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Der Tiger von Kanchipuram

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Fred McMason

Der Tiger von Kanchipuram

Immer vordem Mittagessen befragte Thakazhi Pillai sein Orakel. Dieses Orakel bestand aus einer Handvoll kleiner Knochen, die von einem indischen

Wolf stammten. Thakazhi hatte diesen Canis lupus pallipes eigenhändig erlegt. Bisher hatten die Knochen nichts Aufregendes gezeigt, aber als er sie diesmal über den Boden seiner kleinen Hütte warf, da blieben sie in einer merkwürdigen Anordnung

liegen. Drei Spitzen der Knochen zeigten wie bei einem Dreieck in verschiedene Richtungen. Am Rande des Dreiecks lagen weitere Knochen zu einem kleinen

Häufchen zusammen. Thakazhi blickte erschrocken auf das Orakel, an dessen Zuverlässigkeit er keinen

Augenblick zweifelte. Schließlich hatte das Orakel sein Schicksal immer genau bestimmt.

Diesmal bedeutete die Anordnung der Knochen den Tod...

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Die Hauptpersonen des Romans: Thakazhi Pillai - benutzt eine Handvoll kleiner Wolfsknochen als Orakel und er­

fährt, daß er sterben wird. Der Sultan von Golkonda - hält sein Versprechen und räumt der Königin von

England Handelslizenzen ein. Rabin - der Zuchtmeister auf der Sultans-Galeere erweist sich als Dieb und erleidet

eine barbarische Strafe. Old Donegal O'Flynn - hat einen Wahrtraum, mit dem er allen Leuten auf den Geist

geht. Philip Hasard Killigrew - steht Sudar, dem Menschenfresser, allein gegenüber

und hat nur einen Schiffshauer gegen den Tiger.

1.

Der zweite Wurf zeigte fast genau das gleiche Ergebnis. Auch hier teilte ihm das Orakel den Tod mit. Irgend­wann innerhalb der nächsten Tage würde sich sein Schicksal erfüllen.

Thakazhi sammelte schnell die Knochen ein und verstaute sie in dem kleinen Leinenbeutel.

Danach setzte er sich mit trübem Blick zum Essen nieder.

Auf dem kleinen Bambustisch lag ein frischgrünes Blatt einer Bananen­staude. Seine Frau, Kamalakshy, er­schien und schöpfte aus irdenen Töp­fen Curry-Ragouts, essigsaure Papa­ya und kleine geschmorte Fleisch­stückchen auf das Bananenblatt.

Draußen blies der Bhoot, ein trok-kener Staubwind, sein eintöniges Lied. Es war eine schmirgelnde Melo­die aus disharmonischen Tönen, die sich anhörte, als riebe Sand gegen Sand.

Das schmale Gesicht des Mannes war verkniffen. Er nahm zuerst die Schale mit Wasser und trank sie leer.

Sein Gaumen war staubtrocken wie der Bhoot, der um die Hütte blies.

Völlig verkrampft saß er dann vor dem Bambustisch und starrte aus lee­ren Augen auf das Essen. Er saß da mit nackten Beinen und nacktem Oberkörper, nur einen grauen und durchlöcherten Dhoti um die Hüften geschlagen.

„Was ist mit dir, Thaki?" fragte seine Frau flüsternd. Das seltsame Gebaren ihres Mannes war ihr nicht entgangen. Sie nannte ihn immer Thaki, schon seit ihrer Kindheit, als sie sich mit sieben Jahren kennenge­lernt hatten.

„Mir ist nicht gut", erwiderte Thaki heiser. Lustlos griff er mit den Fin­gern in den Reis, drehte ihn zu einem kugelförmigen Gebilde zusammen und stopfte es sich mit ein wenig Soße in den Mund.

Er fand, daß das Essen nicht schmeckte und ihm speiübel davon wurde.

„Was fehlt dir denn, Thaki?" Sie war jung, hübsch, hatte langes,

schwarzes und glattes Haar, das ihr

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bis über die schmalen Schultern fiel und war von jener Zierlichkeit wie die kleinen Antilopen, die er zu jagen pflegte, um seine Familie satt zu krie­gen.

„Mir ist nicht gut, Kama", wieder­holte er. „Vielleicht liegt es an dem Bhoot. Immer wenn der Staubwind bläst, fühle ich mich nicht wohl. Ich vertrage ihn einfach nicht."

Das war gelogen. Der Wind hatte damit nichts zu tun, aber er konnte Kamalakshy nicht sagen, was wirk­lich passiert war. Sie hätte sich furchtbar darüber aufgeregt.

„Du mußt trotzdem etwas essen." Sie sah zu, wie er lustlos den Reis

zusammenformte und widerwillig in den Mund schob. Er kaute nicht mal, er schluckte es nur hinunter, als er­weise er ihr damit einen Gefallen.

Kama sah ihn immer wieder be­sorgt an, und auch der kleine Sabu betrachtete seinen Vater, der heute ganz anders als sonst war.

„Hat das Orakel schlechte Zeichen gezeigt?" fragte seine Frau schließ­lich.

„Das Orakel? Nein,.nichts Besonde­res. Es war wie meist. Ich gehe jetzt ein paar Bankivahühner jagen, werde nach Hirschziegenantilopen und dem Nilgau Ausschau halten, und wenn ich Glück habe, finde ich auch noch ein Honignest."

„Wir haben noch für zwei Tage Reis. Außerdem verträgst du den Bhoot nicht. Geh lieber morgen."

Sie sagte das sehr besorgt, doch er schüttelte den Kopf.

Er raffte seine Utensilien zusam­men, das große Messer, den Speer

und einen Haken zum Angeln. Als letztes nahm er einen Jutesack mit.

Er verabschiedete sich sehr hastig von Frau und Sohn, und er drehte sich gegen seine sonstige Gewohnheit auch kein einziges Mal um, als er die armselige Hütte verließ.

Dahinter befand sich ein Stück ge­rodetes Land, auf dem sie Pisang, Mango, Papaya und Gemüse anbau­ten. Sie hatten auch ein kleines Reis­feld, außerhalb, am Fluß, einem win­zigen Nebenarm des Penner, der so viel oder so wenig Wasser führte, daß es zur Bewässerung von ein paar klei­nen Reisfeldern gerade ausreichte.

Er ging an den Pisangstauden und den Mangobäumen vorbei und schritt zügig aus.

Die Sonne stand hoch über ihm, und der staubige Bhoot blies ihm un­aufhörlich ins Gesicht. Er brachte trockenen Sand und Staub aus den nördlichen Hochebenen des Andhra Pradesh mit und trug ihn nach Osten bis hinüber in den Golf von Bengalen.

Außer Sichtweite seiner Hütte, nur von der trockenen Einsamkeit umge­ben, setzte er sich auf einen Stein und dachte über sein künftiges Schicksal nach.

Er würde sterben, das war sicher. Aber er fragte sich, wie ein Mann sei­nes Alters wohl sterben mochte. Er war jung, gesund und kräftig.

Als er all die Möglichkeiten über­schlug, erschrak er doch heftig, denn es waren unglaublich viele.

An einer Krankheit würde er in den nächsten Tagen nicht sterben, das konnte er ausschließen.

Er konnte aber von einer Kobra ge­bissen werden, wenn er zufällig in dit

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Nähe einer ihrer Nesthügel geriet, in denen die Weibchen die Eier be­wachten. Das war ein ziemlich schnel­ler Tod. Einige der Einwohner aus dem kleinen Dorf waren der Kobra zum Opfer gefallen.

Ein umstürzender Baum konnte ihn erschlagen. Ein tollwütiger Wolf konnte ihn angreifen. Er konnte den aggressiven Riesenbienen zum Opfer fallen. Wilde Elefanten konnten ihn zu Tode trampeln. Es war erschrek-kend, wie viele Möglichkeiten es gab.

Weiter oben an den Flüssen sollte es Panzerechsen geben, so hatten die Leute erzählt. Krokodile, die plötz­lich aus dem Wasser auftauchten und ihre Opfer rissen. Aber er hatte noch keine gesehen, und so weit hinaus wollte er auch nicht gehen.

Erst seit heute, als ihm das Orakel den Tod angekündigt hatte, wußte er, wie gefährlich das Leben in seiner Umwelt war - und daß ein guter Geist ihn bisher immer beschützt hatte.

Jetzt sah das alles ganz anders aus. Der Geist hatte sich von ihm abge­wandt und überließ ihn dem Tod.

Angst kroch in ihm hoch. Er packte seine Utensilien fester und sah sich nach allen Seiten um.

Weit und breit war er allein. Auf der linken Seite begann der dichte Dschungel, weiter hinten gab es Bam­buswälder und zu seiner rechten Seite erstreckte sich sumpfiges Ge­lände. Den Sumpf hatte ein Was­serlauf geschaffen, der weiter östlich in einen Weiher mündete, wo die Leute aus dem Dorf ihr Wasser hol­ten. Am späten Abend fanden sich hier auch Affen, Antilopen und der Nilgau ein, um zu trinken.

Und manchmal fand sich auch Su­dar ein - Sudar, vor dem die Leute Angst hatten und zitterten.

*

Als Thaki an Sudar dachte, krampfte sich sein Magen zusammen, und er stand hastig von dem Stein auf.

Nervös sah er sich wiederum nach allen Seiten um. Hoch über ihm krei­sten ein paar Vögel, die sich immer höher in den Himmel schraubten.

Im Dschungel knackte es leise, und er packte seine speerähnliche Waffe fester. Aber er sah kein Tier außer den Vögeln.

Sudar, hieß es, sei ein Menschen­fresser, ein fürchterlich großer Tiger, der hauptsächlich Menschen riß. Die Menschen waren meist nur mit klei­nen Speeren oder einem Bogen be­waffnet, und sie konnten nicht so schnell flüchten wie das Wild.

Sudar schien das sehr schnell be­griffen zu haben, und offenbar hatte er Gefallen an seiner ungewonnten Nahrung gefunden.

Innerhalb der letzten zwei Jahre waren mehr als zwanzig Menschen aus dem Ort verschwunden und nie wieder aufgetaucht. Man hatte ledig­lich einmal einen Oberschenkelkno­chen und Blutspuren im Gras gefun­den.

Einer wollte Sudar einmal gestellt haben. Er hatte einen rostigen Säbel dabei und damit zugeschlagen, als der Menschenfresser gerade zum Sprung ansetzte. Er hatte das rechte Ohr des Tigers getroffen und ein Stück daraus herausgefetzt.

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Aber der Mann, der das erzählt hatte, galt im Ort nicht gerade als ver­trauenswürdig, und so fehlte immer noch der letzte Beweis.

Allerdings war auch Vieh an den Tränken gerissen worden, doch bis auf wenige Blutspritzer hatte sich keine Spur gefunden.

In die Fallen, die man schließlich aufgestellt hatte, war der schlaue Ti­ger ebenfalls nicht gegangen. Er schien eine sehr feine Witterung zu haben.

Auch am Weiher und bei den Trän­ken hatten sie Sudar schon aufgelau­ert, gleichfalls ergebnislos. Er war wie ein Phantom, das zuschlug und auf geheimnisvolle Weise wieder ver­schwand. Mit ihm verschwanden auch jedesmal Männer, Frauen, Kin­der oder größere Haustiere.

Anfangs hatte sich Thaki vorge­nommen, diesen blutrünstigen Räu­ber zu jagen, doch er war kein Held, und beim Anblick eines anderen her­umstreifenden Tigers hatte er blitz­schnell die Flucht ergriffen. Dabei hatte der Tiger keinerlei feindliche Absichten erkennen lassen. Er schien beim Anblick des Menschen genauso verstört zu sein wie Thaki.

Mittlerweile hatte sich Thaki eine knappe Meile von seiner Hütte ent­fernt.

Der Bhoot wehte hier nicht mehr so sandig. Einen Teil des Staubes schluckte der immergrüne Regen­wald.

Etwas später sah er den Nilgau und vergaß in seiner Aufregung darüber das Orakel.

Der Nilgau, der auch Blaubull ge­nannt wurde, stand vor einer Ein­

buchtung des Dschungels, wo saftige Gräser wuchsen. Der Waldbock, der zu den Antilopenarten gezählt wurde, schien ein Einzelgänger zu sein, oder er hatte sich von der Herde abgeson­dert. Unbekümmert äste er und wandte nur hin und wieder den rind­ähnlichen Schädel.

Thaki blieb wie erstarrt stehen. Ho­hes Gras verbarg ihn vor den Blicken des Nilgau, und auch der staubige Wind stand günstig für ihn. Der Bulle konnte ihn nicht wittern.

Sehr vorsichtig pirschte er sich an. Messer, Sack und Haken legte er auf den Boden, um die Hände für den Speer frei zu haben.

Der Nilgau konnte ihn auf keinen Fall wittern, und doch hörte er ganz plötzlich mit dem Äsen auf. Der rind­ähnliche Schädel hob sich, die Augen blickten erstaunt und verwirrt zu­gleich.

Thaki blieb immer noch wie erstarrt stehen. Er blickte sich nur aus den Augenwinkeln mißtrauisch um und wunderte sich über den Blau­bull, der noch mißtrauischer als er zu sein schien.

Das Tier schien doch etwas gewit­tert zu haben, traute sich aber noch nicht, zu flüchten. Es stand jetzt un­entschlossen da. Die stark abfallen­den Hinterläufe zitterten ein wenig.

Das Gras, in dem Thaki stand, be­wegte sich wie Wellen, als der Bhoot stärker darüber strich. Wie eine , Woge rauschte es auch, die der Wind vor sich hertrieb. Dabei bogen sich manche Gräser bis tief auf den Bo­den.

Der geduckte Schädel fiel in dem Gras daher kaum auf, weil er fast die

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gleiche Farbe hatte. Thaki sah erst die Streifen und schließlich die Au­gen.

Sie waren bernsteinfarben und blickten ihn ruhig an. Der Tiger sah direkt friedlich aus, und er erweckte außerdem den Eindruck, als könne er keinem Menschen etwas zuleide tun.

Der Anblick dieser Großkatze lähmte ihn. Er hatte den Speer halb erhoben, vermochte ihn aber nicht zu bewegen.

Deutlich sah er das rechte Ohr des großen Tigers, der geduckt im Gras lauerte und es wohl auch auf den Nil­gau abgesehen hatte.

Von dem rechten Ohr fehlte ein handtellergroßen Stück.

Kein Zweifel - es war Sudar, der Menschenfresser!

Auf der anderen Seite schien der Nilgau etwas gemerkt zu haben. Noch einmal hob er den Schädel. Dann ra­ste er plötzlich davon und ver­schwand hinter der Einbuchtung des Dschungels.

Thaki war mit dem fürchterlichen Raubtier allein. Die Großkatze hatte nur einmal ganz kurz den Schädel ge­wandt, als der Nilgau flüchtete. Zu­erst sah es aus, als wollte sie hinter­herjagen, doch sie überlegte es sich anders.

Diese Beute konnte ihm nicht ent­gehen, das wußte der Tiger, der über die Zweibeiner eine Menge Erfah­rung gesammelt hatte.

Thaki drehte den Speer jetzt unend­lich langsam in Richtung des Tigers, der ihn unverwandt anstarrte. Er wußte, daß er kaum eine Chance hatte, denn er zitterte so stark, daß er den Speer kaum halten konnte.

Ebenso unendlich langsam wich er einen Schritt zurück, gleich darauf ei­nen weiteren.

Er hatte nur dann eine Chance, wenn es ihm gelang, den äußeren Rand des Dschungels zu erreichen. Dort gab es so viele Bäume, daß er auf einen flüchten konnte. Doch bis zum Dschungel waren es mindestens zweihundert Schritte.

„Zerstöre ihn, Schiwa", flehte Thaki mit versagender Stimme. „Du hast mir immer geholfen, hilf mir auch jetzt."

Ein neuerlicher Windstoß durch­kämmte das Gras und ließ es wieder wie eine heranrollende Woge rau­schen.

Der Tiger blieb unbeweglich ste­hen, als sei er eine Attrappe. Auch die Augen blickten friedlich und ruhig.

Vielleicht will er gar nichts von mir, dachte Thaki nach dem fünften oder sechsten Schritt. Es kann ja sein, daß er erst kürzlich Beute gerissen hat und nun satt ist.

Die Angst saß ihm übermächtig in den Knochen, und bei jedem kleinen Schritt rückwärts zitterte er stärker, bis er sich vor Angst kaum noch auf den Beinen halten konnte.

Jetzt hatte er etwa zehn Schritte zu­rückgelegt, als sich der mächtige Schädel mit dem zerfetzten Ohr ruck­artig bewegte.

Sudar tat zwei schnelle Sätze und kauerte sich dann ins Gras, sein Opfer dabei wieder unverwandt an­starrend.

Damit hatte er mühelos die Distanz zurückgelegt, die auch Thaki in sei­ner Angst geschafft hatte.

Schweiß perlte in dicken Tropfen

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von seiner Stirn. Sein Atem ging flach. Gehetzt sah er sich nach einer Möglichkeit um, noch schneller zu entwischen.

Es gab keine, höchstens die, daß er losrannte. Aber gerade das würde den Tiger vielleicht reizen, wenn er flüchtete.

Das alte Spiel wiederholte sich. Ein paar tastende Schritte zurück, wieder ein paar, bis die Distanz schon fast zwanzig Meter betrug.

Der Tiger erhob sich aus seiner kauernden Stellung und tat zwei schnelle Sprünge, als wolle er mit dem Inder Katz und Maus spielen.

Das hielten Thakis Nerven nicht mehr durch. Sein Körper war in Schweiß gebadet, seine Knochen aus Gummi, und im Schädel hämmerte es wie verrückt. Seine Nerven vibrier­ten, und er drehte durch.

Er warf den Speer weg, drehte sich um und stieß einen wilden Schrei der Angst aus. Gleichzeitig rannte er los, und er rannte so schnell wie noch nie in seinem Leben.

Vor sich sah er den rettenden Wald, zum Greifen nahe, und doch so un­endlich weit entfernt für einen Mann in seiner Lage. Während er laut schreiend um sein Leben rannte, wa­ren alle seine Sinne ganz besonders empfindlich und wach. Er hörte den Tiger - oder glaubte ihn zu hören, wie er durch das Gras raste.

Mit letzter Kraft drehte er sich um und wandte schnell den Kopf. Er hatte sich getäuscht.

Sudar war mehr als fünfzig Schritte entfernt und äugte wie inter­essiert in seine Richtung.

Thaki ließ mit einem wilden Schrei

die Luft aus seinen Lungen. Nur noch zwanzig, dreißig Schritte, dann war er im Dschungel.

Das war der Augenblick, in dem Su­dar zum Sprung ansetzte. Der Tiger duckte sich und fegte los, geschmei­dig, unglaublich schnell und vor Kraft strotzend. Fast spielerisch legte er die Strecke mit ein paar schnellen Sätzen zurück.

Diesmal trogen Thakis Sinne nicht, als er abermals gehetzt den Kopf wandte.

Die große, gefährliche Katze raste heran. Es gab kein Entrinnen und kein Ausweichen mehr. Die Distanz schrumpfte schneller zusammen, als Thaki denken konnte.

Er versuchte noch, sich zur Seite zu werfen. Dabei sah er den Tiger immer größer und riesiger werden, sah das fürchterliche Gebiß und die breiten und starken Pranken, die wie Keulen durch die Luft hieben.

Mit einem wilden Knurren er­reichte ihn der erste Prankenhieb und wirbelte ihn durch die Luft.

Thaki fühlte einen stechenden Schmerz durch seinen Körper rasen, einen so wilden Schmerz, daß er ihm fast die Besinnung raubte.

Er schrie laut und gellend, in der Hoffnung, Sudar möge dadurch er­schrecken und von ihm ablassen. Doch was der riesige Tiger erst ein­mal in den Pranken hatte, das ließ er auch nicht mehr los.

Ein zweiter Prankenhieb fuhr über seinen schmerzenden Rücken und riß ihm die Haut auf. Diesmal schrie Thaki instinktiv. Und ganz plötzlich erwachte so etwas wie Kampfgeist in ihm.

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Er wollte nicht von diesem blutrün­stigen Monster gefressen werden.

In seiner Todesangst entwickelte er erstaunliche Kräfte und mobilisierte Reserven, die er selbst nicht für mög­lich gehalten hätte.

Trotz seiner unerträglichen Schmerzen wirbelte er herum und fetzte dem Tiger beide Hände wie Krallen durch die Augen.

Ein fürchterliches Fauchen war die Antwort. Die große Katze fuhr brül­lend zurück, schlug dann aber wieder zu.

Thakazhi Pillai wurde von einem mörderischen Hieb getroffen. Der Prankenschlag war so gewaltig, daß er ihm augenblicklich das Genick brach.

Der Tiger schleppte seine menschli­che Beute ein paar Schritte weiter und stürzte sich voll Heißhunger auf sie.

2.

In dem kleinen Dorf herrschte Auf­regung, als Thaki auch am zweiten Tag nicht zurück war.

Der Dorfälteste meinte, man müsse wohl das Schlimmste annehmen und befürchten, daß Thaki von dem ge­fährlichen Menschenfresser Sudar angefallen worden sei.

Daraufhin erlitt Kama einen Ohn­machtsanfall und begann später laut klagend durch den Ort zu rennen.

„Sudar hat sich wieder ein Opfer geholt", raunten die Einwohner des kleinen Ortes, und die meisten ver­krochen sich vor Angst in ihren Hüt­ten.

Eine Handvoll mutiger Männer zog jedoch am frühen Morgen los, um nach Thaki zu suchen. Bewaffnet wa­ren sie mit alten, schartigen und rosti­gen Säbeln, Holzkeulen oder Dresch­flegeln.

Trauer, Angst, aber auch Empö­rung über diese Bestie trieben sie vor­wärts. Sie hatten auch Taue dabei, um Tigerfallen anzulegen, denn Su­dar war ein schlaues Tier, das sich beim Auftauchen mehrerer Men­schen erst gar nicht zeigte.

Wo Thaki immer zu jagen pflegte, wußten sie ungefähr. Es war das Ge­biet, wo die Nilgaue grasten und sich die Bankivahühner herumtrieben.

Schon ein paar Stunden später stie­ßen sie auf die erste Spur. Abdrücke eines großen Körpers waren im Gras zu sehen, dann die gewaltigen Pran­ken, die der Tiger im feuchten Ge­lände hinterlassen hatte.

„Hier hat er sich angeschlichen", sagte einer der Inder.

„Dann müßten wir auch Thakis Spuren finden."

Sie bewegten sich jetzt vorsichtig durch das Gelände und blickten im­mer wieder zum Rand des Dschun­gels hinüber.

Dort war kaum noch ein Geräusch zu hören. Auch Nilgaue oder Hühner waren nicht zu sehen. Die Tierwelt schien wie gelähmt zu sein und ver­harrte in Schweigen.

Kurz darauf fanden sie auch Tha­kis Spur und die Sachen, die er weg­geworfen hatte. Hier mußte er den Ti­ger erblickt haben.

Zwei Männer gingen der Spur nach, die anderen blieben sichernd zurück und beobachteten.

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Plötzlich blieb der eine so abrupt stehen, daß der andere unsanft gegen ihn prallte. Entsetzt sahen sie auf den Boden.

„Bei allen Geistern! Hier hat Sudar zugeschlagen."

Der andere schluckte hart. Schnell schloß er für einen Augenblick die Augen.

