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Der therapeutische Prozess (V): Suizidalität und Notfälle Joachim Cordes Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Heinrich-Heine- Universität - Rheinische Kliniken Düsseldorf - Bergische Landstr. 2 D-40629 Düsseldorf

Der therapeutische Prozess (V): Suizidalität und Notfälle Joachim Cordes Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Heinrich-Heine-Universität

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Der therapeutische Prozess (V):Suizidalität und Notfälle

Joachim Cordes

Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Heinrich-Heine-Universität

- Rheinische Kliniken Düsseldorf -

Bergische Landstr. 2

D-40629 Düsseldorf

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1. Delir, Bewußtseinsstörungen

2. Psychopharmaka induzierte Notfälle

3. Suizidalität

Patientenvorstellung, Fallbeispiele

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ANAMNESE BEI DER ERSTEXPLORATION

Auslöser der Notfallsituation- aus der Sicht des Patienten- aus der Sicht Dritter

Wichtige Kontaktadressen

Aktuelle Vorgeschichte- Symptomatik- Beginn- auslösende Ereignisse- aktuelle Therapie

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ANAMNESE BEI DER ERSTEXPLORATION

Bisheriger Krankheitsverlauf und TherapieAlkohol-, DrogenkonsumSomatische Erkrankungen

Aktuelle Lebenssituation- Lebensform - soziale Integration- Arbeitsfähigkeit

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GRUND- UND TECHNISCHE ZUSATZUNTERSUCHUNGEN (I)BEI VERWIRRTHEITSZUSTÄNDEN (*BASISUNTERSUCHUNGEN)

Allgemein - Blutdruck*- Herzfrequenz*- Temperatur*

Infektion - Leukozyten*- Urinstatus* (Blutkulturen)- BKS

Metabolische - Elektrolyte (Na, K, Ca)*Störungen - Kreatinin*

- Glukose (Blut)*- Leberwerte (GOT, GPT, -GT)- T3, T4, TSH (*)

Hämatologische - Erythrozyten und Hb (V.a. Anämie)Störungen - MCV (V.a. Alkoholabusus, Mangel an Vitamin B12,

Folsäure)- Thrombozyten

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GRUND- UND TECHNISCHE ZUSATZUNTERSUCHUNGEN (II)BEI VERWIRRTHEITSZUSTÄNDEN (*BASISUNTERSUCHUNGEN)

Herz-Kreislauf- - EKG*erkrankungen - CPK (V.a. Herzinfarkt)

- Röntgen-Thorax (V.a. Pneumonie, Herz-Kreislauferkrankungen)

Cerebrale - CCT (V.a. Tumor, Blutungen, Infarkt) (*)Erkrankungen - EEG (Epilepsieverdacht)

- LP (ggf. bei neurologischer Indikation)

Blutspiegelbestimmungen - Digoxinbei Verdacht auf Intoxikation - Antikonvulsiva

- Lithium- Antidepressiva- Neuroleptika- Sedativa

Drogenscreening bei Verdacht

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LEITSYMPTOME

Bewußtseins-störungen

vermindert

verändert

SomnolenzSoporKoma

DämmerzustandVerwirrtheitszustand

Delir

Antriebs-störungen

gesteigert

gehemmt

Erregung

NegativismusStupor

Autismus

Stimmungs-störungen

gehoben

gesenkt

Manie

AngstsymptomeDepressionSuizidalität

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Ein 55-jähriger Patient nach Operation einer Schenkelhalsfraktur ist verwirrt, fingert unruhig herum, wirkt ängstlich und schreckhaft. Der körperliche Befund ist unauffällig. Im Labor findet sich eine Erhöhung der GOT und MCV. Der Patient wird zunehmend somnolent, berichtet über optische Halluzinationen.

Welches Vorgehen schlagen Sie vor?

