nähe zu erhalten, wohl zwanzighielten sich mit aller Anstrengung am Träger fest. Aber selbst dieser starke Mannkonnte keinen Schritt nach seinem Willen mehr machen, an eine Einflußnahme aufdie Menge durch bestimmte Wendungen oder durch passendes Vorrücken oderZurückweichen war nicht mehr zu denken. Die Menge flutete ohne Plan, einer lagam anderen, keiner stand mehr aufrecht, die Gegner schienen sich durch neuesPublikum sehr vermehrt zu haben, der Träger hatte sich lange in der Nähe derGasthaustüre gehalten, nun aber ließ er sich, scheinbar ohne Widerstand, dieGasse auf- und abwärts treiben, der Kandidat redete immerfort, aber es war nichtmehr ganz klar, ob er sein Programm auseinanderlegte oder um Hilfe rief; wennnicht alles täuschte, hatte sich auch ein Gegenkandidat eingefunden oder garmehrere, denn hie und da sah man in irgendeinem plötzlich aufflammenden Lichteinen von der Menge emporgehobenen Mann mit bleichem Gesicht und geballtenFäusten eine von vielstimmigen Rufen begrüßte Rede halten.

»Was geschieht denn da?« fragte Karl und wandte sich in atemloser Verwirrungan seine Wächter.

»Wie es den Kleinen aufregt!« sagte Brunelda zu Delamarche und faßte Karl amKinn, um seinen Kopf an sich zu ziehen. Aber das hatte Karl nicht wollen und erschüttelte sich, durch die Vorgänge auf der Straße förmlich rücksichtslos gemacht, sostark, daß Brunelda ihn nicht nur losließ, sondern zurückwich und ihn gänzlichfreigab.»Jetzt hast du genug gesehen«, sagte sie, offenbar durch KarlsBenehmen böse gemacht, »geh ins Zimmer, bette auf und bereite alles für die Nachtvor.« Sie streckte die Hand nach dem Zimmer aus. Das war ja die Richtung, dieKarl schon seit einigen Stunden nehmen wollte, er widersprach mit keinem Wort.Da hörte man von der Gasse her das Krachen von viel zersplitterndem Glas. Karlkonnte sich nicht bezwingen und sprang noch rasch zum Geländer, um flüchtig nocheinmal hinunterzuschauen. Ein Anschlag der Gegner, und vielleicht einentscheidender, war geglückt, die Automobillaternen der Anhänger, die mit ihremstarken Licht wenigstens die Hauptvorgänge vor der gesamten Öffentlichkeitgeschehen ließen und dadurch alles in gewissen Grenzen gehalten hatten, warensämtlich und gleichzeitig zerschmettert worden, den Kandidaten und seinen Trägerumfing nun die gemeinsame unsichere Beleuchtung, die in ihrer plötzlichenAusbreitung wie völlige Finsternis wirkte. Auch nicht beiläufig hätte man jetzt angebenkönnen, wo sich der Kandidat befand, und das Täuschende des Dunkels wurde

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noch vermehrt durch einen gerade einsetzenden, breiten, einheitlichen Gesang,der von unten, von der Brücke her sich näherte.

»Habe ich dir nicht gesagt, was du jetzt zu tun hast!« sagte Brunelda. »Beeiledich. Ich bin müde«, fügte sie hinzu und streckte dann die Arme in die Höhe, so daßsich ihre Brust noch viel mehr wölbte als gewöhnlich. Delamarche, der sie nochimmer umfaßt hielt, zog sie mit sich in eine Ecke des Balkons. Robinson ging ihnennach, um die Überbleibsel seines Essens, die noch dort lagen, beiseitezuschieben.Diese günstige Gelegenheit mußte Karl ausnutzen, jetzt war keine Zeithinunterzuschauen, von den Vorgängen auf der Straße würde er unten noch genugsehen, und mehr als von hier oben. In zwei Sprüngen eilte er durch das rötlichbeleuchtete Zimmer, aber die Tür war verschlossen und der Schlüssel abgezogen.Der mußte jetzt gefunden werden, aber wer wollte in dieser Unordnung einenSchlüssel finden und gar in der kurzen, kostbaren Zeit, die Karl zur Verfügung stand!Jetzt hätte er schon eigentlich auf der Treppe sein, hätte laufen und laufen sollen.Und nun suchte er den Schlüssel! Suchte ihn in allen zugänglichen Schubladen,stöberte auf dem Tisch herum, wo verschiedenes Eßgeschirr, Servietten undirgendeine angefangene Stickerei herumlagen, wurde durch einen Lehnstuhlangelockt, auf dem ein ganz verfitzter Haufen alter Kleidungsstücke sich befand, indenen der Schlüssel sich möglicherweise befinden, aber niemals aufgefundenwerden konnte, und warf sich schließlich auf das tatsächlich übelriechende Kanapee,um in allen Ecken und Falten nach dem Schlüssel zu tasten. Dann ließ er vomSuchen ab und stockte in der Mitte des Zimmers. Gewiß hatte Brunelda denSchlüssel an ihrem Gürtel befestigt, sagte er sich, dort hingen ja so viele Sachen,alles Suchen war umsonst.

Und blindlings ergriff Karl zwei Messer und bohrte sie zwischen die Türflügel,eines oben, eines unten, um zwei voneinander entfernte Angriffspunkte zuerhalten. Kaum hatte er an den Messern gezogen, brachen natürlich die Klingenentzwei. Er hatte nichts anderes wollen, die Stümpfe, die er nun fester einbohrenkonnte, würden desto besser halten. Und nun zog er mit aller Kraft, die Arme weitausgebreitet, die Beine weit auseinander gestemmt stöhnend und dabei genau aufdie Tür aufpassend. Sie würde nicht auf die Dauer widerstehen können, das erkannteer mit Freuden aus dem deutlich hörbaren Sichlockern der Riegel, je langsamer esaber ging, desto richtiger war es, aufspringen durfte ja das Schloß gar nicht, sonstwürde man ja auf dem Balkon aufmerksam werden, das Schloß mußte sich vielmehrganz langsam voneinanderlösen, und darauf arbeitete Karl mit größter Vorsicht hin,die Augen immer mehr dem Schlosse nähernd.

»Seht einmal«, hörte er da die Stimme des Delamarche. Alle drei standen imZimmer, der Vorhang war hinter ihnen schon zugezogen, Karl mußte ihr Kommenüberhört haben, die Hände sanken ihm bei dem Anblick von den Messern herab.Aber er hatte gar nicht Zeit, irgendein Wort zur Erklärung oder Entschuldigung zusagen, denn in einem weit über die augenblickliche Gelegenheit hinausgehendenWutanfall sprang Delamarche - sein gelöstes Schlafrockseil beschrieb eine großeFigur in der Luft - auf Karl los. Karl wich noch im letzten Augenblick dem Angriffaus, er hätte die Messer aus der Tür ziehen und zur Verteidigung benützen können,aber das tat er nicht, dagegen griff er, sich bückend und aufspringend, nach dembreiten Schlafrockkragen des Delamarche, schlug ihn in die Höhe, zog ihn dannnoch weiter hinauf - der Schlafrock war ja für Delamarche viel zu groß - und hieltnun glücklich den Delamarche beim Kopf, der, allzusehr überrascht, zuerst blind mitden Händen fuchtelte und erst nach einem Weilchen, aber noch nicht mit ganzerWirkung mit den Fäusten auf Karls Rücken schlug, der sich, um sein Gesicht zuschützen, an die Brust des Delamarche geworfen hatte. Die Faustschläge ertrugKarl, wenn er sich auch vor Schmerzen wand und wenn auch die Schläge immer

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stärker wurden, aber wie hätte er das nicht ertragen sollen, vor sich sah er ja denSieg. Die Hände am Kopf des Delamarche, die Daumen wohl gerade über seinenAugen, führte er ihn vor sich her gegen das ärgste Möbeldurcheinander undversuchte überdies, mit den Fußspitzen das Schlafrockseil um die Füße desDelamarche zu schlingen, um ihn auch so zu Fall zu bringen.

Da er sich aber ganz und gar mit Delamarche beschäftigen mußte, zumal erdessen Widerstand immer mehr wachsen fühlte und immer sehniger dieserfeindliche Körper sich ihm entgegenstemmte, vergaß er tatsächlich, daß er nicht mitDelamarche allein war. Aber nur allzubald wurde er daran erinnert, denn plötzlichversagten seine Füße, die Robinson, der sich hinter ihm auf den Boden geworfenhatte, schreiend auseinander preßte. Seufzend ließ Karl von Delamarche ab, dernoch einen Schritt zurückwich. Brunelda stand mit weit auseinander gestelltenBeinen und gebeugten Knien in ihrer ganzen Breite in der Zimmermitte undverfolgte die Vorgänge mit leuchtenden Augen. Als beteilige sie sich tatsächlich andem Kampf, atmete sie tief, visierte mit den Augen und ließ ihre Fäuste langsamvorrücken. Delamarche schlug seinen Kragen nieder, hatte nun wieder freien Blick,und nun gab es natürlich keinen Kampf mehr, sondern bloß eine Bestrafung. Er faßteKarl vorn beim Hemd, hob ihn fast vom Boden und schleuderte ihn, vorVerachtung sah er ihn gar nicht an, so gewaltig gegen einen ein paar Schritteentfernten Schrank, daß Karl im ersten Augenblick meinte, die stechendenSchmerzen im Rücken und am Kopf, die ihm das Aufschlagen am Kastenverursachte, stammten unmittelbar von der Hand des Delamarche. »DuHalunke!« hörte er den Delamarche in dem Dunkel, das vor seinen zitterndenAugen entstand, noch laut ausrufen. Und in der ersten Erschöpfung, in der er vordem Kasten zusammensank, klangen ihm die Worte »Warte nur!« noch schwachin den Ohren nach. Als er zur Besinnung kam, war es um ihn ganz finster, esmochte noch spät in der Nacht sein, vom Balkon her drang unter dem Vorhang einleichter Schimmer des Mondlichts in das Zimmer. Man hörte die ruhigen Atemzügeder drei Schläfer, die bei weitem lautesten stammten von Brunelda, sie schnaufteim Schlaf, wie sie es bisweilen beim Reden tat; es war aber nicht leichtfestzustellen, in welcher Richtung die einzelnen Schläfer sich befanden, das ganzeZimmer war von dem Rauschen ihres Atems voll. Erst nachdem er seineUmgebung ein wenig geprüft hatte, dachte Karl an sich, und da erschrak er sehr,denn wenn er sich auch ganz krumm und steif von Schmerzen fühlte, so hatte erdoch nicht daran gedacht, daß er eine schwere blutige Verletzung erlitten habenkönnte. Nun aber hatte er eine Last auf dem Kopf, und das ganze Gesicht, derHals, die Brust unter dem Hemd waren feucht wie von Blut. Er mußte ans Licht, umseinen Zustand genau festzustellen, vielleicht hatte man ihn zum Krüppelgeschlagen, dann würde ihn Delamarche wohl gerne entlassen, aber was sollte erdann anfangen, dann gab es wirklich keine Aussichten mehr für ihn. Der Burschemit der zerfressenen Nase im Torweg fiel ihm ein, und er legte einen Augenblicklang das Gesicht in seine Hände.

Unwillkürlich wandte er sich dann der Tür zu und tastete sich auf allen vieren hin.Bald erfühlte er mit den Fingerspitzen einen Stiefel und weiterhin ein Bein. Das warRobinson, wer schlief sonst in Stiefeln? Man hatte ihm befohlen, sich quer vor dieTür zu legen, um Karl an der Flucht zu hindern. Aber kannte man denn KarlsZustand nicht? Vorläufig wollte er gar nicht entfliehen, er wollte nur ans Lichtkommen. Konnte er also nicht zur Tür hinaus, so mußte er auf den Balkon.

Den Eßtisch fand er an einer offenbar ganz anderen Stelle als am Abend, dasKanapee, dem sich Karl natürlich sehr vorsichtig näherte, war überraschenderweiseleer, dagegen stieß er in der Zimmermitte auf hochgeschichtete, wenn auch starkgepreßte Kleider, Decken, Vorhänge, Polster und Teppiche. Zuerst dachte er, es sei

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nur ein kleiner Haufen, ähnlich dem, den er am Abend auf dem Sofa gefundenhatte und der etwa auf die Erde gerollt war, aber zu seinem Staunen bemerkte erbeim Weiterkriechen, daß da eine ganze Wagenladung solcher Sachen lag, dieman wahrscheinlich für die Nacht aus dem Kasten herausgenommen hatte, wo siewährend des Tages aufbewahrt wurden. Er umkroch den Haufen und erkanntebald, daß das Ganze eine Art Bettlager darstellte, auf dem hoch oben, wie er sichdurch vorsichtiges Tasten überzeugte, Delamarche und Brunelda ruhten.

Jetzt wußte er also, wo alle schliefen, und beeilte sich nun, auf den Balkon zukommen. Es war eine ganz andere Welt, in der er sich nun, außerhalb desVorhangs, schnell erhob. In der frischen Nachtluft, im vollen Schein des Mondesging er einigemal auf dem Balkon auf und ab. Er sah auf die Straße, sie war ganzstill, aus dem Gasthaus klang noch die Musik, aber nur gedämpft, hervor, vor derTür kehrte ein Mann das Trottoir, in der Gasse, in der am Abend innerhalb deswüsten allgemeinen Lärms das Schreien eines Wahlkandidaten von tausendanderen Stimmen nicht hatte unterschieden werden können, hörte man nun deutlichdas Kratzen des Besens auf dem Pflaster.

Das Rücken eines Tisches auf dem Nachbarbalkon machte Karl aufmerksam,dort saß ja jemand und studierte. Es war ein junger Mann mit einem kleinenSpitzbart, an dem er beim Lesen, das er mit raschen Lippenbewegungenbegleitete, ständig drehte. Er saß, das Gesicht Karl zugewendet, an einem kleinen,mit Büchern bedeckten Tisch, die Glühlampe hatte er von der Mauer abgenommen,zwischen zwei große Bücher geklemmt, und war nun von ihrem grellen Licht ganzüberleuchtet.

»Guten Abend«, sagte Karl, da er bemerkt zu haben glaubte, daß der jungeMann zu ihm herübergeschaut hätte.

Aber das mußte wohl ein Irrtum gewesen sein, denn der junge Mann schien ihnüberhaupt noch nicht bemerkt zu haben, legte die Hand über die Augen, um dasLicht abzublenden und festzustellen, wer da plötzlich grüßte, und hob dann, da ernoch immer nichts sah, die Glühlampe hoch, um mit ihr auch den Nachbarbalkonein wenig zu beleuchten.

»Guten Abend«, sagte dann auch er, blickte einen Augenblick lang scharfhinüber und fügte dann hinzu: »Und was weiter?«

»Ich störe Sie?« fragte Karl.

»Gewiß, gewiß«, sagte der Mann und brachte die Glühlampe wieder an ihrenfrüheren Ort.

Mit diesen Worten war allerdings jede Anknüpfung abgelehnt, aber Karl verließtrotzdem die Balkonecke, in der er dem Manne am nächsten war, nicht. Stummsah er zu, wie der Mann in seinem Buche las, die Blätter wendete, hie und da ineinem anderen Buche, das er immer mit Blitzesschnelle ergriff, irgend etwasnachschlug und öfters Notizen in ein Heft eintrug, wobei er immer überraschend tiefdas Gesicht zu dem Hefte senkte.