Hier hatte ein fürchterlicher Kampf stattgefunden, ein Kampf zwischen Mensch und Raubkatze. Blutspritzer bedeckten die Gräser. Ein paar schwarze Haare waren zu se­hen.

Der Tiger hatte sein Opfer ein paar Schritte weitergeschleift und war dann über Thaki hergefallen.

Sie fanden einen Knochen von sei­nem Oberschenkel, und etwas weiter einen Teil des linken Beines, das in einer getrockneten Blutlache lag.

Die anderen kamen herüber, er­schüttert, aber auch ängstlich. Mit ge­senkten Köpfen betrachteten sie das, was von Thaki noch übrig war.

Einer der schweigsamen Wächter wickelte die Überreste in einen Fet­zen Tuch.

„Was jetzt?" „Wir werden diese Bestie jagen und

Fallen aufstellen." „Sudar ist noch nie in eine Falle ge­

gangen. Und gejagt haben wir ihn bis­her immer vergeblich."

„Einmal erwischen wir ihn", ver­sprach der eine grimmig. „Sonst rot­tet er noch das ganze Dorf aus."

Für Thaki konnten sie nichts mehr tun. Aber sie konnten möglicherweise verhindern, daß dem Tiger weitere Menschen zum Opfer fielen. Daher begannen sie mit dem Anlegen von

Fallen. Vielleicht war es wieder ver­gebliche Mühe, doch sie mußten es versuchen.

Sie hoben eine Grube aus, spitzten mit ihren schartigen Säbeln Pfähle an und rammten sie in den tiefen Bo­den der Falle. Es war ein Pfad, den der Tiger oftmals benutzte.

Bei der Arbeit gingen sie sehr sorg­fältig vor. Die Falle wurde so gut ge­tarnt, daß ein menschliches Auge sie nicht entdeckte. Gras wurde dar­übergelegt, ein paar Äste und größere Zweige.

Die zweite Falle wurde ebenfalls dort angelegt, wo Sudar sich vorzugs­weise aufhielt. Mit Ködern konnten sie nicht dienen, aber sie hofften dar­auf, daß Sudar über den Pfad jagte und so in eine der Fallen unerwartet einbrach.

Die dritte Falle bestand aus einer großen Hanfschlinge, die um einen herabgebogenen Baum geschlungen wurde. Das waren hier die üblichen Tigerfallen, die oftmals wirkungsvol­ler als die Gruben waren.

Geriet der Tiger mit einer Pranke in die Schlinge, dann zog sie sich blitzschnell zu, und der junge Baum schnellte in die Höhe. Der Tiger hing dann mit einer Pranke so fest, daß er sich nicht mehr befreien konnte.

Insgesamt legten sie fünf Fallen an. Anschließend suchten sie noch länger als eine Stunde nach dem Räuber. Doch seine Spuren verloren sich wie immer in der Tiefe des Dschungels.

„Wir gehen jeden Tag hinaus und sehen nach", sagte einer der Männer. „Und wenn er in eine der Fallen ge­gangen ist, werden wir im Dorf ein

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großes Fest feiern und sein Fleisch an die Hunde verfüttern."

Doch auch drei Tage später war Su­dar noch in keine der Fallen gegan­gen, obwohl wieder deutlich seine Spuren zu sehen waren. Er war zu­mindest ebenso schlau wie die Men­schen, die ihn jagten.

*

Bei den Arwenacks herrschte eine Stimmung wie schon lange nicht mehr, seit sie wieder zurück in Ma­dras waren.

Fast alles hatte sich ins Gegenteil verkehrt. Sie waren keine Sklaven mehr, die angekettet auf der Galeere schuften mußten. Sie waren freie Männer, die hoch in der Gunst des Sultans von Golkonda standen. Man achtete und respektierte sie, seit es ihnen gelungen war, den Schatz für den große Akbar zurückzuerobern.

Der Sultan war die Freundlichkeit in Person, äußerst höflich, zuvorkom­mend und las ihnen jeden Wunsch von den Augen ab.

„Er scheint ein fürchterlich schlechtes Gewissen zu haben", sagte Hasard zu Ben Brighton.

Sie standen auf dem achteren Deck der Schebecke und sahen dem bunten Treiben im Hafen von Madras zu.

„Kein Wunder", brummte Ben. „Erst hat er uns als Diebe, Piraten und Halunken bezeichnet, dann auf seine Galeere gezwungen, angekettet und geschunden. Der Gute war ein bißchen voreilig. Ich an seiner Stelle hätte auch ein schlechtes Gewissen. Immerhin haben wir ihm ja bewie­sen, was wir können, und er hat auch

eingesehen, daß es eine recht peinli­che Verwechslung war, der wir zum Opfer fielen. Wenn du jetzt seinen Pa­last verlangen würdest, ich glaube, er würde keinen Augenblick zögern, ihn dir samt Inhalt zu schenken."

Der Seewolf lachte leise. „Ich bin in der Hinsicht sehr be­

scheiden. Mir genügt die Schebecke oder unsere alte ,Isabella'. Was soll ich auch mit einem Palast im Landes-innern von Indien?"

„Wir könnten uns zur Ruhe setzen und von vorn und hinten bedienen lassen", sagte Ben ernst. „Schließlich gerät man ja irgendwann in die soge­nannten gesetzten Jahre."

„Mittags aufstehen", murmelte Ha­sard, „den Tag mit Spielen vertrö­deln, vielleicht auf die Jagd gehen und abends große Feste feiern. Wie lange würdest du das aushalten?"

„Mindestens drei Tage, dann hätte ich die Nase voll. Nein, das wäre nichts für uns. Dazu sind wir ganz einfach nicht geboren."

„Sehr richtig." Auf der pompösen Galeere des Sul­

tans mit dem klingenden Namen „Stern von Indien" waren bereits alle Männer an Deck.

Es war früher Morgen, und die Sonne brannte schon wieder mit je­ner erbarmungslosen Heftigkeit nie­der, die sie in Madras zur Genüge kannten.

Nur der Sultan war noch nicht zu sehen, wie Hasard lächelnd fest­stellte. Seine Hoheit beliebten immer lange und ausgiebig zu schlafen.

Die Männer des Sultans waren al­lerdings bereits aktiv gewesen. Schon gestern, gleich nach der Ankunft der

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Galeere, waren etliche von ihnen auf­gebrochen, um Elefanten zu holen, auf die der Gold- und Silberschatz des Ischwar Singh aus Bombay verla­den werden sollte.

Sie hatten sie in Madras geholt und würden sie nach ein paar Tagen wie­der zurückgeben.

Hasard sah, daß ein halbes Dutzend bereits antrabten und mit ihren Ma-hauts auf die Pier zuhielten.

Mac Pellew und der Kutscher be­gannen ihren Morgen mit der übli­chen Kombüsenroutine. Sie bereite­ten das Frühstück, und wie immer half ihnen dabei der Moses Clint Wingfield.

Einmal sah Mac zu den Elefanten hinüber, die im Schatten an einer Stelle standen, wo der Dschungel­rand begann. Sein Blick wurde rich­tig versonnen und träumerisch.

„So ein Elefantchen müßte man mal auf den Speisezettel setzen", meinte er. „Das läßt sich in handliche Stücke zerlegen und bereitet nicht so­viel Arbeit. Jeder erhielte einen Brok-ken und wäre tagsüber völlig satt. Stell dir nur mal vor, was dieser Ach­tersteven für ein großes Stück herge­ben würde. Ob ich mal den Sultan fra­gen soll? Ich meine natürlich nur an­deutungsweise oder so."

„Du hast vielleicht einen sonnigen Humor. Untersteh dich bloß", sagte der Kutscher. „Diese Elefanten sind hochgeschätzte Arbeitstiere, die haut man nicht in die Pfanne."

„War ja nur ein Vorschlag", sagte Mac säuerlich. „Paddy hätte ihn si­cher mit Begeisterung aufgenom­men."

„Das kann ich mir lebhaft vorstel­

len. Für Paddy hätte ein Elefant zum Mittagessen auch gerade gereicht."

„Wenn das Fest steigt", sinnierte Mac weiter, „das der Sultan uns ver­sprochen hat, gibt's bestimmt auch Elefanten, um all die Leute satt zu kriegen."

„Zum Nachtisch, was?" höhnte der Kutscher. „Hör jetzt bloß auf zu spin­nen und geh an deine Arbeit."

Mac bereitete ziemlich grämlich das Frühstück zu und war etwas ver­biestert, daß sein Vorschlag keine weltweite Anerkennung fand.

Die Hitze nahm noch zu, als sie schließlich an Deck saßen und kräftig zulangten.

Vom fernen Markt und dem kleinen Bazar lärmten die Händler herüber. Alles schien ruhig und friedlich zu sein, und doch hatte es gerade in die­ser scheinbaren Idylle eine Menge Är­ger gegeben, als die Hafenratten von Madras die Schebecke überfielen.

Jetzt hatte sich die Bande in alle Winde zerstreut. Seit die „Stern von Indien" hier lag, ließ sich sowieso nie­mand mehr blicken, denn der Sultan pflegte mit solchen Bastarden nicht gerade sanft umzugehen. Meist wur­den sie kurzerhand geköpft oder auf­gehängt.

„Ein paar von uns müssen an Bord zurückbleiben", sagte der Seewolf. „Seine Hoheit hat bereits angedeutet, daß ein großes Fest steigen soll, das vermutlich in Kanchipuram stattfin­det, wie ich annehme. Bis dahin sind es zwei Tagesmärsche mit den Ele­fanten. Hat jemand die Absicht, an Bord zu bleiben, bis die anderen wie­der zurück sind? Ich möchte nicht gern ein paar Männer dazu verdam-

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men, aber vielleicht gibt es Freiwil­lige, die kein Interesse haben."

Der alte Segelmacher Will Thorne meldete sich als erster.

„Ich bleibe an Bord, Sir. Für mich ist das nichts", sagte er mit einem be­scheidenen Lächeln.

Paddy Rogers streckte schon etwas voreilig die Hand hoch, zog sie dann aber beschämt und sehr schnell wie­der zurück. Ihm fiel gerade ein, daß ein Fest auch mit einer riesigen Tafel voller Köstlichkeiten verbunden war, und diesen Schmaus wollte er sich nicht entgehen lassen. Verlegen sah er zu Boden, als die anderen grinsten. Sie hatten seine Gedanken längst er­raten.

Batuti meldete sich ebenfalls, und auch Big Old Shane hielt es für ange­brachter, auf der Schebecke zu blei­ben.

Old Donegal tippte sich auf die Brust.

„Bleibe auch hier", sagte er. „Für einen langen Marsch durch den Dschungel habe ich nichts übrig. Dann klopfe ich lieber den Hafenrat­ten auf die Finger, falls die wieder auftauchen."

„Wohl kaum", sagte Hasard. „Die Galeere wird nämlich mit Sicherheit in Madras zurückbleiben."

„Paddy wollte wohl auch zurück­bleiben", sagte der Profos und grinste hinterhältig. „Oder hast du nicht eben deine Gichthaken in die Luft ge­streckt?"

„Gichthaken?" stammelte der knubbelnasige Paddy verstört. „Ach so, du meinst meine Hände, Mister Profos. Das muß einer aber erst mal verstehen."

„Kann's auch auf lateinisch sagen", erklärte Carberry ungerührt. „Dann heißt es nämlich arthritis harpago. Habe ich im schlauen Buch vom lie­ben Kutscherlein nachgelesen."

„Um Gottes willen", sagte der Kut­scher entsetzt. „Laß das bloß keinen hören, Gicht in den Händen heißt chi-ragra und harpago ist nichts anderes als ein Enterhaken. Das paßt doch gar nicht zusammen. Da hast du wieder was in den falschen Hals gekriegt."

„Haut doch bei Korsaren genau hin", erwiderte der Profos trocken. „Die haben doch alle Enterhaken."

„Wie du meinst, Ed", sagte der Kut­scher erschlagen. „Dann hat er eben Arthritis im Enterhaken, was soll's? Im Prinzip ist das dann also doch ein Gichthaken."

„Sag ich doch die ganze Zeit." Paddy stand immer noch sehr verle­

gen herum und rieb seine Knubbel-nase.

„Gut, dann bleibe ich auch hier", sagte er entsagungsvoll.

Doch Hasard winkte ab. „Dann würde dir ein Festessen entgehen, Paddy, und das kann ich nicht verant­worten."

Schließlich meldete sich noch etwas schüchtern Clint Wingfield.

Aber auch da winkte der Seewolf ab. Das Bürschchen hatte in seinem kurzen Leben noch nicht viel Freude erfahren, hatte schuften müssen wie ein Erwachsener und dazu noch Prü­gel bezogen.

,,Du gehst mit, Clint", sagte Hasard kurz. „Eigentlich reichen vier Mann aus, um das Schiff zu bewachen. Es ist nicht anzunehmen, daß sich ein der­artiger Vorfall wiederholt"

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Als sich noch weitere Männer mel­deten, schüttelte Hasard den Kopf.

„Vier Mann genügen", wiederholte er. „Abgesehen davon, daß die Ga­leere vorerst hier liegenbleibt, wer­den sich die Inder gegenseitig auf die Finger sehen."

Er drehte sich um, als Dan O'Flynn mit dem Daumen über die Schulter zeigte.

„Der Galeerenkapitän will uns si­cher seinen Gruß entbieten. Oder er überbringt die Einladung zum indi­schen Frühstück."

„Dann hat er sich leider etwas ver­spätet."

Der Inder, der sich Rameshand nannte, hielt mit einem weiteren Mann auf die Schebecke zu.

Noch vor kurzer Zeit hatte er die auf der Galeere angeketteten Arwe-nacks ziemlich mies behandelt. Das hatte sich allerdings schlagartig ge­ändert, als sie den Schatz des Akbar wieder an Bord hatten.

Er grüßte freundlich, aber nicht un­terwürfig.

„Wir haben die Elefanten beisam­men, Sir Hasard", sagte er. „Seine Ho­heit, der Sultan von Golkonda, ent­bietet Euch seinen Gruß. Wir wollen unverzüglich mit dem Beladen begin­nen, darüber möchte ich sie unter­richten. Gleichzeitig bittet Seine Ho­heit Sie zu einem Besuch an Bord der Galeere."

„Dankend angenommen", sagte Ha­sard. „Es wird wohl schneller gehen, wenn einige meiner Leute beim Bela­den helfen."

Hasard dachte dabei an die Galee­rensklaven, die ohnehin genug hatten schuften müssen. Wenn sie ihnen ein

wenig Arbeit abnahmen, würde das eine große Erleichterung sein. Das Beladen der Elefanten wurde dabei gleichzeitig auf viele Männer verteilt, und niemand mußte sich sonderlich abplagen.

Rameshand nickte erfreut. Inzwischen trabten noch mehr Ele­

fanten an. Sie waren nicht feierlich geschmückt wie die Elefanten des Sultans. Es waren große, graue Ko­losse, die man zur Arbeit abgerichtet hatte. Neunzehn Tiere zählte der See­wolf, und ein paar weitere waren auf den Feldern vor Madras bereits als Staubwolke zu erkennen.

Ferris Tucker stieß hörbar die Luft aus, als die beiden Inder wieder zur Galeere zurückgingen.

„Bin mal gespannt, wie oft wir das Zeug noch umstauen müssen. Es ist fast unglaublich, wie viele Male wir es schon in den Händen hatten. Ein richtiger Problemschatz."

„Es wird hoffentlich das letzte Mal sein", erwiderte Hasard. „Aber ich habe unsere Hilfe im Interesse der Galeerensklaven zugesagt. Sie haben es dadurch ein wenig leichter."

„War auch nicht verärgert ge­meint", sagte Ferris. „Je mehr wir sind, desto schneller ist die Arbeit er­ledigt."

Hasard verließ etwas später mit sei­nen Mannen die Schebecke und mar­schierte mit ihnen zur Galeere hin­über.

Dabei passierten sie die grauen Ko­losse, die auf dem staubigen Weg hin­ter der Pier warteten.

Dem Seewolf entging nicht, daß ei­nige der Mahauts unruhig waren und miteinander tuschelten.

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Der Grund war offenbar einer der Elefanten, der ständig seinen Rüssel schwang und trompetete. Hin und wieder fuhr der Rüssel in den kno­chentrockenen Staub, sog eine Menge davon ein und blies sie über seinem gewaltigen Rücken wieder ab.

Es war ein großes Tier, und es wirk­te gereizt und nervös. Seine Unruhe übertrug sich allmählich auch auf die anderen Tiere.

„Fragt die Mahauts mal, warum sie den nervösen Burschen nicht abson­dern", sagte der Seewolf zu Jung Ha­sard. „Der bringt doch nur uner­wünschte Unruhe über die ande--ren."

Jung Hasard übersetzte und hörte zu, was der eine Mahaut sagte.

„Sie können ihn nicht absondern", sagte er. „Er ist der Leitbulle einer Herde, die ohne ihn verrückt spielen würden. Er ist nervös, weil er von fremden Elefanten umgeben ist."

„Hoffentlich kriegen wir keinen Är­ger mit dem lieben Tierchen", meinte der Profos, der vorsichtig von dem Bullen abrückte. Der Elefant starrte ihn aus kleinen Augen tückisch an und schlenkerte wieder seinen Rüs­sel.

„Na ja, die Mahauts sollten es wis­sen", entgegnete Hasard. „Schließlich sind sie mit den Tieren vertraut."

Hinter ihnen erklang wieder das Trompeten, zornig und laut. Der Graue schlenkerte seinen Rüssel vol­ler Wut wild hin und her, und die Ma­hauts versuchten, beruhigend auf ihn einzureden.

Der Sultan empfing sie auf dem Achterdeck, wo unter dem Baldachin noch die Reste eines opulenten Früh­stücks herumstanden. Von der Sche-becke aus war dieser Teil des Achter­decks nicht einsehbar gewesen, weil seine Hoheit hinter geschlossenen Vorhängen zu speisen beliebte.

Der Sultan war strahlender Laune, erhob sich von seinen vielen Kissen und begrüßte die Arwenacks. Seinem Gesicht war anzusehen, daß er immer noch ein schlechtes Gewissen hatte, obwohl alles längst bereinigt und sie fast Freunde waren.

„Wir haben die Elefanten beisam­men, Sir", sagte er. „Das Verladen kann unverzüglich beginnen, und ich danke Ihnen, daß Sie mir Ihre Hilfe anbieten."

„Keine Ursache", entgegnete Ha­sard. „Wir sind bestens vertraut im Umstauen der kostbaren Ladung."

Seine Hoheit hatte die Angewohn­heit, den Seewolf mal zu duzen, ihn dann Engländer zu nennen oder ihn auch als Kapitän anzusprechen. Hin und wieder rangierte er als „Sir Ha­sard". Im Moment war wieder der „Engländer" dran.

„Was ist mit diesem Elefanten, Eng­länder?" fragte er, auf das große und unruhige Tier deutend. „Hat er sich etwas in den Fuß getreten?"

„Er ist der Leitbulle einer Herde, die hier aus der Nähe von Madras stammt, wie die Mahauts sagten. Die Umgebung ist ihm fremd und die an­deren Elefanten ebenfalls. Deshalb ist er gereizt."

„Der Bulle gefällt mir nicht. Er kann alles durcheinanderbringen und viel Ärger verursachen." *

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„Leider können sie ihn nicht abson­dern, weil dann auch die Kühe nicht mehr ruhig bleiben."

„Allerdings. Haben Sie schon mal einen wildgewordenen Elefantenbul­len erlebt, Kapitän?"

„Einen richtig wildgewordenen noch nicht. Ich bin auf die Erfahrung allerdings auch nicht scharf."

„Es ist die Hölle, das kann ich Ihnen versichern."

Hasard glaubte das unbesehen und konnte sich ausmalen, was so ein Ko­loß alles anstellen konnte.

„Man müßte vielleicht die Herde zurückgeben", schlug er vor.

Der hochgewachsene Inder schüt­telte den Kopf.

„Meine Diener können keine Ele­fanten mehr auftreiben. Und aus Kanchipuram kann ich keine holen. Das würde allein zwei Tage dauern und weitere zwei Tage, bis sie hier sind. Dann aber müßten die Tiere mindestens zwei Tage ausruhen."

„Das wäre eine ganze Woche Ver­spätung."

„So ist es. Das aber möchte ich dem großen Akbar nicht zumuten. Es hat lange Verzögerungen gegeben, sehr lange, hauptsächlich durch diesen Schurken Shastri."

Die anderen Arwenacks fanden es nicht besonders aufregend, daß sich der Elefantenbulle so seltsam be­nahm.

„Die veranstalten ein Heckmeck, als stehe der Weltuntergang bevor", raunte der Profos Smoky zu. „Wäre ich der Mahaut, dann würde der Rüs­selschwinger mal kurz den Profos-hammer an den Schädel kriegen, da­

mit das liebe Tierchen wieder fried­lich wird."

„Nichts gegen deine Bärenkräfte", entgegnete Smoky grinsend, „aber der Profoshammer dürfte ihn wohl kaum beeindrucken. Möglicherweise empfindet er ihn nur als Mücken­stich."

„Wenn selbst die Mahauts schon so besorgt sind, dann muß es eine beson­dere Bewandtnis mit einem tobenden Elefanten haben", sagte Don Juan de Alcazar. „Ihre Sorge ist wahrschein­lich sehr berechtigt, und sie wird of­fenbar jeden Augenblick größer."

Inzwischen versammelten sich im­mer mehr Inder und Mahauts um den grauen Koloß, der sich so unruhig ge-bärdete.

Als einer seinen Rüssel packte und leise auf ihn einredete, schlug der Bulle mit dem Rüssel einmal kurz zu. Es sah mehr wie eine spielerische Bewegung aus, war aber alles andere als das.

Der Inder war ein mickriges Kerl­chen und nur mit einem Dhoti beklei­det. In der Hand hielt er seinen Stock mit der aufgesetzten Eisenspitze.

Als ihn jetzt der Rüssel erwischte, sauste das Kerlchen wie eine Kano­nenkugel durch die Luft. Der Schlen-ker fegte ihn sieben, acht Yards wei­ter bis auf die Pier. Dort überschlug er sich noch ein paarmal und blieb wimmernd liegen. Sie hörten sein Stöhnen bis aufs Achterdeck der Ga­leere.

Ein paar andere Inder kümmerten sich um ihn. Sie mußten ihn tragen, denn offenbar hatte er sich was ge­brochen.

„Ich werde ihn mir mal ansehen",

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sagte der Kutscher. „Das war ein un­gewöhnlich harter Schlag für den ma­geren Burschen. Fürchte, er wird sich ein paar Rippen gebrochen haben."

Auf das Zeichen des Sultans brach­ten sie den Mahaut an Bord und leg­ten ihn auf die Planken.

Der graue Koloß stand jetzt wieder ruhig da. Die Mahauts hatten sich von ihm zurückgezogen und umstan­den ihn in respektvoller Entfernung.

Der Kutscher untersuchte den In­der und stellte entsetzt fest, daß er tatsächlich mehrere Rippenbrüche hatte. Da halfen nur noch ein extrem strammer Verband und viel Ruhe. Viel mehr konnte er für ihn nicht tun. Die Zeit würde die Brüche heilen.

„Dabei sah es nur wie ein freundli­cher Schlenker aus", sagte der Kut­scher. „In Wirklichkeit war es ein Schlag wie mit einem gewaltigen Schmiedehammer."