Fallbeispiel

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Diagnostische Leitlinien des Delirs nach ICD - 10

• Störungen des Bewusstseins, der Aufmerksamkeit

• Störungen der Kognition und der Wahrnehmung

• Psychomotorische Störungen

• Störungen des Schlaf - Wach - Rhythmus

• affektive Störungen

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DIFFERENTIALDIAGNOSTIK DELIRANTER SYNDROMEAufmerksamkeitsstörungenStörungen der Auffassung, Wahrnehmungund UrteilsfähigkeitStörungen der PsychomotorikAffektstörungenStörungen des Schlaf-Wach-Rhythmus

Bewusstseinsklar ohne Orientierungsstörungen(verworrenes Denken)

SchizophrenieManie

BewusstseinstrübungOrientierungsstörungen

ohne vegetative Symptomatik

HirninfarktHirnblutungHirntumorSchädel-Hirn-Trauma

Intoxikationen

internistische Erkrankungenz.B. - Infektionen - Dehydration

mit Orientierungs-störungen

delirantes Syndromi.R. einer Demenz

mit vegetativer Symptomatik(Tremor, Schwitzen, Tachykardie)

v.a. Entzugssyndrome bei Alkohol Drogen anderen psychotropen Substanzen

Dämmerzustand

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SYMPTOMATIK ANTICHOLINERGES DELIR (I)

zentral peripher

Orientierungsstörungen PupillendilatationGedächtnis-

Auffassungsstörungen MiktionsstörungenAngst, psychomotorische Obstipation, Ileus UnruheErregungszustände SinustachykardieWahrnehmungsstörungen Fieberoptische Halluzinationen Haut warm, trockenAtaxie, MyoklonienKoma

(modifiziert nach Hyman, Tesar 1994)

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ANTICHOLINERGES DELIR (I)

Häufigkeit abhängig von Dosis, Substanztyp und individueller Disposition

Pathogenese: Blockade, zentraler und peripherer Acetylcholinrezeptoren

Prädisponierende Faktoren: Hohe Dosierung, schneller Dosisanstieg, Kombination mehrerer anticholinerg wirksamer Substanzen, höheres Lebensalter, zerebrale Vorschädigung

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ANTICHOLINERGES DELIR (II)

Häufige auslösende Trizyklische Neuroleptika (z.B. Thioridazin, Levome-Substanzen promazin) und Antidepressiva (z.B. Amitriptylin,

Doxepin, Clomipramin)

Therapie - Absetzen der auslösenden Medikation- Stationäre Aufnahme

ggf. bei schwerem Delir i.v.-Gabe von Phy-sostigmin (1-2 mg langsam i.v., kurze Wirkungs-dauer von ca. 20-45 Minuten, EKG-Monitoring)

ansonsten symptomatische Behandlung (z.B. 2- 5 mgHaloperidol p.o. bei paranoid-halluzinatorischemSyndrom bzw. Erregungszustand)

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Ursachen für Bewusstseinsstörungen

• zerebrale Gefäßveränderungen• Herz-Kreislaufstörungen• Störungen der Blutzusammensetzung• zerebral-organische Prozesse• Alkohol• Medikamente• internistische Stoffwechselerkrankungen• psychogene Bewusstseinsstörung

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PSYCHOPHARMAKA-INDUZIERTE NOTFALLSITUATIONEN

- orthostatischer Kollaps

- Delir

- Suizidalität

- Erregungszustände z.B. aufgrund paradoxer Reaktionen

- Agranulozytose

- malignes neuroleptisches Syndrom

- Harnretention

- paralytischer Ileus

- schwere allergische Reaktionen

- Frühdyskinesien

- Akathisien

- Krampfanfälle

- Depressive Syndrome

- Orthostatische Dysregulationen

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Ein junger Mann mit bipolarer Psychose, seit 4 Jahren stabil auf Lithium eingestellt, habe seit 4 Wochen eine muskuläre Verspannung der rechten Schulter. Daher erhalte er seit 10 Tagen Diclofenac, worunter eine deutliche Symptomlinderung eingetreten sei. Seit 7 Tagen habe er verstärkten Schwindel, Übelkeit, unsicheren Gang und Zittern. Er habe zunehmend eine verwaschene Sprache gehabt und fühle sich benommen.

Welches Vorgehen schlagen Sie vor?