Ob dieser Mann vielleicht ein Student war? Es sah ganz so aus, als ob erstudierte. Nicht viel anders - jetzt war es schon lange her - war Karl zu Hause amTisch der Eltern gesessen und hatte seine Aufgaben geschrieben, während derVater die Zeitung las oder Bucheintragungen und Korrespondenzen für einenVerein erledigte und die Mutter mit einer Näharbeit beschäftigt war und hoch denFaden aus dem Stoffe zog. Um den Vater nicht zu belästigen, hatte Karl nur dasHeft und das Schreibzeug auf den Tisch gelegt, während er die nötigen Bücher rechtsund links von sich auf Sesseln angeordnet hatte. Wie still war es dort gewesen!Wie selten waren fremde Leute in jenes Zimmer gekommen! Schon als kleinesKind hatte Karl immer gerne zugesehen, wenn die Mutter gegen Abend die

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Wohnungstür mit dem Schlüssel absperrte. Sie hatte keine Ahnung davon, daß esjetzt mit Karl so weit gekommen war, daß er fremde Türen mit Messernaufzubrechen suchte.

Und welchen Zweck hatte sein ganzes Studium gehabt! Er hatte ja allesvergessen; wenn es darauf angekommen wäre, hier sein Studium fortzusetzen, eswäre ihm sehr schwer geworden. Er erinnerte sich daran, daß er zu Hause einmaleinen Monat lang krank gewesen war; welche Mühe hatte es ihn damals gekostet,sich nachher wieder in dem unterbrochenen Lernen zurechtzufinden! Und nunhatte er außer dem Lehrbuch der englischen Handelskorrespondenz schon solange kein Buch gelesen.

»Sie, junger Mann«, hörte sich Karl plötzlich angesprochen, »könnten Sie sich nichtanderswo aufstellen? Ihr Herüberstarren stört mich schrecklich. Um zwei Uhr in derNacht kann man doch schließlich verlangen, auf dem Balkon ungestört arbeiten zukönnen. Wollen Sie denn etwas von mir?« »Sie studieren?« fragte Karl.

»Ja, ja«, sagte der Mann und benützte dieses für das Lernen verlorene Weilchen,um unter seinen Büchern eine neue Ordnung einzurichten. »Dann will ich Sie nichtstören«, sagte Karl, »ich gehe überhaupt schon ins Zimmer zurück. Gute Nacht.«

Der Mann gab nicht einmal eine Antwort, mit einem plötzlichen Entschlusse hatteer sich nach Beseitigung dieser Störung wieder ans Studieren gemacht und stütztedie Stirn schwer in die rechte Hand.

Da erinnerte sich Karl knapp vor dem Vorhang daran, warum er eigentlichherausgekommen war, er wußte ja noch gar nicht, wie es mit ihm stand. Waslastete nur so auf seinem Kopf? Er griff hinauf und staunte, da war keine blutigeVerletzung, wie er im Dunkel des Zimmers gefürchtet hatte, es war nur ein nochimmer feuchter, turbanartiger Verband. Er war, nach den noch hie und dahängenden Spitzenüberresten zu schließen, aus einem alten Wäschestück Bruneldasgerissen, und Robinson hatte ihn wohl flüchtig Karl um den Kopf gewickelt. Nurhatte er vergessen, ihn auszuwinden, und so war während Karls Bewußtlosigkeitdas viele Wasser das Gesicht hinab- und unter das Hemd geronnen und hatteKarl solchen Schrecken eingejagt. »Sie sind wohl noch immer da?« fragte derMann und blinzelte hinüber.

»Jetzt gehe ich aber wirklich schon«, sagte Karl, »ich wollte hier nur etwasanschauen, im Zimmer ist es ganz finster.«

»Wer sind Sie denn?« sagte der Mann, legte den Federhalter in das vor ihmgeöffnete Buch und trat an das Geländer. »Wie heißen Sie? Wie kommen Sie zu denLeuten? Sind Sie schon lange hier? Was wollen Sie denn anschauen? DrehenSie doch Ihre Glühlampe dort auf, damit man Sie sehen kann.«

Karl tat dies, zog aber, ehe er antwortete, noch den Vorhang der Tür fester zu,damit man im Innern nichts merken konnte. »Verzeihen Sie«, sagte er dann imFlüsterton, »daß ich so leise rede. Wenn mich die drinnen hören, habe ich wiedereinen Krawall.«

»Wieder?« fragte der Mann. »Ja«, sagte Karl, »ich habe ja erst abends einengroßen Streit mit ihnen gehabt. Ich muß da noch eine fürchterliche Beule haben.«Und er tastete hinten seinen Kopf ab.

»Was war denn das für ein Streit?« fragte der Mann und fügte, da Karl nicht gleichantwortete, hinzu: »Mir können Sie ruhig alles anvertrauen, was Sie gegen dieseHerrschaften auf dem Herzen haben. Ich hasse sie nämlich alle drei, und ganzbesonders Ihre Madame. Es sollte mich übrigens wundern, wenn man Sie nichtschon gegen mich gehetzt hätte. Ich heiße Josef Mendel und bin Student.«

»Ja«, sagte Karl, »erzählt hat man mir schon von Ihnen, aber nichts Schlimmes.

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Sie haben wohl einmal Frau Brunelda behandelt, nicht wahr?« »Das stimmt«,sagte der Student und lachte. »Riecht das Kanapee noch danach?«

»O ja«, sagte Karl.

»Das freut mich aber«, sagte der Student und fuhr mit der Hand durchs Haar.»Und warum macht man Ihnen Beulen?«

»Es war ein Streit«, sagte Karl im Nachdenken darüber, wie er es dem Studentenerklären sollte. Dann aber unterbrach er sich und sagte: »Störe ich Sie denn nicht?«

»Erstens«, sagte der Student, »haben Sie mich schon gestört, und ich bin leiderso nervös, daß ich lange Zeit brauche, um mich wieder zurechtzufinden. Seit Sie daIhre Spaziergänge auf dem Balkon angefangen haben, komme ich mit demStudieren nicht vorwärts. Zweitens aber mache ich um drei Uhr immer eine Pause.Erzählen Sie also nur ruhig. Es interessiert mich auch.«

»Es ist ganz einfach«, sagte Karl. »Delamarche will, daß ich bei ihm Dienerwerde. Aber ich will nicht. Ich wäre am liebsten noch gleich abends weggegangen.Er wollte mich nicht lassen, hat die Tür abgesperrt, ich wollte sie aufbrechen, unddann kam es zu der Rauferei. Ich bin unglücklich, daß ich noch hier bin.«

»Haben Sie denn eine andere Stellung?« fragte der Student.

»Nein«, sagte Karl, »aber daran liegt mir nichts, wenn ich nur von hier fort wäre.«

»Hören Sie einmal«, sagte der Student, »daran liegt Ihnen nichts?« Und beideschwiegen ein Weilchen. »Warum wollen Sie denn bei den Leuten nicht bleiben?"fragte dann der Student.

»Delamarche ist ein schlechter Mensch«, sagte Karl, »ich kenne ihn schon vonfrüher her. Ich marschierte einmal einen Tag lang mit ihm und war froh, als ichnicht mehr bei ihm war. Und jetzt soll ich Diener bei ihm werden?«

»Wenn alle Diener bei der Auswahl ihrer Herrschaften so heikel sein wollten wieSie!« sagte der Student und schien zu lächeln. »Sehen Sie, ich bin während desTages Verkäufer, niedrigster Verkäufer, eher schon Laufbursche im Warenhaus vonMontly. Dieser Montly ist zweifellos ein Schurke, aber das läßt mich ganz ruhig,wütend bin ich nur, daß ich so elend bezahlt werde. Nehmen Sie sich also an mir einBeispiel.«

»Wie?« sagte Karl, »Sie sind bei Tag Verkäufer und in der Nacht studieren Sie?«

»Ja«, sagte der Student, »es geht nicht anders. Ich habe schon alles möglicheversucht, aber diese Lebensweise ist noch die beste. Vor Jahren war ich nurStudent, bei Tag und Nacht, wissen Sie, nur bin ich dabei fast verhungert, habe ineiner schmutzigen alten Höhle geschlafen und wagte mich in meinem damaligenAnzug nicht in die Hörsäle. Aber das ist vorüber.«

»Aber wann schlafen Sie?« fragte Karl und sah den Studenten verwundert an.»Ja, schlafen!« sagte der Student. »Schlafen werde ich, wenn ich mit meinemStudium fertig bin. Vorläufig trinke ich schwarzen Kaffee.« Und er wandte sich um,zog unter seinem Studiertisch eine große Flasche hervor, goß aus ihr schwarzenKaffee in ein Täßchen und schüttete ihn in sich hinein, so wie man Medizinen eiligschluckt, um möglichst wenig von ihrem Geschmack zu spüren.

»Eine feine Sache, der schwarze Kaffee«, sagte der Student. »Schade, daß Sieso weit sind, daß ich Ihnen nicht ein wenig hinüberreichen kann.« »Mir schmecktschwarzer Kaffee nicht«, sagte Karl.

»Mir auch nicht«, sagte der Student und lachte. »Aber was wollte ich ohne ihnanfangen. Ohne den schwarzen Kaffee würde mich Montly keinen Augenblickbehalten. Ich sage immer Montly, obwohl der natürlich keine Ahnung hat, daß ichauf der Welt bin. Ganz genau weiß ich nicht, wie ich mich im Geschäft benehmen

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würde, wenn ich nicht dort im Pult eine gleich große Flasche wie diese immervorbereitet hätte, denn ich habe noch nie gewagt, mit dem Kaffeetrinkenauszusetzen, aber, glauben Sie mir nur, ich würde bald hinter dem Pulte liegen undschlafen. Leider ahnt man das, sie nennen mich dort den >SchwarzenKaffee<, was ein blödsinniger Witz ist und mir gewiß in meinem Vorwärtskommenschon geschadet hat.«

»Und wann werden Sie mit Ihrem Studium fertig werden?« fragte Karl.

»Es geht langsam«, sagte der Student mit gesenktem Kopf. Er verließ dasGeländer und setzte sich wieder an den Tisch, die Ellbogen auf das offene Buchaufgestützt, mit den Händen durch seine Haare fahrend, sagte er dann: »Es kannnoch ein bis zwei Jahre dauern.«

»Ich wollte auch studieren«, sagte Karl, als gebe ihm dieser Umstand einAnrecht auf ein noch größeres Vertrauen, als es der jetzt verstummende Studentihm gegenüber schon bewiesen hatte.

»So", sagte der Student, und es war nicht ganz klar, ob er in seinem Bucheschon wieder las oder nur zerstreut hineinstarrte, »seien Sie froh, daß Sie dasStudium aufgegeben haben. Ich selbst studiere schon seit Jahren eigentlich nuraus Konsequenz. Befriedigung habe ich wenig davon und Zukunftsaussichtennoch weniger. Welche Aussichten wollte ich denn haben! Amerika ist voll vonSchwindeldoktoren.«

»Ich wollte Ingenieur werden«, sagte Karl noch eilig zu dem scheinbar schongänzlich unaufmerksamen Studenten hinüber.

»Und jetzt sollen Sie Diener bei diesen Leuten werden«, sagte der Student undsah flüchtig auf, »das schmerzt Sie natürlich.«

Diese Schlußfolgerung des Studenten war allerdings ein Mißverständnis, abervielleicht konnte es Karl beim Studenten nützen. Er fragte deshalb: »Könnte ichnicht vielleicht auch eine Stelle im Warenhaus bekommen?«

Diese Frage riß den Studenten völlig von seinem Buche los; der Gedanke, daß erKarl bei seiner Postenbewerbung behilflich sein könnte, kam ihm gar nicht.»Versuchen Sie es«, sagte er, »Oder versuchen Sie es lieber nicht. Daß ichmeinen Posten bei Montly bekommen habe, ist der bisher größte Erfolg meinesLebens gewesen. Wenn ich zwischen dem Studium und meinem Posten zu wählenhätte, würde ich natürlich den Posten wählen. Meine Anstrengung geht nur darauf hin,die Notwendigkeit einer solchen Wahl nicht eintreten zu lassen.«

»So schwer ist es, dort einen Posten zu bekommen«, sagte Karl mehr für sich.»Ach, was denken Sie denn«, sagte der Student, »es ist leichter, hierBezirksrichter zu werden als Türöffner bei Montly.«

Karl schwieg. Dieser Student, der doch so viel erfahrener war als er und derden Delamarche aus irgendwelchen Karl noch unbekannten Gründen haßte, derdagegen Karl gewiß nichts Schlechtes wünschte, fand für Karl kein Wort derAufmunterung, den Delamarche zu verlassen. Und dabei kannte er noch gar nichtdie Gefahr, die Karl von der Polizei drohte und vor der er nur bei Delamarchehalbwegs geschützt war.

»Sie haben doch am Abend die Demonstration unten gesehen? Nicht wahr?Wenn man die Verhältnisse nicht kennte, sollte man doch denken, dieser Kandidat,er heißt Lobter, werde doch irgendwelche Aussichten haben oder er komme dochwenigstens in Betracht, nicht?« »Ich verstehe von Politik nichts«, sagte Karl.

»Das ist ein Fehler«, sagte der Student. »Aber abgesehen davon haben Siedoch Augen und Ohren. Der Mann hat doch zweifellos Freunde und Feindegehabt, das kann Ihnen doch nicht entgangen sein. Und nun bedenken Sie, der

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Mann hat, meiner Meinung nach, nicht die geringsten Aussichten, gewählt zuwerden. Ich weiß zufällig alles über ihn, es wohnt da bei uns einer, der ihn kennt. Erist kein unfähiger Mensch, und seinen politischen Ansichten und seiner politischenVergangenheit nach wäre gerade er der passende Richter für den Bezirk. Aber keinMensch denkt daran, daß er gewählt werden könnte, er wird so prachtvoll durchfallen,als man durchfallen kann, er wird für die Wahlkampagne seine paar Dollarshinausgeworfen haben, das wird alles sein.«

Karl und der Student sahen einander ein Weilchen schweigend an. Der Studentnickte lächelnd und drückte mit einer Hand die müden Augen.

»Nun, werden Sie noch nicht schlafen gehen?« fragte er dann.

»Ich muß ja auch wieder studieren. Sehen Sie, wieviel ich noch durchzuarbeitenhabe.« Und er blätterte ein halbes Buch rasch durch, um Karl einen Begriff von derArbeit zu geben, die noch auf ihn wartete.

»Dann also gute Nacht«, sagte Karl und verbeugte sich.