„Er darf auf der Galeere bleiben", entschied Seine Hoheit in einer An­wandlung von Großmut, die er seinen Untertanen sonst nur selten angedei-hen ließ. „Bringt ihn ins Vordeck nach unten."

Sie trugen den Mahaut fort, der leise vor sich hinwimmerte. Immer wieder schnappte er wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Luft.

„Ich denke, wir werden heute nacht aufbrechen", sagte der Inder. „Bis zum späten Nachmittag dürfte alles auf den Elefanten verstaut sein, falls dieser Bulle nicht verrückt spielt. Wir werden ihn aber so beladen, daß er fast in die Knie bricht. Dadurch wer­den sie meist etwas ruhiger."

Die Antwort vom Land her war ein lautes Trompeten. Der Rüssel fegte

wie eine Sense nach allen Seiten. Die Mahauts flitzten nur so weg, um von dem fürchterlichen Knüppel nicht ge­troffen zu werden.

„Nun zu Ihnen und Ihren Männern, Sir Hasard", sagte der Sultan. „Wir haben ja bereits darüber gesprochen, daß im Palast von Kanchipuram gleich nach unserer Ankunft ein Fest gefeiert wird. Bis wir dort eintreffen, wird alles arrangiert sein. Ich bitte Sie daher, meine Gäste zu sein."

„Im Namen meiner Mannschaft nehme ich dankend an", sagte der Seewolf. „Es wird uns eine Ehre sein."

„Wir sprechen dann auch über die Handelsbeziehungen zwischen unse­ren Ländern", deutete der Sultan an. „Darüber haben wir uns ja ebenfalls schon kurz unterhalten. Die Feier wird etwa zwei Tage dauern, daran anschließend könnten wir noch eine Tigerjagd veranstalten. Das ist meist der Höhepunkt eines Festes."

Hasard ließ sich nichts anmerken, daß er von Tigerjagden nichts hielt. Hier galten andere Gesetze, und der Sultan hätte seine Abneigung nicht verstanden.

„Wir haben in der Tigerjagd nur wenig Erfahrung, Hoheit. Genauer gesagt, so gut wie gar keine. Ist diese Jagd ein heiliges Ritual?"

Der hochgewachsene Inder mit den kohlschwarzen Augen lachte leise. „Nein, ganz sicher nicht. Es gibt nur einfach zu viele Tiger, und aus die­sem Grund werden sie regelmäßig be­jagt, um die Art in Grenzen zu halten. Das ist jedoch nicht der einzige Grund."

„Sondern?"

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„Ich habe es auf einen ganz speziel­len Tiger abgesehen, Engländer. Ein ungewöhnlicher Tiger, der hier seit vielen Jahren sein Unwesen treibt. Alle zwanzig oder dreißig Jahre wird so ein Tiger geboren, der dann ganze Landstriche terrorisiert. So einen ha­ben wir auch. Er hat schon mehr als zwanzig Leute getötet und sehr viel Vieh gerissen. Die Bauern haben Angst, auf die Felder zu gehen, die Kinder trauen sich nicht mehr in die Wälder und auch nicht an die Vieh­tränken."

„Und es ist immer derselbe Tiger?" „Ja, er hat auch einen Namen. Sie

nennen ihn Sudar. Einem Mann soll es angeblich gelungen sein, ihm mit einem Säbel einen Teil des rechten Ohres abzuschlagen. Man hat den Ti­ger schon oftmals gesehen, aber er verschwindet wie ein Geist."

„Hat man keine Fallen augestellt?" „Man hat alles getan: ihn gejagt, ge­

hetzt, verfolgt und viele Fallen aufge­stellt. Aber Sudar geht in keine Falle, dazu ist er zu gerissen."

„Ein Menschenfresser also", sagte Hasard. „Ich habe von solchen Tigern gehört, die plötzlich Geschmack an Menschenfleisch gefunden haben. Meist sind es extreme Einzelgänger."

„Aber Sudar ist nicht zu fassen. Wer ihn mir tot bringt, erhält als Be­lohnung einen Elefanten, vollbehan-gen mit Schätzen und Kostbarkeiten aus dem Palast. Der Elefant wartet immer noch, und er wird wohl auch noch sehr lange warten müssen."

Hasard dachte jetzt etwas anders über die Tigerjagd, zumal dies offen­bar ein ganz spezieller Fall war. Na­türlich mußte man so ein Exemplar

töten, wenn es kleine Kinder oder hilflose Frauen jagte. Darum war er auch entschlossen, an der Jagd auf die Bestie teilzunehmen, wenn der Sultan es wünschte.

Aber das stand erst viel später zur Debatte. Jetzt hatten sie anderes zu tun.

Das Ausladen der Gold- und Silber­barren begann - insgesamt elf Ton­nen, die auf die Elefanten verteilt werden mußten. Das alles befand sich gut verstaut in Kisten, Fässern und Ballen.

Anfangs ließ sich alles hervorra­gend an, als Kiste um Kiste an Deck gehievt und auf die Pier gestellt wurde.

Die Mahauts führten ihre Elefan­ten dichter heran, und einer nahm sich den großen Grauen vor, der wie­der nervös wurde, als das Beladen mit den ersten Kisten begann.

Aber es schien so, als hätten die Muhauts den Grauen jetzt unter Kon­trolle.

Einer schwang sich blitzschnell auf seinen gewaltigen Rücken und igno­rierte das wütende Trompeten. Er half ebenso schnell einem anderen Mahaut nach oben. Jetzt saßen sie zu zweit auf dem riesigen Bullen und drückten ihm die eisenbewehrten Treiberhaken hinter die Ohren. Dar­aufhin verhielt sich der Leitbulle so fromm wie ein Lamm.

„Jetzt haben sie ihn offenbar in der Hand", sagte Hasard, als die ersten Kisten nach oben gereicht und festge­zurrt wurden.

Aber der Graue war ein tückischer Bulle. Er schien direkt logisch den-

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ken zu können und wollte die Ma-hauts nur in Sicherheit wiegen.

Als die allgemeine Aufmerksam­keit ein wenig nachließ, begann er ganz plötzlich, verrückt zu spielen.

3.

Smoky, der gerade eine Kiste auf­hievte und an Deck stellte, fuhr ver­stört herum.

Hinter der Pier tönte ein nervtöten­des Trompeten, so laut und grell, wie er es noch nie gehört hatte.

Der Koloß bäumte sich wild auf, riß sich los und schleuderte mit ei­nem wilden Schlenker die beiden Ma-hauts von seinem Rücken. Es half auch nicht mehr, daß sie ihm noch die Treiberhaken in die Ohren bohrten. Es stachelte seine Wut nur noch mehr an.

Der erste Mahaut flog in hohem Bo­gen durch die Luft und wurde kra­chend auf den staubigen Boden ge­schmettert. Er schrie wie am Spieß, als der Bulle mit blitzschnellen Schritten über ihn hinwegtobte.

„Oh, mein Gott", sagte Smoky. „Jetzt dreht er ganz durch."

Der Sultan, der dicht neben dem Seewolf stand, wurde merklich blaß und schluckte krampfhaft.

Dieser Mahaut wurde regelrecht von den walzenförmigen Riesenbei­nen zertrampelt. Reglos und blutend blieb er im Staub liegen.

Der zweite Mahaut hatte etwas mehr Glück. Er wurde gegen eine Palme geschleudert und bewegte sich kriechend vorwärts, um dem Gefah­renbereich zu entwischen. Seine Nase

blutete, und in seinen Augen stand nackte Angst, als das Ungetüm an ihm vorbeitobte.

Die beiden Kisten, noch nicht fest genug verzurrt, wurden losgerissen und krachten auf den Boden. Dort zerplatzten sie, und etliche Silberbar­ren fielen heraus.

Der Koloß drehte sich um, als suche er nach einem geeigneten Gegner, aber die Treiber und Helfer waren be­reits in blinder Panik nach allen Sei­ten davongestoben und waren auch durch die Zurufe einiger Soldaten nicht mehr zur Umkehr zu bewegen. Offenbar kannten sie amoklaufenden Elefanten zur Genüge.

Jetzt ließ der Graue seine Wut an der Palme aus, die ihm im Wege stand. Er senkte den großen Schädel und rammte sie voller Zorn. Ein Ha­gel von Kokosnüssen prasselte auf ihn nieder. Die Palme bog sich und knickte um, als hätte sie ein Hurrikan umgerissen.

Hasard glaubte zu sehen, daß die Augen des Leitbullen jetzt rot vor Wut waren.

Er drehte sich wieder blitzschnell um und rannte zwei Indern nach, die brüllend vor ihm flohen. Dabei ent­wickelte der Elefant eine Geschwin­digkeit, die keiner der Arwenacks auch nur annähernd vermutet hätte.

Ein Inder schlug sich angstvoll kreischend in die Büsche. Der andere schaffte es nicht mehr.

Der Rüssel hieb zu, umschlang ihn, hob ihn spielerisch leicht wie eine Puppe hoch und schmetterte ihn dann zu Boden. Der Angstschrei erstarb abrupt in höchster Tonlage.

Zum Glück blieben die anderen

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Elefanten relativ ruhig, sonst hätte es in und um Madras eine Massenpanik gegeben. Sie blickten dem Treiben ihres verrückt spielenden Artgenos­sen fast neugierig zu, griffen aber selbst niemanden an.

„Das Tier muß erschossen wer­den!" rief der Sultan. „Es ist bösartig und unberechenbar. Ziehen Sie Schützen zusammen, Rameshand."

Der Kapitän der Galeere, ebenfalls bleich und fassungslos, gab in seiner Sprache ein paar schnelle Befehle.

Inzwischen entdeckte der Graue ein paar andere Kisten am Boden und bearbeitete sie mit Brachialgewalt, indem er mit seinen säulenförmigen Beinen darauf herumtrampelte.

Die Kisten zerbarsten und gaben ihren Inhalt preis - Goldbarren, die der Koloß wütend nach allen Seiten schleuderte.

„Schützen aufs Vordeck!" schrie Rameshand wild.

Ein halbes Dutzend Inder, in der Uniform der höfischen Soldaten, stürmten nach vorn und stellten die Gabelstützen auf.

Die Arwenacks sahen fassungslos zu, wie der Leitbulle immer mehr in Wut geriet.

Da er keine Gegner mehr hatte, raste er in einem irrsinnigen Tempo auf die Galeere zu, um sie zu attackie­ren.

„Feuert endlich!" schrie der Sultan von Golkonda.

Er wich ein paar Schritte zurück, als sich der Graue der Galeere nä­herte und mit dem Rüssel nach der großen Laufplanke hieb. Das Gelän­der zersplitterte wie bei einem Kugel­einschlag. Ein paar Trümmer nahm

er mit dem Rüssel auf und schlen­kerte sie in die Luft.

„Der wird doch nicht an Bord en­tern", sagte Blacky entsetzt. Auch er sprang schnell ein paar Schritte zu­rück.

Das war der Augenblick, in dem der Bulle mit gesenktem Schädel gegen die Bordwand der Galeere an­rannte.

Der Stoß war so gewaltig, daß das ganze Schiff erzitterte. Der Ruck ver­lief von vorn bis achtern durch die „Stern von Indien". Ein paar Planken knackten verdächtig.

Erst jetzt feuerten drei Inder ihre Musketen ab. Sie hatten kein Ziel gefunden, weil sich der Bulle rasend schnell bewegte.

Drei Schüsse krachten fast gleich­zeitig. Rauch wölkte vor den Läufen auf, drei andere Schützen rückten vor.

Die erste Kugel traf den Koloß in das linke Schulterblatt, die zweite erwischte ihn unterhalb seines Knie­gelenkes, und die dritte schien ihr Ziel verfehlt zu haben.

Es waren grobe Bleigeschosse, ab­gefeuert aus einer Distanz von höch­stens fünfzehn Yards.

Das Tier blieb stehen. Seine rotun­terlaufenen Augen sahen die Männer bösartig an. Dunkles Blut sickerte aus der Wunde im Schulterblatt.

Urplötzlich stieg der Gigant in die Höhe, als wolle er an Deck springen. Männer wichen aufschreiend zurück. Der Rüssel wischte voller Wut über die Verschanzung und umschlang ei­nen der Schützen, der über seine Gabelstütze fiel.

Wie ein Spielzeug wurde der Mann

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angelüftet, durch die Luft gewirbelt und auf den sandigen Boden ge­schmettert. Der Elefant trampelte auf ihm herum, bis er nur noch eine unkenntliche Masse war.

Allen saß das Entsetzen vor dem tobsüchtigen Bullen jetzt in den Glie­dern.

Hasard riß seinen Radschloßdreh-ling heraus, steckte ihn dann aber wieder verbissen ein. Der Drehling war nichts als ein lächerliches Spiel­zeug gegen dieses Monstrum. Ein Treffer würde seine Bösartigkeit nur noch weiter steigern.

Die beiden anderen Treffer hatten nichts bewirkt, sie reizten den Bullen nur bis zur Weißglut.

Unter seinem gewaltigen Tritt brach der Handlauf des Schanzklei­des mit berstendem Knall. Der Rüs­sel schlug mit wilder Wut zu.

Diesmal war es Ferris Tucker, der dem Hieb gerade noch entging, indem er sich abduckte, auf die Planken fal­len ließ und blitzschnell zur Seite rollte. Haarscharf vor seinem Gesicht knallte der Rüssel hart auf die Plan­ken.

Der Bulle schrammte mit seinem Rücken an der Bordwand entlang. Dabei stieß er ein fürchterliches Brül­len aus, das die anderen Elefanten aufscheuchte.

Zwei Kühe nahmen Reißaus und stürmten auf den nahen Dschungel zu. Dort blieben sie erregt stehen und wiegten die Köpfe.

Hasard wollte schon erleichtert auf­atmen, da fuhr der Bulle aber blitz­schnell herum und donnerte seinen Schädel gegen die Bordwand. Mit dem Rüssel umschlang er dabei einen

Teil des Handlaufs und riß ihn mühe­los heraus.

Zwei Schüsse aus den Musketen krachten und übertönten das Split­tern von Holz.

Ein Bleibrocken traf den Rüssel, und diesmal schien der Koloß wilde Schmerzen zu empfinden. Wieder stieg er auf die Hinterbeine und riß das Maul auf. Als er zurückkippte, zersplitterte unter seinen mächtigen Beinen der Laufsteg und brach zu­sammen.

„Jetzt sehen Sie, was ein tobsüchti­ger Bulle anstellen kann", sagte der Sultan tonlos. „Auf der ganzen La­dung scheint ein Fluch zu liegen. Sie ist verdammt. Es passiert immer wie­der etwas."

„Das scheint mir fast auch so", sagte Hasard gallig.

Seine letzten Worte wurden wieder von dem bestialischen Krachen über­lagert, als der Bulle wütend gegen die Galeere stürmte. Die Planken erzit­terten unter seinem Anprall.

Das Tier hatte sich in Raserei ge­steigert und gab keine Ruhe mehr. Beängstigend war vor allem die Schnelligkeit des Bullen, der sich mit­unter wie rasend um seine eigene Achse drehte.

„Der bringt es fertig und zertrüm­mert die Galeere", sagte Bill, der mit offenem Mund den wilden Angriffen zusah.

Carberry, der vorher noch groß her­umgetönt hatte, blieb angesichts die­ses rasenden Elefanten glatt die Sprache weg. Er mußte sich kläglich eingestehen, daß es hier mit dem Pro-foshammer wohl nichts war, selbst wenn er ihn hundertmal hintereinan-

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der abgefeuert hätte. Gegen diesen Dickschädel war kein Kraut gewach­sen.

Er zuckte zusammen, als der näch­ste Anprall erfolgte. Diesmal hatte sich der Leitbulle eine Stelle am Ach­terdeck ausgesucht, die weit über­kragte.

Die Männer bedauerten lebhaft, daß sie nicht an der hölzernen Pier lagen, denn dann wäre die Attacke längst vorbei, und der wütende Riese im Wasser gelandet.

Hier aber war harter Untergrund, in den man ein paar Holzpoller ge­rammt hatte. Da konnte selbst ein tonnenschwerer Koloß nicht einbre­chen.

Die Galeere erzitterte bis ins Kielschwein. Die Masten schwank­ten, und es knackte auch wieder ver­dächtig.

Die riesige Hecklaterne brach mit einem Knall, knickte ab, schlug ach­tern auf den verlängerten Ruder­schaft auf und zerplatzte in tausend Scherben, die wie eine Wolke ins Wasser regneten.

Dem Bullen schien sein Zerstö­rungswerk regelrecht Freude zu be­reiten, als rings um ihn herum die Fetzen flogen.

Laut trompetend raste er an der Galeere vorbei und nahm Kurs auf die Schebecke, die an der Holzpier lag.

„Da wird er keine Freude dran ha­ben", sagte Carberry mit einem hoff­nungsvollen Grinsen. „Der schwimmt schneller im Bach, als er denken kann."

Ferris konnte das nur bestätigen. „Die Pier hält das Gewicht nicht

aus, vor allem nicht, wenn er so wild darauf herumtrampelt."

„Bist du sicher?" fragte der See­wolf. „Unser Schiff ist etwas leichter als die Galeere. Wenn er die attak-kiert, gibt's Kleinholz."

Der Bulle stürmte unterdessen rüs­selschwingend und trompetend wei­ter und blieb erst dicht vor der Pier stehen.

4.

„Der scheint wirklich Verstand zu haben", sagte Smoky. „Es scheint, als überlege er sehr genau, ob er sich auf die Pier wagen soll."

So war es tatsächlich. Der Bulle war nicht unschlüssig, er schien nur zu überlegen, auf welchen Unter­grund er sich begab. Von einem Au­genblick zum anderen war er auch ruhiger geworden, doch er setzte gleich darauf sein Zerstörungswerk fort.

Zuerst schlug er probehalber mit dem Rüssel nach einem aus dem Was­ser ragenden Balken. Dieser Balken war nicht mehr ganz neu und mit einem Teil der Pier verbunden.

Das Monstrum wackelte daran, bis der Balken wie ein großer Zahnsto­cher aussah und zweimal abbrach. Der Rüssel umschlang die Reste und zog sie mühelos heraus. Dadurch er­zitterte der gesamte Steg, und die zu­rückgebliebenen Arwenacks auf der Schebecke hielten die Luft an. Sie hatten ja gerade miterlebt, zu was dieser Koloß fähig war.

Als er den Balken herausgezogen hatte, begann er mit dem rechten Fuß

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nach den Pollern und Stützpfosten der Pier zu treten.

Wieder wackelte der Steg wie ein Lämmerschwanz.

Luke Morgan, Gary Andrews, Al Conroy und Sam Roskill standen ziemlich ratlos an Bord.

„Verdammt, der zertrümmert uns gleich mit", sagte Luke Morgan. „Oder er trampelt den ganzen Steg zusammen."

Al Conroy sah ziemlich gelassen aus, als er den Bullen fixierte.

„Dem ist nicht anders beizukom­men als mit einer Drehbasse oder ei­nem Siebzehn-Pfünder", sagte er. „Aber ich möchte hier nicht eigen­mächtig entscheiden, sonst gibt es wieder Ärger."

„Die anderen haben auch auf ihn geschossen", meinte Gary Andrews. „Der Sultan hat es angeordnet. Schließlich hat der Bulle schon ein paar Männer getötet."

„Uns hat er jedenfalls nichts ange­ordnet", erwiderte der Stückmeister. „Deshalb werden wir uns hüten, et­was auf eigene Faust zu unterneh­men. Vielleicht ist das ein kostbarer Zuchtbulle - kann man ja nie wis­sen."

Von der Galeere erfolgte auch kein Zeichen. Dort standen sie nur herum und sahen hilflos zu dem rasenden Ungetüm.

Tückisch und boshaft, anders ließ sich das nicht auslegen, rammte der Elefant jetzt mit der Schulter eine weitere Reihe von Pfählen und setzte den rechten Vorderfuß auf die dicken Bohlenbretter der Pier.

Erwartungsgemäß gaben sie unter dem tonnenschweren Körper sofort

nach und brachen berstend auseinan­der.

Luke wollte schon voller Schaden­freude grinsen, doch der Bulle zog nach der Attacke sofort sein Bein zu­rück. Dicht vor ihm gähnte ein zer­splittertes Loch, durch das er im Was­ser sein Spiegelbild sah.

Er hob den Rüssel und trompetete triumphierend, ehe er abermals mit der rechten Schulter gegen die Bal­ken drückte. Als sie sich nicht gleich lösten, nahm er den Rüssel zu Hilfe.

Das war eine wirksame Waffe. Er zerrte so lange, bis zwei Balken knir­schend nachgaben und aus dem mo­rastigen Untergrund brachen.

Dieses Mal zuckte auch Al Conroy zusammen, als ein Teil der Pier ein­stürzte und die Verbindungen bar­sten. Die Überreste verschwanden im Hafenwasser.

Teile der Pier hingen schief nach unten. Das ganze ähnelte einer halb­eingestürzten Brücke.

An dem Rest dieser Trümmer war die Schebecke vertäut, und auf ihrem Deck standen mehr als ein halbes Dutzend Arwenacks, die wenig geist­reich zu dem Leitbullen starrten.

Noch einmal setzte der Koloß wie prüfend sein rechtes Vorderbein auf die traurigen Überreste.

Der Rest gab nach, splitterte, barst, flog auseinander. Die kleine Pier war nur noch ein armseliger Trümmer­haufen, der weiter zersplittert wur­de.

Die Schebecke war frei, das heißt, sie war noch mit einem Teil der Pier vertäut, der an ihr klebte und jetzt ebenfalls frei herumschwamm.

Sie sah aus, als seien alle Masten

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über Stag gegangen, die sie jetzt mit sich herumschleppte.

Die Arwenacks konnten es nicht fassen, als sie sich unmerklich lang­sam vom Ufer entfernten.

„Das ist ja wohl ein schlechter Witz", stöhnte Sam Roskill. „Das gibt es doch gar nicht. Dieses Mistvieh ist gefährlicher als eine Horde wüster Pi­raten."

„Da hast du allerdings recht", sagte Al. „Doch jetzt sollten wir uns wohl von dem schmückenden Beiwerk be­freien. Löst mal die Leinen, damit wir wenigstens manövrieren können."

Gary schüttelte schnell den Kopf. „Wartet noch damit. Achteraus gibt es noch eine kleine Leinenverbin­dung zu einem Poller. Daran können wir uns später zurückziehen, falls das Monster den Rest nicht auch noch zertrümmert. Außerdem verläßt un­ser Kapitän gerade die Galeere."

Die Köpfe fuhren herum. Ungläu­big sahen sie, daß der Seewolf über das Schanzkleid an Land flankte und vorsichtig Kurs auf die Schebecke nahm.

„Zurück, Sir!" schrie Al Conroy fast hysterisch, denn genau in diesem Augenblick drehte sich der Koloß um.

Sein Zerstörungswerk hatte er so gut wie beendet und es immerhin ge­schafft, den ganzen Hafen in hellen Aufruhr zu versetzen. Auf der ande­ren Seite sammelten sich inzwischen Neugierige, die schaudernd und schweigend dem Schauspiel beiwohn­ten. Aber sie standen in so sicherer Entfernung, daß ihnen nichts passie­ren konnte.

Jetzt bemerkte der Bulle einen

Menschen, und sofort ließ er von dem Trümmerhaufen an der Pier ab. Men­schen schienen es ihm heute ganz be­sonders angetan zu haben.

Er hob den Rüssel hoch über den Schädel und walzte auf Hasard zu. Der Koloß wankte und bebte und nä­herte sich rasend schnell.