Fallbeispiel

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AGRANULOZYTOSE UNTER BEHANDLUNG MIT CLOZAPIN (I)

<500 Granulozyten/mm3 (Agranulozytose)<1500 Granulozyten/mm3 (Granulozytopenie )

Kumulative Inzidenz 0,8-1% erstes Behandlungsjahr

Geschlechtsunterschiede nicht sicher nachgewiesen

70-80 % aller Granulozytopenien in den ersten 18 Wo.

Kein Zusammenhang zur Inzidenz

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AGRANULOZYTOSE UNTER BEHANDLUNG MIT CLOZAPIN (I)

Fieber, Schüttelfrost, Halsschmerzen, gestörte Wundheilung

Nach Absetzen von Clozapin Normalisierung des Blutbildes innerhalb von 2-4 Wochen

Absetzen von Clozapin, stationäre Einweisung(Hämatologische Abteilung); GM-CSF-Gabe, wenn neutrophile Granulozyten 1000/mm³; Blutbildkontrollen über 4 Wochen; Normalisierung des Blutbildes innerhalb von 2-4 Wochen

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Inzidenz 0.05 - 0.5%, m > w (v.a. jüngere m)

lebensbedrohlich, akute Symptomentwicklung

Fieber, instabiler Blutdruck, Tachykardie, Schwitzenvermehrter Speichelfluss, Urininkontinenz, Tachypnoe

Rigor, Tremor, Akinese, Opisthotonus, Schluckstörungen

Bewusstseinstrübungen, Stupor

Leukozytose, Creatin-Phosphokinase (CK) erhöht, Myoglobinämie/urie, metabolische Azidose

DIAGNOSTIK UND THERAPIE DES MALIGNENNEUROLEPTISCHEN SYNDROMS (I)

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meist innerhalb von 1-2 Wochennach Behandlungsbeginn

Auslösende Substanzen:alle Neuroleptika, wahrscheinlich höheres Risiko bei hochpotenten Substanzen, Lithium + NL (selten), Antidepressiva (sehr selten)

DIAGNOSTIK UND THERAPIE DES MALIGNENNEUROLEPTISCHEN SYNDROMS (II)

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DIAGNOSTIK UND THERAPIE DES MALIGNENNEUROLEPTISCHEN SYNDROMS (III)

Pathogenese: Blockade von Dopaminrezeptoren (Hypothalamus, Basalganglien) Störung des intrazellulären Kalziumstoffwechsels, Störung im muskulären Bereich

Komplikationen: Ateminsuffizienz, Herz-Kreislaufversagen, Rhabdomyolyse und akutes Nierenversagen

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DIAGNOSTIK UND THERAPIE DES MALIGNENNEUROLEPTISCHEN SYNDROMS (III)

Therapie:- NL sofort absetzen- stationäre (ggf. intensivmed.) Therapie- Fiebersenkung (Abkühlung)- Flüssigkeitszufuhr- Gabe von Dantrolen (4-10 mg/kg/KG oral in den ersten 24 Std.), ggf. i.v. Gabe max. 10 mg/kg/KG/die- ev. in Kombination mit Bromocriptin (10 - max. 60 mgl 24 Std.)- alternativ zu Bromocriptin Amantadin (Pk-Merz), 200 - 400 mg/die- Rezidivrisiko ca. 15%

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Definition

Suizidalität, auch Suizidgefährdung oder umgangssprachlich Lebensmüdigkeit genannt, umschreibt einen psychischen Zustand, in dem alle Gedanken, Phantasien, Impulse und Handlungen darauf ausgerichtetsind, gezielt den eigenen Tod herbeizuführen.

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Parasuizidalität (autoaggressivesbzw. Selbstschädigendes Verhalten)• vielfache selbst verletzende und primärnicht final angelegte suizidale Handlungen

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Eine 18 jährige Abiturientin stellt sich in Begleitung ihrer besten Freundin und Mitschülerin ambulant vor. Die Patientin hatte bei ihrer Freundin angerufen, um sich zu verabschieden. Sie wolle sich umbringen, da ihr Freund vor 2 Wochen ihre Beziehung beendet habe. Sie habe das Interesse an der Schule verloren, müsse viel weinen und sei meist traurig, könne aber gut schlafen.