»Kommen Sie doch einmal zu uns herüber«, sagte der Student, der schonwieder an seinem Tisch saß, »natürlich nur, wenn Sie Lust haben. Sie werden hierimmer große Gesellschaft finden. Von neun bis zehn Uhr abends habe ich auch fürSie Zeit.«

»Sie raten mir also, bei Delamarche zu bleiben?« fragte Karl. »Unbedingt«,sagte der Student und senkte schon den Kopf zu seinen Büchern. Es schien, alshätte gar nicht er das Wort gesagt; wie von einer Stimme gesprochen, die tieferwar als jene des Studenten, klang es noch in Karls Ohren nach. Langsam ging erzum Vorhang, warf noch einen Blick auf den Studenten, der jetzt ganzunbeweglich, von der großen Finsternis umgeben, in seinem Lichtschein saß, undschlüpfte ins Zimmer. Die vereinten Atemzüge der drei Schläfer empfingen ihn. Ersuchte die Wand entlang das Kanapee, und als er es gefunden hatte, streckte ersich ruhig auf ihm aus, als sei es sein gewohntes Lager. Da ihm der Student, derden Delamarche und die hiesigen Verhältnisse genau kannte und überdies eingebildeter Mann war, geraten hatte, hier zu bleiben, hatte er vorläufig keineBedenken. So hohe Ziele wie der Student hatte er nicht, wer weiß, ob es ihm sogarzu Hause gelungen wäre, das Studium zu Ende zu führen, und wenn es zu Hausekaum möglich schien, so konnte niemand verlangen, daß er es hier im fremdenLande tue. Die Hoffnung aber, einen Posten zu finden, in dem er etwas leistenund für seine Leistungen anerkannt werden könnte, war gewiß größer, wenn er vorläufigdie Dienerstelle bei Delamarche annahm und aus dieser Sicherheit heraus einegünstige Gelegenheit abwartete. Es schienen sich ja in dieser Straße viele Bürosmittleren und unteren Ranges zu befinden, die vielleicht im Falle des Bedarfes beider Auswahl ihres Personals nicht gar zu wählerisch waren. Er wollte ja gern, wennes sein mußte, Geschäftsdiener werden, aber schließlich war es ja gar nichtausgeschlossen, daß er auch für reine Büroarbeiten aufgenommen werden konnteund einstmals als Bürobeamter an seinem Schreibtisch sitzen und ohne Sorgen einWeilchen lang aus dem offenen Fenster schauen würde wie jener Beamte, den erheute früh beim Durchmarsch durch die Höfe gesehen hatte. Beruhigend fiel ihmein, als er die Augen schloß, daß er doch jung war und daß Delamarche ihn docheinmal freigeben würde; dieser Haushalt sah ja wirklich nicht danach aus, als sei erfür die Ewigkeit gemacht. Wenn aber Karl einmal einen solchen Posten in einemBüro hätte, dann wollte er sich mit nichts anderem beschäftigen als mit seinenBüroarbeiten und nicht die Kräfte zersplittern wie der Student. Wenn es nötig seinsollte, wollte er auch die Nacht fürs Büro verwenden, was man ja im Beginn beiseiner geringen kaufmännischen Vorbildung sowieso von ihm verlangen würde. Erwollte nur an das Interesse des Geschäftes denken, dem er zu dienen hätte undallen Arbeiten sich unterziehen, selbst solchen, die andere Bürobeamte als ihrer

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nicht würdig zurückweisen würden. Die guten Vorsätze drängten sich in seinem Kopf,als stehe sein künftiger Chef vor dem Kanapee und lese sie von seinem Gesichtab. In solchen Gedanken schlief Karl ein und nur im ersten Halbschlaf störte ihnnoch ein gewaltiges Seufzen Bruneldas, die, scheinbar von schweren Träumengeplagt, sich auf ihrem Lager wälzte.

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Das Naturtheater von Oklahoma

Karl sah an einer Straßenecke ein Plakat mit folgender Aufschrift: »Auf demRennplatz in Clayton wird heute von sechs Uhr früh bis Mitternacht Personal für dasTheater in Oklahoma aufgenommen! Das große Theater von Oklahoma ruft euch!Es ruft nur heute, nur einmal! Wer jetzt die Gelegenheit versäumt, versäumt sie fürimmer! Wer an seine Zukunft denkt, gehört zu uns! Jeder ist willkommen! WerKünstler werden will, melde sich! Wir sind das Theater, das jeden brauchen kann,jeden an seinem Ort! Wer sich für uns entschieden hat, den beglückwünschen wirgleich hier! Aber beeilt euch, damit ihr bis Mitternacht vorgelassen werdet! Umzwölf Uhr wird alles geschlossen und nicht mehr geöffnet! Verflucht sei, wer unsnicht glaubt! Auf nach Clayton!«

Es standen zwar viele Leute vor dem Plakat, aber es schien nicht viel Beifall zufinden. Es gab so viele Plakate, Plakaten glaubte niemand mehr. Und diesesPlakat war noch unwahrscheinlicher, als Plakate sonst zu sein pflegen. Vor allemaber hatte es einen großen Fehler, es stand kein Wörtchen von der Bezahlungdarin. Wäre sie auch nur ein wenig erwähnenswert gewesen, das Plakat hätte siegewiß genannt; es hätte das Verlockendste nicht vergessen. Künstler werden wollteniemand, wohl aber wollte jeder für seine Arbeit bezahlt werden. Für Karl stand aberdoch in dem Plakat eine große Verlockung. »Jeder war willkommen«, hieß es.Jeder, also auch Karl. Alles, was er bisher getan hatte, war vergessen, niemandwollte ihm daraus einen Vorwurf machen. Er durfte sich zu einer Arbeit melden,die keine Schande war, zu der man vielmehr öffentlich einladen konnte! Undebenso öffentlich wurde das Versprechen gegeben, daß man auch ihn annehmenwürde. Er verlangte nichts Besseres, er wollte endlich den Anfang einer anständigenLaufbahn finden, und hier zeigte er sich vielleicht. Mochte alles Großsprecherische,das auf dem Plakate stand, eine Lüge sein, mochte das große Theater vonOklahoma ein kleiner Wanderzirkus sein, es wollte Leute aufnehmen, das wargenügend. Karl las das Plakat nicht zum zweiten Male, suchte aber noch einmalden Satz: »Jeder ist willkommen« hervor. Zuerst dachte er daran, zu Fuß nachClayton zu gehen, aber das wären drei Stunden angestrengten Marschesgewesen, und er wäre dann möglicherweise gerade zurecht gekommen, um zuerfahren, daß man schon alle verfügbaren Stellen besetzt hätte. Nach dem Plakat warallerdings die Zahl der Aufzunehmenden unbegrenzt, aber so waren immer allederartigen Stellenangebote abgefaßt. Karl sah ein, daß er entweder auf die Stelleverzichten oder fahren mußte. Er überrechnete sein Geld, es hätte ohne diese Fahrtfür acht Tage gereicht, er schob die kleinen Münzen auf der flachen Hand hin undher. Ein Herr, der ihn beobachtet hatte, klopfte ihm auf die Schulter und sagte:»Viel Glück zur Fahrt nach Clayton.« Karl nickte stumm und rechnete weiter. Aberer entschloß sich bald, teilte das für die Fahrt notwendige Geld ab und lief zurUntergrundbahn. Als er in Clayton ausstieg, hörte er gleich den Lärm vielerTrompeten. Es war ein wirrer Lärm, die Trompeten waren nicht gegeneinanderabgestimmt, es wurde rücksichtslos geblasen. Aber das störte Karl nicht, esbestätigte ihm vielmehr, daß das Theater von Oklahoma ein großes Unternehmenwar. Aber als er aus dem Stationsgebäude trat und die ganze Anlage vor sichüberblickte, sah er, daß alles noch größer war, als er nur irgendwie hatte denkenkönnen, und er begriff nicht, wie ein Unternehmen nur zu dem Zweck, um Personalzu erhalten, derartige Aufwendungen machten konnte. Vor dem Eingang zumRennplatz war ein langes, niedriges Podium aufgebaut, auf dem Hunderte vonFrauen, als Engel gekleidet, in weißen Tüchern mit großen Flügeln am Rücken, auflangen, goldglänzenden Trompeten bliesen. Sie waren aber nicht unmittelbar aufdem Podium, sondern jede stand auf einem Postament, das aber nicht zu sehen

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war, denn die langen wehenden Tücher der Engelkleidung hüllten es vollständig ein.Da nun die Postamente sehr hoch, wohl bis zwei Meter hoch waren, sahen dieGestalten der Frauen riesenhaft aus, nur ihre kleinen Köpfe störten ein wenig denEindruck der Größe, auch ihr gelöstes Haar hing zu kurz und fast lächerlich zwischenden großen Flügeln und an den Seiten hinab. Damit keine Einförmigkeit entstehe,hatte man Postamente in der verschiedensten Größe verwendet; es gab ganzniedrige Frauen, nicht weit über Lebensgröße, aber neben ihnen schwangen sichandere Frauen in solche Höhe hinauf, daß man sie beim leichtesten Windstoß inGefahr glaubte. Und nun bliesen alle diese Frauen. Es gab nicht viele Zuhörer.Klein, im Vergleich zu den großen Gestalten, gingen etwa zehn Burschen vor demPodium hin und her und blickten zu den Frauen hinauf. Sie zeigten einanderdiese oder jene, sie schienen aber nicht die Absicht zu haben, einzutreten undsich aufnehmen zu lassen. Nur ein einziger älterer Mann war zu sehen, er standein wenig abseits. Er hatte gleich auch seine Frau und ein Kind im Kinderwagenmitgebracht. Die Frau hielt mit der einen Hand den Wagen, mit der anderen stütztesie sich auf die Schulter des Mannes. Sie bewunderten zwar das Schauspiel,aber man erkannte doch, daß sie enttäuscht waren. Sie hatten wohl auch erwartet,eine Arbeitsgelegenheit zu finden, dieses Trompetenblasen aber beirrte sie. Karlwar in der gleichen Lage. Er trat in die Nähe des Mannes, hörte ein wenig denTrompeten zu und sagte dann: »Hier ist doch die Aufnahmestelle für das Theatervon Oklahoma?«

»Ich glaubte es auch«, sagte der Mann, »aber wir warten hier schon seit einerStunde und hören nichts als die Trompeten. Nirgends ist ein Plakat zu sehen,nirgends ein Ausrufer, nirgends jemand, der Auskunft geben könnte.«

Karl sagte: »Vielleicht wartet man, bis mehr Leute zusammenkommen. Es sindwirklich noch sehr wenig hier.«

»Möglich«, sagte der Mann, und sie schwiegen wieder. Es war auch schwer, imLärm der Trompeten etwas zu verstehen. Aber dann flüsterte die Frau etwas ihremManne zu, er nickte, und sie rief gleich Karl an: »Könnten Sie nicht in dieRennbahn hinübergehen und fragen, wo die Aufnahme stattfindet?« »Ja«, sagteKarl, »aber ich müßte über das Podium gehen, zwischen den Engeln durch.«

»Ist das so schwierig?« fragte die Frau.

Für Karl erschien ihr der Weg leicht, ihren Mann aber wollte sie nichtausschicken. »Nun ja«, sagte Karl, »ich werde gehen.«

»Sie sind sehr gefällig«, sagte die Frau, und sie wie auch ihr Mann drückten Karldie Hand.

Die Burschen liefen zusammen, um aus der Nähe zu sehen, wie Karl auf dasPodium stieg. Es war, als bliesen die Frauen stärker, um den erstenStellensuchenden zu begrüßen. Diejenigen aber, an deren Postament Karl geradevorüberging, gaben sogar die Trompeten vom Munde und beugten sich zur Seite,um seinen Weg zu verfolgen. Karl sah auf dem anderen Ende des Podiums einenunruhig auf und ab gehenden Mann, der offenbar nur auf Leute wartete, um ihnenalle Auskunft zu geben, die man nur wünschen konnte. Karl wollte schon auf ihnzugehen, da hörte er über sich seinen Namen rufen.

»Karl!« rief der Engel. Karl sah auf und fing vor freudiger Überraschung zu lachenan. Es war Fanny.

»Fanny!« rief er und grüßte mit der Hand hinauf.

»Komm doch her!« rief Fanny. »Du wirst doch nicht an mir vorüberlaufen!« Undsie schlug die Tücher auseinander, so daß das Postament und eine schmaleTreppe, die hinaufführte, freigelegt wurde.

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»Ist es erlaubt, hinaufzugehen?« fragte Karl.

»Wer will uns verbieten, daß wir einander die Hand drücken!« rief Fanny undblickte sich erzürnt um, ob nicht etwa schon jemand mit dem Verbote käme. Karl liefaber schon die Treppe hinauf.

»Langsamer!« rief Fanny. »Das Postament und wir beide stürzen um!« Aber esgeschah nichts, Karl kam glücklich bis zur letzten Stufe. »Sieh nur«, sagte Fanny,nachdem sie einander begrüßt hatten, »sieh nur, was für eine Arbeit ich bekommenhabe.«

»Es ist ja schön«, sagte Karl und sah sich um. Alle Frauen in der Nähe hattenschon Karl bemerkt und kicherten. »Du bist fast die Höchste«, sagte Karl undstreckte die Hand aus, um die Höhe der anderen abzumessen.

»Ich habe dich gleich gesehen«, sagte Fanny, »als du aus der Station kamst,aber ich bin leider hier in der letzten Reihe, man sieht mich nicht, und rufenkonnte ich auch nicht. Ich habe zwar besonders laut geblasen, aber du hast michnicht erkannt.«

»Ihr blast ja alle schlecht«, sagte Karl, »laß mich einmal blasen.«

»Aber gewiß«, sagte Fanny und reichte ihm die Trompete, »aber verdirb denChor nicht, sonst entläßt man mich.«

Karl fing zu blasen an; er hatte gedacht, es sei eine grob gearbeitete Trompete,nur zum Lärmmachen bestimmt, aber nun zeigte es sich, daß es ein Instrument war,das fast jede Feinheit ausführen konnte. Waren alle Instrumente von gleicherBeschaffenheit, so wurde ein großer Mißbrauch mit ihnen getrieben. Karl blies, ohnesich vom Lärm der anderen stören zu lassen, aus voller Brust ein Lied, das erirgendwo in einer Kneipe einmal gehört hatte. Er war froh, eine alte Freundingetroffen zu haben und hier, vor allen bevorzugt, die Trompete blasen zu dürfenund möglicherweise bald eine gute Stellung bekommen zu können. Viele Frauenstellten das Blasen ein und hörten zu; als er plötzlich abbrach, war kaum die Hälfteder Trompeten in Tätigkeit, erst allmählich kam wieder der vollständige Lärm zustande.

»Du bist ja ein Künstler«, sagte Fanny, als Karl ihr die Trompete wieder reichte.

»Laß dich als Trompeter aufnehmen.«

»Werden denn auch Männer aufgenommen?« fragte Karl.

»Ja«, sagte Fanny, »wir blasen zwei Stunden lang. Dann werden wir vonMännern, die als Teufel angezogen sind, abgelöst. Die Hälfte bläst, die Hälfte trommelt.Es ist sehr schön, wie überhaupt die ganze Ausstattung sehr kostbar ist. Ist nichtauch unser Kleid sehr schön? Und die Flügel?« Sie sah an sich hinab. »Glaubstdu«, fragte Karl, »daß auch ich noch eine Stelle bekommen werde?«

»Ganz bestimmt«, sagte Fanny, »es ist ja das größte Theater der Welt. Wie gut essich trifft, daß wir wieder beisammen sein werden! Allerdings kommt es darauf an,welche Stelle du bekommst. Es wäre auch möglich, daß wir, auch wenn wir beide hierangestellt sind, uns doch gar nicht sähen.«

»Ist denn das Ganze wirklich so groß?« fragte Karl.

»Es ist das größte Theater der Welt«, sagte Fanny nochmals, »ich habe esallerdings selbst noch nicht gesehen, aber manche meiner Kolleginnen, die schonin Oklahoma waren, sagen, es sei fast grenzenlos.«

»Es melden sich aber wenig Leute«, sagte Karl und zeigte hinunter auf dieBurschen und die kleine Familie.

»Das ist wahr«, sagte Fanny. »Bedenke aber, daß wir in allen Städten Leuteaufnehmen, daß unsere Werbetruppe immerfort reist und daß es noch viele solcherTruppen gibt.«

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»Ist denn das Theater noch nicht eröffnet?" fragte Karl. »O ja«, sagte Fanny, »esist ein altes Theater, aber es wird immerfort vergrößert.«

»Ich wundere mich«, sagte Karl, »daß sich nicht mehr Leute dazu drängen.«

»Ja«, sagte Fanny, »es ist merkwürdig.« »Vielleicht«, sagte Karl, »schrecktdieser Aufwand an Engeln und Teufeln mehr ab, als er anzieht.«

»Wie du das herausfinden kannst!« sagte Fanny. »Es ist aber möglich. Sag esunserem Führer, vielleicht kannst du ihm dadurch nützen.«

»Wo ist er?« fragte Karl.