Hasard lief in langen Zickzack­sprüngen in Richtung einer Palme, blieb dort einen kurzen Augenblick stehen und spurtete dann auf den na­hen Dschungelrand zu, als der Ele­fant die Palme erreichte.

Das Tier donnerte mit seinem gan­zen Gewicht dagegen. Die große Palme wurde mitsamt ihrem Wurzel­ballen aus dem Boden gebrochen. Ko­kosnüsse rollten nach allen Seiten.

Der Rüssel griff zu und schüttelte den Rest der Palme wild hin und her, bis sich auch die letzten Nüsse lösten. Gleich darauf nahm er wieder Kurs auf den Seewolf und bewegte seinen tonnenschweren Leib noch schneller als Hasard.

Der Seewolf ließ sich auf ein ris­kantes Spiel ein, aber er wollte an Bord der Schebecke, und davon hielt ihn nichts ab.

Er erreichte den Rand des Dschun­gels, verschwand in einem Verhau aus Bäumen, Lianen und dichtem Buschwerk und war ein paar Augen­blicke später wieder draußen auf dem Stückchen freien Feldes.

Der Graue walzte wie ein Dinosau­rier durch das Gestrüpp, zermalmte und zertrampelte alles und fegte, ei­nem Gewittersturm ähnlich, ebenfalls aus dem Dschungel heraus. Hinter sich ließ er ein Chaos zurück.

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Sein Trompetenton klang heraus­fordernd und bösartig.

Als Hasard sich einmal umdrehte, sah er, daß ihm der graue Riese un­mittelbar auf den Fersen war.

Und er hatte keine Möglichkeit mehr, Deckung zu suchen. Das Mon­strum war einfach zu schnell.

*

Einen tollwütigen Elefantenbullen hinter sich zu haben, war nicht jeder­manns Sache. Der Gigant war noch wesentlich schneller, als Hasard an­genommen hatte. Er hörte das wilde Trommeln der Säulenbeine und war so hilflos wie selten in seinem Leben.

Jeden Augenblick konnte ihn der Rüssel erwischen und mit einem ein­zigen Schlag töten. Oder die gewalti­gen Beine trampelten ihn nieder.

Hasard lief wiederum Zickzack mit Kurs auf das Hafenwasser. Er sah die Gestalten an Bord der Schebecke nur schemenhaft.

„Schießt!" rief er keuchend. „Der Sultan will es so!"

Das Trommeln war trotz des Zick­zack-Kurses jetzt unmittelbar hinter ihm. Er konnte das Schnaufen des wilden Tieres hören. Eine unbe­schreibliche Wut hatte sich in dem Bullen aufgestaut.

„Schießen", sagte Al Conroy hilf­los. „Mit was denn - mit Grobschrot etwa? Dann treffen wir den Sir gleich mit. Die Drehbassen können wir nicht einsetzen, sie streuen zu stark."

„Dann eben mit der Culverine", sagte Luke Morgan.

„Die kann man nicht einfach her­umschwenken. Wir müßten da schon

sehr viel Glück haben, daß er uns ge­nau vor die Rohre läuft."

„Vielleicht ist es genau das, was Ha­sard beabsichtigt", sagte Gary An­drews. „Er lockt den Bullen hierher, in der Hoffnung, daß wir ihn mit einem gezielten Schuß außer Gefecht set­zen. Wenn der weiter frei herumläuft, gibt es noch mehr Tote."

Al Conroy, der erfahrene Stückmei­ster, der die Schießkunst bis fast zur Perfektion beherrschte, fühlte sich unbehaglich.

„Gut, dann bringt ein paar glim­mende Luntenstöcke. Die Culverinen sind ja alle geladen."

Die Luntenstöcke waren innerhalb kürzester Zeit an Deck.

Sechs Culverinen wurden an der Steuerbordseite besetzt. Hinter einer stand Al selbst und visierte. Aber es war schlichtweg unmöglich, auf einen heranstürmenden Elefanten mit ei­nem Siebzehnpfünder zu feuern -und auch noch zu treffen. Der Bulle bewegte sich nicht geradlinig, son­dern raste wie verrückt von einer Seite zur anderen.

Hasard tat aus dem Laufen heraus einen wilden Satz nach links und blieb einen kurzen Augenblick ste­hen.

Der Leitbulle bremste sein beacht­liches Gewicht ab, rutschte noch ein paar Schritte weiter und blieb dann ebenfalls stehen, wobei sein Rüssel wilde Kreise beschrieb.

Übergangslos fuhr er zornig herum, um sich erneut auf sein Opfer zu stür­zen. Doch da war Hasard längst wei­ter.

Der kurze Augenblick hatte ihm ge­nügt, um die Situation genauer zu er-

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fassen. Er sah, daß auf der Schebecke ein paar Mann an die Culverinen sprangen. Sie würden feuern, sobald sie eine günstige Schußposition er­reichten.

Noch einmal wiederholte er das tödliche Spiel mit dem gereizten Ele­fanten. Das Tier wurde immer wilder und unberechenbarer, und wenn es von dem Seewolf abließ, würde es sich jemand anderen vornehmen oder mit seinen Verwüstungen fortfahren.

Hinter den Culverinen lauerten die Arwenacks. Es tat ihnen leid, auf die­ses Tier schießen und es töten zu müs­sen, aber sie hatten keine andere Wahl, wenn er nicht noch mehr Men­schen zertrampeln sollte.

Hasard lief diesmal buchstäblich um sein Leben. Zum Glück hatte er den Degen nicht umgehängt, der ihn nur behindert hätte. So konnte er sich freier und schneller bewegen.

Er lief auf die Schebecke zu, nach­dem er einen Kreis beschrieben hatte. Die Schebecke lag jetzt mitsamt dem größten Teil der zertrümmerten Pier ein paar Yards vom Ufer entfernt. Nur eine dünne Leine verband alles noch mit dem Land.

Hinter ihm dröhnte und zitterte die Erde wie bei einem starken Beben.

Das Monstrum walzte mit tödlicher Präzision heran.

Mit einem wilden Satz hechtete Ha­sard ins Wasser und tauchte unter.

Der Bulle war regelrecht verblüfft und bremste seinen Amoklauf erst dicht vor der Trümmerpier.

Wieder hob er sich auf die Beine und stieß sein schrilles und wildes Trompeten aus.

Eine Culverine krachte, und ihr Ab­

schuß überlagerte jedes andere Ge­räusch im Hafen. Der Krach war be­stialisch und dröhnte überlaut.

Hinter einer Wolke von zähem Pul­verqualm tauchte der Stückmeister Al Conroy auf und wischte sich über die Stirn. Stumm sahen er und die an­deren auf die Szene.

Der bösartige Bulle ließ sich gerade wieder auf alle vier Beine zurückfal­len, als ihn der Siebzehnpfünder traf.

Er schlug mit unglaublicher Wucht in den riesigen Schädel und trieb den Leitbullen ein paar Schritte zurück.

Wie vom Blitz getroffen, sank das riesige Tier lautlos in sich zusammen. Die mächtigen Beine zuckten noch ein paarmal konvulsivisch, dann rührte es sich nicht mehr und blieb still auf der Seite liegen. Der Schädel mit den langen Stoßzähnen war zer­schmettert.

Der amoklaufende Riese war tot. Hilfreiche Hände zogen den See­

wolf aus dem Wasser, bis er triefend­naß an Deck stand. Er hatte den letz­ten Teil des Dramas nicht mehr ganz mitgekriegt. Jetzt blickte auch er auf das tote Tier, und es tat ihm trotz sei­ner Bösartigkeit leid.

Die Inder auf der Galeere dachten darüber allerdings ganz anders. Sie rissen die Arme hoch und brüllten vor Begeisterung.

Hasard stand nur da und sog tief die Luft in seine Lungen. Er fühlte sich völlig ausgepumpt.

Alles erschien ihm plötzlich un­wirklich. Die Hitze flimmerte vor dem Dschungel wie eine langge­streckte Woge, und dort, wo der tote Bulle lag, stand unbeweglich eine große Staubwolke über dem Boden.

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Sie senkte sich so zögernd, daß man es kaum sah.

Vor wenigen Augenblicken noch hatte eine geisterhafte Stille ge­herrscht, doch jetzt kreischten, krächzten und schrien aus dem nahen Dschungel fast pausenlos irgend­welche Tiere. Das alles vermischte sich mit dem frenetischen Gebrüll der Inder, die die Galeere verließen und zu jener Stelle stürmten, wo der tote Elefant lag.

Hasard wischte sich das Wasser aus dem Gesicht.

„Viel länger hätte ich das nicht durchgestanden", sagte er. „So ein Elefantenbulle kann einem ganz schön zusetzen. Du hast ihn wenig­stens mit einem sauberen Schuß ge­troffen, Al."

Al stand noch neben der zurückge­rollten Culverine, die in den Brook-tauen hing.

„Gern habe ich es nicht getan, aber es mußte wohl sein."

„Ja, es mußte sein. Der Sultan sagte mir, es passiere hin und wieder, daß einer dieser Burschen Amok laufe. In seinem Palastgarten hat ein Elefant einmal acht Diener zu Tode getram­pelt und eine Menge anderen Scha­den angerichtet."

Er blickte zu den Trümmern an der Pier. Da gab es nichts mehr zu repa­rieren, der gesamte Holzsteg war rest­los zerstört.

„Wir verholen vor die Galeere", sagte der Seewolf.

Hand über Hand zogen sie die Sche-becke weiter, bis sie an der anderen Pier lag. Die Arwenacks, die auf der Galeere gewesen waren, nahmen die

Leinen wahr und belegten sie an den Pollern.

Inzwischen hatte auch der Sultan das große Schiff verlassen, und alle versammelten sich um den toten Ele­fanten. Ein paar Mahauts waren zu­rückgekehrt und beruhigten die ande­ren Elefanten. Sie waren immer noch sehr nervös und schienen sich über den Tod des Bullen aufzuregen.

„Ein prachtvoller Schuß", sagte lo­bend Seine Hoheit. „Sie haben sehr viel riskiert, Sir Hasard. Leider wird es mit unserem Aufbruch heute abend nichts mehr werden, die Ele­fanten sind noch zu nervös. Wir möchten nach Möglichkeit vermei­den, daß sich ein solcher Vorfall wie­derholt."

„Das kann ich gut verstehen. Au­ßerdem gibt es noch eine Menge auf­zuräumen. Das Tier hat reichlich viel zerstört. Die Toten müssen auch noch bestattet werden."

„Das erledigen meine Diener. Ich werde auch dafür sorgen, daß jemand den Mann entschädigt, von dem wir den Elefanten geliehen haben."

Immer mehr Leute fanden sich ein, um den gefällten Koloß zu bestaunen. Jetzt im Tode, wirkte er fast noch ge­waltiger als vorher. Es war ein riesi­ger Berg, der da auf dem staubigen Boden lag.

„Was geschieht jetzt mit dem Rie­senklops?" fragte der Profos. „Der kann doch hier nicht liegenbleiben, bis ihn die Geier holen."

„Hier gibt es nicht viele Geier", sagte der Sultan. „Das Fleisch ist auch zu schade für sie. Sie finden an­derweitig genug. Wir werden das Fleisch unter den beiden Mannschaf-

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ten verteilen, damit es nicht verdirbt. Elefantenfleisch ist eine Delikatesse, Engländer. Aber man ißt es hier aus Respekt vor den Tieren nur sehr sel­ten."

Der Sultan klatschte in die Hände und rief in seiner Sprache ein paar Befehle. Daraufhin flitzten etliche Männer zur Galeere zurück.

Als sie zurückkehrten, trugen sie Beile, Äxte und Schiffshauer mit sich, um den Koloß zu zerteilen.

Der Kutscher stieß Mac Pellew an und grinste flüchtig.

„Jetzt bist du ja doch auf wunder­same Weise zu deinem Elefantchen gelangt, Mac. Es wird gerade in hand­liche Stücke zerlegt. Das hättest du nicht gedacht, was?"

„Bestimmt nicht", sagte Mac ton­los. Und dann: „O Gottchen, was sol­len wir nur mit dem vielen Fleisch an­fangen? Das gibt ja einen halben Schiffsraum voll, gibt das. Aber es muß verwertet werden, sonst geht es in der Hitze schnell kaputt."

„Du hast ja noch Paddy", tröstete ihn der Kutscher. „Der wird schon da­für sorgen, daß die Masse sich ver­kleinert."

„Paddy kriegt den Elefanten­arsch", sagte Mac ernsthaft. „Da ist am meisten dran. Sollen wir mithel­fen?"

„Natürlich, sonst werden die doch nie fertig."

Der Kutscher sah sich um. Auf dem Platz vor dem Hafen herrschte eine chaotische Unordnung. Silberbarren lagen herum, Goldbarren funkelten matt im Sonnenlicht. Ein paar umge­stürzte Palmen lagen dort, und nach allen Richtungen waren Kokosnüsse

verstreut und davongeroUt. Die toten Inder waren bereits weggebracht worden.

Hinten am Dschungelrand, stießen ein paar Elefanten klagende Laute aus, die den Arwenacks durch Mark und Bein gingen. Es hörte sich an, als weinten sie laut.

Ferris Tucker und Big Old Shane sammelten Gold- und Silberbarren ein, packten sie in die noch heilen Ki­sten und nagelten sie zu.

Die anderen säbelten inzwischen an dem monströsen Fleischkoloß herum.

Der Seewolf erinnerte es ein wenig an das Abspecken von Walen, wenn die Kerls mit ihren langen Flensmes-sern anrückten.

In erstaunlich kurzer Zeit war der Koloß in große Portionen zerlegt. Ein Teil davon wurde auf die Galeere ge­bracht, etliche andere Stücke an die Treiber und Mahauts verteilt, aber die meisten lehnten verlegen und dankend ab und hatten Angst, der Sultan würde es als Beleidigung auf­fassen. Aber er kümmerte sich nicht darum. Seine Sorge galt einzig und al­lein dem Schatz, den er an den großen Akbar weiterleiten sollte.

5.

Die nichtverwertbaren Teile des Grauen wurden an den Dschungel­rand gebracht. Dort würden sie wilde Tiere oder nächtliche Räuber holen.

Die Stoßzähne bot der Sultan dem Seewolf an. Ablehnen konnte Hasard nicht, denn das wäre eine Beleidi­gung gewesen. Also wanderten die mächtigen Elfenbeinzähne in den

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Stauraum der Schebecke, nachdem sie von Fleischresten befreit und ge­säubert waren.

Mac Pellew und der Kutscher aber hatten ein Problem am Hals.

Erst hatte Mac noch groß herumge­tönt, doch als er jetzt die Fleischmas­sen sah, kratzte er sich verzweifelt das stopplige Kinn.

„Wo lassen wir das Zeug nur?" jam­merte er ein ums andere Mal. „Wenn wir heute davon hundert Pfund in die Pfanne hauen, bleibt immer noch so viel übrig, daß wir es nicht unterbrin­gen. Spätestens morgen ziehen wir mit dem Sultan und seinem Gefolge los, und dann bleiben nur vier Mann an Bord zurück. Sollen die etwa den Rest vertilgen?"

„Ihr könnt es ja einpökeln", schlug Matt Davies vor. „Fässer haben wir genug an Bord."

„Diesen Berg schaffen wir nie­mals", jammerte Mac Pellew. „Der Bulle wog gut und gern seine vier bis fünf Tonnen. Das schafft ja nicht ein­mal Paddy, obwohl der für zehn frißt."

Paddy Rogers wußte auch keinen Rat und sah sich angesichts dieser ge­waltigen Fleischmenge restlos über­fordert.

„Ich werde kräftig reinhauen", ver­sprach er.

Um das viele Fleisch war es wirk­lich schade, wie sie alle meinten. In spätestens zwei Tagen würde es ver­derben.

Unterdessen schnippelten Mac, der Kutscher, die Zwillinge, Batuti und Clint an den riesigen Brocken herum, um sie in handliche Portionen zu zer­legen.

Old O'Flynn tauchte auch einmal auf und sah stirnrunzelnd auf die ge­waltige Menge.

„Man hätte einen kleineren Elefan­ten erschießen sollen", erklärte er, aber da tippte ihm der Profos mit dem Zeigefinger an die Stirn, weil er so ei­nen Stuß von sich gab.

„Wenn dir nichts Besseres einfällt, dann verschwinde lieber", sagte er. „Steht hier rum und verzapft Blöd­sinn. Deine Weisheiten sind auch wirklich die allerletzten."

Der kauzige Alte war allerdings nicht beleidigt, wie der Profos an­nahm. Er grinste sogar ein bißchen.

„War ja nur ein Scherz", entgegnete er. „Aber dieser Mister Carberry kriegt ja grundsätzlich alles in den falschen Hals. Hm, ihr wißt also nicht, was ihr mit dem Fleisch tun sollt?"

„Einpökeln, hat Matt vorgeschla­gen. Aber eingepökeltes Fleisch ist auch nicht jedermanns Sache. Das Zeug ist zu salzig." Der Kutscher, der das sagte, sah etwas betrübt auf den Fleischberg.

Old O'Flynn grinste immer noch. „Nun, Will, Batuti, Shane und ich

bleiben ja an Bord zurück, wie wir vereinbart haben. Wir werden mit dem Berg schon fertig."

„Haha", sagte der Profos. „Willst du dürrer Zausel etwa jeden Tag eine halbe Tonne davon in dich reinstop­fen? Da kann ich nur ganz vornehm lachen." ' Das tat der Profos auch, aber es hörte sich nicht sonderlich vornehm an, wie er lachte.

„Auch ein dürrer Zausel kann viel essen", erwiderte der Admiral. „Ich habe aber eine andere Idee."

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„Er nun wieder!" tönte Carberry. „Deine Ideen haben sich meist als Schnickschnack erwiesen."

„Diese ganz bestimmt nicht. Shane wird nämlich ein kleines Öfchen bauen, und darin werden wir das Fleisch räuchern. Dadurch kriegen wir eine Menge prächtigen Schinken. Na, Mister Carberry, hast du plötz­lich die Maulsperre? Du siehst direkt dämlich aus."

Der Ex-Schmied von Arwenack, der im Hintergrund stand, nickte be­kräftigend dazu. Er feixte auch ein bißchen.

„Die einfachsten Dinge fallen ei­nem mitunter nicht ein", sagte der Kutscher und klopfte dem Admiral anerkennend auf die Schulter. „Das . ist wirklich eine prächtige Idee, Do­negal. Beim Räucherfleisch kann so schnell nichts verderben, und wir ha­ben einen riesigen Vorrat an feinem Schinken, zumal der Profos doch so gern Schinken mit Rührei in Mengen frißt."

Der Profos schluckte ein bißchen und klappte die erstaunt geöffnete Futterluke wieder zu.

„Ich nehme natürlich alles zurück", sagte er spontan. „Auch mein dämli­ches Grinsen. Du bist der Größte, Do­negal. Daran hat wirklich niemand ge­dacht."

Für Shane war es kein Problem, ei­nen Räucherofen anzufertigen. Er hatte schon mal einen gebaut, als sie im Baltischen Meer waren, und in die­sem Ofen hatten sie damals Heringe geräuchert. Er, Will Thorne und Do­negal gingen sofort mit Feuereifer an die Arbeit, während der Kutscher und Mac ein paar Fässer mit Lake

füllten, in die das Fleisch gelegt wurde.

Inzwischen war der Platz aufge­räumt worden, und es sah nicht mehr so wüst aus.

Etliche Mahauts kehrten mit den Elefanten vorsichtig zurück. Die Tiere verloren langsam ihre Scheu und fügten sich wieder. Ebenso vor­sichtig ging das Beladen der grauen Kolosse weiter.

Carberry fiel ein Kerl auf, der et­was gebückt ging und sich immer wie­der die Hand auf den Bauch hielt, als habe er Schmerzen.

Der Profos kannte diesen Bastard. Der Kerl hatte ihm ein paarmal eins mit der Peitsche übergezogen, als er auf der Galeere angekettet war. Das war nichts als reine Schikane gewe­sen. Dem Kerl hatte es einfach Spaß bereitet, die Arwenacks zu piesacken.

Er hatte mit dem bärtigen Kerl noch eine Rechnung offen und ihm auch versprochen, daß sie noch ab­rechnen würden.

„Was fehlt denn dem edlen Meister der Peitsche?" fragte er einen der In­der, von dem er wußte, daß er ganz leidlich Portugiesisch sprach.

„Er ist von dem Leitbullen getreten worden", sagte der Mann. „Deshalb kann er auch nicht arbeiten."

„Davon habe ich aber nichts gese­hen", erklärte der Profos. „Der Kerl war doch die ganze Zeit an Deck der Galeere und hat erst später beim Ein­sammeln der kleineren Barren gehol­fen."

Der Inder wußte darauf keine Ant­wort. Es schien ihn auch nicht weiter zu interessieren.

Carberry näherte sich dem Bur-

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schen unauffällig und musterte ihn. Der Bärtige hatte über seinen Dhoti ein weiteres Tuch geschlungen, wie eine große Binde. Blut war allerdings daran nicht zu sehen. Der Sklaven­treiber lehnte an einem Baum und sah zu Boden. Hin und wieder stöhnte er leise, wenn jemand an ihm vorbei­ging.

Jung Hasard näherte sich dem Pro-fos, als er den Inder bemerkte. Car-berry wollte sich den Kerl jetzt offen­bar zur Brust nehmen.

„Du wirst doch hier und jetzt keine Schlägerei anfangen, Mister Profos", sagte er. „Wir alle haben auf den Ba­stard eine Wut, aber jetzt ist die Gele­genheit äußerst ungünstig. Der Sul­tan ist in der Nähe."

„Wer hat was von einer Schlägerei gesagt?" fragte Carberry mit Un­schuldsmiene. „Wollte mich nur nach dem Befinden des guten Mannes er­kundigen. Angeblich soll ihn der Leit­bulle getreten haben, deshalb krümmt er sich auch ständig vor Schmerzen. Er hat auch eine Beule am Bauch, obwohl man am Bauch normalerweise keine Beulen kriegt."

Der bärtige Schläger wandte sich ab und ging in gekrümmter Haltung ein paar Schritte weiter. Anschei­nend war es ihm unangenehm, beob­achtet zu werden.

„Vielleicht sollte der Kutscher mal nach ihm sehen", meinte Jung Ha­sard.

„Der braucht keinen Kutscher. Den Kerl kann von mir aus der Teufel ho­len. Ich wette mit dir, Söhnchen, daß der Bursche absolut keine Schmerzen hat."

„Warum benimmt er sich denn so merkwürdig?"

„Das weiß ich noch nicht, ich ver­mute nur etwas."

„Fragen wir ihn doch mal", schlug Jung Hasard vor.

„Keine schlechte Idee. Du verstehst ja die Sprache."

Hasard ging zusammen mit dem Profos zu dem bärtigen Inder hin­über.

Als der die beiden auf sich zurük-ken sah, wurde sein Blick finster, und die Brauen zogen sich drohend zu­sammen. Mit der linken Hand griff er nach seinem Dhoti, wo er ein Messer stecken hatte.

„Aber nicht doch, alter Freund", sagte der Profos. „Wenn du damit an­fängst, dann hänge ich dir das Kreuz aus und schlage es dir um deine drek-kigen Horchlöffel."

„Hast du Schmerzen?" fragte Jung Hasard den Inder.

Die Antwort war ein bitterböser Fluch.