Welche Fragen würden Sie stellen wollen?

Welches Vorgehen schlagen Sie vor?

Welche verschiedenen Diagnosen kämen hier für Sie in Frage und warum?

Fallbeispiel

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ICD-10 Anpassungsstörungen

Beginnen innerhalb eines Monats nach der Belastung und dauern nicht länger als sechs Monate nach Ende der Belastung

Eine psychosoziale Belastung von nicht außergewöhnlichem Ausmaß

Es treten Symptome und Verhaltensstörungen wie bei affektiven Störungen, Angststörungen, Belastungs- oder somatoformen Störungen oder Strg. des Sozialverhaltens auf, ohne dass deren Diagnosekriterien erfüllt sind

Fallbeispiel

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Beurteilungskriterien suizidaler Syndrome

Latente Suizidalität

Akute Suizidalität

Suizidarrangement

Suizidintention

Suizidmethode

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Arten von Suizidversuchen

64 % Intoxikationen

16 % Stich-, Schnittverletzung

06 % absichtlicher Verkehrsunfall

04 % Sturz aus großer Höhe

04 % Erhängen, Erdrosseln, Ersticken

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Weltweite Häufigkeit von Suiziden und Suizidversuchen

• ca. alle 40 Sekunden ein Suizid

• ca. 1 Mio. Menschen jährlich Suizid

• ca. 15 Mio. Menschen jährlich einen Versuch

(WHO-Daten 2004)

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Suizide in Chinakein Meldesystem, offizielle Angaben • 280.000 Suizide / Jahr

• 685 Suizide pro Tag

• Haupttodesursache bei 15-34-Jährigen

• Fünfhäufigste Todesursache in China

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Häufigkeit in Deutschland

• 15 – 35 Jahre 2. häufigste Todesursache

• 20 / 100000 Einwohner

• Männer : Frauen 2,5 : 1

• jeder 2 Suizid einer Frau > 60 Jahre

• Anstieg mit dem Alter

• bei Kindern extrem selten , ab 10 Jahre

• 98 % Psychische Erkrankung

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ca. 15 % mit schwere Depression versterben durch Suizidca. 25 % weisen einen Suizidversuch aufca. 70 % haben Suizidgedanken

Unnatürliche Todesfälle (2009) Angaben Bundesstatistikamt

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0

10

20

30

40

50

60

1980 1986 1995

Frauen Frauen

Männer Männer

Westen OstenJe 1

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SUIZIDSTERBLICHKEIT

StBA;Todesursachenstatistik

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100

200

300

400

500

600

700

800

900

1000

>0 >5 >10 >15 >20 >25 >30 >35 >40 >45 >50 >55 >60 >65 >70 >75 >80 >85 >90

Anz

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gesamt

männlich

weiblich

Suizide und Suizidraten in Deutschland nach Alter und Geschlecht im Jahr 2007 (Quelle: Statistisches Bundesamt)Der „Knick“ in der Kurve der Anzahl der Suizide bei den 50-60jährigen spiegelt die Geburtenlücke nach dem 2.Weltkrieg wieder.

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WestenOsten

050100150200 0 50 100 150 200

über 84

75 - 84

65 - 74

55 - 64

45 - 54

35 - 44

25 - 34

15 - 24

Alter

ALTERSSPEZIFISCHE SUIZIDSTERBLICHKEIT 1995

Je 100 000 Männer bzw. Frauen

StBA, Todesursachenstatistik

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Suizidversuche

• 10 – 15 fach häufiger als Suizide

• Frauen : Männer 2,5 : 1

• besonders in den jüngeren Altersgruppen

Gaebel, Müller-Spahn 2002, Diagnostik und Therapie psychischer Störungen, KohlhammerMöller, Laux, Deister 2005, Duale Reihe, Psychiatrie und Psychotherapie, Thieme Verlag

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SUIZIDURSACHEN

Depressionen

Alkoholabhängigkeit

Persönlichkeitsstörungen

andere

Gesundheitsbericht Deutschland (1998)

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SUIZIDRISIKO BEI DEPRESSIVEN (I)

• 40-70 % der Suizidenten in der Allgemeinbevölkerung litten zum Zeitpunkt des Suizides an einer depressiven Störung

• Ein hoher Anteil depressiver Kranker spricht beim Hausarzt direkt oder indirekt über Hoffnungslosigkeit und Suizidalität.