»In der Rennbahn«, sagte Fanny, »auf der Schiedsrichtertribüne.« »Auch daswundert mich«, sagte Karl, »warum geschieht denn die Aufnahme auf derRennbahn?«

»Ja«, sagte Fanny, »wir machen überall die größten Vorbereitungen für den größtenAndrang. Auf der Rennbahn ist eben viel Platz. Und in allen Ständen, wo sonst dieWetten abgeschlossen werden, sind die Aufnahmekanzleien eingerichtet. Essollen zweihundert verschiedene Kanzleien sein.«

»Aber«, rief Karl, »hat denn das Theater von Oklahoma so große Einkünfte, umderartige Werbetruppen erhalten zu können?«

»Was kümmert uns denn das?« sagte Fanny. »Aber nun geh, Karl, damit dunichts versäumst, ich muß auch wieder blasen. Versuche, auf jeden Fall einenPosten bei dieser Truppe zu bekommen, und komm gleich zu mir, es melden.Denke daran, daß ich in großer Unruhe auf die Nachricht warte.«

Sie drückte ihm die Hand, ermahnte ihn zur Vorsicht beim Hinabsteigen, setztewieder die Trompete an die Lippen, blies aber nicht, ehe sie Karl unten auf demBoden in Sicherheit sah. Karl legte wieder die Tücher über die Treppe, so wie siefrüher gewesen waren. Fanny dankte durch Kopfnicken, und Karl ging, das ebenGehörte nach verschiedenen Richtungen hin überlegend, auf den Mann zu, derschon Karl oben bei Fanny gesehen und sich dem Postament genähert hatte, umihn zu erwarten.

»Sie wollen bei uns eintreten?« fragte der Mann. »Ich bin der Personalchefdieser Truppe und heiße Sie willkommen.« Er war ständig wie aus Höflichkeit einwenig vorgebeugt, tänzelte, obwohl er sich nicht von der Stelle rührte, und spieltemit seiner Uhrkette.

»Ich danke«, sagte Karl, »ich habe das Plakat Ihrer Gesellschaft gelesen undmelde mich, wie es dort verlangt wird.«

»Sehr richtig«, sagte der Mann anerkennend, »leider verhält sich hier nicht jederso richtig.«

Karl dachte daran, daß er jetzt den Mann darauf aufmerksam machen könnte, daßmöglicherweise die Lockmittel der Werbetruppe gerade wegen ihrer Großartigkeitversagten. Aber er sagte es nicht, denn dieser Mann war gar nicht der Führer derTruppe, und außerdem wäre es wenig empfehlend gewesen, wenn er, der noch garnicht aufgenommen war, gleich Verbesserungsvorschläge gemacht hätte. Darumsagte er nur: »Es wartet draußen noch einer, der sich auch anmelden will und dermich nur vorausgeschickt hat. Darf ich ihn jetzt holen?«

»Natürlich«, sagte der Mann, »je mehr kommen, desto besser.«

»Er hat auch eine Frau bei sich und ein kleines Kind im Kinderwagen. Sollen dieauch kommen?«

»Natürlich«, sagte der Mann und schien über Karls Zweifel zu lächeln. »Wir könnenalle brauchen.«

»Ich bin gleich wieder zurück«, sagte Karl und lief wieder zurück an den Rand des

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Podiums. Er winkte dem Ehepaar zu und rief, daß alle kommen dürften. Er half, denKinderwagen auf das Podium heben, und sie gingen nun gemeinsam. DieBurschen, die das sahen, berieten sich miteinander, stiegen dann langsam, biszum letzten Augenblick noch zögernd, die Hände in den Taschen, auf das Podiumhinauf und folgten schließlich Karl und der Familie. Eben kamen aus demStationsgebäude der Untergrundbahn neue Passagiere hervor, die, angesichts desPodiums mit den Engeln, staunend die Arme erhoben. Immerhin schien es, als obdie Bewerbung um Stellen nun doch lebhafter werden sollte. Karl war sehr froh,so früh, vielleicht als erster, gekommen zu sein, das Ehepaar war ängstlich undstellte verschiedene Fragen darüber, ob große Anforderungen gestellt würden. Karlsagte, er wisse noch nichts Bestimmtes, er hätte aber wirklich den Eindruckerhalten, daß jeder ohne Ausnahme genommen würde. Er glaube, man dürfe getrostsein.

Der Personalchef kam ihnen schon entgegen, war sehr zufrieden, daß so vielekamen, rieb sich die Hände, grüßte jeden einzelnen durch eine kleine Verbeugungund stellte sie alle in eine Reihe. Karl war der erste, dann kam das Ehepaar unddann erst die anderen. Als sie sich alle aufgestellt hatten - die Burschen drängtensich zuerst durcheinander, und es dauerte ein Weilchen, ehe bei ihnen Ruheeintrat -, sagte der Personalchef, während die Trompeten verstummten: »ImNamen des Theaters von Oklahoma begrüße ich Sie. Sie sind früh gekommen« (eswar aber schon bald Mittag), »das Gedränge ist noch nicht groß, die FormalitätenIhrer Aufnahme werden daher bald erledigt sein. Sie haben natürlich alle IhreLegitimationspapiere bei sich.«

Die Burschen holten gleich irgendwelche Papiere aus den Taschen undschwenkten sie gegen den Personalchef hin, der Ehemann stieß seine Frau an, dieunter dem Federbett des Kinderwagens ein ganzes Bündel Papiere hervorzog. Karlallerdings hatte keine. Sollte das ein Hindernis für seine Aufnahme werden?Immerhin wußte Karl aus Erfahrung, daß sich derartige Vorschriften, wenn man nurein wenig entschlossen ist, leicht umgehen lassen. Es war nichtunwahrscheinlich. Der Personalchef überblickte die Reihe, vergewisserte sich, daßalle Papiere hatten, und da auch Karl die Hand, allerdings die leere Hand erhob,nahm er an, auch bei ihm sei alles in Ordnung.

»Es ist gut«, sagte dann der Personalchef und winkte den Burschen ab, die ihrePapiere gleich untersucht haben wollten, »die Papiere werden jetzt in denAufnahmekanzleien überprüft werden. Wie Sie schon aus unserem Plakat gesehenhaben, können wir jeden brauchen. Wir müssen aber natürlich wissen, welchen Berufer bisher ausgeübt hat, damit wir ihn an den richtigen Ort stellen können, wo erseine Kenntnisse verwerten kann.«

>Es ist ja ein Theater<, dachte Karl zweifelnd und hörte sehr aufmerksamzu. »Wir haben daher«, fuhr der Personalchef fort, »in den BuchmacherbudenAufnahmekanzleien eingerichtet, je eine Kanzlei für eine Berufsgruppe. Jeder vonIhnen wird mir also jetzt seinen Beruf angeben, die Familie gehört im allgemeinenzur Aufnahmekanzlei des Mannes. Ich werde Sie dann zu den Kanzleien führen,wo zuerst Ihre Papiere und dann Ihre Kenntnisse von Fachmännern überprüft werdensollen, es wird nur eine ganz kurze Prüfung sein, niemand muß sich fürchten. Dortwerden Sie dann auch gleich aufgenommen werden und die weiteren Weisungenerhalten. Fangen wir also an. Hier, die erste Kanzlei, ist, wie schon die Aufschriftsagt, für Ingenieure bestimmt. Ist vielleicht ein Ingenieur unter Ihnen?« Karlmeldete sich. Er glaubte, gerade weil er keine Papiere hatte, müsse er bestrebtsein, alle Formalitäten möglichst rasch durchzujagen, eine kleine Berechtigung, sichzu melden, hatte er auch, denn er hatte ja Ingenieur werden wollen. Aber als dieBurschen sahen, daß Karl sich meldete, wurden sie neidisch und meldeten sich

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auch alle; alle meldeten sich. Der Personalchef streckte sich in die Höhe und sagtezu den Burschen: »Sie sind Ingenieure?« Da senkten sie alle langsam die Hände,Karl dagegen bestand auf seiner ersten Meldung. Der Personalchef sah ihn zwarungläubig an, denn Karl schien ihm zu kläglich angezogen und auch zu jung, umIngenieur sein zu können, aber er sagte doch nichts weiter, vielleicht ausDankbarkeit, weil Karl ihm, wenigstens seiner Meinung nach, die Bewerberhereingeführt hatte. Er zeigte bloß einladend nach der Kanzlei, und Karl ging hin,während sich der Personalchef den anderen zuwandte.

In der Kanzlei für Ingenieure saßen an den zwei Seiten eines rechtwinkeligenPultes zwei Herren und verglichen zwei große Verzeichnisse, die vor ihnen lagen.Der eine las vor, der andere strich in seinem Verzeichnis die vorgelesenenNamen an. Als Karl grüßend vor sie hintrat, legten sie sofort die Verzeichnisse fortund nahmen andere große Bücher vor, die sie aufschlugen.

Der eine, offenbar nur ein Schreiber, sagte: »Ich bitte um IhreLegitimationspapiere.« »Ich habe sie leider nicht bei mir«, sagte Karl.

»Er hat sie nicht bei sich«, sagte der Schreiber zu dem anderen Herrn undschrieb die Antwort gleich in sein Buch ein.

»Sie sind Ingenieur?« fragte dann der andere, der der Leiter der Kanzlei zu seinschien. »Ich bin es noch nicht«, sagte Karl schnell, »aber -«

»Genug«, sagte der Herr noch viel schneller, »dann gehören Sie nicht zu uns.Ich bitte, die Aufschrift zu beachten.« Karl biß die Zähne zusammen, der Herr mußtees bemerkt haben, denn er sagte: »Es ist kein Grund zur Unruhe. Wir können allebrauchen.« Und er winkte einem der Diener, die beschäftigungslos zwischen denBarrieren umhergingen: »Führen Sie diesen Herrn zu der Kanzlei für Leute mittechnischen Kenntnissen.«

Der Diener faßte den Befehl wörtlich auf und faßte Karl bei der Hand. Sie gingenzwischen vielen Buden durch, in einer sah Karl schon einen der Burschen, derschon aufgenommen war und den Herren dort dankend die Hand drückte. In derKanzlei, in die Karl jetzt gebracht wurde, war, wie Karl vorausgesehen hatte, derVorgang ähnlich wie in der ersten Kanzlei. Nur schickte man ihn von hier, da manhörte, daß er eine Mittelschule besucht hatte, in die Kanzlei für geweseneMittelschüler. Als Karl dort aber sagte, er hätte eine europäische Mittelschulebesucht, erklärte man sich auch dort für unzuständig und ließ ihn in die Kanzlei füreuropäische Mittelschüler führen. Es war eine Bude am äußeren Rand, nicht nur kleiner,sondern sogar niedriger als alle anderen. Der Diener, der ihn hierhergebrachthatte, war wütend über die lange Führung und die vielen Abweisungen, an denenseiner Meinung nach Karl allein die Schuld tragen müßte. Er wartete nicht mehr dieFragen ab, sondern lief gleich fort. Diese Kanzlei war wohl auch die letzteZuflucht. Als Karl den Kanzleileiter erblickte, erschrak er fast über die Ähnlichkeit,die dieser mit einem Professor hatte, der wahrscheinlich noch jetzt an derRealschule zu Hause unterrichtete. Die Ähnlichkeit bestand allerdings, wie sichgleich herausstellte, nur in Einzelheiten; aber die auf der breiten Nase ruhendeBrille, der blonde, wie ein Schaustück gepflegte Vollbart, der sanft gebeugte Rückenund die immer unerwartet hervorbrechende laute Stimme hielten Karl noch einigeZeit in Staunen. Glücklicherweise mußte er auch nicht sehr aufmerken, denn es ginghier einfacher zu als in den anderen Kanzleien. Es wurde zwar auch hiereingetragen, daß seine Legitimationspapiere fehlten, und der Kanzleileiter nanntees eine unbegreifliche Nachlässigkeit, aber der Schreiber, der hier die Oberhandhatte, ging schnell darüber hinweg und erklärte nach einigen kurzen Fragen desLeiters, während sich dieser gerade zu einer größeren Frage anschickte, Karl füraufgenommen. Der Leiter wandte sich mit offenem Mund gegen den Schreiber,dieser aber machte eine abschließende Handbewegung, sagte »Aufgenommen«

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und trug auch gleich die Entscheidung ins Buch ein. Offenbar war der Schreiberder Meinung, ein europäischer Mittelschüler zu sein, sei schon etwas soSchmähliches, daß man es jedem, der es von sich behauptete, ohne weiteresglauben könnte. Karl für seinen Teil hatte nichts dagegen einzuwenden, er ging zuihm hin und wollte ihm danken. Es gab aber noch eine kleine Verzögerung, alsman ihn jetzt nach seinem Namen fragte. Er antwortete nicht gleich, er hatte eineScheu, seinen wirklichen Namen zu nennen und aufschreiben zu lassen. Sobalder hier auch nur die kleinste Stelle erhalten und zur Zufriedenheit ausfüllen würde,dann mochte man seinen Namen erfahren, jetzt aber nicht; allzulange hatte er ihnverschwiegen, als daß er ihn jetzt hätte verraten sollen. Er nannte daher, da ihm imAugenblick kein anderer Name einfiel, den Rufnamen aus seinen letztenStellungen: »Negro«.

»Negro?« fragte der Leiter, drehte den Kopf und machte eine Grimasse, als hätteKarl jetzt den Höhepunkt der Unglaubwürdigkeit erreicht. Auch der Schreiber sahKarl eine Weile lang prüfend an, dann aber wiederholte er »Negro« und schriebden Namen ein. »Sie haben doch nicht Negro aufgeschrieben?« fuhr ihn derLeiter an. »Ja, Negro«, sagte der Schreiber ruhig und machte eineHandbewegung, als habe nun der Leiter das Weitere zu veranlassen. Der Leiterbezwang sich auch, stand auf und sagte: »Sie sind also für das Theater vonOklahoma -«, aber weiter kam er nicht, er konnte nichts gegen sein Gewissentun, setzte sich und sagte: »Er heißt nicht Negro.« Der Schreiber zog dieAugenbrauen in die Höhe, stand nun selbst auf und sagte: »Dann teile also ichIhnen mit, daß Sie für das Theater in Oklahoma aufgenommen sind und daß man Siejetzt unserem Führer vorstellen wird.«

Wieder wurde ein Diener gerufen, der Karl zur Schiedsrichtertribüne führte. Untenan der Treppe sah Karl den Kinderwagen, und gerade kam auch das Ehepaarherunter, die Frau mit dem Kind auf dem Arm.

»Sind Sie aufgenommen?« fragte der Mann, er war viel lebhafter als früher, auchdie Frau sah ihm lachend über die Schulter. Als Karl antwortete, eben sei eraufgenommen worden und gehe zur Vorstellung, sagte der Mann: »Danngratuliere ich. Auch wir sind aufgenommen worden. Es scheint ein gutesUnternehmen zu sein, allerdings kann man sich nicht gleich in alles einfinden, soist es aber überall.« Sie sagten einander noch »Auf Wiedersehen«, und Karl stiegzur Tribüne hinauf. Er ging langsam, denn der kleine Raum oben schien vonLeuten überfüllt zu sein, und er wollte sich nicht eindrängen. Er blieb sogar stehenund überblickte das große Rennfeld, das auf allen Seiten bis an ferne Wälder reichte.Ihn erfaßte die Lust, einmal ein Pferderennen zu sehen, er hatte in Amerika nochkeine Gelegenheit dazu gefunden. In Europa war er einmal als kleines Kind zueinem Rennen mitgenommen worden, konnte sich aber an nichts andereserinnern, als daß er von der Mutter zwischen vielen Menschen, die nichtauseinanderweichen wollten, durchgezogen worden war. Er hatte also eigentlichüberhaupt noch kein Rennen gesehen. Hinter ihm fing eine Maschinerie zuschnurren an, er drehte sich um und sah auf dem Apparat, auf dem beim Rennendie Namen der Sieger veröffentlicht werden, jetzt folgende Aufschrift in die Höheziehen: »Kaufmann Kalla mit Frau und Kind.« Hier wurden also die Namen derAufgenommenen den Kanzleien mitgeteilt.