„Verschwindet, ihr dreckigen Eng­länder!" schrie der Inder. Die eine Hand hielt er weiterhin auf den Kör­per gepreßt.

„Warum regst du dich so auf? Wenn du Schmerzen hast, kann dir geholfen werden. Aber vielleicht hast du gar keine Schmerzen und tust nur so. Laß mal sehen."

Als Jung Hasard die Hand vor­streckte, riß der Inder einen Krumm­dolch aus dem Dhoti. Die Bewegung geschah blitzschnell und war kaum zu erkennen.

Doch der Profos hatte es vorausge­ahnt. Das kurze und tückische Auf-

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blitzen in den dunklen Augen war ihm nicht entgangen.

Er handelte auf seine unkonventio­nelle Art, als der Inder mit dem Mes­ser nach Jung Hasard stechen wollte.

Er drehte sich kurz und säbelte dem Inder mit einem schnellen Fuß­tritt die Beine unter dem Körper weg.

Der Bärtige fiel mit einem erschrek-kenden Schrei genau auf die Nase.

Jung Hasard trat ihm auf das rechte Handgelenk, drückte kräftig zu, bückte sich dann und entwand dem Bärtigen das scharfe Messer.

Er hatte es kaum in der Hand, als der Profos schon zupackte. Er ergriff den Inder an seiner Beule am Bauch und riß ihm das graue Tuch von der Hüfte.

„Au, verdammt!" knurrte der Pro­fos, als ihm etwas auf die Füße fiel.

Im Staub lag ein Goldbarren, einer jener kleinen Barren, die nicht größer als eine Hand waren, aber ein be­trächtliches Gewicht hatten.

„Das ist aber eine feine Beule", sagte der Profos staunend. Er hob den Goldbarren auf und wog ihn in der Hand.

„Hat der Bastard beim Einsam­meln abgestaubt", meinte Jung Ha­sard.

„Klebrige Gichthaken liebe ich ganz besonders", sagte der Profos und gab dem Inder eine Ohrfeige, kaum daß er wieder auf den Beinen stand. Der Kerl setzte sich mit einem Schrei erneut auf den Boden.

Inzwischen waren etliche andere aufmerksam geworden. Auch der Sultan, der gerade mit dem Seewolf sprach, blickte einmal zu ihnen.

Hasard zeigte zu Carberry und sei­

nem Sohn, und dann kamen beide herüber.

Der Goldbarrenklauer erhob sich blitzschnell, um zu türmen. Er fand den Augenblick gerade günstig und nutzte ihn aus. Aber er hatte wieder mal nicht mit dem narbigen Kerl ge­rechnet.

Eine Riesenfaust packte mit großer Kraft zu. Der Lendenschurz, den die Inder als Dhoti bezeichneten, ging in Fetzen. Gleichzeitig erhielt er wieder eine von diesen fürchterlichen Ohr­feigen, und jetzt hatte er wirklich das Gefühl, als habe ihn der Leitbulle ge­treten.

Mit tränenden Augen sauste er auf Hasard und den Sultan zu und be­schrieb dabei eine saubere Bauchlan­dung.

„Was ist hier passiert?" fragte der Seewolf.

Carberry zeigte den Goldbarren und wies mit dem Kinn auf den am Boden liegenden Inder.

„Den hatte er sich mit einem Fetzen Tuch um den Bauch gewickelt. Er fiel mir durch sein seltsames Benehmen auf, und als wir ihn ansprachen, wollte er mit dem Messer auf Jung Hasard los."

„Er trug das an seinem Körper?" fragte der Sultan. „Gold aus dem Schatz des großen Akbar?"

„So ist es, Hoheit." Dem Sultan schwoll eine Ader auf

der Stirn an. Seine Augen begannen unheilvoll zu funkeln.

Der Bärtige kroch vor Angst in sich zusammen und wollte wieder türmen, doch da war dieses narbige Unge­heuer, und das stellte seinen riesigen

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Stiefel direkt auf seine nackten Ze­hen.

„Bist du nicht Rabin, der Zuchtmei­ster des Unterdecks?" fragte der Sul­tan hart. „Du Sohn einer auf ewig ver­dammten Hure wagst es, mich und damit auch den großen Akbar zu be­stehlen? Das ist eine Ungeheuerlich­keit, du nichtsnutziger Hundesohn. Bist du Rabin oder nicht?"

Der Dieb wuchs fast in den Boden hinein. Er hatte hündische Angst vor dem Sultan. Ihm brach der Schweiß aus allen Poren, wenn er an die Fol­gen dachte.

„Ja, hoher Herr, ich bin Rabin", sagte er stammelnd.

Der Sultan winkte zwei anderen In­dern, die eilig herbeiliefen und sich vor ihm verneigten.

Verächtlich deutete er auf den am Boden kauernden Bärtigen.

„Er hat Gold gestohlen. Ihr wißt, wie ihr mit Dieben umzugehen habt. Verfahrt mit ihm nach alter Sitte der Parsen."

Als die beiden eifrig nickten, wandte er sich wieder an den Dieb.

„Mit welcher Hand hast du das Gold gestohlen?"

„Mit der linken Hand hob ich es auf, hoher Herr. Ich bitte untertä­nigst um Gnade."

„Es gibt keine Gnade", sagte der Sultan hart. „Nur ein dummer Vogel beschmutzt sein eigenes Nest. Du hast es gut gehabt auf der Galeere. Jetzt wird es dir nicht mehr gutge­hen."

Die beiden Inder packten den schreienden Mann. Zwei weitere brachten von der Galeere einen Ge-genstand, der wie ein Hackklotz aus­

sah. Ein anderer trug ein schweres Beil mit breiter Klinge.

Hasard holte tief Luft. Er kannte den Sultan als harten und unnachgie­bigen Mann, der nicht das geringste Vergehen durchgehen ließ. Er konnte sich hier auch nicht einmischen, denn hier galten andere Gesetze.

„Wird er hingerichtet?" fragte der Seewolf.

„Nein, er wird nach dem Gesetz der Parsen bestraft, wie es meine Väter und Urgroßväter ausgeübt und gehal­ten haben. Die Todesstrafe wäre für ihn vielleicht angenehmer."

„Also wird ihm die Hand abge­hackt", sagte Hasard.

„Ganz recht. Und ich hoffe, Sie ver­suchen nicht, sich für ihn einzusetzen, Sir Hasard."

„Keine Sorge. Jedes Land hat seine eigenen Gesetze. Ich respektiere sie, wenn ich auch nicht immer damit ein­verstanden bin."

*

Ein Mann, der ausgesprochen fin­ster aussah, hielt das breite Beil in den Händen und trat vor den groben Hauklotz.

Ein anderer brachte einen Topf mit grobkörnigem Pulver und eine bren­nende Fackel.

Dem Dieb wurde eine dünne Schnur über die Finger gezogen und seine Hand auf den Klotz gelegt. Ei­ner hielt die Schnur straff gespannt, die beiden anderen hatten den Inder gepackt, der sich anfangs verzweifelt gewehrt, jetzt aber offenbar resi­gniert hatte.

„Rabin hat Gold aus dem Schatz

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des ehrwürdigen Akbar gestohlen!" rief der Sultan. „Seht jetzt mit an, wie ein nichtsnutziger Dieb bestraft wird! Und merkt euch, daß jedem das gleiche Schicksal widerfährt wie die­sem Lump. Hackt ihm die Hand ab!" befahl er scharf.

Der Kerl mit dem Beil fackelte nicht lange. Völlig emotionslos schlug er mit Wucht zu.

Die Hand fiel vom Hauklotz. Rabin stieß einen gellenden Schrei

aus. Die Farbe in seinem Gesicht wich einer fahlen Blässe. Seine Au­gen wurden glasig, als er auf den blu­tigen Stumpf blickte. Danach schrie er noch einmal laut und grell wie ein verwundetes Tier.

Sie packten ihn und steckten den Stumpf in den Topf. Schießpulver be­fand sich darin, grobkörnig und dun­kel. Der Stumpf wurde darin herum­gedreht, bis er voller Pulver klebte.

Zwei Inder hielten Rabin mit aller Gewalt fest. Der dritte nahm die Fak-kel mit unbewegtem Gesicht und hielt sie an den pulyerverklebten Armstumpf.

Eine Stichflamme zuckte hoch und versengte dem Mann mit der Fackel die Haare. Gleichzeitig breitete sich ein entsetzlicher Geruch aus.

Rabins Schrei ging in ein Gurgeln über, das plötzlich erstarb. Er wurde in den Griffen der beiden Männer schlaff und sank in sich zusammen.

Sie ließen ihn einfach fallen. Der Inder war vor Schmerzen ohnmäch­tig geworden.

„Ich finde es widerlich", sagte Ha­sard leise zu Dan.

„Geht mir genauso, Sir. Ein Dut­zend Hiebe hätten den Kerl vielleicht

auch zur Besinnung gebracht. Zum Glück ist die scheußliche Prozedur jetzt vorbei."

Hasard stutzte, denn die Szene ver­änderte sich nicht.

Der Kerl mit dem Beil stand so reg­los, als sei er im Boden festgewach­sen, und der andere hielt immer noch die Fackel. Auch der mit dem Pulver­topf stand in stoischer Ruhe da. Sie alle schienen auf etwas zu warten.

„Was denn jetzt noch?" flüsterte Dan.

Hasard hob die Schultern. „Keine Ahnung. Wahrscheinlich warten sie darauf, daß er erwacht."

Der Inder lag reglos am Boden. Aus seiner gräßlichen Wunde sickerte kein Blut mehr. Das brennende Pul­ver hatte die Wunde verklebt und versiegelt.

Um dem Erwachen ein bißchen nachzuhelfen, erschien einer mit ei­ner Pütz voll Wasser, die er Rabin ins Gesicht goß.

Jetzt zeigte sich eine Reaktion, als der andere mit der Fackel auch noch vor seinem Gesicht herumfuchtelte.

Der Dieb schüttelte sich, stöhnte laut auf und versuchte, auf die Beine zu gelangen. Sie halfen ihm dabei.

Erst starrte er auf seinen Arm, dann stieß er wieder einen klagenden Schrei aus, als er die Situation be­griff.

Es hatte den Anschein, als wolle er blindlings davonrennen, doch die bei­den Inder stoppten ihn und hielten ihn fest. Sein Gesicht war grauweiß vor Angst.

Der Sultan deutete auf den Dieb. „Wer einmal den großen Akbar ge­

stohlen hat", sagte er, „bei dem liegt

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der Verdacht nahe, daß er es auch ein zweites Mal tun wird. Ein Dieb ist und bleibt ein Dieb. Rabin wird aber keine Gelegenheit mehr gegeben wer­den, ein zweites Mal zum Dieb zu wer­den. Darum hackt ihm jetzt auch die rechte Hand ab."

„Das darf nicht wahr sein", sagte der Seewolf erschüttert. „Das sind barbarische Strafen. Dagegen sind Auspeitschen und Kielholen fast harmlose Strafmaßnahmen."

Die gräßliche Prozedur begann von neuem, nur mit dem Unterschied, daß Rabin sofort in Ohnmacht fiel, als der Kerl mit dem Beil wieder zuschlug.

Einer warf die beiden Hände in ei­nen Korb, ging damit zum Wasser und schüttete den Korb aus. Kaum je­mandem war bei dieser höllischen Prozedur eine Regung anzusehen. Das Gesetz wollte es so, und das Ge­setz wurde befolgt - inschallah!

Es war das Gesetz der Parsen, die um 750 n. Chr. auf der Flucht vor dem Islam nach Indien ausgewandert wa­ren. Sie hatten den Islam abgelehnt, nicht aber seine drakonischen Stra­fen, die immer noch praktiziert wur­den.

„Was geschieht jetzt mit ihm?" fragte Hasard und konnte nur müh­sam verbergen, daß er angewidert war. „Er kann nicht mehr mit den Händen essen, er kann nichts greifen, nichts anfassen. Er ist nur noch ein bedauernswerter Krüppel, der keine Freude mehr am Leben hat."

„Gerade das soll die Strafe bezwek-ken, Engländer. Er wird sich daran gewöhnen, mit den Stümpfen leben zu müssen, und er wird auch keinen Diebstahl mehr begehen. Man be­

stiehlt keinen Maharadschah, Sultan oder Nawab und bleibt dann unge­schoren. Er kannte die Strafen, und er kannte auch das Risiko, das er ein­ging. Von nun an ist er weniger als ein Aussätziger, ein Paria, denn jeder, der ihn sieht, wird wissen, was er ge­tan hat und sich von ihm abwenden. Was jetzt mit ihm geschieht? Er wird in den Dschungel gejagt und sich selbst überlassen. Aus der Gesell­schaft ist er ausgestoßen."

„Eine harte Strafe." „Was geschieht mit einem, der Ihre

Regentin, die Königin, bestiehlt?" fragte der Sultan. „Oder sich ander­weitig an ihrem Eigentum vergeht?"

„Ich glaube, man würde ihn hän­gen."

„Sieh an. Er würde den Diebstahl also nicht überleben."

Hasard sagte nichts mehr. Auch dann nicht, als der Fackelträger seine Fackel löschte und eine kurzstielige Peitsche holte.

Damit zog er Rabin ein paar Hiebe über, bis der aus seiner Ohnmacht er­wachte und hochtaumelte.

Der Dieb begriff recht schnell. Trotz seiner rasenden Schmerzen be­gann er zu laufen und stieß dabei Schreie der Angst aus.

Der andere tobte hinter ihm her, und immer wenn er ihn einholte, dann schwang er die Peitsche, die auf Rabins Rücken blutige Striemen hin­terließ.

Er trieb ihn bis an den Rand des Dschungels, und es war grotesk mit­anzusehen, wie der Mann ohne Hände sich bewegte. Er hüpfte und sprang, schrie dabei laut und gellend und

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reckte seine schwarzverbrannten Stümpfe wie anklagend in die Luft.

Kurz vor der wildwuchernden Ve­getation holte ihn der andere noch einmal ein und drosch ihm erbar­mungslos die Peitsche über das Kreuz.

Mit einem letzten wilden Schrei verschwand der Dieb in dem dichten Laubwerk des Dschungels. Es ra­schelte noch ein paarmal, dann trat Ruhe ein.

„Diesen Burschen hätte ich zwar auch zum Teufel gejagt und ihn or­dentlich verdroschen, aber die Be­strafung finde ich zu hart, obwohl der Karl ein lausiger Bastard ist. Man kann einem doch nicht beide Hände abhacken", empörte sich der Profos.

„Da muß ich dir recht geben", sagte Hasard. „Aber es ist zwecklos, dar­über zu diskutieren. Hier gelten eben andere Gesetze, die uns zu hart er­scheinen mögen. Doch in England gilt ja ebenfalls die Todesstrafe für Diebe, Mörder und Gesindel. Und nicht nur das. Auch die Spanier kön­nen ein Lied von der heiligen Inquisi­tion singen. Ich habe beschlossen, mich darüber nicht mehr aufzuregen. Wir nehmen es so hin, wie es hier ge­halten wird. Dagegen tun, können wir absolut nichts, außer, daß wir uns un­beliebt machen."

Der Profos nickte schließlich und starrte zu der Stelle am Dschungel­rand, wohin der Dieb mit der Peitsche getrieben worden war.

Carberry konnte nichts dafür, aber er war nun mal so. Er fühlte sich mit­schuldig an der Sache, und das sagte er dem Seewolf schließlich auch.

Hasard winkte jedoch ab. „Ein

Schuldgefühl ist völlig unangebracht, Ed. Der Kerl war ein hinterhältiger Bastard, der uns auf der Galeere ziemlich höllisch zugesetzt hatte. Du hast nur einen Dieb und Halunken entlarvt. Die Konsequenzen daraus hat der Sultan gezogen."

„Na ja, wenn man es so sieht." „Ich sehe es so." Damit war das Thema erledigt. Der Sultan von Golkonda sah im­

mer noch finster aus und blickte zu dem Indern, die schweigend herum­standen.

„Falls noch jemand Gold oder Sil­ber gestohlen hat", sagte er mit ruhi­ger Stimme, „dann soll er sich jetzt melden. Er wird dann lediglich mit zehn Peitschenhieben bestraft; Das ist eine Gunst, die ich euch nur heute gewähre. Sollte sich später ein Dieb finden, lasse ich ihm nicht nur die Hände abhacken, sondern auch die Füße. Er wird dann lebend auf einem Baum festgebunden, bis ihn die Geier finden."

Er wartete ein paar Augenblicke, musterte die Männer der Reihe nach und nickte dann, als sich keiner mel­dete.

„Beladet die Elefanten weiter!" Damit wandte er sich ab und ging

auf Hasard zu. „Ich denke, wir werden morgen

nachmittag aufbrechen, wenn die Sonne schon etwas tiefer steht, Sir Hasard. Die Elefanten haben sich noch nicht ganz beruhigt. Sie müssen sich auch erst noch an die Lasten ge­wöhnen, denn sie waren bisher größ­tenteils im Dschungel eingesetzt, um Holz zu transportieren. Sie werden ein paar Stunden mit den Kisten und

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Ballen beladen dastehen, Für die Nacht nimmt man ihnen die Last wie­der ab und ladet sie morgen neu auf."

„Dann sollten wir heute nacht Wa­chen aufstellen, Hoheit. Ich werde ein paar meiner Männer dazu einteilen."

„Einverstanden, Engländer." Einige der Tiere wurden wieder un­

ruhig, als sie die schweren Kisten auf ihren Rücken spürten. Aber es pas­sierte nichts mehr.

Am Nachmittag gab es Fleisch in rauhen Mengen, und Paddy Rogers haute rein, als wollte er alles allein verspeisen.

6.

In der Nacht war es schwülwarm. Vom Wasser stiegen Mückenschwär-me auf und stürzten sich auf alles, was lebte.

Diejenigen, die es vorgezogen hat­ten, an Deck zu schlafen, verholten nach einer Weile und verschwanden unter Deck, wo sie vor den Plagegei­stern einigermaßen sicher waren.

So auch Old O'Flynn, der immer grimmiger wurde, seit ihm die Mük-ken so zusetzten.

Er legte sich in die Koje und wollte schlafen. Er konnte nicht einschlafen, die Hitze setzte ihm zu, und so starrte er grimmig über sich an die Decke.

Einmal stand er brummelnd wieder auf, ging nach oben, schnappte sich eine Pütz voll Wasser und goß den In­halt über seinen Kopf. Für ein paar Augenblicke half das, doch schon bald war er wieder in Schweiß geba­det und fluchte leise vor sich hin.

„Auf Great Abaco müßte man jetzt

sein", knurrte er gegen die Decke, „in der Rutsche sitzen und kaltes Bier schlucken. Da umweht einen immer ein frisches Lüftchen, aber hier erstickt man ja fast."

Eine ganze Weile brummelte er vor sich hin und stellte sich vor, wie er jetzt in der Karibik weilte und seine Kneipe, die sie die „Rutsche" nann­ten, bis auf den letzten Platz gefüllt war.

Ja, und natürlich wäre auch Mary da, seine Snugglemouse, und Edwin Shane, sein Söhnchen, nach dem er lebhafte Sehnsucht verspürte. Aus dem kleinen Windelpisserchen war sicher schon ein strammes Kerlchen geworden.

Er dachte an den Wikinger, an Jean Ribault, an den ehemaligen fetten Ex-gouverneur von Havanna und all die anderen, die sich jetzt im Stützpunkt aufhielten.

Das Bild wurde immer plastischer. Old Donegal grinste und dröselte übergangslos ein, und schon war er auf Great Abaco und sah seine „Em­press of Sea" vor sich liegen.

Aber die richtige Stimmung herrschte dort auch nicht.

Der Wikinger lief mit einem Ge­sicht herum, daß es einen grausen konnte. Nicht mal sein Kupferhelm war poliert, und das wollte schon et­was heißen.'

„Was ist denn hier los?" fragte Old Donegal. „Ihr seht alle so eigenartig aus."

„Hast du wieder mal die Zeit ver­pennt?" schnaubte Thorfin Njal. „Du weißt doch selbst, was hier los ist."

Der Wikinger hielt sein riesiges Schwert in der Faust, das er liebevoll

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sein „Messerchen" nannte, und blickte grimmig zum Horizont.

„Kann mich nicht erinnern", erwi­derte Old O'Flynn und fühlte sich selbst wie ein Fremdkörper.

Ihm fiel auch auf, daß in der ver­steckt gelegenen Bucht nur noch ein Schiff lag. Es war „Eiliger Drache über den Wassern". Das fand Old Do­negal sehr seltsam. Und er fand es auch seltsam, daß ihm wahrhaftig ein großer Teil seiner Erinnerung fehlte.

„Na, die Armada!" rief der Wikin­ger. „Sie ist im Anmarsch, und wir können uns nicht gegen sie wehren! Haben nur noch das eine Schiff und deinen alten Schlickrutscher!"

Old Donegal sann über die Worte nach, aber zuerst sah er sich gründ­lich nach allen Seiten um.

Alles war ganz anders auf der Insel. Da lagen zerfetzte Palmen am

Strand, die Hütten waren verbrannt oder zerschossen und weiter hinten, wo die Landzunge begann, lagen Wrackteile und etliche Tote auf dem Strand. Auch die Werft von Hesekiel Ramsgate war dem Erdboden gleich­gemacht worden.

Über die Schulter blickend, sah er, daß auch seine Rutsche nur noch ei­nem armseligen Pinsel ähnelte. Er konnte das nicht begreifen, es ging ihm nicht in den Kopf.

„Welche Armada?" fragte er hei­ser.

Der Wikinger stieß mit einem wil­den Knurren sein Schwert in den Bo­den und schüttelte den Kopf.

„Du mußt wohl da oben unter dei­nem Hirnkasten was abgekriegt ha­ben. Warst doch immer dabei. Oder nicht?"

„Ich glaube schon, aber irgend et­was ist hier anders."

„Natürlich ist hier alles anders. Vor ein paar Tagen tauchten hier mitten in der Nacht plötzlich mehr als zwan­zig spanische Kriegsschiffe auf und überfielen den Stützpunkt. Die Kerle, die wir hier aufgenommen hatten, die haben die Spanier herbeigelockt, diese Bastarde. Das war ihr Dank, nachdem sie uns noch beklaut hat­ten."

„Welche Kerle?" „Ein paar englische Schnapp­

hähne." Der Wikinger musterte den Alten

wieder kopfschüttelnd von oben bis unten und behandelte ihn so vorsich­tig, als sei Donegal ein bißchen wirr im Kopf.

„Und die haben alles zusammenge­schossen?"

„Ja, sie haben die ganze Insel ver­wüstet."

„Wo - wo sind denn Gunhild, Got-linde und - und .. ."

Old O'Flynn konnte vor Entsetzen nicht mehr weitersprechen. Er ahnte schon die fürchterliche Wahrheit.

„Sie sind mit den Kindern auf einer anderen Insel. Wir konnten sie ge­rade noch rechtzeitig in Sicherheit bringen, aber die Dons kehren bald wieder zurück und werden uns den Rest geben. Wir brauchen dringend Hilfe, sonst ist der Stützpunkt verlo­ren."

„Das ist ja furchtbar", stammelte Old Donegal erschlagen.

„Noch viel furchtbarer. Jean Ri-bault ist mit seinem Schiff unterge­gangen, Arne von Manteuffel hat es auch nicht überlebt, und Siri-Tong ist

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spurlos verschwunden, ebenso wie der alte Hesekiel und viele andere. Mich wundert, daß du dich daran nicht erinnerst. Es waren die schreck­lichsten Augenblicke auf dem Stütz­punkt. Aber sicher hast du ein biß­chen unter den Folgen gelitten. Manche werden dabei richtig ver­rückt."