Diese Chance muß genutzt werden.

Gaebel, Müller-Spahn 2002, Diagnostik und Therapie psychischer Störungen, KohlhammerMöller, Laux, Deister 2005, Duale Reihe, Psychiatrie und Psychotherapie, Thieme Verlag

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SUIZIDRISIKO BEI DEPRESSIVEN (II)

• 15% der Patienten mit schweren depressiven Störungen versterben durch Suizid

• 20-60% depressiver Kranker weisen Suizidversuche in ihrer Krankheitsgeschichte auf, 40-80% leiden an Suizidideen während einer Depression

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Risikofaktoren

• Geschlecht, Alter

• Familienstand

• Soziale Schicht, Arbeitsstand

• Stadt – Landunterschiede

• Religionszugehörigkeit

• Jahreszeitliche Schwankungen

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VERDACHTSMOMENTE FÜR SUIZIDRISIKO (I)

Frühere Suizidversuche, altruistische Suizidmotivation

Suizide in der Familie oder Umgebung

Direkte oder indirekte Suizid-Drohungen/ Ankündigungen

Verlust mitmenschlicher Beziehungen

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VERDACHTSMOMENTE FÜR SUIZIDRISIKO (II)

Vereinsamung alter Menschen

Berufliche oder finanzielle Schwierigkeiten

Vorbereitung, um bisher Versäumtes in

Ordnung zu bringen, z.B. Testament

Schuld-, Krankheits-, Verarmungsgefühle

depressiver Wahn

Hoffnungslosigkeit

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Ätiologie

I. Soziale Situation

II. Biologische Faktoren

III. Psychologische Erklärungsmodelle

Page 44: Der therapeutische Prozess (V): Suizidalität und Notfälle Joachim Cordes Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Heinrich-Heine-Universität

I. Soziale Erklärungsmodelle

• keine Berichte von suizidalem Verhalten bei Primaten

• Politische Ereignisse, Urbanisierung, Verlust sozialer Strukturen, Änderung der Geschlechtsrolle

• Imitationshypothese : Häufung in der Familie, Freunde

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Quelle: Niederkrotenthaler et al., Neuropsychiatrie, Band 21, Nr.4/2007, S.284-290

Werther-Effekt

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II. Biologische Erklärungsmodelle

• Serotonerges Defizit im präfrontalen Cortex von Suizidopfern • Erniedrigte Serotoninspiegel im Liquor • Prädiktiver Wert für spätere Suizidversuche

• Gleiche biologische Veränderung bei Probanden mit impulsiven Gewalttaten

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III. Psychologische Erklärungsmodelle

• Aggressionstheorie (Freud)

• Verzerrte Denkschemata (Beck)

• Narzissmustheorie (Kohut)

• Appell an die menschliche Bindung

• Verhaltenstheoretisches Modell

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Dem Parasuizid/Suizid geht oft ein präsuizidales Syndrom (nach Ringel) voraus:

• Erleben von Ausweglosigkeit

• Sozialer Rückzug

• Ständiges Sich-Beschäftigen mit

Todesgedanken

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STADIENHAFTER ABLAUF SUIZIDALER KRISEN

I. Erwägung II. Ambivalenz III. Entschluß

Suizid-handlungen

Psycho-dynamischeFaktoren

Agressions-hemmung

SozialeIsolierung

SuggestiveMomente

Suizide in derFamilie und Umgebung

PressemeldungenLiteratur und Filmusw.

75 % direkteSuizidankündigungen

Hilferuf alsVentilfunktionKontaktsuche

IndirekteSuizidankündigungen

Vorbereitungshandlungen- Ruhe vor dem Sturm -

(Pöldinger 1988)

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SUIZIDGEFÄHRDUNGFRAGEN AN PATIENTEN (I)

Ankündigung:

Einengung :

Aggressionen

Haben Sie über Ihre Absichten schon mitjemanden gesprochen?