Gerade liefen einige Herren, lebhaft miteinander sprechend, Bleistifte undNotizblätter in den Händen, die Treppe hinunter, Karl drückte sich ans Geländer, umsie vorbeizulassen, und stieg, da nun oben Platz geworden war, hinauf. In einerEcke der mit Holzgeländern versehenen Plattform - das Ganze sah wie das flacheDach eines schmalen Turmes aus - saß, die Arme entlang des Holzgeländersausgestreckt, ein Herr, dem ein breites weißes Seidenband mit der Aufschrift:

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»Führer der zehnten Werbetruppe des Theaters von Oklahoma« quer über die Brusthing. Neben ihm stand auf einem Tischchen ein gewiß auch bei den Rennenverwendeter telephonischer Apparat, durch den der Führer offenbar allenotwendigen Angaben über die einzelnen Bewerber noch vor der Vorstellungerfuhr, denn er stellte Karl zunächst gar keine Fragen, sondern sagte zu einemHerrn, der mit gekreuzten Beinen, die Hand am Kinn, neben ihm lehnte: »Negro,ein europäischer Mittelschüler.« Und als sei damit der sich tief verneigende Karl fürihn erledigt, sah er die Treppe hinunter, ob nicht wieder jemand käme. Aber daniemand kam, hörte er manchmal dem Gespräch, das der andere Herr mit Karlführte, zu, blickte aber meistens über das Rennfeld hin und klopfte mit den Fingernauf das Geländer. Diese zarten und doch kräftigen, langen und schnell bewegtenFinger lenkten zeitweilig Karls Aufmerksamkeit auf sich, obwohl ihn der andereHerr genügend in Anspruch nahm.

»Sie sind stellungslos gewesen?« fragte dieser Herr zunächst. Diese Frage,sowie fast alle anderen Fragen, die er stellte, waren sehr einfach, ganzunverfänglich, und die Antworten wurden überdies nicht durch Zwischenfragennachgeprüft; trotzdem aber wußte ihnen der Herr durch die Art, wie er sie mit großenAugen aussprach, wie er ihre Wirkung mit vorgebeugtem Oberkörper beobachtete,wie er die Antworten mit auf die Brust gesenktem Kopfe aufnahm und hie und dalaut wiederholte, eine besondere Bedeutung zu geben, die man zwar nichtverstand, deren Ahnung aber vorsichtig und befangen machte. Es kam öfters vor,daß es Karl drängte, die gegebene Antwort zu widerrufen und durch eine andere,die vielleicht mehr Beifall finden würde, zu ersetzen, aber er hielt sich doch immernoch zurück, denn er wußte, welch schlechten Eindruck ein derartiges Schwankenmachen mußte und wie unberechenbar überdies die Wirkung der Antworten meistwar. Überdies aber schien ja seine Aufnahme schon entschieden zu sein, diesesBewußtsein gab ihm Rückhalt.

Die Frage, ob er stellungslos gewesen sei, beantwortete er mit einem einfachen»Ja«. »Wo waren Sie zuletzt angestellt?« fragte dann der Herr. Karl wollte schonantworten, da hob der Herr den Zeigefinger und sagte noch einmal: »Zuletzt!«Karl hatte auch schon die erste Frage richtig verstanden, unwillkürlich schüttelte erdie letzte Bemerkung als beirrend mit dem Kopfe ab und antwortete: »In einemBüro.« Das war noch die Wahrheit, würde aber der Herr eine nähere Auskunft über dieArt des Büros verlangen, so mußte er lügen. Aber das tat der Herr nicht, sondernstellte die überaus leicht ganz wahrheitsgemäß zu beantwortende Frage: »Waren Siedort zufrieden?«

»Nein!« rief Karl, ihm fast in die Rede fallend. Bei einem Seitenblick bemerkteKarl, daß der Führer ein wenig lächelte. Karl bereute die unbedachte Art seinerletzten Antwort, aber es war zu verlockend gewesen, das Nein hinauszuschreien,denn während seiner ganzen letzten Dienstzeit hatte er nur den größten Wunschgehabt, irgendein fremder Dienstgeber möge einmal eintreten und diese Frage anihn richten. Seine Antwort konnte aber noch einen anderen Nachteil bringen,denn der Herr konnte nun fragen, warum er nicht zufrieden gewesen sei. Stattdessen fragte er jedoch: »Zu welchem Posten fühlen Sie sich geeignet?« DieseFrage enthielt möglicherweise wirklich eine Falle, denn wozu wurde sie gestellt, daKarl doch schon als Schauspieler aufgenommen war? Obwohl er das abererkannte, konnte er sich dennoch nicht zu der Erklärung überwinden, er fühle sich fürden Schauspielerberuf besonders geeignet. Er wich daher der Frage aus undsagte, auf die Gefahr hin, trotzig zu erscheinen: »Ich habe das Plakat in der Stadtgelesen, und da dort stand, daß man jeden brauchen kann, habe ich michgemeldet.«

»Das wissen wir«, sagte der Herr, schwieg und zeigte dadurch, daß er auf seiner

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früheren Frage beharrte.

»Ich bin als Schauspieler aufgenommen«, sagte Karl zögernd, um dem Herrn dieSchwierigkeit, in die ihn die letzte Frage gebracht hatte, begreiflich zu machen.»Das ist richtig«, sagte der Herr und verstummte wieder.

»Nein«, sagte Karl, und die ganze Hoffnung, einen Posten gefunden zu haben,kam ins Wanken, »ich weiß nicht, ob ich zum Theaterspielen geeignet bin. Ich willmich aber anstrengen und alle Aufträge auszuführen suchen.«

Der Herr wandte sich dem Leiter zu, beide nickten, Karl schien richtiggeantwortet zu haben, er faßte wieder Mut und erwartete aufgerichtet die nächsteFrage. Die lautete: »Was wollten Sie denn ursprünglich studieren?«

Um die Frage genauer zu bestimmen - an der genauen Bestimmung lag demHerrn immer sehr viel -, fügte er hinzu: »In Europa, meine ich.« Hierbei nahm erdie Hand vom Kinn und machte eine schwache Bewegung, als wolle er damitgleichzeitig andeuten, wie ferne Europa und wie bedeutungslos die dort einmalgefaßten Pläne seien.

Karl sagte: »Ich wollte Ingenieur werden.« Diese Antwort widerstrebte ihm zwar,es war lächerlich, im vollen Bewußtsein seiner bisherigen Laufbahn in Amerika diealte Erinnerung, daß er einmal habe Ingenieur werden wollen, hier aufzufrischen -wäre er es denn selbst in Europa jemals geworden? -, aber er wußte gerade keineandere Antwort und sagte deshalb diese.

Aber der Herr nahm es ernst, wie er alles ernst nahm. »Nun, Ingenieur«, sagteer, »können Sie wohl nicht gleich werden, vielleicht würde es Ihnen aber vorläufigentsprechen, irgendwelche niedrigere technische Arbeiten auszuführen.«

»Gewiß«, sagte Karl, er war sehr zufrieden, er wurde zwar, wenn er das Angebotannahm, aus dem Schauspielerstand unter die technischen Arbeiter geschoben,aber er glaubte tatsächlich, sich bei dieser Arbeit besser bewähren zu können.Übrigens, dies wiederholte er sich immer wieder, es kam nicht so sehr auf die Artder Arbeit an, als vielmehr darauf, sich überhaupt irgendwo dauernd festzuhalten.

»Sind Sie denn kräftig genug für schwerere Arbeit?« fragte der Herr.

»O ja«, sagte Karl,

Hierauf ließ der Herr Karl näher zu sich herankommen und befühlte seinen Arm.»Es ist ein kräftiger Junge«, sagte er dann, indem er Karl am Arm zum Führerhinzog. Der Führer nickte lächelnd, reichte, ohne sich übrigens aus seiner Ruhelageaufzurichten, Karl die Hand und sagte: »Dann sind wir also fertig. In Oklahomawird alles noch überprüft werden. Machen Sie unserer Werbetruppe Ehre!«

Karl verbeugte sich zum Abschied, er wollte sich dann auch von dem anderenHerrn verabschieden, dieser aber spazierte schon, als sei er mit seiner Arbeitvollständig fertig, das Gesicht in die Höhe gerichtet, auf der Plattform auf und ab.Während Karl hinunterstieg, wurde zur Seite der Treppe auf der Anzeigetafel dieAufschrift hochgezogen: »Negro, technischer Arbeiter.«

Da alles hier seinen ordentlichen Gang nahm, hätte es Karl nicht mehr so sehrbedauert, wenn auf der Tafel sein wirklicher Name zu lesen gewesen wäre. Es waralles sogar überaus sorgfältig eingerichtet, denn am Fuß der Treppe wurde Karlschon von einem Diener erwartet, der ihm eine Binde um den Arm festmachte.Als Karl dann den Arm hob, um zu sehen, was auf der Binde stand, war dort derganz richtige Aufdruck »Technischer Arbeiter«.

Wohin Karl nun aber geführt werden mochte, zuerst wollte er doch Fannymelden, wie glücklich alles abgelaufen war. Aber zu seinem Bedauern erfuhr ervom Diener, daß die Engel ebenso wie auch die Teufel schon nach dem nächstenBestimmungsort der Werbetruppe abgereist seien, um dort die Ankunft der

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Truppe für den nächsten Tag bekanntzumachen. »Schade«, sagte Karl, es war dieerste Enttäuschung, die er in diesem Unternehmen erlebte, »ich hatte eineBekannte unter den Engeln.«

»Sie werden sie in Oklahoma wiedersehen«, sagte der Diener, »nun aberkommen Sie, Sie sind der Letzte.«

Er führte Karl an der hinteren Seite des Podiums entlang, auf dem früher die Engelgestanden waren; jetzt waren dort nur mehr die leeren Postamente. KarlsAnnahme aber, daß ohne die Musik der Engel mehr Stellensuchende kommenwürden, erwies sich nicht als richtig, denn vor dem Podium standen jetzt überhauptkeine Erwachsenen mehr, nur ein paar Kinder kämpften um eine lange weiße Feder,die wahrscheinlich aus einem Engelsflügel gefallen war. Ein Junge hielt sie in dieHöhe, während die anderen Kinder mit einer Hand seinen Kopf niederdrücken wolltenund mit der anderen Hand nach der Feder langten. Karl zeigte auf die Kinder, derDiener aber sagte, ohne hinzusehen: »Kommen Sie rascher, es hat sehr langegedauert, ehe Sie aufgenommen wurden. Man hatte wohl Zweifel?« »Ich weißnicht«, sagte Karl erstaunt, er glaubte es aber nicht. Immer, selbst bei denklarsten Verhältnissen, fand sich doch irgend jemand, der seinem MitmenschenSorgen machen wollte. Aber vor dem freundlichen Anblick der großenZuschauertribüne, zu der sie jetzt kamen, vergaß Karl bald die Bemerkung desDieners. Auf dieser Tribüne war nämlich eine große, lange Bank, mit einem weißenTuch gedeckt, alle Aufgenommenen saßen, mit dem Rücken zur Rennbahn, auf dernächst tieferen Bank und wurden bewirtet. Alle waren fröhlich und aufgeregt, geradeals sich Karl unbemerkt als letzter auf die Bank setzte, standen viele miterhobenen Gläsern auf, und einer hielt einen Trinkspruch auf den Führer derzehnten Werbetruppe, den er den »Vater der Stellensuchenden« nannte. Jemandmachte darauf aufmerksam, daß man ihn auch von hier aus sehen könne, undtatsächlich war die Schiedsrichtertribüne mit den zwei Herren in nicht allzu großerEntfernung sichtbar. Nun schwenkten alle ihre Gläser in diese Richtung, auch Karlfaßte das vor ihm stehende Glas, aber so laut man auch rief und so sehr man sichbemerkbar zu machen suchte, auf der Schiedsrichtertribüne deutete nichts daraufhin, daß man die Ovation bemerkte oder wenigstens bemerken wolle. Der Führerlehnte in der Ecke wie früher, und der andere Herr stand neben ihm, die Hand amKinn. Ein wenig enttäuscht setzte man sich wieder, hie und da drehte sich nocheiner nach der Schiedsrichtertribüne um, aber bald beschäftigte man sich nur mitdem reichlichen Essen; großes Geflügel, wie es Karl noch nie gesehen hatte, mitvielen Gabeln in dem knusprig gebratenen Fleisch, wurde herumgetragen, Weinwurde immer wieder von den Dienern eingeschenkt - man merkte es kaum, manwar über seinen Teller gebückt, und in den Becher fiel der Strahl des roten Weines -, und wer sich an der allgemeinen Unterhaltung nicht beteiligen wollte, konnteBilder von Ansichten des Theaters von Oklahoma besichtigen, die an einem Endeder Tafel aufgestapelt waren und von Hand zu Hand gehen sollten. Dochkümmerte man sich nicht viel um die Bilder, und so geschah es, daß bei Karl, derder Letzte war, nur ein Bild ankam. Nach diesem Bild zu schließen, mußten aber allesehr sehenswert sein. Dieses Bild stellte die Loge des Präsidenten der VereinigtenStaaten dar. Beim ersten Anblick konnte man denken, es sei nicht eine Loge,sondern die Bühne, so weit geschwungen ragte die Brüstung in den freien Raum.Diese Brüstung war ganz aus Gold in allen ihren Teilen. Zwischen den wie mit derfeinsten Schere ausgeschnittenen Säulchen waren nebeneinander Medaillonsfrüherer Präsidenten angebracht, einer hatte eine auffallend gerade Nase,aufgeworfene Lippen und unter gewölbten Lidern starr gesenkte Augen. Rings umdie Loge, von den Seiten und von der Höhe, kamen Strahlen von Licht; weißes unddoch mildes Licht enthüllte den Vordergrund der Loge, während ihre Tiefe hinterrotem, unter vielen Tönungen sich faltendem Samt, der an der ganzen Umrandung

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niederfiel und durch Schnüre gelenkt wurde, als eine dunkle, rötlich schimmerndeLeere erschien. Man konnte sich in dieser Loge kaum Menschen vorstellen, soselbstherrlich sah alles aus. Karl vergaß das Essen nicht, sah aber doch oft dieAbbildung an, die er neben seinen Teller gelegt hatte.

Schließlich hätte er doch noch sehr gerne wenigstens eines der übrigen Bilderangesehen, selbst holen wollte er es sich aber nicht, denn ein Diener hatte dieHand auf den Bildern liegen und die Reihenfolge mußte wohl gewahrt werden; ersuchte also nur die Tafel zu überblicken und festzustellen, ob sich nicht doch nochein Bild nähere. Da bemerkte er staunend - zuerst glaubte er es gar nicht unter denam tiefsten zum Essen gebeugten Gesichtern ein gut bekanntes: Giacomo.Gleich lief er zu ihm hin. »Giacomo!« rief er.