„Ich bin aber nicht verrückt", sagte Old Donegal. „Mir ist nur so, als würde dichter Nebel vor meinen Klü­sen hängen."

„Du hast dich auch wirklich sehr verändert, Donegal, seit die ,Isabella' ohne dich losgesegelt ist."

Das kapierte Old Donegal erst recht nicht, aber er traute sich auch nicht, genauer danach zu fragen.

„Wann glaubst, werden die Dons hier wieder aufkreuzen?"

„Wenn es wieder neblig ist, und wir sie nicht sehen, so wie beim letzten Mal, bei Nacht und dichtem Nebel."

Old O'Flynn blickte schluckend auf die See hinaus, die auch ganz anders als sonst aussah. Die kleinen Wellen schienen auf unwirkliche Art erstarrt zu sein, und er glaubte, ein feines Ne­belgespinst über dem Wasser zu er­kennen, mehr ein dünnes Spinnen­netz, das sich langsam, aber ständig verdichtete.

Er war so erschüttert wie noch nie in seinem Leben und mußte sich im­mer wieder die Kehle freiräuspern. ' „Dann sollten wir die beiden

Schiffe besetzen", sagte er mit brü­chiger Stimme, „und die Dons vor der Küste abfangen."

Die Antwort des Wikingers war ein hohles Lachen, das tief aus seiner Kehle ertönte.

„Die Schiffe besetzen", wiederholte er verächtlich. „Mit wem denn - mit dir und mir? Du bist vielleicht wit­zig."

„Mit den restlichen Männern natür­lich."

„Es gibt keine restlichen Männer mehr, du Prielwurm!" brüllte der Wi­kinger. „Geht das immer noch nicht in deinen Torfschädel? Es ist nie-mend mehr da. Die Dons haben alle ausgerottet, und jetzt erscheinen sie, um den großen Schatz aus den Höh­len zu holen."

Old Donegal zuckte entsetzt zusam­men und schaute sich wieder nach al­len Seiten um. Nein, er sah weit und breit keinen einzigen Mann. Die ganze Insel lag wie ausgestorben da, und er fühlte eine hilflose Wut in sich aufsteigen.

Auch über der Insel hing jetzt wie ein Kokon dieser merkwürdige Ne­bel, der sich zusehends verdichtete und nach einer Weile selbst den Wi­kinger einhüllte.

„Wir müssen aber etwas tun!" rief Old Donegal. Das Sprechen fiel ihm immer schwerer. Er kam gegen den Nebel nicht an, der ihm die Worte in den Mund zurückdrückte. „Wir se­geln mit der ,Empress' zu der Insel hinüber, wo unsere Frauen sind."

„Die laufen uns schon nicht weg", sagte Thorfin, und Old Donegal wurde das Gefühl nicht los, als wachse der Wikinger ganz allmählich und werde ständig größer.

„Ich bleibe nicht hier!" kreischte Old Donegal.

Der Wikinger seufzte daraufhin ab­grundtief.

„Bei Odin und seinen Raben, ver-

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dammt noch mal. Wir können nichts tun, denn du bist ja nicht ganz richtig im Hirn. Ich schlage vor, wir saufen die letzten Buddeln aus, die noch hier lagern und laufen dann einfach zu den Dons über. Ich habe nämlich die Nase gründlich voll."

„Du bist es, der hier verrückt ist!" schrie Old Donegal. „Ein Wikinger, der zu den Dons überläuft - wo gibt's denn so was! Du segelst jetzt mit, oder ich klopfe dir deinen verdamm­ten Helm durch den Schädel, du ver­lauster Polaraffe!"

Der Wikinger wuchs weiter in die Höhe, gleichzeitig verdichtete sich auch der Nebel. Old Donegal mußte den Kopf tief in den Nacken legen, um zu ihm aufblicken zu können.

Fast übergangslos wurde es dunkel und der Nebel so dicht, daß Old Done­gal kaum noch etwas sah.

Er schrie und rief nach dem Wikin­ger, und als er näher zum Wasser ha­stete, da sah er sie.

Wie aus dem Nichts waren sie auf­getaucht. Riesige Kriegsgaleonen, zwei große Galeeren, etliche Karavel-len und alte Karacken.

Auf dem Achterdeck des größten Schiffes stand ein Mann mit harten Augen und einem höhnischen Grin­sen im Gesicht.

„Feuer!" brüllte er aus Leibeskräf­ten. „Schießt die ganze Insel zusam­men, gebt's den Bastarden, den engli­schen."

Lichtblitze zuckten auf, Donner rollte über die See. Ein unerträgli­cher Lärm und ein wildes Rumoren begannen.

Old O'Flynn hörte die Kugeln ein­schlagen, hörte das höllische Zwit­

schern von Grobschrot, das ihm um die Ohren flog, und rannte in pani­scher Angst landeinwärts.

Das Meer war jetzt eine einzige Flammenwand, aus der pausenlos feurige Eisenkugeln flogen, die den Sand aufwühlten und alles das zer­trümmerten, was noch einigermaßen heil gewesen war.

Old Donegal flüchtete voller Ent­setzen in die Höhle, die er hier ent­deckt hatte und die jetzt voller Beute­gut und Schätze war.

Die Spanier rächten sich fürchter­lich für das, was sie ihnen einmal ab­genommen hatten. Gnadenlos schos­sen sie alles zusammen, und bald stürzte auch die Decke der Höhle ein.

Old Donegal konnte sich gerade noch in Sicherheit bringen. Er sprang mit einem wilden Satz ins Wasser und schwamm drauflos.

Über ihm war es jetzt so finster wie in einem Grab, und er spürte das Wasser über sein Gesicht rinnen.

Und dann fiel ihm auch noch der ganze Himmel auf den Kopf.

Er brauchte lange, um in die Wirk­lichkeit zurückzufinden. Sein Erwa­chen war ebenfalls ein Alptraum, als er mit dem Kopf an die Decke über sich stieß.

Ein paar Augenblicke lag er reglos da und lauschte. Sein Körper war in Schweiß gebadet, und er empfand fürchterliche Angst. Jede einzelne Szene sah er noch deutlich und selt­sam eindringlich vor sich.

Er erinnerte sich nicht, jemals so in­tensiv geträumt zu haben. Klar und

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deutlich sah er die Verwüstungen auf Great Abaco vor sich, hörte die don­nernde Stimme des Wikingers und sah die vielen spanischen Kriegs­schiffe, die die Insel in Stücke schos­sen.

Ein Wahrtraum, durchzuckte es ihn, einer jener fürchterlichen Träu­me, die eigentlich gar keine waren.

Nein, es war kein Traum, er hatte wirklich hinter die Kimm geblickt, oder ein Teil seines Geistes war auf Great Abaco gewesen.

Old Donegal hatte hin und wieder das Erlebnis, aus seinem eigenen Körper herausgetreten und auf Rei­sen gegangen zu sein, und diesmal mußte es ähnlich gewesen sein. Es gab gar keinen Zweifel.

Er sprang aus seiner Koje, getrie­ben von einem panikartigen Gefühl voller Angst und rannte fast die Kam­mer des Seewolfs ein.

Hasard hatte normalerweise einen tiefen Schlaf, reagierte aber rein in­stinktiv und blitzartig auf unnormale Geräusche, die ihn sofort wach wer­den ließen.

Als der Admiral wie ein angesto­chener Büffel in die Kammer raste, fing er sich erst mal ein Ding ein, das ihn an die Wand zurückwarf. Es ging derart schnell, daß er nicht mehr rea­gieren konnte.

Im Mondlicht, das in einem schma­len Streifen in Hasards Kammer fiel, erkannte der Seewolf seinen kauzi­gen Schwiegervater, der benommen auf dem Boden hockte und irgend et­was krächzte.

Vorsichtig half Hasard ihm auf und stellte den torkelnden Alten auf die Beine.

„Great Abaco ist überfallen wor­den!" schrie Old Donegal, wobei seine Stimme noch etwas lallend klang.

Hasard drückte den alten Zausel auf die Koje.

„Tut mir leid", sagte er entschuldi­gend, „aber ich wußte nicht, daß du es warst. Und Vorsicht ist nun mal die Mutter der Flaschensammlung. Geht es dir wieder besser?"

„Der Stützpunkt in der Karibik ist von Spaniern überfallen worden", wiederholte der Alte. „Sie haben alles niedergemetzelt, die Schiffe ver­senkt, die Hütten in Brand geschos­sen. Gunhild, Gotlinde und Mary sind auf einer anderen Insel vorläufig in Sicherheit. Nur der Wikinger ist noch da und ganz allein."

„Ah ja", sagte Hasard und gähnte verstohlen. „Und du bist jetzt direkt hierhergesegelt, um mir das mitzutei­len."

„Wir müssen etwas tun, Sir." Old O'Flynn war ganz durch den Wind. „Und wir müssen schnell handeln. Ich habe das sehr deutlich gesehen. Die Dons haben ganz Great Abaco ausgeräuchert."

„Ja, die Dons sind schon üble Kerle", sagte der Seewolf. „Das ha­ben wir ja bereits zur Genüge erfah­ren."

„Aber es ist wahr." „Woher weißt du das?" „Weil ich es geträumt habe. Und ich

habe auch mit dem Wikinger gespro­chen, der das Massaker überlebt hat."

„Wie geht's ihm denn so?" fragte Hasard geduldig. Daß er öfter mal gähnte, schien den alten Zausel nicht zu stören.

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„Es geht ihm schlecht, und er hat gesagt, am liebsten würde er sich be­saufen und dann zu den Dons deser­tieren."

„Der spinnt doch", entrüstete sich Hasard. „Sag ihm, daß er sich besau­fen kann, aber gefälligst auf der Insel zu bleiben hat. Es gibt doch noch die Bruderschaft der Freibeuter."

Old Donegal kapierte immer noch nicht, daß Hasard. ihn nicht ganz ernst nahm und sich amüsierte.

„Ribault ist tot, Hesekiel Ramsgate und all die anderen", begann Old Do­negal mit seiner Nerverei von neuem. „Wir können die Einladung nicht mehr annehmen, Sir. Wir müssen so­fort los segeln. In Great Abaco liegen nur noch meine ,Empress' und ,Eili­ger Drache' von Thorfin. Alle ande­ren Schiffe sind versenkt worden."

„Waren ja auch schon ein paar alte Kähne dabei", meinte Hasard. „Und wie geht es der Roten Korsarin - hast du auch mit ihr gesprochen?"

„Siri-Tong ist spurlos verschwun­den", stieß Old Donegal hervor. „Der Wikinger weiß nicht, wo sie steckt. Auch seine Raben - ich meine, seine Kerle, sind alle fort."

„Vielleicht hocken sie in deiner Rutsche und besaufen sich."

Jetzt erst ging Old Donegal eine Hecklaterne auf.

„Du nimmst mich nicht ernst, Sir", klagte er.

„Träume nehme ich selten ernst -und solche schon gar nicht."

„Aber es war kein Traum im übli­chen Sinne."

„Was denn sonst?" „Ein Wahrtraum, Sir." „Aha, und was ist das?"

„Das ist schwer zu erklären, aber ich habe es schon ein paarmal erlebt. Ich schlafe, aber mein Geist tritt aus dem Körper heraus und wird an einen anderen Ort versetzt. Und dort bin ich dann wirklich und höre und sehe al­les, was passiert. Meist ist ein grauer Schleier davor oder ein bißchen Ne­bel, und dann verwischt alles zu ei­nem feinen Gespinst. Die Welt ist ein bißchen anders, verstehst du, Sir?"

„Ja, ich glaube, ich verstehe, Done­gal. Aber ich glaube einfach nicht dar­an. Wenn in Great Abaco wirklich Dons auftauchen, werden sich unsere Männer schon zu wehren wissen. Sie haben noch jeden Gegner zurück­geschlagen, genau wie damals auf der Schlangeninsel."

„Diesmal haben sie es nicht ge­schafft", sagte Old Donegal düster. „Und deshalb müssen wir ihnen zu Hilfe eilen."

Langsam, aber sicher ging der Alte dem Seewolf mächtig auf die Nerven.

„Ich weiß, daß du mitunter das so­genannte Zweite Gesicht hast, und du hast auch dann und wann recht ge­habt. Diesmal hast du ganz sicher nicht recht, denn alles war nur ein schlimmer Alptraum, der eben ein bißchen plastisch wurde, und da hast du Einzelheiten gesehen. Jetzt hältst du das alles für Realität. Am besten, du vergißt das alles, legst dich wieder hin und bereitest dir keine unnötigen Sorgen."

„Tu ich aber", sagte der alte Wun­derling trotzig, „weil es nämlich der Wahrheit entspricht. Ich schlage noch einmal vor, daß wir hier alles stehen und liegen lassen und sofort losse­geln."

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„Und ich wiederhole meinen Vor­schlag von eben", sagte Hasard schon eine Spur härter. „Du gehst jetzt auf die Matte und schläfst weiter. Außer­dem können wir nicht so ohne weite­res absegeln, ohne unsere ganze Mis­sion in Frage zu stellen. Der Sultan hat mir nämlich ein weiteres Angebot unterbreitet und will mir auch ein Empfehlungsschreiben mitgeben. Wir könnten, wenn wir es wünschen, nach Bandar segeln, um dort auf den einflußreichen Nawab von Bandar zu treffen, der ein Verwandter des Sul­tans ist. Für unsere Handelsbeziehun­gen wäre das geradezu ideal. Ich weiß noch nicht, ob wir das tun werden, aber ich werde mir das gründlich überlegen. Gute Nacht, Donegal, bue­nos noches."

Aber so leicht ließ sich der Alte nicht abspeisen. Er hatte einen Gra­nitschädel und gab so schnell nicht auf.

„Es geht um das Leben unserer Männer", sagte er pathetisch. „Wir müssen sie retten."

„Ich denke, sie sind alle tot", ent­gegnete Hasard. „Hast du doch eben noch gesagt. Nur der Wikinger lebt noch, und der will zu den Spaniern überlaufen, wenn er besoffen ist. Wen sollen wir da noch retten?"

„Vielleicht sind doch nicht alle tot", sagte Old Donegal zaghaft. „Ein paar könnten ja überlebt haben."

„Dann ist es auch kein Wahr­traum."

„Sir, es war ein Wahrtraum!" rief Old Donegal beschwörend. „Ich kenne mich da genau aus. Ribault zum Beispiel lag mit dem Gesicht

nach unten im Sand, und in seinem Körper steckte ein - äh, Degen."

Das war ein bißchen geflunkert, aber damit glaubte Old Donegal, den Seewolf aus der Reserve locken zu können. Hasard merkte jedoch an ge­wissen kleinen Anzeichen, daß der Admiral ihm etwas vorflunkerte. Er fing dann meist unmerklich an zu stottern, so wie eben.

„Das war nicht Ribault", sagte er bestimmt.

„Er sah aber genauso aus. Ich habe ihn erkannt."

„Wie denn, wenn er mit dem Ge­sicht nach unten im Sand lag?"

Der Alte zögerte ein bißchen und kniff die Lippen schmal. „Na ja, äh, ein bißchen lag er auf der Seite, und da erkannte ich ihn sofort."

„Weißt du was, Donegal", sagte Ha­sard, „wir alle haben uns heute ein bißchen aufgeregt, als der Elefant Amok lief und ein paar Inder tötete. Dann passierte die Sache mit dem Dieb, dem der Sultan die Hände ab­hacken ließ. Das alles hat sich sum­miert und im Traum umgesetzt, und zwar nach Great Abaco. In den Träu­men ergibt das meist ein wirres und abstraktes Chaos, in dem alles durch­einander gerät. So war es auch bei dir, weil du vermutlich oft an den Stützpunkt gedacht hast. Sei unbe­sorgt, da ist garantiert nichts pas­siert."

„Und die Feuerzungen, der Krach und die Eisenkugeln?"

Hasard brauchte nicht lange zu überlegen. „Die hat es heute auch ge­geben, als Al auf den Elefanten schoß und ihn tötete. Da gab es Krach, Pul­verrauch und Blitze."

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„Einspruch, Euer Ehren!" rief Old Donegal. „Du legst das viel zu einfach aus, obwohl es sehr kompliziert war. Du hast den Wikinger vergessen."

„Mein Gott!" Der Seewolf seufzte. „Das ist so eine Art Symbolfigur, die auch in meinen Träumen immer wie­der auftaucht. Der Wikinger ist nun mal eine dominierende Persönlich­keit und außerdem ein Sonderling. Klar, daß man von ihm träumt."

„Aber er hat mit mir gesprochen. Das bereitet mir wirklich verdammt viel Sorgen, Sir. Ich bleibe dabei, daß auf Great Abaco was passiert ist und die Leute in Gefahr sind. Was haben wir denn in Indien noch zu verlieren, wenn wir gleich lossegeln?"

„Hier haben wir alles zu verlieren, alles, was wir so mühsam für die ge­plante Handelsniederlassung vorbe­reitet haben. Der Sultan würde das nicht verstehen, und die anderen auch nicht. Überlege dir nur mal all die Schwierigkeiten, die wir auf der letzten Reise hatten. Jetzt befinden wir uns dicht vor dem Ziel, um Eng­land zu einem ungeahnten Auf­schwung zu verhelfen, und da willst du so einfach alles hinwerfen?"

„Unsere Leute, Frauen und Kinder sind wichtiger als die Interessen der Königin."

Der Alte ließ nicht locker, er faßte immer wieder nach und ging dem Seewolf jetzt gehörig auf den Geist.

„Angenommen, wir segelten jetzt los", sagte Hasard, „dann kämen wir in jedem Fall zu spät. Oder ist dir die Strecke nicht bekannt?"

„Wir müßten ein Stückchen durch den Indischen Ozean und ein weiteres kleines Stückchen durch den Atlanti­

schen Ozean segeln", entgegnete Old Donegal unbekümmert. „Für unsere schnelle Schebecke ist das nur ein Klacks."

„Ein Stückchen durch zwei riesige Ozeane!" höhnte Hasard. „Wir haben mindestens sieben- oder achttausend Meilen vor uns. Bis wir die Karibik erreichen, vergehen ein paar Mo­nate."

„Dann eben anders herum", be­harrte der alte Zausel. „Es gibt noch den Pazifischen Ozean. Da könnten wir getrost bis nach Panama se­geln..."

„Zu Fuß über den Isthmus spazie­ren und vom Karibischen Meer durch die Windward-Passage zu den Baha­mas schwimmen. Mann, Donegal, die Entfernung ist noch größer und be­schwerlicher. Schlag dir das jetzt endgültig aus dem Kopf. Wir bleiben hier. Sobald, unsere Mission abge­schlossen ist, segeln wir zurück. Bist du nun zufrieden?"

„Nein, bin ich nicht. Bis dahin ist von Great Abaco nichts mehr übrig, und selbst der Wikinger ist dann ver­gammelt. Er kann doch nicht die gan­zen Inseln allein verteidigen."

„Scher dich zum Teufel!" brüllte Hasard mit einer Stimme, daß ein paar Arwenacks vor Schreck erwach­ten und verdutzt aus ihren Kojen fuh­ren. „Ich will davon nichts mehr hö­ren!"

Old Donegal zuckte wie unter ei­nem Hieb zusammen. Instinktiv hob er abwehrend die Arme hoch.

„Deine Schuld, Sir!" keifte er am Schott. „Deine Schuld, wenn etwas schiefgeht! Ich habe dich jedenfalls gewarnt!"

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Er zog gerade in dem Augenblick das Schott zu, als Hasard einen Stie­fel nach ihm warf. Der Stiefel knallte an das Schott. Old Donegal zog den Kopf ein und verschwand fluchend und unablässig vor sich hinknurrend.

Aber er konnte nicht mehr schla­fen. Also stieg er an Deck, lehnte sich ans Schanzkleid und spuckte voller Zorn alle Augenblicke ins Hafenwas­ser.

„Mich nimmt ja keiner ernst", brab­belte er wütend. „Im Gegenteil: Da ist man besorgt, peilt hinter die Kimm und warnt die. Leute. Und was tun die? Nichts! Zum Dank wird man an­gebrüllt, und dann fliegt einem noch ein Stiefel an die Ohren. Scheiße!"

Old Donegal zuckte zusammen, als eine Hand seine Schulter berührte.

Smoky und der Profos waren im Mondlicht zu erkennen und sahen ihn gespannt an.

„Was war denn da eben los?" er­kundigte sich der Profos. „Der Sir hat rumgebrüllt, daß wir fast aus den Ko­jen flogen. Hast du etwas Krach mit ihm gehabt?"

„Der Sir ist heute ganz besonders stinkig", sagte Old Donegal. „In Great Abaco ist der Teufel los. Spa­nier haben die Insel überfallen, die Leute umgebracht und die Schiffe versenkt. Das habe ich dem Sir er­zählt, aber er glaubt mir ja kein Wort."

„Woher willst du das denn wissen?" fragte Smoky verblüfft.

„Das habe ich eben geträumt, und zwar so deutlich, als sei ich selbst da­bei gewesen. Ich werde euch den Traum mal erzählen. Paßt mal genau auf."

Old Donegal ließ seine Litanei vom Stapel. Er redete und redete, und als er sich umdrehte, stellte er entgei­stert fest, daß er keine Zuhörer mehr hatte. Die beiden, Smoky und der Profos, hatten sich still und heimlich empfohlen und waren längst wieder unter Deck.

„Verdammte Rattenbande!" schimpfte er. „Die werden nie wieder einen Ton von mir hören. Eine Frech­heit ist das, eine bodenlose Frechheit und Unverschämtheit."

Schließlich fand er doch noch einen Zuhörer, der auch nicht schlafen konnte. Das war Paddy Rogers mit der Knubbelnase. Der Grund seiner Schlaflosigkeit war aber nicht die Sorge. Er hatte sich an dem Elefan­tenfleisch ganz einfach überfressen und konnte kaum schnaufen. Und so hörte er geduldig zu, was Old O'Flynn aus dem reichen Schatz seiner Erfah­rungen zum Besten gab.

7.

Am Nachmittag des anderen Tages brachen die Arwenacks mit der Kara­wane in Richtung Kanchipuram auf.

Obwohl die Tiere schwer mit Gold und Silber beladen waren, schritten sie zügig aus. Die Arwenacks, die noch Platz auf den Elefanten hatten, ritten auf den Tieren oder hockten in den sänftenartigen Körben. Ein paar andere liefen nebenher und wechsel­ten sich alle paar Stunden mit den Reitern ab.

Hin und wieder wurde eine kurze Rast eingelegt.

Durch das ausgetrocknete Flußbett

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ging es meilenweit in westsüdwestli­cher Richtung, dann durch einen Trampelpfad im Dschungel, durch Bambuswälder und bewaldete Ebe­nen.

In der Nacht, beim Licht des Mon­des, gelangten sie besser voran. Da war die Hitze nicht mehr so stark. Da­für war die Geräuschkulisse fast un­erträglich. Im Dschungel brüllten Af­fen, Dämmertiere erwachten und ga­ben wilde Töne von sich, und das al­les wurde überlagert vom pausenlo­sen Zirpen Tausender von Zikaden.

Nach der Dämmerung des nächsten Tages gab es Aufregung bei den Ma-hauts.

Einer von ihnen hatte einen Tiger gesichtet, der durch hohes Gras schlich und sich darin verbarg.