Haben sich Ihre Interessen, Gedanken undzwischenmenschliche Kontakte gegenüberfrüher eingeschränkt, verringert?

Haben Sie gegen jemanden Aggressionsgefühle, die Sie gewaltsam unterdrücken?

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SUIZIDGEFÄHRDUNGFRAGEN AN PATIENTEN (II)

Suizidalität:

Vorbereitung:

Grübeln:

Haben Sie schon einmal daran gedacht sich dasLeben zu nehmen?

An was denken Sie? Sind es eher Gedanken anRuhe und Todeswunsch ohne aktive Planung?Wie konkret sind Ihre Gedanken und Absichten?

Denken Sie bewußt daran?Oder drängen sich die Gedanken auf, auch wenn Sie es nicht wollen?

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Therapie

• Krisenintervention

• Pharmakotherapie

• Psychotherapie

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Psychotherapeutische Behandlung

• Korrektur der subjektiven Bilanz des Lebens

• Suizid ist nicht rückgängig

• Appell an menschliche Bindungen

• Vereinbarung eines zeitlichen Aufschubes

• Langfristig kann der Therapeut den Patienten

von einem Suizid nicht abhalten

• Hoffnung signalisieren

• Suizidversuch immer ernst nehmen

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1. Suizidhinweise immer ernst nehmen

2. Aufbau einer therapeutischen Beziehung

3. Beurteilung des Suizidrisikos ambulante vs. stationäre Therapie, Klinikeinweisung (Rechtsgrundlage)

Kritisch:

- ausgeprägter Suizidalität (konkrete Suizidpläne, nicht kontrollierbare Suizidimpulse) - fehlende sozialer Integration

- fehlende ambulanter Betreuung - fehlende Bündnisfähigkeit des Patienten - behandlungsbedürftige körperliche Erkrankung

THERAPEUTISCHE PRINZIPIEN BEI SUIZIDALITÄT (I)

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Bei Verzicht auf Klinikeinweisung:

- Weiterbetreuung sicherstellen (feste und zuverlässige Termine, kurze Intervalle

- feste Bezugsperson im sozialen Umfeld

- Aufklärung der Angehörigen

bzw. Bezugspersonen über Suizidrisiko

(Entbindung von der Schweigepflicht)

THERAPEUTISCHE PRINZIPIEN BEI SUIZIDALITÄT (II)

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Medikamentöse Therapie:

-Einschlafstörungen: z.B. Zolpidem 10 mg

- Verordnung von sedierenden Antidepressiva

- kleine Packungsgröße

- Gabe von Benzodiazepinen, z.B. Lorazepam (1-2,5mg)

- Anxiolytisch wirksames Neuroleptikum (z.B. Thioridazin 10-30 mg als initiale Dosis)

THERAPEUTISCHE PRINZIPIEN BEI SUIZIDALITÄT (II)

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FEHLER IM UMGANG MIT DEPRESSIVEN IN SUIZIDALEN KRISEN (I)

• Vermeidung von direktem Nachfragen

• Nichtbeachten von Zeichen

• Mangelnde Exploration der Umstände, die zu Suizidalität geführt haben

• Bagatellisierung von Not und Krise durch den Arzt, Mitmachen von Bagetellisierungstendenzen des Patienten

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FEHLER IM UMGANG MIT DEPRESSIVEN IN SUIZIDALEN KRISEN (II)

• Ablehnung des Patienten als nicht krank

• Therapeutische Überaktivität als Abwehr von Betroffenheit

• Klassifikation von Suizidalen als Versager oder Erpresser

• Geheime Suizidpakte schließen

• zu rasche Suche nach positiven Veränderungen

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Ethische Aspekte in der Krisensituation

• Vertrauen und Autonomie des Patienten wahren• Schweigepflicht gegenüber Dritten beachten• Reflektion der Interaktion mit dem Patienten• Beurteilung der zu erwartenden Effekte einer therapeutischen

Intervention• Entscheidung über die Angemessenheit von Maßnahmen• Abwägung Interesse des Patienten, Sicherheitsbedürfnis der

Gesellschaft