Dieser, schüchtern wie immer, wenn er überrascht wurde, erhob sich vom Essen,drehte sich in dem schmalen Raum zwischen den Bänken, wischte mit der Handden Mund, war dann aber sehr froh, Karl zu sehen, bat ihn, sich neben ihn zusetzen, oder bot sich an, zu Karls Platz hinüberzukommen; sie wollten einanderalles erzählen und immer beisammenbleiben. Karl wollte die anderen nicht stören,jeder sollte deshalb vorläufig seinen Platz behalten, das Essen werde bald zu Endesein, und dann wollten sie natürlich immer zueinander halten. Aber Karl blieb dochnoch bei Giacomo, nur um ihn anzusehen. Was für Erinnerungen an vergangeneZeiten! Wo war die Oberköchin? Was machte Therese? Giacomo selbst hatte sichin seinem Äußeren fast gar nicht verändert, die Voraussage der Oberköchin, daß er ineinem halben Jahr ein knochiger Amerikaner werden müsse, war nichteingetroffen, er war zart wie früher, die Wangen eingefallen wie früher,augenblicklich allerdings waren sie gerundet, denn er hatte im Mund einenübergroßen Bissen Fleisch, aus dem er die überflüssigen Knochen langsamherauszog, um sie dann auf den Teller zu werfen. Wie Karl an seiner Armbindeablesen konnte, war auch Giacomo nicht als Schauspieler, sondern als Liftjungeaufgenommen, das Theater von Oklahoma schien wirklich jeden brauchen zukönnen! In den Anblick Giacomos verloren, blieb auch Karl allzulange von seinemPlatz fort. Eben wollte er zurückkehren, da kam der Personalchef, stellte sich aufeine der höher gelegenen Bänke, klatschte in die Hände und hielt eine kleineAnsprache, während die meisten aufstanden, und die Sitzengebliebenen, die sichnicht vom Essen trennen konnten, durch Stöße der anderen schließlich auch zumAufstehen gezwungen wurden.

»Ich will hoffen«, sagte er, Karl war inzwischen schon auf den Fußspitzen zuseinem Platz zurückgelaufen, »daß Sie mit unserem Empfangsessen zufriedenwaren. Im allgemeinen lobt man das Essen unserer Werbetruppe. Leider muß ichdie Tafel schon aufheben, denn der Zug, der Sie nach Oklahoma bringen soll, fährtin fünf Minuten. Es ist zwar eine lange Reise, Sie werden aber sehen, daß für Sie gutgesorgt ist. Hier stelle ich Ihnen den Herrn vor, der Ihren Reisetransport führenwird und dem Sie Gehorsam schulden.«

Ein magerer, kleiner Herr erkletterte die Bank, auf welcher der Personalchefstand, nahm sich kaum Zeit, eine flüchtige Verbeugung zu machen, sondernbegann sofort mit ausgestreckten nervösen Händen zu zeigen, wie sie sich allesammeln, ordnen und in Bewegung setzen sollten. Aber zunächst folgte man ihmnicht, denn derjenige aus der Gesellschaft, der schon früher eine Rede gehaltenhatte, schlug mit der Hand auf den Tisch und begann eine längere Dankrede,obwohl - Karl wurde ganz unruhig - eben gesagt worden war, daß der Zug baldabfahre. Aber der Redner achtete nicht einmal darauf, daß auch der Personalchefnicht zuhörte, sondern dem Transportleiter verschiedene Anweisungen gab, erlegte seine Rede groß an, zählte alle Gerichte auf, die aufgetragen worden waren,gab über jedes sein Urteil ab, und schloß dann zusammenfassend mit dem Ausruf:

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»Geehrte Herren, so gewinnt man uns!« Alle außer den Angesprochenen lachten,aber es war doch mehr Wahrheit als Scherz.

Diese Rede büßte man überdies damit, daß jetzt der Weg zur Bahn im Laufschrittgemacht werden mußte. Das war aber auch nicht sehr schwer, denn - Karlbemerkte es erst jetzt - niemand trug ein Gepäckstück; das einzige Gepäckstück wareigentlich der Kinderwagen, der jetzt an der Spitze der Truppe, vom Vatergelenkt, wie haltlos auf und nieder sprang. Was für besitzlose, verdächtige Leutewaren hier zusammengekommen und wurden doch so gut empfangen und behütet!Und dem Transportleiter mußten sie geradezu ans Herz gelegt worden sein. Baldfaßte er selbst mit einer Hand die Lenkstange des Kinderwagens und erhob dieandere, um die Truppe aufzumuntern, bald war er hinter der letzten Reihe, die erantrieb, bald lief er an den Seiten entlang, faßte einzelne Langsamere aus derMitte ins Auge und suchte ihnen mit schwingenden Armen darzustellen, wie sielaufen müßten.

Als sie auf dem Bahnhof ankamen, stand der Zug schon bereit. Die Leute aufdem Bahnhof zeigten einander die Truppe, man hörte Ausrufe wie: »Alle diesegehören zum Theater von Oklahoma!«, das Theater schien viel bekannter zu sein,als Karl angenommen hatte, allerdings hatte er sich um Theaterdinge niemalsgekümmert. Ein ganzer Waggon war eigens für die Truppe bestimmt, derTransportleiter drängte zum Einsteigen mehr als der Schaffner. Er sah zuerst injede einzelne Abteilung, ordnete hie und da etwas, und erst dann stieg er selbstein. Karl hatte zufällig einen Fensterplatz bekommen und Giacomo neben sichgezogen. So saßen sie aneinandergedrängt und freuten sich im Grunde beide aufdie Fahrt. So sorgenlos hatten sie in Amerika noch keine Reise gemacht. Als derZug zu fahren begann, winkten sie mit den Händen aus dem Fenster, während dieBurschen ihnen gegenüber einander anstießen und es lächerlich fanden.

Sie fuhren zwei Tage und zwei Nächte. Jetzt erst begriff Karl die Größe Amerikas.Unermüdlich sah er aus dem Fenster, und Giacomo drängte sich so lange mitheran, bis die Burschen gegenüber, die sich viel mit Kartenspiel beschäftigten,dessen überdrüssig wurden und ihm freiwillig den Fensterplatz einräumten. Karldankte ihnen - Giacomos Englisch war nicht jedem verständlich -, und sie wurdenim Laufe der Zeit, wie es unter Coupégenossen nicht anders sein kann, vielfreundlicher, doch war auch ihre Freundlichkeit oft lästig, da sie zum Beispielimmer, wenn ihnen eine Karte auf den Boden fiel und sie den Boden nach ihrabsuchten, Karl oder Giacomo mit aller Kraft ins Bein zwickten. Giacomo schriedann, immer von neuem überrascht, und zog das Bein in die Höhe, Karl versuchteeinmal, mit einem Fußtritt zu antworten, duldete aber im übrigen alles schweigend.Alles, was sich in dem kleinen, selbst bei offenem Fenster von Rauch überfülltenCoupé ereignete, verging vor dem, was draußen zu sehen war.

Am ersten Tag fuhren sie durch ein hohes Gebirge. Bläulich schwarzeSteinmassen gingen in spitzen Keilen bis an den Zug heran, man beugte sich ausdem Fenster und suchte vergebens ihre Gipfel, dunkle, schmale, zerrissene Täleröffneten sich, man beschrieb mit dem Finger die Richtung, in der sie sich verloren,breite Bergströme kamen, als große Wellen auf dem hügeligen Untergrund eilend undin sich tausend kleine Schaumwellen treibend, sie stürzten sich unter die Brücken,über die der Zug fuhr, und sie waren so nahe, daß der Hauch der Kühle das Gesichterschauern machte.

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Fragmente

I

»Auf! Auf!« rief Robinson, kaum daß Karl früh die Augen öffnete. Der Türvorhang warnoch nicht weggezogen, aber man merkte an dem durch die Lücken einfallenden,gleichmäßigen Sonnenlicht, wie spät am Vormittag es schon war. Robinson liefeilfertig mit besorgten Blicken hin und her, bald trug er ein Handtuch, bald einenWasserkübel, bald Wäsche- und Kleidungsstücke, und immer, wenn er an Karlvorüberkam, suchte er ihn durch Kopfnicken zum Aufstehen aufzumuntern undzeigte durch Hochheben dessen, was er gerade in der Hand hielt, wie er sichheute noch zum letztenmal für Karl plage, der natürlich am ersten Morgen von denEinzelheiten des Dienstes nichts verstehen konnte.

Aber bald sah Karl, wen Robinson eigentlich bediente. In einem durch zweiKasten vom übrigen Zimmer abgetrennten Raum - den Karl bisher noch nichtgesehen hatte, fand eine große Waschung statt. Man sah den Kopf Bruneldas, denfreien Hals - das Haar war gerade ins Gesicht geschlagen - und den Ansatz ihresNackens über den Kasten ragen, und die hie und da gehobene Hand desDelamarche hielt einen weit herumspritzenden Badeschwamm, mit dem Bruneldagewaschen und gerieben wurde. Man hörte die kurzen Befehle des Delamarche,die er dem Robinson erteilte, der nicht durch den jetzt verstellten eigentlichenZugang des Raumes die Dinge reichte, sondern auf eine kleine Lücke zwischeneinem Kasten und einer spanischen Wand angewiesen war, wobei er überdies beijeder Handreichung den Arm weit ausstrecken und das Gesicht abgewandt haltenmußte.

»Das Handtuch! Das Handtuch!« rief Delamarche. Und kaum erschrakRobinson, der gerade unter dem Tisch etwas anderes suchte, über diesen Auftragund zog den Kopf unter dem Tisch hervor, hieß es schon: »Wo bleibt das Wasser,zum Teufel!« und über dem Kasten erschien hochgereckt das wütende Gesicht desDelamarche. Alles, was man sonst nach Karls Meinung zum Waschen undAnziehen nur einmal brauchte, wurde hier in jeder möglichen Reihenfolge vieleMale verlangt und gebracht. Auf einem kleinen elektrischen Ofen stand immer einKübel mit Wasser zum Wärmen, und immer wieder trug Robinson die schwere Lastzwischen den weit auseinandergestellten Beinen zum Waschraum hin. Bei derFülle seiner Arbeit war es zu verstehen, wenn er sich nicht immer genau an dieBefehle hielt und einmal, als wieder ein Handtuch verlangt wurde, einfach einHemd von der großen Schlafstätte in der Zimmermitte nahm und in einem großenKnäuel über die Kasten hinüberwarf.

Aber auch Delamarche hatte schwere Arbeit und war vielleicht nur deshalbgegen Robinson so gereizt - in seiner Gereiztheit übersah er Karl glattwegs -, weiler selbst Brunelda nicht zufriedenstellen konnte. »Ach!« schrie sie auf, und selbstder sonst unbeteiligte Karl zuckte zusammen. »Wie du mir weh tust! Geh weg! Ichwasche mich lieber selbst, statt so zu leiden! Jetzt kann ich schon wieder denArm nicht heben. Mir ist ganz übel, wie du mich drückst. Auf dem Rücken muß ichlauter blaue Flecke haben. Natürlich, du wirst es mir nicht sagen. Warte, ich werdemich von Robinson anschauen lassen oder von unserem Kleinen. Nein, ich tue esja nicht, aber sei nur ein wenig zarter. Nimm Rücksicht, Delamarche, aber daskann ich jeden Morgen wiederholen, du nimmst und nimmst keine Rücksicht. -Robinson!« rief sie dann plötzlich und schwenkte ein Spitzenhöschen über ihremKopf. »Komm mir zu Hilfe, schau, wie ich leide, diese Tortur nennt er Waschen,dieser Delamarche! Robinson, Robinson, wo bleibst du, hast auch du kein Herz?«Karl machte schweigend dem Robinson ein Zeichen mit dem Finger, daß er doch

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hingehen möge, aber Robinson schüttelte mit gesenkten Augen überlegen den Kopf,er wußte es besser. »Was fällt dir ein?« sagte Robinson, zu Karls Ohr gebeugt.»Das ist nicht so gemeint. Nur einmal bin ich hingegangen und nicht wieder. Siehaben mich damals beide gepackt und in die Wanne getaucht, daß ich fastertrunken wäre. Und tagelang hat mir die Brunelda vorgeworfen, daß ich schamlosbin, und immer wieder hat sie gesagt: >Jetzt warst du aber schon lange nichtim Bad bei mir< oder >Wann wirst du mich denn wieder im Bade anschauenkommen?< Erst als ich ihr einigemal auf den Knien abgebeten habe, hat sieaufgehört. Das werde ich nicht vergessen.«

Und während Robinson das erzählte, rief Brunelda immer wieder: »Robinson!Robinson! Wo bleibt denn dieser Robinson!«

Obwohl ihr aber niemand zu Hilfe kam und nicht einmal eine Antwort erfolgte -Robinson hatte sich zu Karl gesetzt und beide sahen schweigend zu den Kastenhin, über denen hie und da die Köpfe Bruneldas oder Delamarches erschienen -,trotzdem hörte Brunelda nicht auf, laut über Delamarche Klage zu führen. »AberDelamarche!« rief sie. »Jetzt spüre ich ja wieder gar nicht, daß du mich wäschst. Wohast du den Schwamm? Also greif doch zu! Wenn ich mich nur bücken, wenn ichmich nur bewegen könnte! Ich wollte dir schon zeigen, wie man wäscht. Wo sind dieMädchenzeiten, als ich dort drüben auf dem Gut der Eltern jeden Morgen imColorado schwamm, die beweglichste von allen meinen Freundinnen. Und jetzt!Wann wirst du denn lernen, mich zu waschen, Delamarche; du schwenkst denSchwamm herum, strengst dich an und ich spüre nichts. Wenn ich sagte, daß dumich nicht wund drücken sollst, so meinte ich doch nicht, daß ich dastehen und micherkälten will. Du wirst sehen, daß ich aus der Wanne springe und weglaufe, so wieich bin!«

Aber dann führte sie diese Drohung nicht aus - was sie ja auch an und für sich garnicht imstande gewesen wäre -, Delamarche schien sie aus Furcht, sie könnte sicherkälten, erfaßt und in die Wanne gedrückt zu haben, denn mächtig klatschte es imWasser.

»Das kannst du, Delamarche«, sagte Brunelda ein wenig leiser. »Schmeichelnund immer wieder schmeicheln, wenn du etwas schlecht gemacht hast.« Dannwar es ein Weilchen still. »Jetzt küßt er sie«, sagte Robinson und hob dieAugenbrauen. »Was kommt jetzt für eine Arbeit?« fragte Karl. Da er sich nuneinmal entschlossen hatte hierzubleiben, wollte er auch gleich seinen Dienstversehen. Er ließ Robinson, der nicht antwortete, allein auf dem Kanapee undbegann das große, von der Last der Schläfer während der langen Nacht noch immerzusammengepreßte Lager auseinanderzuwerfen, um dann jedes einzelne Stückdieser Masse ordentlich zusammenzulegen, was wohl schon seit Wochen nichtgeschehen war.

»Schau nach, Delamarche«, sagte da Brunelda, »ich glaube, sie zerwerfenunser Bett. An alles muß man denken, niemals hat man Ruhe. Du mußt gegen diebeiden strenger sein, sie machen sonst, was sie wollen.« »Das ist gewiß der Kleinemit seinem verdammten Diensteifer!« rief Delamarche und wollte wahrscheinlichaus dem Waschraum hervorstürzen, Karl warf schon alles aus der Hand, aberglücklicherweise sagte Brunelda: »Nicht weggehen, Delamarche, nicht weggehen.Ach, wie ist das Wasser heiß, man wird so müde. Bleib bei mir, Delamarche.« Jetzterst merkte Karl eigentlich, wie der Wasserdampf hinter den Kasten unaufhörlichemporstieg.