Der Sultan war sichtlich aufgeregt. „Wir befinden uns in der Gegend,

wo Sudar sein Unwesen treibt", sagte er. „In diesem Bezirk ist er oft gesich­tet worden, und hier hat er auch etli­che Menschen angefallen und getötet. Wir werden versuchen, diesen Tiger einzukreisen und zu umstellen. Ich kann nur hoffen, daß wir durch Zu­fall auf ihn gestoßen sind."

Das Jagdfieber hatte jetzt die Inder gepackt.

Die Mahauts hatten offenbar große Erfahrung im Umgang mit der Tiger­jagd. Zwei von ihnen kletterten auf hohe Bäume, um einen besseren Überblick zu haben. Von dort aus di­rigierten sie mit leisen Worten und Gesten das Vorgehen der anderen.

Die Elefanten verteilten sich zu ei­nem langen Halbkreis, der später ge­schlossen wurde.

Vom Tiger selbst war nichts zu se­

hen, aber die Mahauts behaupteten, er befände sich in dem Kreis.

Der Sultan ließ die Musketen sei­ner Diener überprüfen. Auch Hasard und seine Arwenacks waren be­waffnet.

„Er hält sich jetzt verborgen", sagte der Sultan zum Seewolf. „Irgendwo kauert er reglos im hohen Gras. Wenn sich der Ring dichter um ihn schließt, wird er ganz plötzlich versuchen, aus­zubrechen."

„Verstanden", sagte Hasard. Die Elefanten witterten den Tiger

und wurden unruhig. Hin und wieder war ihr lautes Trompeten zu hören.

Eine halbe Stunde verging, in der sich nichts tat. Das Tier lauerte ir­gendwo vor ihnen, aber es zeigte sich nicht.

„Wenn Sie ihn zuerst sehen, schie­ßen Sie sofort, Sir Hasard", sagte der Sultan. „Ein in die Enge getriebener Tiger springt in seiner Angst auch Elefanten an und reißt sogar die Ma­hauts von ihrem Rücken. Das nur zu Ihrer eigenen Sicherheit."

„Wir werden aufpassen", versprach der Seewolf. „Diesem Sudar fehlt ein Teil des rechten Ohres, wie Sie sag­ten, Hoheit?"

„Ja, es ist ein unverwechselbares Erkennungszeichen. Noch besser ist es, wenn Sie sofort schießen, sobald sie das Fell sehen. Es gibt hier Tiger genug, mehr als uns lieb ist. Sie ent­wickeln sich allmählich zu einer Plage."

Nach ein paar weiteren Minuten deutete einer der reglos auf den Ele­fanten hockenden Mahauts nach links. Dort hörten die Bäume und Büsche auf, und es gab nur noch ho-

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hes und dichtes Gras. Weiter hinten war auch eine Spur von umgeknick­ten Gräsern zu sehen.

Unendlich vorsichtig wurden die Elefanten weiter nach vorn getrie­ben. Immer enger schloß sich der töd­liche Kreis um den Tiger.

Musketen wurden auf jene Stelle angelegt, wo die umgeknickten Grä­ser endeten. Dicht davor mußte der Tiger geduckt am Boden kauern, so eng an das Erdreich gepreßt, daß man ihn meist erst dann sah, wenn es bereits zu spät war.

Fast alle hielten den Atem an. Ihre Blicke saugten sich an dem hohen Gras fest. Niemand sprach mehr ein Wort. Die Spannung stieg auf den Hö­hepunkt.

Das war der Augenblick, in dem der Tiger ausbrach. Ganz plötzlich wurde er für einen kurzen Augen­blick sichtbar, dann ging alles so blitzschnell, daß Hasard nur noch ei­nen durch die Luft huschenden Schat­ten erkennen konnte.

Die Großkatze fauchte wild, jagte mit ein paar unglaublich schnellen Sätzen regelrecht durch die Luft und sprang eine Elefantenkuh an. Mit ei­nem mächtigen Satz erreichte der Ti­ger den Rücken, stieß sich wieder ab und flog abermals durch die Luft.

Musketen krachten. Überall blitzte es auf. Die Elefantenlady stieß einen Laut der Angst aus, als sei sie getrof­fen worden.

Hasard sah aus den Augenwinkeln, daß auch der Sultan mit einer Mus­kete auf den flüchtenden Schatten feuerte.

„Die reagieren ja fast noch schnel­ler als wir", sagte er anerkennend.

„Die sind auch darauf geeicht", meinte der Spanier Don Juan. „Wir haben darin keine Erfahrung."

Mindestens zwanzig Musketen­schüsse waren gefallen. Jetzt, als die Waffen sich senkten, rauchten noch ein paar Läufe.

Weit hinter dem Gras, wo wieder dichtes Buschwerk und Verhau wuch-terten, erklang ein brüllendes Fau­chen. Die Sträucher bewegten sich wild, und dann sprang ein Körper hoch, krümmte sich wie eine Bogen­sehne zusammen und fiel wieder zu­rück auf den Boden.

Zwei Mahauts ritten rücksichtslos und mit ihren Elefanten alles nieder­trampelnd auf die Stelle zu. Einer schleuderte von oben ein großes Mes­ser auf den tobenden Tiger, der an­dere schoß.

Noch einmal bäumte sich der Tiger auf, sank auf die hinteren Läufe und schlug mit den Pranken wild um sich, als sei er in einen Hornissenschwarm geraten.

Durch den Eisentreiber vorwärts­gejagt, sprang der Elefant vor, hob das rechte Bein und preßte den Tiger damit auf den Boden.

Da erstarb das wilde Fauchen der Großkatze. Sie rollte auf die Seite und blieb blutüberströmt liegen.

Von allen Seiten jagten die Ma­hauts heran.

Der Sultan ließ sich über den Rüs­sel seines Elefanten absetzen und lief auf die Stelle zu. Während die Tiere im Dschungel und dem angrenzenden Verhau verängstigt schwiegen, setzte ein lautes und aufgeregtes Geschnat­ter von allen Seiten ein.

Hasard und ein paar Arwenacks

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waren ebenfalls auf die Stelle zuge­laufen, wo die Großkatze in ihrem Blut lag.

Zwei Mahauts drehten sie um. Das Gesicht des Sultans wirkte ver­

kniffen, als er sich wieder aufrich­tete. Hasard las ihm die Enttäu­schung deutlich vom Gesicht ab.

„Es ist nicht Sudar", sagte er leise. „Es wäre auch zu schön gewesen, ein reiner Zufall. Wir haben wieder den falschen Tiger erlegt."

Die Mahauts packten den Tiger und hielten ihn an den Ohren fest. Beide Ohren waren heil, man sah ihnen keine Verletzung an.

Damit stand einwandfrei fest, daß es nicht der Tiger von Kanchipuram war

Der Sultan ließ ihm das Fell über die Ohren ziehen, während die ande­ren eine Rast einlegten, etwas tran­ken und aßen. Der Schädel wurde dem Tiger ebenfalls abgeschnitten und in einem Bach gründlich gewa­schen.

Der Rest des herrlichen Tieres sah jetzt erbärmlich aus und erinnerte abgezogen an ein übergroßes Karnik­kei. Kopf und Fell, das ebenfalls ge­waschen wurde, wanderten in einen Jutesack und wurden verstaut.

„Wir trösten uns eben mit dem Ge­danken, daß wir ihn eines Tages doch noch kriegen", sagte der Sultan. „Lei­der ist das Tier schlauer und gerisse­ner als alle meine Männer zusam­men."

„Solche Tiere gibt es", stimmte Ha­sard zu. „Es scheint, als hätten sie übermenschliche Intelligenz entwik-kelt."

Nach einer Stunde brachen sie wie­der auf.

*

Als sie Kanchipuram erreichten, war der Seewolf doch überrascht.

Die Inder nannten es Conjeeveram, ein größerer Ort, der an der Palar lag.

Es schien sich um einen reichen Ort zu handeln. Es gab Häuser aus Stein und keine dreckigen Hütten, und es gab zahlreiche Tempel mit vergolde­ten Dächern.

Madras war direkt ein mieses Kaff gegen diesen Ort. mit seinen fast schneeweißen Häusern.

„Sie scheinen überrascht zu sein, Engländer", sagte der Sultan mit ei­nem feinen Lächeln.

Hasard nickte mehrmals und ließ seinen Blick über die Dächer und Häuser wandern, über die Tempel mit ihren aus Blattgold bedeckten Kuppeln und den schlanken Minaret­ten. '

„Ich bin tief beeindruckt", sagte er, „und meine Männer auch. Das hatte ich nicht erwartet."

„Conjeeveram ist eine der sieben heiligen Städte der Hindus", erklärte der Sultan. „Deshalb sind hier auch so viele Tempel gebaut worden. Mein Palast liegt weiter südlich, wir wer­den ihn bald sehen."

Die Ankunft des Sultans hatte sich längst herumgesprochen, und so säumten viele Menschen den Weg der Karawane. Dem Sultan wurde gehul­digt, die Leute brachten ihm Ovatio­nen dar. Viele warfen sich sogar vor "ihm in den Staub der Straße.

Der Herrscher über Golkonda er-

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wies sich auch hier als großzügiger Mann, der die Ovationen huldvoll entgegennahm. Aus einem Säckchen ließ er Münzen unter die Menge wer­fen, lächelte nach allen Seiten und be­deutete den Leuten gestenreich, wie­der aufzustehen, damit sie ihre Mün­zen einsammeln konnten.

Die Arwenacks wurden angestarrt, als stammten sie von einem fernen Stern. Offenbar hatte man in diesem von der Küste fernen Ort noch nie Eu­ropäer gesehen.

Der Palast, den sie wenig später er­reichten, stellte die absolute Krönung dar. Nicht mal Ischwar Singh, der Vetter des Sultans, konnte sich damit messen.

Ein riesiger, durch Kakteen um-zäunter Park tat sich vor den stau­nenden Arwenacks auf.

In der Anlage tummelte sich aller­lei Getier. Es gab ein paar Spring­brunnen und eine unzählige Diener­schar, die unermüdlich beschäftigt schien.

Dem herrlichen Park schloß sich der eigentliche Palast an, fast schon ein burgähnliches Gebäude mit vie­len kleinen und großen Türmen, ein regelrechter Monumentalbau, in dem man sich verirren konnte.

Es gab zahlreiche Innenhöfe mit Brunnen, in Marmor gehauene Figu­ren aus der indischen Mythologie, und natürlich fehlte auch das Trium­virat des großen Schiwa nicht.

Die Innenhöfe, lichtdurchflutet, von hohen Palmen umsäumt, wiesen zum Teil kostbare Mosaikböden auf, die nahtlos in dunkelgrünen Rasen übergingen. Auf jedem Mosaikboden plätscherte ein Brunnen, der jeweils

eine Figur der indischen Sagenwelt darstellte.

Eingänge und Portale waren mit Halbedelsteinen eingefaßt.

Vor allen Eingängen des Palastes standen stumme Diener in blütenwei­ßen Uniformen herum.

Ein riesiges Portal wurde geöffnet. Lanzenträger traten stumm zur Seite und verneigten sich, als die Kara­wane durch den ersten Innenhof zog.

Der Sultan gab ein paar Befehle in seiner Sprache und blickte lächelnd auf den kleinen Blondschopf Clint Wingfield, der sich anscheinend in eine andere Welt versetzt fühlte. Das Bürschchen stand da, hatte die Fut­terluke aufgeklappt und sah sich fas­sungslos um.

„Wie im Märchen", stammelte er. „Alles weiß und die Türme aus pu­rem Gold."

„So schlimm ist es nun auch wieder nicht", sagte der Profos und tat so, als sei es für ihn etwas ganz Alltägliches durch die Gärten und botanischen Anlagen der Herrscher zu lustwan­deln. „Die Türme sind vergoldet, Clint. Wenn sie aus purem Gold wä­ren, würden sie unter dem Gewicht zusammenbrechen."

Der erste, der sie begrüßte, war der Neffe des Sultans, ein hochgewach-sender, junger Mann, etwa im Alter der Zwillinge Hasard und Philip.

Sie alle fanden ihn auf Anhieb sym­pathisch mit seinen schwarzen Haa­ren, den dunklen Augen und dem me­lancholischen Lächeln.

„Er heißt Ischwar, nach meinem Vetter in Bombay", erklärte der Sul­tan. „Ischwar jagt seit zwei Jahren Sudar, aber bisher immer vergeblich.

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Ein paarmal stand er ihm schon ge­genüber."

„Stimmt", sagte der junge Mann auf Hindi unbekümmert. „Er ist eben schlauer als ich. Zwischen uns beiden ist es ein Spiel mit tödlichem Aus­gang. Es steht nur noch offen, wer der Verlierer sein wird."

„Hoffentlich Sudar", sagte der See­wolf, „ich wünsche Ihnen jedenfalls alles Glück."

„Ein paar Treiber und ich haben ihn vorgestern gesehen. Wir waren zu fünft, und da hielt er es für ange­bracht, sich leise davonzuschleichen. Wir sind ihm den ganzen Tag lang ge­folgt, doch er konnte uns immer wie­der zum Narren halten. Übrigens ist vor ein paar Tagen ein Kaufmann spurlos verschwunden, der Sudar auf eigene Faust jagen wollte. Es ist anzu­nehmen, daß er der Verlierer war."

Für die Inder in und um Kanchipu-ram, wo Sudar hauptsächlich sein Unwesen trieb, schien es eine Art ehr­geiziger Sport zu sein, den Tiger zur Strecke zu bringen. Hasard erfuhr, daß immer wieder Leute aufbrachen, um das Monstrum zu erlegen, daß aber viele nicht zurückkehrten.

Ganz besonders davon betroffen war die Landbevölkerung, die in den Außenbezirken und am nahen Dschungelrand lebte. Das waren Bauern oder Viehzüchter. Auch die umliegenden kleinen Dörfer und Orte waren von dem Tiger dezimiert wor­den.

Das unheimliche Tier geisterte schon jahrelang durch die Phantasie aller, und man wob bereits Legenden und Ammenmärchen um Sudar.

Von nun an - da atmete Hasard er­

leichtert auf - war es nicht mehr seine Angelegenheit, was mit dem Schatz geschah. Er hatte ihn nach langwierigen Kämpfen und einer Menge Ärger abgeliefert für den gro­ßen Akbar. Um den weiteren Trans­port mußte sich der Sultan kümmern - oder Akbar persönlich, das war nicht mehr seine Sache, und er wollte auch nichts mehr damit zu tun haben.

Im Innenhof, wo die Elefanten wie in einem riesigen Zirkus herumstan­den, begannen Diener und Vertraute des Sultans jetzt mit dem Abladen der vielen Kisten und Ballen. Sie würden etliche Stunden damit be­schäftigt sein, alles in einer der Schatzkammern des Palastes zu ver­stauen.

„Ihre Männer und Sie selbst möch­ten sich nach den Strapazen des lan­gen Marsches sicherlich gern erfri­schen."

„Das wäre sehr angenehm, Hoheit." „Ich lasse sofort kühle Bäder berei­

ten", versprach der Sultan und klatschte in die Hände. Auf sein Zei­chen erschienen wie hingezaubert Diener und Dienerinnen.

Der Profos machte freundliche Na­senlöcher, als er die holde Weiblich­keit sah, und Mac Pellew spielte sich wieder mal als der große Frauenheld auf, als er einen heißen Blick einfing. Danach blähte er seine magere Brust auf und begann wie ein Gockel um-herzustolzieren, was Edwin Carberry zu der provozierenden Frage veran-laßte, ob das Muskeln oder Krampf­adern seien.

Sie wurden in das Bad geführt, und da gingen den Arwenacks die Augen über.

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„Fast so groß und schön wie bei uns Bord", sagte Smoky beklommen. Er untertrieb öfter mal gern.

Das Bad war eine kleine Halle, aus­gelegt mit feinen Fliesen und kleinen Kacheln, die wiederum Motive aus der indischen Mythologie zeigten. In den Boden waren kleine Pools einge­lassen, und in jedem dieser Pools, wo bequem zehn Mann drin Platz hatten, sprudelte Wasser.

Es roch nach den betäubenden Düf­ten des Orients und auch ein kleines bißchen „verrucht", wie Mac Pellew meinte. Aber mit dieser heuchleri­schen Ansicht stand er völlig allein da.

Eifrige Diener brachten handteller­große Stücke allerfeinster Seife und in verschiedenen Farben. Sie brach­ten auch leichte Gewänder, die die Arwenacks für die Dauer ihres Auf­enthaltes anlegen konnten.

Die anderen Plünnen nahmen ein paar Dienerinnen mit, um sie gründ­lich zu waschen.

Die Seife tat es den meisten ganz besonders an, denn sie duftete nach Cardamom, Ginger, Cinnamon, Zi­trone und Vanille. Der Duft war gera­dezu berauschend.

Als die Diener gegangen waren, stürzten sich die Arwenacks wie übermütige Lümmel ins Wasser, seif­ten sich ein, tollten in den Becken her­um und benahmen sich ähnlich wie eine lärmende Kinderschar.

Das war mal was! Und so unterzo­gen sie sich freudig einer gründlichen Reinigung.

„Mann, so sauber war ich noch nie in meinem Leben", sagte Ferris Tuk-

ker strahlend, als er das sprudelnde Bad verließ.

„Und so geduftet hat du auch nur selten", sagte der Profos grinsend zu seinem Freund. „Du riechst wie eins dieser liederlichen Frauenzimmer aus den gewissen Etablissements."

„Da geht es dir auch nicht anders." Als das Badevergnügen vorbei war,

zeigte der Sultan persönlich ihnen vom oberen Teil des Palastes aus den Ort Kanchipuram. Von hier aus war der Blick märchenhaft und berau­schend.

Ihr Blick fiel auf all die vielen Tem­pel und architektonischen Wunder­werke, von denen sich der Blick nur schwer lösen ließ.

„Das ist der Tempel des Kailasa-natha, erbaut vor knapp achthundert Jahren", erklärte der Sultan. „Links davon liegt der Vaikunthanata-Peru-mal-Tempel, ebenfalls so alt wie der andere. Er ist besonders verehrungs­würdig wegen seiner vielen Skulptu­ren, Malereien und dem großartigen Juwelenschatz. Das da drüben ist der heilige Varadaraja-Swami-Tempel."

Hasards Blick wanderte weiter und blieb an einem Prachtbau hängen, den er auf über fünfzig Yards Höhe schätze und der zehn Stockwerke mit hohen Türmen aufwies. Dieser Tem­pel sah aus, als sei er gerade eben erst fertiggestellt worden. Es war eine Meisterleistung der Architektur und von atemberaubender Schönheit.

„Das ist der Ekambareswarar-Tem-pel. Er ist unser ganzer Stolz. Von ihm aus hat man den herrlichsten Ausblick weit und breit."

Hasard nickte beeindruckt. Hier, in Kanchipuram, regierte der Superla-

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tiv, zumindest, was die Tempelanla­gen betraf, die reich und verschwen­derisch ausgestattet waren.

„Er scheint noch nicht sehr alt zu sein, Hoheit."

„Nein, noch keine hundert Jahre. Er ist längst fertiggestellt worden, aber in seinem Innern wird immer noch gearbeitet."

„Überwältigend", sagte Hasard. „Auch die Badeanlage, von der einer meiner Männer meinte, sie könnte sich fast mit unserer an Bord mes-sen.

Daraufhin lachte der Sultan. Er hatte jetzt strahlende Laune, seit der Gold- und Silberschatz seinen Be­stimmungsort erreicht hatte.

„Ich darf Sie dann zu einer kleinen Vorspeise bitten", sagte der Sultan. „Heute abend beginnt das eigentliche Fest."

Fleißige Hände hatten eine Tafel aufgebaut, die auch immer im Super­lativ prunkte. Sie war etwa sechzig Yards lang, und was Seine Hoheit als „kleine Vorspeise" bezeichnete, ver­schlug den Arwenacks wieder mal den Atem.

Ein Teil der Tafel bog sich unter der Last von Früchtepallaos. Da la­gen gleich zentnerweise duftende Trauben, riesige Ananas, Nüsse, an­dere unbekannte Früchte und Melo­nen. Von der Tafel stieg ein atembe­raubender Duft auf.

Auf einem anderen Teil fanden sich Rebhuhn, Wachteln, Schnepfe und Ente. Einen riesigen Berg bildeten Tanduri-Hühner, scharf gewürzt und auf einem Holzkohlenfeuer gebraten.

Zum Trinken gab es vergorene

Traubensäfte, kühlen Tee und ver­schiedene Fruchtsäfte.

Reis in Schalen und in verschiede­nen Curryfärbungen bedeckte den Rest der Tafel mit Schüsseln voller Gemüse.

Hasard fragte sich betroffen, was sie erst alles auffuhren, wenn das Fest stieg. Das konnte doch kaum noch gesteigert werden.

Sie ließen sich Zeit beim Essen, wie das üblich war.

Der Sultan hatte oben an der Tafel Platz genommen. Neben ihm saß der Seewolf, auf der anderen Seite gegen­über Ben. Alle waren von einer wim­melnden Dienerschar umgeben.

Man deutete auf etwas, das man ha­ben wollte, und schon wurde es auf frischen Bananenblättern von den dienstbaren Geistern lautlos darge­reicht.

Etwas später sprach der Sultan über die Handelsbeziehungen zwi­schen den beiden Ländern.

8.

„Was beabsichtigt Ihre Königin ge­nau?" wollte der Sultan wissen. „Ich habe ja schon anklingen lassen, daß es mir unverständlich ist, von einer Frau regiert zu werden. Kann denn ihr Gatte nicht regieren, oder ist das so üblich?"

„Unsere Königin ist nicht verehe­licht, und es ist nur in einigen europäi­schen Ländern üblich, daß eine Kö­nigin regiert. Nach ihr wird es wieder einen König geben. Später vielleicht wieder mal eine Königin. Das ist durch die Erbfolge geregelt."

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„Sie möchte also einen Austausch von Waren verschiedener Art, Sir Ha­sard, wie wir ihn auch mit anderen Ländern pflegen?"

„Ganz recht, Hoheit. Wir sprachen ja schon kurz darüber. In England be­absichtigt man, eine Handelsgesell­schaft zu gründen, eine Company, die ganz auf den ostindischen Handel fi­xiert ist. Das soll schon in kurzer Zeit geschehen. Ehrenwerte Kaufleute werden eine gewisse Summe investie­ren und Schiffe ausrüsten, die den Handel mit dem jeweiligen Land auf­nehmen."

„Ähnlich dem Handel mit den Por­tugiesen. Sie bringen uns ihre Waren und erhalten dafür Gewürze, Elfen­bein, Silber, Teppiche, Seide und Bro­katstoffe. Sie bringen dafür Eisenwa­ren, Gebrauchsgegenstände und auch Waffen, Kanonen, Musketen, Pulver und Blei."

„Das ist richtig. Ein Geschäft auf Gegenseitigkeit, bei dem beide Seiten verdienen, das kaufmännische Prin­zip. Wenn die Portugiesen jetzt Pfef­fer aus Ihrem Land bringen und feste Verträge mit den herrschenden Re­genten haben, dann erringen sie ein Monopol und verkaufen den anderen Pfeffer beispielsweise zu Wu­cherpreisen. Leider haben die Portu­giesen hier bereits viele Verträge mit den Moguln und Radschahs und kön­nen so die Preise diktieren."

Der Sultan verstand sofort. Er trieb" schließlich ja selbst schwunghaften und lukrativen Handel.