Robinson legte erschrocken die Hand an die Wange, als habe Karl etwasSchlimmes angerichtet. »Alles in dem gleichen Zustand lassen, in dem es war!«erklang die Stimme des Delamarche. »Wißt ihr denn nicht, daß Brunelda nach demBade noch immer eine Stunde ruht? Elende Mißwirtschaft! Wartet, wenn ich über

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euch komme! Robinson, du träumst wahrscheinlich schon wieder! Dich, dich alleinmache ich für alles verantwortlich, was geschieht. Du hast den Jungen im Zaum zuhalten, hier wird nicht nach seinem Kopf gewirtschaftet. Wenn man etwas will,kann man nichts von euch bekommen; wenn nichts zu tun ist, seid ihr fleißig.Verkriecht euch irgendwohin und wartet, bis man euch braucht!« Aber sogleichwar alles vergessen, denn Brunelda flüsterte, ganz müde, als werde sie von demheißen Wasser überflutet: »Das Parfüm! Bringt das Parfüm!«

»Das Parfüm!« schrie Delamarche. »Rührt euch!« Ja, aber wo war das Parfüm?Karl sah Robinson an. Robinson sah Karl an. Karl merkte, daß er hier alles allein indie Hand nehmen müsse, Robinson hatte keine Ahnung, wo das Parfüm war, erlegte sich einfach auf den Boden, fuhr immerfort mit beiden Armen unter demKanapee herum, beförderte aber nichts anderes als Knäuel von Staub undFrauenhaaren heraus. Karl eilte zuerst zum Waschtisch, der gleich bei der Türestand, aber in seinen Schubladen fanden sich nur alte englische Romane,Zeitschriften und Noten vor, und alles war so überfüllt, daß man die Schubladen nichtschließen konnte, wenn man sie einmal aufgemacht hatte. »Das Parfüm«, seufzteunterdessen Brunelda, »wie lange das dauert! Ob ich heute noch mein Parfümbekomme!« Bei dieser Ungeduld Bruneldas durfte natürlich Karl nirgends gründlichsuchen, er mußte sich auf den oberflächlichen ersten Eindruck verlassen. ImWaschkasten war die Flasche nicht, auf dem Waschkasten standen überhaupt nuralte Fläschchen mit Medizinen und Salben, alles andere war jedenfalls schon inden Waschraum getragen worden. Vielleicht war die Flasche in der Schubladedes Eßtisches. Auf dem Weg zum Eßtisch aber - Karl dachte nur an das Parfüm,sonst an nichts - stieß er heftig mit Robinson zusammen, der das Suchen unterdem Kanapee endlich aufgegeben hatte und in einer aufdämmernden Ahnung vomStandort des Parfüms wie blind Karl entgegenlief. Man hörte deutlich dasZusammenschlagen der Köpfe, Karl blieb stumm, Robinson hielt zwar im Lauf nichtein, schrie aber, um sich den Schmerz zu erleichtern, andauernd und übertriebenlaut.

»Statt das Parfüm zu suchen, kämpfen sie«, sagte Brunelda. »Ich werde krankvon dieser Wirtschaft, Delamarche, und werde ganz gewiß in deinen Armensterben. - Ich muß das Parfüm haben«, rief sie dann, sich aufraffend, »ich muß esunbedingt haben! Ich gehe nicht aus der Wanne, ehe man es mir bringt, und müßteich hier bis zum Abend bleiben.« Und sie schlug mit der Faust ins Wasser, manhörte es aufspritzen.

Aber auch in der Schublade des Eßtisches war das Parfüm nicht, zwar waren dortausschließlich Toilettengegenstände Bruneldas, wie alte Puderquasten,Schminktöpfchen, Haarbürsten, Löckchen und viele verfilzte und zusammengeklebteKleinigkeiten, aber das Parfüm war nicht dort. Und auch Robinson, der, nochimmer schreiend, in einer Ecke von etwa hundert dort aufgehäuften Schachtelnund Kassetten eine nach der anderen öffnete und durchkramte, wobei immer dieHälfte des Inhalts, meist Nähzeug und Briefschaften, auf den Boden fiel und dortliegenblieb, konnte nichts finden, wie er zeitweise Karl durch Kopfschütteln undAchselzucken anzeigte.

Da sprang Delamarche in Unterkleidung aus dem Waschraum hervor, währendman Brunelda krampfhaft weinen hörte. Karl und Robinson ließen vom Suchen abund sahen den Delamarche an, der, ganz und gar durchnäßt - auch vom Gesichtund von den Haaren rann ihm das Wasser -, ausrief: »Jetzt also fangt gefälligst zusuchen an!« -

»Hier!« befahl er zuerst Karl zu suchen und dann »Dort!« dem Robinson. Karlsuchte wirklich und überprüfte auch noch die Plätze, zu denen Robinson schonkommandiert worden war, aber er fand ebensowenig das Parfüm wie Robinson,

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der eifriger als er suchte, seitlich nach Delamarche ausschaute, der, so weit derRaum reichte, stampfend im Zimmer auf und ab ging und gewiß am liebstensowohl Karl wie Robinson durchgeprügelt hätte. »Delamarche!« rief Brunelda.»Komm mich doch wenigstens abtrocknen! Die beiden finden ja das Parfüm dochnicht und bringen nur alles in Unordnung. Sie sollen sofort mit dem Suchenaufhören. Aber gleich! Und alles aus der Hand legen! Und nichts mehr anrühren! Siemöchten wohl aus der Wohnung einen Stall machen. Nimm sie beim Kragen,Delamarche, wenn sie nicht aufhören! Aber sie arbeiten ja noch immer, gerade isteine Schachtel gefallen. Sie sollen sie nicht mehr aufheben, alles liegenlassen,und aus dem Zimmer hinaus! Riegle hinter ihnen die Tür zu und komm zu mir. Ichliege ja schon viel zu lange im Wasser, die Beine habe ich schon ganz kalt.«

»Gleich, Brunelda, gleich!« rief Delamarche und eilte mit Karl und Robinson zurTür. Ehe er sie aber entließ, gab er ihnen den Auftrag, das Frühstück zu holen undwomöglich von jemandem ein gutes Parfüm für Brunelda auszuborgen. »Das ist eineUnordnung und ein Schmutz bei euch«, sagte Karl draußen auf dem Gang,»sobald wir mit dem Frühstück zurückkommen, müssen wir zu ordnen anfangen.«

»Wenn ich nur nicht so leidend wäre!« sagte Robinson. »Und die Behandlung!«Gewiß kränkte sich Robinson darüber, daß Brunelda zwischen ihm, der sie doch schonmonatelang bediente, und Karl, der erst gestern eingetreten war, nicht dengeringsten Unterschied machte. Aber er verdiente es nicht besser, und Karlsagte: »Du mußt dich ein wenig zusammennehmen.« Um ihn aber nicht gänzlichseiner Verzweiflung zu überlassen, fügte er hinzu: »Es wird ja nur eine einmaligeArbeit sein. Ich werde dir hinter den Kasten ein Lager machen, und wenn nureinmal alles ein wenig geordnet ist, wirst du dort den ganzen Tag liegen können,dich um gar nichts kümmern müssen und sehr bald gesund werden.«

»Jetzt siehst du es also selbst ein, wie es mit mir steht«, sagte Robinson undwandte das Gesicht von Karl ab, um mit sich und seinem Leid allein zu sein.»Aber werden sie mich denn jemals ruhig liegenlassen?«

»Wenn du willst, werde ich darüber selbst mit Delamarche und Brunelda reden.«»Nimmt denn Brunelda irgendeine Rücksicht?« rief Robinson aus und stieß mit derFaust eine Tür auf, zu der sie eben gekommen waren, ohne daß er Karl daraufvorbereitet hätte.

Sie traten in eine Küche ein, von deren Herd, der reparaturbedürftig schien,geradezu schwarze Wölkchen aufstiegen. Vor der Herdtüre kniete eine der Frauen,die Karl gestern auf dem Korridor gesehen hatte, und legte mit den bloßen Händengroße Kohlestücke in das Feuer, das sie nach allen Richtungen hin prüfte. Dabeiseufzte sie in ihrer für eine alte Frau unbequemen, knienden Stellung.

»Natürlich, da kommt auch noch diese Plage«, sagte sie beim AnblickRobinsons, erhob sich mühselig, die Hand auf der Kohlenkiste, und schloß dieHerdtüre, deren Griff sie mit ihrer Schürze umwickelt hatte. »Jetzt um vier Uhrnachmittags« - Karl staunte die Küchenuhr an - »müßt ihr noch frühstücken? Bande! -Setzt euch«, sagte sie dann, »und wartet, bis ich für euch Zeit habe.«

Robinson zog Karl auf ein Bänkchen in der Nähe der Türe nieder und flüsterte ihmzu: »Wir müssen ihr folgen. Wir sind nämlich von ihr abhängig. Wir haben unserZimmer von ihr gemietet, und sie kann uns natürlich jeden Augenblick kündigen.Aber wir können doch nicht die Wohnung wechseln, wie sollen wir denn wieder alledie Sachen wegschaffen, und vor allem ist doch Brunelda nicht transportabel.«

»Und hier auf dem Gang ist kein anderes Zimmer zu bekommen?« fragte Karl.

»Es nimmt uns ja niemand auf«, antwortete Robinson. »Im ganzen Haus nimmtuns niemand auf.«

So saßen sie still auf ihrem Bänkchen und warteten. Die Frau lief immerfort

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zwischen zwei Tischen, einem Waschbottich und dem Herd hin und her. Ausihren Ausrufen erfuhr man, daß ihre Tochter unwohl war und sie deshalb alleArbeit, nämlich die Bedienung und Verpflegung von dreißig Mietern, allein besorgenmußte. Nun war noch überdies der Ofen schadhaft, das Essen wollte nicht fertigwerden, in zwei riesigen Töpfen wurde eine dicke Suppe gekocht, und wie oft dieFrau sie auch mit Schöpflöffeln untersuchte und aus der Höhe herabfließen ließ, dieSuppe wollte nicht gelingen, es mußte wohl das schlechte Feuer daran schuld sein,und so setzte sie sich vor der Herdtüre fast auf den Boden und arbeitete mit demSchürhaken in der glühenden Kohle herum: Der Rauch, von dem die Küche erfüllt war,reizte sie zu einem Husten, der sich manchmal so verstärkte, daß sie nach einemStuhl griff und minutenlang nichts anderes tat als hustete. Öfters machte sie dieBemerkung, daß sie das Frühstück heute überhaupt nicht mehr liefern werde, weil siedazu weder Zeit noch Lust habe. Da Karl und Robinson einerseits den Befehlhatten, das Frühstück zu holen, andererseits aber keine Möglichkeit, es zuerzwingen, antworteten sie auf solche Bemerkungen nicht, sondern blieben stillsitzen wie zuvor. Ringsherum, auf Sesseln und Fußbänkchen, auf und unter denTischen, ja selbst auf der Erde in einem Winkel zusammengedrängt, stand nochdas ungewaschene Frühstücksgeschirr der Mieter. Da waren Kännchen, in denensich noch ein wenig Kaffee oder Milch vorfinden würde, auf manchen Tellerchengab es noch Überbleibsel von Butter, aus einer umgefallenen großen Blechbüchsewaren Keks weit herausgerollt. Es war schon möglich, aus all dem ein Frühstückzusammenzustellen, an dem Brunelda, wenn sie seinen Ursprung nicht erfuhr,nicht das geringste hätte aussetzen können. Als Karl das bedachte und ein Blick aufdie Uhr ihm zeigte, daß sie nun schon eine halbe Stunde hier warteten undBrunelda vielleicht wütete und Delamarche gegen die Dienerschaft aufhetzte, riefgerade die Frau aus einem Husten heraus - während dessen sie Karl anstarrte -:

»Ihr könnt hier schon sitzen, aber das Frühstück bekommt ihr nicht. Dagegenbekommt ihr in zwei Stunden das Nachtmahl.«

»Komm, Robinson«, sagte Karl, »wir werden uns das Frühstück selbstzusammenstellen.« »Wie?« rief die Frau, mit geneigtem Kopf. »Seien Sie doch,bitte, vernünftig«, sagte Karl, »warum wollen Sie uns denn das Frühstück nichtgeben? Nun warten wir schon eine halbe Stunde, das ist lang genug. Man bezahltIhnen doch alles, und gewiß zahlen wir bessere Preise als alle anderen. Daß wir sospät frühstücken, ist gewiß für Sie lästig, aber wir sind Ihre Mieter, haben dieGewohnheit, spät zu frühstücken, und Sie müssen sich eben auch ein wenig für unseinrichten. Heute wird es Ihnen natürlich wegen der Krankheit Ihres Fräulein Tochterbesonders schwer, aber dafür sind wir wieder bereit, uns das Frühstück hier aus denÜberbleibseln zusammenzustellen, wenn es nicht anders geht und Sie uns keinfrisches Essen geben.«

Aber die Frau wollte sich mit niemandem in eine freundschaftliche Ausspracheeinlassen, für diese Mieter schienen ihr auch noch die Überbleibsel des allgemeinenFrühstücks zu gut; aber andererseits hatte sie die Zudringlichkeit der beiden Dienerschon satt, packte deshalb eine Tasse und stieß sie Robinson gegen den Leib, dererst nach einem Weilchen mit wehleidigem Gesicht begriff, daß er die Tasse haltensollte, um das Essen, das die Frau aussuchen wollte, in Empfang zu nehmen. Siebelud nun die Tasse in größter Eile zwar mit einer Menge von Dingen, aber dasGanze sah eher wie ein Haufen schmutzigen Geschirrs, nicht wie ein eben zuservierendes Frühstück aus. Noch während die Frau sie hinausdrängte und sie gebückt,als fürchteten sie Schimpfwörter oder Stöße, zur Tür eilten, nahm Karl die TasseRobinson aus den Händen, denn bei Robinson schien sie ihm nicht sicher genug.

Auf dem Gang setzte sich Karl, nachdem sie weit genug von der Tür derVermieterin waren, mit der Tasse auf den Boden, um vor allem die Tasse zu

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reinigen, die zusammengehörigen Dinge zu sammeln, also die Milchzusammenzugießen, die verschiedenen Butterüberbleibsel auf einen Teller zukratzen, dann alle Anzeichen des Gebrauches zu beseitigen, also die Messer undLöffel zu reinigen, die angebissenen Brötchen geradezuschneiden und so demGanzen ein besseres Aussehen zu geben. Robinson hielt diese Arbeit für unnötigund behauptete, das Frühstück hätte schon oft noch viel ärger ausgesehen, aber Karlließ sich durch ihn nicht abhalten und war noch froh, daß sich Robinson mit seinenschmutzigen Fingern an der Arbeit nicht beteiligen wollte. Um ihn in Ruhe zuhalten, hatte ihm Karl gleich, allerdings ein für allemal, wie er ihm dabei sagte,einige Keks und den dicken Bodensatz eines früher mit Schokolade gefülltenTöpfchens zugewiesen.

Als sie vor ihre Wohnung kamen und Robinson ohne weiteres die Hand an dieKlinke legte, hielt ihn Karl zurück, da es doch nicht sicher war, ob sie eintretendurften. »Aber ja«, sagte Robinson, »jetzt frisiert er sie ja nur.« Und tatsächlich saßin dem noch immer ungelüfteten und verhängten Zimmer Brunelda mit weitauseinandergestellten Beinen im Lehnstuhl, und Delamarche, der hinter ihr stand,kämmte mit tief hinabgebeugtem Gesicht ihr kurzes, wahrscheinlich sehr verfilztesHaar. Brunelda trug wieder ein ganz loses Kleid, diesmal aber von blaßrosa Farbe,es war vielleicht ein wenig kürzer als das gestrige, wenigstens sah man die weißen,grobgestrickten Strümpfe fast bis zum Knie. Ungeduldig über die lange Dauer desKämmens, fuhr Brunelda mit der dicken, roten Zunge zwischen den Lippen hin undher, manchmal riß sie sich sogar mit dem Ausruf: »Aber Delamarche!« gänzlich vonDelamarche los, der mit erhobenem Kamm ruhig wartete, bis sie den Kopf wiederzurücklegte.

»Es hat lange gedauert«, sagte Brunelda im allgemeinen, und zu Karlinsbesondere sagte sie: »Du mußt ein wenig flinker sein, wenn du willst, daß manmit dir zufrieden ist. An dem faulen und gefräßigen Robinson darfst du dir keinBeispiel nehmen. Ihr habt wohl schon inzwischen irgendwo gefrühstückt; ich sageeuch, nächstens dulde ich das nicht.«

Das war sehr ungerecht, und Robinson schüttelte auch den Kopf und bewegte,allerdings lautlos, die Lippen, Karl jedoch sah ein, daß man auf die Herrschaft nurdadurch einwirken könne, daß man ihr zweifellos Arbeit zeige. Er zog daher einniedriges japanisches Tischchen aus einem Winkel, überdeckte es mit einem Tuchund stellte die mitgebrachten Sachen auf. Wer den Ursprung des Frühstücksgesehen hatte, konnte mit dem Ganzen zufrieden sein, sonst aber war, wie sichKarl sagen mußte, manches daran auszusetzen.

Glücklicherweise hatte Brunelda Hunger. Wohlgefällig nickte sie Karl zu, währender alles vorbereitete, und öfters hinderte sie ihn, indem sie vorzeitig mit ihrerweichen, fetten, womöglich gleich alles zerdrückenden Hand irgendeinen Bissen fürsich hervorholte. »Er hat es gut gemacht«, sagte sie schmatzend und zogDelamarche, der den Kamm in ihrem Haar für die spätere Arbeit steckenließ, nebensich auf einen Sessel nieder. Auch Delamarche wurde beim Anblick des Essensfreundlich, beide waren sehr hungrig, ihre Hände eilten kreuz und quer über dasTischchen. Karl erkannte, daß man hier, um zu befriedigen, nur immer möglichst vielbringen mußte, und in Erinnerung daran, daß er in der Küche noch verschiedenebrauchbare Eßware auf dem Boden liegengelassen hatte, sagte er: »Beim erstenMal habe ich nicht gewußt, wie alles angerichtet werden soll, nächstes Mal werdeich es besser machen.« Aber noch während des Redens erinnerte er sich, zu wemer sprach, er war zu sehr von der Sache selbst befangen gewesen. Bruneldanickte Delamarche befriedigt zu und reichte Karl zum Lohn eine Handvoll Keks.

II Ausreise Bruneldas

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Eines Morgens schob Karl den Krankenwagen, in dem Brunelda saß, aus demHaustor. Es war nicht mehr so früh, wie er gehofft hatte. Sie warenübereingekommen, die Auswanderung noch in der Nacht zu bewerkstelligen, um inden Gassen kein Aufsehen zu erregen, das bei Tag unvermeidlich gewesen wäre,so bescheiden auch Brunelda mit einem großen grauen Tuch sich bedecken wollte.Aber der Transport über die Treppe hatte zu lange gedauert, trotz derbereitwilligsten Mithilfe des Studenten, der viel schwächer als Karl war, wie sich beidieser Gelegenheit herausstellte. Brunelda hielt sich sehr tapfer, seufzte kaumund suchte ihren Trägern die Arbeit auf alle Weise zu erleichtern. Aber es gingdoch nicht anders, als daß man sie auf jeder fünften Treppenstufe niedersetzte, umsich selbst und ihr die Zeit zum notwendigen Ausruhen zu gönnen. Es war ein kühlerMorgen, auf den Gängen wehte kalte Luft wie in den Kellern, aber Karl und derStudent waren ganz in Schweiß und mußten während der Ruhepausen jeder einZipfel von Bruneldas Tuch, das sie ihnen übrigens freundlich reichte, nehmen, umdas Gesicht zu trocknen. So kam es, daß sie erst nach zwei Stunden untenanlangten, wo schon vom Abend her das Wägelchen stand. Das HineinhebenBruneldas gab noch eine gewisse Arbeit, dann aber durfte man das Ganze fürgelungen ansehen, denn das Schieben des Wagens mußte dank den hohen Rädernnicht schwer sein, und es blieb nur die Befürchtung, daß der Wagen unter Bruneldaaus den Fugen gehen würde. Diese Gefahr mußte man allerdings auf sich nehmen,man konnte nicht einen Ersatzwagen mitführen, zu dessen Bereitstellung undFührung der Student halb im Scherz sich angeboten hatte. Es erfolgte nun dieVerabschiedung vom Studenten, die sogar sehr herzlich war. AlleNichtübereinstimmung zwischen Brunelda und dem Studenten schien vergessen,er entschuldigte sich sogar wegen der alten Beleidigung Bruneldas, die er sich beiihrer Krankheit hatte zuschulden kommen lassen, aber Brunelda sagte, alles seilängst vergessen und mehr als gutgemacht. Schließlich bat sie den Studenten, ermöge zum Andenken an sie einen Dollar freundlichst annehmen, den sie mühseligaus ihren vielen Röcken hervorsuchte. Dieses Geschenk war bei Bruneldasbekanntem Geiz sehr bedeutungsvoll, der Student hatte auch wirklich großeFreude davon und warf die Münze hoch in die Luft. Dann allerdings mußte er sie aufdem Boden suchen, und Karl mußte ihm helfen, schließlich fand Karl sie auch unterdem Wagen Bruneldas. Der Abschied zwischen dem Studenten und Karl warnatürlich viel einfacher, sie reichten einander nur die Hand und sprachen dieÜberzeugung aus, daß sie einander wohl noch einmal sehen würden und daß dannwenigstens einer von ihnen - der Student behauptete es von Karl, Karl vomStudenten - etwas Rühmenswertes erreicht haben würde, was bisher leider nicht derFall war. Dann faßte Karl mit gutem Mut den Griff des Wagens und schob ihn ausdem Tor. Der Student sah ihnen so lange nach, als sie noch zu sehen waren, undwinkte mit einem Tuch. Karl nickte oft grüßend zurück, auch Brunelda hätte sich gerneumgewandt, aber solche Bewegungen waren für sie zu anstrengend. Um ihr dochnoch einen letzten Abschied zu ermöglichen, führte Karl am Ende der Straße denWagen in einem Kreis herum, so daß auch Brunelda den Studenten sehen konnte,der diese Gelegenheit ausnutzte, um mit dem Tuch besonders eifrig zu winken.

Dann aber sagte Karl, jetzt dürften sie sich keinen Aufenthalt mehr gönnen, derWeg sei lang, und sie seien viel später ausgefahren, als es beabsichtigt war.Tatsächlich sah man schon hie und da Fuhrwerke und, wenn auch sehr vereinzelt,Leute, die zur Arbeit gingen. Karl hatte mit seiner Bemerkung nichts weiter sagenwollen, als was er wirklich gesagt hatte, Brunelda aber faßte es in ihrem Zartgefühlanders auf und bedeckte sich ganz und gar mit ihrem grauen Tuch. Karl wandtenichts dagegen ein; der mit einem grauen Tuch bedeckte Handwagen war zwarsehr auffällig, aber unvergleichlich weniger auffällig, als es die unbedeckte Bruneldagewesen wäre. Er fuhr sehr vorsichtig; ehe er um eine Ecke bog, beobachtete er

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die nächste Straße, ließ sogar, wenn es nötig schien, den Wagen stehen, und gingallein ein paar Schritte voraus, sah er irgendeine vielleicht unangenehmeBegegnung voraus, so wartete er, bis sie sich vermeiden ließ, oder wählte sogar denWeg durch eine ganz andere Straße. Selbst dann kam er, da er alle möglichenWege vorher genau studiert hatte, niemals in die Gefahr, einen bedeutendenUmweg zu machen. Allerdings erschienen Hindernisse, die zwar zu befürchtengewesen waren, sich aber im einzelnen nicht hatten vorhersehen lassen. So tratplötzlich in einer Straße, die, leicht ansteigend, weit zu überblicken underfreulicherweise vollständig leer war - ein Vorteil, den Karl durch besondere Eileauszunutzen suchte -, aus dem dunklen Winkel eines Haustores ein Polizeimannund fragte Karl, was er denn in dem so sorgfältig verdeckten Wagen führe. Sostreng er aber Karl angesehen hatte, so mußte er doch lächeln, als er die Deckelüftete und das erhitzte, ängstliche Gesicht Bruneldas erblickte. »Wie?« sagte er.»Ich dachte, du hättest hier zehn Kartoffelsäcke, und jetzt ist es ein einzigesFrauenzimmer? Wohin fahrt ihr denn? Wer seid ihr?« Brunelda wagte gar nicht,den Polizeimann anzusehen, sondern blickte nur immer auf Karl mit demdeutlichen Zweifel, daß selbst er sie nicht werde erretten können. Karl aber hatteschon Erfahrungen genug mit Polizisten, ihm schien das Ganze nicht sehrgefährlich. »Zeigen Sie doch, Fräulein«, sagte er, »das Schriftstück, das Siebekommen haben.« »Ach ja«, sagte Brunelda und begann in einer sohoffnungslosen Weise zu suchen, daß sie wirklich verdächtig erscheinen mußte.»Das Fräulein«, sagte der Polizist mit zweifelloser Ironie, »wird das Schriftstücknicht finden.« »O ja«, sagte Karl ruhig, »sie hat es bestimmt, sie hat es nurverlegt.« Er begann nun selbst zu suchen und zog es tatsächlich hinter BruneldasRücken hervor. Der Polizist sah es nur flüchtig an. »Da ist es also«, sagte derPolizist lächelnd. »So ein Fräulein ist das Fräulein? Und Sie, Kleiner, besorgen dieVermittlung und den Transport? Wissen Sie wirklich keine bessere Beschäftigungzu finden?« Karl zuckte bloß die Achseln, das waren wieder die bekanntenEinmischungen der Polizei. »Na, glückliche Reise«, sagte der Polizeimann, als erkeine Antwort bekam. In den Worten des Polizeimanns lag wahrscheinlichVerachtung, dafür fuhr auch Karl ohne Gruß weiter, Verachtung der Polizei warbesser als ihre Aufmerksamkeit.

Kurz darauf hatte er eine womöglich noch unangenehmere Begegnung. Esmachte sich nämlich an ihn ein Mann heran, der einen Wagen mit großenMilchkannen vor sich herschob und äußerst gern erfahren hätte, was unter demgrauen Tuch auf Karls Wagen lag. Es war nicht anzunehmen, daß er den gleichenWeg wie Karl hatte, dennoch aber blieb er ihm zur Seite, so überraschendeWendungen Karl auch machte. Zuerst begnügte er sich mit Ausrufen, wie zumBeispiel »Du mußt eine schwere Last haben!« oder »Du hast schlecht aufgeladen,oben wird etwas herausfallen!«. Später aber fragte er geradezu: »Was hast dudenn unter dem Tuch?« Karl sagte: »Was kümmert's dich?« Aber da das denMann noch neugieriger machte, sagte Karl schließlich: »Es sind Äpfel.«

»Soviel Äpfel!« sagte der Mann staunend und hörte nicht auf, diesen Ausruf zuwiederholen. »Das ist ja eine ganze Ernte«, sagte er dann. »Nun ja«, sagte Karl.Aber sei es, daß er Karl nicht glaubte, sei es, daß er ihn ärgern wollte, er ging nochweiter, begann - alles während der Fahrt - die Hand wie zum Scherz nach demTuch auszustrecken und wagte es endlich sogar, an dem Tuch zu zupfen. Wasmußte Brunelda leiden! Aus Rücksicht auf sie wollte sich Karl in keinen Streit mitdem Mann einlassen und fuhr in das nächste offene Tor ein, als sei das sein Zielgewesen. »Hier bin ich zu Hause«, sagte er, »Dank für die Begleitung.« Der Mannblieb erstaunt vor dem Tor stehen und sah Karl nach, der ruhig daran ging, wennes sein mußte, den ganzen ersten Hof zu durchqueren. Der Mann konnte nichtmehr zweifeln, aber um seiner Bosheit ein letztes Mal zu genügen, ließ er seinen

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Wagen stehen, lief Karl auf den Fußspitzen nach und riß so stark an dem Tuch, daßer Bruneldas Gesicht fast entblößt hätte.

»Damit deine Äpfel Luft bekommen«, sagte er und lief zurück. Auch das nahmKarl noch hin, da es ihn endgültig von dem Mann befreite. Er führte dann denWagen in einen Hofwinkel, wo einige große, leere Kisten standen, in deren Schutzer unter dem Tuch Brunelda einige beruhigende Worte sagen wollte. Aber ermußte lange auf sie einreden, denn sie war ganz in Tränen und flehte ihn allenErnstes an, hier, hinter den Kisten, den ganzen Tag zu bleiben und erst in derNacht weiterzufahren. Vielleicht hätte er allein sie gar nicht davon überzeugenkönnen, wie verfehlt das gewesen wäre, als aber jemand am anderen Ende desKistenhaufens eine leere Kiste unter ungeheuerem, im leeren Hof widerhallendemLärm zu Boden warf, erschrak sie so, daß sie, ohne ein Wort mehr zu wagen, dasTuch über sich zog und wahrscheinlich glückselig war, als Karl, kurz entschlossen,sofort zu fahren begann. Die Straßen wurden jetzt immer belebter, aber dieAufmerksamkeit, die der Wagen erregte, war nicht so groß, wie Karl befürchtethatte. Vielleicht wäre es überhaupt klüger gewesen, eine andere Zeit für den Transportzu wählen. Wenn eine solche Fahrt wieder nötig werden sollte, wollte sich Karlgetrauen, sie in der Mittagsstunde auszuführen. Ohne schwerer belästigt worden zusein, bog er endlich in die schmale, dunkle Gasse ein, in der das UnternehmenNummer 25 sich befand. Vor der Tür stand der schielende Verwalter mit der Uhr inder Hand. »Bist du immer so unpünktlich?« fragte er. »Es gab verschiedeneHindernisse«, sagte Karl. »Die gibt es bekanntlich immer«, sagte der Verwalter.»Hier im Hause gelten sie aber nicht. Merk dir das!« Auf solche Reden hörte Karlkaum mehr hin, jeder nützte seine Macht aus und beschimpfte den Niedrigen. Warman einmal daran gewöhnt, klang es nicht anders als das regelmäßigeUhrenschlagen. Wohl aber erschreckte ihn, als er jetzt den Wagen in den Flurschob, der Schmutz, der hier herrschte und den er allerdings erwartet hatte. Eswar, wenn man näher zusah, kein faßbarer Schmutz. Der Steinboden des Flurs warfast rein gekehrt, die Malerei der Wände nicht alt, die künstlichen Palmen nur wenigverstaubt, und doch war alles fettig und abstoßend, es war, als wäre von allem einschlechter Gebrauch gemacht worden und als wäre keine Reinlichkeit mehrimstande, das wieder gutzumachen. Karl dachte gern, wenn er irgendwohin kam,darüber nach, was hier verbessert werden könne und welche Freude es sein müßte,sofort einzugreifen, ohne Rücksicht auf die vielleicht endlose Arbeit, die esverursachen würde. Hier aber wußte er nicht, was zu tun wäre. Langsam nahm er dasTuch von Brunelda ab. »Willkommen, Fräulein«, sagte der Verwalter geziert, eswar kein Zweifel, daß Brunelda einen guten Eindruck auf ihn machte. SobaldBrunelda dies merkte, verstand sie das, wie Karl befriedigt sah, gleichauszunutzen. Alle Angst der letzten Stunden verschwand.

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