„Es sollen also englische Schiffe in den Genuß etlicher Privilegien gelan­gen, die sie noch nicht haben. Gut, Sie können in meinem Herrschaftsbe­

reich später eine Niederlassung grün­den. Ich stelle Ihnen dafür Madras zur Verfügung. Hier werden keine Portugiesen mehr geduldet. Wir hat­ten ohnehin genug Ärger mit ihnen, wie Sie ja selbst erst kürzlich erfah­ren haben. Ich werde veranlassen, daß man den Hafen von Madras et­was größer ausbaut, aber natürlich geht das nicht von heute auf morgen und braucht eine gewisse Zeit."

Hasard hatte Mühe, die angehal­tene Luft wieder auszustoßen. Erst als er rötlich anlief, atmete er aus.

Er wollte sich bedanken und ein paar Worte sagen, doch der Sultan wehrte schnell ab.

„Keinen Dank, Engländer. Ich ver­danke Ihnen viel. Wir werden nach­her die genauen Einzelheiten festle­gen."

Uff, die Hürde war genommen! Ha­sards Freude war groß, denn er wußte, daß der Sultan auch das hielt, was er versprochen hatte.

Er langte kräftig zu und sah seine Arwenacks grinsen.

Wenn sie nach England zurück­kehrten, konnten sie einen einmali­gen Erfolg aufweisen. Der war noch mehr wert, als ein ganzer Geleitzug spanischer Silberschiffe. Den Dons selbst würden Handelsbeziehungen dieser weitreichenden Art ebenfalls einen harten Stich versetzen. So nach und nach würde auf diese Art und Weise ihre Weltherrschaft einmal en­den. Das waren die vielen kleinen Stiche, die zum Schluß eine tödliche Wunde ergaben, eine Wunde, an der auch die stärksten Gegner einmal verbluteten.

Die Engländer konnten hier mit der

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Zeit sogar eine Monopolstellung er­reichen und sogar die Portugiesen aus dem Handel drängen. Bis dahin würde allerdings noch einige Zeit ver­gehen.

Der Sultan bat ihn etwas später in eins seiner Gemächer und ließ von ei­nem Sekretär etliche Bogen kostba­ren Papiers beschreiben.

Es handelte sich um Schreiben an die englische Königin, um Vollmach­ten und Verträge, aber auch um Emp­fehlungsschreiben an den Nawab von Bandar.

„Ich weiß nicht, welches Ihr näch­stes Ziel ist, Sir Hasard", sagte der Sultan. „Aber falls Sie beabsichtigen, noch höher nach Norden zu segeln, so sollten Sie auf keinen Fall versäu­men, den Nawab aufzusuchen. Er ist ein Verwandter von mir. Ich bin si­cher, daß er für künftige Handelsbe­ziehungen sehr aufgeschlossen ist. Er sprach einmal mit mir darüber, und er legt Wert auf ehrliche und reelle Handelspartner. Seine Verträge mit den Portugiesen hat er gekündigt. Man hat ihn des öfteren nach Strich und Faden betrogen. Sollte Ihre Zeit aber nicht mehr zu einem Besuch rei­chen, so werde ich später alles mit ihm regeln und die Kaufleute, die nach Madras segeln, auch zu ihm schicken. Auf jeden Fall gebe ich Ih­nen aber ein Empfehlungsschreiben mit."

Hasard bedankte sich sehr herzlich. „Keine Ursache", wehrte der Sul­

tan ab. „Es ist ja ein Geschäft auf Ge­genseitigkeit, von dem jeder profi­tiert. Werden Sie noch nach Norden segeln?"

„Wie weit ist es bis Bandar?"

„Es dürften nach Ihrer Rechnung etwa knapp zweihundert Meilen sein. Sie segeln immer an der Küste ent­lang über Nellore und Kavali. Etwas weiter nördlich treffen Sie auf eine riesige Landzunge. Wenn Sie die ge­rundet haben, sind es nur noch ein paar Stunden bis Bandar. Weit und breit gibt es keinen anderen Ort."

„Ich werde mir das überlegen, Ho­heit. Sehr viel Zeit bleibt uns aller-dins nicht. Wir hatten vor, über die Karibik nach England zurückzuse-geln, und das so schnell wie möglich."

„Sie haben auf jeden Fall das Schreiben, Sir Hasard. Es liegt ganz bei Ihnen. Ich werde innerhalb der nächsten vierzehn Tage mit der Ga­leere ebenfalls nach Bandar segeln, und mit meinem Verwandten spre­chen, falls Sie es nicht mehr schaffen sollten."

„Das ist sehr großzügig von Ihnen, Hoheit."

Gegen Abend waren die aufgesetzt-ten Schreiben fertig und wurden Ha­sard übergeben. Es handelte sich um regelrechte Verträge, die bereits erste Einzelheiten festlegten.

Damit war der Boden für die Grün­dung einer späteren Company vorbe­reitet, und die Engländer würde man - zumindest in Madras - mit offenen Armen empfangen.

Unterdessen streiften die Arwe-nacks durch die Palastgärten und „verlustierten" sich. Sie hatten Zu­gang zu allen Räumen, und der Sul­tan persönlich zeigte ihnen später die Schatzkammer.

Der Profos wurde etwas mißtrau-isch.

„Vor Schatzkammern habe ich ei-

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nen heimlichen Bammel", sagte er. „Uns wurde schon mal eine gezeigt, die sich später als Falle entpuppte. Da hockten wir dann, umgeben von Tigern, und wurden zum Tode verur­teilt. Oder habt ihr das schon verges­sen?"

„Hier passiert uns das ganz sicher nicht", sagte Hasard. „Welchen Grund hätte der Sultan wohl, uns ein­zusperren? Wir sind inzwischen gute Freunde geworden, Ed. Du kannst also unbesorgt mitgehen."

„Na ja", meinte der Profos, „etwas unbehaglich ist mir schon. Ich traue so schnell keinem mehr über den Weg."

Carberrys Mißtrauen war jeden­falls unbegründet. Hier gab es keine Tiger wie im Palast von Bombay, und hier gab es auch keine heimtücki­schen Fallen.

Die Schatzkammer war die Krö­nung des Märchens aus Tausendund­einer Nacht. Sie befand sich in den Kellergewölben des Palastes tief un­ter der Erde.

Der Sultan zeigte ihnen zuerst seine Edelsteinsammlung, dann sein kost­bares Porzellan und seltene Schmuckstücke. Die Regale an den Wänden waren damit bis fast zur Decke gefüllt.

Was sich hier angehäuft hatte, war noch kostbarer als das, was die Arwe-nacks auf Great Abaco zusammenge­tragen hatten. Der Sultan mußte ei­ner der reichsten Männer der Welt sein.

Von der Pracht geblendet, verlie­ßen sie die unterirdischen Gewölbe wieder.

„Ich bin wie erschlagen", sagte Dan

O'Flynn. „Da werden wir in England hoch angesehen sein, wenn wir das al­les erzählen. Die Königin wird begei­stert sein."

Hasard nickte ebenfalls tief beein­druckt. „Ja, das wird sie. Da können wir uns selbst gratulieren."

„Segeln wir denn noch nach Ban­dar?" wollte Dan wissen.

Der Seewolf hatte lange hin und her überlegt.

„Eigentlich hatte ich das nicht mehr vor. Aber wir können darüber später zusammen abstimmen. Mir persönlich wäre lieber, in die Karibik zurücksegeln."

„Du meinst, wegen meines Vaters, Sir?"

„Ach, das weißt du schon?" „So was spricht sich herum", erwi­

derte Dan und grinste ein bißchen. „Old Dad war sehr aufgeregt. Viel­leicht ist an seiner Geschichte wirk­lich etwas dran."

„Es war ein Traum." „Aber ein Wahrtraum, wie er das

ausdrückt. Wir haben ihn deswegen oft ausgelacht und uns später dar­über gewundert, wie präzise alles ge­stimmt hat."

„Das ist richtig, aber das Ganze war ein wenig konfus. Außerdem hat er mich ein paarmal angelogen, um et­was Druck dahinter zu setzen."

„Ja, so ist Väterchen nun mal. Wenn er etwas nicht durchsetzen kann, greift er auch mal zur Not­lüge."

„Wir überlegen uns das mit Bandar noch", versprach Hasard.

*

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Am Abend, als es etwas abkühlte, stieg dann das große Fest, das sich bis zum Morgen hinziehen sollte.

Riesige Tafeln waren in den Innen­höfen gedeckt. Musikanten und Gaukler waren da, die für Unterhal­tung sorgten.

Auch die Ladies hatte der Sultan nicht vergessen, die lieblich anzuse­hen an der Tafel saßen und die Arwe-nacks mit Leckerbissen verwöhnten.

Der Sultan hatte immer noch prächtige Laune und ließ eine Über­raschung nach der anderen steigen.

Zauberer traten auf, Artisten und Feuerschlucker.

Der Seewolf wurde von einem braunhäutigen Mann um seinen De­gen gebeten. Der Mann stellte sich breitbeinig hin, legte den Kopf in den Nacken und schob sich den Degen langsam in den Hals. Zum Schluß war nur noch der Korb des Degens zu sehen.

Clint Wingfield, der so etwas noch nie in seinem Leben gesehen hatte, kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Atemlos folgte er jeder Vor­führung und war ganz aufgeregt.

Die Arwenacks klatschten Beifall, als der Mann auch noch schwere Sä­bel schluckte und schließlich einen der breiten Schiffshauer.

Hasard fiel auf, daß der Neffe des Sultans nicht anwesend war, und so sprach er seine Hoheit daraufhin an,

„Ist der junge Mann erkrankt, Ho­heit?"

„Nein, im Gegenteil, er ist sehr ge­sund. Ischwar ist wieder mal auf Ti­gerjagd."

„Jetzt, in der Nacht?" „Ja, mit einigen Dienern, Elefanten

und Fackeln. Er ist sehr ehrgeizig und will Sudar unbedingt zur Strecke bringen. Leute aus dem Ort haben ihm vor ein paar Stunden gemeldet, sie hätten Sudar am Dschungelrand gesehen, und da hielt ihn nichts mehr."

„Sudar scheint hier der Alptraum zu sein."

„Ja, er wird mehr gefürchtet als al­les andere."

Ein paar dunkelhäutige Ladies be­gannen zu tanzen. Dazwischen er­klang Musik - mehr Gedudel, das für englische Ohren fremd und aufrei­zend klang.

Gegen Morgen war das Fest immer noch im Gange. Danach sollte eine längere Pause eingelegt werden, ehe es fortgesetzt wurde.

Aber als die Sonne ihre ersten Strahlen im Osten über den Horizont schob, gab es eine Hiobsbotschaft, und damit war das Fest so gut wie be­endet.

Zunächst war im Palastgarten gro­ßes Geschrei zu hören. Stimmen rie­fen durcheinander, aufgeregte Rufe erklangen.

Der Sultan sprang von seinen Kis­sen auf. Eine steile Falte erschien auf seiner hohen Stirn.

„Wer wagt es, mein Fest zu stören?" rief er.

„Vielleicht hat man Sudar gefan­gen, hoher Herr", wagte ein Diener zu sagen.

Das Gesicht des Sultans glättete sich wieder.

„Wenn das stimmt, wird das Fest drei Tage dauern", versprach er. „Laßt die Leute in den großen Innen­hof."

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Was dann folgte, lähmte alle vor Entsetzen.

Vier Diener mit betrübten Gesich­tern brachten schweigend eine aus Bambushölzern gefertigte Trage in den Innenhof. Auf der Trage lag eine Gestalt, die mit einer Decke zuge­deckt war.

Plötzlich herrschte Totenstille im Palast, als der Sultan zögernd auf die Trage zutrat.

„Nehmt die Decke weg", sagte er tonlos.

Die Decke wurde weggezogen. Hasard ahnte schon, was passiert

war, aber er sagte nichts. Stumm sah er auf die Gestalt, die reglos auf der Bahre lag.

Der Sultan war bleich geworden. Seine Gesichtsfarbe wechselte in Grau über. Er schluckte heftig.

Der Mann auf der Trage war Isch-war, sein Neffe, benannt nach dem großen Ischwar Singh aus Bombay. Aber man konnte ihn nicht mehr er­kennen. Urgewalten schienen ihn zer­fleischt zu haben. Riesige Pranken hatten ihn buchstäblich zerrissen.

Hasard hatte nur selten einen Men­schen gesehen, der so übel zugerich­tet worden war.

Es dauerte lange, bis der Sultan die Sprache wiederfand.

„Wie ist das passiert?" fragte er die Männer, die schweigend und tief be­troffen um die Leiche herumstanden.

„Wir hatten Sudar gefunden, hoher Herr. Der junge Herr stöberte ihn hin­ter einem Busch auf. Wir erkannten deutlich das abgerissene und zer­fetzte Ohr des Tigers. Bevor wir noch etwas unternehmen konnten, sprang Sudar den jungen Herrn an. Er

brachte dem Tiger noch einen Stich bei, und das muß ihn in rasende Wut versetzt haben. Er tötete auch noch einen der Treiber und verletzte uns."

Die beiden Diener zeigten ihre Wunden. Der eine blutete stark am Oberarm, der andere hinkte und hatte Wunden an den Beinen.

„Das muß ja ein wahres Ungeheuer sein", sagte Hasard erschüttert.

Der Sultan stand da und sagte nichts. Lange Zeit schwieg er und starrte auf die Überreste seines Nef­fen, der seinen Jagdeifer mit dem Le­ben bezahlt hatte.

„Das Fest ist hiermit zu Ende", sagte er nach einer Ewigkeit mit brü­chig klingender Stimme. „Wir wer­den eine Shikar veranstalten, eine Großjagd mit allen Elefanten, die wir haben. Seid ihr sicher, daß es Sudar war?"

Die beiden Treiber bestätigten das. „Es gibt keinen Zweifel, hoher

Herr. Wir haben ihn einwandfrei er­kannt. Er ist sehr gereizt und völlig unberechenbar. Ehe wir helfen konn­ten, war schon alles vorbei."

„Ihr findet die Stelle wieder?" „Ja, hoher Herr." „Dann jagen wir ihn, aber zuerst

laßt eure Wunden versorgen." „Das wird mein Feldscher tun",

sagte Hasard. „Er versteht sich auf die ärztliche Kunst."

Der Kutscher hatte seine Instru­mentenkiste dabei und sie schon vor­sorglich mitgenommen, falls unter­wegs etwas passieren sollte. Er nahm sich der beiden Männer an, reinigte ihre Wunden und verband sie.

Jetzt erst setzte Gemurmel ein,

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Worte der Trauer waren zu hören, ein Paar Frauen begannen laut zu klagen.

Der Sultan wandte sich schluckend ab.

In den Parks trieben sie bereits die Jagdelefanten zusammen, die spe­ziell für Großwildjagden ausgebildet waren.

„Ich werde mit einigen meiner Männer dabei sein", versprach Ha­sard, „und ich bin überzeugt davon, daß wir dieses Ungeheuer zur Strecke bringen."

„Das hoffe ich von ganzem Herzen. Diese Bestie ist schlimmer als die Pest und terrorisiert den ganzen Be­zirk schon jahrelang."

Das Fest war vergessen, das einen so betrüblichen Ausklang gefunden hatte. Schon eine halbe Stunde später zogen die Männer los, um Sudar, den Menschenfresser, zu jagen.

9.

Zwei Meilen vom Palast entfernt, stießen sie auf die entsetzlichen Spu­ren des Kampfes. Überall war Blut, selbst das Gras zeigte eine lange Blutspur, die bereits eingetrocknet war.

Zwei Tiger wurden von den Elefan­ten aufgestöbert und sofort getötet. Aber Sudar war nicht darunter.

Sie hatten eine langauseinanderge-zogene Kette gebildet, einen Kreis, der sich langsam, aber sicher schloß, und in dem man den Menschenfres­ser vermutete.

Hasard hatte auf eine unhandliche Muskete verzichtet und war mit sei­nem Radschloßdrehling und einem

Schiffshauer bewaffnet wie die mei­sten seiner Männer auch.

Sie hielten Blickkontakt miteinan­der. Aus seiner jetzigen Position konnte der Seewolf zwei weit ent­fernt stehende Elefanten sehen und den Schweden Stenmark, der ge­bückt durch das Gras schlich.

Die Fährte des Tigers hatten sie auf dem steinigen Boden verloren, hoff­ten aber, sie im Dschungel oder den angrenzenden Bambuswäldern wie­der zu finden.

Einmal sah er, wie Stenmark auf eine Stelle im hohen Gras zeigte, doch es war eine kleine Antilope, die ver­stört aufsprang und vor ihnen in lan­gen Sprüngen flüchtete.

Von irgendwoher krachte ein Mus­ketenschuß, traf die Antilope aber nicht mehr. Die Treiber waren nervös und schossen auf alles, was durch das Gras schlich.

Langsam zog sich der Ring zu. Hasard trat an den Dschungelrand

und blickte auf einen kleinen See, auf dem zwei Krickenten schwammen. Für ein paar, Augenblicke wurde ihm die Sicht verwehrt, und er verlor Stenmark aus den Augen. Auch die Elefanten sah er vorerst nicht.

Er drehte sich um und wollte an dem See vorbei, als er aus den Augen­winkeln eine Bewegung wahrnahm.

Blitzschnell fuhr er herum. Ihm gegenüber, kaum zwanzig

Schritte entfernt, stand ein riesiger Tiger direkt am Rand des Urwalds. Seine bernsteinfarbenen Augen schienen, sehr friedlich zu blicken. Aber der erste Eindruck täuschte. Das Tier war keineswegs friedlich, es

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war eher äußerst gereizt und überner­vös.

Und dann sah der Seewolf, daß dem Tiger ein Stück des rechten Ohrs fehlte,

Die Erkenntnis lähmte ihn fast. Er stand Sudar gegenüber, Sudar mit dem blutbefleckten Fell, der ihn un­verwandt anstarrte.

Sehr langsam und dabei den Men­schenfresser nicht aus den Augen las­send, zog Hasard den Radschloßdreh-ling und legte an. Als er den Schädel im Visier hatte, drückte er ab.

Die Waffe gab keinen Knall von sich, kein Rauchwölkchen blitzte auf. Sie versagte zum zweiten Male, seit er sie hatte, den Dienst.

Der Tiger bleckte sein Gebiß und fauchte leise. Sein Schweif fuhr wie eine Peitsche über den Boden.

Hasard holte tief Luft und packte den Schiffshauer fester. Ihm war mulmig zumute, diesem reißenden Untier allein gegenüber zu stehen.

Erst wollte er die anderen warnen, doch das würde Sudar vielleicht ver­scheuchen. Er sah jetzt auch Sten- mark, der zu ihm herüberblickte, und Jack Finnegan, die den Tiger aus ih­rer Position aber nicht sehen konn­ten.

Mensch und Tier starrten sich eini­ge Augenblicke lang an, wie um sich abzutasten.

Dann ging alles unglaublich schnell, so rasend schnell, daß Ha­sard den Bewegungen kaum zu fol­gen vermochte.

Sudar sprang mit einem wilden Fauchen los. Grasbrocken flogen un­ter ihm hoch, als er losraste, Gräser wirbelten durch die Luft.

Wie im Unterbewußtsein hörte Ha­sard Schreie. Das mußten die Arwe-nacks sein, aber er registrierte es nicht richtig.

Geduckt stand er da, den Schiffs­hauer in beiden Fäusten. Er duckte sich noch tiefer und hieb wild zu. Gleichzeitig sprang er mit einem schnellen Schritt zur Seite.

Der Tiger fauchte noch im Sprung wie ein Drache. Seine Pranken wir­belten durch die Luft, fetzten Erde hoch.

Hasard spürte, wie der schwere Schiffshauer in den Körper eindrang, sah, wie der Tiger sich auf dem Bo­den herumwälzte und blitzschnell wieder auf den Beinen war.

Aus seinem Maul lief eine schau­mige Blutspur. Und wieder sprang er. Sein Körper krachte seitlich gegen den Seewolf und brachte ihn zu Fall. Noch im Fallen schlug Hasard mit al­ler Kraft zu.

Er traf erneut. Das Fauchen wurde zu einem höllischen Gebrüll. Fauliger Atem drang ihm in die Nase. Ein Prankenhieb erwischte sein Bein, als der riesige Tiger auf dem Boden lag.

Hasard schlug zu wie mit einer Sense, wie in einem wilden Rausch. Er sah die geifernden Reißzähne vor sich, fühlte abermals einen harten Schlag und landete im Gras.

Schwer atmend und keuchend ge­langte er wieder auf die Beine und starrte auf die Raubkatze.

Sudar vergoß Ströme von Blut, wo ihn der Schiffshauer getroffen hatte.

Das große Tier taumelte, und im­mer wenn es fauchte, drang ihm schaumiges Blut aus dem Rachen. Su­dar torkelte auf Hasard zu, kraftloser

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geworden, zum letzten Schlag ausho­lend.

Hasard kniff die Augen zusammen und stieß wieder zu, mitten zwischen die wirbelnden Pranken.

Das war das Ende. Der Tiger kippte zur Seite und blieb zuckend und zit­ternd auf dem Boden liegen.

Männer umringten den Seewolf, re­deten auf ihn ein. Der Sultan klopfte ihm auf die Schulter und stammelte Worte.

„Das ist Sudar", hörte er immer wieder. „Und das ist der Mann, der ihn besiegt hat."

Ein wilder Freudentaumel erfaßte die Inder, ein Rausch, der kein Ende nahm.

Der Kutscher sah sich den Seewolf kurz an. Er war nicht ernsthaft ver­letzt, hatte nur ein paar Prellungen und eine Menge Schürfwunden, die in zwei, drei Tagen wieder heilen wür­den.

Dann ging es zurück zum Palast des Sultans, und vier Inder trugen den to­ten Sudar an einer großen Bambus­stange wie eine Trophäe.

Hasard hatte den Neffen des Sul­tans gerächt, so jedenfalls sahen es die Inder, und der Sultan wollte ihm unbedingt den Elefanten mit den um­gehängten Kostbarkeiten geben.

„Wir werden ihn mitnehmen und den Leuten schenken, die durch den Tiger soviel Leid erfahren haben",

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sagte Hasard. „Ich hoffe, das ist auch Karawane erneut auf. Diesmal zu-in Ihrem Sinne, Hoheit." rück nach Madras, wo die Schebecke

Dem Sultan war es recht. lag und die anderen Arwenacks auf Am späten Nachmittag brach die sie warteten...

Nächste Woche erscheint SEEWÖLFE Band 707

Rache von Jan J. Moreno

Bill, einst Moses der Arwenacks, bemerkte am Felsrand eine Bewegung, aber sie verlief so schnell, daß er sich ebensogut getäuscht haben konnte. Er tastete nach der in seinem Gürtel steckenden Pistole. Augenblicke später fand er den Inder. Der Mann gehörte zur Leibgarde des Sultans. Bill erinnerte sich. Der Mann war tot. Jemand hatte ihm von hinten einen langen schmalen Dolch ins Herz gestoßen. Da war plötzlich ein Rascheln. Dicht neben Bill. Er wirbelte herum, doch bevor er die Pistole ziehen konnte, krachte etwas Hartes gegen seine Schläfe. Vergebens versuchte er, sich auf den Beinen zu halten. Er sah ein bär­tiges, von Wind und Wetter gegerbtes Gesicht vor sich, das er zu kennen meinte - von der „Cabo Mondego" her, der portugiesischen Karavelle...